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German Pages [667] Year 2018
Klaus Kellmann
Dimensionen der Mittäterschaft Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. 2., durchgesehene Auflage 2019 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Adolf Hitler begrüßt den französischen Staatschef Marschall Henry Philippe Pétain in Montoire-sur-le-Loir am 24. Oktober 1940. In der Mitte Chefdolmetscher Gesandter Dr. Paul Schmidt. Rechts Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Bundesarchiv, Bild 183-H25217 / Fotograf: Heinrich Hoffmann Korrektorat: Volker Manz, Kenzingen Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-20055-0
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Luxemburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Norwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Estland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Lettland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Litauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Tschechoslowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Rumänien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Bulgarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Jugoslawien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Albanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Europäisches Gedächtnis und europäische Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
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Inhalt
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
Die Täter flüchten aus der Geschichte. Die Opfer flüchten in die Geschichte. Und die Kollaborateure? Und als man sie dann wiederfand, da waren sie im Widerstand. Wieviel Vergangenheit verträgt die Gegenwart? Man kann die junge Generation nicht mit Geschichten über die Kollaboration mit dem Feind erziehen. Kein Verbrechen der Deutschen im Dritten Reich kann dadurch relativiert werden, dass es Kollaborateure in anderen Ländern gab. Umgekehrt kann sich kein Volk seiner Verantwortung für die eigenen Verbrechen entledigen, nur weil ein anderes weitaus größeres Unheil angerichtet hat. Adam Soboczynski in: „Die Zeit“ vom 21.7.2016
Vorwort Dieses Buch hätte eigentlich von einem Franzosen, Norweger, Litauer oder Kroaten geschrieben werden müssen. Aber sie schrieben es nicht. Deshalb habe ich, ein Mitglied und Nachfahre der Täternation, mich der Sache angenommen. Dass zum europäischen Faschismus und Nationalsozialismus, der wohl am meisten durchforschten Epoche der Weltgeschichte, fast 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch keine Gesamtdarstellung der europäischen Kollaboration mit dem Dritten Reich vorlag, ist einerseits erstaunlich, andererseits aber auch erklärlich, denn wer belastet sich schon gern selbst? Während in Westeuropa, insbesondere seit der großen Zeitenwende von 1990 und 1991, eine Reihe von seriösen Forschungsarbeiten zum eigenen Verhalten gegenüber Hitlerdeutschland, allerdings durchweg in ausschließlich nationaler Perspektive, erschienen ist, wird in Osteuropa teilweise noch gelogen, dass sich die Balken biegen, ja Kollaboration in Widerstand umgeschrieben. Sinn, Zweck und Ziel dieses Bandes ist es deshalb, einmal mehr das alte Fehlurteil zu widerlegen, dass es sich bei Geschichte um die Beschäftigung mit Vergangenem handelt. Das exakte Gegenteil ist der Fall: Die Beschäftigung mit dem Vergangenen dient dem Bewältigen der Zukunft, in diesem Fall dem Projekt, das man mit Fug und Recht als das Schlüssel- und Entscheidungsprojekt des gesamten 21. Jahrhunderts bezeichnen kann und muss, nämlich der Frage, ob und wie es – idealiter als Ausdruck der Finalität des europäischen Integrationsprozesses – gelingen kann, ein gemeinsames europäisches Bewusstsein und eine gemeinsame europäische Identität zu schaffen. Dies wird nur durch eine schonungslose Selbstvergewisserung und Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit möglich sein, vor allem der années noires von 1938 bis 1945, jener dunklen und schmutzigen Jahre des Mitmachens und Mittuns mit den Deutschen, bis hin zum Mord an den Jüdinnen und Juden. Wo dies nicht geschieht, wo weiterhin übertüncht, camoufliert, verdrängt und verschwiegen wird, bleibt das gemeinsame Haus Europa auf Sand gebaut. Deshalb soll dieses Buch einen Baustein für das sichere Fundament eines Europa von morgen liefern, das sich vom Atlantik bis tief in die Ukraine hinein als eine Verantwortungsgemeinschaft für das gemeinsame Procedere von gestern empfindet. Kiel, im September 2018 Klaus Kellmann
Einführung Frankfurt war besetzt. Auch das Haus der Goethes am Großen Hirschgraben musste 1759, mitten im Siebenjährigen Krieg, für die Einquartierung der siegreichen Franzosen herhalten. „Das war unbequem, aber man richtete sich ein.“1 Als aber selbst das Giebelzimmer des zehnjährigen Filius Johann Wolfgang in Beschlag genommen wurde, entfuhr Vater Goethe gegenüber dem diensthabenden Offizier ein „Ich wollte, sie hätten Euch zum Teufel gejagt“2, womit die Situation zwischen Besatzer und Besetzten augenblicklich eskalierte. Was ist Kollaboration? Das einfache Gegenteil von Widerstand? Feigheit, eine Notwendigkeit, Opportunismus, (Über-)Lebenskunst oder taktischer Widerstand? Anpassung, Illoyalität oder Verrat am Vaterland? Maskerade, Verstellung oder Überzeugung? Freiwilligkeit oder Zwang? Das kleinere Übel statt des großen Desasters? Das SichEinrichten im Unvermeidlichen? Die Antwort des kleinen Mannes auf die Herrschaft der großen Männer? Die Alltagsnormalität in einem besetzten und unterworfenen Land? Eine, und zwar die bequemste Form des Wartens auf bessere Zeiten? „Die Zahl der Fragen wird, wie so oft, mit Leichtigkeit die Zahl der Antworten übertreffen.“3 Wer den Feind vor (und hinter) der eigenen Haustür hat, kann auf vielfältige Weise mit ihm zusammenarbeiten: politisch, militärisch, ideologisch, wirtschaftlich, kulturell, ja sogar im Bett, in der „horizontalen Kollaboration“. Aus dem vermeintlichen „Verlierer der Geschichte“ (Joachim Tauber)4 wird damit oft genug ihr Gewinner, zumindest temporär, aber das Spiel ist gewagt und der Preis ist hoch. Sind die alten Herrschaftsverhältnisse erst einmal wiederhergestellt, kann den „Patriotic Traitor“5 die Kugel, die er sich aus dem Gewehrlauf des Gegners erspart hat, durchaus von den Hinrichtungskommandos der eigenen Landsleute treffen. Kollaboration ist nicht selten mit der Todesstrafe geahndet worden, mochte sie bedingt oder unbedingt, taktisch oder total gewesen sein. Rache trat auch deshalb vielerorts an die Stelle objektiven Richtens, weil es nach dem 8. Mai 1945 neben der (angeblich) kleinen Schar von Verrätern überall in Europa ja nur Widerstandskämpfer gegeben hatte.
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Margret Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1976, S. 45. Ebd., S. 46. Andreas Lawaty, Vorwort zu: Joachim Tauber (Hg.), „Kollaboration“ in Nordosteuropa. Erscheinungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006, S. 10. 4 Joachim Tauber, „Kollaboration“ in Nordosteuropa. Erscheinungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 11–18, hier: S. 11. 5 David Littlejohn, The Patriotic Traitors. A History of Collaboration in German-occupied Europe 1940–45, London 1972.
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Die künstliche und falsche Dichotomisierung von Kollaboration und Widerstand hat lange Zeit eine sach- und fachgerechte Erforschung des Phänomens verhindert. In Wirklichkeit erstreckte sich zwischen diesen beiden Polen ein weites Feld von Verhaltensstereotypen, das ganz überwiegend von Erscheinungsformen des Attentismus, der Akkommodation und des Modus Vivendi gekennzeichnet ist. Man wollte einfach Schlimmeres verhüten und tat deshalb nichts bzw. das, was der Sieger wollte. Kollaboration ist insofern der Versuch, im Status militärischer Okkupation den eigenen Zustand permanent zu verbessern, idealiter bis hin zur Gleichberechtigung. In dem Moment wird aus Kollaboration Kooperation, was der ursprünglichen Wortbedeutung des lateinischen Verbs collaborare entspricht: zusammenarbeiten. Gemeinsam agieren kann man aber nur, wenn man gemeinsame Ziele und Interessen hat, in diesem Fall das Bestreben, die gesamte gesellschaftliche Ordnung und das gesamte gesellschaftliche Leben so weiterlaufen zu lassen wie bisher: Wirtschaft, Verwaltung, Schule und Kultur bis hin zur Freizeitgestaltung. Darüber hinaus ist Kollaboration in nicht geringem Maße auch aufgrund von ideologischen Affinitäten und Identitäten praktiziert worden, wobei Antisemitismus und Antibolschewismus die dominierenden Motivationen waren. Gleichzeitig ist Kollaboration zu allen Zeiten aber auch das Procedere gewesen, um die eigene Nation im Zustand militärischer Unterwerfung möglichst unbeschadet über die Runden zu bringen, und hieraus resultiert ihre eigentliche Doppelbödigkeit, Problematik und Brisanz. Denn wer mit dem Feind zusammenarbeitet, um die territoriale Integrität und den Fortbestand staatlicher Souveränität zu gewährleisten, ist Nationalist und Verräter in einer Person. Das schillernde Phänomen erreicht hier die Dimensionen der antiken Tragödie, nur diesmal nicht auf der Bühne, sondern in der Wirklichkeit. Da die formale und scheinbare Unabhängigkeit letztlich immer Abhängigkeit in einem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen Sieger und Besiegtem bleibt, fordert sie unter den Befürwortern dieser Konstellation ihre Opfer, erscheint Realpolitik als todeswürdiges Verbrechen. Nichts kann die dem Begriff inhärente Widersprüchlichkeit und Schizophrenie deutlicher machen als die Tatsache, dass politische Protagonisten, die in ihrem subjektiven Willen und Wollen versucht haben, die nationale Ehre zu retten, diese im Urteil der eigenen Landsleute unwiderruflich beschmutzten. Aber man greift zu kurz, wenn der Kollaborateur ausschließlich als Diener böser Herren gesehen wird. Eine zureichende, wissenschaftlichen Kriterien genügende, geschweige denn offizielle und verbindliche Definition dessen, was Kollaboration ist, gibt es nicht, und es wird sie wahrscheinlich auch nie geben. Obwohl Hans Lemberg schon 1972 seine Analyse mit dem berühmten Diktum „Was Kollaboration ist, weiß jedermann“6 begonnen hat, weiß bis heute keiner, wo Kollaboration anfängt und wo sie aufhört. Die Grenzen 6 Hans Lemberg, Kollaboration in Europa mit dem Dritten Reich um das Jahr 1941, in: Karl Bosl (Hg.), Das Jahr 1941 in der europäischen Politik, München und Wien 1972, S. 143–162, hier: S. 143; Gerhard Hirschfeld, Zwischen Kollaboration und Widerstand. Europa unter deutscher
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sind fließend. Militärischer Gewalt unterworfene Menschen tun etwas, was sie eigentlich gar nicht tun wollen. Dabei unterstellen sie sich einer Macht und Obrigkeit, der sie sich eigentlich gar nicht unterstellen wollen, und vollziehen damit einen Loyalitätswechsel, den sie eigentlich gar nicht vollziehen wollen. Das ist der Kern der gesamten Problematik. Für die Schar derjenigen, die den Wechsel nicht aus Zwang, sondern aus Überzeugung vollzogen, hat man in der Forschung deshalb statt des Begriffs Kollaboration seine Steigerung, Kollaborationismus, gewählt, aber diese Schar ist klein, auch wenn sie mit der Symbolfigur Quisling den übergreifenden Gattungsnamen des Phänomens präsentiert. Der gängige, gewöhnliche Kollaborateur handelt nur äußerlich loyal, sein Herz schlägt anders. Er ist gehorsam, bis hin zur Servilität, aber mehr auch nicht. Kollaboration ist immer eine Form der Zusammenarbeit, aber nie zwischen gleichberechtigten, gleichrangigen oder gleichwertigen Partnern. Ihre Ziele und Interessen kann sie nur als politique du moindre mal umsetzen, indem sie gleichzeitig aber von der Besatzungsherrschaft für deren Ziele und Interessen instrumentalisiert wird. Die aus diesem Bündnis resultierenden Vorteile und Privilegien sind für den Kollaborateur mit dem Stigma des Verrats behaftet und implizieren dadurch eine auch moralisch zu hinterfragende Verhaltensdisposition. Entscheidend für die Urteilsbildung ist die Frage nach den Motiven, die den Akteur angeleitet haben. Sie reichen vom subjektiv glaubwürdigen Versuch, die nationale Ehre zu retten, über die blanke Not, Hunger und Durst stillen zu müssen, bis hin zur flagranten kriminellen Bereicherung und der Mitbeteiligung am Völkermord. Zwischen Kollaborateur und Besatzer besteht nie eine vollständige, aber immer eine Teilidentität der Interessen; das Verhältnis ist bilateral, nicht neutral. Der Okkupierte dient sich dem Eindringling an, nicht umgekehrt, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, in unterschiedlichen Abstufungen und Formen in dem riesigen Terrain, das durch die Begriffe Treue und Verrat begrenzt wird. Aber alles, was dazwischenliegt – und das ist nicht wenig –, zeichnet sich durch eine schier endlose, terminologisch kaum bestimmbare, polyvalente Artikulation von Verhaltensformen aus. Oft genug handelt es sich um ein äußerst komplexes Beziehungsgeflecht, in dem die Akteure und Adressaten ständig neue Rollen und Positionen einnehmen, nicht weniger oft ist Kollaboration aber nichts anderes als banales, reales Tun im Besatzungsalltag.7 Der Kollaborateur wählt eine Rolle, um sich ein Minimum an Entscheidungsfreiheit zu bewahren. Da er sich nie vollständig mit dem Okkupanten identifiziert, ist er Besatzung, in: Brockhaus. Die Weltgeschichte, Bd. 5 (Aufbruch der Massen – Schrecken der Kriege, 1850–1945), Leipzig und Mannheim 1999, S. 634. 7 Vgl. hierzu insbesondere das gigantische Forschungsprojekt „World War II – Everyday Life Under ‚German Occupation‘“, das Peter Haslinger und Tatjana Tönsmeyer von 2012 bis 2015 mit dreißig Forschern in fünfzehn europäischen Ländern durchgeführt haben. Für eine Kurzbeschreibung s. David Schelp, Leben unter Besatzung, in: „Leibniz“ (Berlin), Nr. 3/2012, S. 22 f.
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weit mehr als eine bloße Marionette. Er versucht, die Interessen seines Landes auf seine Weise zu retten und zu verteidigen. Er will also etwas, was alle wollen, weshalb das Kollaborationsspektrum nicht nur auf eine Partei, Gruppierung oder Bewegung beschränkt bleibt. Es reichte von präfaschistischen Parteien bis in die Sozialdemokratie hinein, mit durchaus differenzierten und zu differenzierenden Motiven, Erwartungen, Zielen, Kalkülen und Hoffnungen, aber auch Zwängen und Determinanten sowie von Fall zu Fall variierenden Grundlagen, Trägern, Funktionen und Wirkungen. Von enormer Heterogenität und Spannweite war das Profil konkreter Kollaborationstätigkeiten gekennzeichnet, das vom freiwilligen, gedungenen oder bezahlten Verrat von Widerstandskämpfern, die damit dem Tod ausgeliefert waren, bis hin zur Hausfrau reichte, die sich mit dem Waschen der Wäsche von Wehrmachtssoldaten ein paar Francs, Zlotys oder Dinare hinzuverdiente. Dazwischen lag ein weites Feld, in der Politik, in der Verwaltung, in der Wirtschaft, bei der Polizei oder beim Militär. Fast alle Handlungsarten und Verhaltensweisen des Kollaborateurs sind automatisch von Ambiguität und Ambivalenz charakterisiert: Was dem eigenen Nutzen, Profit, Leben oder Überleben dient, stärkt gleichzeitig den Besatzer. Die Definition des Begriffs Kollaboration in kategorialer und funktionaler Trennschärfe, aber auch anhand von moralischen Kriterien, ist dadurch praktisch unmöglich. Er ist ein catch-all term für alles, was man mit und für den Feind macht. Natürlich kann und muss nach dem Grad und Ausmaß der Konzession und Kooperation unterschieden werden, an der Sache selbst ändert dies allerdings nichts. Deshalb macht es auch wenig Sinn, die Termini Kollaboration und Zusammenarbeit synonym zu verwenden, weil der Letzteren immer eine gleichrangigwertneutrale, der Ersteren hingegen eine pejorative Konnotation anhaftet, und zwar völlig zu Recht. Denn mit Kollaboration werden Gesetze, Bestimmungen und Rechtsvorschriften des eigenen Staates wie auch des Völkerrechts missachtet und gebrochen und das Verhalten des Okkupanten durch eigenes, angepasstes Verhalten de facto legitimiert. Man ist Diener böser Herren und will es auch sein. Der Weg vom Diener zum Komplizen war oft kurz, und auf ihm sind manche, ursprünglich hehre nationale, soziale und ökonomische Intentionen für immer verlorengegangen. Die Eigenlogik dieser Entwicklungen birgt manche Tragik, weshalb hier mehr die Analyse der historischen Situation als das moralische Verdammungsurteil gefragt ist. Gleichwohl kommt kein Kollaborateur um die Fragestellung herum, ob er mit seinem Verhalten der eigenen Bevölkerung genützt oder geschadet hat, er muss sich sozusagen „vor der Geschichte“ verantworten. Dazu dürfen Täter, Mittäter, Opfer, Nutznießer, Helfer und Zuschauer nicht auf eine Stufe gestellt werden, man muss dieses Interaktions- und Machtgeflecht aber sauber nach Einflussmöglichkeiten und Handlungsspielräumen analysieren, und in dieser Gesamtschau ist der Kollaborateur der schwierigste Fall. Immer oszilliert er zwischen Loyalität und Fraternisierung, und immer blieben die Übergänge zwischen beidem fließend. Eben deshalb war die Kategorie nach dem Krieg, als alles vorbei war, ethisch und historisch so schwer fassbar. Wie sollte man einen Menschen be- oder verurteilen, der ein grundsätzlicher Gegner der Besatzungs-
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herrschaft war, aber ein Dutzend plausibler Gründe dafür nennen konnte, zeitweilig mit ihr zusammengearbeitet zu haben? Mit welchem Etikett sollte man einen Widerständler belegen, der im Untergrund gegen die Deutschen kämpfte, im zivilen und „normalen“ Leben aber gemeinsame Sache mit ihnen machte? Wollte der eine wie der andere nicht „das Beste“ für sein Land? Marschall Henri Philippe Pétain versuchte allen diesen Kalamitäten zu entgehen, indem er in seiner Rundfunkansprache vom 30. Oktober 1940 an das französische Volk, die gleichzeitig die Gründungsurkunde der modernen Kollaboration darstellt, ausdrücklich alle Konsequenzen für sein gesamtes Handeln übernahm: „Ich beschreite heute den Weg der Kollaboration, um in Ehren die zehn Jahrhunderte alte Einheit Frankreichs aufrecht zu erhalten und aktiv an der Neuordnung Europas teilzunehmen. (…) Es handelt sich um meine persönliche Politik. (…) Ich allein werde sie vor der Geschichte verantworten.“ Nach 1945 ist Pétain der Hinrichtung nur um Haaresbreite entronnen. Bei der Kollaborationspolitik und -praxis geht es nicht nur um die Okkupierten, sondern auch um die Okkupanten. In den Artikeln 42 bis 56 der Haager Landkriegsordnung von 1907 wird die Zusammenarbeit einheimischer Instanzen mit einem feindlichen Besatzer legitimiert, weil ohne sie der geregelte Ablauf des täglichen Lebens für die Bevölkerung nicht gewährleistet werden kann. Dazu gehört die Sicherung der Ernährung, der Produktion, das Aufrechterhalten des Verkehrs, der Kommunikationswege, der Verwaltung, der öffentlichen Sicherheit, des Bankensystems sowie der schulischen und beruflichen Ausbildung. Alle Menschen mussten essen, trinken, sich kleiden und wohnen. Von daher waren die Arbeiter, die arbeiteten, die Schlachter, die schlachteten, und die Bäcker, die backten, noch längst keine Kollaborateure. Strictu sensu untersagt ist „der feindlichen Macht“ in Artikel 45, der Bevölkerung den Treueid abzunötigen, denn eine Loyalitätspflicht hat sie nur gegenüber der eigenen Nation und dem eigenen Staat, dem Eindringling gegenüber muss sie lediglich gehorsam sein. Mit dieser Ambivalenz und Asymmetrie ist der Kern aller späteren Kollaborationskonflikte benannt. Schließlich gesteht die Haager Ordnung der Besatzungsmacht noch den treuhänderischen Nießbrauch am Eigentum des besiegten Staates zu. Um diese Bestimmung haben sich die einmarschierenden Deutschen nirgendwo in Europa auch nur im Ansatz gekümmert. Sie nahmen sich, was sie sich nehmen wollten, und nutzen, was sie nutzen wollten. Auch das 1939 gültige Kriegsvölkerrecht sah eine Zusammenarbeit zwischen Besatzer und Besetzten vor. In vielen Bestimmungen wurde hier das wiederholt, was bereits 1907 festgelegt worden war. In der konkreten Herrschaftspraxis des nationalsozialistischen Deutschland auf dem Alten Kontinent haben alle diese Gesetzescorpora indes so gut wie keine Rolle gespielt. Im weltanschaulichen Rassen- und Vernichtungskrieg gegen ganze Staaten, Nationen und Völker gab es nur Abhängige, Unterworfene, Vasallen, Sklaven und Heloten. Irgendeine Erwägung, irgendein Kalkül der Zusammenarbeit mit den Menschen in den eroberten Terrains ist in Hitlers Kriegszielplanungen nicht auch nur im Ansatz nachweisbar. Der Herrenmensch brauchte keine Helfer,
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und wenn er sich ihrer doch einmal bediente, dann verstand er dies als taktisches und temporäres Zugeständnis, das ihn zu nichts verpflichtete. Das Einzige, was ihn daran interessierte, war, wie viel eigene Kräfte er durch den Einsatz von Personal des besetzten Landes an anderer Stelle für eigene Zwecke zur Verfügung hatte und wie er es am besten ausbeuten konnte. Goebbels schrieb am 26. April 1942 in sein Tagebuch: „Das Gerede von Kollaboration ist nur für den Augenblick gedacht“, und Göring ergänzte am 6. August 1942: „Ich mache keine Kollaboration. Kollaboration der Franzosen sehe ich nur in folgendem: wenn sie abliefern, bis sie nicht mehr können, wenn sie es freiwillig tun, dann werde ich sagen, ich kollaboriere.“8 Selbstherrlichkeit, Anmaßung und Überheblichkeit sind für ein derartiges Verhalten noch harmlose Begriffe. Tatsächlich hat in der sieges- und zukunftssicheren Führungskamarilla der NSDAP niemand auch nur für eine Sekunde daran gedacht, irgendeinem Kollaborateur irgendeine Konzession, geschweige denn eine vertraglich fixierte Zusicherung zu gewähren, am allerwenigsten Hitler. „Kollaboration war niemals ein politisches Ziel der deutschen Okkupationsherrschaft.“9 Robert Bohn sagt völlig richtig, „dass es wenig Sinn macht, auf Seiten des Okkupanten von Kollaboration zu sprechen, (…) sie war immer das Andienen des Okkupierten an den Okkupanten, nicht umgekehrt.“10 Die Herren Quisling, Pétain und Pavelić besaßen keinerlei Entscheidungsspielräume, weil alle Räume und Zügel fest in der Hand der Deutschen waren. Sie waren nicht Partner, sondern Befehlsempfänger. Selbst in den Hoch-Zeiten der Idee des „Großgermanischen Reiches“ 1942 hatte diese in den Vorstellungen Hitlers und Himmlers immer den Charakter und die Zielprojektion der rigorosen Unterwerfung und des Anschlusses der Niederlande, Belgiens oder auch Norwegens. Gleichwohl und gleichzeitig gab es auf deutscher Seite an keiner Stelle irgendeine klare oder einheitliche Vorstellung über Art, Ausmaß, Dauer, Lenkung und Perspektiven von Kollaboration. Man glaubte (lange genug), dies nicht nötig zu haben. 8 Bundesarchiv, Nürnberger Nachfolgeprozesse, Fall XI, Bd. 394, Dok. NI-10–105. 9 Werner Röhr, Kollaboration: Sachverhalt und Begriff. Methodische Überlegungen auf der Grundlage vergleichender Forschungen zur Okkupationspolitik der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 21–39, hier: S. 24; ders. (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945). Beiträge zu Konzepten und Praxis der Kollaboration in der deutschen Okkupationspolitik: Bundesarchiv Koblenz (Hg.), Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938–1945), Ergänzungsband I, Berlin und Heidelberg 1994; ders., Landesverrat oder Patriotismus? Kollaboration mit den deutschen Okkupanten im 2. Weltkrieg, in: ders. und Brigitte Berlekamp (Hg.), „Neuordnung Europas“. Vorträge vor der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung 1992–1996, Berlin 1996, S. 87–115. 10 Robert Bohn, Kollaboration und deutsche Mobilisierungsbemühungen im Reichskommisariat Ostland. Grundsätzliche Überlegungen, in: David Gaunt, Paul A. Levine und Laura Palosuo (Hg.), Collaboration and Resistance during the Holocaust. Belarus, Estonia, Latvia, Lithuania, Bern 2004, S. 33–44, hier: S. 35.
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Indes, die Wirklichkeit an der Front sah anders aus. „In der Praxis kamen die deutschen Okkupanten nicht ohne die Inanspruchnahme funktionierender Strukturen eines besetzten Landes aus.“11 Dadurch ersparten sie sich den Einsatz militärischer, polizeilicher und administrativer Kräfte, konnten das Land wirtschaftlich und industriell ausbeuten, schwächten den Widerstand (sofern es ihn gab) und fanden verblüffend bereitwillige Mithelfer bei der Deportation der jüdischen Bevölkerung. Und es ging um einen wahrlich nicht kleinen Teil Europas. 180 Millionen Menschen waren ab 1941 dazu verurteilt, mit den Deutschen als Feind im eigenen Land zu leben. Anpassung war da der Normalzustand, das alltäglich Gegebene. „Ohne den gewaltigen Zustrom freiwilliger Kollaboration (…) wäre undenkbar gewesen, was tatsächlich geschehen ist.“12 Vom Atlantik bis zum Kaukasus, von der Nordspitze Norwegens bis zur Insel Kreta befanden sich zwölf europäische Staaten und sechs Sowjetrepubliken unter deutscher Herrschaft. Jedem Unteroffizier, ja jedem Obergefreiten war klar, dass ein derart gigantisches Imperium ohne Mitwirkung der Einheimischen nicht regierbar war, mochten die da in Berlin denken, was sie wollten. Nirgendwo gab es Kollaboration „an sich“, sondern immer variierende, aber äußerst konkrete Formen der Zusammenarbeit mit dem örtlichen Machthaber, Demütigung, Unterwerfung und Entrechtung, aber auch Opportunismus, Berechnung und Idealismus eingeschlossen. Hitler selbst hielt es für entbehrlich, ein politisches Konzept für die besetzen Gebiete zu entwickeln. In einer Denkschrift vom Sommer 1943 hieß es: „Die Anhänger einer Verständigungspolitik mit Deutschland werden ausgenutzt, aber mehr oder weniger verächtlich behandelt. Es wird nichts getan, um ihren Einfluss und ihr patriotisches Prestige zu stärken.“13 Auch wenn das nicht vom „Führer“ persönlich stammte, so gab es sein herablassend-rassistisches Denken doch aufs Jota wieder, bedeutete es doch, dass diese Menschen „ausschließlich als Mittel zur Verwirklichung eigener Ziele“ zu dienen hatten. Damit waren ausdrücklich auch die kollaborationistischen, NS-affinen Gruppierungen und Parteien gemeint, von denen Hitler sich für jede erdenkliche Zukunft nicht einen Moment abhängig machen wollte, schon gar nicht nach einem gewonnenen Krieg. Da die Besatzungsbehörden vor Ort aber weder über ausreichendes Personal noch über ausreichende Kenntnisse der Landesstrukturen verfügten, waren sie auf die Zusammenarbeit mit den Behörden, Parteien und Verbänden der besetzten Terrains angewiesen, ja sie hatten diese schon von vornherein vorausgesetzt und einkalkuliert, sodass sich im weiteren Verlauf des Krieges ein immer größeres und zum Schluss sogar groteskes Missverhältnis zwischen den Vorgaben der Reichskanzlei und der Realität „im Feld“ ergab. Alfred Rosenberg, der Reichsminister für die besetzen Ostgebiete, hatte am 23. März 11 Röhr, Kollaboration: Sachverhalt und Begriff, a. a. O., S. 26. 12 Werner Rings, Leben mit dem Feind. Anpassung und Widerstand in Hitlers Europa 1939–1945, München 1979, S. 425. 13 Zit. nach Hans Umbreit, Die Rolle der Kollaboration in der deutschen Besatzungspolitik, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 33–44, hier: S. 34.
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1942 anlässlich der Einführung einer landeseigenen Verwaltung im Reichskommissariat Ostland gesagt, dass „die Mitarbeit einheimischer Kräfte auf freiwilliger Grundlage und in möglichst selbständiger Form am fruchtbarsten“ sei, Gegenforderungen aber als „unverschämt“ bezeichnet. Und auch hier galt wie überall der Grundsatz, dass man lieber mit den traditionellen Eliten zusammenarbeitete als mit faschistischen und nationalistischen Splittergruppen. „Ohne die personelle und wirtschaftliche Ausnutzung der besetzten Gebiete hätte das Dritte Reich den Krieg nicht so lange durchstehen können.“14 Die Kollaboration, die es in der offiziellen NS-Ideologie gar nicht gab, avancierte zum mitentscheidenden Instrument für die Unterwerfung Europas. Ursprünglich nur auf ein unvermeidbares Minimum reduziert, lief schon im Sommer 1942 an keiner Front etwas ohne sie. Fast stillschweigend und wie selbstverständlich und mit nicht selten enormer Effektivität wurde praktiziert, was zuvor nicht proklamiert worden war. Es ging auch so. Wenn es auf deutscher Seite irgendeine Zielsetzung gab, dann die, dass „sich die Kollaborateure durch die Zusammenarbeit so zu verschleißen und moralisch zu blamieren hatten, dass sie schließlich bedingungslos vom Okkupanten abhängig waren.“15 Insofern war Kollaboration nichts anderes als eine weitere Form nationalsozialistischer Menschenverachtung. Wo das, was man haben wollte, nicht einfacher und billiger erreicht werden konnte, waren die Besiegten durchaus genehm. Die raffinierteste, durchtriebenste und verlogenste Strategie der Berliner Machthaber, die Unterworfenen vor ihren Karren zu spannen, bestand in dem großen Wort von der „Neuordnung Europas“, an der sie alle – gleichberechtigt! – teilhaben sollten. Wem so etwas geboten wird, den muss man nicht zweimal bitten. Ein ideologischer Überbau im Sinne eines Eurofaschismus oder einer gesamteuropäischen Friedensordnung ist streng genommen nie auch nur im Ansatz angedacht worden. Europa sollte ein rein deutscher Verfügungsraum bleiben. Als Anfang 1943 im Auswärtigen Amt Überlegungen hinsichtlich eines europäischen Staatenbundes angestellt werden, schaltet sich die Partei sofort intervenierend ein. Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn Ribbentrop ließ die Gründungsakte einer Euroföderation, die von „souveränen, sich gegenseitig Freiheit und Unabhängigkeit garantierenden Staaten“ ausging, gleich wieder in der Schublade verschwinden. Sie ist nicht einmal als Propagandapapier eingesetzt worden. Zwar rief der Außenminister anschließend einen Europa-Ausschuss ins Leben, aber dessen am 5. September 1943 vorgelegten Leitsätze („Deutschland strebt die Einigung Europas auf föderativer Grundlage an“) haben in der offiziellen NS-Politik nie eine Rolle gespielt. Ausgerechnet das Reichssicherheitshauptamt, der Kopf der SS, nahm sich in der Folge des Europagedankens an und entwickelte die Vision einer Europäischen Eidgenossenschaft mit einem eigenen Ausweisdokument, dem Europapass, der zunächst an Zwangsarbeiter und ausländische Mitglieder der deutschen Streitkräfte ausgegeben werden sollte. Im Frühsommer 1944 gab Hans Globke, der zuständige Ab14 Ebd., S. 42. 15 Röhr, Landesverrat oder Patriotismus?, a. a. O., S. 89.
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teilungsleiter im Innenministerium und spätere Intimus Adenauers, für das Projekt grünes Licht. Es war mehr als Symbolik, dass die Reichsdruckerei in der Berliner Oranienstraße am 3. Februar 1945, dem Tag des geplanten Andrucks, von einem Volltreffer der Royal Air Force funktionsunfähig gemacht wurde. Jacques Benoist-Méchin, der Staatssekretär der Vichy-Regierung, schrieb 1941 an die Adresse Hitlers gerichtet: „Machen Sie aus dem Sieg etwas vollkommen Neues, das Ende und die Krönung des letzten europäischen Krieges. Sonst würden Sie eine Gelegenheit vorübergehen lassen, die sich nie wieder darbieten wird. (…) Schaffen Sie Europa, da jetzt die Zeit dafür reif ist.“16 Das war mehr als ein ehrliches Angebot, das war ein säkularer Wurf und Entwurf, der an ideologisch tauben Ohren abprallte, für die europäische Kollaboration zu keinem Zeitpunkt etwas mit europäischen Einigungsbestrebungen zu tun haben sollte. Der Alte Kontinent hatte zu einem neuen germanischen Großreich zu mutieren, „in dem die universalistische Fassade einer zivilisatorischen Mission die radikale Politik der Eroberung und Unterwerfung nur notdürftig tarnte.“17 Der größte, sichtbarste und „verdienstvollste“ Ausdruck dieser Mission war der Kampf gegen den Bolschewismus. Wer sich in seinen Dienst stellte, adelte quasi seine Nation und sich selbst. Er war weit mehr als nur ein „einfacher“ Kollaborateur der Deutschen, er half mit bei der Rettung des Abendlandes. Die konkrete militärische Kollaboration hatte viele Formen bis hin zum Einsatz der gesamten Streitkräfte eines okkupierten Landes unter dem Oberkommando der Wehrmacht. Zumeist ging es aber nur um den Einsatz einzelner Einheiten, wobei der Übergang zwischen militärischen und polizeilichen Verbänden oft fließend war. Des Weiteren mussten die besetzten Länder Werbemaßnahmen unter ihren Bürgern für die Aufstellung bewaffneter Formationen, in der Regel zur Waffen-SS, dulden, die ergo deutschem Befehl unterstanden. Wenn mit der Besatzung der Verlust und die Aberkennung der Staatlichkeit verbunden waren, ergab sich automatisch dieser Sachverhalt. Ein nicht unerhebliches militärisches Kontingent entstand auch aus Kriegsgefangenen, so insbesondere in den besetzten Teilen der Sowjetunion. In toto heißt dies, dass militärische Kollaboration in der Gestalt von Wehrpflichtigen (der okkupierten Staaten), Freiwilligen (der Waffen-SS) und Kriegsgefangenen (der Roten Armee) realisiert werden konnte. In Westeuropa bildeten die faschistischen und kollaborationistischen Parteien eigene Verbände und Legionen, unterstellten sie in aller Regel aber den Deutschen. Gleichwohl hat es in der Wehrmacht nichtdeutsche Offiziere bis hinauf in den Generalsrang gegeben.
16 Zit. nach Hans-Werner Neulen, An deutscher Seite. Internationale Freiwillige von Wehrmacht und Waffen-SS, München 1985, S. 107 f. 17 Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918–1945, Stuttgart 2006, S. 180.
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Hitler verfügte in einer internen Besprechung am 31. Juli 1941: Nie darf erlaubt werden, dass ein Anderer Waffen trägt, als der Deutsche! Dies ist besonders wichtig; selbst wenn es zunächst leichter erscheint, irgendwelche fremden unterworfenen Völker zur Waffenhilfe heranzuziehen, ist es falsch! Es schlägt unbedingt und unweigerlich eines Tages gegen uns aus. Nur der Deutsche darf Waffen tragen, nicht der Slawe, nicht der Tscheche, nicht der Kosak, oder der Ukrainer!18
Dieser „Führerbefehl“ ist vom ersten Tag an unterlaufen worden, auch wenn Einheimische zunächst nur als Hilfspolizisten dienen durften. Hitler blieb bis zum Schluss „der stärkste Bremsklotz“ (Rolf-Dieter Müller) gegenüber allen Soldaten „nicht germanischer Herkunft“, aber da konnte man sich um seine Vorgaben längst nicht mehr kümmern. Schon auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs war jeder dritte Uniformträger an der Ostfront kein Deutscher: Über zwei Millionen Ausländer haben in der Wehrmacht, der SS und anderen Verbänden gekämpft. Ohne sie hätte man nie und nimmer bis vor die Tore Moskaus vorstoßen und den Abnutzungskrieg gegen einen personell und materiell überlegenen Gegner volle drei Jahre weiterführen können. Waren das alles Kollaborateure? Nur die wenigsten von ihnen sind, genauso wenig wie die Deutschen, dem Kreuzzug gegen den Bolschewismus von Leningrad bis Stalingrad freiwillig oder gar mit Freude, Lust oder Besessenheit gefolgt. Wie soll man sie deshalb nennen, wie ihren Typus einordnen und klassifizieren? Christian Gerlach, Rolf-Dieter Müller und Robert Bohn haben vorgeschlagen, sie nicht „Kollaborateure“ zu nennen, weil der Begriff nach wie vor zu sehr mit dem Odium des Verrats behaftet ist und weil insbesondere die SS-Freiwilligen ihre nationale Identität aufgaben und sich „wie moderne Söldner oder spätmittelalterliche Landsknechte verkauften.“19 Trotzdem soll in dieser Untersuchung vollinhaltlich an dem Begriff festgehalten werden, weil, so Werner Röhr, „militärische und polizeiliche Kollaboration jene Bereiche waren, in denen sich der politische Inhalt der Kollaboration unmissverständlich ausdrückte.“20 Überdies ersparte ihr Einsatz an der Front, so der Nazi-Jargon, „wertvolles deutsches Blut“, verstärkte damit die Kampfkraft der Deutschen, schwächte den Widerstand und machte die Gegner zu Komplizen bei den Verbrechen gegen die Bevölkerung in den besetzten Ländern einschließlich der Judenräte – eine Rolle, die diese oft überaus fanatisch und beflissen einnahmen, was auch Gerlach, Müller und Bohn kei18 Zit. nach Rolf-Dieter Müller, An der Seite der Wehrmacht. Hitlers ausländische Helfer beim „Kreuzzug gegen den Bolschewismus“ 1941–1945, Frankfurt am Main 2010, S. 14. 19 Bohn, Kollaboration und deutsche Mobilisierungsbemühungen im Reichskommisariat Ostland, a. a. O., S. 37; Müller, An der Seite der Wehrmacht, a. a. O., S. 245; Christian Gerlach, Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen, München 2017, S. 27. Gerlach betont vielmehr den Nationalismus der Kollaborateure und schlägt stattdessen den Begriff „Partizipation“ vor, mit dem er bislang in der Forschung alleinsteht. 20 Röhr, Landesverrat oder Patriotismus?, a. a. O., S. 109.
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neswegs verschweigen. Außerdem soll in dieses Terrain der Mittäterschaft die Verhaltensanalyse der etwa eine Million Volksdeutschen in ihren zerstreuten Siedlungsgebieten vor allem Ost- und Südosteuropas einbezogen werden. Schon unmittelbar nach Kriegsausbruch in ihrer Herbergsnation als „fünfte Kolonne Hitlers“ bezeichnet, schwankten sie anfänglich zwischen Loyalität und Illoyalität gegenüber dem Staat, in dem sie lebten, um sich in ihrer Mehrheit dann doch den deutschen Invasoren zuzuwenden. An dieser Stelle wird ein zweiter Definitionsversuch des Terminus Kollaboration unternommen, der sich diesmal nicht von Gruppierungen und Typologien des Mittuns leiten lässt, sondern der nur ein einziges und vielleicht das wichtigste Kriterium kennt: den Kriegsverlauf, frei nach Talleyrands „La trahison, c’est une question du temps“. Entscheidend ist nicht das Ob oder Wie, sondern das Wann. Kollaboration (oder Nicht-Kollaboration oder aber der Übergang zwischen beiden) hängt elementar davon ab, wie die Besetzten das Machtpotential der Besatzer einschätzen. Das mag banal klingen, ist es aber nicht, denn jeder ist lieber aufseiten des Siegers. „Die Bedingungen jeden Sicheinlassens mit den deutschen Besatzern veränderten sich im Verlauf des Krieges rapide und radikal, (…) sodass jede Art Kontakt zur Besatzungsmacht zeitlich sehr genau festgemacht werden muss, weil sonst sein Charakter nicht angemessen zu verstehen ist.“21 Dieses Urteil von Jan Tomasz Gross führt ihn zu der Erkenntnis, dass es keinen Einzelbegriff für die sich permanent verändernde Realität des Sich-Anpassens gibt, sondern nur etliche „Zwischentermini“ für den jeweiligen Zustand, zu denen er Kooperation, geheimes Einverständnis, Willfährigkeit und Komplizenschaft zählt. Christoph Dieckmann geht noch einen Schritt weiter, indem er den Kollaborationsbegriff als „historiographisches Analyseinstrument“ für untauglich erklärt und postuliert, ihn vollständig zu historisieren.22 Dieses Begriffsverständnis macht sich die vorliegende Untersuchung zu eigen. Sie versteht also Kollaboration als einen komplexen, dynamischen Prozess, als permanentes Fluidum, das sich von einem Moment zum anderen kriegsrelevant verändern kann, und zwar für beide Seiten. So oder so bleibt Kollaboration ein vielschichtiges, äußerst diffiziles Phänomen, ein hochkomplexes Zusammenspiel aus den unterschiedlichsten Motiven, Kontexten und Konstellationen mit ständig wechselnden Akteuren, Profiteuren, Mittätern, Verfolgern 21 Jan Tomasz Gross, „Jeder lauscht ständig, ob die Deutschen nicht schon kommen“. Die zentralpolnische Gesellschaft und der Völkermord, in: Włodzimierz Borodziej und Klaus Ziemer (Hg.), Deutsch-polnische Beziehungen 1939–1945–1949. Eine Einführung, Osnabrück 2000, S. 215– 234, hier: S. 229. In Gerlachs monumentaler Untersuchung „Der Mord an den europäischen Juden“ ist der Einfluss des Kriegsverlaufs auf die Eskalation der Verbrechen einer der entscheidenden Gesichtspunkte. 22 Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, Bd. 1, Göttingen 2010, S. 35.
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und Zuschauern, ein permanent changierender, nirgendwo einheitlicher Prozess. Was in Frankreich als selbstverständliche Hilfeleistung gegenüber dem Besatzer galt, war in Polen ein todeswürdiges Verbrechen, was einem Norweger lediglich als Servilität erschien, konnte für einen Serben Verrat bedeuten, wobei gerade dieser Begriff der konkreten Analyse bedarf und zwischen freiwilligem, bewusstem und begünstigtem oder aber erpresstem und mit Folter oder Gewaltanwendung erzwungenem Verrat zu trennen ist. Da dem landläufigen Verständnis von Kollaboration bis heute die Verratskonnotation inhärent ist, kann das Wort nach wie vor nicht als neutrale, für die wissenschaftliche Analyse taugliche Vokabel buchstabiert und exemplifiziert werden. Der jeweilige historische Zusammenhang bleibt allemal die übergeordnete, für die Urteilsbildung entscheidende Ebene und Kategorie. Eben deshalb ist es für eine Gesamtdarstellung der europäischen Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg unumgänglich, diese vor einem abschließenden Urteil zunächst Land für Land, Staat für Staat und Nation für Nation in ihren spezifischen, zum Teil erheblich differierenden Erscheinungsformen und Dimensionen darzustellen. Ihren gravierendsten und abscheulichsten Ausdruck fand sie zweifelsohne in der Beteiligung am Judenmord, der wahrlich nicht durch irgendeine Konvention oder durch einen Sachverhalt legitimiert war. Dennoch ist auch hier vielerorts versucht worden, mit der Formel, „dadurch Schlimmeres verhindert zu haben“, nach dem Krieg Exkulpations- und Verhüllungshistoriographie zu schreiben. Es ist Werner Röhr und Gerhard Hirschfeld zu danken, dass sie diese Argumentation schon früh als „falsch und verlogen“23 entlarvt haben: Wer SS, Wehrmacht und Gestapo half, hat „nicht Schlimmeres verhindert, sondern die Lage noch verschärft, weil sich die Auslieferung nach Auschwitz reibungsloser gestaltete.“24 „Die administrative Unterwürfigkeit der lokalen wie der staatlichen Verwaltungen in West- und Nordeuropa war von entscheidender Bedeutung für die relative Reibungslosigkeit, mit der sich die Deportation der Juden ‚nach dem Osten‘ (…) bewerkstelligen ließ.“25 Christoph Dieckmann, Babette Quinkert und Tatjana Tönsmeyer haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das Weglassen der „nichtdeutschen einheimischen Tatbeteiligung“26 das zentrale Manko in Raul Hilbergs monumentalem Werk über den Holocaust ist.
23 Röhr, Landesverrat oder Patriotismus?, a. a. O., S. 115. 24 Gerhard Hirschfeld, Kollaboration in Frankreich – Einführung, in: ders. und Patrick Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich. Politik, Wirtschaft und Kultur während der nationalsozialistischen Besatzung 1940–1944, Frankfurt am Main 1991, S. 7–22, hier: S. 21. 25 Gerhard Hirschfeld, Kollaboration in Hitlers Europa als ein historisches Tabu. Vichy-Frankreich und die Niederlande, in: Nicole Colin, Mathias N. Lorenz und Joachim Umlauf (Hg.), Täter und Tabu. Grenzen der Toleranz in deutschen und niederländischen Geschichtsdebatten, Essen 2011, S. 45–59, hier: S. 53. 26 Christoph Dieckmann, Babette Quinkert und Tatjana Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen. Formen der „Kollaboration“ im östlichen Europa 1939–1945, Göttingen 2003, Editorial,
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Obwohl die Untersuchung das Attribut „europäisch“ im Titel führt, kann und wird es nicht um den ganzen Kontinent gehen. Die erforderlichen Eingrenzungen sind nicht geographischer Natur, sondern folgen inhaltlichen Kriterien, was bedeutet, dass einzig und allein ein erkennbares, signifikantes Ausmaß an Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Deutschland zur Analyse führt. Dadurch geraten auch nicht besetzte, angeblich oder tatsächlich neutrale Staaten wie Schweden und die Schweiz in den Fokus, Spanien, Portugal, Großbritannien, Irland, Island und die Türkei, gleich ob verbündet, neutral oder im alliierten Bündnis, werden hingegen nicht berücksichtigt. Dies mag insbesondere für das spanische Beispiel überraschen, entsandte Franco mit der „Blauen Division“ 1941 doch 47.000 Kämpfer an die Ostfront, aber die schnell aufgeriebenen Verbände waren „zweifellos nur von symbolischer Bedeutung“27, wie es der ausgewiesene Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller formuliert. Unberücksichtigt bleibt auch, wie es der Titel des Buches bereits zum Ausdruck bringt, die außereuropäische Kollaboration. Hier ist in jüngster Zeit vor allem der Beitrag, den die Vereinigten Staaten von Amerika wie auch die arabische Welt zur Stützung und Unterstützung des Dritten Reiches geleistet haben, zum Gegenstand der Fachdiskussion geworden, und sei es durch den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung. Nachdem in der Ära Clinton bis dahin versiegelte Akten des US-Kriegsministeriums freigegeben worden waren, ist die „mit verstecktem oder offenem Antisemitismus durchwirkte moralische Indifferenz“ der Washingtoner Administration nicht mehr zu leugnen, „die auch durch das frühzeitige Wissen um die Vernichtungslager nicht erschüttert wurde“.28 Edwin Black hat gezeigt, in welch ungeheurem Ausmaß der IBM-Konzern die deutsche Mordmaschinerie zur Sicherung seiner weltweiten Monopolstellung mit Hollerith-Systemen, den Vorläufern des heutigen Computers, versorgt hat, die den Nazis zur Identifizierung, Erfassung, Enteignung und Deportation der Juden dienten.29 Die gesamten nahöstlichen Gesellschaften sahen in Hitler ihren quasi natürlichen Verbündeten, da er nach dem Überschreiten des Nils plante, alle Juden zu vernichten, derer er habhaft wurde, insbesondere im Jischuw, der Keimzelle des späteren Staates Israel. Auch hier standen die örtlichen Helfershelfer bereit, die nur durch Rommels Niederlage vor El Alamein nicht zum Einsatz gekommen sind. Sowohl davor als auch danach hat es erhebliche Rekrutierungen von Muslimen für Wehrmacht und SS gegeben.30 Während hierzu in den
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S. 9–21, hier: S. 10, Anm. 4; Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt am Main 1992. Müller, An der Seite der Wehrmacht, a. a. O., S. 121. Bernd Greiner, Kein Krieg um der Juden willen, in: „Die Zeit“ vom 22.12.2004, S. 44, Rezension zu: Eva Schweitzer, Amerika und der Holocaust. Die verschwiegene Geschichte, München 2004. Edwin Black, IBM und der Holocaust. Die Verstrickung des Weltkonzerns in die Verbrechen der Nazis, München 2002. Klaus-Michael Mallmann und Martin Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt 2011; gegen Mallmann und Cüppers: René Wildangel, Auf der Suche nach dem Skandal. Eine Reaktion auf den Themenschwerpunkt „Nazikollaborateure
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arabischen Staaten bis heute nicht auch nur der Ansatz einer Aufarbeitung vorliegt, hat in den USA das Bewusstsein der Mitverantwortung in den 1990er Jahren den Impuls für die Internationalisierung des Umgangs mit dem Holocaust gegeben, die für die Gesamtkonzeption dieses Bandes eine grundlegende Rolle spielt. Der in diesem Buch analysierte Zeitraum endet nicht mit dem 8. Mai 1945. In vielerlei Hinsicht könnte man sogar sagen, dass dann, nach der Darstellung der konkreten Kollaborationsformen und -praxen in den einzelnen Ländern, der eigentliche analytische Teil erst richtig beginnt. Auf die Frage, welche Rolle und welchen Stellenwert die Kollaboration im nationalen Narrativ all derer einnahm, die dabei waren, hat Tony Judt in der Einleitung zu seiner Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg gesagt: „Dieses düstere Kapitel blieb in den Darstellungen des europäischen Weges zu Churchills ‚weitem, lichtem Hochland‘ in beiden Hälften Nachkriegseuropas ausgespart (…). Europas Nachkriegsgeschichte ist überschattet von Leerstellen und Schweigen.“31 Streng genommen ist das noch die positivere Variante. Viel häufiger wurde gelogen, verbogen, vertuscht und verfälscht bis hin zur Umwidmung übelster Kollaborateure zu glorreichen Widerstandskämpfern. Auf die Amnestie folgte eine tiefe Amnesie und auf diese wiederum eine Heldenpoesie, die mit dem tatsächlichen Geschichtsverlauf wenig zu tun hatte. So wie Ernest Renan schon im 19. Jahrhundert das Vergessen als „entscheidenden Faktor“ bei der Schaffung einer Nation bezeichnet und im Fortschritt der Geschichtswissenschaft „eine Gefahr für die nationale Identität“ gesehen hatte, so wurde dieses Patentrezept in der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder angewendet, um die schwer und vor allem selbst beschädigte nationale Identität in eine bessere Zukunft ohne Regressforderungen an die eigene, schuldbeladene Vergangenheit zu retten. Doch es half alles nichts, die Geschichtswissenschaft schritt fort, und mit ihr der Prozess innergesellschaftlicher Klärung, Aufarbeitung und Vergewisserung. Eine Vergangenheit, die nicht vergehen wollte, rief sich eo ipso ins Gedächtnis, während noch mehrere Vergangenheiten um den Rang der „Meistererzählung“ im kollektiven Selbstverständnis der Nation miteinander rivalisierten. Für stolze Fahnen- und Bannerträger begannen jetzt ernüchternde Zeiten. Der Mythos der französischen Résistance wurde schon Ende der 1960er Jahre angekratzt, um schließlich ganz in sich zusammenzusinken; die dreiste österreichische Lüge, das erste Opfer des Hitlerfaschismus gewesen zu sein, wurde Mitte der 1980er Jahre durch den eigenen Bundespräsidenten entlarvt; die in der Dritten Welt“, in: Harald Schmid et al. (Hg.), Jahrbuch für Politik und Geschichte, Bd. 1, Stuttgart 2010, S. 225–231; vgl. außerdem: Klaus Gensicke, Der Mufti von Jerusalem und die Nationalsozialisten: Eine politische Biographie Amin el-Husseinis, Darmstadt 2008; Omar Kamil, Die Araber und der Holocaust. Eine Diskursgeschichte, Göttingen 2012; Gilbert Achcar, Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen, Hamburg 2012; Volker Koop, Hitlers Muslime. Die Geschichte einer unheiligen Allianz, Berlin 2012; und David Motadel, Für Prophet und Führer. Die islamische Welt und das Dritte Reich, Stuttgart 2017. 31 Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn 2006, S. 24 und 23.
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sogenannte schwedische und schweizerische Neutralität gegenüber dem Dritten Reich sah sich gleichzeitig als raffinierte Geschäftemacherei demaskiert; mit der großen Zeitenwende von 1990 und 1991 begann schließlich in Osteuropa der gigantische, bis heute andauernde Vorgang, sich zwei Totalitarismen stellen zu müssen, in die man beide wissentlich, willentlich und erheblich involviert war. Es ist deshalb nicht überraschend, sondern nur folgerichtig, dass die Frage des kollektiven Gedächtnisses in dieser Untersuchung eine zentrale Bedeutung einnimmt. Im Hinblick auf das breite, hier zu behandelnde Spektrum von der um Aufklärung bemühten, letztlich aber immer selektiven Erinnerungskultur bis hin zur konkreten, gegenwarts- und alltagsaffirmativen, oft genug parteilichen Geschichtspolitik orientiere ich mich – und zwar in einem durchaus stringenten Sinne – an den folgenden Wissenschaftlern und ihren Forschungspositionen: Arnd Bauerkämper, Christoph Cornelißen und Harald Schmid sowie – mit Rückgriffen auf Maurice Halbwachs – Aleida und Jan Assmann. Arnd Bauerkämper hat 2012 unter dem Titel „Das umstrittene Gedächtnis“ seine bahnbrechende Untersuchung zur „Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945“ als „Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte“ vorgelegt.32 Gleich eingangs führt er aus, dass in den meisten europäischen Staaten die von regelrechten „Gedächtnisregimes“ verfügte nationale Basiserzählung mit den tradierten individuellen und gruppenspezifischen Erinnerungen selten übereinstimmt. Man ist geneigt zu ergänzen: Insbesondere dort, wo die Kollaboration mit dem Dritten Reich in den Blick genommen wird. Da das kollektive Gedächtnis, wie es bereits Maurice Halbwachs betont hat, nie homogen ist, geht es also um Erinnerungskonflikte und „Gedächtniskämpfe“, in denen sich die Bestrebungen der Selbstviktimisierung und Widerstandsheroisierung zu einem festgefügten nationalen Mythenarsenal verdichten und keinen Platz mehr für eigene Verfehlungen lassen. Dieser Prozess hat erst seit der sich in den 1990er Jahren herausbildenden „negativen Erinnerung“ eine gewisse Korrektur erfahren. Damit war der Grundstein für eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur gelegt worden, aber ein Stein ist noch kein ganzes Haus. Ein gemeinsames europäisches Gedächtnis gibt es bis heute nicht, und es ist nicht absehbar, wann es dieses geben kann, zumal in Osteuropa die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit nach wie vor alle anderen Erinnerungsschichten überlagert. Dennoch hat auch hier, quasi als Nebenkriegsschauplatz, eine Debatte über das Mittun mit den deutschen Invasoren begonnen, die freilich noch ihren Weg in die Geschichtsbücher und in das Geschichtsbewusstsein finden muss. Weglassen, Verschweigen und Vergessen dominieren in diesem Bereich einstweilen noch das Procedere des (Nicht-) Erinnerns, und da die „Erinnerungshoheit“ staatlich und nicht wissenschaftlich bestimmt ist, wird dies auch noch lange so bleiben. Man vertraut auf die angeblich „heilende Wirkung des Vergessens“ und will nicht wahrhaben, dass die Aufdeckung der 32 Arnd Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn, München, Wien und Zürich 2012.
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Wahrheit damit nur gestundet ist. Erinnerung, Selbstvergewisserung und Demokratisierung stehen in einem unauflösbaren Zusammenhang, sie bedingen sich gegenseitig. Vergessen mag Schmerzen lindern und Traumata überdecken, aber erst die Einsicht in Mitschuld und Schuld an einer belastenden und belasteten Vergangenheit öffnet den Weg in eine demokratische Zukunft, in der das kollektive Gedächtnis nicht politischen Machtverhältnissen unterworfen ist.33 Christoph Cornelißen hat sich in einer Vielzahl von Analysen34 der Tatsache gewidmet, dass „verordnetes Vergessen“ und „abweichende Erinnerung“, die „oftmals nur im Verborgenen hatten überwintern können“, sich am Ende der 1980er Jahre als „wiedergefundene Gedächtnisse zurückmeldeten (…) (und die) Basis für eine Neubewertung der Vergangenheit“ bildeten.35 Dieses Hervorholen von „Unangenehmem“ und „Verdrängtem“ aus der eigenen Geschichte hat vielerorts die „Meistererzählungen“ nationaler Kollektive aufgebrochen, empfindlich korrigiert oder sogar ad absurdum geführt, kurzum, eine völlig neue Erinnerungskultur geschaffen, die nicht mehr den Interessen einer staatlich gelenkten Geschichtspolitik dient. Erst dadurch ist die Kollaborationsthematik in den meisten europäischen Staaten auf den Agendazettel der Geschichtswissenschaft geraten und steht einem Vergleich offen, der auch die ehemaligen Blockgrenzen zwischen West- und Osteuropa überwindet, „die seit 1945 ja auch als
33 Vgl. Christian Joerges, Matthias Mohlmann und Ulrich K. Preuss (Hg.), „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit“ und der Prozeß der Konstitutionalisierung Europas, Wiesbaden 2008; Lars Karl und Igor J. Polianski (Hg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Rußland, Göttingen 2009; Helmut König, Politik und Gedächtnis, Weilerswist 2008; Mathias Berek, Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen, Wiesbaden 2009; Christian Meier, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010. 34 Christoph Cornelißen, Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven, in: „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“ (GWU), Nr. 11/2003, S. 548–563; ders., Die Nationalität von Erinnerungskulturen als gesamteuropäisches Phänomen, in: GWU, Nr. 1/2011, S. 5–16; ders., „Vergangenheitsbewältigung“ – ein deutscher Sonderweg?, in: Katrin Hammerstein, Ulrich Mählert, Julie Trappe und Edgar Wolfrum (Hg.), Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 21–36; ders., Zur Erforschung von Erinnerungskulturen in West- und Osteuropa. Methoden und Fragestellungen, in: ders., Roman Holec und Jiȓi Pešek(Hg.), Diktatur – Krieg – Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945, Essen 2005, S. 25–44; ders., Lutz Klinkhammer und Wolfgang Schwentker, Nationale Erinnerungskulturen seit 1945 im Vergleich, in: dies. (Hg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt am Main 2004, S. 9–27. 35 Christoph Cornelißen, Roman Holec und Jiȓi Pešek, Politisch-historische Erinnerungen in Mittel- und Ostmitteleuropa seit 1945, in: dies. (Hg.), Diktatur – Krieg – Vertreibung, a. a. O., S. 9–24, hier: S. 9.
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erinnerungskulturelle Grenzscheiden fungiert hatten“36. Cornelißens übergreifendes Ziel ist die kontinuierliche Arbeit an einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur, in der das Beziehungsgeflecht zwischen privaten Erfahrungen und „politisch überformten Vergangenheitsdeutungen“ ausgelotet ist, das unterschiedliche Ausmaß von Mittun und „Schuld“ nicht nivelliert wird und die letztlich an die Stelle der bisherigen nationalen „Vergangenheitsbewältigung“ tritt, in der Vergangenheit oft genug weder bewältigt wurde noch werden sollte. Er beruft sich für diesen grundlegenden Paradigmenwechsel im konkreten geschichtswissenschaftlichen Vorgehen expressis verbis auf die Gedächtnistheorie von Jan und Aleida Assmann. Das Forscherehepaar nimmt a priori die Binnenunterscheidung des kollektiven Gedächtnisses in ein kommunikatives und ein kulturelles vor. Das kommunikative ist ein Kurzzeitgedächtnis, das drei aufeinanderfolgende Generationen umfasst, die zusammen eine „Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft“37 bilden, das kulturelle Gedächtnis hingegen ist epochenübergreifend. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden besteht also in Art, Umfang und Intentionalität der Speicherstruktur: Das kulturelle Gedächtnis kann auch kulturelles Vergessen sein. In beiden Fällen handelt es sich um einen selektiven Prozess, der immer wieder nach neuer Bestätigung sucht, und in beiden Fällen geht es um die Legitimierung der Gegenwart. „Schlafende“ Erinnerungen können aber, wie Aleida Assmann gezeigt hat38, sehr wohl geweckt und wirksam werden. Dies ist der Moment, in dem sich kalte in heiße Erinnerung transformiert, Vergangenheit „bewohnt“ wird und nach gesellschaftlicher Auseinandersetzung drängt, im Fall dieser Untersuchung: mit dem europäischen Faschismus und dem Nationalsozialismus, also mit bislang beschwiegener, als beschämend empfundener und traumatisierter Vergangenheit. Es ist der Beginn der Narrativität von Geschichte, weil das „Sagbare“ auch tatsächlich gesagt wird und weil aus dem Vergessen über die beiden Zwischenstufen des Erinnerns, um nicht zu vergessen, und des Erinnerns, um zu vergessen, schließlich das „dialogische Erinnern“ wird. „Dabei handelt es sich zwar noch 36 Cornelißen, Zur Erforschung von Erinnerungskulturen, a. a. O., S. 43. 37 Ders., Klinkhammer und Schwentker, Nationale Erinnerungskulturen seit 1945 im Vergleich, a. a. O., S. 13; vgl. dazu Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2010. 38 Aleida Assmann, Wie wahr sind Erinnerungen?, in: Harald Welzer (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 103–122, hier: S. 104; s. dazu: Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?, München 2013; grundsätzlich: dies., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999; dies., Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006; dies., Auf dem Weg zu einer europäischen Geschichtskultur? (= Wiener Vorlesungen im Rathaus, Folge 161), Wien 2012; Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin und Neuwied 1966 (frz. Original: 1925); Wolfgang Bergem, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, in: Schmid et al. (Hg.), Jahrbuch für Politik und Geschichte, Bd. 1, S. 233– 253.
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keineswegs um eine allgemein praktizierte Form des Umgangs mit einer geteilten Gewaltgeschichte, aber doch um eine große kulturelle und politische Chance, die in dem Projekt Europa enthalten ist.“39 Ohne den entscheidenden Schritt von der shared zur shareable memory (Luisa Passerini) ist der Weg zu diesem Projekt nicht gangbar, und er ist steinig und schwer. Er führt, wie Jan Assmann unter Rückgriff auf Maurice Halbwachs (1877–1945) überzeugend dargelegt hat, über ein kulturelles, erhebliche normative Kraft entfaltendes Gedächtnis mit einem gigantischen Potential an Ritualen, kanonischen Texten, Traditionen, Bildern, Zeremonien, Symbolen, Straßennamen sowie Gedenk- und Feiertagen, die alle – zum Teil per Gesetz und Dekret – staatlich sanktioniert und auf die Identitätsstiftung einer Nation und Gesellschaft ausgerichtet sind, wobei es nicht nur um das Bejubeln von Erfolgen, sondern auch um das Vertuschen von Verbrechen geht. „Den positiven Formen der Retention und des Vergessens entsprechen die negativen Formen eines Vergessens durch Auslagerung, Verdrängens durch Manipulation, Zensur, Vernichtung, Umschreibung und Ersetzung.“40 Das Aufbrechen dieses Arsenals, der Kampf um die Erinnerung, der spätestens in der großen Zeitenwende von 1990/91 begonnen hat, dauert an. Langsam, aber sicher tritt man aus der selbst verordneten und so bequemen Quarantäne im Hinblick auf das eigene Verhalten im Zweiten Weltkrieg heraus, und der Fixpunkt auf dem neuen Schlachtfeld der Erinnerungspolitik ist und bleibt der Holocaust. Der Anfang vom Ende der Selbstviktimisierung in Europa, der einherging mit dem Anfang vom Ende der affirmativen Gedächtnispolitik eines angeblich umfassenden nationalen Widerstands, war gleichbedeutend mit der sukzessiven Gewichtsverlagerung von einem individuellen „Leidgedächtnis“ zu einem kollektiven „Schuldgedächtnis“ und mit einer „Entterritorialisierung der Erinnerungsdiskurse“ (Bauerkämper). Mit einer gewissen Überspitzung könnte man sogar sagen, dass die Grenzen im „Gedächtnisraum Europa“ genauso schnell fielen wie im Schengen-Europa. „Damit sind auch erinnerungspolitische Konzepte zurückgetreten, die auf eine Ausgliederung der Kollaborateure aus dem Nationalverband und auf eine Externalisierung der Kriegsverbrechen – besonders auf (West)Deutschland – gezielt hatten.“41 Am 3. Juli 1995 beschließt das Europäische Parlament, den 27. Januar als alljährlichen Holocaust-Gedenktag einzuführen. Bereits hier ging es eingestandener- oder uneingestandenermaßen um die Frage, ob durch die gemeinsame Erinnerung an eine gemeinsame Erblast eine gemein39 Aleida Assmann, Von kollektiver Gewalt zu gemeinsamer Zukunft. Vier Modelle für den Umgang mit traumatischer Vergangenheit, in: Kerstin von Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis, Paderborn, München, Wien und Zürich 2009, S. 42–51, hier: S. 48. 40 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Aufl., München 2007, S. 23; vgl. Harald Schmid (Hg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis, Göttingen 2009; Ulf Engel et al. (Hg.), Erinnerungskulturen in transnationaler Perspektive, Leipzig 2012. 41 Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, a. a. O., S. 23.
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same europäische Identität geschaffen werden könne. Im Mai 1998 treffen sich auf dem „Stockholm Meeting on The Holocaust“ auf Initiative des schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson Ministerialbeamte, Gedenkstättenvertreter, Museumsfachleute und Geschichtswissenschaftler aus dem Gastland, aus Großbritannien und den USA, um eine institutionelle internationale Kooperation zu diesem Problemkomplex zu vereinbaren. Sie gründen die „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF)“. Sie wurde 2013 in „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) umbenannt. Es ist der Schritt von der Europäisierung zur Internationalisierung, einige sagen sogar Kosmopolitisierung des Holocaust als der „Zivilreligion des 21. Jahrhunderts“, wie es die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb, auf jeden Fall aber zur zentralen Verankerung des Judenmords im Master-Narrativ gesamteuropäischer Erinnerung. Der ITF sind inzwischen über dreißig Staaten, darunter Argentinien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Israel, Italien, Kroatien, Litauen, Norwegen, Österreich, Polen, Ungarn und die Schweiz, beigetreten. Der nächste Quantensprung ließ nicht lange auf sich warten. Er erfolgte vom 26. bis zum 28. Januar 2000 mit dem „Stockholm International Forum on The Holocaust“, an dem 600 Delegierte aus 46 Staaten teilnahmen und eine Erklärung verabschiedeten, dass der Genozid an den Juden „die Zivilisation in ihren Grundfesten erschüttert“ habe und „in seiner Beispiellosigkeit (…) für alle Zeiten von universeller Bedeutung sein (wird).“ Die Transnationalisierung des Holocaust war damit sozusagen „abgeschlossen“, alle mussten sich dem Verbrechen stellen.42 Aber damit war noch längst nicht die Frage beantwortet, ob dieses „negative Gedächtnis“ tauglich und tragfähig, ja notwendig für einen europäischen Identitätsstiftungsprozess sein würde oder ob „Stockholm die Inszenierung eines politischen Mythos, eines Gründungsmythos einer neuen westlichen Weltinnenpolitik (war), die auf einer entkontextualisierten
42 Jens Kroh, Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main und New York 2008; ders., Erinnerungskultureller Akteur und geschichtspolitisches Netzwerk. Die „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research“, in: Jan Eckel und Claudia Moisel (Hg.), Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008, S. 156–173; Kirstin Buchinger, Claire Gantet und Jakob Vogel (Hg.), Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt am Main und New York 2009; Geoffrey Hartman und Aleida Assmann, Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, Konstanz 2012; Natan Sznaider, Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus – Eine jüdische Perspektive, Bielefeld 2008; Daniel Levy und Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001; Uffe Østergaard, Der Holocaust und europäische Werte, in: APuZ, Nr. 1–2/2008, S. 25–31; Marcel Siepmann, Vom Nutzen und Nachteil europäischer Geschichtsbilder, in: APuZ, Nr. 42–43/2013, S. 34–40; Wolfgang S. Kissel und Ulrike Liebert (Hg.), Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989, Münster 2010.
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Holocaust-Erinnerung basiert“43. Erinnerungsstandards allein, mögen sie auch gesetzlich sanktioniert sein, sind noch kein reales historisches Phänomen. Auschwitz als emblematischer Gedächtnismittelpunkt, als europäischer lieu de mémoire schlechthin ist das eine, aber das Bewusstsein der Europäerinnen und Europäer des 21. Jahrhunderts ist das andere. Wie kann das eine in dem anderen installiert werden? Das ist das Grundmotiv für die Abfassung dieses Buches. Die Stockholmer Deklarationen haben gezeigt, dass die finale europäische Integration nicht ohne das Bekenntnis zum Mitanteil am Finis Europae 1945 zu haben ist. Das ist der Sachstand und die säkulare Agenda. Aleida Assmanns „Konzept des dialogischen Erinnerns“ mit seiner Überwindung von Gedächtniskollisionen, der Öffnung von Latenzspeichern und der „wechselseitigen Anerkennung von Opfer- und Täterkonstellationen in Bezug auf eine gemeinsame Gewaltgeschichte“ spielt hier eine entscheidende Rolle. Eine „europäische Binnenkommunikation (und) ein kompatibles europäisches Geschichtsbild“ sind erst erreicht, wenn die eigene Schuld am Trauma des anderen akzeptiert und aufgearbeitet ist.44 Diese Erweiterung des Verantwortungsradius und der dialogischen Kompetenz ist wichtiger als ein genormtes europäisches Master-Narrativ, und es ist fraglich genug, ob es die eine europäische „Meistererzählung“ überhaupt jemals geben kann, soll oder muss.45 „Über Europa gibt es nicht nur eine, sondern viele Geschichten zu erzählen.“46 Zu ergänzen wäre: die in ihrer Wertigkeit und in ihrem Sinngebungsanspruch national und 43 Kroh, Transnationale Erinnerung, a. a. O., S. 147. 44 Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 197; vgl. dazu: Andreas Wirsching, Die Ungleichzeitigkeit der europäischen Erinnerung, in: Zsuzsa Breier und Adolf Muschg (Hg.), Freiheit, ach Freiheit … Vereintes Europa – geteiltes Gedächtnis, Göttingen 2011, S. 150–153; Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis und Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, Bd. 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, Bd. 2: Das Haus Europa, Bd. 3: Europa und die Welt, München 2012; Peter Schmitt-Egner, Handbuch Europäische Identität, Wiesbaden 2012; Wolfgang Schmale, Geschichte und Zukunft der europäischen Identität, Stuttgart 2008; Helmut König, Julia Schmidt und Manfred Sicking (Hg.), Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008. 45 Vgl. Krijn Thijs, Vom „master narrative“ zur „Meistererzählung“? Überlegungen zu einem Konzept der „narrativen Hierarchie“, in: Alfrun Kliems und Martina Winkler (Hg.), Sinnstiftung durch Narration in Ost-Mittel-Europa. Geschichte – Literatur – Film, Leipzig 2005, S. 21–53; Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow, „Meistererzählung“. Zur Karriere eines Begriffs, in: dies. (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 9–32. 46 Susan Rößner, Die Geschichte Europas schreiben. Europäische Historiker und ihr Europabild im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main und New York 2009, S. 344; s. dazu: Christoph Cornelißen, Europas Gedächtnislandkarte. Gibt es eine Universalisierung des Erinnerns? in: Norbert Frei (Hg.), Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts?, Göttingen 2006, S. 42–49 und Volkhard Knigge, Europäische Erinnerungskultur. Identitätspolitik oder kritisch-kommunikative historische Selbstvergewisserung, in: Kulturpolitische Gesellschaft e. V.
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transnational nach wie vor bis hin zum „Krieg der Erinnerungen“ miteinander konkurrieren, insbesondere dann, wenn Geschichte zu Geschichtspolitik wird. Hiervon losgelöst bleibt jedoch die Frage im Raum, ob „mit dem historischen Identitätsfokus Auschwitz ein verbindendes europäisches oder EU-Geschichtsbewusstsein entsteht?“47 Wie kann ausgerechnet der Tiefpunkt der deutschen, aber auch der modernen europäischen Geschichte zum Höhe-, wenn nicht Schlusspunkt einer gemeinsamen Erinnerungskultur auf dem Alten Kontinent werden? Der „Stockholm-Prozess“ hat mit der am 28. Januar 2000 unisono verabschiedeten Erklärung, „die Saat einer besseren Zukunft in den Boden einer bitteren Vergangenheit zu streuen“, nicht nur den Weg, sondern auch mögliche Antworten vorgegeben. Eine davon liegt mit diesem Buch vor, das die „Europäisierung von Mitschuld“48 zum Inhalt hat. Ein solches Unternehmen ist nicht ohne Gefahr. Christoph Dieckmann, Babette Quinkert und Tatjana Tönsmeyer warnten schon 2003: Es mag problematisch erscheinen, wenn Deutsche sich mit der Frage nach dem Verhalten der gemeinhin als „Kollaborateure“ bezeichneten Gruppen befassen. Bedeutet dies nicht, die Rechtfertigungen deutscher Beteiligter zu akzeptieren, die etwa auf das brutale Verhalten von Rumänen und Letten gegenüber den rumänischen oder lettischen Juden hinwiesen, um sich damit selbst in ein besseres, „zivilisierteres“ Licht zu setzen?49
Genau darum geht es in diesem Band nicht. Wer in ihm auch nur den Ansatz, auch nur den Hauch einer Verlagerung, Relativierung oder Abschwächung der Ausmaße und Formen des nationalsozialistischen Terrors gegen fast ganz Kontinentaleuropa sucht, der sollte ihn lieber gleich beiseitelegen, denn er kann nicht fündig werden. Im Gegenteil wird – um ein Endergebnis vorwegzunehmen – dargelegt und nachgewiesen, dass die flächendeckende und gigantische Instrumentalisierung der Kollaborateure vom Nordkap bis in die Ägäis, ihrer Ängste, Wünsche, Hoffnungen und Dienste, zu den menschenverachtendsten Praktiken der „arischen Herrenmenschen“ gehörte, die nicht einen Moment daran dachten, das einzulösen, was sie für das Mittun versprachen. Dennoch befreit dieser Sachverhalt die Kollaborationsnationen nicht von ihrer Mitverantwortung und Mitschuld, die in der bisherigen Geschichtsschreibung zum Zweiten (Hg.), Kultur. Macht. Europa – Europa. Macht. Kultur. Begründungen und Perspektiven europäischer Kulturpolitik, Essen 2008, S. 150–161. 47 Harald Schmid, Europäisierung des Auschwitzgedenkens? Zum Aufstieg des 27. Januar 1945 als „Holocaustgedenktag“ in Europa, in: Eckel und Moisel (Hg.), Universalisierung des Holocaust?, a. a. O., S. 174–202, hier: S. 178; Harald Schmid und Justyna Krzymianowska (Hg.), Politische Erinnerung. Geschichte und kollektive Identität, Würzburg 2007. 48 Schmid, Europäisierung des Auschwitzgedenkens?, a. a. O., S. 183, unter Rückgriff auf Werner Bergmann und Wilhelm Heitmeyer, Antisemitismus: Verliert die Vorurteilsrepression ihre Wirkung? in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 3, Frankfurt am Main 2005, S. 224–238, hier: S. 230. 49 Dieckmann, Quinkert und Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen, a. a. O., S. 10.
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Weltkrieg mehr als unterbelichtet geblieben ist. Volker Ullrich postulierte deshalb bereits vor Jahren in der Hamburger Wochenzeitschrift „Die Zeit“: Was bislang fehlt, ist eine große Darstellung der Kollaboration in Europa – ein immer noch mit starken Tabus belastetes Thema, das mit dem Beitritt der baltischen Staaten, Polens und Ungarns (und vielleicht bald auch der Ukraine) zur EU aber umso dringlicher geworden ist. SS-Einsatzgruppen und Wehrmacht hätten den Massenmord nicht ins Werk setzen können, wenn ihnen nicht in allen diesen Ländern willige Helfer zugearbeitet hätten. Diese Zusammenhänge zu erforschen heißt nicht, die deutsche Schuld zu verkleinern, wohl aber den Holocaust in einen europäischen Horizont zu rücken.50
Genau das wird hier getan. Jedes Kapitel beinhaltet die Vorgeschichte, die Realität und die Auseinandersetzung mit der Kollaboration in den einzelnen Staaten: ihre Aufarbeitung bzw. Nicht-Aufarbeitung, ihr Verdrängen und ihr Verschweigen.
50 Volker Ullrich, Alles bekannt? Mitnichten! Für NS-Forscher gibt es noch viel zu tun, in: „Die Zeit“ vom 3.2.2005, S. 46.
Österreich Wann wurde Österreich zu Österreich? Wann wurden aus den österreichischen Deutschen deutsche Österreicher? Wann wurde aus der Kultur- und Staatsnation eine ethnisch eigenständige, autochthone Nation Österreich? Und vor allem: Wann begann und wann endete dieser Prozess? Wenn es tatsächlich stimmt, und der diesbezügliche Konsens verbreitert sich in der europäischen Geschichtswissenschaft von Tag zu Tag, dass der eigentliche Moment der eigentlichen österreichischen Nationswerdung just in dem Zeitraum liegt, in dem dieses Land nicht an der Seite, sondern zusammen mit Hitlerdeutschland mehrheitlich gewollt und begeistert in den größten Rassen- und Vernichtungskrieg der Weltgeschichte eingetreten ist, dann haben wir es hier gleichzeitig mit einer der größten Paradoxien der Weltgeschichte zu tun: Österreich, die Kollaborationsnation schlechthin, findet im Moment des geplanten und unbegrenzten Mittuns zu sich selbst. Um Derartiges zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte vonnöten. „Über die Frage, ab wann vom Einsetzen einer nationalen Sonderentwicklung der Österreicher gesprochen werden könne, gehen die Meinungen um mehr als ein Jahrtausend auseinander.“1 Der Name Ostarrîchi als Bezeichnung für die „Ostmärker“ im Rahmen der deutschen Ostkolonisation taucht 966 zum ersten Mal auf. Das berühmte „privilegium minus“, mit dem Friedrich Barbarossa 1156 die Ostmark von Bayern abtrennte, musste ganzen Historikergenerationen als Beginn angeblicher österreichischer Eigenständigkeit herhalten, in Wirklichkeit ist mit ihm die Zugehörigkeit zum deutschen Königreich nie in Frage gestellt worden, auch nicht unter den ab 1440 herrschenden Habsburgern. Der Savoyer Prinz Eugen, der einen Zweifrontenkrieg gegen die Türken wie auch gegen das Frankreich Ludwigs XIV. erfolgreich überstand und deshalb für einige bereits zum „Erschaffer“ Österreichs avancierte, wird ausgerechnet von Hugo von Hofmannsthal als „deutscher Nationalheld“ deklariert. Maria Theresias Sohn Joseph erhob das Wiener Burgtheater 1776 zum deutschen Nationaltheater. Im 1815 „auf ewige Zeiten“ geschlossenen Deutschen Bund ist Wien und nicht Berlin die Führungsposition eingeräumt, aber die „ewigen Zeiten“ währen nur 41 Jahre. Es ist Österreich, das dem abtrünnigen Preußen 1866 den Krieg erklärt, mit dem ausdrücklichen Ziel der Wiederherstellung des Deutschen Bundes in seiner alten Struktur. Die 1 Winfried R. Garscha, Für eine neue Chronologie der österreichischen Nationsgenese, in: Gerhard Botz und Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, 2., erweiterte Ausgabe mit einem Nachwort von Gerhard Botz und einem erweiterten Dokumentenanhang, Frankfurt am Main und New York 2008, S. 346–352, hier: S. 346; vgl. auch: Gerald Stourzh, Der Umfang der österreichischen Geschichte, Wien 2011.
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Niederlage von Königgrätz ist die erste Weggabelung, Österreich wird mit Waffengewalt aus dem staatsrechtlichen Zusammenhang mit dem übrigen Deutschland herausgedrängt, aber der Impuls kam von außen, nicht von innen. Kaiser Franz Joseph erklärt ausdrücklich: „Ich bin vor allem Österreicher, aber entschieden deutsch und wünsche den innigsten Anschluss an Deutschland“2, und schließt 1879 mit Bismarck den Zweibund, eine „Beziehung besonderer Art“. Bürgermeister Karl Lueger lässt 1900 im Gemeindestatut Wiens für die Verleihung der Bürgerrechte das Gelöbnis verankern, „den deutschen Charakter der Stadt“ nach Kräften zu fördern. Dennoch saß die Demütigung von 1866 tief. Im beschaulichen Gänserndorf, vor den Toren von Wien, hatte der preußische Kapellmeister Johann Gottfried Piefke unmittelbar nach dem Sieg seinen „Königgrätzer Marsch“ erklingen lassen. Der Name des Mannes wird zur Chiffre eines zunächst allerdings noch schleichenden und latenten Absonderungsprozesses. In den Ersten Weltkrieg ging es bereits wieder mit Blankoscheck, Waffenbrüderschaft und Nibelungentreue. Im Verein mit den Hohenzollern hielten sich die Habsburger für unbesiegbar, und außerdem war dies der beste Weg, 1866 zu vergessen. Doch das Bündnis sah sich bald erheblichen Spannungen ausgesetzt. Die Kampfmoral der k. u. k. Truppen ließ mehr und mehr zu wünschen übrig, Desertionen und Flucht an ihren Frontabschnitten häuften sich. Die Klagen der deutschen Generalität über die lasche Disziplin des „Kameraden Schnürschuh“ wurden immer lauter, man empfand die „schlappen Österreicher“3 zusehends als Klotz am Bein. Spätestens Ende 1917 klafften im Zweibund derartige Risse, dass von einem gemeinsamen militärischen und politischen Vorgehen kaum noch die Rede sein konnte. Die „Sixtus-Affäre“, geheime französische Friedensfühler in Richtung des österreichischen Kaisers Karl I., kettete diesen nach ihrem Bekanntwerden und Scheitern nur noch enger an Wilhelm II., seinen Nibelungenfreund in Berlin, und unterwarf die Armeen der Doppelmonarchie de facto dem preußisch-deutschen Oberkommando. Dieses aber traute den unsicheren Kantonisten im Süden so wenig, dass sehr wohl gefechtsbereite österreichische Divisionen nicht zur Entscheidungsschlacht an die Westfront transferiert, sondern in der Reserve belassen wurden – im Urteil der jüngeren Militärgeschichtsschreibung eine gravierende Ursache für die Niederlage der Mittelmächte im Spätherbst 1918.4 Doch als die Waffen schwiegen, war das Zerwürfnis vergessen, sowohl in der großen Politik wie auch im Volk. Im Gegenteil: der Anschluss an Deutschland wurde als die einzig realistische Zukunftsperspektive gesehen, und die treibende Kraft waren hier 2
Zit. nach Karl Dietrich Erdmann, Die Spur Österreichs in der deutschen Geschichte: drei Staaten – zwei Nationen – ein Volk?, Zürich 1989, S. 73; auch in: GWU, Nr. 10/1987, S. 597–626, hier: S. 611. 3 Hannes Leidinger, Verena Moritz und Karin Moser, Streitbare Brüder. Österreich: Deutschland – Kurze Geschichte einer schwierigen Nachbarschaft, St. Pölten und Salzburg 2010, S. 100. 4 Vgl. Martin Müller, Vernichtungsgedanke und Koalitionskriegführung. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn in der Offensive 1917/1918. Eine Clausewitz-Studie, Graz 2003.
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die Linksparteien. Der Sozialist Victor Adler reagiert auf die Proklamation der Weimarer Republik am 9. November 1918 mit den Worten: „Wir haben die Pflicht, gegenüber diesem Ereignis sofort, schon in unserer Eigenschaft als Deutsche, Stellung zu nehmen.“5 Sogar die Kommunisten hatten sich sechs Tage zuvor ausdrücklich als „Kommunistische Partei Deutschösterreichs“ konstituiert. Am 12. November wird im Wiener Parlament die Republik „Deutschösterreich“ ausgerufen und im selben Atemzug zum „Bestandteil der Deutschen Republik“ erklärt. Man wollte also keinen unabhängigen Staat, sondern den Zusammenschluss aller von Deutschen bewohnten Gebiete des verblichenen Habsburgerreiches mit dem ausdrücklichen Ziel der Vereinigung dieses Territoriums mit dem Deutschen Reich – der Unterlegene forderte einen Machtkoloss in der Mitte Europas, der von Tirol bis Tilsit und von Flensburg bis vor die Tore Pressburgs gereicht hätte, denn die Sudetendeutschen hatten in Reichenberg bereits eine deutsch-böhmische Landesregierung gebildet. Die „Innsbrucker Nachrichten“ veranstalteten eine Umfrage, wie der eigene, in die Riesenrepublik einzubringende Teil benannt werden sollte. Die eingereichten Vorschläge lauteten „Hochdeutschland“, „Deutsches Bergreich“, „Treuland“ oder „Donau-Germanien“, nur ein Name tauchte nicht auf: Österreich.6 Bereits in den ersten Tagen seines Amtierens beschloss der Kabinettsrat der neuen Wiener Regierung die Entlassung nichtdeutscher Personen aus dem Staatsdienst. In einem am 2. März 1919 vereinbarten Geheimprotokoll zwischen Otto Bauer, dem Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, und dem Reichsaußenminister Graf Brockdorff-Rantzau wird „eine Art Vorvertrag über den zukünftigen Zusammenschluss“7 vereinbart. Über Staatsrecht, Handelspolitik, Währung und Verkehr sollte gemeinsam befunden werden, der Sitz des Reichspräsidenten sollte zwischen Berlin und Wien alternieren.8 Bauer war der führende Theoretiker des Austromarxismus und von 1918 bis 1934 stellvertretender Vorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP), jener Partei, aus der die Persönlichkeit kam, für die das Zusammengehören von Deutschen und Österreichern innerhalb eines Volkes schlichtweg einer Schicksalsgemeinschaft glich: Karl Renner, der erste Staatskanzler der Ersten und der erste Bundespräsident der Zweiten Republik. Karl Matthias Renner wurde 1870 als achtzehntes Kind einer völlig verarmten Bauernfamilie im Südmährischen geboren. Er besteht die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium, muss aber, um es zu erreichen, täglich einen dreistündigen Fußweg zurücklegen. Die Versteigerung des Elternhauses wird zu seinem politischen Erwe-
5 Zit. nach Christine Axer, Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Deutschland und Österreich im Vergleich und im Spiegel der französischen Öffentlichkeit, Köln, Weimar und Wien 2011, S. 173. 6 Vgl. Leidinger, Moritz und Moser, Streitbare Brüder, a. a. O., S. 118 f. 7 Erdmann, Die Spur Österreichs in der deutschen Geschichte, a. a. O., S. 75. 8 Vgl. Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien 2011.
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ckungserlebnis. „Das Leben und Leiden des Proletariats waren fortan mein eigenes.“9 Seine Gattin Luise verbat sich noch nach 1945, als „Frau Bundespräsident“ angesprochen zu werden. Von 1907 an ist er Reichs-, von 1920 bis 1934 Nationalratsabgeordneter. 1945 ist er maßgeblich an der Wiederbegründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei als Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) beteiligt. Maßgebliche Historiker sind sich darin einig, dass Renner bis zu seinem letzten Atemzug am Silvesterabend des Jahres 1950 die Existenz einer eigenständigen österreichischen Nation bestritten hat. Seine späten, scheinbar in diese Richtung gehenden Bekenntnisse seien vielmehr taktisch-opportunistischer Natur, „vielleicht sogar auch bloß vorläufig formuliert“10 gewesen, und sein ganzes Misstrauen, wenn nicht seine Verachtung galten jener Nation, die die „Heimkehr des lange abwesenden Verwandten in die gemeinsame Familie“11 nach dem Ersten Weltkrieg mit aller Macht verhindert hatte, nämlich Frankreich. „Der Rest heißt Österreich“, mit diesem lapidar-zynischen Satz beendete der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau am 2. September 1919 in St. Germain bei Paris die Auflösung, genauer: die Zerstückelung des untergegangenen Vielvölkerstaates an der Donau, „eine der verhängnisvollsten Amputationen des 20. Jahrhunderts“12. Der neue, von außen erzwungene Staat musste das Wort „deutsch“ aus seinem Namen streichen und bekam das kategorische Anschlussverbot auferlegt. Das war angesichts des ein Jahr vorher von dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson im Rahmen seiner berühmten „vierzehn Punkte“ verkündeten Selbstbestimmungsrechts der Völker ein bemerkenswerter Vorgang; denn den Polen, Rumänen, Südslawen und Italienern, die unter der Herrschaft Wiens gestanden hatten, wurde auf dieser Basis genau das gewährt, was für die Deutschösterreicher den unmittelbaren casus belli bedeutet hätte. Das Ergebnis war „ein willkürlicher Fetzen Land“ (Hans Kelsen), ein „Staat, den keiner wollte“ (Hellmut Andics)13, mitsamt einer manisch-obsessiven Anschlusssehnsucht, die den direkten Weg in die Katastrophe bahnte. 9 Vgl. Christian Dickinger, Österreichs Präsidenten von Karl Renner bis Thomas Klestil, Wien 2000; S. 11. 10 Peter Burian, Karl Renner. Von der deutschen zur österreichischen Nation, in: Peter Alter, Wolfgang J. Mommsen und Thomas Nipperdey (Hg.), Geschichte und politisches Handeln. Studien zu europäischen Denkern der Neuzeit – Theodor Schieder zum Gedächtnis, Stuttgart 1985, S. 301–316, hier: S. 314; Siegfried Nasko, Karl Renner – Zu Unrecht umstritten? Eine Wahrheitssuche, Salzburg 2016; Richard Saage, Der erste Präsident. Karl Renner – eine politische Biografie, Wien 2016. 11 Burian, Karl Renner, a. a. O., S. 308; vgl. auch Ernst Panzenböck, Ein deutscher Traum. Die Anschlussidee und Anschlusspolitik bei Karl Renner und Otto Bauer, Wien 1985. 12 Wolf in der Maur, Auf der Suche nach einer patriotischen Utopie, in: Anton Pelinka und Erika Weinzierl (Hg.), Das große Tabu. Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit, o. O. (Wien) 1987, S. 114–142, hier: S. 114. 13 Hellmut Andics, Der Staat, den keiner wollte. Österreich 1918–1938, Wien 1962. Bereits hier ist die absurde Interpretation Timothy Snyders widerlegt, den „Anschluss“ als Staatszerstörung zu
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Bereits 1921 in Tirol und Salzburg durchgeführte Referenden erbrachten ein hundertprozentiges Votum für Deutschland, die Vorarlberger sprachen sich für die Angliederung an die Schweiz aus. Das „Sich-deutsch-Fühlen“ galt als der Normalzustand. In der Verfassung vom Oktober 1919 wird Deutsch deshalb als Staatssprache verankert, weil „unsere Eigenschaft als deutscher Nationalstaat“ dadurch zum Ausdruck gebracht werde. Im Januar 1921 gedachte der Nationalrat in Wien in feierlicher Zeremonie der fünfzig Jahre zuvor erfolgten Gründung des Deutschen Reiches durch die eiserne Hand Bismarcks. Der Anschluss wurde zum Heilmittel, zur Lösung und zum Königsweg für alle und alles deklariert, zum „Sehnsuchtsort“ und zum „unverrückbaren Leitstern“14 der österreichischen Politik. Er wurde als Neutralisierung der Folgen des „Bruderkampfes“ von 1866 oder gar als späte Vollendung des Fragment gebliebenen Einigungswerkes der Paulskirche gesehen. Er war der einzige Weg, mit dem die „wirtschaftliche Lebensunfähigkeit“ des kleinen Staates „Neuösterreich“, wie Renner ihn gern nannte, behoben werden konnte, mochte diese nun eingebildet oder real sein. Immerhin musste, nachdem die Sozialdemokraten 1920 in die Opposition gegangen waren, ausgerechnet die Regierung aus der Christlichsozialen und der Großdeutschen Volkspartei 1922 einen Völkerbundkredit in Höhe von 650 Millionen Goldkronen aufnehmen, den sie nur unter der Auflage bekam, in den nächsten zwanzig Jahren keine Verbindung mit Deutschland einzugehen. Der einzige Kommentar der SDAP hieß „nationaler Verrat“, tatsächlich war aber die ökonomische Notlage ausschlaggebend, denn im Koalitionsvertrag beider Parteien hatte es geheißen: „Festhalten an der Anschlusspolitik unter inniger Fühlungnahme mit der deutschen Reichsregierung (und) Heranziehung deutschen Kapitals“. Überhaupt spielte bei den Konservativen der Wunsch nach der Loslösung vom „roten, verjudeten Wien“ in der Entscheidung für das Zusammengehen mit dem „antirevolutionär“ gewordenen Deutschland eine immer stärkere Rolle.15 Der Weg in die Gemeinsamkeit beim größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte war früh vorgezeichnet. Im Innviertel und in den Randzonen Nord- und Südböhmens liegt der Wurzelgrund des europäischen Faschismus. Schon vor der Jahrhundertwende entstanden hier radikal nationalistische, alles „Fremdrassige“ aggressiv ausgrenzende Gruppiedeklarieren, „obwohl er dafür den Beweis schuldig bleibt“ (Michael Wildt, Ausschnitt aus der Wirklichkeit, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 13.10.2015, S. 17); vgl. Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, München 2015, S. 99. Außerdem wird auch hier bereits Snyders völlig verkürzte (und verfehlte) Argumentation sichtbar, den Holocaust monokausal auf die Zerstörung staatlicher Strukturen in Europa zurückzuführen, die er in seinem Buch unzählige Male wiederholt. 14 Matthias Pape, Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945–1965, Köln, Weimar und Wien 2000, S. 38. 15 Vgl. Rolf Steininger, Deutschland – der große Nachbar, in: Stefan Karner und Lorenz Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament, Innsbruck, Wien und Bozen 2008, S. 513–526, hier: S. 514.
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rungen und Vereine, die rasch ein überstaatliches Netzwerk ausbildeten.16 Von hier aus sprang der Funke auf die Donaumetropole über, in der um die Jahrhundertwende 170.000 Juden lebten. Alle Burschenschaften besaßen einen Arierparagraphen, mit denen Persönlichkeiten wie Sigmund Freud, Max Reinhardt, Arthur Schnitzler, Franz Werfel, Gustav Mahler und Theodor Herzl ausgegrenzt wurden. Der 24-jährige Adolf Hitler verließ Wien 1913 nach eigenem Bekenntnis als „absoluter Antisemit“. In seinem Buch „Mein Kampf “ lässt er nicht den geringsten Zweifel am Anschluss seines Heimatlandes an Deutschland („Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich“), schweigt sich aber über das Wann und Wie aus. Mit den Worten „Wer a Jud ist, bestimm i“ hatte Karl Lueger die Richtung gewiesen, die fortan verfolgt wurde. Der Moraltheologe Ignaz Seipel, laut Papst Pius XI. ein „Vorherbestimmter und von der Vorsehung Erweckter“17, der seit 1922 an der Spitze der Regierung stand, hatte als übergreifendes Ziel ausgegeben, Österreich „ganz gründlich von den Juden zu scheiden“. Sein christlichsozialer Parteifreund Leopold Kunschak, der 1945 erster Parlamentspräsident der Zweiten Republik wurde, forderte bereits 1919 „die sofortige Abschiebung aller seit 1914 eingewanderten Juden“.18 Seipel wollte den katholisch dominierten Einparteienstaat, in dem gemäß der Papstenzyklika „Quadragesimo anno“ von 1931 die Zugehörigkeit zu „Ständen“, nicht zu Parteien ausschlaggebend war. Zielgerichtet ließ er die Frontkämpferverbände des Ersten Weltkriegs zu einer „Heimwehr“ umbilden19, die Sozialdemokraten antworteten mit dem Aufbau des „Republikanischen Schutzbundes“. Beide Organisationen waren bis an die Zähne bewaffnet und Konfrontationen nur eine Frage der Zeit. Im Januar 1927 töteten HeimwehrMänner einen Invaliden und ein Kind, wurden aber freigesprochen. Als die sozialdemokratische „Arbeiter-Zeitung“ daraufhin zu einer Demonstration vor dem Wiener Justizpalast aufrief, ließ Seipel Polizei und Armee in die Menge schießen, fast hundert Menschen starben. 1929 musste er – noch funktionierte die Demokratie –
16 Vgl. Julia Schmid, Kampf um das Deutschtum. Radikaler Nationalismus in Österreich und dem Deutschen Reich 1890–1914, Frankfurt am Main und New York 2009; Lisa Kienzl, Nation, Identität und Antisemitismus. Der deutschsprachige Raum der Donaumonarchie 1866–1914, Göttingen 2014. 17 Zit. nach Gerhard Besier, Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland. Die Faszination des Totalitären, München 2004, S. 137. 18 Zit. nach „Der Spiegel“ vom 16.4.1986. 19 Vgl. Walter Wiltschegg, Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Volksbewegung? München 1985; Martin Moll, Konfrontation – Kooperation – Fusion. Das Aufgehen des Steirischen Heimatschutzes in der österreichischen NSDAP, in: Daniel Schmidt, Michael Sturm und Massimiliano Livi (Hg.), Wegbereiter des Nationalsozialismus. Personen, Organisationen und Netzwerke der extremen Rechten zwischen 1918 und 1933, Essen 2015, S. 105–123; Hans Schafranek und Herbert Blatnik (Hg.), Vom NS-Verbot zum „Anschluss“. Steirische Nationalsozialisten 1933–1938, Wien 2015.
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zurücktreten, hielt bis zu seinem Tod 1932 aber alle Fäden in der Hand. „Sein Gedankengut bereitete den Austrofaschismus vor“20. Sein Nachfolger Engelbert Dollfuß ließ das Parlament ausschalten, verbot die kommunistische Partei, löste den „Republikanischen Schutzbund“ auf und stattete die „Heimwehr“ mit polizeilichen Vollmachten aus. In ihr erscholl der Ruf, man müsse „Hitler überhitlern“. In einer umjubelten Rede am 11. September 1933, dem 250. Jahrestag der Befreiung Wiens von der türkischen Belagerung, forderte Dollfuß eine „neuösterreichische Identität“ auf der Basis eines „sozialen, christlichen, deutschen Staates Österreich auf ständischer Grundlage unter starker, autoritärer Führung“21. Sein erklärtes Gesellschaftsmodell war das mittelalterliche Bauernhaus, mit dessen klarer Trennung in Herrschaft und Gesinde vermeintlich verlorene vormoderne Werte restauriert werden sollten. Vom Februar 1934 an ging Dollfuß gegen die SDAP vor, ließ Tausende Sozialdemokraten verhaften und etliche in ein „Anhaltelager“ einweisen, das nichts anderes als ein Konzentrationslager war. Blutige Auseinandersetzungen mit dem Schutzbund waren die Folge, die Dollfuß zu einem Verbot der SDAP nutzte. Am 1. Mai 1934 verkündete er „im Namen Gottes, des Allmächtigen“, eine neue Verfassung, die den Ständestaat einführte und nur noch eine einzige Partei, die „Vaterländische Front“, zuließ, die kategorisch nach dem Führerprinzip ausgerichtet war. Gleichzeitig wurde ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl ratifiziert. Nach dem Willen des Vatikans sollte Österreich der Ausgangspunkt einer Rekatholisierung des gesamten europäischen Kontinents sein, Dollfuß also quasi ein moderner Ignatius von Loyola. Auf jeden Fall hatte der Austrofaschismus damit sein Fundament und nur noch einen zwar illegalen, gleichwohl aber, wie sich zeigen sollte, schlagkräftigen Gegner im Land: den österreichischen Nationalsozialismus. Er verfügte im Juni 1933 über vier SS-Standarten mit zusammen 2200 Mann. Noch unter den Habsburgern hatte sich, zunächst nur in Böhmen und Mähren, 1904 in Aussig die Deutsche Arbeiterpartei gegründet. Ihre Nachfolgerin, die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei, erzielte bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Februar 1919 ganze 0,8 Prozent der Stimmen. Ab 1926 unterstand sie der deutschen Schwesterpartei und führte auch ihren Namen. In Wien wurde eine „zwischenstaatliche Kanzlei“ eingerichtet und „gesamtdeutsche Vertretertagungen“ wurden organisiert, auf denen Hitler sich als „unser reichsdeutscher Führer“ begrüßt sah, aber der Erfolg blieb aus. Selbst Anfang der 1930er Jahre hatte die Partei nicht mehr als 15.000 Mitglieder, die meisten kamen aus dem „historischen Bollwerk der Deutschheit“, der Steiermark. Im Juni 1933, zum Zeitpunkt ihres Verbots, war sie immer noch eine Splittergruppe, die von der Unterstützung der deutschen Genossen abhängig blieb. Auch ihr erklärtes Selbstverständnis, die Folgeorganisation der Großdeutschen Volkspartei zu sein, sorgte kaum für Zulauf. Deshalb setzte man alles auf eine Karte und 20 Karl Vocelka, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, Graz 2000, S. 276. 21 Zit. nach Besier, a. a. O., S. 139.
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versuchte den Putsch. Am 25. Juli 1934 drangen Mitglieder der (illegalen) SS-Standarte 89, bekleidet mit Uniformen der österreichischen Armee, ins Wiener Bundeskanzleramt ein und nahmen die anwesenden Regierungsmitglieder fest.22 Dollfuß versuchte zu entkommen, wurde aber auf der Flucht erschossen. Zwar brach die angestrebte Machtergreifung schnell in sich zusammen, zumal Hitler keine Hand rührte, nachdem der italienische Diktator Benito Mussolini zur Wahrung der österreichischen Integrität Truppen am Brenner hatte aufmarschieren lassen, aber um Engelbert Dollfuß und sein Schicksal entstand ein regelrechter Kult. Er sei das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen, er sei der erste europäische Regierungschef gewesen, der sich Hitler „frontal entgegenstellt“ habe, und überhaupt sei er ein Meilenstein bei der Gewinnung österreichischer Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und Nationalität und komme deshalb einem Märtyrer gleich. Der Streit hierum geht bis heute. Tatsächlich hatte Dollfuß den Austrofaschismus zu keinem Zeitpunkt als nicht- oder antideutsch verstanden, vielmehr wollte er einen Staat errichten, der das „bessere Deutschland“23 verkörperte. Es ist überaus bemerkenswert, dass diese These auch in der Sozialdemokratie vertreten worden ist. So heißt es am 15. Oktober 1933 im „Arbeiter-Sonntag“, einem führenden Organ der SDAP: „Ein deutsches Land der Freiheit, ein deutsches Land des Geistes und der Kultur – das sollte Österreich sein.“24 Als Autor dieser Zeilen wird kein Geringerer als Otto Bauer vermutet, denn am Vortage hatte er dem SDAP-Parteitag den Vorschlag unterbreitet, die „Unabhängigkeit und die Freiheit des österreichischen Volkes gegen den deutschen Nationalfaschismus zu verteidigen, (indem) diese Republik für die gesamte deutsche Nation die Mission erfüllt, (…) auf einem Teil deutschen Bodens (!) (…) dem Aufwärtsringen deutscher arbeitender Volksmassen eine Stätte zu erhalten.“25 Das also wäre die nationalpolitische Agenda einer schwarz-roten Koalition aus Christlichsozialen und Sozialdemokraten gewesen, 22 Vgl. Christiane Rothländer, Die Anfänge der Wiener SS, Köln und Wien 2010. 23 Erdmann, Die Spur Österreichs in der deutschen Geschichte, a. a. O., S. 77; anders: Garscha, Für eine neue Chronologie der österreichischen Nationsgenese, a. a. O., S. 350 f.; Hans Schafranek, Österreichische Nationalsozialisten in der Illegalität 1933–1938. Ein Forschungsbericht, in: Florian Wenninger und Lucile Dreidemy (Hg.), Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien, Köln und Weimar 2013, S. 105–140; Kurt Bauer, Hitlers zweiter Putsch. Dollfuß, die Nazis und der 25. Juli 1934, St. Pölten 2014; Ilse Reiter-Zatloukal, Christiane Rothländer und Pia Schölnberger (Hg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Bestandsaufnahmen und Perspektiven, Wien, Köln und Weimar 2012; Emmerich Tálos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938, Münster, Hamburg, Berlin und London 2013; Werner Suppanz, „Er gab für Österreich sein Blut, ein wahrer deutscher Mann“. Engelbert Dollfuß und die austrofaschistische Version des Führertums, in: Benno Ennker und Heidi Hein-Kircher (Hg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, Marburg 2010, S. 137–156. 24 Zit. nach Gerald Stourzh, Vom Reich zur Republik, in: Botz und Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 287–324, hier: S. 294. 25 Zit. nach ebd., S. 294 f.
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wäre sie denn zustande gekommen. Stattdessen jedoch beherrschte die „kraftlose Halbdiktatur“ (Bracher) der „vaterländischen Front“ das Feld. Dollfuß’ Nachfolger Kurt Schuschnigg war ein überzeugter Monarchist, der Otto von Habsburg stets mit „Eure Majestät“ anzureden pflegte. Obwohl er in dem Vermächtnis dieses Herrscherhauses durchaus etwas spezifisch Österreichisches sah, wertete er dies nie als Gegensatz zum „deutschen Weg“ und beugte sich zusehends dem Druck aus dem Reich. Zwar erreichte er in einem am 11. Juli 1936 unterzeichneten Abkommen, dass Hitler die Souveränität der Alpenrepublik anerkannte, in Wirklichkeit handelte es sich bei dem Vertrag aber um „ein Abhängigkeitsdokument erster Klasse“26. In vielem wurde mit ihm der Anschluss bereits vorweggenommen. Österreich musste sich als „deutscher Staat“ bekennen, die nach 1934 im Land gebliebenen Nationalsozialisten bekamen praktisch freie Hand. Seit Februar 1938 amtierte in Wien ein „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“, der Weisungen einzig und allein aus Berlin entgegennahm. Am zwölften des Monats zitierte Hitler Schuschnigg auf seinen Berghof nach Berchtesgaden. Den Weg musste er sich durch ein Spalier von SS-Leuten bahnen, die nach dem gescheiterten Putsch geflohen, in Schuschniggs Augen also Landesverräter waren. Das Moment der Demütigung und der Einschüchterung war von den Nazis wohlberechnet. Schuschnigg wird vor vollendete Tatsachen gestellt. Er muss zustimmen, dass Arthur Seyß-Inquart, der Parteichef der österreichischen Nationalsozialisten, als Innenminister „mit voller und unbeschränkter Polizeikompetenz“ in sein Kabinett eintritt. Anderenfalls, so Hitler, „marschiere ich noch in dieser Stunde!“ Der Österreicher fügt sich in das Unvermeidbare, hält am 24. Februar im Wiener Parlament aber eine Rede, die mit „Bis in den Tod Rot-Weiß-Rot!“ endet und immer wieder von „Heil Schuschnigg“-Rufen unterbrochen wird. Am 9. März fordert er seine Landsleute auf, sich in einer Volksabstimmung für ein „freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich“ auszusprechen. Mit dieser Willensbekundung endet unser Blick in die „Vorgeschichte“. Er hat eines gezeigt: Vom „Wachsen und Werden“ einer österreichischen Nation kann bis hierhin nicht die Rede sein; im Gegenteil, alle maßgeblichen politischen und gesellschaftlichen Kräfte sind und bleiben bis zu diesem Zeitpunkt auf Deutschland ausgerichtet. Was nunmehr beginnt, hat Anton Pelinka treffend „das Paradoxe im Paradoxen“27 genannt: Der langsame, beharr26 Michael Gehler, Österreich und das Deutsche Reich. Gemeinsamkeiten und Unterschiede 1918– 1938 mit einem Ausblick auf die Zeit nach dem Anschluss, in: ders. und Ingrid Böhler (Hg.), Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart – Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag, Innsbruck 2007, S. 60–83, hier: S. 72; Lothar Höbelt, Die Erste Republik Österreich (1918–1938). Das Provisorium, Wien 2018; Manfried Rauchensteiner, Unter Beobachtung. Österreich seit 1918, Wien 2017. 27 Anton Pelinka, Windstille. Klagen über Österreich, Wien und Berlin 1985, S. 149; ders, Die gescheiterte Republik. Kultur und Politik in Österreich 1918–1938, Wien 2017.
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liche, immer wieder von Gegensätzen, Widersprüchen und absonderlichsten Schizophrenien gekennzeichnete Prozess der österreichischen Nationsfindung ist gleichlaufend und gleichbedeutend mit der bedingungslosen deutsch-österreichischen Kollaboration und Gemeinsamkeit im Begehen des größten Verbrechens der Weltgeschichte. Eines der aussagekräftigsten Beispiele für dieses Doppelparadox ist der Anschluss selbst. Schuschnigg tritt am Abend des 11. März 1938 mit den Worten zurück: „Wir weichen der Gewalt, (weil) um keinen Preis deutsches Blut“ vergossen werden soll, schließt aber mit dem Ausruf: „Gott schütze Österreich!“ Fast noch aufschlussreicher ist die Antwort, die er auf sein Hilfeersuchen hin von den Westmächten erhält. Diese sprechen von einer „innerdeutschen Angelegenheit“! In der Tat ist die Berliner NSFührung, die sich ihrer Sache keineswegs so sicher war, von dem Ausmaß der Zustimmung überrascht gewesen, die der Wehrmacht zuteilwurde, nachdem sie die Grenze in den frühen Morgenstunden des 12. März überschritten hatte. Gerade die Frauen jubelten den deutschen Soldaten in frenetischer Huldigung zu, wie es die Bilddokumente in seltener Eindeutigkeit belegen – es war ein Blumenfeldzug, eine Massenpsychose. Die katholischen Pfarrer ließen alle Glocken läuten. Militärischer Widerstand ist nie ernsthaft in Erwägung gezogen worden, 1866 sollte sich nicht wiederholen. Eine uralte Sehnsucht war gestillt. Keine Brücke wurde gesprengt, keine Barrikade errichtet. Die meisten österreichischen Polizisten hatten sich bereits vorsorglich eine Hakenkreuzbinde in die Tasche gesteckt. Die Parteibüros der österreichischen NSDAP wurden plötzlich von immer schon „aufrechten Nazis“ gestürmt, die den Mitgliedsausweis wollten. Hitler kam über Braunau und versetzte die Alpenländler augenblicklich in einen Freudentaumel. Die Menschen waren wie elektrisiert. Als er am 15. März vom Balkon der Wiener Hofburg „vor der Geschichte den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“ vermeldet, sieht er auf die größte Menschenmenge herab, die sich in Österreich jemals unter freiem Himmel versammelt hat. Die Stadt war ein vor Erregung kochendes Meer. „Wir jubeln alle wie kleine Kinder“, frohlockt der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, als er die Wehrmachtssoldaten durch die Straße der Donaumetropole ziehen sieht. Seinen Aufnahmeantrag in die NSDAP, den er später bis zu seinem Tod bestreitet, begründet er wie folgt: „Ich war als Deutschdenkender und Naturwissenschaftler selbstverständlich immer Nationalsozialist.“28 Brutalste Plünderun28 Zit. nach „Der Spiegel“, Nr. 38/2003, S. 164; vgl. Angelika Königseder, Faschistische Bewegungen in Österreich vor 1938; in: Hermann Graml, Angelika Königseder und Juliane Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß. Antisemitismus in den faschistischen Bewegungen Europas, Berlin 2001, S. 75–94; dies., Österreich – ein Land der Täter? in: Wolfgang Benz und Juliane Wetzel (Hg.), Solidarität und Hilfe für die Juden in der NS-Zeit: Regionalstudien II, Berlin 1996, S.173–229; mit umfassender Analyse des Antisemitismus in Parteien, Verbänden, Kirche, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft: Gertrude Enderle-Burcel und Ilse Reiter-Zatloukal (Hg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938, Wien, Köln und Weimar 2016.
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gen und „Arisierungen“ jüdischer Geschäfte begannen, lange bevor die Wehrmacht Wien erreicht hatte. Gnädigerweise darf der 82-jährige Sigmund Freud die Stadt, in der er seit seinem vierten Lebensjahr zu Hause gewesen war, verlassen, muss aber schriftlich bestätigen, dass er nicht misshandelt worden ist. Er tut, wie ihm geheißen, und fügt auf dem Formular hinzu: „Ich kann die Gestapo jedermann auf das beste empfehlen“29. Schuschnigg hingegen wird von der Gestapo eingekerkert, rettet seine Haut aber mit einem Gnadengesuch an Hitler, in dem er sich anbietet, „der deutschen Sache dienlich zu sein. Die heutige Lösung ist ebenso zwangsläufig als endgültig, historisch und begründet.“ Er stehe „in bedingungsloser und vorbehaltloser Loyalität zu Führer, Reich und Volk“. Dabei hatte gerade Schuschnigg wie kein Zweiter für das „andere“ Österreich und dessen fatale Identitätsspaltung gestanden, was sich am Beispiel seiner für den 13. März geplanten, von Hitler verhinderten, und der von den Nazis am 10. April tatsächlich durchgeführten Volksabstimmung – die eine nicht weniger manipulativ angelegt als die andere – am besten illustrieren lässt. Das reichsweite Referendum vom 10. April 1938 erbrachte die für totalitäre Regime üblichen 99 Prozent Ja-Stimmen. Der Wiener Kardinal Innitzer betrat das Wahllokal mit dem zum „deutschen Gruß“ erhobenen rechten Arm und verließ es in gleicher Pose. Man hatte die Auswahl zwischen zwei Kreisen, wobei der Radius für das Nein kleiner bemessen blieb. Schuschnigg war der eigenen Bevölkerung gegenüber misstrauischer: Er hatte nur Ja-Zettel für ein unabhängiges Österreich drucken lassen wollen; die Nein-Voten hätten selbst angefertigt und wohl auch signiert werden müssen.30 Karl Renner, der über all die Jahre seine aktive Mitgliedschaft im Österreichisch-Deutschen Volksbund gepflegt hatte, machte nicht den geringsten Hehl daraus, dass er den Anschluss als „wahrhafte Genugtuung“31 für das in St. Germain 1919 erlittene Unrecht und als „geschichtlichen Fortschritt“ empfand. Ohne Wenn und Aber bekannte er sich nochmals zu dem Artikel, den er bereits am 9. Februar 1930 in der „Arbeiter-Zeitung“ veröffentlicht hatte: „Keine geografische, ethnische, ökonomische Gewalt, keine Macht der Welt, kein Diktat einer Siegerkoalition kann die Grundtatsache unseres Daseins ändern: Wir sind ein großer Stamm der großen deutschen Nation (…). Wir sind keine Nation, waren es nie und können es niemals werden.“32 Da überrascht dann kaum noch, dass Renner sich im Herbst 1938 gleichermaßen für das Münchner Abkommen
29 Zit. nach Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Bd. 2: Verfolgung und Vernichtung 1933–1945, Bonn 2006, S. 262. 30 Vgl. Erwin A. Schmidl, Der „Anschluß“ Österreichs. Der Deutsche Einmarsch im März 1938, Bonn 1994, S. 95; Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien 2008, S. 157 ff., 184 ff. und 239 f.; Evan Burr Bukey, Hitlers Österreich, Hamburg 2001, S. 57; Manfred Flügge, Stadt ohne Seele. Wien 1938, Berlin 2018. 31 Renner in: „Neues Wiener Tageblatt“ vom 2.4.1938. 32 Zit. nach Dickinger, Österreichs Präsidenten von Karl Renner bis Thomas Klestil, a. a. O., S. 33.
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aussprach, weil damit auch die Sudetendeutschen heim ins Reich geholt wurden.33 Die heutige Forschung ist sich darin einig, dass beide Abstimmungen, sowohl die verhinderte vom 13. März wie auch die tatsächlich durchgeführte vom 10. April, unter freien und demokratischen Bedingungen einen Zustimmungsgrad von bis zu 75 Prozent erreicht hätten.34 Das ist ein bemerkenswerter Befund, denn er besagt, dass jeder zweite Österreicher erst für und einen Monat später gegen die österreichische Unabhängigkeit votiert hätte bzw. hat. Mithin war es schon ein merkwürdiger Nationswerdungsprozess, der da in Gange kam und der dem Bild vom Österreicher als dem kleinen Schlawiner, der es sich richtet und der je nach welthistorischer Baustelle rechtzeitig auf das richtige Gerüst springt, eine frühe Bestätigung liefert. Und eben deshalb ist es genauso legitim wie erforderlich, das, was jetzt einsetzt, „die massenhafte Kollaboration der österreichischen Bevölkerung mit dem Nationalsozialismus“35 zu nennen. Österreicher haben vom Anfang bis zum bitteren Ende an allen Fronten gekämpft, unter ihnen mehr als zweihundert Generale. Der österreichische Strafrechtslehrer Wenzeslaus Gleispach war einer der engsten Mitarbeiter von Roland Freisler. Österreicherinnen haben KZ-Frauenlager geleitet, so wie Maria Mandl in Auschwitz. Österreicher wie Adolf Eichmann, Anton und Alois Brunner, Ernst Kaltenbrunner und Odilo Globocnik waren initiativ und aktiv an allen Phasen der „Endlösung“ beteiligt. Österreicher denunzierten, diffamierten und demütigten, wo sie nur konnten.36 Was zunächst bei einigen noch Opportunismus gewesen sein mag, wurde schnell zur Überzeugung. Unter den wissenschaftlichen und akademischen Eliten in Österreich war antisemitisches Denken „viel massiver und radikaler ausgeprägt als unter den deutschen.“37 Auch wenn ausgerechnet Simon Wiesenthal eines zu saloppen Tons bezichtigt werden muss, so bleibt doch seine Bemerkung: „Gegen die Kristallnacht von 33 Vgl. Raimund Löw, Wie Karl Renner Österreich verriet, in: „Neues Forum“, Wien, Nr. 286 vom Oktober 1977, S. 33–37. 34 Vgl. Walter Manoschek, Die österreichische Zeitgeschichtsforschung in der Paradigmenkrise, in: Botz und Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 536–541, hier: S. 541. 35 Karl Stuhlpfarrer, Österreich, in: Volkhard Knigge und Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. 253–272, hier. S. 253. 36 Vgl. Johanna Gehmacher, Biographie, Geschlecht und Organisation. Der nationalsozialistische „Bund deutscher Mädel“ in Österreich, in: Emmerich Tálos, Ernst Hanisch, Wolfgang Neugebauer, Reinhard Siedler (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, S. 467–493; Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt 2000; vgl. aber auch: Tamara Ehs, Der „neue österreichische Mensch“. Erziehungsziele und studentische Lager in der Ära Schuschnigg 1934 bis 1938, in: VfZ, Nr. 3/2014, S. 377–396; Lisa Hauff, Zur politischen Rolle von Judenräten. Benjamin Murmelstein in Wien 1938–1942, Göttingen 2014; vgl. zu Murmelsteins Rolle als „Judenältester“ im Ghetto Theresienstadt ab September 1944 Claude Lanzmanns Film „Der letzte der Ungerechten“, in dem er Murmelstein rehabilitiert. 37 Gehler, Österreich und das Deutsche Reich, a. a. O., S. 76 f.
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Wien war die in Berlin ein gemütliches Weihnachtsfest“.38 Auf jeden Fall war das „Wiener Modell der Entjudung“ eine der entscheidenden Vorstufen des Holocaust. „Eichmanns gab es viele“.39 Das Kriegsende in der Stadt erlebten noch zweihundert Juden. Besonders unrühmlich ist das Verhalten zahlreicher österreichischer Künstler, jener Menschen, denen das Land seine weltweite Wertschätzung verdankte und verdankt. Eine unmittelbar nach dem Krieg veröffentlichte US-amerikanische Liste führt allein 258 Namen an, von denen hier nur einige erwähnt werden können. So hat die Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf, wenn auch in Posen geboren, raffiniert einen Konflikt zwischen den Operndirektionen Wien und Berlin für ihre Karriere ausgenutzt, ihre NSDAP-Mitgliedschaft nach 1945 verschwiegen und diese 1983 mit dem Beitritt zu einer Gewerkschaft verglichen. Karl Böhm, der Vater des Sissi-Gatten Karl-Heinz Böhm, klagte 1979 wegen „übler Nachrede“. In Wirklichkeit hatte er dem „Führer“ bereits 1923 beim Marsch auf die Feldherrnhalle zugejubelt und 1938 in Wien das erste Konzert im „neuen großdeutschen Raum“ vor einem überdimensionalen Hitlerbild dirigiert. Paula Wessely, die Mutter der Schauspielerin Christiane Hörbiger, erhielt nach dem Krieg ein Auftrittsverbot, weil sie in dem antisemitischen NS-Propagandafilm „Heimkehr“ eine Hauptrolle gespielt hatte. Die Krone setzte all diesem KünstlerOpportunismus aber der Meisterdirigent Herbert von Karajan auf, der der NSDAP bereits am 8. April 1933 als 25-Jähriger in seiner Heimatstadt Salzburg beigetreten war und die Mitgliedschaft erneuerte, wohin ihn seine Engagements auch verschlugen. Sein Konzertagent, der SS-Mann Rudolf Vedder, verfügte über ausgezeichnete Beziehungen zu Himmler. Von den 117 Wiener Philharmonikern, einem seiner größten Wirkungskreise, gehörten bei Kriegsende 45 der Partei an, von den 110 Berliner Philharmonikern nur acht.40 Das – mit Abstand – Schlimmste und Belastendste in diesem riesigen, von der ersten bis zur letzten Minute währenden Prozess des Mitmachens und Mittuns ist jedoch das nackte, erdrückende Zahlenmaterial, mit dem die österreichische Beteiligung am Krieg und an den Verbrechen des Dritten Reiches hieb- und stichfest dokumentiert ist. Es besagt, dass von den insgesamt sieben Millionen Österreichern 1,2 Millionen in der Wehrmacht gekämpft haben, 700.000 Mitglied der NSDAP waren und dass sie sage und schreibe 50 Prozent des Wach- und Aufsichtspersonals in den über ganz Mitteleuropa errichteten Konzentrationslagern stellten. Das sind Bevölkerungsanteile und prozentuale Raten, wie sie die Nazis nirgendwo in einem besetzten oder annektierten Ge38 Zit. nach „Der Spiegel“ vom 16.4.1986; vgl. zusammenfassend: Kurt Schubert, Geschichte der österreichischen Juden, Wien 2008. 39 Albert Wucher, Eichmanns gab es viele, München 1961; vgl. auch Wolf Gruner und Jörg Osterloh (Hg.), Das „Großdeutsche Reich“ und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“ Gebieten, Frankfurt am Main und New York 2010. 40 Vgl. Oliver Rathkolb, „… für die Kunst gelebt“, in: Pelinka und Weinzierl (Hg.), Das große Tabu, a. a. O., S. 60–84, hier: S. 65.
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biet auf dem Kontinent auch nur annähernd erreicht haben, ja wie sie nicht einmal in Deutschland selbst erzielt worden sind. Die in diesem Zusammenhang ungeheuerlichste Zahl ist von Simon Wiesenthal indes schon 1966 dem damaligen Bundeskanzler Klaus in einem offiziellen Bericht vorgelegt worden. In ihm steht nicht mehr und nicht weniger, dass von den sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden drei Millionen durch österreichische Hand ums Leben gekommen sind.41 Spätestens diese erschütternde Bilanz führt unweigerlich zu dem Befund, dass die „Ostmark“, wie sie sich nach dem Anschluss nennen musste, nationalsozialistischer war als das „Altreich“, weshalb die Frage gestattet sein muss, ob man in Österreich nicht nur die eigentliche Kollaborations-, sondern, mehr noch, die eigentliche Täternation zu sehen hat, sofern und soweit sie denn bereits eine Nation war. In der sogenannten „Mühlviertler Hasenjagd“ haben Zivilisten, ganz gewöhnliche Österreicher, noch im Februar 1945 der SS „beim Einfangen und regelrechten Abschlachten“42 von fünfhundert russischen Häftlingen geholfen, die aus dem KZ Mauthausen ausgebrochen waren. Am 28. April fand dort auf Geheiß des österreichischen Lagerleiters die letzte Vergasungsaktion des Dritten Reiches statt. Am 30. Oktober 1943, nach der siegreichen Schlacht von Stalingrad (in der drei österreichische Divisionen aufgerieben worden waren) und dem einsetzenden Vormarsch der Roten Armee, traten die Großen Drei zusammen, um über die Zukunft Österreichs zu entscheiden. Die zwei Tage später von den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Sowjetunion verabschiedete „Moskauer Deklaration“ wurde zur Legitimationsbasis der Zweiten Republik, allerdings einer doppelbödigen. Österreich wird in ihr als „das erste freie Land“ bezeichnet, „das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer“ gefallen sei, und die Absicht bekundet, „ein freies unabhängiges Österreich“ wiederherzustellen. Im gleichen Atemzug heißt es aber, das Land trage „für die Teilnahme an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung, der es nicht entrinnen kann, und dass bei der endgültigen Regelung unvermeidlich sein eigener Beitrag zu seiner Befreiung berücksichtigt werden wird“. Insbesondere Stalin war es, der 41 Memorandum Simon Wiesenthals an Bundeskanzler Klaus vom 12.10.1966, Dokumentationszentrum des Bundes jüdischer Verfolgter des Nazi-Regimes, Wien 1966; vgl. auch Walter Manoschek und Hans Safrian, Österreicher in der Wehrmacht, in: Tálos et al. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich, a. a. O., S. 331–360 sowie Bertrand Michael Buchmann, Österreicher in der deutschen Wehrmacht. Soldatenalltag im Zweiten Weltkrieg, Wien 2009. 42 Hans Safrian, Tabuisierte Täter. Staatliche Legitimationsdefizite und blinde Flecken der Zeitgeschichte in Österreich; in: Botz und Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 527–535, hier: S. 533; Richard Germann, „Österreicher“ im deutschen Gleichschritt? in: Harald Welzer, Sönke Neitzel und Christian Gudehus (Hg.), „Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll“. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten, Frankfurt am Main 2011, S. 217–228; Matthias Gafke, Heydrichs Ostmärker. Das österreichische Führungspersonal der Sicherheitspolizei und des SD 1939–1945, Darmstadt 2014; Thomas Grischany, Der Ostmark treue Alpensöhne. Die Integration der Österreicher in die großdeutsche Wehrmacht, 1938–45, Göttingen 2015.
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auf diese Formulierung gedrungen hatte und damit, ohne es zu wissen und zu wollen, eine weitere offene Flanke im Prozess der österreichischen Identitätsfindung zutage förderte. Sein konkretes Kalkül bestand darin, mit diesen Worten den österreichischen Widerstand zu motivieren und dadurch die ausgelaugten sowjetischen Truppen zu entlasten, nur zeigte sich hier sehr schnell ein Problem: Es gab kaum österreichischen Widerstand. Als die Alliierten bei Kriegsende von Norditalien zur Grenze marschierend Kontakt zu entsprechenden Verbänden aufnehmen wollen, müssen sie feststellen, „that indigenious resistance in Austria was neglebible“43, und die sowjetische Nachrichtenagentur TASS notiert völlig resigniert, dass „von einem österreichischen ‚Widerstand‘ selbst während des Sturms der Sowjetarmeen auf Wien kaum etwas zu merken war.“44 Zu eben dem Zeitpunkt setzt der Wehrmachtsoffizier Rudolf Kirchschläger, Bundespräsident von 1974 bis 1986, über 1000 Fahnenjunker, meist auf Fahrrädern, zu einem Frontdurchbruch ein, um zusammen mit der SS-Armee von Sepp Dietrich den Angriff der sowjetischen Verbände auf Wien abzuwehren.45 Eine dem Kreis um Claus Graf Schenk von Stauffenberg auch nur im Ansatz vergleichbare Vernetzung hat es in Österreich nicht gegeben. Die „Arbeiter-Zeitung“ berichtete am 14. Januar 1948 von „einem schwächlich geführten Versuch eines Widerstandes“. Raffiniert genug hatte Stalin in der „Moskauer Deklaration“ vermerken lassen, dass anlässlich der endgültigen Abrechnung Österreichs Anteil an der Befreiung bedacht werden sollte, aber es gab kaum etwas zu bedenken. Von allen durch die NS-Herrschaft unterworfenen und zerstörten Staaten Europas ist in Österreich der geringste Widerstand geleistet worden. Anfang April 1945 gab Stalin die Weisung, nach Renner zu suchen. Als man ihn gefunden hatte, rief er aus: „Was, der alte Renner lebt immer noch und ist immer noch Sozialdemokrat? Das ist unser Mann!“46 Am 15. April schrieb Renner, „für das österreichische Volk sprechend“, einen Brief an Stalin, in dem er ihn aufforderte, Österreich unter seinen „mächtigen Schutz zu nehmen“. Die österreichischen Sozialdemokraten werden bei der „Neugründung der Republik“ mit den Kommunisten „brüderlich auf gleichem Fuß zusammenarbeiten.“47 Trotz schärfster Intervention der KPÖ hielt Stalin 43 Bradley F. Smith, The Shadow Warriors, New York 1983, S. 300. 44 Zit. nach Safrian, Tabuisierte Täter, a. a. O., S. 534, Anm. 3. Bei Oliver Rathkolb scheint mir der österreichische Widerstand überdimensioniert: ders., Erste Republik, Austrofaschismus, Nationalsozialismus (1918–1945), in: Thomas Winkelbauer (Hg.), Geschichte Österreichs, Stuttgart 2016, S. 477–524, hier: S. 522 ff. Allerdings spricht auch Rathkolb nicht von einer „breitangelegten nationalen Bewegung“, sondern von „einer Vielzahl von kleinen Gruppen“ (S. 522). Vgl. zur breiteren Einordnung: Klaus Kellmann, Stalin. Eine Biographie, Darmstadt 2005. 45 Vgl. Gerhard Oberkofler und Eduard Rabowsky, Vergessene österreichische Zeitgeschichte, in: Botz und Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 542–549, hier: S. 546 f. 46 Zit. nach Dickinger, Österreichs Präsidenten von Karl Renner bis Thomas Klestil, a. a. O., S. 36. 47 Ebd.; vgl. für den Gesamtzusammenhang: Klaus Kellmann, Die kommunistischen Parteien in Westeuropa. Entwicklung zur Sozialdemokratie oder Sekte?, Stuttgart 1988, S. 82–98.
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an Renner fest und erkannte dessen am 27. April gebildete „Provisorische Regierung“ an. Daraufhin trat die KPÖ-Führung mit dem resignierenden Seufzer, „dass sogar ein so eingefleischter Opportunist wie Renner in den fürchterlichen und schweren Jahren des Faschismus (…) gelernt haben kann“48, in das erste Nachkriegskabinett aus Österreichischer Volkspartei (ÖVP), SPÖ und KPÖ ein. In der „Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs“ vom 27. April 1945 heißt es, das NS-Regime habe „das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt (…), den kein Österreicher jemals gewollt hat (…) und (in dem) beinahe die ganze Jugend- und Manneskraft unseres Volkes bedenkenlos hingeopfert“ worden sei. Das Gründungsdokument der Zweiten Republik, ein entscheidender Baustein in der österreichischen Nationswerdung, wurde damit gleichzeitig zur Gründungsurkunde für den eigenen Unschuldsund Opfermythos, zum Narrativ, ja zur Meistererzählung österreichischer Nachkriegsgeschichte, die bis heute in einigen Köpfen herumgeistert. Zwar wird die mangelhafte Widerstandsleistung in der Proklamation nicht geleugnet, jedoch damit gerechtfertigt, dass „dieser Beitrag angesichts der Entkräftung unseres Volkes (…) nur bescheiden sein konnte“. Zwei Jahre später, im Memorandum von ÖVP, SPÖ und KPÖ zur Londoner Konferenz von 1947, hat bereits „die Mehrheit der Österreicher unter erschwerten Umständen mitgewirkt, die Fähigkeit Deutschlands, gegen die Alliierten Krieg zu führen, herabzumindern“. So fing man an, sich mit „glatten Lügen (…) aus den Trümmern des Dritten Reiches glimpflich davonzustehlen.“49 Schließlich ging es auch darum, etwaige Schuldzuschreibungen und daraus resultierende Reparationsforderungen frühzeitig von sich zu weisen. Das ging vierzig Jahre lang gut. Vierzig Jahre richtete man sich in der Lebenslüge ein, 1938 von den „braunen deutschen Horden“50 überrannt worden zu sein, und genoss das „doppelt unverdiente Glück“51, nach dem Krieg dem Westen zugeschlagen zu werden und sich seiner Vergangenheit entledigen zu können. Das „Österreichtum“ war geboren. „Der (fast) vollkommenen Integration in die deut-
48 Zit. nach Anton Pelinka, Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, in: Erika Weinzierl und Kurt Skalnik (Hg.), Österreich. Die Zweite Republik, Bd. 1, Graz, Wien und Köln 1972, S. 169– 201, hier: S. 170. 49 Manoschek, Die österreichische Zeitgeschichtsforschung in der Paradigmenkrise, a. a. O., S. 536 f. 50 Gerhard Botz, Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik. „Opferthese“, „Lebenslüge“ und „Geschichtstabu“ in der Zeitgeschichtsschreibung, in: Wolfgang Kos und Georg Rigele (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, S. 51–85, hier: S. 51. Der nach Moskau emigrierte Kommunist Ernst Fischer beschrieb bereits 1944 einen österreichischen Volkscharakter, der sich durch eine Anpassungsfähigkeit bis zum „nationalen Nihilismus“ auszeichne und wenig mit genuinem österreichischen Bewusstsein zu tun habe; vgl. Wolfgang Pensold, Silvia Nadjivan und Eva Tamara Asboth, Gemeinsame Geschichte? Ein Jahrhundert serbischer und österreichscher Mythen, Innsbruck 2015, S. 105. 51 Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, a. a. O., S. 16.
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sche Nation folgte nach 1945 die (fast) vollkommene Flucht aus ihr.“52 Aber es war ein merkwürdiger Selbstfindungsprozess, gekennzeichnet von Verschweigen, Verdrängungen und Schizophrenien. Freud hätte am Patienten Österreich einiges zu tun gehabt. Es war schon symptomatisch genug, dass die Unabhängigkeitserklärung von einem Mann unterzeichnet wurde, der die Unabhängigkeit letztlich gar nicht wollte: Karl Renner, dem Propagandisten des Anschlusses, war klar, dass die Alliierten Österreichs Unabhängigkeit wie 1918 durchsetzten, um Deutschland zu schwächen. „Auch jetzt also sah Renner sie nicht als etwas Selbstverständliches, begründet vornehmlich mit dem Vorhandensein einer österreichischen Nation, sondern sie erschien ihm unter den gegebenen Umständen als eine Art völkerrechtliche Pflicht, vielleicht sogar als nationales Opfer, das seine Landsleute zur Sicherung des künftigen Friedens in Europa zu bringen hätten.“53 Nicht zufällig hieß es im Leitartikel des „Linzer Tageblatts“ vom 7. Februar 1946: „Es gibt kein österreichisches Volk, sondern nur ein deutsches Volk in Österreich.“ Dagegen wurden von offizieller Seite schnell vollendete Tatsachen geschaffen. Mit dem „Verfassungsüberleitungsgesetz“ vom 1. Mai 1945 wurde die Konstitution von 1920 wortgleich in Kraft gesetzt und der „aufgezwungene“ Anschluss für „null und nichtig“ erklärt. Als Völkerrechtssubjekt sei Österreich nie untergegangen, wodurch eine Rechtskontinuität zwischen Erster und Zweiter Republik konstatiert war. Auf der Potsdamer Konferenz verzichteten die Großen Drei gegenüber Österreich auf Reparationsleistungen und segneten dessen Unabhängigkeit ab, brachten 1947 in den ersten Entwurf eines Staatsvertrages aber den Passus der „Moskauer Deklaration“ ein, nach dem das Alpenland eine Mitverantwortung am Krieg hat. Alle österreichischen Nachkriegsregierungen hielten hingegen an der „reinen“ Okkupationsthese fest. Sie war auch handlungsleitend für den Umgang mit dem NS-Erbe im eigenen Land. Die Verfahren zur Entnazifizierung sind in Österreich mit einem Geburtsfehler belastet, denn im Gegensatz zu Deutschland waren sie nicht in die Hände der Alliierten, sondern schon vom Februar 1946 an in die eigenen Hände gelegt worden, mit unübersehbaren Folgen. Das „erste Opfer“ des Hitlerfaschismus demonstrierte und praktizierte hier erstmals seine volle Unabhängigkeit. Schon in den Protokollen der Provisorischen Regierung Renner wird Österreich nicht in eine Reihe mit Deutschland, sondern mit Frankreich und Dänemark gestellt. Sollte jemand also nach einem Beleg für das in dieser Untersuchung realisierte Vorgehen suchen, Österreich als Kollaborationsstaat zu behandeln, so findet er hier eine erstrangige historische Quelle.54 Der Widerstand gegen die Entnazifizierung einte nach wie vor überzeugte Nationalsozialisten, die heimkehrenden Frontsoldaten und die hauptsächlich nach Salzburg fliehenden 52 Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung, Wien, Köln und Graz 1984, S. 216. 53 Burian, Karl Renner, a. a. O., S. 313. 54 Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Bd. I, 13–1945– 06–19/20, S. 260 f. und 267.
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„Volksdeutschen“. Mit dem Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945 wurde angeordnet, dass sich alle Mitglieder der nunmehr aufgelösten NSDAP in Listen einzutragen hatten. Es gab kaum eine Familie, die hiervon nicht betroffen war. Die 18-jährige Ingeborg Bachmann schildert in ihrem Kriegstagebuch, wie sie zu Hause in einer Mischung aus Hoffnung, Angst und Verachtung auf die Rückkehr des Vaters, eines überzeugten Nationalsozialisten, wartet und demonstrativ Hand in Hand mit einem jüdischen Besatzungssoldaten der Briten durch Klagenfurt geht, der 1938 hatte aus Wien fliehen müssen. Inzwischen ist auch verifiziert, dass sie eine Liebesbeziehung mit dem jungen Henry Kissinger hatte.55 Mit dem Kriegsverbrechergesetz vom 26. Juni 1945 sollte jenes Unrecht geahndet werden, das in der Ausübung dienstlicher Gewalt begangen worden war. Das Verbotsgesetz führte sich binnen kürzester Zeit ad absurdum, weil in ihm der Artikel enthalten war, dass Personen, die ihre NSDAP-Mitgliedschaft nicht „missbraucht“ hatten und deren „Verhalten vor der Befreiung auf eine positive Einstellung zur unabhängigen Republik Österreich“ schließen lasse, von den Folgen des Gesetzes ausgeschlossen waren. Auf dem Fuße nahmen 90 Prozent der Registrierten diese Regelung für sich in Anspruch bzw. stellten einen entsprechenden Antrag. Wieder ging man mit der Zeit, aber die Alliierten ließen sich (noch) nicht blenden und mahnten ein härteres Vorgehen an. Die „Grundsätze der Entnazifizierung“, auf die sich ÖVP, SPÖ und KPÖ am 30. März 1946 einigten, sahen die Einteilung in Kriegsverbrecher, Belastete und Minderbelastete vor. Letztere sollten nach Zahlung einer finanziellen Sühne von jeglicher Schuld frei sein, eine Chance, die auch den Belasteten eingeräumt wurde, allerdings nach einem längeren Zeitraum; bestimmte Berufe, insbesondere im Staatsdienst, blieben ihnen versagt, und sie waren vom Wahlrecht ausgeschlossen. Auch dies ging den Alliierten noch nicht weit genug, die vor allem den Straftatbestand der „wirtschaftlichen Kollaboration“ (sic!) einbezogen wissen wollten. Die daraufhin deutlich verschärften, am 6. Februar 1947 vom Wiener Nationalrat als Gesetz verabschiedeten „Grundsätze“ haben nie die Billigung der Österreicher gefunden, und es dauerte kein ganzes Jahr, bis sie sich ihrer geschickt zu entledigen wussten. Streng genommen waren sie der Beginn einer „stillen Amnestie“56, denn der Kreis der Belasteten wurde von nun an ständig 55 Vgl. Ina Hartwig, Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken, Frankfurt am Main 2017; Ingeborg Bachmann, Kriegstagebuch, hg. von Hans Höller, Berlin 2010. Erst sehr viel später wurde bekannt, dass sie als Radio-Redakteurin des amerikanischen Senders „Rot-WeißRot“ in den 1950er Jahren durchaus auch zur Verharmlosung des Nationalsozialismus in Österreich beigetragen hat: Ingeborg Bachmann, Die Radiofamilie, Berlin 2011; Andrea Stoll, Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit, München 2014; Joseph McVeigh, Ingeborg Bachmanns Wien 1946–1953, Berlin 2016. 56 Dieter Stiefel, Der Prozeß der Entnazifizierung in Österreich, in: Klaus-Dietmar Henke und Hans Woller (Hg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, S. 108–148, hier: S. 135; Sabine Loitfellner, Hitlers erstes und letztes Opfer? Zwischen „Anschluss“ und Auschwitz-Prozess. Zum Umgang
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reduziert, bis es praktisch nur noch Minderbelastete gab, die im Volksmund, kaum überraschend, als „Mitläufer“ bezeichnet wurden. Anfang 1948 erklärte die Regierung die Entnazifizierung für „im Allgemeinen abgeschlossen“. Sie sei „von Erfolg gekrönt“, und Österreich habe seine Entschlossenheit gezeigt, „sich selbst vom nationalsozialistischen Geist zu befreien.“57 ÖVP und SPÖ mahnten an, dass es „auf die Dauer untragbar“ sei, wenn „es in einer Demokratie Bürger zweiten Ranges“ gebe, und drangen bei den Alliierten durch: Am 28. Mai 1948 wird die Amnestie der Minderbelasteten genehmigt. Für fast 500.000 Menschen, über 90 Prozent der registrierten Nationalsozialisten, waren Säuberung und Sühne damit beendet. Zwar blieben noch 43.000 Belastete, aber auch deren Zahl sank durch immer neue Amnestien, bis 1957 alle begnadigt wurden. Sehr wohl allerdings sind die im Kriegsverbrechergesetz vom Juni 1945 vorgesehenen Volks- bzw. Sondergerichte tätig geworden, die bis 1955 in 140.000 Fällen ermittelten und knapp 24.000 Urteile sprachen. Davon lauteten 13.000 auf „schuldig“. 43-mal wurde die Todesstrafe verhängt, aber nur 30-mal vollstreckt. Über 60 Prozent aller Verfahren endeten mit Haftstrafen zwischen einem und fünf Jahren. 1955 saßen nur noch 14 Personen im Gefängnis. Von da an gingen die Verfahren an ordentliche Gerichte über, die bis 1975 noch 18 Schuldsprüche verhängten, davon dreimal lebenslänglich. Die Haftzeit aller Verurteilten ist ihnen, mit voller Auswirkung auf den Pensionsanspruch, als Dienstzeit angerechnet worden, auch diejenige der österreichischen SSMänner.58 In der 1957 vom Nationalrat verabschiedeten Generalamnestie sind sogar Entschädigungen für die „Opfer der Entnazifizierung“ (!) vorgesehen. Mit Wirkung vom 1. Dezember 1958 wird in der Bundesrepublik Deutschland eine Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg eingerichtet, deren Bestände öffentlich zugänglich sind. In Österreich gibt es eine vergleichbare Einrichtung nicht, weil man nicht daran interessiert war. Bereits 1953 gab der parteilose Justizminister Josef Gerö die Weisung, Verfahren gegen nationalsozialistische Gewalttäter „nach Möglichkeit“59 einzustellen. Sein sozialdemokratischer Nachfolger Christian Broda hat diese Anweisung 1976 ausdrücklich wiederholt. Die Zentralstelle in Ludwigsburg hat den österreichischen Behörden in all den Jahren die Unterlagen ihrer Landsmänner Österreichs mit seiner NS-Vergangenheit, in: Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 150–169. 57 Zit. nach Stiefel, Der Prozeß der Entnazifizierung in Österreich, a. a. O., S. 136; vgl. auch: Winfried Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NS-Verbrechen, in: Tálos et al., NS-Herrschaft in Österreich, a. a. O., S. 852–883. 58 Vgl. Marion Wiesinger, Verfahren eingestellt. Der Umgang der österreichischen Justiz mit NSGewalttätern in den 1960er und 1970 Jahren, in: Walter Schuster und Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004, S. 637–650, s. auch Hellmut Butterweck, Verurteilt und begnadigt. Österreich und seine NS-Straftäter, Wien 2003. 59 Wolfgang Weber, Arenen und Akteure. Vergleichende Aspekte der Entnazifizierung in Deutschland und Österreich, in: Gehler und Böhler (Hg.), Verschiedene europäische Wege im Vergleich, a. a. O., S. 388–403, hier: S. 400.
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übermittelt, deren Namen und Verbrechen in den Prozessen gegen deutsche NS-Täter auftauchten. Die Österreicher haben hiervon keinen Gebrauch gemacht. Unterdrückt und verschwiegen wurde damit die „Akzeptanz, Mittäterschaft und Täterschaft“ bei den NS-Verbrechen.60 Im Hinblick auf die 1977 geplante österreichische Gedenkstätte im Vernichtungslager Auschwitz war vorgesehen, ausschließlich an die Opfer, nicht aber an die Täter aus dem eigenen Land zu erinnern.61 Mit einem kritischen Blick auf diese Faktenlage wird man kaum um das Urteil herumkommen, dass eine konsequente Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Österreich nicht stattgefunden hat, genauso wenig wie ein tiefgreifender Prozess tatsächlichen Umdenkens in der Gesellschaft. Die nach dem Krieg durchaus begonnene Entnazifizierung ist vielmehr spätestens seit 1957 praktisch wieder rückgängig gemacht worden.62 Der ÖVP-Politiker Alfred Maleta hatte schon im Herbst 1945 gefordert, „das Erforschen der Vergangenheit den Professoren zu überlassen“. Die Stunde der „Selbstinfantilisierung Österreichs“63 war gekommen, ein durch und durch friedfertiges und politisch harmloses Land, das nie Anschlussgedanken gehegt und keine Soldaten in den Krieg geschickt hatte, weil es von 1938 bis 1945 schlichtweg nicht existierte, so lautete die Selbstdefinition bis ins Schulbuch hinein. Ein „neugeborenes Kind“, rein und schutzbedürftig, das sich weigerte, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Während man sich im Austrofaschismus als die besseren Deutschen verstanden hatte, so sah man sich jetzt als Antithese zu den Deutschen. Die Reintegration der ehemaligen Nationalsozialisten, denen ursprünglich noch das Wahlrecht versagt worden war, begann sogar schon erheblich früher. Zur Nationalratswahl 1949 wieder zugelassen, sahen sie sich bald von allen Parteien umworben, stellten sie zusammen mit ihren Familien doch ein Wählerpotential von weit über einer Million Menschen dar. „Die Entnazifizierer von gestern waren nun die Werber von heute. Wen sollte es da wundern, dass die ‚Ehemaligen‘ vor diesen Trägern der Zweiten
60 Rathkolb, Erste Republik, Austrofaschismus, Nationalsozialismus, a. a. O., S. 541; Wiesinger, Verfahren eingestellt, a. a. O., S. 641 ff. 61 Wiesinger, Verfahren eingestellt, a. a. O., S. 644. 62 So Harald Schmid, Eine Vergangenheit, drei Geschichten. Zur Auseinandersetzung mit der NSDiktatur in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und in Österreich, in: Angela Borgstedt, Siegfried Frech und Michael Stolle (Hg.), Lange Schatten. Bewältigung von Diktaturen, Schwalbach im Taunus 2007, S. 89–120, hier: S. 101. 63 Ina Markova, Wie Vergangenheit neu erzählt wird. Der Umgang mit der NS-Zeit in österreichischen Schulbüchern, Marburg 2013, S. 58. Linda Erker kritisiert in ihrer umfassenden Analyse österreichischer, dem Gedenken der NS-Opfer gewidmeter Vereine und Einrichtungen scharf und mit Recht die mangelnde Bereitschaft, „die Mittäterschaft Österreichs klar auszusprechen.“ S. Linda Erker, Holocaust und Öffentlichkeit: Zur Wissensvermittlung in Österreich, in: Michael Brenner und Maximilian Strnad (Hg.), Der Holocaust in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven, Göttingen 2012, S. 145–161, hier: S. 155.
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Republik nicht unbedingt Hochachtung empfinden mussten?“64 Tatsächlich überboten sich die beiden großen Parteien in der Gründung von „Auffangorganisationen“. Die „Junge Front“ der ÖVP sprach unverhohlen nationalsozialistische Einstellungen an, und die SPÖ installierte mit dem „Verband der Unabhängigen“ (VdU) eine Gruppierung, die „einer Fortsetzung der NSDAP glich“65. Auch die KPÖ finanzierte mit sowjetischem Geld eine Splittergruppe nach dem Vorbild der NDPD in der DDR. Bei den Wahlen von 1949 erreichte die VdU auf Anhieb 12 Prozent der Stimmen, zerbrach aber bald an innerparteilichen Streitigkeiten. In ihrer Tarnorganisation „Spinne“ warben ehemalige NS-Aktivisten für die Vereinigung mit der Bundesrepublik. 1955 entstand aus dem VdU die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), deren erste beide Vorsitzende Anton Reinthaller (bis 1958) und Friedrich Peter (bis 1978) eine tiefbraune Vergangenheit hatten. Reinthaller, Funktionär des deutschnationalen Landbundes, führender Repräsentant der NSDAP in Österreich, 1938 Minister im „Anschlusskabinett“ Seyß-Inquarts und Staatssekretär im Reichsernährungsministerium in Berlin, erklärte in seiner Antrittsrede die „Deutscherhaltung Österreichs“ zum übergreifenden Ziel der FPÖ. Friedrich Peter bekannte sich stets zu seinem freiwilligen Eintritt in die SS, in der er bis zum Obersturmführer (in der Panzerdivision „Das Reich“) aufgestiegen war. Am Massaker von Oradour-sur-Glâne beteiligt, avancierte er zu einem der meistdekorierten Politiker der Zweiten Republik. Parallel zum Komplex der Entnazifizierung stand auch in Österreich die Frage der Entschädigung von NS-Opfern auf der Tagesordnung, und auch hier ist das Verhalten von Regierung, Parlament, Parteien, Presse und Gesellschaft vom Unschuldsgestus geprägt. Man wollte keine „Wiedergutmachung“. Der zentrale Begriff, der stattdessen ins Feld geführt wurde, hieß „Fürsorge“. Er sollte anzeigen, dass es hier nicht um die Mitverantwortung von historischem Unrecht, sondern um gnädig gewährte staatliche Gaben ging. Entsprechend hieß das 1945 verabschiedete und seither vielfach novellierte Gesetz „Opferfürsorgegesetz“ (OFG). Juristisch verbriefte Anrechte konnten nur Angehörige des Widerstands aus ihm ableiten, von denen es in Österreich nicht allzu viele gab, Jüdinnen und Juden hingegen nicht. Alles folgte dem Grundsatz „Österreich hat nichts gutzumachen, weil es nichts verbrochen hat“66. In der Konsequenz dieser Sicht der Dinge stellte das Land 1947 in „a curious mix of morality, opportunism, realism und veiled antisemitism“67 Wiedergutmachungsforderungen an Deutschland, was den Alliierten dann aber doch zu viel war. Als Konrad Adenauer 1952 die Wiedergutmachungsverhandlungen mit dem Staat Israel und der Jewish Conference on Material Claims against Germany aufnahm, sah er sich bald mit der Forderung konfrontiert, 64 Anton Pelinka, Der verdrängte Bürgerkrieg, in: ders. und Weinzierl (Hg.), Das große Tabu, a. a. O., S. 143–153, hier: S. 146. 65 Ebd., S. 147. 66 So Brigitte Bailer in: „Zeitgeschichte“, Nr. 11–12/1993, S. 368. 67 Robert Knight, Restitution, in: Leo Baeck Institute (Hg.), Year Book 1991, S. 422.
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den Kreis der Anspruchsberechtigten auf das ganze ehemalige Reichsgebiet, also auch auf Österreich auszudehnen. Im Bonner Kabinett bestand er darauf, dass auch das Alpenland zu zahlen hatte, wutentbrannt musste er aber bald gewärtigen, dass er die Rechnung am Rhein ohne den Wirt an der Donau gemacht hatte. Schon 1948 hatte der österreichische Innenminister Helmer (SPÖ) die Taktik ausgegeben, „die Sache in die Länge (zu) ziehen“68, was über ein halbes Jahrhundert Erfolg hatte. Mehr noch, der „Opferrepublik“ gelang es schließlich doch noch, die „Täterrepublik“ in die Pflicht zu nehmen. Ein Großteil der Verachtung, die Adenauer zeit seines Lebens für die „ganze österreichische Schweinerei“69 empfand, nährte sich aus diesem Sachverhalt. Im Februar 1954 antwortete er dem Wiener Außenminister Kreisky auf Entschädigungsforderungen: „Wissen Sie, wüsste ich, wo die Gebeine Hitlers zu finden sind, würde ich sie Ihnen liebend gern als österreichisches Eigentum zurücksenden.“70 Ein Gesetz, das den Opfern des NS-Regimes wieder zu ihren Wohnungen verholfen hätte, in der Regel Juden, wurde aus Rücksicht auf die „Ariseure“ nie beschlossen. Der Fürsorgecharakter des ÖFG wurde erst 1952 mit dessen 7. Novellierung (von insgesamt 60) zugunsten tatsächlicher Entschädigungen modifiziert, und zwar immer unter internationalem Druck. Von 1953 an wurde die Rückgabe erblosen jüdischen Vermögens an Israel abgelehnt. Mit dem „Kreuznacher Abkommen“ vom 27. November 1961 war das ursprüngliche Ziel, die Bundesrepublik als Finanzier der eigenen Wiedergutmachungsverpflichtungen einzuspannen, „in hohem Maße“71 erreicht. Erst dreißig Jahre später legten Wissenschaftler der Österreichischen Rektorenkonferenz einen interdisziplinären Forschungsschwerpunkt zu Lagersystemen und Zwangsarbeit in Österreich von 1938 bis 1945 zur Finanzierung vor, was diese schon im Vorfeld ohne Begründung ablehnte, und noch im Mai 1992 (!), als die Fraktion der Grünen im Nationalrat eine aus 405 Einzelfragen bestehende parlamentarische Anfrage zu der „Mitverantwortung Österreichs an den Verbrechen des Nationalsozialismus, der Wahrnehmung dieser Verantwortung sowie der Entschädigung der Opfer“ stellte (die bis dahin praktisch nicht stattgefunden hatte), lautete die Antwort: „Die Regierung 68 So in der Ministerratssitzung vom 9. November 1948; vgl. auch Robert Knight, „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“. Die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945 bis 1952 über die Entschädigung der Juden, Frankfurt am Main 1988. 69 Zit. nach Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955, Wien, Köln und Graz 1998, S. 526; Maximilian Graf und Agnes Meisinger (Hg.), Österreich im Kalten Krieg. Neue Forschungen im internationalen Kontext, Göttingen 2017. 70 Zit. nach „Die Zeit“ vom 29.4.1988, S. 58. 71 Leidinger, Moritz und Moser, Streitbare Brüder, a. a. O., S. 140; vgl. auch Walter Manoschek, Verschmähte Erbschaft. Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus 1945 bis 1955, in: Reinhard Sieder, Heinz Steinert und Emmerich Tálos (Hg.), Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur, Wien 1995, S. 94–106 und Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993.
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verweist darauf, dass das Verhalten der deutschen Organe, die Österreich okkupierten, Österreich völkerrechtlich nicht zurechenbar ist“72 und dass daher keine Antwortpflicht bestehe (!). Das erste Opfer war halt zuerst immer noch Opfer. Für die tatsächlichen Opfer wurde erst 1995 ein Entschädigungsfonds eingerichtet, dem ersten von dreien, dem 2000 ein Zwangsarbeiterfonds und 2001 der „Allgemeine Entschädigungsfonds“ folgten. Der letztgenannte wurde erstmals mit der „moralischen Verantwortung“ Österreichs in der NS-Zeit begründet.73 1955 war von alledem noch keine Rede. In diesem Jahr erlangte die Republik Österreich mit dem am 15. Mai abgeschlossenen Staatsvertrag unter der Auflage strikter außenpolitischer Neutralität nicht nur den Abzug aller landfremden Besatzungstruppen und die volle staatliche Souveränität, sondern nach buchstäblich bis tief in die Nacht geführten Verhandlungen in letzter Sekunde auch den in der Präambel verankerten Freispruch von allen NS-Verbrechen, so als ob es die „Moskauer Deklaration“ von 1943 nie gegeben hätte. Die Einstufung als Opfer hingegen wurde in das Dokument aufgenommen. Ein Glückwunschtelegramm aus Bonn blieb aus, Adenauer rannte mit dem Ausruf „Das ist gegen die historische Wahrheit“74 durch das Palais Schaumburg. Auf jeden Fall ist der Staatsvertrag, der eigentliche Gründungsmythos der Zweiten Republik, mit dem Makel einer kapitalen Geschichtsbeugung behaftet; als Fundament einer Nation aus ehrlichem, solidem Guss taugt er nicht. Dies zeigte sich nicht zuletzt daran, dass sich die ehemaligen Nazis bis weit in die 1970er Jahre hinein frei und protegiert in der österreichischen Gesellschaft bewegen konnten. Wie frei und locker, ja selbstironisch man mit der Vergangenheit umging, demonstrierte der Bun72 Zit. nach Nadine Hauer, Die Mitläufer oder die Unfähigkeit zu fragen. Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Demokratie von heute, Opladen 1994, S. 150; vgl. auch Heidemarie Uhl, Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformation in der Zweiten Republik, in: „Österreichische Zeitschrift für Politik“, Nr. 2/2001, S. 19–34, bes. S. 22; dies., Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese: NS-Herrschaft, Krieg und Holocaust im „österreichischen Gedächtnis“, in: Christian Gerbel et al. (Hg.), Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik, Wien 2005, S. 50–85; Christian Gerbel, The Holocaust and the Politics of History in Austria’s Second Republic, in: Muriel Blaive, Christian Gerbel und Thomas Lindenberger (Hg.), Clashes in European Memory. The Case of Communist Repression and the Holocaust, Innsbruck 2011, S. 99–116. 73 Vgl. Clemens Jabloner et al. (Hg.), Schlußbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Zusammenfassungen und Einschätzungen, Wien 2003; Thomas Albrich et al. (Hg.), Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich, Innsbruck 2006; Manfred Schausberger, Die Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen in Österreich, in: Claudia Kuretsidis-Haider und Winfried Garscha (Hg.), „Keine Abrechnung“. NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Leipzig und Wien 1998, S. 31–38. 74 Zit. nach Schmid, Eine Vergangenheit, drei Geschichten, a. a. O., S. 117, Anm. 10; vgl. auch Arnold Suppan, Gerald Stourzh und Wolfgang Mueller (Hg.), Der österreichische Staatsvertrag 1955. Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Identität, Wien 2005.
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despräsident, Sozialdemokrat und ehemalige Widerstandskämpfer Adolf Schärf 1962 mit dem Slogan für seine Wiederwahl: „Wer einmal schon für Adolf war, wählt Adolf auch in diesem Jahr“. Zehn Jahre später finden in Österreich die Prozesse gegen die Erbauer der Krematorien von Auschwitz, Walter Dejaco und Fritz Ertl, und gegen die Adjutanten des Auschwitz-Kommandanten Höß, Johann Schindler und Rudolf Orlich, statt. Nicht nur, dass alle Angeklagten trotz erdrückender Beweise für nicht schuldig erklärt werden, die gesamten Verfahren erleben in der österreichischen Öffentlichkeit nicht das geringste Interesse. Der letzte Prozess endet im Dezember 1975 mit einem Skandalfreispruch. Das gesamte Land ist von der flächendeckenden „Austroamnesie“ befallen. Im März 1970 geht die SPÖ zum ersten Mal als stärkste Kraft aus den Nationalratswahlen hervor. Der Jude Bruno Kreisky, ihre zentrale Führungsfigur, bildet mit Duldung der FPÖ eine Minderheitenregierung, in der vier von elf Ministern ehemalige Mitglieder der NSDAP sind. Daran stört sich zunächst niemand, weil es nichts Neues ist. So amtierte der SPÖ-Mann Otto Tschadek mit kurzen Unterbrechungen von 1949 bis 1960 als Justizminister, obwohl er in seiner Eigenschaft als Marinerichter in Kiel (wo ihn die Briten 1946 zum Oberbürgermeister machten) mehrere Todesurteile gegen „Wehrkraftzersetzer“ und „Volksschädlinge“ gefällt hatte.75 Der Euthanasiearzt Walter Gross praktizierte noch bis in die 1990er Jahre, von der SPÖ geschützt, als einer der meistbeschäftigten psychiatrischen Gutachter in Wien.76 1945 hatte die SPÖ noch beschlossen, dass kein ehemaliger Nationalsozialist in ihr eine Funktion ausüben dürfte, und jetzt machte Kreisky sie salonfähig.77 Anfang September 1975 stößt Simon Wiesenthal in den Aktenbergen auf dem Schreibtisch seines Wiener „Dokumentationszentrums des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes“ auf die persönlichen Unterlagen des SS-Mannes Friedrich Peter und macht sie publik. Kreisky reagiert gereizt („Ich warte nur darauf, dass Herr Wiesenthal nachweist, dass auch ich bei der SS gewesen bin“78) und lässt seine Verwaltung nach belastendem Material über Wiesenthal suchen. 75 Vgl. Thomas Geldmacher et al. (Hg.), „Da machen wir nicht mehr mit …“. Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, München 2010; Martina Drexler, „Blutrichter“ an der Stadtspitze? in: „Kieler Nachrichten“ vom 23.9.2010, S. 27. 76 Bertrand Perz, Österreich, in: Knigge und Frei (Hg.), Verbrechen erinnern, a. a. O., S. 170–182, hier: S. 174. 77 Vgl. Doris Sottopietra und Maria Wirth, Ehemalige NationalsozialistInnen in der SPÖ: eine quantitative und qualitative Untersuchung, in: Maria Mesner (Hg.), Entnazifizierung zwischen politischem Anspruch, Parteienkonkurrenz und Kaltem Krieg. Das Beispiel der SPÖ, Wien 2005, S. 266–334. 78 Zit. nach Jan Friedmann, „Überlebensgroßes Ego“, in: „Der Spiegel“, Nr. 36/2010, S. 52–55, hier: S. 55; vgl. Tom Segev, Simon Wiesenthal. Die Biographie, München 2010, S. 301–311 und 333– 384. Wiesenthal hatte dem christdemokratischen Bundeskanzler Josef Klaus schon 1966 ein Memorandum „Schuld und Sühne der NS-Täter aus Österreich“ übergeben. Vgl. hierzu: Sabine Loitfellner, Simon Wiesenthals „Schuld und Sühne Memorandum“ an die Bundesregierung 1966.
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Dieser „jüdische Faschist“ habe, so Kreisky, nur deshalb überlebt, weil er mit den Nazis kollaboriert habe, und zwar als Zuträger der Gestapo. 1987 landeten beide vor Gericht, wo Kreisky wegen Verleumdung zu einer empfindlichen Geldstrafe verurteilt wurde.79 Wie immer man den Streit dieser beiden Juden auch beurteilen mag, er zeigte in gnadenloser Deutlichkeit, dass Österreich den beneidenswerten Status, eine „Insel der Seligen“ zu sein, den Papst Paul VI. dem Land 1971 quasi förmlich zusprach, für immer verloren hatte.80 Bereits 1983 hatte sich das ohnehin schon gereizte Klima im Land weiter verschlechtert, weil Kreiskys Nachfolger Fredl Sinowatz (SPÖ) eine förmliche Koalition mit der FPÖ eingegangen war und die Wehrmachtsvergangenheit des amtierenden Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger schon hinter vorgehaltener Hand diskutiert wurde. Die für das Frühjahr 1986 anstehende Neuwahl für das höchste Amt im Staat sollte hier eine Entlastung bringen, zumal der bereitstehende Kandidat parteilos war und die höchste Position innehatte, die jemals von einem Österreicher eingenommen worden ist: Kurt Waldheim, der Mann, um den es ging, war von 1972 bis 1982 Generalsekretär der Vereinten Nationen in New York gewesen. Eine Zeit lang sah es sogar so aus, dass sich die beiden großen Parteien auf ihn als gemeinsamen Kandidaten einigen würden. Kurt Waldheim wird am 21. Dezember 1918 in Niederösterreich in kleinen Verhältnissen geboren. Sein Vater, der vor der „Germanisierung“ des Namens noch Watzlawik hieß, war Dorfschullehrer. Mit 17 geht Kurt Waldheim als Freiwilliger zu den Dragonern. 1937 nimmt er an der Wiener Universität und an der dortigen Konsularakademie das Studium auf. Während sein Vater, ein Anhänger Schuschniggs, unmittelbar nach dem Anschluss von der Gestapo verhaftet und aus dem Staatsdienst entlassen wird, tritt er selbst am 1. April 1938 in den NS-Studentenbund ein, was er später leugnet. Noch wenige Tage zuvor hatte er Flugblätter mit dem Aufruf verteilt, gegen den Anschluss zu stimmen, und war dafür von Schlägertrupps der Nazis verprügelt worden. Im Oktober des Jahres nimmt er an der Besetzung des Sudetenlandes teil. Am 18. November 1938 wird er in die SA-Reiterstandarte 5/90 aufgenommen (was er später leugnet). 1939 erhält er (mit Auszeichnung) das Diplom der Konsularakademie, das Studium der Rechte schließt er 1940 mit „befriedigend“ ab. Auf dem anlässlich einer Anstellung am Oberlandesgericht Wien auszufüllenden Fragebogen vermerkt er: „Eintritt in die NSDAP noch nicht möglich, da beim Militär, SA-Reitersturm“ (was er später leugnet). Kurt Waldheim nimmt im Rang des Leutnants in einer Reiterschwadron soEin zeitgenössisches Abbild zum politischen Umgang mit NS-Verbrechen in Österreich, in: Heimo Halbrainer und Claudia Kuretsidis-Haider (Hg.), Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag, Graz 2007, S. 281–288. 79 Vgl. Wolfgang Petritsch, Bruno Kreisky. Die Biographie, St. Pölten 2010; Simon Wiesenthal, Recht, nicht Rache. Erinnerungen, Frankfurt am Main und Berlin 1991, S. 360 ff. 80 Vgl. Hellmut Andics, Die Insel der Seligen. Österreich von der Moskauer Deklaration bis zur Gegenwart, Wien und München 1976.
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wohl an der Besetzung Frankreichs wie auch am Überfall Deutschlands (und Österreichs) auf die Sowjetunion teil. Nach seiner eigenen Aussage brachte ihm „die Wehrmachtsuniform einen gewissen Schutz vor der Gestapo“. 1942 wird er als Dolmetscher zuerst nach Belgrad und dann nach Saloniki zur Heeresgruppe E unter General Löhr versetzt. Am 22. Juli 1942 wird ihm die König-Zvonimir-Medaille in Silber mit Eichenlaub verliehen, eine der höchsten Auszeichnungen des kroatischen Ustascha-Staates. Vom 19. November 1942 bis zum 31. März 1943 erhält er Sonderurlaub zur Abfassung seiner Dissertation „Die Reichsidee bei Konstantin Frantz“. Sie gipfelt in der These, „dass die gesamtdeutsche Idee heute ihre Verwirklichung gefunden hat“ und dass sich aus dem Zweiten Weltkrieg ein „großartiges Zusammenwirken aller Völker Europas unter der Führung des Reiches ergeben wird“81. Damit formuliert Waldheim genau das, was die NS-Führung in Berlin von den Kollaborationsnationen erwartet. Ob er am Ende des Urlaubs nach Saloniki zurückgekehrt oder nach Tirana versetzt worden ist (wie er später sagt), ist von besonderer Bedeutung, weil Mitte März die Judendeportationen in Saloniki beginnen. Seinen eigenen Angaben zufolge ist er erst im Mai 1944, nach dem Abschluss seiner Promotion zum Dr. jur., wieder nach Saloniki zurückgekehrt. Aber auch in dem Fall muss ihm das Dokument vom 22. September 1944 zur Kenntnis gelangt sein, in dem der vollzogene „Judenabschub“ aus Saloniki auf Weisung des Oberkommandierenden der Heeresgruppe E festgehalten ist: Es kam aus der Abteilung, in der Waldheim arbeitete. Am 14. Oktober 1944, auf dem Rückzug seiner Heeresgruppe, kommt es bei Mitrovica unter dem Kommando von Hauptmann Egberts-Hilker zu schweren Massakern, für die der Hauptmann 1947 Waldheim mitverantwortlich macht. (Egberts-Hilker wird im Dezember 1947 als Kriegsverbrecher hingerichtet.) Am 9. Mai 1945 wird Waldheim als Oberleutnant aus der Wehrmacht entlassen, am 30. August meldet er sich zum Dienstantritt beim Oberlandesgericht Wien, im Personalbogen vermerkt er eine Mitgliedschaft im NS-Reiterkorps. Am 26. November wechselt er in die Abteilung für auswärtige Angelegenheiten des Bundeskanzleramts, wo er verbleiben kann, nachdem ihn die zuständige Entnazifizierungskommission am 15. April 1946 als „minder- bzw. nichtbelastet“ eingestuft hat. Die jugoslawische Regierung hingegen richtet am 25. Dezember 1947 ein Schreiben an die internationale Kommission für Kriegsverbrecher in London, dass der (angeblich „flüchtige“) Oberleutnant Kurt Waldheim auf die internationale Suchliste zu setzen sei. Seiner steilen Karriere tut dies keinen Abbruch. 1955 wird er ständiger Beobachter Österreichs bei der UNO, 1956 Botschafter in Ottawa, 1962 Generalsekretär im öster81 Zit. nach Rainer Stepan, Die Vorwürfe, Daten und Fakten. Eine historische Dokumentation, in: Andreas Khol, Theodor Faulhaber und Günther Ofner (Hg.), Die Kampagne. Kurt Waldheim – Opfer oder Täter? Hintergründe und Szenen eines Falles von Medienjustiz, München und Berlin 1987, S. 325–346, hier: S. 333; Michael Gehler, Die Affäre Waldheim. Eine Fallstudie zur Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit zur politischen Vorteilsverschaffung 1986–1988, in: GWU, Nr. 1–2/2018, S. 67–85.
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reichischen Außenministerium, 1964 ständiger Vertreter seines Landes bei den United Nations und 1968 Außenminister. Eine seiner ersten Amtshandlungen besteht in der Anweisung, die österreichische Botschaft in Prag, in die sich Scharen von Tschechen vor den anrückenden sowjetischen Panzern retten wollen, am 21. August 1968 schließen zu lassen (was er später leugnet). Der amtierende Botschafter in der ČSSR, Rudolf Kirchschläger, hält sich nicht daran und gibt täglich über 500 Visa aus. 1971 kandidiert Waldheim erstmals für die ÖVP (gegen Kirchschläger) um die höchste Position im Staat, unterliegt aber knapp. Ein Jahr später wird er mit massiver Hilfe und Parteinahme der Sowjetunion zum Generalsekretär der Vereinten Nationen gewählt, die 1981 sogar (erstmals) eine dritte Amtszeit für ihn durchzusetzen versucht, was aber am Widerstand Chinas scheitert. Seit seiner Rückkehr aus New York ohne großes und einflussreiches Engagement, greift er dankbar zu, als ihn die ÖVP 1985 (erneut) für die Bundespräsidentenwahl im Folgejahr nominiert. Anfang 1986 werden im Büro Simon Wiesenthals zwei SPÖ-Mitglieder vorstellig und fragen ihn, ob er „etwas“82 über Waldheim habe. Dieser fragt zurück, wo sie in der Affäre Peter gewesen wären, da hätte er sie mit meterdicken Akten versorgen können. Beide gehen wortlos. Im Februar veröffentlicht das Nachrichtenmagazin „profil“ mit Wissen und Billigung Waldheims dessen Wehrstammkarte aus dem österreichischen Kriegsarchiv, aus der seine SA-Mitgliedschaft hervorgeht. Noch immer hält sich das Geraune in Grenzen, in „profil“ ist allenfalls von „einem gewissen Opportunismus“ die Rede, bis dann der World Jewish Congress (WJC) am 4. März „seine lange vorbereitete Kampagne“ (Simon Wiesenthal)83 beginnt. Österreich verliert binnen weniger Tage eine Unschuld, die es nie hatte. Waldheim wird Ziel einer „Menschenjagd“84, und Österreich gleich mit. Das Land, das seine Vergangenheit vierzig Jahre externalisiert hat, wird jetzt von dieser eingeholt. Das Klima verschärft sich von Tag zu Tag, und die Atmosphäre wird systematisch vergiftet. Israel Singer, der Generalsekretär des WJC, droht in einem Interview mit „profil“ vom 9. März für den Fall der Wahl Waldheims an, „dass jeder Besitzer eines österreichischen Passes das im Ausland zu spüren bekomme“. Am selben Tag hatte Waldheim im Fernsehen die bekannte Rechtfertigung abgegeben, er habe „nur seine Pflicht getan, so wie Hunderttausende Österreicher auch“. Damit hatte er automatisch die gesamte Kriegsgeneration auf seiner Seite, die mit diesem Satz seit 1945 vor der Verantwortung geflohen war. Den tragikomisch-traurigen Höhepunkt der Affäre markiert Bundeskanzler Sinowatz (SPÖ), der in einer Pressekonferenz seiner Partei am 11. März jenen höhnischen Witz formuliert, der bis heute mit dem gesamten Skandalon assoziiert wird: „Wir nehmen zur Kenntnis, dass Waldheim nicht
82 Wiesenthal, Recht, nicht Rache, a. a. O., S. 380. 83 Ebd., S. 383. 84 Esther Schollum, Die „Waldheim-Kampagne“ in den österreichischen und internationalen Medien, in: Khol, Faulhaber und Ofner (Hg.), Die Kampagne, a. a. O., S. 13–117, hier: S. 115.
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bei der SA war, sondern nur sein Pferd.“85 Die ÖVP kontert. An Ostern, dem höchsten katholischen Feiertag, werden landesweit und flächendeckend neue Plakate geklebt, deren grellgelber Hintergrund viele an die Farbe des Judensterns erinnert und auf denen steht: „Wir Österreicher wählen, wen wir wollen“. Das zweite „wir“ ist deutlich unterstrichen. Wer in dem sicherlich weit fortgeschrittenen, gleichwohl aber nach wie vor paradoxen Nationswerdungsprozess Österreichs nach Belegstücken und Haltepunkten sucht, der wird hier fündig. Auf jeden Fall zeigte der Appell an das Gemeinschaftsbewusstsein der Pflichterfüller, Mitläufer und Mitwisser die erhoffte Wirkung: Waldheim wird am 8. Juni 1986 mit einem Vorsprung, den noch nie ein Kandidat hatte erringen können, zum Bundespräsidenten gewählt. „Dr. Kurt Österreicher“ hatte sich auf seine „Waldheimer“ verlassen können.86 Bundeskanzler Sinowatz tritt zurück, Israel lässt seine Botschaft in Wien unbesetzt und der WJC fordert die amerikanische Regierung auf, Waldheim auf die „Watchlist“ zu setzen, was am 27. April 1987 geschieht. Das Staatsoberhaupt Österreichs wäre für den Fall, dass es versucht hätte, die Stadt zu besuchen, in der es zehn Jahre lang als Generalsekretär der Vereinten Nationen tätig war, auf der Stelle verhaftet worden. Was begann, war eine Präsidentschaft des Geschnittenwerdens und der Selbsteinmauerung, und dies alles nur, weil am Heldenplatz kein Held amtierte. Immer hoffte er auf einen Besuch oder eine Einladung des Kollegen Weizsäcker aus dem nahen und doch so fernen Bonn, der wie er in der Wehrmacht gedient und am Russlandfeldzug teilgenommen hatte, der aktiv bei der brutalen Belagerung Leningrads dabei gewesen war und der sich doch mit einer einzigen Rede zur rechten Zeit den Mythos der Unantastbarkeit geschaffen hatte, obwohl beide wussten, dass der eine nicht mehr und nicht weniger „verstrickt“ war als der andere. Nur im Fall der Hinrichtung des SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann (dem Österreich noch schnell die Staatsbürgerschaft aberkannt hatte) gab es weltweit ein vergleichbares Medieninteresse an den NSVerbrechern wie während der Wahl Waldheims, „dabei war der eine der schlimmste Verbrecher der Weltgeschichte und der andere nicht einmal ein Nazi.“87 Als sich Weiz85 Zit. nach Günther Ofner, Die Rolle der SPÖ in der „Waldheim-Kampagne“, in: Khol, Faulhaber und Ofner (Hg.), Die Kampagne, a. a. O., S. 119–175, hier: S. 137. 86 Inge Cyrus, Dr. Kurt Österreicher und seine Waldheimer, in: „Der Spiegel“ vom 14.4.1986, S. 96; vgl. auch den Roman „Der Kalte“ von Robert Schindel, Berlin 2013, und Cornelius Lehngut, Ende der Externalisierung? Die parteipolitische Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit in Österreich seit der Waldheim-Affäre, in: Birgit Hofmann, Katja Wetzel, Katrin Hammerstein, Regina Fritz und Julie Trappe (Hg.), Diktaturüberwindung in Europa. Neue nationale und transnationale Perspektiven, Heidelberg 2010, S. 117–131. 87 Wiesenthal, Recht, nicht Rache, a. a. O., S. 392. Weit mehr als eine Notiz am Rande: Während des Eichmann-Prozesses 1960/61 in Jerusalem setzte sich der Superintendent von Linz, wo Eichmann aufgewachsen war, bei der Bonner Bundesregierung für den Angeklagten ein. Superintendent Mensing-Braun schrieb, dass Eichmann über eine „grundanständige Gesinnung“, ein „gütiges Herz“ und „große Hilfsbereitschaft“ verfüge. Niemand könne sich vorstellen, dass er „je zu
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säcker im Juli 1990 am Rande der Salzburger Festspiele dann doch noch „privat“ mit Waldheim traf, wurde dies in der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ als „falsche und nicht erklärliche Bewegung“88 des deutschen Bundespräsidenten gebrandmarkt. In der Zwischenzeit hatte eine von der österreichischen Regierung eingesetzte internationale Historikerkommission Waldheims Dienstzeit auf dem Balkan untersucht. Aus dem Bericht, den sie am 8. Februar 1988 vorlegte, ging eindeutig hervor, dass der Oberleutnant nicht an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen war, sich sehr wohl aber einer „konsultativen Mitwirkung an Unterdrückungsmaßnahmen“89 schuldig gemacht hatte. Der brave Soldat Waldheim sah in dem Historikerspruch eine „umfassende Entlastung“ und erklärte, „der Verleumdung nicht zu weichen“, weil der Bericht „in Teilen nicht der Wahrheit“ entspreche; Simon Wiesenthal hingegen forderte – vergeblich – seinen Rücktritt. Der Pflichterfüller erfüllte bis zum letzten Arbeitstag seine Pflicht. Als im März 1988 der 50. Jahrestag des Anschlusses anstand, fand er allerdings zu folgenden Worten: „Wir dürfen nicht vergessen, dass viele der ärgsten Schergen des Nationalsozialismus Österreicher waren. Es gab Österreicher, die Opfer, und andere, die Täter waren. Erwecken wir nicht den Eindruck, als hätten wir damit nichts zu tun.“90 Somit wurde in der an Schizophrenien wahrlich nicht armen österreichischen Geschichte ausgerechnet von dem Mann an der Staatsspitze, dessen Vergangenheit in Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg zu einer öffentlichen Auseinandersetzung führte, das gesagt, was seine Vorgänger bis hin zu aktiven Widerstandskämpfern verabsäumt hatten. Die „Causa Waldheim“ fand am 8. Juli 1992 mit seiner Verabschiedung aus dem Amt und letztlich erst mit seinem Tod am 14. Juni 2007 ihr Ende. Im Testament stand: „Ich bedauere es zutiefst, dass ich unter dem äußeren Druck monströser Beschuldigungen, die mit meinem Leben und meinem Denken nichts zu tun hatten, viel zu spät zu den NS-Verbrechen umfassend und unmissverständlich Stellung genommen habe.“ Die Affäre um ihn ist der Wendepunkt und die Achsenzeit des modernen Österreich, sie war die Entsakralisierung des Opfermythos und das Ende der „Entösterreichisierung des Nationalsozialismus“ (Thomas Bernhard). Und sie zeigte mit dem Wort von Peter Handke, der Waldheim den „unwürdigen Dirigenten eines Nicht-Volkes“91
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Grausamkeit oder verbrecherischen Handlungen fähig gewesen wäre“; „Der Spiegel“, Nr. 34/2011, S. 18. „Die Zeit“ vom 2.8.1990, S. 6. Vgl. den (Teil-)Abdruck des Berichts in: „Frankfurter Rundschau“ vom 10.2.1988, S. 3. Zit. nach Dickinger, Österreichs Präsidenten von Karl Renner bis Thomas Klestil, a. a. O., S. 179. Axer, Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, a. a. O., S. 359, Anm. 100; vgl. auch: Barbara Tóth und Hubertus Czernin (Hg.), 1986. Das Jahr, das Österreich veränderte, Wien 2006; Joachim Riedl, Skandalös. Die größten Aufreger der Zweiten Republik, St. Pölten 2011. In Cornelius Lehnguts voluminöser Untersuchung „Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich“, Frankfurt am Main und New York 2013, S. 421, figurieren sehr wohl Österreich und die Bundesrepublik Deutschland, allen Ernstes aber nicht die DDR als Nachfolgestaaten des Großdeutschen Reiches!
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nannte, dass hier Menschen immer noch auf der Suche nach sich selbst waren. Der Streit um ihn ging quer durch alle Parteien, gesellschaftlichen Gruppen und Familien. Die „Pflichterfüllung“ erwies sich als die „Sollbruchstelle des österreichischen Nachkriegsmythos“ (Heidemarie Uhl). Der „Totstell-Reflex“ war endgültig gestorben. Der Fall Waldheim wurde zum Fall Österreich, und in dem stand statt der Lebenslüge nun die Wahrheit auf der Tagesordnung. Ein ganzer Staat saß auf der Anklagebank. Am 29. April 1985 hält der Kieler Neuzeithistoriker Karl Dietrich Erdmann aus Anlass seines 75. Geburtstages eine Vorlesung. Das Auditorium Maximum seiner Universität quillt mit fast tausend Hörern aus allen Nähten, die letzten hereinströmenden müssen im Schneidersitz auf dem Fußboden Platz nehmen. Das Thema, das Erdmann sich gewählt hat, heißt „Drei Staaten – zwei Nationen – ein Volk? Überlegungen zu einer deutschen Geschichte seit der Teilung“.92 Das Fragezeichen wird in der schnell einsetzenden Diskussion gern weggelassen, zufällig oder absichtlich. Trotz des ungeheuren Zuspruchs an seiner Wirkungsstätte ist die Resonanz auf Erdmanns Thesen in der Bundesrepublik eher verhalten, und die DDR schweigt sich aus. In Österreich hingegen schlagen seine Thesen ein wie eine Bombe. Alle Großen und Größen der dortigen Zeitgeschichtsforschung setzen sich mit ihnen auseinander, zustimmend, zweifelnd und schroff ablehnend bis hin zu Anton Pelinkas Diktum, das Ganze erinnere ihn „allzu deutlich“93 an „Ein Volk – ein Reich – ein Führer“. (Pelinka gehört zu denjenigen, die das Fragezeichen vergessen haben.) Ihm beipflichtend sehen andere in Erdmanns Worten gar den Versuch, die Österreicher in das deutsche Volk „heimzuholen“94. Ganz so „einfach“ verlaufen Erdmanns Gedankengänge allerdings nicht. Was hat er tatsächlich gesagt? Worum es ihm geht, ist die deutsche Dimension in der österreichischen Geschichte. Das Jahr 1945 markiert für ihn, was einige überlesen zu haben scheinen, den Endpunkt deutscher Geschichte, die sich innerhalb eines einzigen Staates vollzieht. Die Waldheim-Affäre aufgreifend erklärt er aber, dass den Österreichern „der Fluchtweg zu einer Insel der Seligen außerhalb der deutschen Geschichte“ für immer versperrt sei.95 Die Eigenstaatlichkeit Österreichs wird von ihm nirgendwo geleugnet oder in Frage gestellt, er verwendet aber für „das uns zugewiesene Stück Erde“ die Begriffe „Boden“, „Siedlungsraum“ und „Volk“, immer Österreich einschließend. Der Salzburger Histori92 In: GWU, Nr. 10/1985, S. 671–683, wieder abgedruckt in: ders., Die Spur Österreichs in der deutschen Geschichte, a. a. O., S. 7–37 und in: Klaus Kellmann, Michael Salewski und Gerhard Stoltenberg (Hg.), Geschichte, Politik und Pädagogik, Aufsätze und Reden von Karl Dietrich Erdmann, Bd. 2, Stuttgart 1986, S. 373–387. 93 Anton Pelinka, Der deutsche Sog. Österreich hat keine spezielle Mission zu erfüllen, in: „Die Zeit“ vom 19.1.1990, S. 56. 94 Georg Schmitz, Leserbrief in: „Die Zeit“ vom 1.4.1988, S. 62; vgl. dagegen: Jürgen Elvert, Erdmann-Debatte und Historikerstreit. Zwei Historikerkontroversen im Vergleich, in: Gehler und Böhler (Hg.), Verschiedene europäische Wege im Vergleich, a. a. O., S. 454–467. 95 Erdmann, Die Spur Österreichs in der deutschen Geschichte, a. a. O., S. 40.
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ker Fritz Fellner reagiert auf „den inzwischen berühmt gewordenen Vortrag“96 mit der inzwischen nicht weniger berühmten Zustimmung: „Entkleidet seines Uniformitätsanspruches könnte der Begriff ‚deutsche Nation‘ als jene Überordnung kultureller Gemeinsamkeit von allen jenen anerkannt werden, die sich zur Wahrung der Eigenständigkeit ihrer kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Selbstverwirklichung von der deutschen Einheit abgewandt haben“.97 Dagegen wenden sich Fellners eigener Assistent Georg G. Schmid, der auf die „Gefährlichkeit von Erdmanns Betrachtungsweise“ im Sinne einer Wiedergewinnung des verlorenen status quo ante hinweist98, und Gerald Stourzh, der im Dezember 1985 in Wien, an seiner Universität, einen Vortrag zum Kontinuitätsproblem in der österreichischen Geschichte hält, der um das Jahr 1938 als Kristallisationspunkt der österreichischen Nationsbildung kreist99 (Erdmann ist unter den Hörern). Gerhard Botz, der Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaft, reagiert mit der Frage „Eine deutsche Geschichte 1938–1945?“.100 Eine zusätzliche Aufladung erfährt die Kontroverse durch die im gleichen Zeitraum (auf Initiative Erdmanns) begonnenen Planungen zu einem „Deutschen Historischen Museum“ in Berlin, dessen Grundsteinlegung am 28. Oktober 1987 erfolgt. Nach dem Willen Erdmanns soll in diesem Museum für den Zeitraum bis 1945 auch Österreich seinen Platz finden, was den scharfen Widerspruch der Klagenfurter Historiker Karl Stuhlpfarrer und Helmut Rumpler provoziert. Die Wienerin Erika Weinzierl sieht darin sogar eine Wiederbelebung des großdeutschen Gedankens.101 Schließlich blieb die in dem Museum für die österreichische Geschichte freigehaltene Nische leer. Hier also war es „Österreich tatsächlich gelungen, sich aus dem Haus der deutschen Geschichte, in dem es durch die Jahrhunderte seiner Vergangenheit beheimatet war, hinauszuschleichen.“102 Endgültig beendet ist der Streit um Erdmanns Thesen bis heute nicht. Linksorientierte Politiker wie Joschka Fischer oder François Mitterrand bezeichneten Österreich
96 Stourzh, Vom Reich zur Republik, a. a. O., S. 305. 97 Fritz Fellner und Georg G. Schmid, Ende oder Epoche der deutschen Geschichte? Bemerkungen zum Abschlussband des Gebhardtschen Handbuches, in: „Zeitgeschichte“, Jahrg. 5, 1977/78, S. 158–171, hier: S. 164. 98 Ebd., S. 171. 99 Stourzh, Vom Reich zur Republik. Notizen zu Brüchen und Wandlungen im Österreichbewusstsein seit 1867, in: „N.Ö.-Journal“, Nr. 47 und 48 vom März und April 1987. 100 Gerhard Botz, Eine deutsche Geschichte 1938–1945? Österreichische Geschichte zwischen Exil, Widerstand und Verstrickung, in: „Zeitgeschichte“, Jahrg. 14, 1986/87, S. 19–38. 101 Erika Weinzierl, Zeitgeschichte in der Krise? in: Botz und Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 132–156, bes. S. 138; dies., „Vergangenheitsbewältigung“ in Österreich, in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 391– 410. 102 Grete Klingenstein in: „Die Presse“ vom 18./19.5.1985, S. 7.
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ausdrücklich als den dritten deutschen Staat103, der profilierte Münchner Historiker Thomas Nipperdey hingegen weist dies in einem Essay in scharfem Ton als „großdeutschen Traum“104 zurück. Der Linzer Historiker Rudolf G. Ardelt warnt zwar davor, Erdmann (und Fellner) als „Deutschnationale“ zu bezeichnen, artikuliert aber sein „Grausen“, sich aus Deutschland wieder „nationalpolitisch umarmt“ zu sehen.105 Welche Brisanz Erdmanns Gedanken entfachten, demonstriert Gerhard Botz anlässlich der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR 1990: Er fürchtet, dass „die angelaufene Dynamik des Vereinigungsprozesses über die beiden deutschen Staaten hinausgreifen und auf eine vollständige ‚Bereinigung‘ der Erdmann-Formel zusteuern“ könne, die nunmehr ja „zwei Staaten – ein Volk?“ heißen müsse. „Und welche Vereinfachung würde danach noch bleiben?“106 Erdmann, der am 23. Juni 1990 starb, hätte über derartige Ängste nur den Kopf geschüttelt, konsterniert und traurig, von einem so kompetenten Mann so gründlich missverstanden worden zu sein. Letztlich durchgesetzt hat sich der Forscher aus dem fernen Kiel. Das Selbstverständnis, jede Auseinandersetzung mit der Interdependenz zwischen deutscher und österreichischer Geschichte „zum nationalen Hochverrat“ (Fritz Fellner) zu stilisieren, weil sie das zarte Pflänzchen des jungen österreichischen Patriotismus bedroht, begann zu bröckeln.107 Botz hält es 2007 für „denkmöglich, zu akzeptieren, was derzeit noch ein ‚rotes Tuch‘ zu sein scheint, nämlich dass ‚Österreich (…) quasi ein Nachfolgestaat Nazideutschlands‘ sei“108. Nichts anderes hatte Karl Dietrich Erdmann 22 Jahre zuvor gesagt. Seine Thesen erregten nicht zuletzt
103 Joschka Fischer in: „Die Welt“ vom 6.8.1987, S. 2 und François Mitterrand in: „Der Spiegel“, Nr. 22/1994, S. 142. 104 Thomas Nipperdey, Das Ende des großdeutschen Traumes, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 12.3.1988, Beilage 1–2. 105 Rudolf G. Ardelt, „Wie deutsch ist Österreich?“ Eine Auseinandersetzung mit Karl Dietrich Erdmann und Fritz Fellner, in: Botz und Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 266–286, hier: S. 273. 106 Gerhard Botz, Krisen der österreichischen Zeitgeschichte, in: ders. und Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 16–76, hier: S. 66. 107 Fritz Fellner, Die Historiographie zur österreichisch-deutschen Problematik als Spiegel der nationalpolitischen Diskussion, in: Heinrich Lutz und Helmut Rumpler (Hg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa, Wien 1982, S. 33–59, hier: S. 34; vgl. ders., Geschichtsschreibung und nationale Identität. Probleme und Leistungen der österreichischen Geschichtswissenschaft, Wien 2002. 108 Botz, Nachhall und Modifikationen (1994–2007): Rückblick auf die Waldheim-Kontroversen und deren Folgen, in: ders. und Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 574–635, hier: S. 596; Zitat im Zitat: Rede Bundeskanzlers Schüssel vom 31. Januar 2005 (dieses scharf ablehnend); vgl. dazu Gerald Stourzh, Perspektive 1990: Karl Dietrich Erdmanns Österreich-Thesen und die deutsche Einheit, in: ders., Vom Reich zur Republik. Studien zum Österreichbewusstsein im 20. Jahrhundert, Wien 1990.
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deshalb so viel Aufsehen, weil viele in ihnen eine geistige Nähe und Verwandtschaft zur Freiheitlichen Partei Österreichs entdecken zu können glaubten. Die FPÖ ging in ihrem 1985er Programm von der „Zugehörigkeit Österreichs zum deutschen Volks- und Kulturraum“ aus, was sie noch 2011 ausdrücklich wiederholte und bestätigte. Der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer, der 2016 um ein Haar österreichischer Bundespräsident geworden wäre, stand und steht zu seiner Mitgliedschaft in der völkisch und großdeutsch eingestellten Burschenschaft Marko-Germania. Am 14. September 1986 wählte die FPÖ den Kärntner Obmann Jörg Haider zu ihrem Parteichef, der die „österreichische Nation“ kurz darauf als „eine ideologische Missgeburt“109 bezeichnete. Haiders politischer Ziehvater war Leopold Wagner (SPÖ), der als Landeshauptmann in Kärnten anderthalb Jahrzehnte wie ein Autokrat geherrscht hatte.110 Wagner, der sich seiner NS-Vergangenheit rühmte, erstickte gleichzeitig alle Versuche zu ihrer Aufarbeitung bereits im Keim. Dieses „Vergessen und Verschweigen hat Haider hervorgebracht.“111 Er machte die FPÖ von einer 5-Prozent- zu einer 27-ProzentPartei. Haider, ab 1989 (mit kurzen Unterbrechungen) Kärntner Landeshauptmann, lobte die „ordentliche Beschäftigungspolitik“ der NSDAP, pflegte den Kontakt mit den SS-Veteranenverbänden, konzentrierte straffällig gewordene Migranten in Sonderlagern und propagierte bzw. realisierte die Parole „Asylbetrug heißt Heimatflug“. Dieses Bekenntnis zumindest zu Versatzstücken des Nationalsozialismus beinhaltete gleichzeitig das Bekenntnis zur eigenen Vergangenheit. Es war so unwahr nicht, wenn er gegen SPÖ und ÖVP gerichtet schrieb: Für eigene Zwecke wurde die Theorie „Österreich als erstes Opfer“ von den heutigen Machtparteien entwickelt. Alle Schuld an dem, was in den Jahren 1933–1945 geschah, wurde damit einer „anderen Nation“ zugeschoben, der deutschen. Auch wenn man sich bis weit nach dem Anschluss noch in flammenden Worten selbst dazu bekannt hatte. Das ist unaufrichtig und durchsichtig: Alle Dokumente sprechen eine andere Sprache, und die Erzählungen in so gut wie jeder österreichischen Familie auch.112
Die Wende hin zu Aufarbeitung und Schuldanerkenntnis in Österreich ist schließlich durch die „Machtparteien“ ohne und gegen Haider erfolgt, aber sie ist immer noch mit erheblichen Irritationen belastet. So hielt Bundeskanzler Vranitzky (SPÖ) seine berühmte Nationalratsrede vom 8. Juli 1991 („Es hat nicht wenige Österreicher gegeben, die großes Leid über andere gebracht haben, die Teil hatten an den Verfolgungen und Verbrechen“) erst unmittelbar, nachdem Waldheim bekannt gegeben hatte, nicht mehr 109 Vgl. Hubertus Czernin (Hg.), Wofür ich mich meinetwegen entschuldige. Haider beim Wort genommen, Wien 2000, S. 20. 110 Eva Menasse, Der tote Sieger, in: „Die Zeit“ vom 5.3.2009, S. 16. 111 Barbara Spinelli, Der Gebrauch der Erinnerung. Europa und das Erbe des Totalitarismus, München 2002, S. 204. 112 Jörg Haider, Die Freiheit, die ich meine, 4. Aufl., Frankfurt am Main und Berlin, 1994, S. 113 f.
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für eine zweite Amtszeit zu kandidieren. Und mit seiner Formulierung, es sei „unbestritten, dass Österreich im März 1938 Opfer einer militärischen Aggression mit furchtbaren Konsequenzen geworden war“113, hielt Vranitzky sogar wörtlich an der Opferthese fest. Zudem war er es gewesen, der dem Beispiel Mitterrands folgend nach dem Fall der Berliner Mauer in die DDR geeilt war, um die moribunde SED-Regierung zu stützen. Erst Waldheims Nachfolger Klestil fand zu der erforderlichen Deutlichkeit, als er 1994 vor der Knesset in Jerusalem zugab, „dass manche der ärgsten Schergen Österreicher waren.“114 Im Bewusstsein der hier konzedierten Mitverantwortung wird vier Jahre später eine unabhängige und weisungsfreie Historikerkommission eingesetzt, die 2002 ihre Ergebnisse vorlegt. Sie hat, bezogen auf das Terrain Österreichs, zweifelsohne schonungslose Aufarbeitung geleistet, von der österreichischen Beteiligung am NS-Rassen- und Vernichtungskrieg steht in ihrem Bericht aber kein Wort. Gleichwohl haben derartige Vorgänge dazu beigetragen, dass der Opfermythos als quasi offizielle Staatsdoktrin und unumstößliche Gründungserzählung der Zweiten Republik seine Wertigkeit langsam, aber sicher verlor. Der National- und der Allgemeine Entschädigungsfonds für die Opfer des Nationalsozialismus werden 1995 bzw. 2001 eingerichtet. Die Streitigkeiten mit Israel um die zu entrichtenden „Kompensationsbeträge“ dauern an. Nur wenige Tage, nachdem die Schriftstellerin Elfriede Jellinek in einem aufsehenerregenden Artikel gesagt hatte, „(g)emessen an der Größe der österreichischen Schuld ist es beinahe eine Beleidigung, sie fünfzig Jahre zu spät noch zuzugeben“115, trat die schwarz-blaue Koalition aus ÖVP und FPÖ unter Bundeskanzler Schüssel im Februar 2000 ins Amt. Haider bleibt zwar in Kärnten, aber Israel zieht seinen Botschafter zurück, und die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, der Österreich erst fünf Jahre zuvor beigetreten ist, frieren ihre Beziehungen zu dem Land ein. Obwohl die neue Koalition erklärt, „Österreich stellt sich seiner Verantwortung aus (…) den ungeheuerlichen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes“, entsendet die EU zum ersten und einzigen Mal in ihrer Geschichte eine Delegation zur Kontrolle der Menschenrechtslage und der Arbeit der FPÖ. Die Österreicher empfinden dies so, als ob nicht nur eine Partei, sondern „das ganze Land unter Generalverdacht“116 steht. Auf jeden Fall wirkten die Maßnahmen, die EU-Kommissionspräsident Barroso 2009 als Fehler bezeichnete, kontraproduktiv und beförderten in der Breite der Bevölkerung eine „er-
113 Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates der Republik Österreich (XVIII. Gesetzgebungsperiode), S. 3283. 114 Zit. nach Axer, Die Aufarbeitung, a. a. O., S. 212. 115 Elfriede Jelinek, „Moment! Aufnahme! Folge vom 28. Januar 2000“, zit. nach Axer, S. 231, Anm. 250 116 Leidinger, Moritz und Moser, Streitbare Brüder, a. a. O., S. 272.
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neute Konjunktur“117 der Opferthese, während Bundespräsident Fischer sie 2005 erstmals staatsoffiziell für nicht mehr vorhanden erklärte („Wir haben uns in einem langen, schmerzhaften Prozess von der eindimensionalen Opfertheorie entfernt“). Österreich ist und bleibt ein in seinem Bewusstsein gespaltenes Land, das zeigte insbesondere die Beerdigung des 2008, zwei Jahre nach dem Auseinanderbrechen der schwarzblauen Koalition, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommenen Jörg Haider. Sie glich einem Staatsbegräbnis „mit den einer Heiligenverehrung nahekommenden Bekundungen“118. Welchen Weg ist das Alpenland nach 1945 gegangen? Wann wurde Österreich zu Österreich? Wann wurden aus den österreichischen Deutschen deutsche Österreicher? Und wann und wo wurde der point of no return einer ethnisch eigenständigen, autochthonen Nation erreicht? Die „innere Zerstörung der großdeutschen Idee“119, wie Heinrich Lutz es formulierte, hat zweifelsohne bereits im Krieg begonnen. Sie fand danach „durch eine Fülle pragmatischer Nützlichkeitserwägungen“120 ihre Bestätigung, aber deshalb waren aus den Deutschen noch längst keine Österreicher geworden. Überhaupt erschien die simplifizierende Dichotomie von „deutsch“ und „österreichisch“ noch für einen langen Zeitraum als wenig aussagekräftig. In den 1950er Jahren lag die Zustimmungsrate zu der Frage „Sind die Österreicher eine Nation?“ deutlich unter 50 Prozent. 1966 bejahten dies ganze 35 Prozent, 1970 immerhin schon 66 Prozent. Als die „Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft“ 1979 eine demoskopische Studie über „Das österreichische Nationalbewusstsein in der öffentlichen Meinung und im Urteil der Experten“ vorlegte, bekannte sich nur ein (!) Prozent mehr als 1970 zur Nation, 19 Prozent äußerten, dass Österreich „sich langsam als Nation zu fühlen“ beginne.121 In den 1990er Jahren identifizierten sich mit der Nation immerhin schon 80 Prozent, nur 6 Prozent plädierten anlässlich der Wiedervereinigung für den Anschluss an das neue, größere Deutschland.122 Die Grenzen zwischen Österreichbewusstsein und Nationalbewusst117 Karin Liebhart, Politisches Gedächtnis und Erinnerungskultur. Die Bundesrepublik Deutschland und Österreich im Vergleich, in: Gehler und Böhler (Hg.), Verschiedene europäische Wege im Vergleich, a. a. O., S. 468–490, hier. S. 482; Katrin Hammerstein, Geteilte Erinnerung? Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus in Bundesrepublik, DDR und Österreich in transnationaler Perspektive, in: Hofmann et al. (Hg.), Diktaturüberwindung in Europa, a. a. O., S. 103–116. 118 Leidinger, Moritz und Moser, Streitbare Brüder, a. a. O., S. 229. 119 Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815–1866, Berlin 1985, S. 485. 120 Lothar Höbelt, Österreich in der NS-Zeit, in: GWU, Nr. 2/1987, S. 116–128, hier: S. 126. 121 Zahlen nach: Hanns Haas, Österreich im „gesamtdeutschen Schicksalszusammenhang“?, in: Botz und Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 194–215, hier: S. 209; vgl. auch Ernst Bruckmüller, Österreichbewußtsein im Wandel. Identität und Selbstverständnis in den neunziger Jahren, Wien 1994. 122 Michael Gehler, Eine Außenpolitik der Anpassung an veränderte Verhältnisse: Österreich und die Vereinigung Bundesrepublik Deutschland-DDR 1989/90, in: ders. und Böhler (Hg.), Verschiedene europäische Wege im Vergleich, a. a. O., S. 493–530, hier: S. 522.
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sein bleiben fließend, der homo austriacus ist immer noch ein nicht genau bestimmbares Wesen, das langsam, aber sicher aus der historischen Opferrolle findet: Im Sommer 2000 erklären sich 70 Prozent der Österreicher für mitverantwortlich am Holocaust, nur 13 Prozent sprechen von der Alleinschuld Deutschlands.123 Die so bequemen und einfachen Zeiten, in denen österreichische Massenmörder wie Eichmann, Kaltenbrunner, Globocnik oder Stangl als Deutsche wahrgenommen wurden, sie neigten sich langsam ihrem Ende zu. Die nationale Identität in Österreich ist „im Wesentlichen auf der Absperrung gegenüber der Erinnerung an die NS-Gewaltverbrechen und den österreichischen Anteil daran aufgebaut (worden).“124 Sie wirkte und sie war in weiten Bereichen „von oben“125 verordnet, und sie war anfänglich gerade deshalb nicht mehr als „eine politische Kultur der Unbewusstheit“126, konkreter: des Nicht-Wissen-Wollens. Nicht erst mit dem Staatsvertrag wurde es dem Land leichter gemacht, sich aus der Geschichte zu stehlen, und es hat diese Möglichkeit weidlich genutzt. Was dabei herauskam, war der kleine Schlawiner, der es sich geschickt richtet, und eine Erinnerungskultur, in der „das Aufdecken der Vergangenheit ein größeres Verbrechen war als die Untaten der Hitlerei selbst.“127 Der Fall Waldheim wurde deshalb zu einer Art zweitem Anschluss, „nicht an das Deutsche Reich, sondern an das deutsche Schicksal, dem man glaubte, entkommen zu sein“128, wie es Herbert Kremp auf dem Höhepunkt der Affäre formulierte. Völlig richtig erkennt er, dass hinter der Trotzparole „Wir Österreicher wählen, wen wir wollen“ nichts anderes als die Frage „Wer sind wir eigentlich?“ stand. Da die brutal-reale Antwort auf einmal lautete: der Komplize, der dann auch noch die Zeche prellte, begann nunmehr eine schmerzliche Identitätssuche, in der alle Fluchtwege aus der Mitverantwortung abgeschnitten waren. Der große Wegweiser auf dem Pfad zur nationalen Identitätsfindung war die Dekonstruktion des Opfermythos. Wegsehen ging und galt nicht mehr. 123 Botz, Nachhall und Modifikationen, a. a. O., S. 595; vgl. Peter Berger, Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, Wien 2008; Gabriele Matzner-Holzer, Verfreundete Nachbarn. Österreich – Deutschland. Ein Verhältnis, Wien 2005. 124 Vgl. Uhl, Das „erste Opfer“, a. a. O., S. 22; David Cesarani, Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder – Eine Biographie, Berlin 2012; Anke Silomon, Hitlers erstes und letztes „Opfer“: Vergangenheitspolitik in Österreich und Italien zwischen 1945 und 1989, in: „Neue Politische Literatur“, Nr. 4/2009, S. 439–466. Auch Hans-Peter Siebenhaar, Österreich. Die zerrissene Republik, Zürich 2017, S. 66 f., spricht von der „noch immer nicht abgeschlossenen Aufarbeitung“ und der „Mittäterschaft“ Österreichs. 125 Perz, Österreich, a. a. O., S. 181. 126 Hanisch, Ernst, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Österreichische Geschichte 1890–1990), Wien 1994, S. 398. 127 Meinrad Ziegler und Waltraud Kannonier-Fingter, Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit, Wien, Köln und Weimar 1993, S. 39. 128 Herbert Kremp in: „Die Welt“ vom 24.4.1986, S. 1.
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In der historischen Forschung ist man sich inzwischen relativ einig, dass der Prozess der österreichischen Nationsbildung „von unten“, aus der Bevölkerung heraus, in den letzten Kriegsjahren einsetzte, als den Menschen langsam dämmerte, wem man da wissentlich und willentlich gefolgt war. Adolf Schärf bekannte im Frühsommer 1943, dass „der Anschluss tot und die Liebe zum Deutschen Reich den Österreichern ausgetrieben worden ist.“129 Dem Bekenntnis zur Nation haftete damit von Anfang an aber auch etwas Opportunistisches an, denn sie war das probate Mittel, sich von der Verbrechensgemeinschaft mit den Deutschen abzusondern. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, auf den Fritz Fellner hinweist und der „die jungen Historiker, Publizisten, Lehrer und Kulturschaffenden immer wieder verunsichert, (nämlich) (…) dass der Staat, zu dessen unabhängiger Existenz sich die Österreicher heute uneingeschränkt bekennen, (…) ein Produkt machtpolitischer Expedienz und nicht Frucht nationalen oder sozialen Unabhängigkeitsstrebens der Mehrheit der Bevölkerung gewesen ist.“130 Der Staat Österreich war 1945 genauso wie 1918 ein Postulat der Großmächte, um Deutschland zu schwächen; es ging um die querelle allemande, nicht um eine Nation im bestenfalls embryonalen Zustand. Von hier ist es nur ein gefährlich kleiner Schritt bis hin zu der Behauptung, dass die Zweite Republik ein „Geschenk aus Moskau“ war und „dass im Grunde auch dieses Österreich aus Überzeugung ‚keiner wollte‘“131 (Helmut Rumpler). Vielleicht wird auf dem Hintergrund eines derart ernüchternden Befundes Friedrich Heers berühmt gewordener Ausruf, er sei an dem Kampf um die österreichische Identität gestorben132, verständlicher, auf jeden Fall dauerte der Kampf auch über seinen Tod 1983 hinaus an. Wer glaubte, der Prozess der Nationsbildung sei beispielsweise durch den EU-Beitritt Österreichs 1995 zu seinem endgültigen Abschluss gekommen, weil alle Fragen der Vergangenheit geklärt seien133, sah sich bald eines Besseren bzw. Schlechteren belehrt. Noch im Jahr 2005 (!) bezeichneten österreichische Spitzenpolitiker die Zeit von 1938 bis 1945 als „Besetzung“ und charakterisierten ihr damaliges Verhältnis zu Deutschland als „Kollaboration“ (sic!), stellten ihr Land also in eine Reihe mit Frankreich oder Dänemark, nicht jedoch in eine Haftungs- und Verantwortungsgemeinschaft mit Deutschland.134 Aus dem victim war bestenfalls ein guilty victim geworden, und das Unschuldssyndrom lebte fort. Derartige 129 Adolf Schärf, Österreichs Erneuerung 1945–1955, Wien 1955, S. 20. 130 Fritz Fellner, Das Problem der österreichischen Nation nach 1945, in: Botz und Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 216–240, hier: S. 216. 131 Helmut Rumpler, Österreichs Zeitgeschichte im Rahmen „deutscher Kontinuität“? in: Botz und Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 353–366, hier: 358. 132 Friedrich Heer, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien 1981. 133 Vgl. Rudolf Burger, Austromanie oder der antifaschistische Karneval, in: ders., Ptolemäische Vermutungen, Lüneburg 2001, S. 99–123, hier: S. 112; vgl. hierzu auch: William M. Johnston, Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs, Wien 2009. 134 So der damalige Klubobmann der Grünen im Nationalrat, Dr. Alexander Van der Bellen, am 14. Januar 2005, und der Präsident des Bundesrates, Alfred Gerstl.
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Vorgänge zeigen, wie Gerhard Botz treffend resümiert, dass „der österreichische Nationalitätendiskurs noch keineswegs als dauerhaft abgeschlossen bezeichnet werden kann.“135 Immer noch stehen die offizielle Erinnerungskultur und das „plebiszitäre Gedächtnis“ (Sabine Loitfellner) im Widerstreit. Die Österreicher können sich drehen und wenden, wie sie wollen, sie waren dabei, und zwar, weil sie dabei sein wollten. Die Antwort auf die Frage, wo sie auf dem langen, dornenreichen Weg zwischen Schuldanerkenntnis und Schuldverleugnung stehen, markiert zweifelsohne den Glaubwürdigkeitsgehalt ihres Nationscharakters. „Die zweite Schuld oder von der Last, Deutscher zu sein“, so lautet der Titel eines der bekanntesten Bücher von Ralph Giordano. Erst wenn in Wiener, Salzburger und Innsbrucker Buchläden Gleiches mit entsprechender Nomenklatur ausliegt, kann von Normalisierung oder gar von „Abschluss“ im österreichischen Nationswerdungsprozess gesprochen werden, denn eine Nation ohne Erinnerungs- und Trauerarbeit ist eine Nation ohne Gewissen, mithin keine Nation. Jedenfalls bewiesen die Deutschen in der „vermeintlich skandalös misslungenen Aufarbeitung“136 die Fähigkeit zu trauern, die Österreicher hingegen lange genug nicht. Als die liberale Wiener Tageszeitung „Der Standard“ 2013 aus Anlass des 75. Anschluss-Jahrestages eine repräsentative, sozial breit gestaffelte Umfrage durchführte, äußerten 42 Prozent der Befragten, „dass unter Hitler nicht alles schlecht war.“ Nachdem 2017 zum zweiten Mal eine aus ÖVP und FPÖ gebildete Regierung ins Amt getreten war, mahnte der Bundespräsident und ehemalige Clubobmann der Grünen Alexander Van der Bellen sogleich, die „Verantwortung für die hellen wie auch für die dunkelsten Seiten der eigenen Geschichte“ zu übernehmen. Ob er gehört wurde, daran sind Zweifel angebracht. Anfang 2018 wird dem niederösterreichischen FPÖ-Spitzenpolitiker Udo Landbauer vorgeworfen, im Rahmen seiner engen Verflochtenheit mit dem Burschenschaftlermilieu direkt oder indirekt zur Verbreitung übelsten antisemitischen Liedguts beigetragen zu haben, was er bestreitet. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts auf „Wiederbetätigung“. In eben diesem Milieu der schlagenden Verbindungen wurde und wird die österreichische Nation wieder und wieder als „Hirngespinst“ und „Missgeburt“ bezeichnet. Quo vadis, Austria?
135 Botz, Nachhall und Modifikationen, a. a. O., S. 632; vgl. auch Steven Beller, Geschichte Österreichs, Wien 2006; Susanne Frölich-Steffen, „Nationsbildung“ in Österreich: Versöhnung von Austriazismus und Pangermanismus im Zuge der EU-Mitgliedschaft, in: Kramer, Helmut, Liebhart, Karin und Stadler, Friedrich (Hg.), Österreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand. In memoriam Felix Kreissler, Wien, Berlin und Münster, S. 53–68; Georg Christoph Berger Waldenegg, Das große Tabu. Historiker-Kontroversen in Österreich nach 1945 über die nationale Vergangenheit, in: Jürgen Elvert und Susanne Krauss (Hg.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, S. 143–174; s. auch Robert Menasse, Das Land ohne Eigenschaften. Essay zur österreichischen Identität, Frankfurt am Main 1995. 136 Schmid, Eine Vergangenheit, drei Geschichten, a. a. O., S. 90.
Italien Benito Mussolini, ohne den der Faschismus in Italien und die Zusammenarbeit mit Deutschland nicht denkbar sind, wurde am 29. Juli 1883 in dem Dorf Predappio in der Emilia-Romagna geboren. Sein Vater war Gastwirt, seine Mutter Lehrerin. Beruflich folgte der äußerst ruhelose, aggressive Junge den Spuren der Mutter, wirklich unterrichtet indes hat er aber nicht. Politisch orientierte er sich früh am 1892 gegründeten Partito Socialista Italiano (PSI), seine wirkliche Heimat fand er aber in ihm nicht. Schon vor seiner Berufung zum Chefredakteur des Parteiorgans „L’Avanti“ 1912 kam es zu ersten Spannungen mit der PSI-Führung, weil Mussolini Marx bereits damals für widerlegt hielt und sich stattdessen an Nietzsche, Pareto, Luxemburg und Sorel ausrichtete. Er glaubte nicht daran, dass die Masse, sondern vielmehr eine kleine Elite des Geistes und der Tat die Revolution bewirken könne. Vom Proletariat, von der italienischen Arbeiterschaft, hat er von Anfang an wenig gehalten, obwohl er alles daransetzte, aus dem Ersten Weltkrieg einen revolutionären Volkskrieg zu machen, was ihm am 29. November 1914 den Ausschluss aus dem reformistischen PSI eintrug. Letztlich ausschlaggebend hierfür war die Gründung des Organs „Popolo d’Italia“, das später zum eigentlichen Kampfblatt des Faschismus wurde. An der Gründungsversammlung seiner Fasci di Combattimento am 29. März 1919 in Mailand nahmen kaum mehr als hundert Menschen teil, aus der Bahn geworfene Studenten, futuristische Künstler und frustrierte Soldaten. Letztere sorgten aufgrund ihres nie erloschenen Fanatismus von vornherein für die stramm militärische Ausrichtung der Bewegung. Als sich die Fasci im November 1921 als Partito Nazionale Fascista (PNF) konstituierten, zählte dieser bereits 250.000 Mitglieder und avancierte schnell zur ersten bürgerlichen Massenpartei Italiens, weil sich in ihren Reihen nicht mehr das Strandgut des Weltkriegs, sondern Lehrer, Angestellte, Handwerker und Unternehmer versammelten. Praktisch hatte nur Mussolini selbst zusammen mit ein paar Getreuen den atemberaubenden Austausch der Sozialstruktur wie auch der programmatischen Ausrichtung in der Partei vom Sozialismus hin zum militanten Nationalismus überlebt und dadurch eine stetig wachsende Autorität gewonnen. Immer häufiger sprach man ihn jetzt als Duce an, weil seine hochemotional, apodiktisch und charismatisch vorgetragenen Argumente schon von der Art und Weise ihrer rhetorischen Präsentation her keinerlei Widerspruch duldeten. Das Inszenieren der faschistischen „Liturgie“, Märsche, Flaggen und pompöse Zeremonien waren ihm allemal wichtiger als inhaltliche Aussagen. Sein Stato Nuovo sollte den Mythos der Antike wiederbeleben. Im Königshaus, in der Armee, im Vatikan und unter den Intellektuellen bis hin zu dem Liberalen Benedetto Croce stand man dem PNF zunehmend offener gegenüber. Nachdem im August 1922 ein von den sozialistischen Gewerkschaften initiierter Generalstreik niedergeschlagen worden war, wagt Mussolini den entscheidenden
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Schritt. Zwar war der am 24. Oktober von Neapel aus begonnene und zum heroischen „Marsch auf Rom“ hochstilisierte Sturm in Wirklichkeit eine „recht klägliche Veranstaltung“1, ja ein „kolossaler Bluff “2, und für einige hat er „überhaupt nicht stattgefunden“3. Dennoch erfüllte er seinen Zweck: Mussolini wurde völlig legal mit der Regierungsbildung beauftragt. Ende Dezember schafft er mit dem „Faschistischen Großrat“, dem Gran Consiglio del Fascismo, das leitende Exekutivorgan seines Staates, aber immer noch sitzen Konservative und Gemäßigte mit in der Regierung. Erst von 1925 an ist mit Mussolinis öffentlichem Bekenntnis zum Faschismus die Diktatur etabliert, und sein Unterrichtsminister Giovanni Gentile beginnt, von der „totalitären Gesellschaft“ zu sprechen. Ab 1929 finden keine freien Wahlen mehr statt. Der Duce nennt sich offiziell Capo del Governo und bekleidet acht Ministerien gleichzeitig, seine PNF schwillt bis 1935 auf 2,7 Millionen Mitglieder an, der Weg in die Einparteiendiktatur hat sich vollendet. Wie sah der italienische Faschismus in seinem Selbstverständnis aus? Zweifellos resultierte er aus einer Überlagerung mehrerer Modernisierungskrisen, die zur Hausbildung einer in sich völlig uneinheitlichen Ideologie führten. Das Ideal des starken Staates, dem sich der „neue, faschistische Mensch“ bedingungslos unterzuordnen habe, markierte zusammen mit dem Postulat der „ethnischen Reinheit des Volkskörpers“ einen der wenigen Fixpunkte: Die razza italiana galt als überlegen und ausersehen. Aktionismus, Mobilisierung und eine permanente Abfolge von Kampagnen charakterisierten sein Alltagsgesicht, futuristische Entwürfe und der gleichzeitige Rekurs auf die glorifizierte Vergangenheit bildeten seine Visionen. Ob er wirklich, wie beansprucht, die Züge und Merkmale einer neuen Zivilreligion hatte, ist umstritten, in dieser Hinsicht war der ducismo sicherlich wirksamer als der fascismo. Alles in allem handelte es sich wohl um eine genauso eigenartige wie hochexplosive Mischung aus Rückständigkeit, Stagnation und Entwicklung, um eine „Modernität ohne Modernisierung“4. Im Frühjahr 1937 nahm Mussolini den Antisemitismus in sein Regierungsprogramm auf und verlieh ihm am 17. November 1938 Gesetzeskraft. Die Juden wurden rigoros aus der italienischen Gesellschaft ausgeschlossen und zur Verfolgung freigegeben. An der caccia all’ ebreo beteiligten sich nach dem frühfaschistischen Organisationsprinzip der squadra zahlreiche Helfershelfer, Denunzianten und Banden, die teilweise im direkten Benehmen mit des PNF die Juden erpressten, beraubten, aus1 Martin Baumeister, Auf dem Weg in die Diktatur. Faschistische Bewegungen und die Krise der europäischen Demokratien, in: Dietmar Süß und Winfried Süß (Hg.), Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008, S. 13–33, hier: S. 16. 2 Adrian Lyttelton, The Seizure of Power. Fascism in Italy 1919–1929, Princeton 1987, S. 85. 3 Hans Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 93. 4 Gerhard Besier, Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 114.
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plünderten und auslieferten. Insbesondere aufgrund der Ortskenntnis der Bandenchefs waren bald alle Verstecke bekannt. Sie agierten weitestgehend autonom und in Eigeninitiative, bekamen von den Deutschen später allerdings Kopfgeld, so wie die banda Pantera Nera, die ihre Opfer direkt im Gestapohauptquartier in der römischen Via Tasso übergab. Alles geschah in einem gesellschaftlichen Umfeld, das durch „stille Akzeptanz“, offenes Einverständnis, unterlassene Hilfeleistung und fehlenden Widerstand gekennzeichnet ist. Weder gegen die Einführung der Rassegesetze 1938, der Zwangsarbeit 1942 oder die Deportationen 1943 erhob sich irgendein Protest. „Die italienische Bevölkerung duldete die antijüdische Verfolgung zu allen Zeitpunkten“ (Frauke Wildvang). Jeder fünfte der 43.000 Juden in Italien ist ermordet worden. Es gibt keinen Quellenbeleg dafür, dass dieses Verbrechen der deutsch-italienischen Annäherung und der Achsenbildung zwischen Rom und Berlin geschuldet ist,5 wie überhaupt die Frage nach Ähnlichkeit, Vorbildfunktion und wechselseitiger Beeinflussung zwischen Faschismus und Nationalsozialismus Gegenstand unvermindert scharfer Forschungskontroversen ist. So ist für Wolfgang Schieder der Nationalsozialismus „nur richtig zu verstehen …, wenn man ihn als deutschen Faschismus interpretiert“. In Italien sei der „Ursprungsfaschismus“ als „historischer Realtypus“ entstanden, der als Modell und Anregung für entsprechende Bewegungen im übrigen Europa gewirkt habe. Hitler habe nur deshalb Erfolg gehabt, weil er „die Strategie Mussolinis nachahmte“. Dessen Machtergreifung 1922 sei für ihn „das große politische Vorbild“ gewesen.6 Die kollektive Gewaltausübung, der Jugendkult, der paramilitärische Aktionsstil und die Massenpartei als schichtenübergreifende Sammlungsbewegung seien die klassischen Gemeinsamkeiten gewesen. Mussolini wird einmal als politischer Voluntarist und prinzipienloser Opportunist bezeichnet, dann aber hat er ein stringentes „imperialistisches Parallelprogramm zu dem Hitlers“ entwickelt.7 Neben derartigen Widersprüchen ist es insbesondere die „Nachahmungsthese“, an der sich die Kritik an Schieder entzündet hat.8 Die eine Ideologie sei keineswegs eine „harmlose Spielart“9 der anderen gewesen. 5 Vgl. Besier, Das Europa der Diktaturen, a. a. O., S. 110, Anm. 47; Enzo Collotti, Il fascismo e gli ebrei: Le leggi razziali in Italia, Rom 2006; Frauke Wildvang, Der Feind von nebenan. Judenverfolgung im faschistischen Italien 1936–1944, Köln 2008; Juliane Wetzel, Der Mythos des „braven Italieners“. Das faschistische Italien und der Antisemitismus, in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 49–74; Michael A. Livingston, The Fascists and the Jews of Italy. Mussolini’s Race Laws, 1938–1943, Cambridge 2014. 6 Wolfgang Schieder, Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 12. 7 Ebd., S. 99, 105 f., 413. 8 Vgl. z. B. Steffen Kailitz, Ungleiche Brüder im Geiste, in: „Das Parlament“, Nr. 8/2009, S. 16; Lutz Klinkhammer, Amedeo Osti Guerrazzi und Thomas Schlemmer (Hg.), Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939–1945, Paderborn u. a. 2010. 9 Besier, Das Europa der Diktaturen, a. a. O., S. 113.
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Gleichwohl schloss Mussolini sich außenpolitisch eng an Deutschland an, weil er befürchtete, bei einer Revision der Grenzen von 1919 leer auszugehen. Auch hier war nicht primär ideologisches Denken handlungsleitend, sondern es ging um nackte Großmachtambitionen. Im November 1937 trat Italien dem Antikominternpakt bei, im Mai 1939 unterzeichnete es mit Deutschland den „Stahlpakt“, der insbesondere militärisch weitreichende Bündnisverpflichtungen vorsah. Die deutsche Legion Condor kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg gemeinsam mit einem italienischen Expeditionskorps. Dennoch ließ Hitler seinen Partner in dem sicheren Glauben, dass noch eine lange Friedensperiode bevorstand, weil ein Krieg Italiens „Ressourcen und Kräfte heillos überstieg“10. Niemand wusste dies besser als der Duce, weshalb er seine (vermeintlich) Frieden stiftende Funktion auf der Münchner Konferenz 1938 in vollen Zügen genoss. Erst am 25. August 1939 ist er durch einen Brief Hitlers von dem bevorstehenden Überfall auf Polen in Kenntnis gesetzt worden, an dem er sich nach den Bestimmungen des „Stahlpakts“ dann aber hätte beteiligen müssen. Zähneknirschend musste Hitler die „Nicht-Kriegführung“ des überforderten, streng genommen eigentlich bereits zu dem Zeitpunkt militärisch erschöpften Italien akzeptieren und zudem gewärtigen, dass Mussolini die im deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 zum Ausdruck gekommene Annäherung zwischen Moskau und Berlin nach Kräften torpedierte. Vertrauensverhältnisse sehen anders aus. Mussolini ist erst am 10. Juni 1940, im allerletzten Moment, als das nationalsozialistische Deutschland weite Teile Nord-, West- und Mitteleuropas besiegt und unterjocht hatte, opportunistisch, ja fast parasitär in den Krieg eingetreten, um für sich selbst noch möglichst viel von der Beute zu sichern, und dies mit einer Armee, die schlechter ausgerüstet war als im Ersten Weltkrieg. Den 1,6 Millionen Soldaten fehlte es an allem, insbesondere an Panzern und moderner Flak. Viele von ihnen konnten kaum lesen und schreiben, während die Offiziere eine übertriebene Geltungssucht an den Tag legten. Der gesamte materielle Unterbau für das schwere Gerät fehlte, weil Italien nur ein Zehntel der Stahlmenge produzierte, die in Deutschland zur Verfügung stand. Trotzdem wollte man beim „Unternehmen Barbarossa“, über das Mussolini am 2. Juni 1941 vage informiert wurde, à toux prix dabei sein. Insgeheim hoffte der Duce sogar darauf, dass die Wehrmacht „im Kampf gegen die UdSSR ausreichend bluten würde“11, damit Deutschland beim Gestalten der 10 Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 177. 11 Müller, An der Seite der Wehrmacht, a. a. O., S. 83; vgl. auch Thomas Schlemmer, Das königlichitalienische Heer im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Kriegführung und Besatzungspraxis einer vergessenen Armee 1941–1943, in: Sven Reichardt und Armin Nolzen (Hg.), Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen 2005, S. 148– 175; ders. (Hg.), Die Italiener an der Ostfront 1942/43. Dokumente zu Mussolinis Krieg gegen die Sowjetunion, München 2015; ders., Invasori, non vittime. La campagna italiana di Russia 1941–1943, Rom und Bari 2009; Gerhard Schreiber, Italiens Teilnahme am Krieg gegen die Sow-
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Nachkriegsordnung nicht das alleinige Sagen habe. In einer am 4. Februar 1939 vor dem Gran Consiglio del Fascismo gehaltenen Geheimrede, die nicht zu Unrecht als „Mussolinis Kampf “ bezeichnet worden ist, entwickelt er ein imperialistisches Parallelprogramm zu dem Hitlers, das sich keineswegs auf die Beherrschung des Mittelmeers als mare nostrum beschränkt. Italien sollte nicht nur als neues Imperium Romanum, sondern als gleichberechtigte Groß- und Weltmacht an allen Tischen und auf allen Stühlen Platz nehmen. Die Wirklichkeit sprach dem Hohn. Das Corpo di Spedizione in Russia und die nachfolgende Armata Italiana in Russia waren ihrer Aufgabe von Anfang an nicht gewachsen. Schon wenige Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde deutlich, dass die italienischen Verbände, auf sich allein gestellt, nichts zuwege brachten. In den Offizierskorps herrschten auf beiden Seiten tiefverwurzelte Ressentiments. Als der deutsche Infanteriegeneral Kurt von Tippelskirch faktischer Befehlshaber der 8. italienischen Armee wurde, spitzte sich die Situation zu, und als die Italiener beim Anblick sowjetischer Panzer zu Tausenden kopflos die Flucht ergriffen, sah man sich in seinen Vorurteilen bestätigt. Die deutsch-italienische Waffenbrüderschaft zerbrach, indem jetzt zum Teil mit Waffengewalt um Betten, Brot und das nackte Überleben gestritten wurde. Die 8. Armee, 230.000 Mann, wurde im Dezember 1942 praktisch vollständig von der Roten Armee vernichtet. Hitlers größter europäischer Verbündeter trat am 8. September 1943 aus dem Krieg aus. Mussolini war schon vorher in tiefste Depression verfallen. Für ihn brachen eine Welt und eine Weltmacht zusammen, die durchaus bereits Konturen angenommen hatte. Italien durfte sich große Teile Dalmatiens einverleiben und war in Kroatien, Griechenland und im Südwesten Frankreichs Besatzungsmacht. Abessinien und weitere Teile Nordafrikas hatte es mit genozidalem Terror unterworfen, und „Groß-Albanien“ war sein Protektorat. Die Teilnahme am „Russlandfeldzug“ sollte der langfristigen Ausbeutung und Ausplünderung der Rohstoffressourcen des Landes dienen, aber all dies war jetzt binnen weniger Tage und Wochen dahin. Zwei Wochen nach der Landung der Alliierten auf Sizilien wurde in einer Nachtsitzung des „Faschistischen Großrates“, Mussolinis eigentlichen und persönlichsten Machtinstruments, am 25. Juli 1943 der Antrag angenommen, dass der Duce die Leitung der Streitkräfte wieder in die Hände des Königs zu legen habe. „Wie ein Tölpel“12 trug Mussolini den Antrag zu Vittorio Emanuele III. und ließ sich anschließend widerstandslos verhaften. Unmittelbar danach begann man in einem wahren Begeisterungssturm, landesweit faschistische Symbole auf den Straßen und Plätzen niederzureißen. Aber die neue, vom König eingesetzjetunion. Motive, Fakten und Folgen, in: Jürgen Förster (Hg.), Stalingrad. Ereignis – Wirkung – Symbol, München und Zürich 1992, S. 250–292. 12 Friederike Hausmann, Kleine Geschichte Italiens von 1943 bis heute, 8. Aufl., Bonn 2010, S. 13; Mimmo Franzinelli, Il prigioniero di Salò. Mussolini e la tragedia italiana del 1943–1945, Madrid 2012.
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te Regierung des Marschalls Badoglio bestand ausschließlich aus Kräften, die ihre Karriere im Faschismus gemacht hatten und auf der Bündnistreue zu Deutschland beharrten. Mussolini wurde in einer Festung auf dem Gran Sasso, einem Bergstock in den Abruzzen, inhaftiert. Italien befand sich fortan in einem merkwürdigen Zustand: Der Austritt des Landes aus dem Krieg vollzog sich in enger Abstimmung mit den Alliierten, die Regierung Badoglio floh nach Brindisi und genoss dort eine Souveränität von Gnaden der USA, während der Duce am 12. September 1943 durch deutsche Fallschirmspringer befreit und an die Spitze eines neuen faschistischen Staates, der Repubblica Sociale Italiana (RSI), oder, nach ihrer Hauptstadt, der Republik von Salò, gesetzt wurde. Dieser Satellitenstaat von Gnaden des Dritten Reiches bezog seine Befehle von dem in Rom amtierenden Botschafter Rudolf Rahn. Ohne dessen Erlaubnis erhielt Mussolini nicht einmal Zugang zur eigenen Sekretärin, und in Rom genehmigte ihm die Wehrmacht nicht mehr als ein kleines Koordinationsbüro. 810.000 italienische Soldaten kamen in die Gewalt der Deutschen, von denen einige kurz zuvor noch Seite an Seite mit ihnen an der Ostfront gekämpft hatten. Jetzt sahen sie sich als Arbeitskräfte missbraucht oder in die Waffen-SS geprügelt. Etwa 75 Prozent weigerten sich, unter Hitler oder unter Mussolini zu dienen, 186.000 entschlossen sich zur Kollaboration mit dem Dritten Reich und der Republik von Salò. Was immer das deutsch-italienische Verhältnis bis zu diesem Zeitpunkt ausgemacht hatte, ideologische Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten, Rassismus und Antisemitismus, Waffenbrüderschaft im Vernichtungskrieg, Eroberungs- und Weltmachtdrang, eines war es nicht: Kollaboration. Von dieser kann historisch korrekt erst von dem Moment an gesprochen werden, in dem Rahn im besetzen Norditalien auf eine Kooperation mit der Bevölkerung baute und diese bis zu einem gewissen Grad auch erreichte. Sicherlich sammelten sich im „Agoniefaschismus von Salò“13, dem kleinen Städtchen am Gardasee, nicht mehr die großen Massen um den Duce, aber es waren keineswegs auch nur Mitläufer, Opportunisten und Konjunkturritter. Im RSI und unter seinem Motto „Zurück zu den Ursprüngen“ scharten sich auch antimonarchische Kräfte, die den Coup Badoglios vom 8. September als „unehrenhaft“ empfanden. 150.000 italienische Gefangene in alliierten Lagern verweigerten ihm die Gefolgschaft. In den „18 Punkten von Verona“ dominierten sozialpolitische Forderungen wie die Arbeitnehmerbeteiligung an der Betriebsführung und am Betriebsgewinn. Mussolini selbst sah seinen neuen „Staat“ auch als Puffer, der es den Nazis unmöglich machen sollte, in 13 Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 188; vgl. Enzo Collotti, Kollaboration in Italien während der deutschen Besatzung 1943–1945, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 415–430; Wolfgang Schieder, Benito Mussolini, München 2014, S. 117: „Noch immer scheuen die meisten italienischen Historiker vor allem eine Untersuchung der Verbindungen von Mussolinis Regime mit dem Hitlers, also der Kollaboration der RSI mit der deutschen Besatzungsmacht.“
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Norditalien Zustände wie in Polen herbeizuführen. Hans Woller urteilt völlig richtig, dass Mussolini auch in Salò „weder ein echter Bündnispartner noch ein bloßer Kollaborateur“ war. Auf jeden Fall war Italien für mehr als zwanzig Monate ein doppelt besetztes Land mit zwei gegeneinander Krieg führenden Regierungen, denn ab Februar 1944 kämpften italienische Truppen in der Cobelligeranza auf der Seite der Alliierten. Das Land war gespalten, nicht nur geographisch, sondern weit mehr noch hinsichtlich ideologischer und nationaler Zuordnungen: Der Partisan des Nordens war im Süden legitimer Soldat, und die Restbestände der Mussolini-Ergebenen im Süden sahen in den Kollaborateuren des Nordens ihre natürlichen Verbündeten. Was begann, war ein gnadenloser, blutiger Bürgerkrieg, in dem die Frontlinien oft kaum noch zu identifizieren waren, insbesondere für die direkt Beteiligten, und in dem ein Mythos entstand, mit dem das Land die Reihen nach 1945 wieder schloss, auch wenn dieser Mythos, die Resistenza, in den späteren, immer wiederkehrenden Erzählungen mit der historischen Wirklichkeit immer weniger zu tun hatte. Die Resistenza umfasste im April 1945, auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung, knapp 300.000 Mann, auch wenn hier Kurzentschlossene eingerechnet sind, die im letzten Moment auf der richtigen Seite der Geschichte sein wollten. Sie kämpften gleichzeitig gegen die nationalsozialistische Besatzung wie auch gegen das Kollaborationsregime von Salò, gegen den cattivo tedesco, den bösen Deutschen, wie auch gegen Mussolini. Das Problem, vor das sich die gesamte Nachkriegshistoriographie gestellt sah, bestand darin, dass sich die meisten dieser Widerstandskämpfer zur kommunistischen Partei bekannten14, während Sozial- und Christdemokratien, Sozialisten und Liberale die Minderheit in der Resistenza darstellten, mithin die Parteien, die das Fundament der neuen Republik bilden sollten. Im Bürgerkrieg selbst sind mindestens 30.000 Partisanen gefallen, weitere 10.000 wurden Opfer von Vergeltungsaktionen, während 12.000 Kollaborateure im Zuge der „wilden Säuberung“, also ohne Verfahren, hingerichtet wurden. Der Prominenteste war hier Mussolini, der am 28. April 1945 aufgegriffen, ohne Gerichtsverhandlung erschossen und öffentlich aufgehängt wurde. Im 1920 von Italien annektierten, mehrheitlich deutschsprachigen Südtirol hatten viele darauf gehofft, „heim ins Reich“ geholt zu werden, aber Hitler und Mussolini entschieden anders. Mit der sogenannten „Option“ mussten sich die Südtiroler 1939 entscheiden, ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen und damit nach Deutschland abwandern oder die italienische Staatsbürgerschaft behalten und damit ohne Minderheitenschutz weiterhin in der Provinz Bozen bleiben wollten. 86 Prozent entschieden sich für das Erstere und ein Drittel von ihnen wanderte auch tatsächlich ab, aber dieser Prozess wurde durch den einsetzenden Krieg relativ schnell beendet. Am 30. Januar 1940 bildete sich die „Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland“ 14 Vgl. Klaus Kellmann, Pluralistischer Kommunismus? Wandlungstendenzen eurokommunistischer Parteien in Westeuropa und ihre Reaktion auf die Erneuerung in Polen, Stuttgart 1984, S. 159 f.
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(AdO), die ab 1943 mit der dortigen SS-Dienststelle unter Karl Brunner kollaborierte. Nur hier, in Südtirol, trat die NS-Diktatur vollends an die Stelle des faschistischen Systems, der Reichsanschluss wurde auf allen Ebenen massiv vorangetrieben. Im Oktober 1943 wurde die AdO in „Deutsche Volksgruppe Südtirol“ umbenannt. Ihr oblag die „Rückdeutschung“, sie übernahm die Führung der Optanten wie auch derjenigen, die dablieben. Der Widerstand, dem sich der AdO-Leiter Peter Hofer und der Tiroler Gauleiter Franz Hofer, zum Beispiel im „Andreas-Hofer-Bund“, ausgesetzt sahen, blieb gerade unter den deutschgesonnenen marginal und schwach, aber auch die nach Italien ausgerichteten stießen hier keine Berge um, womit die Frage nach Umfang, Stellenwert und Gewicht der Widerstandsbewegung auf der Apenninen-Halbinsel überhaupt gestellt ist. Die Kernthese des großen Nachkriegsnarrativs der Liberazione läuft darauf hinaus, dass die Resistenza Italien selbstständig und aus eigener Kraft befreit hat. Das gehört in den Bereich der Märchen. „Niemand wusste dies übrigens besser als die Partisanen selbst, die oft genug auf sich allein gestellt waren oder gar die Bevölkerung ganzer Landstriche gegen sich hatten“15. Aber sie banden erhebliche Kräfte der Wehrmacht, die ganz Norditalien besetzt hielt, und trafen in den letzten Kriegstagen in vielen Dörfern und Städten noch vor den Alliierten ein, um dort faschistische Bürgermeister abzusetzen und Kollaborateure vor Volkstribunale zu stellen. Trotz dieser Akte autonomen und souveränen Handelns nahm die aus dem Zusammenspiel von Resistenza und „Antifaschismus“ gebildete Legende bald den Charakter einer neuen Zivilreligion an, und zwar in einer Intensität und Tiefe, wie sie der Mussolini-Faschismus zu keinem Zeitpunkt besessen hatte.16 Die Verbrechen der vergangenen Ära gerieten in einem regelrechten Schweigekonsens schnell ins Vergessen. Teilweise wurde der Widerstand sogar wie ein zweites Risorgimento angesehen17, denn in seinem verklärten Selbstverständnis hatte er ja das Mutterregime des Faschismus zu Fall gebracht. Die Rede, die Parlamentspräsident Giovanni Gronchi am 25. April 1955 zum zehnten Jahrestag der Befreiung hielt, hatte diesen Weg gewiesen. Die Epurazione, der italienische Versuch der Säuberung von den Kollaborateuren in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, litt lange, über Jahrzehnte, an der Tatsache, dass es dem Land gelungen war, mit dem Tag der deutschen Besatzung am 8. September 1943 seine Täter- in eine Opfergeschichte umzuwandeln. Kritiker sprachen deshalb bereits relativ früh von der Epurazione mancata, der ausgebliebenen Säuberung. Hinzu kam, dass Mussolini ja keineswegs von Kräften gestürzt worden war, die dem System widerständig oder feindlich gegenüberstanden, sondern von frustrierten Faschisten, die um ihre Posten fürchteten. Die „erste Säuberung“ war damit quasi auch schon ihr 15 Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 198. 16 Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918–1945, a. a. O., S. 48, 69 und 70. 17 Jens Petersen, Wandlungen des italienischen Nationalbewußtseins nach 1945, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Nr. 71 (1991), S. 699–748, hier: S. 715.
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Geburtsfehler. Als der Duce in seiner Festungshaft die neue Ministerliste überflog, nickte er und sprach von einer „guten Regierung“18. Natürlich dachte er dabei vor allem an Badoglio, der aber nach seiner Flucht in den Süden unter dem Einfluss der Alliierten ein anderes Gesicht zeigte und am 28. Dezember 1943 ein erstes, ausschließlich den öffentlichen Dienst betreffendes Epurazione-Gesetz erließ, während im Norden die „wilden Säuberungen“ gegen alles tobten, was faschistisch war. Badoglios in der „Gazzetta Ufficiale“ veröffentlichte Maßnahme war ein glatter Fehlschlag, weil das Amtsblatt in den meisten Ämtern gar nicht ankam, doch die angloamerikanischen Besatzer ließen nicht locker. Maßgeblich unter ihrem Einfluss schuf er das Amt eines Hochkommissars für die epurazione nazionale dal fascismo, das sich um die juristische Ahndung des Faschismus kümmern sollte, aber darunter litt, dass die Alliierten auf einer Verschonung des Königshauses und des Generalstabs bestanden. Sie setzten auf Kontinuität und nahmen dem Hochkommissariat damit von Anfang an ein gerütteltes Maß an Glaubwürdigkeit. Trotzdem sahen sich gerade unter dem Einfluss der Amerikaner im Sommer 1944 etliche tausend Belastete verhaftet und in hastig errichtete Lager gesteckt, während im „Agoniefaschismus von Salò“19 noch diejenigen (hin-)gerichtet wurden, die es gewagt hatten, sich im „Faschistischen Großrat“ gegen Mussolini zu stellen. Auch vier Admirale, die der Ehre Italiens durch das Unterzeichnen der Kapitulationsurkunde vom 8. September 1943 geschadet hatten, wurden zum Tode verurteilt. Retten konnte sich der reinstallierte Mussolini mit diesen spektakulären Tribunalen nicht, zumal die machtpolitische Wende mit der Befreiung Roms, dem Rückzug des Königs ins Private und der Entlassung Badoglios im Juni 1944 immer deutlichere Konturen gewann. Der neuen Regierung im Süden gehörten alle in der Resistenza vertretenen Parteien von den Christdemokraten bis zu den Kommunisten an. Es war klar, dass die „Säuberung“ zu ihren absolut vorrangigen Aufgaben zählen würde, und ihr „Abrechnungsgesetz“ vom 27. Juli 1944 sah härteste Strafen für die Mitglieder der faschistischen Regierung vor. Mit ausdrücklicher Genehmigung der Alliierten wurde zu ihrer Aburteilung die Alta Corte di Giustizia errichtet, die dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg durchaus vergleichbar war. Jetzt sollte auch das riesige Kollaborationsheer aus Angestellten und Beamten nicht verschont bleiben, das vom Süden zum Salò-Regime in den Norden gewechselt war, und zwar gleich, ob man Mussolinis Ruf aus Opportunismus oder aus innerer Überzeugung gefolgt war. Auch der kleinste Hausmeister sollte vor eine Kommission gestellt werden, die aus einem Zivilrichter, einem Angehörigen seiner Behörde und einem Delegierten des Hochkommissariats zu bilden war, dessen Kompetenzen erheblich erweitert wurden. Allein in der zweiten Jah18 Zit. nach Hans Woller, „Ausgebliebene Säuberung“? – Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien, in: Henke und Woller (Hg.), Politische Säuberung in Europa, a. a. O., S. 148–191, hier: S. 151; s. auch: ders., Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, München 1996. 19 Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 188.
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reshälfte 1944 errichtete es 160 Epurazione-Kommissionen, die 3.000 Fälle behandelten. Badoglios Nachfolger Bonomi verstieg sich im Januar 1945 sogar zu der Behauptung, „dass die höchsten Stellen der staatlichen Verwaltung nun fast ganz gereinigt sind“. Da aber war der antifaschistische Konsens seiner Regierung schon weitgehend zerbrochen. Insbesondere die 1942 gegründete Democrazia Cristiana und die Liberalen mit ihrem Wortführer Benedetto Croce wollten keine harte Linie. Croce warnte vor der „Verführung zur Rache“. Das fand auch auf der anderen Seite der Grenze durchaus Anklang. Schon im August 1944 hatte die norditalienische Resistenza beschlossen, unmittelbar nach der Befreiung Volkstribunale, „Schwurgerichte“, zu bilden, die von der ordentlichen Rechtsprechung unabhängig sein und das „revolutionäre Volksempfinden“ kanalisieren sollten. Ihre Zusammensetzung oblag ausschließlich und allein den örtlichen Befreiungskomitees, ihre Kompetenzen umfassten immerhin die der ansonsten zuständigen Staatsanwaltschaft, und letztlich waren sie eine politische Polizei, eine neue Gerichtsbarkeit. Worum es aber in Wirklichkeit ging, waren nicht Fragen des Rechts, sondern der Macht, denn es war klar, dass in der Stunde null vor den Tribunalen und den Kammern der Befreiungskomitees die Überprüfungsausschüsse der Militärregierung mit dem Säuberungsprocedere befasst sein würden. Obwohl es sicherlich richtig ist, dass man keines dieser drei Organe als „Mitläuferfabrik“20 bezeichnen kann, war die Epurazione im Süden fast schon wieder beendet, als die Faschisten im Norden noch an allen Schalthebeln der Macht saßen. Keineswegs unschuldig an diesem Prozess war der Partito Comunista Italiano (PCI). Wer nämlich glaubte, dass der PCI die gesellschaftliche Situation nutzen würde, um den revolutionären Umbruch einzuleiten, sah sich bald eines Besseren oder, je nach Weltanschauung, Schlechteren belehrt. Ihr Vorsitzender Palmiro Togliatti hatte in der svolta di Salerno unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Moskauer Exil im Frühjahr 1944 die kategorische Absage an die Vorherrschaft einer Partei erklärt, den Schutz des Privateigentums garantiert und war als Minister in die Kabinette Badoglio, Bonomi und De Gasperi eingetreten.21 Die Motivation für dieses Verhalten liegt in dem auf Gramscis blocco storico zurückreichenden Versuch der Gewinnung der Mittelschichten sowie in der Tatsache, dass in etlichen Regionen Italiens bis zu 50 Prozent der PCIMitglieder kurz zuvor noch Faschisten gewesen waren. Auf jeden Fall war in den Führungsetagen der kommunistischen Partei vor Kriegsende von Epurazione noch kaum die Rede.22 Die Folgen sind fatal, was sich insbesondere am Rückzug des PCI-Vertreters aus dem Hochkommissariat zeigte. Gleichzeitig tobten im Norden drei unbarmherzige Kriege nebeneinander, derjenige der Alliierten gegen die Wehrmacht, ein weiterer zwischen Faschisten gegen Antifaschisten und ein Klassenkrieg zwischen PCI und „Bour20 Ebd., S. 217. 21 Vgl. hierzu umfassend: Kellmann, Pluralistischer Kommunismus?, a. a. O., S. 161 ff. 22 Vgl. Woller, „Ausgebliebene Säuberung“?, a. a. O., S. 178 ff.
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geoisie“. Der Abrechnungsbedarf war auf allen Seiten hoch, und statt eines Verfahrens machte man lieber kurzen Prozess. Inhaftierte Kollaborateure und Faschisten waren oft nicht einmal im Gefängnis ihres Lebens sicher, weil die Partisanen einbrachen, um ihre Feinde zu richten.23 Bei den Kommunisten an der Basis hatte das nunmehr auch damit zu tun, dass man der Säuberungsbereitschaft der eigenen Partei misstraute. Zwar verkündete die Resistenza in Norditalien Ende April 1945 ein Gesetz zur Errichtung von Volkstribunalen, aber diese kamen nur in wenigen Provinzen zustande. Schon Anfang Mai trat ein staatliches Gesetz in Kraft, das mit den „Sonderschwurgerichten“ eine Mischform aus Volkstribunalen und traditioneller Justiz schuf. Diese „Zwitter“ waren keineswegs zahnlos, bildeten aber nur die erste Instanz. Bis Ende 1946 fällten sie in über 10.000 Prozessen bis zu 1000 Todesurteile, die von den der Resistenza entzogenen Kassationshöfen aber erheblich abgemildert wurden. Wahrscheinlich sind nur vierzig vollstreckt worden. Das Ende der Epurazione ist maßgeblich durch die Führer der beiden Linksparteien, Palmiro Togliatti von den Kommunisten und Pietro Nenni von den Sozialisten, eingeleitet worden, weil sie eine Fortsetzung der „wilden Säuberungen“ und des in und aus ihren eigenen Reihen angerichteten Blutbades befürchteten und weil Wahlen anstanden. Nenni regte als Leiter des Hochkommissariats zwei Gesetze an, mit denen dieses im Frühjahr 1946 überflüssig und aufgelöst wurde, während Togliatti als amtierender Justizminister gleichzeitig ein Amnestiegesetz erließ, das zahlreichen Faschisten die Rückkehr an ihren Arbeitsplatz bahnte. Angeblich hat er damit nur die Straffreiheit der Partisanen erreichen wollen, an deren Händen Blut klebte, tatsächlich aber leerten sich seit dem 22. Juni 1946, als das Gesetz in Kraft trat, die Lager und die Gefängnisse. Die Funktionärsschicht des Mussolini-Faschismus bis hinauf zu Staatssekretären und Ministern kehrte dank des PCI-Vorsitzenden in die Freiheit zurück. Nicht wenigen hatte die Todesstrafe gedroht. Auch die Urteile der Alta Corte di Giustizia wurden aufgehoben. Von insgesamt 40.000 Häftlingen blieben nur 4000 hinter Gittern. Was ursprünglich als Versöhnung und Gnade in der Geburtsstunde der neuen Demokratie gedacht war, wurde zum ersten Schritt der Restauration. Insgesamt ist deshalb festzuhalten, dass auch die Kommunisten fleißig an der Legende von der Verführung der italienischen Nation durch eine kleine faschistische Clique und die Deutschen gestrickt haben, denen sich das ganze Volk mit der PC an der Spitze widersetzt habe. Deshalb gab es eigentlich gar nichts zu „säubern“. War die Epurazione also eine Epurazione mancata? Immerhin fungierten die Parteien des revolutionären Bruchs mit der Vergangenheit in ihr wie eine „Kontinuitätsschleuse“24 zwischen dem alten und dem neuen System, nicht zu reden von der Democrazia Cristiana (DC), dem faktischen Auffangbecken der PNF. Dennoch ist es in der Justiz und Verwaltung zu einem Austausch gekommen, der in der Ministerialbüro23 Ebd., S. 182. 24 Ebd., S. 189, Anm. 75.
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kratie sogar zwei Drittel der Amtsinhaber betraf. „Hunderttausende waren als Richter und Schöffen, Zeugen und Angeklagte, Ermittler und Beobachter in diesen beispiellosen Prozess der Ermittlung einer Gesellschaft gegen sich selbst involviert“25 und haben bewirkt, dass aus der Amnestie keine Amnesie wurde, auch als 1947 und 1948 immer höhere Rehabilitierungswellen über das Land schwappten. Sogar die 1700 italienischen Soldaten, die von der UNO ab Mai 1945 wegen schwerer und schwerster Kriegsverbrechen gesucht wurden, sind letztlich ungeschoren davongekommen, weil eine hochkarätig besetzte Untersuchungskommission ihre Arbeit so lange verschleppte, „bis Gras über die Frage gewachsen war.“26 Irgendwie war das symptomatisch für die Vergangenheitsbewältigung auf Italienisch und Bestandteil jener kollektiven Selbstabsolution, die ein ganzes Volk für sich praktizierte. Spötter nannten die DC, die eigentlich dominante Regierungspartei der gesamten Ersten Republik, schon früh die Partei der „Ferien von der Geschichte“27. An Hitlers Todestag hatte es in ihrem Organ geheißen: „Wir haben die Kraft zu vergessen! Vergessen wir so schnell wie möglich!“ Noch 1960 waren 62 der 64 Präfekten des Landes ehemalige hohe Beamte des Mussolini-Regimes. Ein Obelisk mit der Aufschrift „Mussolini Dux“ steht bis zum heutigen Tag in der Nähe des römischen Olympiastadions und wird dort allabendlich angestrahlt. Bei einer Erhebung im Jahr 1988 erklärten 31 Prozent der Befragten, dass der Faschismus eine positive, wichtige Epoche für Italien gewesen sei, 56 Prozent hielten besondere Verfassungsbestimmungen gegen ihn für überflüssig und nur 22 Prozent bekannten sich als entschieden antifaschistisch.28 Bei einer 2002 durchgeführten Umfrage bewerteten 25 Prozent aller Jugendlichen Mussolini positiv, Widerstandsorganisationen vermieden eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Person. Gianfranco Fini, der langjährige Koalitionspartner Berlusconis, bezeichnete Mussolini 1994 als den „größten Staatsmann des 20. Jahrhunderts“29. Noch heute hört man in Kneipengesprächen, dass die Resistenza25 Ebd., S. 190. 26 S. Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 220. 27 Zit. nach Petersen, Wandlungen des italienischen Nationalbewußtseins nach 1945, a. a. O., S. 719, Anm. 39; vgl. Christoph Cornelißen, Stufen der Vergangenheitspolitik in Deutschland und Italien seit 1945, in: „Comparativ“, Jahrg. 14 (2004), S. 14–37; Kerstin von Lingen, „Giorni di Gloria“. Wiedergeburt der italienischen Nation in der Resistenza, in: dies. (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 389–408; Renzo De Felice, Mussolini, 8 Bde., Turin 1965–1997; Brunello Mantelli, Italien zwischen 1943 und 1947: die Auswirkungen von Niederlage, Befreiung und Sieg auf die Gesellschaft, Politik und Kultur der Nachkriegszeit, in: Mechtild Gilzmer (Hg.), Widerstand und Kollaboration in Europa, Münster 2004, S. 107–115. 28 Petersen, Wandlungen des italienischen Nationalbewußtseins nach 1945, a. a. O., S. 742. 29 Zit. nach Malte König, Faschismus: Entstehung, Konsolidierung, Zusammenbruch und Aufarbeitung, in: „Der Bürger im Staat“, Nr. 2/2010, S. 143–151, hier: S. 150; vgl. auch Lutz Klinkhammer, Der Resistenza-Mythos und Italiens faschistische Vergangenheit, in: Holger Afflerbach und Christoph Cornelißen (Hg.), Sieger und Besiegte. Materielle und ideelle Neuorientierungen nach 1945, Tübingen und Basel 1997, S. 119–139; Filippo Focardi, Falsche Freunde? Italiens Geschichtspolitik und die Frage der Mitschuld am Zweiten Weltkrieg, Paderborn u. a. 2015. Focardi
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Kämpfer und die „Raggazzi von Salò“, Mussolinis letztes Aufgebot, doch ganz in Ordnung und „auf ihre je eigene Weise ja alle gute Patrioten gewesen seien.“30 Finis postfaschistische Alleanza Nazionale lancierte 2003 sogar ein Gesetzesprojekt, mit dem beide gleichgestellt werden sollten. Die Erinnerungskultur im gegenwärtigen Italien ist durch eine merkwürdige, gefährliche Melange aus Erinnerungsverweigerung und „Teilrehabilitierung des Faschismus“31 gekennzeichnet. Der Tabubruch war in dem Moment vollzogen, als Berlusconi unmittelbar nach seinem Wahlsieg 2001 Mirko Tremaglia, der noch mit der Waffe in der Hand für Mussolini gekämpft hatte, zum Minister für die Auslandsitaliener machte und immer unübersehbarer mit Alessandra Mussolini, der Enkelin des Duce, anbändelte. Jetzt zeigte und rächte es sich, dass von einer tatsächlichen Aufarbeitung der Vergangenheit nicht die Rede sein konnte, dass sich demzufolge in der Tiefe und Breite der Bevölkerung auch nie ein eigentliches Schuldbewusstsein hatte ausbilden können und dass der Resistenza-Mythos immer noch gleichbedeutend mit der Meistererzählung von der Selbstbefreiung war.32 Die Tatsache, dass Italien als Hitlers engster Verbündeter in Afrika, auf dem Balkan und in Russland brutale Angriffs- und Eroberungskriege mit angezettelt hatte, fand sich im eigenen Gedächtnis nicht verankert, das war die Sache der Deutschen. Passend dazu wurde die Besatzungs- und Kollaborationszeit nach dem 8. September 1943 als „nationaler Befreiungskrieg“ gegen die nazifascisti gesehen, praktisch so, als ob es die Repubblica Sociale Italiana nie gegeben hätte, und das Ventennio Mussolinis von 1922 bis 1944 schon gar nicht.33 Es war alles
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spricht wörtlich vom „identitätsstiftenden, selbstgerechten und exkulpatorischen Mythos (…) der guten Italiener und der bösen Deutschen“ (S. 234), denen selbst gemeinsam begangene Kriegsverbrechen in Jugoslawien, Griechenland und in der Sowjetunion allein in die Schuhe geschoben worden seien. Dies habe „als perfektes Alibi gedient (…), eine öffentliche Reflexion über die faschistische Gewalt in ihrer Gesamtheit zu vermeiden“ (S. 23), mit absehbaren Folgen für das Entstehen einer Erinnerungskultur, die diesen Namen verdient. Vgl. ders., Die Deutsch-Italienische Historikerkommission und die Konstruktion einer „gemeinsamen Erinnerungskultur“. Nationale Dimensionen und europäische Rahmenbedingungen, in: Christoph Cornelißen und Paolo Pezzino (Hg.), Historikerkommissionen und historische Konfliktbewältigung, Berlin und Boston 2018, S. 259–284 sowie Michele Battini, Die Wahrheitsfrage: Gerechtigkeit, Erinnerung und Geschichte, in: ebd., S. 219–227, bes. S. 226: „In Italien ist besorgniserregend, dass (…) sich selbst freisprechende Mythologien weiterhin lebendig sind und die Mitverantwortung für den Aggressionskrieg der Achse verdrängt wird“. Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914–1945, München 2008, S. 14. Aram Mattioli, Kalkulierte Tabubrüche. In Italien findet der Faschismus seine Verteidiger längst in der guten Gesellschaft, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 12.1.2010, S. 26. Vgl. ders., „Viva Mussolini!“. Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis, Paderborn 2010. Ders., Die Resistenza ist tot, es lebe Onkel Mussolini! Vom Umdeuten der Geschichte im Italien Berlusconis, in: „Mittelweg 36“, Nr. 5/2008, S. 75–93, hier: S. 75 ff.; vgl. auch Alessandro Campi,
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fast so einfach wie in Österreich: Der bravo italiano war dem einfallenden cattivo tedesco ausgeliefert gewesen. Renzo De Felice hatte schon 1975 behauptet, dass man das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien nicht miteinander vergleichen könne, weil die ideologischen Unterschiede „enorm groß“34 gewesen seien. Italien stehe vollständig „außerhalb des sengenden Strahls des Holocaust“35. Wolfgang Schieder bezeichnete dies als „Entsorgung der Vergangenheit durch Weglassung“36. Ein Jahr vor seinem Tod 1996 verkündete De Felice die vollständige Rehabilitierung Mussolinis. Dieser sei 1943 „aus einer patriotischen Motivation heraus“ an die Spitze des Vasallenstaates getreten und habe damit „ein wahres und echtes Opfer auf dem Altar der Verteidigung (…) des Vaterlandes“ gebracht, „denn nur er konnte Hitler daran hindern, Italien zu einem zweiten Polen zu machen.“37 Damit wurde einer gefährlichen Legendenbildung Vorschub geleistet, an der sich auch Indro Montanelli, die große Autorität des konservativen Journalismus, der gütige Beichtvater der Nation, mit der Konstruktion eines unpolitischen, christliche Nachsicht übenden Mussolini beteiligte, der angeblich keinen Polizeistaat, sondern ein „karnevaleskes, durch wehende Helmbüsche und Standarten charakterisiertes Regime“38 aufgebaut hatte. Deshalb habe auch die „Schuld“ des italienischen Volkes nicht darin bestanden, dass es an den Faschismus geglaubt, sondern darin, dass es dessen lächerlichen Bluff mit allen martialischen Posen, der einstudierten Liturgie und der donnernden Rhetorik ernst genommen habe. Völlig richtig hatte Montanelli schon dreißig Jahre vor Renzo De Felice von der „Grauzone“ der Nachkriegszeit gesprochen, in der die Italiener auch nach ihrer Ablehnung des Faschismus keineswegs Antifaschisten geworden waren, sondern ihr schlechtes Gewissen in einer Mischung aus Apologie, Verdammung, Selbstmitleid, Opferhaltung, Mythisierung, Sentimentalität, Banalisierung und Nostalgie zu verdrängen
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Mussolini und die italienische Nachkriegsgesellschaft. Italien zwischen Erinnern und Vergessen, in: Cornelißen, Klinkhammer und Schwentker (Hg.), Erinnerungskulturen, a. a. O., S. 110 ff.; Hans Woller, Der Rohstoff des kollektiven Gedächtnisses. Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien und ihre erfahrungsgeschichtliche Dimension, in: ebd., S. 127–144; Woller, Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, a. a. O.; Wolfgang Schieder, Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien, in: Asfa-Wossen Asserate und Aram Mattioli (Hg.), Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941, Köln 2006, S. 177–1987; Jens Petersen, Der Ort der Resistenza in Geschichte und Gegenwart Italiens, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Nr. 72 (1992), S. 551–571; Gian Enrico Rusconi, Die italienische Resistenza auf dem Prüfstand, in: VfZ, Nr. 3/1994, S. 379–402; Pansa, Giampaolo, Il sangue dei vinti, Mailand 2005. Renzo De Felice, Der Faschismus. Ein Interview mit Michael Leeden. Mit einem Nachwort von Jens Petersen, Stuttgart 1977, S. 30. Renzo De Felice in: „Corriere della Sera“ vom 27.12.1987, S. 2. Schieder, Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien, a. a. O., S. 192; vgl. auch: Woller, Der Rohstoff des kollektiven Gedächtnisses, a. a. O., S. 67–76, bes. S. 75. Renzo De Felice, Rosso e nero. A cura di Pasquale Chessa, Mailand 1995, S. 114 f. Campi, Mussolini und die italienische Nachkriegsgesellschaft, a. a. O., S. 116.
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suchten.39 Erinnern auf Italienisch. Eine systematische „Entzauberung des faschistischen Diktators“ hat es nach 1945 nicht gegeben. Bis weit in die 1990er Jahre hinein änderte sich an der traditionellen Deutung des der eigenen Bevölkerung verhassten, von den Deutschen aufgezwungenen Krieges und der Selbstbefreiung weitestgehend ohne die Hilfe der Alliierten nichts. Wirklichen „Faschismus“ habe es nur in der kollaborationistischen Endphase von Salò gegeben, und dass auch dieser – fast bruchlos – in die jüngere Nationalgeschichte zu integrieren sei, bewies Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi, als er dessen Anhängern am 14. Oktober 2001 zubilligte, „auf gleiche Weise der Ehre des Vaterlandes“ so wie alle anderen Italiener gedient zu haben.40 Verharmlosung und „Normalisierung“ gehen hier im Interesse einer unreflektierten Absolution und Aussöhnung Hand in Hand. Die Ära Berlusconi von 2001 bis 2011/15 hat all dies noch weiter befördert, und die historische Wahrheit bleibt auf der Strecke. Italiani brava gente. Claudio Pavone schrieb schon 1968: „Wenn die Jugend die als Alibi benutzte Resistenza zerstören will, dann tut sie gut daran“.41 Sie hat sich dieser Aufgabe gestellt, aber nicht immer und überall mit nachhaltigem Erfolg. Als Francesco Cossiga, Staatspräsident von 1985 bis 1992, im Jahr 2005 aus der aktiven Politik ausschied, tat er dies mit der Erkenntnis, dass Italien seit 1861 nur vier wirkliche Staatsmänner hervorgebracht habe, nämlich Cavour, Giolitti, De Gasperi und Mussolini42, und als am 28. April 2008 mit dem postfaschistischen Gianni Alemanno erstmalig ein Mann zum Bürgermeister Roms gewählt worden war, der aus dem Movimento Sociale Italiano, der Mussolini-Nachfolgepartei, kam, begrüßten ihn seine Anhänger auf dem Kapitol mit begeisterten „Duce, Duce“-Rufen. Eine Untersuchung, die den Apennin im Gesamtzusammenhang der mit dem Dritten Reich kollaborierenden Staaten in Europa in den Blick nimmt, kann nicht am Vatikan vorbeigehen, insbesondere nicht an der Rolle und dem Verhalten Eugenio Pacellis, der als Papst Pius XII. von 1939 bis 1958 höchster Würdenträger der katholischen Christenheit war. Pius’ Schweigen zur systematischen Vernichtung der europäischen 39 Ebd., S. 117 ff. 40 Luigi Cajani, Italien und der Zweite Weltkrieg in den Schulgeschichtsbüchern, in: Cornelißen, Klinkhammer und Schwentker (Hg.), Erinnerungskulturen, a. a. O., S. 269–284, hier: S. 281; vgl. hierzu insbes.: Bruno Mantelli, Revisionismus durch „Aussöhnung“. Politischer Wandel und die Krise der historischen Erinnerung in Italien, in: ebd., S. 222–232, hier: S. 231; Lutz Klinkhammer, Kriegserinnerung in Italien im Wechsel der Generationen. Ein Wandel der Perspektive? in: ebd., S. 333–343, bes. S. 341 f.; ders., Der „Duce“ im Schatten Hitlers? Mussolini im Lichte der italienischen Historiographie, in: Georg Christoph Berger Waldenegg und Francisca Loetz (Hg.), Führer der extremen Rechten. Das schwierige Verhältnis der Nachkriegsgeschichtsschreibung zu „großen Männern“ der eigenen Vergangenheit, Zürich 2006, S. 90 ff. 41 Zit. nach Klinkhammer, Kriegserinnerung in Italien im Wechsel der Generationen, a. a. O., S. 340. 42 „Neue Zürcher Zeitung“ vom 30.12.2005, S. 3; vgl. auch Christiane Liermann et al. (Hg.), Vom Umgang mit der Vergangenheit. Ein deutsch-italienischer Dialog, Tübingen 2007.
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Juden wurde spätestens seit Rolf Hochhuths 1963 uraufgeführtem Theaterstück „Der Stellvertreter“ zum Gegenstand bohrender Fragen und bis heute anhaltender Recherchen. Der 1876 in Rom geborene Pacelli war durch seine zwölfjährige Nuntiatur in München und Berlin von 1917 bis 1929 so geprägt, dass man ihn später Papa tedesco nannte. Nachdem sein deutscher Nachfolger Benedikt XVI. 2006 aus dem Archivio Segreto Vaticano 90.000 von 1922 bis 1939 reichende Akten zur Einsicht freigab, ist zu Eugenio Pacelli das folgende Bild entstanden. An der antisemitischen Prägung von Achille Ratti, der 1922 als Pius XI. Pacellis Vorgänger wird, besteht nicht der geringste Zweifel. Tatsächlich enthalten auch Pacellis Nuntiaturberichte aus Deutschland oft judenfeindliche Kommentare, so, wenn er nach einem Gespräch mit Walther Rathenau diesen lobt, „obwohl er ein Jude ist“43. Am 4. März 1933 notiert er: „Adolf Hitler ist der erste und einzige Staatsmann, der sich öffentlich gegen die Bolschewisten stellt. Bis jetzt hat das nur der Heilige Vater getan“, aber schon wenige Tage später, am 1. April, heißt es vielsagend zu den einsetzenden Judenverfolgungen in Deutschland: „Es kann der Tag kommen, an dem man sagen können muss, dass etwas getan wurde.“44 Am anderen Morgen erreicht den Vatikan der berühmte Brief der Karmeliterin Edith Stein, die flehentlich um eine Enzyklika gegen den beginnenden NS-Terror bittet, aber die beiden Herren im höchsten Ornat entscheiden anders. (Pacelli war seit 1930 Kardinalstaatssekretär Pius’ XI.) Das am 20. Juli 1933 in Rom unterzeichnete Konkordat, das bis heute die Beziehungen zwischen (katholischer) Kirche und Staat in Deutschland regelt, war noch ganz vom Trauma des Bismarck’schen Kulturkampfes geprägt. Damals hatten Hunderte von Pfarreien nicht besetzt werden können, Taufe, Hochzeit, letzte Ölung, die ganze Seelsorge im Reich war nur notdürftig oder gar nicht ausgeführt worden. So etwas sollte und durfte sich nicht wiederholen. Deshalb wurde der „Pakt mit dem Teufel“ geschlossen. Er sollte die eigenen Gläubigen schützen. Dennoch müssen sich zwischen Pius XI. und dem späteren Pius XII. relativ bald Differenzen ergeben haben, was die Strategien des Umgangs mit Hitlerdeutschland anging. Der ursprünglich antisemitisch gesonnene Ratti machte sich schon wenige Jahre nach Abschluss des Konkordats nur noch wenige Illusionen über den Mann in Berlin und gab eine Enzyklika über die „Einheit des Menschengeschlechts“ („Humani generis unitas“) in Auftrag, die sein Kardinalstaatssekretär hinter seinem Rücken heimlich, still und leise verschwinden ließ.45 Zur Reichspogromnacht findet sich in den Aufzeichnun43 Vgl. Besier, Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland, a. a. O., S. 95; vgl. auch John Cornwell, Pius XII.: Der Papst, der geschwiegen hat, München 1999, S. 100 f. 44 Zit. nach Hubert Wolf, Papst und Teufel. Die Archive des Vatikans und das Dritte Reich, München 2008, S. 217 und 232; vgl. auch Klaus Kühlwein, Warum der Papst schwieg. Pius XII. und der Holocaust, Düsseldorf 2008. 45 Wolf, Papst und Teufel, a. a. O., S. 118 ff.; vgl. auch Georges Passelecq und Bernard Suchecky, Die unterschlagene Enzyklika. Der Vatikan und die Judenverfolgung, München 1997, S. 106 f.
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gen Pacellis kein einziges Wort, während Pius XI. noch vom Totenbett aus fast alle Nuntiaturen auf der Welt mahnte, den von den Universitäten verwiesenen jüdischen Professoren Asyl zu gewähren; auf seinem Nachttisch lag die besagte Enzyklika. Pacelli hingegen macht im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der 1937 von der Kanzel verlesenen, scharf gegen den Nationalsozialismus gerichteten und von ihm selbst endredigierten Enzyklika „Mit brennender Sorge“ die berühmt gewordene Äußerung: „Es ist für den Heiligen Stuhl nützlich, sich in den faschistischen Block hineinzustellen.“46 Kaum im Amt, hebt er die von seinem Vorgänger verfügte Exkommunizierung der radikal antisemitischen Action française auf und ignoriert die detaillierten Informationen, die ihm Alojzije Stepinac, der Bischof von Zagreb, vom brutalen Abschlachten der Serben und Juden im NS-treuen kroatischen Ustascha-Staat übermittelt. Mussolinis Gesetzgebung von 1938 wird nicht kommentiert, genauso wenig wie das „Judenstatut“ der französischen Vichy-Regierung vom 3. Oktober 1940. Auch als Andrej Scheptynzkyj, der Metropolit der unierten ukrainischen Kirche in Lemberg, ihm am 31. August 1942 schreibt, dass die Deutschen „auf offener Straße, vor den Augen der Öffentlichkeit“ Juden umbringen, deren Zahl „sicher höher als 200.000 liegt“47, findet er hierzu kein einziges Wort. Am 12. Juni 1942 schreit Kardinal Serédi, der Primas der ungarischen Kirche, den ungarischen Nuntius Angelo Rotta in seinen Budapester Amtsräumen an: „Wenn Seine Heiligkeit, der Papst, nichts gegen Hitler unternimmt, was kann ich dann (…) tun, verdammt noch mal.“48 In Holland hatten in der Zwischenzeit die ersten Judendeportationen begonnen, wogegen Jan de Jong, der Erzbischof von Utrecht, offiziellen Protest einlegt. Als „Vergeltung“ hierfür verhaftet die SS in der Nacht vom 1. auf den 2. August 1942 zahlreiche zum Katholizismus konvertierte Juden und schickt sie über das Lager Westerbork nach Auschwitz. Edith Stein ist unter den Todgeweihten und wird kurz darauf vergast. Wer auch immer nach den Gründen für das Schweigen Pius’ XII. zum Abtransport der römischen Juden sucht, der findet sie hier, in dem tragischen Tod der 1987 heiliggesprochenen Karmeliternonne, und nicht in seiner angeblichen Furcht vor einer Besetzung des Vatikans durch die Wehrmacht für den Fall seines Protestes gegen den Holocaust. Im Übrigen setzte sich das Schweigen ja auch noch fort, als Rom längst unter dem Schutz der Alliierten stand.49 Am 6. Oktober 1943 erhält der SS-Obersturmbannführer Kappler den Befehl, die 8000 in Rom lebenden Juden festzunehmen und sie der Liquidation zuzuführen. 7000 gelingt es, sich rechtzeitig zu verstecken, die anderen werden unter massiver Mithilfe der italienischen Polizei deportiert. Dieser Vorgang findet praktisch unter den Augen des Papstes statt, was auch Ernst von Weizsäcker, seit Juni 1943 Botschafter beim Hei46 Zit. nach Wolf, Papst und Teufel, a. a. O., S. 297. 47 Zit. nach Saul Friedländer, Pius XII. und das Dritte Reich. Eine Dokumentation, München 2011, S. 219. 48 Ebd., S. 220. 49 Vgl. Robert Katz, Rom 1943–1944. Besatzer, Befreier, Partisanen und der Papst, Essen 2006.
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ligen Stuhl, nicht entgeht. Er meldet nach Berlin, dass sich der Papst, „obwohl dem Vernehmen nach von verschiedenen Seiten bestürmt, zu keiner demonstrativen Äußerung gegen den Abtransport der Juden in Rom habe hinreißen lassen (…). In dieser heiklen Frage hat er alles getan, um das Verhältnis zu der deutschen Regierung und den in Rom befindlichen deutschen Stellen nicht zu belasten.“50 Befriedigt fügt er noch hinzu: „Da hier in Rom weitere deutsche Aktionen in der Judenfrage nicht mehr durchzuführen sein dürften, kann also damit gerechnet werden, dass diese für das deutsch-vatikanische Verhältnis unangenehme Frage liquidiert ist.“51 Der Vater des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker registriert auch sehr genau, ja erfreut, dass der Vatikan bei der nunmehr einsetzenden Verfolgung aller 35.000 in Norditalien lebenden Juden seine Linie beibehält: Als das faschistische Marionettenregime von Salò im Dezember 1943 ein Gesetz erlässt, dass alle Juden gefangen zu nehmen und in Konzentrationslager einzuweisen seien, äußert die Kurie scharfe Kritik, zur (massiven) deutschen Tatbeteiligung hingegen fällt kein einziges Wort. Konrad von Preysing, der Bischof von Berlin, flehte am 6. März 1943, als man im Vatikan längst alles wusste, Pius XII. an: „Wäre es nicht möglich, dass Eure Heiligkeit noch einmal versuchen würde, für die vielen Unglücklichen, Unschuldigen einzutreten? Es ist dies die letzte Hoffnung so vieler und die innige Bitte aller Gutdenkenden.“52 Der Papst ist dem nicht gefolgt. Einschlägige Dokumente belegen nicht nur sein Schweigen, sondern auch seine Gleichgültigkeit.53 Aus der Antwort, die Preysing doch noch zuteilwurde, spricht sogar eine gewisse Verärgerung gegenüber den „Anforderungen“ der Juden, und wenn Pius XII. im gleichen Atemzug behauptet: „Wir haben um Gotteslohn geholfen“, greift er zur Lüge. Eine Vielzahl jüdischer Organisationen hatte im Vatikan Geld für Rettungsaktionen hinterlegt.54 Warum eigentlich hat dieser seine Worte so pedantisch wählende Mann ausgerechnet in seiner Weihnachtsansprache an das Kardinalskollegium am Heiligabend 1942 nochmals ausdrücklich auf den „Gottesmord“ der Juden hingewiesen? In der katholischen Kirche ist bis heute keine Ruhe zu Pius XII. und seinem Verhalten zum und im Dritten Reich eingekehrt, und dies vor allem auch deshalb, weil sie dem einen Schweigen ein zweites, bis heute anhaltendes hat folgen lassen. In einem von Johannes Paul II. erlassenen Dokument „Wir erinnern. Eine Reflexion über die Shoah“, 50 Zit. nach Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, Bonn 2011, S. 272. 51 Zit. nach Friedländer, Pius XII. und das Dritte Reich, a. a. O., S. 182 f. 52 Ebd., S. 206. 53 Vgl. ebd., S. 222, Anm. 1; s. auch: José Sánchez, Pius XII. und der Holocaust. Anatomie einer Debatte, Paderborn 2003. 54 Friedländer, Pius XII. und das Dritte Reich, a. a. O., S. 224; vgl. auch: Thomas Brechenmacher, Der Vatikan und die Juden. Geschichte einer unheiligen Beziehung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2005.
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die erhebliche Selbstkritik enthält, tauchen die Problematik und die Person Eugenio Pacelli nicht auf.55 Stattdessen sind in Rom die Verfahren zu seiner Heilig- und Seligsprechung eingeleitet worden. Aber auch zu Mussolini ist in diesem Zusammenhang noch ein Wort zu sagen. Er wusste sehr genau, was er tat, und er handelte aus eigenem Antrieb. In seinem „Manifest von Verona“ vom 14. November 1943 hieß es: „Die Angehörigen der jüdischen Rasse sind Ausländer.“ Er hat den Mord an den Juden zu jedem Zeitpunkt aktiv unterstützt. „Allem Anschein nach gab es sogar eine geheime Absprache auf höchster Ebene über die deutsch-italienische Arbeitsteilung bei der Verfolgung und Ermordung der Juden.“56 Hans Woller vermutet völlig richtig, dass es Mussolini höchstpersönlich war, der diese Absprache traf.
55 Vgl. Friedländer, Pius XII. und das Dritte Reich, a. a. O., S. 207; vgl. zu dem Gesamtkomplex: Lutz Klinkhammer, Pius XII., Rom und der Holocaust, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Nr. 80 (2000). 56 Hans Woller, Mussolini. Der erste Faschist – Eine Biografie, München 2016, S. 300; Amedeo Osti Guerrazzi, Kain in Rom. Judenverfolgung und Kollaboration unter deutscher Besatzung 1943/44, in: VfZ, Nr. 2/2006, S. 231–268; ders., Caino a Roma. I complici romani della Shoah, Rom 2005; Michele Sarfatti, La Shoah in Italia. La persecuzione degli ebrei sotto il fascismo, Turin 2005; Thomas Schlemmer und Hans Woller, Der italienische Faschismus und die Juden 1922–1945, in: VfZ, Nr. 2/2005, S. 164–201; dies. (Hg.), Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung, München 2014.
Schweiz Das Sich-Heraushalten war und ist Kern des Schweizer Wesens.1 Seit 1648 hat es in dem Land keinen Krieg mehr gegeben. Auf dem Wiener Kongress 1815 erkannten auch die großen Mächte die „immerwährende Neutralität“ der Eidgenossen an. Der Bundesrat, ihr höchstes demokratisches Organ, ließ im März 1939 verkünden: „Wer uns ehrt und in Ruhe lässt, ist unser Freund. Wer dagegen unsere Unabhängigkeit und unsere politische Unversehrtheit angreifen sollte, dem wartet der Krieg.“2 Für den Fall eines deutschen Einmarsches drohte man, in der „Festung Schweiz“ die Alpenpässe zu sprengen. Am 2. September 1939 wurde mobilgemacht. Die größte Angst bestand darin, deutsch werden zu müssen. Gleichwohl gab es in der Schweiz vor und nach 1939 parallel oder in Anlehnung, aber auch völlig unabhängig von der Entwicklung in Deutschland autoritäre, faschistische und nationalsozialistische Gruppierungen und Parteien, die genau dieses wollten. Hitler seinerseits hatte bereits im Oktober 1939 die Weisung gegeben, sich auf eine spätere Annexion der Schweiz vorzubereiten.3 Die Politik des Bundesrats war da längst zu einer Abfolge von „Wohlverhaltens-, wenn nicht Unterwürfigkeitsgesten gegenüber dem immer bedrohlicher werdenden nördlichen Nachbarn“4 geworden, so zum Beispiel im Verbot der kommunistischen Partei vom November 1940, so aber auch schon im Falle des Kommandanten der St. Gallener Kantonspolizei Paul Grüninger, der 1939 zahlreiche jüdische Flüchtlinge aus dem „Reich“ gerettet und noch im gleichen Jahr deshalb von einem Schweizer Gericht verurteilt, fristlos aus dem Dienst entlassen und erst 1995 posthum rehabilitiert wurde.5 Auf der anderen Seite kann sich die Berner Regierung das Verdienst zuschreiben, früher und härter als andere vom Nationalsozialismus bedrohte Staaten gegen deren Gesinnungsgenossen im eigenen Land vorgegangen zu sein. In Schlingerkursen wiederum hat sie sich aber auch mit ihnen ins Benehmen gesetzt. Nicht unerheblich in diesem Zusammenhang ist, dass sich die jüdische Bevölkerung des Landes von jeher durch ein hohes Maß an Vaterlandstreue auszeichnete. Der 1904 gegründete Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG), der Dachverband und das politische Sprachrohr der jüdiVgl. Susann Sitzler, Grüezi und Willkommen. Die Schweiz für Deutsche, 6. Aufl., Berlin 2013; s. auch Volker Reinhardt, Kleine Geschichte der Schweiz, München 2011; ders., Die Geschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis heute, München 2011. 2 Zit. nach Sitzler, Grüezi und Willkommen, a. a. O., S. 102. 3 Vgl. Mark Mazower, Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Bonn 2010, S. 187. 4 Kellmann, Die kommunistischen Parteien in Westeuropa, a. a. O., S. 99. 5 Wulf Bickenbach, Gerechtigkeit für Paul Grüninger. Verurteilung und Rehabilitierung eines Schweizer Fluchthelfers (1938–1998), Köln, Weimar und Wien 2009; Stefan Keller, Festung Schweiz, in: „Die Zeit“ vom 14.8.2008, S. 80. 1
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schen Gemeinschaft, forderte 1936 alle seine Mitglieder dazu auf, eidgenössische Wehranleihen zu zeichnen, auf denen das Schweizer Kreuz, die Alpen und der in ein Horn blasende Wilhelm Tell abgebildet waren. Doch diese Söhne und Töchter des Nationalhelden sahen sich bald und akut bedroht. Schon in den 1930er Jahren überzog den idyllischen Alpenstaat ein dichtes, aber mitgliedsarmes Netz brauner Parteiungen und Verbände. Rolf Henne und Robert Tobler gründeten 1930 die „Neue Front“. In rascher Folge bildeten sich der „Bund Nationalsozialistischer Eidgenossen“ (BNSE, 1931), die „Nationale Front“ (NF, 1932), der schweizerische „Volksbund“ (VB, 1933), die „Eidgenössische Soziale Arbeiterpartei (ESAP, 1936) als Abspaltung der NF, die „Nationalsozialistische Schweizerische Arbeiter Partei (NSSAP, 1937), der „Bund Treuer Eidgenossen“ (BTE, 1938), die „Schweizerische Gesellschaft der Freunde einer autoritären Demokratie“ (SGAD, 1938), der „Bund der Schweizer in Großdeutschland“ (BSG, 1940), die „Nationale Bewegung der Schweiz“ (NBS, 1940), die „Nationale Gemeinschaft“ (NG, 1940), die „Eidgenössische Sammlung“ (ES, 1940), der „Nationalsozialistische Schweizerbund“ (NSSB, 1941) die „Nationalsozialistische Bewegung in der Schweiz“ (NSBidS, 1941) und schließlich der „Bund der Schweizer Nationalsozialisten“ (BSN, 1944). Die Statuten der „Neuen Front“ verlangten die „geistige und politische Erneuerung“ der Schweiz unter Beibehaltung der Souveränität. Wenig später wurden ein nationaler Arbeitsdienst und die Forderung einer „organisch gewachsenen Volksgemeinschaft statt der verantwortungslosen Parteienherrschaft“ ins Programm aufgenommen. Am 13. Mai 1933 schloss sie sich mit der NF zu einem Kampfbund zusammen. Die „geistige Überfremdung“ des Landes durch die Juden sollte gestoppt werden. 1935 verzeichnete man 10.000 Mitglieder, erreichte bei den Nationalratswahlen mit 3,7 Prozent aber nur einen Parlamentssitz. Nach der Ermordung des deutschen Landesgruppenleiters der NSDAP, Wilhelm Gustloff, am 4. Februar 1936 durch einen jüdischen Studenten sollte eine sofortige Einwanderersperre erlassen werden, ein Jahr später veranstaltet Henne den „Marsch auf Bern“ und die „Fahnenweihe auf dem Rütli“. Er proklamiert eine „europäische Völkergemeinschaft mit faschistischer Geisteshaltung“. Zwar wird die Anlehnung an Deutschland befürwortet, aber die Unabhängigkeit der Schweiz stand, insbesondere für Tobler, außer Frage. Er distanzierte sich öffentlich von den Parteiangehörigen, die mit der Berliner NSDAP-Leitung kollaborierten. Als er trotzdem wegen Spionageverdacht inhaftiert wird, löst sich die NF am 3. März 1940 auf, die „Eidgenössische Sammlung“ tritt an ihre Stelle. Der freigelassene Tobler übernimmt ihre Leitung und erklärt seine Absicht, die Schweiz zum „freien Reichsglied in Hitlers Neuem Europa“ zu machen, woraufhin der Bundesrat die Partei verbietet und die Gründung von Nachfolgeorganisationen untersagt. Der zweite Strang rechtsextremistischen Denkens und Handels in der Schweiz ist von der praktisch bedingungslosen Aufgabe ihrer Neutralität und dem Wunsch nach der Eingliederung ins Reich gekennzeichnet. Das Kampfblatt des BNSE erscheint schon 1931 mit dem Hakenkreuz auf der Titelseite, es zierte auch die Mitgliedskarten
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des „Volksbundes“. Die SGAD und die NSSAP, seine Nachfolgeorganisationen, traten offen für einen Führerstaat nach deutschem Vorbild ein. Alfred Zander, ursprünglich eher nationalschweizerisch orientiert, wird zum Vordenker dieser Richtung und zum radikalen Antisemiten, bei dem schon 1933 etliche hundert Exemplare der „Protokolle der Weisen von Zion“ gefunden werden. Involviert in den Prozess um diese Pamphlete äußert er: „Bereits jetzt warten mehrere Staaten auf die Zeit, da eine radikale europäische Lösung der Judenfrage möglich sein wird. Wir Schweizer wollen unseren Stolz daran setzten, in jenem Zeitpunkt ebenfalls bereit zu sein.“6 Da seine Landsleute „anmaßungsvolle, ehrgeizige Hoffarts- und Geldmenschen“ geworden seien, könne sie nur der Nationalsozialismus erlösen. Als die Wehrmacht kurz vor Ostern 1938 in Österreich einmarschiert, frohlockt er: „Auch für uns wird Ostern kommen.“ Wenige Tage zuvor hatte er nach sechs Jahren in der NF den „Bund treuer Eidgenossen nationalsozialistischer Weltanschauung“ (BTE) gebildet. Er arbeitet als Spitzel für die NSDAP, immer getreu dem Motto „Neutralität ist der Tod“. Maßgeblich ist er im Sommer 1940 an den Gründungen des BSG und der NBS beteiligt. Ersterer wollte mit entsprechendem Druck auf die Regierung in Bern einen Staatsstreich und die Eingliederung der Schweiz in das Deutsche Reich vorbereiten, Letzterer verstand sich als das Sammelbecken aller „Fronten“ des Alpenlandes. Er hat es nie auf mehr als 3000 Mitglieder gebracht. Der Treueid des BSG verpflichtete auf den „von der Vorsehung ausersehenen Retter des Abendlandes und Führer aller Germanen“, das Organisationsstatut der NBS war bis aufs Wort identisch mit den 25 Punkten der NSDAP. Der 2010 in Zürich erschienene, die Zeitstimmung und die Fakten gnadenlos verdichtende Roman „Ein Jude als Exempel“ von Jacques Chessex, der in der französischsprachigen Westschweiz spielt, gibt Aufschluss über die Verankerung der NBS in der Gesellschaft. Der Ortsgruppenleiter einer Kleinstadt, der sich zum Gauleiter berufen fühlt, will sich durch eine Heldentat, „durch einen spektakulären ersten Schritt zur Endlösung in der Schweiz“, profilieren und lässt einen (überall beliebten) jüdischen Viehhändler bestialisch ermorden. Das „in Selbstgefälligkeit und Schweineschmalz konservierte“ Kleinstadtmilieu lässt geschehen, was geschah.7 Der Herbst 1940 markiert den Höhepunkt der Machtentfaltung des Schweizer Nationalsozialismus. Max Leo Keller, die Führungsfigur und laut Hitler der „maßgebende Mann“ der NBS, wird am 10. September ganz offiziell zu einem äußerst verständnisvol6 Zit. nach Franz W. Seidler, Die Kollaboration 1939–1945. Zeitgeschichtliche Dokumentation in Biographien, München 1999, S. 560. 7 Jacques Chessex, Ein Jude als Exempel, Zürich 2010; vgl. auch: „Der Spiegel“, Nr. 14/2010, S. 117; Daniel Gerson, „Sechshundert Jahre sind wir antisemitisch gewesen, und es ist uns weiß Gott nicht schlecht bekommen.“ Antisemitische Agitation der faschistischen „Frontenbewegung“ in den Berichten schweizerisch-jüdischer Beobachter (1933–1935), in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 297–312; Aram Mattioli (Hg.), Antisemitismus in der Schweiz 1848–1960, Zürich 1998; Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München 2015, S. 219 f.
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len und wohlwollenden Empfang und Gesprächsaustausch beim Schweizer Bundesrat Pilet-Golaz gebeten. Vier Tage später trifft sich der Rat erneut, aber diesmal heimlich, mit Keller in seiner Privatwohnung und beauftragt ihn, sich bei Rudolf Heß für die Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland einzusetzen, was auch geschieht. Am 10. Oktober werden die „Führer“ der Fronten vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda nach München eingeladen, auch Vertreter des Auswärtigen Amtes und des Reichssicherheitshauptamtes sind zugegen. Ziel ist, die künftige Strategie festzulegen und die NBS als Monopolbewegung zu legitimieren, was aber scheitert, weil die SGAD und die NG einen Zusammenschluss ablehnen. Inzwischen war auch der Annäherungskurs des Bundesrates an die NBS in der Schweizer Öffentlichkeit auf Ablehnung gestoßen. Als sich die Nachricht vom Münchner Treffen verbreitete, verbot die Regierung in Bern deshalb alle „nationalfaschistischen Bewegungen“ ihres Landes. Als illegale Auffangbecken bildeten sich die NSBidS und der NSSB, der in seinem Programm ausführte: „Es gibt keine schweizerische Nation. Wir gehören zur Substanz des deutschen Volkes. Wir wollen nicht, dass unser Land, dass unsere Heimat, das alemannische Land der Eidgenossen, nur eine Art Anhängsel des Deutschen Reiches ist.“8 Keller entzog sich einer Verurteilung, indem er zusammen mit über tausend „Frontisten“ die grüne Grenze nach Deutschland überquerte, dort 1944 den BSN gründete und bis zum Schluss als „Führer aller Schweizer auf deutschem Boden“ anerkannt wurde. Der BSG und der NSSB gingen im BSN auf.9 Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 entfachte bei den Schweizer Nationalsozialisten neue Kräfte. Im „Kampf gegen den Bolschewismus“ wollten sie nicht abseitsstehen, und in dem aus Luzern stammenden Arzt Franz Riedweg hatten sie einen mächtigen Verbündeten. Riedweg war bereits 1938 in die „SSStandarte Deutschland“ eingetreten, hatte als Stabsarzt am Frankreichfeldzug teilgenommen und schlug vor, eine Zentralstelle für die Eingliederung der ausländischen Freiwilligen der Waffen-SS zu schaffen. So war im August 1940 die „Germanische Freiwilligen-Leitstelle“ (GFL) im SS-Hauptamt geschaffen worden. Riedweg, ein Mann mit deutschem und schweizerischem Pass, leitete sie im Rang eines SS-Sturmbannführers, er hatte 130 Leute unter sich. 1941 entstanden in allen besetzen Staaten Nord- und Westeuropas Außenstellen der GFL, die ab 1943 als „Germanische Leitstelle“ (GL) firmierte. Anders als Himmler, der von einem großdeutschen bzw. großgermanischen Europa träumte, favorisierte Riedweg die „Neuordnung Europas als Eidgenossenschaft germanischer Stämme, mit den germanischen Randstaaten in bündischem Verhältnis zum Reich, ohne politische Abhängigkeit“. Die Waffen-SS sollte die Keimzelle und Elite der europäischen Streitkräfte werden. Als Riedweg diese Ideen 1942 vor „Führeran8 Zit. nach Seidler, Die Kollaboration 1939–1945, a. a. O., S. 121. 9 Walter Wolf, Faschismus in der Schweiz. Die Geschichte der Frontenbewegungen in der deutschen Schweiz 1930–1945, Zürich 1969; Alice Meyer, Anpassung oder Widerstand. Die Schweiz zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus, Frauenfeld 1966.
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wärtern“ in Bad Tölz vortrug, versetzte Himmler ihn an die Ostfront. Dort schlug er die Bildung eines SS-Panzerkorps aus europäischen Freiwilligen vor, das 1943 Wirklichkeit wurde. Den Kollaborationsparteien in den besetzten Ländern wurde mitgeteilt, dass die Stellung ihres Landes im Nachkriegseuropa von dem Kontingent abhänge, das sie in diesem Korps zu stellen in der Lage seien. Als sich der Zulauf daraufhin rasant steigerte, wurde Riedweg zum Obersturmbannführer befördert. 1944 erkannte die Schweiz ihm das Bürgerrecht ab, 1945 wird ihm vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg der Prozess gemacht, und 1947 wird er in seinem Heimatland zu sechzehn Jahren Gefängnis verurteilt. 1968 gründet er die „Liga Europa“, die sich für ein vereintes Europa auf christlich-ökumenischer Basis einsetzt. Alfred Zander war der Erste, der Riedweg innerhalb der Schweiz zur Seite gesprungen ist. Schon im August 1941 fordert er den Bundesrat schriftlich auf, genauso wie Frankreich „die Freiwilligen-Werbung für den europäischen Freiheitskampf gegen den Bolschewismus“ zu gestatten, und stellt sich der SS zur Verfügung. Der Bundesrat bürgert ihn 1943 aus. Zu dem Zeitpunkt dienen 150 Schweizer und 20 Liechtensteiner in der Waffen-SS, in der Wehrmacht sind es bis 1945 mehr als 600. Die Zahl der Bewerber ist doppelt so hoch. Im Fürstentum Liechtenstein wird am 1. Oktober 1933 der „Liechtensteiner Heimatdienst“ gegründet, der von Anfang an den bestehenden Staat bekämpft. „Volkstum und heimische Scholle“, „Blut und Boden“ werden von ihm als „Heiligtum“ angesehen. Er fusioniert mit der gemäßigt linken Volkspartei zur „Vaterländischen Union“, die Kontakte zur „Volksdeutschen Mittelstelle“ (Vomi) in Berlin aufnimmt. Die Vomi ist formell dem Auswärtigen Amt unterstellt, in Wirklichkeit aber ein Steuerungsinstrument der SS für die Zusammenarbeit mit dem „Auslandsdeutschtum“. Als nach dem Anschluss Österreichs „ein nicht unbeträchtlicher Teil“10 der Liechtensteiner die Vereinigung mit dem Reich befürwortet, lässt sich der Regierungschef Hoop, Spitzenpolitiker der konservativen Bürgerpartei, in Berlin wie auch in Bern die Unabhängigkeit bestätigen und geht eine Koalition mit der „Vaterländischen Union“ ein, um der prodeutschen Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die daraufhin als Abspaltung am 31. März 1938 gegründete „Volksdeutsche Bewegung Liechtensteins“ blieb klein und einflusslos. Ihr Gegenpart, die „Heimatliche Vereinigung Liechtensteins“, veranstaltete Anfang April 1939 eine referendumsähnliche Unterschriftensammlung, bei der sich über 95 Prozent aller Beteiligten für die Unabhängigkeit aussprachen. Am 1. September 1939 erklärt der Kleinstaat in einer Note an Staatssekretär von Weizsäcker seine Neutralität, verhält sich im Krieg aber sehr wohl kooperativ: Vaduz liefert 10 Gerhard Krebs, Zwischen Fürst und Führer. Liechtensteins Beziehungen zum „Dritten Reich“, in: GWU, Nr. 9/1988, S. 548–567, hier: S. 553; scharf gegen Krebs: Horst Carl, Vom Handlungsspielraum eines Kleinstaates, in GWU, Nr. 8/1989, S. 486–493; vgl. auch: Horst Carl, Liechtenstein und das Dritte Reich, in: Volker Press und Dietmar Willoweit (Hg.), Liechtenstein. Fürstliches Haus und staatliche Ordnung, München und Vaduz 1987, S. 419–464.
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Munition für die Wehrmacht, in seinen Tälern werden Zeltlager der Hitlerjugend abgehalten, und bis Kriegsende schließen sich hundert Liechtensteiner der Waffen-SS an. Auf einem Treffen zwischen Vertretern der Vomi, des Reichssicherheitshauptamtes und der „Volksdeutschen Bewegung“ im März 1943 in Friedrichshafen wird dieser zwar zugebilligt, die „nationalsozialistischen Kräfte“ in Liechtenstein zu repräsentieren, gleichzeitig wird sie aber verpflichtet, den Kampf gegen Regierung und Fürstenhaus einzustellen und ihre Anschlussforderung aufzugeben. Im Ergebnis muss deshalb festgehalten werden, dass ein gewisses, wenn auch nur geringes Kollaborationspotential in dem Zwergstaat bereitstand, das aber nicht zur Entfaltung gekommen ist, weil man in Berlin die Integrität der Eidgenossenschaft letztlich nicht angetastet hat. In deren Fahrwasser sollte Liechtenstein zusammen mit der Schweiz der einzige nicht okkupierte Staat Zentraleuropas bleiben. Als das tausendjährige Reich nach zwölf Jahren kapitulierte, „läuteten in der ganzen Schweiz die Kirchenglocken, als Zeichen der Erleichterung. Man war wieder einmal davongekommen.“11 Jedenfalls (oder immerhin) für fünfzig Jahre. In der Diskussion, die sich in den 1990er Jahren um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg entfachte, ging es nicht auch nur ansatzweise um die NS-Splittergruppen des Alpenlandes, die nur einen verschwindenden Bruchteil der Bevölkerung in ihren Reihen vereinigen konnten, sondern um das, wofür die Schweiz stand, steht und wohl immer stehen wird: um Geld. Die Eidgenossenschaft mit ihren verschwiegenen Safes und Nummernkonten hortete die Beute der Steuerhinterzieher aus der Ersten Welt, der Nomenklatura aus der Zweiten Welt und der Kleptokraten aus der Dritten Welt, und niemand zweifelte daran, dass dies von 1933 bis 1945 anders war.12 So langsam dämmerte es, dass das Land den Zweiten Weltkrieg nicht deshalb unbeschadet überstanden hatte, weil es den Nazis gegenüber neutral geblieben war, sondern weil es sogar noch an ihnen verdient hatte, konkret: am in der Schweiz deponierten Raubgeld der Juden. Am 5. Januar 1943 hatten die Vereinigten Staaten von Amerika mit der „Inter-Allied Declaration“ eine erste offizielle Warnung ausgesandt, die sich auf den Umgang mit dem „barbarischen Metall“ (so John Maynard Keynes über Gold) bezog. Wenig später statuierten sie, dass keine Goldtransfers der Achsenmächte anerkannt würden, womit die Schweiz ins Visier genommen war. Aber die Folgen blieben über ein halbes Jahrhundert aus. Das Washingtoner Abkommen von 1946 erbrachte keinen harten restitutionspolitischen Kurs gegenüber der Schweiz, dem potentiellen Verbündeten im Kalten Krieg, und die Eidgenossenschaft musste keine Unze zurückgeben. Auch wenn sich manche Gerüchte über Raub, Wirtschaftskollaboration und nicht zuzuordnende Konten hielten, es geschah nichts. Erst die World Jewish Restitution Organization erhielt 1992 das Mandat jüdischer Einrichtungen, die Rückerstattung von Vermögenswerten zu betreiben, die sich Hitlerdeutschland angeeignet hatte und die nach 1945 nicht res11 Sitzler, Grüezi und Willkommen, a. a. O., S. 104. 12 Vgl. Thomas Maissen, Geschichte der Schweiz, Baden 2010.
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tituiert worden waren. 1995 ernennt US-Präsident Clinton Stuart E. Eizenstat zum Sonderbeauftragten für Eigentumsfragen im Holocaust, der zwei Jahre später einen umfassenden Bericht veröffentlicht. In dieser sogenannten Crusade for Justice geht es nicht nur um die Rückgabe von Werten, sondern kaum weniger um die Selbstwahrnehmung und die Nachkriegsmythen der europäischen Kollaborationsnationen. „Die Aufteilung der einzelnen Länder in Täternationen, Opfer, neutrale Zuschauer und, im Falle der USA, Retternation begann zu bröckeln.“13 Der Golddrehscheibe Schweiz wurde der Vorwurf gemacht, zur Verlängerung des Krieges beigetragen zu haben, und dieser Vorwurf war nachhaltig und saß tief. Zusammen mit dem Film „Das Boot ist voll“ des Regisseurs Marcus Imhof, der jene Parole aufgriff, mit der Tausende Juden an der Grenz von Basel bis nach Romanshorn abgewiesen und in den sicheren Tod geschickt wurden, entstand ein Bewusstsein vom Unabgegoltenen und ein Aufarbeitungsbedürfnis, dem auch die aktive Politik nicht mehr ausweichen konnte. Am 7. Mai 1995 trat das Schweizer Parlament anlässlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes zu einer Sondersitzung zusammen. Der amtierende Bundespräsident äußerte vor fassungslosen, ja zum Teil entsetzten Gesichtern: „War das Boot wirklich voll? Hätte der Schweiz der Untergang gedroht, wenn sie sich stärker für Verfolgte geöffnet hätte (…)? Haben auch bei dieser Frage antisemitische Gefühle mitgespielt? (Wir haben) Schuld auf uns geladen.“14 Anderthalb Jahre später berufen Parlament und Regierung die „Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ ein, die 2002 einen 550 Seiten starken Bericht vorlegt, der zumeist nach ihrem Vorsitzenden Jean-François Bergier benannt wird. Die Kommission hatte, nach Jahrzehnten „amtlicher Geschichtsverhinderung“ (Jakob Tanner), die Aufgabe, „so vollständig und umfassend wie möglich“ die politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen der Schweiz zu den Achsenmächten, den Alliierten und den neutralen Staaten sowie die Flüchtlingspolitik und die offizielle Aufarbeitung der schweizerischen Vergangenheit zu untersuchen. Eine besondere Beachtung sollte außerdem den dormant accounts gelten, jenen „nachrichtenlosen Geldern“ in Schweizer Safes, für die nach dem Krieg keine Besitzer mehr ausgemacht werden konnten – in der Regel, weil sie in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern ermordet worden waren – und die die Eidgenossen zu stillschweigenden Nutznießern des Holocaust gemacht hatten. Es ging um 54.000 Konten. 1972 hatte der 13 Jan Surmann, Die Schweiz im Zentrum der US-amerikanischen „Crusade for Justice“, in: Béatrice Ziegler, Bernhard C. Schär, Peter Gautschi und Claudia Schneider (Hg.), Die Schweiz und die Shoa. Von Kontroversen zu neuen Fragen, Zürich 2012, S. 133–149, hier: S. 143. Der schon 1957 entstandene, aber erst 1966 als eigenständige Publikation veröffentlichte „Ludwig-Bericht“ war bereits zu dem Ergebnis gekommen, dass „unzählige Verfolgte vor der Vernichtung bewahrt“ hätten werden können: Carl Ludwig, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Beilage zum Schweizerischen Bundesblatt II, o. O. 1957, S. 372. 14 Zit. nach Sitzler, Grüezi und Willkommen, a. a. O., S. 113; Beispiel einer Einzelkollaboration: Carmen Abbati, Ich, Carmen Mory. Das Leben einer Berner Arzttochter und Gestapo-Agentin (1906–1947), Zürich 1999.
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Bundesrat beschlossen, diese „erblosen Vermögen“ auf „administrativem Weg“ einzuziehen. So sah die Vergangenheitsaufarbeitung im Bankenstaat aus. Das Ergebnis des Bergier-Berichts ist das vernichtendste Zeugnis, das der stolzen Schweiz in ihrem (angeblich) neutralen Selbstverständnis jemals ausgestellt worden ist. Es gab nun keinerlei Zweifel mehr, dass sie die Drehscheibe für die Gold- und Devisentransaktionen des NS-Regimes war, die ihrerseits die Grundlage für die Einfuhr kriegswichtiger Rohstoffe wie Wolfram, Mangan, Kobalt und Uran nach Deutschland waren. Im Bericht selbst hieß es, dass „die Argumente der Gutgläubigkeit und der neutralitätspolitischen Verpflichtungen zu den Goldübernahmen nicht stichhaltig (seien) (…), weil die Verantwortlichen der Schweizerischen Nationalbank schon während des Krieges wussten, dass die Reichsbank auch Raubgold in die Schweiz lieferte. Eine neutralitätspolitische Verpflichtung zur Annahme gestohlenen Goldes gab es nicht.“15 Als der Wachmann Christoph Meili in den 1990er Jahren zufällig Zeuge einer großangelegten Aktenvernichtungsaktion der größten Schweizer Bank, der heutigen United Bank of Switzerland, wurde, in der es mit großer Wahrscheinlichkeit um Arisierungsgewinne ging, schlug er Alarm. Er wurde auf der Stelle entlassen, im Schweizer Fernsehen niedergemacht, erhielt zahllose Drohbriefe und musste um Asyl in den Vereinigten Staaten von Amerika nachsuchen. Autoren wie Beat Balzli und Jean Ziegler, die mit ihren Büchern über die Vermögen der Naziopfer und „Die Schweiz, das Gold und die Toten“16 15 Harold James, Die Bergier-Kommission als Wahrheits-Kommission, in: Norbert Frei, Dirk van Laak und Michael Stolleis (Hg.), Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, München 2000, S. 130–140, hier: S. 136; Original: Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg – Schlussbericht, Zürich 2002, Redaktion: Mario König. Allerdings weist der Bericht auch nach, dass die schweizerischen Wirtschaftsverflechtungen den Krieg nicht verlängerten und der „Erfolg“ der schweizerischen Banken nach 1945 nicht auf dem Vermögen von NS-Opfern beruht. Vgl. auch: Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 289 f. 16 Beat Balzli, Treuhänder des Reichs. Die Schweiz und die Vermögen der Naziopfer: Eine Spurensuche, Zürich 1997; Jean Ziegler, Die Schweiz, das Gold und die Toten, München 1997; Tom Bower, Bloody Money. The Swiss, the Nazis, and the Looted Billions, London 1997; Peter Ferdinand Koch, Geheim-Depot Schweiz. Wie Banken am Holocaust verdienen, München und Leipzig 1997; Jean Ziegler, Die Schweiz wäscht weisser, München und Zürich 1992; Michel Fior, Die Schweiz und das Gold der Reichsbank, Zürich 1997; weiterhin: Thomas Maissen, Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und Schweizer Weltkriegsdebatte 1989–2004; Zürich 2005; Jakob Tanner und Sigrid Weigel, Gedächtnis, Geld und Gesetz in der Politik mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust; in: dies. (Hg.), Gedächtnis, Geld und Gesetz. Vom Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, Zürich 2002, S. 7–27; Volker Koop, Das schmutzige Vermögen. Das Dritte Reich, die IG Farben und die Schweiz, Berlin 2005; Angelo Codevilla, Eidgenossenschaft in Bedrängnis. Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg und moralischer Druck heute, Schaffhausen 2001; Georg Kreis (Hg.), Erinnern und verarbeiten. Zur Schweiz in den Jahren 1933–1945, Basel 2004. Silvester 1996, an seinem letzten Arbeitstag, gab Bundespräsident Jean Pascale Delamuraz ein Interview, in dem er zwar die „helvetische Arglosig-
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weltweit Aufsehen erregt hatten und zu Hause als Nestbeschmutzer galten, sahen sich durch die Arbeit der Kommission bestätigt. Für Ziegler, der fast dreißig Jahre Mitglied des Berner Nationalrates war, besteht sogar ein direkter Zusammenhang zwischen der „finanziellen Anbiederung an die Nationalsozialisten“, aktiver Fluchthilfe bei Kriegsende und dem Profit der Schweizer Banken aus diesen Vorgängen unter Berufung auf das 1934 entstandene Bankgeheimnis.17 Inwieweit ein anderer, bis heute umstrittener Komplex, das Verhalten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes während des Dritten Reiches, mit dem realen „Entgegenkommen“ der Eidgenossen gegenüber dem NS-Regime in Verbindung gebracht werden kann, ist eine offene Frage.18 Die Tatsache, dass der Sitz des Komitees in Genf war (und ist), besagt allein noch gar nichts. Trotzdem wirkte es wie ein Menetekel, dass jenes berühmte Telegramm, das Gerhart Riegner vom Jüdischen Weltkongress an prominente amerikanische Juden sandte, in Genf aufgegeben worden ist. Im vollen Wortlaut hieß es dort: erhielt alarmierenden bericht in führerhauptquartier sei plan diskutiert und erwogen dass in deutschbesetzen und kontrollierten ländern alle juden anzahl dreieinhalb bis vier millionen nach deportation und zusammenfassung im osten mit einem schlag ausgerottet und damit die jüdische frage in europa ein für allemal gelöst werden soll stop aktion für herbst geplant stop methoden einschließlich blausäure diskutiert stop information unter vorbehalt übermittelt da richtigkeit nicht bestätigt stop informant behauptet enge verbindungen zu höchsten deutschen stellen stop seine berichte im allgemeinen zuverlässig.19
Das Telegramm wird am 8. August 1942 in Genf aufgegeben. An eben jenem Tag wurde die Entscheidung der Schweizer Regierung wirksam, „nur aus Rassengründen“ verfolgte jüdische Flüchtlinge nicht anzuerkennen, sie an der Grenze abzuweisen und damit dem sicheren Tod preiszugeben, was den Offiziellen sehr wohl klar war. Aber das spielte für ihr Handeln keine Rolle. Dieses war vielmehr von den Prinzipien der „Überfremdungsbekämpfung“ geleitet, die sich seit dem Ersten Weltkrieg als Grundstrategie in der schweizerischen Ausländerpolitik etabliert hatte. Als der Nationalrat zwei Wokeit“ hinsichtlich der Gesamtproblematik einräumte, gleichzeitig aber in Bezug auf den Holocaustfonds von „Erpressung“ und „Lösegeld“ sprach und hinzufügte: „Wenn ich gewisse Leute höre, frage ich mich manchmal, ob Auschwitz in der Schweiz liegt“; zit. nach Madeleine Dreyfus und Jürg Fischer (Hg.), Manifest vom 21. Januar 1997. Geschichtsbilder und Antisemitismus in der Schweiz, Zürich 1997, S. 13 f. Für den letzten Satz hat sich Delamuraz später entschuldigt. Im Februar 1998 tanzten als orthodoxe Juden verkleidete Personen bei einem Fastnachtsumzug in Monthey im Wallis auf einem Goldhaufen. An dem Wagen stand „Juif un jour, Juif toujours“. 17 Vgl. James, Die Bergier-Kommission als Wahrheits-Kommission, a. a. O., S. 132; Tanner und Weigel (Hg.), Gedächtnis, Geld und Gesetz. Vom Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, a. a. O. 18 Vgl. Jean-Claude Favez, Warum schwieg das Rote Kreuz?, München 1994. 19 Zit. nach Mazower, Hitlers Imperium, a. a. O., S. 359.
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chen später über die neue „Regelung“ debattiert, erwähnt der für die Flüchtlingspolitik zuständige Bundesrat Eduard von Ziegler die kalamitäre Lage der Juden mit keinem einzigen Wort. Der neunjährige Saul Friedländer, dessen Eltern vom unbesetzten Teil Frankreichs aus versuchen, illegal über die Grenze zu gelangen, aber aufgegriffen, den Vichy-Behörden übergeben und kurz darauf in Auschwitz vergast werden, gehört zu den ersten Betroffenen. Der zurückgelassene Friedländer überlebt mit falscher Identität in einem katholischen Erziehungsheim. Allerdings sind trotz der offiziellen „Fernhaltepolitik“ bis 1942 fast 300.000 Flüchtlinge aufgenommen worden, von denen 20.000 Juden waren. Erst 1944 werden sie in den Begriff des asylberechtigten Flüchtlings aufgenommen – als es für die meisten schon zu spät war. Eine Adresse, die eine Unzahl von Menschen hätte retten können und keinen einzigen gerettet hat, war das Palais Bismarckstraße 4 in Berlin, die Schweizer Botschaft, seit 1938 geleitet von Hans Frölicher. Als „Schutzmacht“, die sich um die Interessen von über zwanzig Staaten kümmerte, unter ihnen Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika, war das Palais während des Krieges eines der einflussreichsten Häuser in der ganzen Stadt. Bei Empfängen saß Frölicher gleichrangig mit dem italienischen und dem japanischen Botschafter an der Ministertafel, quasi als Fortsetzung der Achse. Hitler sicherte Frölicher 1942 zu, „die Schweiz an der Ausbeutung von Bodenschätzen im Kaukasus zu beteiligen“, und Staatssekretär von Weizsäcker erwirkte 1943 über ihn die effektive Abwehr der alliierten Luftangriffe auf die Schweizer Fabriken, „insbesondere auf die Kriegsindustrie um Zürich, die weitgehend für die deutsche Rüstungsindustrie arbeitet“.20 Dadurch lief alles wie geschmiert: Die Schweiz exportierte pro Jahr für eine Milliarde Franken Waffen und andere Produkte ins Reich, wofür sie 150.000 Tonnen Kohle und Stahl erhielt – eine deutsch-schweizerische Fertigungsstraße zu beiderlei Nutzen. Die Schweiz gehört in einer wohlüberlegten und nicht selten raffinierten Mischung aus Überlebenskalkül und Profitinteresse zu den Kriegsgewinnlern des Zweiten Weltkriegs; sie war weder eine Insel der Humanität noch eine wehrhafte Alpenfestung; sie hat auf Initiative ihrer Polizei und Justiz bereits 1938 den (in der Verwaltung schon seit 1919 gebräuchlichen) „J-Stempel“ eingeführt, mit dem jüdische Flüchtlinge identifiziert werden sollten; sie hat „in vorauseilendem Gehorsam“21 Schweizer Firmen und deren deutsche Tochtergesellschaften zum frühestmöglichen Zeitpunkt „arisiert“; und sie hat ab August 1942 an ihren Grenzen mindestens 25.000 Juden ohne wirtschaftliche Not, ohne politischen oder militärischen Druck und umfassend informiert über deren weiteres Schicksal abgewiesen – einige wurden den 20 Zit. nach Fred David, Ein furchtbarer Diplomat, in: „Die Zeit“ vom 29.5.1992, S. 78; vgl. auch Sacha Zala, Gebändigte Geschichte. Amtliche Historiographie und ihre Malaise mit der Geschichte der Neutralität 1945–1961, Bern 1998. 21 Nicole Burgermeister, Ein Mythos im Umbruch, in: Harald Welzer (Hg.), Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt am Main 2007, S. 186–218, hier: S. 189.
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Deutschen sogar gefesselt übergeben. Neutralität sieht anders aus. Die Selbstreflexion hierzu steckt erst in den Anfängen, und die gesellschaftlichen Verwerfungen, die sie zeitigt, haben abgrundtiefe, schier unüberwindbare Täler und Schluchten geschaffen. Immerhin, an ihrer Überwindung wird gearbeitet.
Frankreich Am 25. September 1894 zieht eine Reinmachefrau aus dem Mülleimer des Militärattachés Max von Schwartzkoppen in der deutschen Botschaft in Paris ein Blatt Papier. Es ist von Hand beschriftet und von niemandem unterzeichnet. Die Frau, die als Spitzel für den französischen Geheimdienstchef Hubert Henry arbeitet, übergibt das Blatt, das als bordereau (Ankündigungsschreiben, Lieferschein) in die Geschichte eingegangen ist, dem Nachrichtenbüro des Kriegsministeriums, wo es eifrig studiert wird. Schnell wird klar, dass die auf ihm notierten Informationen, so zum Beispiel über das neue 120-mm-Geschütz, nur aus dem Pariser Generalstab kommen können. Nach einem Handschriftenvergleich fällt der Verdacht dort auf den ehrgeizigen und hochpatriotischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus, der Elsässer, also eigentlich Deutscher, und jüdischen Glaubens ist. „In bürgerlicher Kleidung“ wird der Nichtsahnende am 15. Oktober ins Kriegsministerium bestellt, wo ein Oberst ihn unter dem Vorwand, er habe sich die Hand verletzt, ein Diktat schreiben lässt, in das Worte und Satzteile des bordereau eingebaut sind. Zu diesem Zeitpunkt ist der Haftbefehl gegen Dreyfus bereits unterzeichnet, und der Oberst hat unter Aktenkonvoluten einen durchgeladenen Revolver auf den Schreibtisch gelegt, aber der empörte Hauptmann lehnt es ab, sich zu erschießen. Wenige Tage zuvor hatte ein intern hinzugezogener Graphologe es abgelehnt, Dreyfus als Verfasser des bordereau zu identifizieren. Für den weiteren Lauf der Ereignisse spielt dies keine Rolle. Der 35-Jährige wird verhaftet, von der Außenwelt isoliert, wegen Auslandsspionage angeklagt und in einem streng geheimen Verfahren zu lebenslanger „Deportation an einen befestigten Ort“ verurteilt; Revision ist nicht zugelassen. Weder er noch sein Anwalt haben das bordereau jemals zu Gesicht bekommen. Am 5. Januar 1895 reißt ihm ein Kürassier im Innenhof der Pariser Militärakademie die Tressen von den Schultern, zerbricht seinen Säbel und stößt ihn unehrenhaft aus der Armee aus. Die sorgsam ausgewählte Menge johlt „Tod dem Juden, Tod dem Verräter“, der „befestigte Ort“, dem er zugeführt wird, ist die 10.000 Kilometer entfernte Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guayana. Der Fall scheint abgeschlossen – tatsächlich fängt er jedoch jetzt erst richtig an. Am 16. März 1896 entdeckt der neue Geheimdienstchef Georges Picquart bei der Überarbeitung des Dreyfus-Dossiers die Fetzen eines nicht abgeschickten Telegramms, das als petit bleu in die Geschichte eingehen wird. Absender ist von Schwartzkoppen, Empfänger ein französischer Generalstabsoffizier namens Ferdinand Walsin-Esterhàzy, dessen Handschrift, wie aus weiteren Aktenstücken des Dossiers hervorgeht, mit derjenigen des bordereau identisch ist. Außerdem wird deutlich, dass Esterhàzy am 20. Juli 1894, also zwei Monate vor dem Auftauchen des bordereau, im Büro von Schwartzkoppens aufgetaucht und diesem für ein monatliches Salär von 2000 Francs seine Dienste angeboten hatte, woraufhin der Militärattaché in seinen Unterlagen no-
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tierte: „Ein aktiver französischer Offizier, welcher sich nicht entblödet, zum Verräter an seinem Vaterland zu werden (…).“1 Picquart wird sofort nach Algerien abgeschoben, aber da ist es schon zu spät. Er verfasst eine Denkschrift, die er über seinen Anwalt an Félix Faure, den Präsidenten der Republik, übermitteln lässt und damit öffentlich macht. Die Familie Dreyfus erstattet Strafanzeige gegen Esterhàzy, das Verfahren wird jedoch eingestellt, nachdem drei hoch bezahlte Schriftsachverständige erklären, er sei nicht der Verfasser des bordereau. Jetzt tritt George Clemenceau, der Herausgeber der Zeitung „L’Aurore“, auf den Plan, der sich zuvor noch über das zu geringe Strafmaß für Dreyfus beschwert hatte. Er veranlasst Émile Zola, den renommiertesten Literaten Frankreichs, zu seinem berühmten, an den Präsidenten der Republik gerichteten Brandbrief „J’Accuse“, in dem er „mit nicht minderer öffentlicher Wirkung als einst Luther mit seinen 95 Thesen die Staatsräson samt des korrupten Militärapparats an den Pranger stellt.“2 Am 13. Januar 1898 wird er sechsspaltig aufgemacht auf der ersten Seite von „L’Aurore“ publiziert. Clemenceau muss Straßenverkäufer einstellen, um der Nachfrage im ganzen Land gerecht zu werden. Die Ereignisse überschlagen sich. Frankreich spaltet sich mehr und mehr in Dreyfusards und Anti-Dreyfusards auf. 1898 und 1899 kommt es in siebzig französischen Städten zu schweren antijüdischen Ausschreitungen. Zola wird wegen Verleumdung angeklagt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, flieht aber nach England. Picquart wird angeklagt, das petit bleu gefälscht zu haben, und aus der Armee entlassen, aber später rehabilitiert. Esterhàzy gibt zu, der Verfasser des bordereau zu sein, und wird zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, flieht aber nach England. Der frühere Geheimdienstchef Henry wird der Fälschung des Dreyfus-Dossiers überführt und verhaftet, es wird ihm aber gestattet, in der Zelle einen „soldatisch ehrenvollen“ Selbstmord zu begehen. Erst jetzt entschließt sich die Regierung, dem Verlangen der Familie Dreyfus nach einem Revisionsprozess nachzugeben. Am 9. Juni 1899 verlässt der degradierte Hauptmann die Teufelsinsel in Richtung Frankreich. Der Verhandlungsort für die Wiederaufnahme des Verfahrens ist mit dem tiefkatholischen Rennes wohl gewählt. Mehrere Generalstabsoffiziere drohen für den Fall eines Freispruches an, ihren Dienst zu quittieren. Am 9. September wird Dreyfus, und zwar erneut als „Verräter“, zu zehn Jahren Festungshaft „unter Zubilligung mildernder Umstände“ verurteilt. Es kommt zu Tumulten und Straßenschlachten. Zahlreiche Staaten drohen mit dem Boykott der Pariser Weltausstellung 1900. Wenige Tage darauf verkündet der neue Staatspräsident Émile Loubet Dreyfus’ Begnadigung, die dieser allerdings nur annimmt, wenn er weiter für den Beweis seiner Unschuld kämpfen darf, denn mit der Begnadigung ging eine Amnestie aller an der Affäre Beteiligten einher. 1902 stirbt Émile Zola unter mysteriösen Umständen. Als Dreyfus sich unter 1 2
Zit. nach Elke-Vera Kotowski, Der Fall Dreyfus und die Folgen, in: APuZ, Nr. 50/2007, S. 25–32, hier: S. 26, Anm. 2; Pierre Gervais, Pauline Peretz und Pierre Stutin, Le dossier secret de l`affaire Dreyfus, Paris 2012. Kotowski, Der Fall Dreyfus und die Folgen, a. a. O., S. 30.
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die Tausende einreiht, die seinem Trauerzug folgen, wird auf ihn ein Attentat verübt, dem er nur mit letzter Not entkommt. Genau dort, wo er vor zwölf Jahren auf das Tiefste gedemütigt worden war, im Innenhof der Pariser Militärakademie, wird er am 21. Juli 1906 in vollem Umfang rehabilitiert. Diesmal johlt die (nicht handverlesene) Menge: „Es lebe Dreyfus, es lebe die Wahrheit!“ Zum Major befördert und zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen, ist er auch vor sich selbst wieder ein freier, gleichberechtigter Mann. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldet sich der 55-Jährige sofort freiwillig an die Front, er kämpft vor Verdun. Alfred Dreyfus stirbt 1935 im Rang eines Oberstleutnants. Ob die Franzosen mit dem Elsässer und Juden wirklich jemals wieder ins Reine gekommen sind, steht dahin. Auf jeden Fall war durch ihn klargeworden, dass in der angeblich so konfliktlosen Belle Epoque längst nicht alles beau war. Ein Denkmal wird erst 1985 in Auftrag gegeben, und auch als die Bronzestatue mit dem zerbrochenen Säbel und der gewölbten Brust fertig war, währte ihr Gastspiel in den Tuilerien nur kurz, bald sah sie sich auf einen kleinen, unscheinbaren Platz am Boulevard Raspail abgeschoben. Im Innenhof der Militärakademie, jenem schicksalsträchtigen Ort, wollte der Verteidigungsminister sie nicht haben. 2002 wurde sie mit einem gelben Davidstern und der Aufschrift „dreckiger Jude“ entehrt. Als 2006, zum 100. Jahrestag der Rehabilitierung, das Ansinnen auftaucht, Dreyfus neben Zola in das Pariser Panthéon zu überführen, lehnt Präsident Chirac ab. 1994, als der centenaire des Affärenbeginns anstand, bekam Oberst Paul Gaujac, der Leiter des militärhistorischen Dienstes, den Auftrag, eine zusammenfassende Studie zu der Thematik zu erstellen. Sie schließt mit den Worten: „Unter Historikern ist Dreyfus’ Unschuld heute allgemein anerkannt, aber in Wirklichkeit ist bis zum heutigen Tag niemand in der Lage zu sagen, ob Dreyfus nun ein unschuldiges oder ein selbst verschuldetes Opfer ist.“3 Mithin, so Madeleine Rebérioux, die Präsidentin der (seinerzeit zur Verteidigung von Dreyfus gegründeten) Liga für Menschenrechte, handle es sich um „eine zweifelhafte Wahrheit“4. Bei dieser 3
Zit. nach Kai-Ulrich Hartwich, L’affaire toujours … Anmerkungen zur Realisation der Hundertjahrfeier der Dreyfus-Affäre, in: „Frankreich – Jahrbuch 1994“, Redaktion: Henrik Uterwedde, Opladen 1995, S. 199–213, hier: S. 201; Georg R. Whyte, Die Dreyfus-Affäre. Die Macht des Vorurteils, Frankfurt am Main 2010, S. 431. Noch Georges Sorel hatte die Affäre ein „zweites Sedan“ genannt. Nicht zuletzt auf ihn rekurrierend führt für Zeev Sternhell eine direkte Linie von der Affäre bis nach Vichy: Zeev Sternhell, Ni droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en France, Paris 1983; ders., La Droite révolutionnaire (1885–1914). Les origines françaises du fascisme, Paris 1978; vgl. auch: Pierre Milza, Fascisme français. Passé et présent, Paris 1987. 4 Whyte, Die Dreyfus-Affäre, S.431; vgl. auch Louis Begley, Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte, Frankfurt am Main 2009; Léon Blum, Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus, Berlin 2005 (Original: Paris 1935); Vincent Duclert, Histoire, historiens et historiographie de l’Affaire Dreyfus (1894–1997), in: Michel Leymarie (Hg.), La postérité de l’Affaire Dreyfus, Lille 1998, S. 151–234; Bertrand Joly, Histoire politique de l’affaire Dreyfus, Paris 2014.
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Gelegenheit stellte sich auch heraus, dass die von der zivilen Justiz initiierte Rehabilitation nie eine Bestätigung vonseiten der Militärjustiz erfahren hatte. Gaujac jedenfalls erfuhr noch am Tag der Veröffentlichung seiner Studie aus dem Fernsehen, dass der Verteidigungsminister ihn ohne Anhörung seines Postens und seiner Funktionen enthoben habe und aufforderte, Büro und Dienstwohnung unverzüglich zu räumen. Nicht umsonst spricht man in Frankreich nicht von der „Affäre Dreyfus“, sondern nennt sie schlicht und einfach „L’affaire toujours“. Die Geschehnisse um den unbeugsamen Mann entwickelten in doppelter, konträrer und doch auf das Engste miteinander verflochtener Perspektive welthistorische Bedeutung. Zum einen markieren sie den Beginn des offenen, aggressiven und keine Rücksichten kennenden Antisemitismus in Europa, zum anderen stehen sie für den Weg, der zur Gründung des Staates Israel führt. Auf den Zuschauertribünen der Dreyfus-Prozesse saß ein junger ungarischer Jude namens Theodor Herzl, der als Korrespondent für die „Neue Freie Presse“ in Wien berichtete. Herzl begriff sofort, dass selbst assimilierte Juden wie Dreyfus und er in Europa niemals akzeptiert, geschweige denn gleichberechtigt sein würden, und schrieb unter diesem Eindruck 1896 das Buch „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“, das mit der berühmten Vision schloss: „Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen!“5 Doch auch ein anderes Buch, das zehn Jahre zuvor erschienen war, zeigte ungeahnte Wirkung. 1886 veröffentlichte der Schriftsteller Edouard Drumont „La France juive“, die deutsche Ausgabe, „Das verjudete Frankreich“, erschien im gleichen Jahr. Es wurde die Bibel der Antisemiten und einer der größten buchhändlerischen Erfolge des 19. Jahrhunderts. Bis 1914 kam es allein in Frankreich auf über 200 Auflagen. Basierend auf Gobineaus Rassenlehre legt Drumont in dem dickleibigen, zweibändigen Wälzer die kategorische Minderwertigkeit alles Jüdischen dar. 1889 gründet er die französische Antisemitenliga, und ab 1992 gibt er die Zeitung „La Libre Parole“ heraus. In der Ausgabe vom 10. November 1894 erscheint er dort als übermächtige Karikatur, Dreyfus mit der Kneifzange entsorgend.6 Einer der zentralen Kampfbegriffe Drumonts war das Wort „Intellektueller“, das er damit wider Willen geschaffen hat und mit dem er alle Juden, Protestanten, Freimaurer, Fremde und Dreyfusards zusammenfasste.7 In diesem Klima gedieh die 1898 formierte Ligue de la patrie française, die es binnen kürzester Zeit auf 500.000 Mitglieder brachte, und aus ihr wiederum erwuchs die Action française, an deren Spitze 45 Jahre lang, von 1899 bis 1944, Charles Maurras stand.
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Vgl. hierzu bes. Julius H. Schoeps, Theodor Herzl und die Affäre Dreyfus, in: ders. und Hermann Simon, Dreyfus und die Folgen, Berlin 1995, S. 25–40. 6 Vgl. Esther Benbassa, Die Geschichte der Juden in Frankreich, Berlin und Wien 2000; Philippe Burrin, Faschismus und Antisemitismus in Frankreich, in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 119–130. 7 Vgl. Michel Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2004.
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Maurras, 1868 geboren, lebte seit seinem siebzehnten Lebensjahr als Bohemien in Paris. Die Action française und die Tageszeitung gleichen Namens (ab 1908) waren die Sprachrohre des französischen Nationalismus. Sie verstanden sich als revolutionäre, gegen das Gedankengut der Revolution von 1789 gerichtete Bewegung zur Wiederherstellung des Kaisertums und des Föderalismus anstelle des Zentralstaats. Unter dem Einfluss von Auguste Comte, Anatole France und Arthur Schopenhauer lehnte er jedwede Form des Parlamentarismus ab. Mit den „Camelots du roi“ zog er sich eine eigene Schlägertruppe heran, die vor nichts zurückschreckte. Er selbst saß mehrfach im Gefängnis, weil er den Parlamentsabgeordneten Attentate angekündigt hatte. 1926 wurde er exkommuniziert und den französischen Katholiken die Lektüre seiner Zeitung verboten. Briands Versöhnungspolitik gegenüber Deutschland lehnte er scharf ab. In seinem 1937 erschienenen Buch „Devant l’Allemagne éternelle“ warnte er vor dem großen Krieg mit Deutschland, den er gleichwohl für unvermeidlich hielt. 1938 wurde er Mitglied der Académie Française. Sein eigentlicher Intimfeind war Charles de Gaulle, dessen Soldaten für ihn „les volontaires de l’Empire juif universel“ waren. Als die Action française am 27. Januar 1945 verboten und er selbst zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, kommentierte er den Richterspruch mit den Worten „Das ist Dreyfus’ Rache“. Er starb 1952. Maurras war zweifellos die herausragende Verkörperung jener Demokratiefeindschaft und Demokratieverachtung, die als Grundübel die gesamte Dritte Republik durchzog, nur er war eines nicht: Er war kein Faschist, so wie die Verwendung des Faschismusbegriffs für Frankreich in der Forschung generell umstritten ist.8 Maurras’ Action française erfreute sich eines beträchtlichen Zulaufs, aber eine Massenbewegung wurde sie nicht. Hinzu kam, dass neuerliche Revolutionsängste in der Bevölkerung merklich schwanden, nachdem die Regierung des „Linkskartells“ unter Herriot 1925 zerbrochen war und Poincaré ein Jahr später erneut die Regierung übernahm. Rechtsnationale Gruppierungen wie die 1924 gebildeten Jeunesses patriotes und, kurz darauf, die Faiscaux hatten es da nicht leicht, obwohl sie zu Mussolini Kontakt aufnahmen. Auch die Solidarité française blieb eher marginal. Einen anderen Stellenwert hatten die 1927 unter François de La Rocque gegründeten Feuerkreuzler. Das Croix de feu, das ursprünglich ein reiner Frontkämpferverband war, konnte schon Anfang der 1930er Jahre auf über 500.000 Mitglieder verweisen. Beim blutigen Aufstand vor der Deputiertenkammer am 6. Februar 1934 spielte es die führende Rolle, der angestrebte Staats8 Vgl. Klaus-Jürgen Müller, „Faschismus“ in Frankreichs Dritter Republik? Zum Problem der Überlebensfähigkeit der französischen Demokratie zwischen den Weltkriegen, in: Horst Möller und Manfred Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40. Beiträge zu einem historischen Vergleich, München 2002, S. 91–130, hier: S. 97; anders: Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005; vgl. auch Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999.
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streich allerdings misslang. Nachdem zwischen 1932 und 1935 allein neun bürgerliche Ministerpräsidenten an der Bewältigung der Wirtschaftskrise gescheitert waren, gewannen die Sozialisten, Radikalen und Kommunisten die Wahlen und machten am 4. Juni 1936 den assimilierten Juden Léon Blum zum neuen Regierungschef. Maurras hatte schon 1934 gehetzt, man müsse Blum „als Juden sehen (…) und zur Strecke bringen“. Obwohl sein Volksfrontbündnis nur ein Jahr im Amt war, wird es – wider Willen – zum entscheidenden Wegbereiter aller rechtsnationalistischen und kryptofaschistischen Gruppierungen im Land. Nach Blums Rücktritt gab es kein Halten mehr. Insbesondere sein Verbot der Feuerkreuzler bewirkte genau das Gegenteil dessen, was es bewirken sollte: mit neuem Namen (Parti social français, PSF) und alter Mannschaft ging die Verhöhnung der Republik weiter. Bereits der Wahlsieg der Volksfront war der Anlass zur Gründung einer Partei gewesen, die man im weiteren Sinne als faschistisch bezeichnen kann, nämlich des Parti populaire français (PPF) unter dem ehemaligen Kommunisten Jacques Doriot. Doriot war 1898 als Sohn eines Dorfschmieds geboren worden und hatte selbst Werkzeugmacher gelernt. 1915 trat er in die Jugendorganisation der sozialistischen Partei SFIO ein, wechselte 1920 aber in die Jugendorganisation der neugegründeten Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). 1923 wird er Generalsekretär der Jeunesse communiste, Präsidiumsmitglied der Komintern in Moskau und 1925 Abgeordneter der Pariser Nationalversammlung, in der er zum Starredner der Linken avanciert. Mehrfach wird seine Immunität aufgehoben, damit er Gefängnisstrafen absitzen kann. Trotzdem kommen ihm auf Propagandareisen durch die Sowjetunion und China erste Zweifel an der kommunistischen Lehre, und als er der KPF die Aufkündigung der Zusammenarbeit mit Moskau empfiehlt, schließt sie ihn in stalinistischer Manier am 27. Juni 1934 aus. Zwei Jahre vagabundiert er ohne Erfolg im politischen Niemandsland, aber dann ist der Gründungstermin des PPF am 20. Juni 1936 überaus geschickt gewählt, weil sie mit über 200.000 Mitgliedern schnell zum Sammelbecken aller Volksfrontgegner wird. Obwohl 65 Prozent von ihnen aus der Arbeiterschicht kommen, genießt sie die Unterstützung der Pariser Großbanken, der französischen Stahlkonzerne, der Arbeitgeberverbände und Mussolinis. Doriot ist die zentrale autoritäre Führungsgestalt, die alles bestimmt, ernennt und zensiert. Im Zentrum des Parteiprogramms steht die „Förderung der französischen Rasse“, Deutschland sollte in eine gemeinsame Außenpolitik mit Frankreich eingebunden werden, um so die Gefahr eines europäischen Krieges zu bannen. Doriots Versuch, alle antimarxistischen Parteien zusammenzuführen, scheitert 1937 am Widerstand von La Rocque, dessen PSF bis zum Ende der dreißiger Jahre eine Mitgliederzahl von fast einer Million erreicht. 1931 war Georges Bernanos Buch „Die große Furcht der Spießbürger“ auf den Markt gekommen, das den Antisemitismus während des gesamten Jahrzehnts nährte, an dessen Ende etwa 300.000 Juden in Frankreich lebten, zwei Drittel davon in Paris. An der Spitze der jüdischen Gemeinschaft stand das Consistoire Central, dessen Präsident Jacques Helbronner im Juni 1933 äußerte, dass „nicht alle jüdischen Flüchtlinge
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aus Deutschland (…) es wert sind, dass man sie behält.“ Bald darauf fügte er hinzu, es handle sich um „Gesindel, den Abschaum der Gesellschaft, die Elemente, die ihrem eigenen Land wohl nicht von Nutzen sein konnten“9. Diese Meinung hielt er bis 1943 bei, dem Jahr, in dem er selbst nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde. Schon von 1934 an erhielten jüdische Flüchtlinge in Frankreich keinerlei materielle Unterstützung mehr. Ausgerechnet im Kabinett Blum wird im Januar 1937 die sogenannte Madagaskar-Lösung (ernsthaft) diskutiert, während PSF und PPF auf der Straße die Parole „Besser Hitler als Blum“ skandierten. Helbronner lud La Rocque ausdrücklich zu seinen Gedenkveranstaltungen ein. Am 15. April 1938 erschien in „Je suis partout“, dem Organ der Action française, die erste Sondernummer über „die Juden“, ein Jahr später hob Pius XII. den Bann gegenüber Maurras auf. Als Blums Nachfolger, der radikalrepublikanische Edouard Daladier, im November 1938 ein Gesetz erließ, mit dem Ausländer ohne größere Umstände abgeschoben werden konnten, klatschten ihm nicht nur die Rechtsnationalisten Beifall. Frankreich ist das weltweit einzige große demokratische Land geblieben, das auf die Reichspogromnacht mit nicht einem einzigen Wort reagiert hat, seine Equipe gehörte zu den wenigen, die bei den Olympischen Spielen 1936 an der Führertribüne mit dem ihm gemäßen Gruß vorbeimarschierten. Der Antisemitismus musste von nirgendwoher nach Frankreich importiert werden, der Boden für die Kollaboration war bereitet. Auch die Art und Weise, wie die seit 1933 vor dem NS-Terror ins Land flüchtenden deutschen Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen, immerhin 60.000 an der Zahl, behandelt wurden, spricht den Worten Victor Hugos Hohn, der gesagt hatte, dass Frankreich für jeden Menschen im Unglück die zweite Heimat sei. Davon war nicht viel zu spüren. Die Feuerkreuzler und die Action française machten offen Front gegen sie, für andere waren sie die „Fünfte Kolonne“, also Spitzel und Agenten Hitlers. Die Tatsache, dass 80 Prozent unter ihnen Juden waren, verschlimmerte ihr Schicksal. Nach Kriegsausbruch wurden sie in menschenunwürdigen Lagern untergebracht, die auch im offiziellen Sprachgebrauch als camps de concentration bezeichnet werden. Gurs, Le Vernet und Les Milles waren die größten und berüchtigsten. Walter Benjamin, Lion Feuchtwanger, Walter Janka, Golo Mann und Walter Hasenclever haben ihre Bekanntschaft gemacht. Zwischen 1936 und 1938 hat Frankreich keinerlei selbstständige Außenpolitik mehr betrieben. Die tiefe Spaltung zwischen „munichois“ und „antimunichois“ ging quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen. Immer mehr geriet man in das Fahrwasser Großbritanniens, das Frankreich „eine Appeasement-Politik aufdrängte, der es widerwillig, aber machtlos folgen musste, (…) (woran) sich ermessen lässt, in welchem Maße Frankreich sich selbst bereits aufgegeben hatte (…) und nur noch vor der Wahl stand,
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Zit. nach Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933– 1939, Bonn 2006, S. 241.
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entweder von England oder vom Faschismus abhängig zu werden“10, so Gilbert Ziebura. Daladier regierte, so wie Brüning in der Endphase der Weimarer Republik, immer häufiger mit Verordnungen, und auch seine Kriegserklärung an Deutschland vom 3. September 1939 ist ohne Zustimmung des Parlaments erfolgt. Frankreich kam hier seiner Garantieverpflichtung gegenüber Polen nach, tat aber nichts dafür. Was begann, war jener seltsam-lauernde „Sitzkrieg“, in dem es nichts Kriegerisches gab. Man wartete, und das Ergebnis war „eine in diesem Ausmaß noch nie dagewesene Niederlage“11. Zahlenmäßig und hinsichtlich des militärischen Materials keineswegs unterlegen, aber demotiviert und hoffnungslos desorganisiert, wurden die französischen Streitkräfte regelrecht überrannt. Nach nur 36 Tagen Krieg rückte die Wehrmacht am 14. Juni 1940 in Paris ein. Zehn Millionen Franzosen flohen vom Nord- in den Südteil des Landes. Völlig orientierungslos und auf das Tiefste gedemütigt irrte die Regierung unter Daladiers Nachfolger Reynaud herum. Als keiner wusste, was werden sollte, trat Marschall Pétain auf den Plan. Es war seine Stunde. Henri Philippe Pétain wurde 1856 als viertes Kind einer Bauernfamilie geboren. Er ging bei Jesuiten und Dominikanern zur Schule und mit zwanzig an die Militärakademie. An der Ecole Supérieure de Guerre wird er Dozent für Taktik und zu Beginn des Ersten Weltkriegs Brigadegeneral. In ausweglosen Situationen gelingt es ihm, meuternde Soldaten zur Räson zu bringen. Als er im Februar 1916 die Festung Verdun verteidigt, wird er zum Retter der Nation und zur lebenden Legende, obwohl 350.000 französische Soldaten ihr Leben verlieren. Nach der deutschen Niederlage 1918 erhält er den Titel „Marschall von Frankreich“. Obwohl er aus seiner Geringschätzung der parlamentarischen Demokratie nie einen Hehl gemacht hat, übernimmt er 1934 das Kriegsministerium und fördert den Bau der Maginot-Linie, mit der „französisches Blutvergießen“ um jeden Preis vermieden werden sollte. Pétain ist nationalkonservativ, katholisch, monarchisch und autoritär. Charles Maurras und dessen Action française sind seine Weltanschauung. Trotzdem lehnt er jedweden Putschplan auf die Dritte Republik ab. Er wird am 16. Mai 1940 sogar, was er später gern „vergisst“, ihr letzter Regierungschef. Da ist er bereits 84 Jahre alt. Noch in der Bewältigung der Niederlage zeigt sich seine Fähigkeit zum Kalkül: Er hätte, so wie es die Machthaber Norwegens, Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs taten, kapitulieren und mit einer Exilregierung den Kampf fortsetzen können, die nordafrikanischen Kolonien boten sich hierfür regelrecht an, aber er dachte nicht 10 Gilbert Ziebura, Determinanten der Außenpolitik Frankreichs 1932–1939. Zum Verhältnis von innerer, äußerer, internationaler Politik und Wirtschaft, in: ders., Frankreich: Geschichte, Gesellschaft, Politik. Ausgewählte Aufsätze, Opladen 2003, S. 87–112, hier: S. 111. 11 Marc Olivier Baruch, Das Vichy-Regime. Frankreich 1940–1944, Stuttgart 1999, S. 11; Marc Bloch, Die seltsame Niederlage: Frankreich 1940. Der Historiker als Zeuge, Frankfurt am Main 1995. Bloch war von dem Historiker Lucien Fèbvre entlassen worden, damit er die Zeitschrift Annales weiter publizieren konnte. Bloch ging an die Front und fiel.
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daran, sein Vaterland zu verlassen. Der an die Stelle einer Kapitulation getretene Waffenstillstandsvertrag vom 25. Juni 1940 kann in vielerlei Hinsicht bereits als die Geburtsurkunde der Kollaboration bezeichnet werden. Prinzipiell wird die Souveränität der französischen Regierung über das gesamte Territorium anerkannt, auch über den von den Deutschen besetzten Norden. Frankreich wird keineswegs gezwungen, seine Regierungsform zu wechseln. Das Land wird nicht „polonisiert“, es tritt kein deutscher Gouverneur ins Amt, gleichwohl liest sich Artikel 3 (der nur für die besetze Zone galt und in dem das Wort collaboration zum ersten Mal auftaucht) wie eine Aufforderung an alle staatlichen Einrichtungen, den Deutschen bei der Verwaltung des Landes entgegenzukommen. Im verhängnisvollen (und realisierten) Artikel 19 verpflichtet man sich, die seit 1933 nach Frankreich geflüchteten Deutschen auszuliefern, was für viele den sicheren Tod bedeutet. Drakonisch waren die aufgezwungenen Besatzungskosten, die auf 20 Millionen Reichsmark pro Tag fixiert wurden, sich bis Kriegsende auf 34 Milliarden Reichsmark beliefen und den Charakter der Ausplünderung hatten. Symbolisch war der Ort, an dem der Waffenstillstand unterzeichnet wurde: jener Eisenbahnwaggon in Compiègne, in dem Matthias Erzberger am 11. November 1918 die deutsche Niederlage besiegelt hatte. Pétain durfte, so wie die gedemütigten Weimarer Demokraten, über ein 100.000-Mann-Heer befehlen. Eigenmächtig und ohne jede vertragliche Grundlage zerstückelte der Sieger Frankreich in sieben Zonen, aufgegliedert in fünf verschiedene Terrains, den besetzten Norden einschließlich der gesamten Atlantikküste (zone occupé), den formell selbst regierten Süden (zone libre), die Départements Nord und Pas de Calais, die dem Militärbefehlshaber in Brüssel unterstellt wurden, eine vorgelagerte zone interdite als Pufferzone, das Gebiet um Nizza und die Alpengrenze, das unter italienische Verwaltung fiel, sowie Elsass-Lothringen, das de facto an Deutschland angegliedert wurde. Divide et impera, so hieß dieses nicht erst von den Nazis erfundene Vorgehen. Ende Juni war die Regierungsmannschaft im verschlafenen zentralfranzösischen Kurort Vichy in der Auvergne gelandet und noch mitten in den Beratungen, als die britische Royal Navy am 3. Juli erhebliche Verbände der französischen Flotte vernichtete, die im algerischen Mers el-Kébir nahe Oran vor Anker lagen und nicht in die Hand der Deutschen fallen sollten. 1300 Soldaten starben. Hilflos und ohnmächtig sah man zu, eine Kriegserklärung an England erfolgte nicht. In diesem Klima der Impotenz, Ernüchterung und Orientierungslosigkeit wird das gesamte Parlament bis auf die kommunistischen Abgeordneten, die 1939 wegen ihrer Unterstützung des deutschsowjetischen Nichtangriffsvertrages ausgeschlossen worden waren, am 10. Juli nach Vichy zitiert, um zu retten, was zu retten ist. An diesem Tag bestimmt die gleiche Nationalversammlung, die 1936 Léon Blum zum Ministerpräsidenten gewählt hatte, Philippe Pétain mit 569 Ja- und 80 Nein-Stimmen bei 20 Enthaltungen mit außerordentlichen und unverhohlen autoritären Vollmachten zum „Staatschef des Etat Français“. In einem Akt der Selbstentmachtung verleiht sie dem Marschall auf unbestimmte Zeit alle drei Staatsgewalten. Irgendeine Kontrollinstanz war nicht vorgesehen, und auch von
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irgendeinem, auch nur partiellen Wahlrecht war nirgendwo die Rede – „ein solcher Akt war beispiellos in der französischen Geschichte“ (Henry Rousso). Das republikanische System hatte sich selbst gerichtet. Zwar erhält Pétain den Auftrag, eine neue Verfassung auszuarbeiten, was jedoch nie geschieht. An die Stelle der revolutionären Parolen von 1789 liberté, égalité und fraternité treten die Leitbegriffe travail, famille und patrie. Die Dritte Republik oder, wie es Pierre Pucheu nannte, die „Drecksdemokratie“ („démocrasouille“), war beendet. Sie war schuld an der Niederlage und musste jetzt den Preis dafür bezahlen. Der Kult um den Marschall, die große Integrationsfigur und die Projektion aller Hoffnungen, gedieh von Minute zu Minute. Politik, Wirtschaft, Kirche, Polizei, Justiz, Verwaltung und Gesellschaft standen hinter ihm. Sein Bild hing in den Schulen, sein Konterfei ersetzte die Marianne auf den Briefmarken, er wurde mit Jeanne d’Arc auf eine Stufe gestellt. Die von ihm proklamierte „Nationale Revolution“ hatte ihren Chefideologen in Charles Maurras. Mit ihr sollte das vorrevolutionäre, ständisch-hierarchische, ländliche und katholische Frankreich wiedererrichtet und überhaupt Frankreich den Franzosen zurückgegeben werden. Das Herkömmlich-Heimelige rund um die Dorfkirche und die bescheiden ihr Leben fristende corporation paysanne, die Bauernschaft, wurden dem esprit de jouissance, der Genusssucht und der Großstadt mit allen ihren fremden Einflüssen entgegengesetzt. Assimilation, gleich in welcher Form, wurde abgelehnt. Für Andersartige, Andersgläubige und für das „Ausländerpack“ war kein Platz, denn diesen gab es nur in „natürlichen“ Gemeinschaften wie der Familie, dem Beruf, der Region und dem Vaterland. Frankreich sollte zum Ständestaat werden. Der Vater besitzt die Basisautorität und die Mutterschaft ist die höchste Bestimmung der Frau. Jede Abtreibung wird schwer bestraft. In der Schule hängt das obligatorische Porträt des Marschalls nicht unter, sondern über dem Kreuz. Trotz alledem und obwohl mit Pétains Allmacht zweifelsohne das Führerprinzip realisiert ist, wird man das von ihm geschaffene System nicht faschistisch oder gar nationalsozialistisch nennen können, es war eine Herrschaft konservativ-traditionalistischen Zuschnitts. Boulangismus und Bonapartismus reichten sich die Hand. „Maréchal, nous voila!“, so sangen es die Kinder auf der Straße, „Marschall, wir sind zur Stelle!“. Sicherlich war seine absolutistische Souveränität nur von Hitlers Gnaden, aber mit seinem Charisma erreichte er alle. In umgekehrter Perspektive verkörperte der Sieger von Verdun allein durch seine Person einen „Schutz“ gegenüber den Deutschen.12 Nach Henri Amouroux bestand das französische Volk damals aus 40 Millionen Pétainisten.13 Durch ihn lebten sie in 12 So Paul J. Kingston, Die Ideologen: Vichy-Frankreich 1940–1944, in: Hirschfeld und Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich, a. a. O., S. 60–86, hier: S. 63. 13 Henri Amouroux, La grande histoire des Français sous l’ocupation, 10 Bde., Paris 1976 ff., hier: Bd. 2, Paris 1978, S. 13; auch: Gaspard L. Pinette, Freund oder Feind? Die Deutschen in Frankreich 1940–1944, Frankfurt am Main 1990; sorgfältig zwischen charismatischer Diktatur, faschistisch oder lediglich autoritär abwägend: Henry Rousso, Vichy. Frankreich unter deutscher Besat-
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der Illusion, dass Frankreich selbst in der größten Niederlage seiner Geschichte Größe bewahrt habe und in einem künftigen, von Deutschland beherrschten Europa als gleichberechtigter Partner auftreten werde. Eigentlich fehlte nicht mehr viel, und dem quasi Vergöttlichten wäre der Heiligenschein umgelegt worden, wenn ihm in der Person von Pierre Laval nicht ein unerbittlicher Rivale und Widersacher erwachsen wäre. Laval, 1883 als Sohn eines Kaufmanns in der Auvergne geboren, musste mit zwölf die Schule verlassen, um im elterlichen Betrieb mitzuarbeiten. Gegen den Willen des Vaters und ohne jede finanzielle Unterstützung absolviert er das Abitur und das Studium. 1909 ist er in die SFIO eingetreten. 1914 wird er ins Parlament gewählt, 1919 gehört er zu den 52 Sozialisten, die gegen den Versailler Vertrag protestieren, weil sie in der Demütigung Deutschlands den direkten Weg in einen neuen großen Krieg sehen. Als sich die SFIO 1920 in einen kommunistischen und in einen gemäßigten Flügel unter Léon Blum aufspaltet, tritt er aus und entwickelt sich zur politischen Rechten, bleibt aber parteilos. Laval wird zu einem der bedeutendsten Politiker der Dritten Republik. Allein achtmal wird er Minister und dreimal Ministerpräsident. Er bekleidete mehrfach die Ressorts Justiz, Innen, Außen und Arbeit. Von großen nationalen Parolen und Programmen hält er nichts, er ist Opportunist. Anfang 1939 ist er überzeugt, dass Frankreich auf eine Katastrophe zusteuert, wenn nicht ein starker Mann die Zügel in die Hand nimmt. Deshalb betreibt er die Auflösung der Dritten Republik und die Ernennung Pétains zum neuen Regierungschef, weil er in dessen Schatten selbst wieder an die Macht kommen will. Am 12. Juli 1940 wird er des Marschalls Stellvertreter, Kabinettschef, Außenminister und damit der designierte Nachfolger an der Spitze des Etat français. In der besetzten Zone nahm die deutsche Militärverwaltung ihr Hauptquartier im Luxushotel „Majestic“ in Paris. Es vermittelte ihr in jeder Suite den viel beneideten französischen Lebensstil, der den meisten bislang nur aus Spielfilmen bekannt war. Militärbefehlshaber in Frankreich wird, allerdings erst vom Oktober 1940 an, der stocksteife und stockkonservative General Otto von Stülpnagel, kein Anhänger Hitlers. Ihm untergeordnet (und gleichzeitig überlegen) ist der Chef des Kommandostabes Hans Speidel, ein gewandter und belesener Historiker mit hochgradigem politischen Instinkt, „ein konservativer Nicht-Nationalist“14, der später beim Aufbau der Bundeswehr eine zentrale Rolle einnahm. Als ihre „natürliche“ Verbindungsfigur in der Deutschen Botschaft amtiert seit dem August 1940 Otto Abetz, offiziell als „Bevollmächtigter des Auswärtigen Amtes beim Militärbefehlshaber in Frankreich“, mithin den Militärs untergeordnet. Abetz, bald mit den Botschafterinsignien ausgestattet und seit zung 1940–1044, München 2009; wichtig als Augenzeugenbericht: Léon Werth, Als die Zeit stillstand. Tagebuch 1940–1944, Frankfurt am Main 2017 (ursprünglich bereits 1946 unter dem Titel „Déposition“, „Zeugenaussage“, erschienen). 14 Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, 5. Aufl., Bonn 2011, S. 252; Neuausgabe: München 2016.
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1932 mit einer Französin verheiratet, war durch und durch frankophil. Der 1903 geborene Absolvent einer Kunsthochschule, ursprünglich ein glühender Anhänger von Stresemann und Briand, wird 1934 Unterbannführer im Frankreich-Referat der Hitlerjugend, Vertrauter Ribbentrops und „einer der wirkungsvollsten Agenten des deutschen Eindringens in Frankreich“15. 1935 gründet er das Komitee France-Allemagne, „den Fischteich der ökonomischen, politischen und kulturellen Zusammenarbeit mit dem ‚neuen Deutschland‘“16, aus dem er noch als Hausherr in der Pariser Rue de Lille schöpfen kann. Abetz ist der Ansprechpartner für Vichy und der Hoffnungsträger der NS-orientierten Kreise in der Seine-Metropole, die er finanziert und geschickt konditioniert. In dieses diffizile, sich von Anfang an belauernde Triumvirat geriet am 5. August 1940 Werner Best als Mann der SS. Best, der gleiche Jahrgang wie Abetz, aber im Gegensatz zu diesem in tiefem Franzosenhass aufgewachsen, nachdem sein Vater an einer Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg verstarb, war promovierter Jurist, Amtsrichter und 1930 in die NSDAP eingetreten. Als Mitautor der „Boxheimer Dokumente“, Putschpläne gegen die Weimarer Republik, wird er 1931 seines Postens enthoben, macht aber nach der „Machtergreifung“ schnell Karriere. 1933 wird er hessischer Polizeipräsident, Organisationschef des Sicherheitsdienstes (SD) in München und 1936 Leiter der Rechtsabteilung der Gestapo in Berlin. Zusammen mit Heydrich, dessen Stellvertreter er von 1933 bis 1940 ist, konzipiert und errichtet er 1939 das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), überwirft sich aber mit ihm, sodass er die Verwendung als Verwaltungschef der zone occupé im Rang eines SS-Brigadegenerals von Anfang an als Abschiebung empfunden hat. Zur „Lichtstadt Paris“ hat er nach seinen eigenen Worten „nie ein inneres Verhältnis gefunden“, die konservativen Militärs schnitten ihn und die Casinoabende mit Ernst Jünger empfand er als „verplaudert“17. Er selbst sah sich als Außenseiter, isoliert und wie im Exil. Trotzdem schien Best von seiner Biographie her für die Position des französischen „Über-Innenministers“18 geradezu wie geschaffen. Die Besetzung seiner rheinhessischen Heimat durch die Truppen der Tricolore hat er als die entscheidende Prägung seiner Kindheit und Jugend bezeichnet. Sein Elternhaus wird von 1919 bis 1930 zur Hälfte für französische Soldaten requiriert. Die „Wiederaufrichtung Deutschlands“, die ihm der Vater schon im Abschiedsbrief anbefohlen hatte, galt ihm als patriotische Pflicht. Am 9. Juli 1919 lehnt er als Klassenprimus des Neuen Mainzer Gymnasiums die Annahme einer Buchprämie aus der Hand eines französischen Offiziers ab und wird stadtbekannt. Er wandert zu den Schauplätzen des Nibelungenlieds, erhält als Mitglied einer Verbindung den Decknamen „Hagen“ und engagiert sich im „Abwehrkampf “. War dieser Mann in der nunmehr „gleichsam spiegelverkehrten Situation“ ge15 Rita Thalmann, Gleichschaltung in Frankreich 1940–1944, Hamburg 1999, S. 34. 16 Ebd. 17 Zit. nach Herbert, Best, a. a. O., S. 255. 18 Ebd., S. 254.
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radezu prädestiniert für die neue Position? „Viel kompletter konnte eine auch individuell empfundene Revanche nicht sein.“19 Und auch damit nicht genug. Ging es jetzt nicht genau darum, die Fehler des Feindes von gestern (und heute) nicht zu wiederholen, um den Erfolg dieser Besatzung zu gewährleisten? Das aber hieß, im konkreten Alltag auf letztlich nur den Widerstand befördernde Unterwerfung und Entwürdigung zu verzichten. Nur so war eine bruch- und geräuschlose, effektive Zusammenarbeit, auf Französisch collaboration, mit den Menschen auf der Straße und in den Ämtern möglich. Best war der „Erfinder“ des Konzepts der „Aufsichtsverwaltung“, nach dem die Kontrolle deutsch, aber die Ausführung französisch war. Dieses Konzept machte es möglich, dass in der Pariser Zentrale ganze 200 und in der zone occupé nicht mehr als 1000 Offiziere und Beamte erforderlich waren, um über 20 Millionen Franzosen zur regieren. Insgesamt sind bis 1944 nie mehr als 40.000 Deutsche in Frankreich eingesetzt worden; die Römer benötigten zur Herrschaft in ihrer Provinz Gallia mehr als die zehnfache Personalstärke. Best, der sich dem „Eliteorden“ der SS mehr denn je verbunden fühlte, vermied jede sichtbare Form von Gängelung und Überheblichkeit, sodass sich zwischen Deutschen und Franzosen schnell ein regelrechtes Vertrauensverhältnis bildete. „Diese enge und nach allen Aussagen nahezu störungsfreie Zusammenarbeit der Verwaltungsspitzen beider Länder stellte so etwas wie das Rückgrat der Kollaboration dar.“20 Bereits im Herbst 1940 setzte Best gegen den Widerstand des Kommandostabes im Hotel „Majestic“ die Wiederbewaffnung der französischen Polizei durch. Der Gendarm im eigenen Ort galt wieder was, und das war fast genauso viel wert wie das Huhn im eigenen Suppentopf. Der Alltag kehrte ein. In der kommunistischen Parteizeitung „L’Humanité“ vom 7. Juli 1940 konnte man lesen: „In diesen unglücklichen Zeiten ist es besonders erfreulich zu sehen, welch’ freundschaftliches Verhältnis zahlreiche Pariser Arbeiter zu den deutschen Soldaten haben, sei es auf der Straße, sei es im Bistro an der Ecke. Bravo, Genossen, macht weiter so!“21 Die deutschen Kulturinstitute in der Hauptstadt verzeichnen binnen einer Woche 5000 Anmeldungen von Interessenten, die die Sprache ihres Nachbarn und Besatzers lernen wollen. Im ganzen Land, auch in der zone libre, wird eine ähnlich überwältigende Resonanz verzeichnet. In der besetzten Zone ließ Goebbels überall ein Plakat aushängen, auf dem ein blonder deutscher Soldat ein französisches Kind in seinen Armen wiegt, darunter stand: „Im Stich gelassene Bevölkerung, habe Vertrauen in den deutschen Soldaten!“ Schon im Herbst 1940 war in Paris 19 Ebd., S. 256. 20 Ebd., S. 256 f. 21 Zit. nach Günter Liehr, Frankreich. Ein Länderporträt, Berlin 2013, S. 51 f. Der Architekt Le Corbusier schrieb am 31.10.1940 an seine Mutter: „Wenn es ihm mit seinen Ankündigungen ernst ist, kann Hitler sein Leben mit einem großartigen Werk krönen: der Neugestaltung Europas.“
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alles wieder beim Alten, jedenfalls nach außen. 34 Theater, 14 Variétés, 6 Kabaretts, 2 Zirkusse und über 30 Kinos hatten geöffnet, die Schulen, die Börse, die Museen, die Ämter und die Fabriken hatten ihren Betrieb wiederaufgenommen. Über der Nationalversammlung, die in eine deutsche Verwaltungsbehörde umgewandelt war, hing ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Deutschland siegt an allen Fronten“, aber in Paris selbst war noch kein einziger Schuss gefallen. In den ersten achtzehn Monaten der Besatzungszeit ist kein Deutscher vorsätzlich von Franzosen getötet worden. Von 1940 bis 1944 gab es in der Seine-Metropole nur eine Demonstration, am 11. November 1940, dem Jahrestag des Waffenstillstands von 1918, als Hunderte Studenten zum Grabmal des Unbekannten Soldaten am Arc de Triomphe marschierten. Etliche wurden vorübergehend festgenommen, aber ansonsten war alles ruhig. Wenn der Militärbefehlshaber Gewalttätigkeiten nach Berlin zu melden hatte, ging es immer um betrunkene Besatzungssoldaten, die sich in den Bars um hübsche Französinnen geprügelt hatten. Über vierzig Wehrmachtsbordelle gab es in der zone occupé, davon sechs ausschließlich für Offiziere. Im nicht besetzten Teil wurden die Bordelle von der Vichy-Regierung erstmals in der französischen Geschichte (!) staatlich anerkannt. Eine Million Französinnen hat sich während des Zweiten Weltkriegs prostituiert, für Geld, Essen oder Beziehungen.22 Geistreich und ironisch sagte man im Volksmund über diese „Weiber der Kollaboration“, sie hätten nach der Invasion Frankreichs ihrerseits die Eindringlinge in einer „pénétration pacifique“ erobert. Über alledem, gleich ob ironisch oder wahr, sei nicht vergessen, dass es in dieser Zeit eine nie festgestellte und wohl auch nicht feststellbare Zahl von Deutschen und Französinnen gegeben hat, die sich innig und echt kennen und lieben gelernt haben, mit allen Problemen für beide Seiten, insbesondere wenn sich Nachwuchs einstellte.23 Zehn Millionen Französinnen und Franzosen arbeiteten direkt oder indirekt für die Deutschen. Sie produzierten Nahrungsmittel und Rüstungsgüter oder sie bauten die Verteidigungsanlagen am Atlantik einschließlich Straßen, Häusern und U-BootBunkern. Achtzig Prozent der industriellen und der landwirtschaftlichen Produktion gingen nach Deutschland, Frankreich wurde ausgesaugt.24 In einem an den Universitäten Kiel und Brest gemeinsam durchgeführten, 2010 publizierten Dissertationsvorhaben ist ein bislang völlig unbekanntes Kapitel der deutsch-französischen Marinegeschichte sichtbar geworden. Hitler wollte in Brest den ultimativen Kriegshafen schaffen, mit dem er, endlich unabhängig vom nassen Dreieck der Nordsee, das Tor zum Atlan22 Insa Meinen, Wehrmacht und Prostitution im besetzten Frankreich, Bremen 2002; Patrick Buisson, 1940–1945. Années érotiques – Vichy ou les Infortunes de la vertu, Paris 2008. 23 Ebba D. Drolshagen, Der freundliche Feind. Wehrmachtssoldaten im besetzten Europa, München 2009; Klaus Harpprecht, Arletty und ihr deutscher Offizier. Eine Liebe in Zeiten des Krieges, Frankfurt am Main 2011; Felix Hartlaub, Kriegsaufzeichnungen aus Paris, Berlin 2011. 24 Ein Beispiel von vielen: Nathalie Piquet, Charbon – Travail forcé – Collaboration. Der nordfranzösische und belgische Bergbau unter deutscher Besatzung, 1940–1944, Essen 2009.
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tik aufstoßen konnte, und die französische Marine Nationale half ihm dabei. Als eigene Einheit innerhalb des deutschen Marinearsenals Brest arbeiteten ganze Kolonnen französischer Fachleute freiwillig und ohne jeden Zwang an dem Mammutprojekt mit, das für das geschlagene Frankreich ein Albtraum war und das nichtkollaborierende Kreise zu verhindern suchten.25 Natürlich hatte der „neue“ Alltag auch seine hässlichen Seiten, und die hässlichste war der Schwarzmarkt, auf den über 90 Prozent der Bevölkerung angewiesen waren, um zu überleben. In ihm tummelten sich zwielichtige Geschäftsleute, Geheimpolizisten, Spitzel und Denunzianten, Kleinkriminelle und Prostituierte, die gesamte Halbwelt. Auch wer nicht kollaborierte, war auf ihn angewiesen; er war ein allgegenwärtiges Phänomen und der sichtbarste Ausdruck des „Systems D“, der Abkürzung von débrouiller, was so viel heißt wie sich durchmogeln oder sich zu helfen wissen. Der Schwarzmarkt war vollständig in der Hand der Deutschen, er war das Instrument, mit dem die Besatzer die Besetzten im Verhältnis der Abhängigkeit hielten, was Jean Fréville zu dem schonungslos-vernichtenden Urteil führt: „Gemeinsam war allen Laxheit, Egoismus, persönliches und Klasseninteresse, Hass und Verachtung für das Volk und eine Servilität, die (…) Menschen so weit erniedrigt, dass sie diese Haltung zu lieben beginnen.“26 In diesem Zustand tiefster Demütigung half nur eines: Amüsement. Die leichte Muse, die schönen Künste und der Literaturbetrieb im Paris der Jahre von 1940 bis 1944 sind eines der schillerndsten Kapitel in der französischen Kulturgeschichte. Picasso, Braque und Matisse malten, Karajan dirigierte und Hitlers Hofbildhauer Arno Breker, der „deutsche Michelangelo“, präsentierte sich in überlaufenen Ausstellungen. Die Zahl der Kunstgalerien verdoppelte sich binnen zweier Jahre. Die NS-Kulturpolitik in Frankreich war eindeutig weniger repressiv als in den anderen Ländern, sie war ein raffiniertes Gemisch aus Gleichschaltung, Verführung und Förderung. Camus, Sartre und schon gar nicht Simone de Beauvoir litten auch nur einen Moment Not. Die später viel umjubelte Marguerite Duras entscheidet in einer der wichtigsten Kommissionen, nämlich derjenigen für die Zuteilung des wertvollen Gutes Papier an die Verlage, drakonisch über die einzelnen Quoten und „macht sich damit wohl oder übel zur Erfüllungsgehilfin der Nazis“27. Edith Piaf kehrte rechtzeitig von einer Tournee zurück, und Simenon wurde an allen Ecken verkauft. Mit der Karriere von Maurice Chevalier ging es steil aufwärts. Die Theater erlebten „eine Art goldenes 25 Lars Hellwinkel, Der deutsche Kriegsmarinestützpunkt Brest, Dissertation, Bochum 2010; gedruckt als: Lars Hellwinkel, Hitlers Tor zum Atlantik. Die deutschen Marinestützpunkte in Frankreich 1940–1945, Berlin 2012. 26 Zit. nach Michael Kelly, Das Gespenst der Kollaboration im „après-guerre“, in: Hirschfeld und Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich, a. a. O., S. 252–265, hier: S. 261. 27 Peter Hamm, „Ich war die Zweideutigkeit in Person“. Die erstmals veröffentlichten „Hefte aus Kriegszeiten“ von Marguerite Duras zeigen die große französische Autorin in ihrer ganzen ungezähmten Radikalität, in: „Die Zeit“ vom 15.11.2007, S. 61 f.
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Zeitalter“28, die Folies-Bergère eröffneten schon zwei Wochen nach dem Einmarsch der Wehrmacht, Pigalle am 5. Juli. Die Menschen drängten sich an den Kassen; ihr einziges Problem war die letzte Metro, die um 23 Uhr verkehrte. Über die deutsche Gesellschaft Continental wurden während der Besatzungszeit 220 französische Filme produziert, natürlich vorwiegend leichte, unpolitische, ruhigstellende Kost, aber durchaus auch anspruchsvolle Streifen wie Marcel Carnés „Kinder des Olymps“. Carl Schmitt und Hans-Georg Gadamer, eine Leitfigur der deutschen Nachkriegsphilosophie, hielten Vorträge über die „Schwächen der Demokratie“, und die von Abetz veranstaltete Ausstellung „La France européenne“ zog binnen kürzester Zeit 635.000 Menschen an. Diese „enorme Freiheit“ (Mark Mazower), dieser Schein der Normalität war von Goebbels toleriert, ja inszeniert, denn mit ihm, mit der in der französischen Hauptstadt praktizierten Lebensfreude und ihrem Hedonismus konnte er sie gegen die traditionellen Werte aufbringen, die in Vichy gepredigt wurden, sozusagen die eine Zone gegen die andere aufhetzen. Während aus Vichy in Paris Wandteppiche mit idyllischen Landschaften und Bauern bei der Ernte bestellt wurden, zeigte man an der Seine abstrakte Kunst, spielte experimentelles Theater, und im Moulin Rouge tanzten die nackten Mädchen wie eh und je. Wenig überraschend kamen die intellektuellen Kollaborateure deshalb samt und sonders aus Paris, von denen die drei herausragenden, Jean Cocteau, Drieu La Rochelle und Louis Ferdinand Destouches, genannte Céline, für sich in den Blick genommen werden müssen. Jean Cocteau verkörpert exakt den dekadenten Künstlertyp, den es für Vichy mit allen Mitteln zu bekämpfen galt, denn er war Surrealist, homosexuell und morphiumsüchtig. Die „wundervolle Leichtigkeit von Tout-Paris“, die vollen Bars, Cafés und Restaurants faszinierten ihn. Er schätzt Breker über alles. In dessen überdimensionierten Aktfiguren sieht er „eine erneuerte und herrliche Rasse“. Zu Brekers großer Ausstellung in der Orangerie schreibt er eine grandiose Hommage. Etliche seiner Filme und Bühnenstücke gelangten nur durch deutsche Patronage zur Aufführung. Pierre Drieu La Rochelle, 1893 geboren, entstammt einer großbürgerlichen Pariser Juristenfamilie. Er scheitert im Studium und nimmt von 1914 bis 1918 am Ersten Weltkrieg teil. Sein Elternhaus und zwei Scheidungen von reichen Frauen ermöglichen ihm ein Luxusleben. 1934 reist er durch Deutschland. Von da an will er die deutschen Verhältnisse auf Frankreich übertragen. 1936 tritt er Doriots PPF bei, verlässt sie aber schon nach zwei Jahren wieder. Er begrüßt Pétains Nationale Revolution, weil er auf eine Wiederherstellung Frankreichs als Großmacht hofft, wird unter dem Einfluss von Abetz aber zum überzeugten Eurofaschisten. Im homme hitlérien sieht er die Vorbildfigur für den französischen Staatsbürger. Ab Dezember 1940 übernimmt er die Leitung der „Nouvelle Revue Française“ im Verlag Gallimard, die zum Sprachrohr eines Europa unter deutscher Führung wird. Er bedauert die Invasion der Westalliierten in der 28 So Alain Laubreaux in: „Je suis partout“ vom 14.1.1944, S. 1.
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Normandie, weil für Stalin damit die Kastanien aus dem Feuer geholt und die Europäer dem Bolschewismus ausgeliefert würden. Nach dem Einzug der Briten und Amerikaner in Paris nimmt er sich das Leben. Die größte, umstrittenste und in seinem Werk bis heute wirksame Figur der kollaborationistischen Intelligenz in Frankreich war jedoch Louis Ferdinand Destouches, der sich nach seiner Großmutter Céline nannte. Er wird 1894 als Sohn eines Versicherungsangestellten geboren, die Mutter ist Strickerin. 1908 geht er zu Sprachstudien nach Deutschland, 1912 in die französische Armee. Zuvor hatte er eine Lehre als Kaufmann erfolgreich beendet. Im Ersten Weltkrieg wird er so schwer verwundet, dass er ein Leben lang unter Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit leidet. 1915 arbeitet er im Generalkonsulat seines Landes in London, ab 1916 leitet er eine Plantage in Kamerun. Zurück in Frankreich macht er das Abitur und studiert Medizin, 1924 wird er Arzt. Bis 1927 ist er als medizinischer Fachgutachter des Völkerbundes in Afrika tätig, im gleichen Jahr beginnt er zu schreiben und als Armenarzt in Clichy zu praktizieren. 1932 ereignet sich mit seiner „Voyage au bout de la nuit“, der „Reise ans Ende der Nacht“ oder kurz der „Reise“, das „literarische Bombenattentat“, von dem bereits kurz nach dem Erscheinen des Buches die Rede ist.29 In Deutschland ist erst 2004 die ungekürzte, authentische Ausgabe publiziert worden, allerdings als 102. Auflage vorher gekürzter Fassungen.30 Die Fachwelt war sich schnell einig, dass mit „dem erbarmungslosesten Roman des 20. Jahrhunderts“ ein neues Kapitel in der Literaturgeschichte aufgeschlagen wurde.31 „Ein wilder Aufschrei gegen die Verkommenheit der Welt (…) und den schönen Schein des Bürgertums“, das sich auf Kosten der Armen bereichert. Céline gilt bald neben Proust als bester französischer Romancier des 20. Jahrhunderts, aber er ist ein „verkrüppelter Riese“32, voller Antisemitismus und Rassenhass. Nachdem er 1936 in die Sowjetunion gereist ist, spricht er jedem politischen System die Fähigkeit ab, gesellschaftliche Verhältnisse bessern zu können. Am schlimmsten aber sieht es für ihn in Frankreich aus.33 Als er 1937 von einem jüdischen Chefarzt aus der Klinik von Clichy entlassen wird, gibt es kein Halten mehr: Überall ist eine jüdische Weltverschwörung am Werk. Sein Verfolgungswahn steigert sich zur unheilbaren Paranoia, seine einzige und letzte Hoffnung ist Deutschland, weil es sich zur Rassenauslese bekennt. Er verfasst drei Hetzschriften, die vom „Stürmer“ begierig aufgesogen werden und 1939 in der Juliausgabe des Blattes mit dem Aufmacher „Der Warner – Der französische 29 Christoph Bünger, Der Hass-Trompeter von Courbevoie. Céline und die unbeherrschbaren Mächte, in: „Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“, Nr. 3/2005, S. 66–68, hier: S. 67. 30 Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht, Reinbek bei Hamburg 2004. 31 Ulf Geyersbach, Louis Ferdinand Céline. Biographie, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 22 ff. 32 Zit. nach Colin Nettelbeck, Céline, in: Hirschfeld und Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich, a. a. O., S. 198–212, hier: S. 198. 33 Ulrich Bielefeld, Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich, Hamburg 2004.
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Arzt Céline sagt das blutige Ende Frankreichs voraus“ erscheinen. Als die Deutschen (endlich) im Land sind, fordert er: „Den Juden an den Galgen! Und sofort!“ Stülpnagel und Speidel ist der Mann unheimlich. Er arbeitet wieder in der Pariser Banlieu und behandelt dort arme, auch jüdische Patienten ohne jedes Honorar. Der Mann ist rätselhaft. Noch sein letzter Roman „Rigodon“, einen Tag vor seinem Tod beendet, trieft vor Rassismus. Er sucht und findet den Kontakt zu Hermann Bickler, dem Leiter des deutschen Geheimdienstes für Westeuropa, und fordert eine „Armée franco-allemande“. Sein großes Ziel ist eine europäische „Partei der sozialistischen Arier“, zu keinem Zeitpunkt jedoch hat er einen Juden denunziert oder verraten. Weil er weiß, was ihm droht, flieht er im Juni 1944 über Deutschland nach Dänemark, in dem festen Bewusstsein, dass Frankreich wegen der nur „halbherzigen“ Kollaboration die Chance zur Wiedergeburt für immer verspielt hat. In Dänemark wird er wegen Landesverrats verurteilt und inhaftiert, aber nicht ausgeliefert, wie es die französische Regierung fordert. Erst ein Jahr nach seiner Amnestie 1950 kehrt er in sein Heimatland zurück. Die westliche Zivilisation ist für ihn untergegangen. Der Verkauf seiner Bücher ist inzwischen verboten, er muss wieder als Armenarzt arbeiten. Doch durch die entfesselte Wucht seines Schreibstils fasziniert er bald wieder eine breite Leserschaft, und die „Reise“ erlebt im Ausland eine Auflage nach der anderen. Sartre, der 1938 als Epigraph für seinen ersten Roman eine Passage aus Célines „L’Eglise“ gewählt hatte, behauptete im Herbst 1945, dass Céline von den Deutschen bezahlt worden sei, ein Vorwurf, „der damals tödliche Folgen hätte haben können.“34 Frankreich weiß bis heute eigentlich nicht so richtig, wie es mit dem „Monster“ umgehen soll, hat es letztlich aber doch rehabilitiert. Als kurz vor seinem 40. Todestag am 1. Juli 2001 völlig überraschend das Originalmanuskript der „Reise“ auftauchte, das der Autor 1943 für 1000 Francs und einen kleinen Renoir an einen Kunsthändler verkauft hatte, reihte sich die französische Nationalbibliothek in die Reihe der Bieter ein und ersteigerte es für die bis dahin noch nie gezahlte Summe von 12 Millionen Francs. Schon zu Célines 50. Todestag aber sah alles schon wieder anders aus. In der amtlichen Broschüre, die das Kultusministerium jedes Jahr anlässlich der „nationalen Feierlichkeiten“ herausgibt, tauchte für 2011 auch Céline auf, weil er sich „sorgfältig von der offiziellen Kollaboration ferngehalten habe“ (!). Sofort war Serge Klarsfeld zur Stelle, und die Broschüre wurde unter dem wütenden Aufschrei Bernard-Henri Lévys und Alain Finkielkrauts von Kulturminister Frédéric Mitterrand wieder zurückgenommen. Als der Pariser Literaturverlag Gallimard 2016 ankündigte, Célines antisemitische Pamphlete einer (wissenschaftlich) interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, pfiff der Gegenwind durch die Pariser Gassen. Der Verlag zog sein Vorhaben zurück. Ergo: „Die Causa Céline ist unlösbar.“35
34 Nettelbeck, Céline, a. a. O., S. 212. 35 Iris Radisch, Das Monster Céline bleibt unverdaulich, in: „Die Zeit“ vom 27.1.2011, S. 56.
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Auch in Vichy begann der Alltag. Es sollte, so Pétain, der Alltag der Nationalen Revolution werden. An die Stelle der Départements und Arrondissements, Schöpfungen der Grande Révolution, traten die Dörfer, Gemeinden und Pfarreien, das „kleine Vaterland“, an die Stelle des Bistros, in dem Alkohol ausgeschenkt wurde, trat die Kirche, in der es lediglich Messwein gab. Das eigentliche Verbindungselement zur Bevölkerung sollte die am 29. August 1940 unter der Leitung des Rechtsextremen Xavier Vallat geschaffene Légion française des combattants werden. Die in ihr versammelten alten und jungen Frontkämpfer sollten die „Augen und Ohren des Marschalls“ in seiner Zone sein, doch schon hier wurde er von den Deutschen in die Schranken gewiesen. Am 22. September, aber vordatiert auf den 27. August, wurde die angeblich oder tatsächlich paramilitärische Légion verboten. Spätestens jetzt war dem überzeitlichen und jeder rationalen Analyse enthobenen Wesen Pétain klar, dass eine ganz konkrete Handlung hermusste, um mit einem Vertrauensvorschuss in Berlin mehr administrative Autonomie zu gewinnen. Über sein Treffen und den Händedruck mit Hitler am 24. Oktober 1940 in Montoire-sur-Loire ist viel geschrieben worden. Die einen sprechen vom „diplomatischen Verdun“, die anderen von der Rolle Lavals, der dem Marschall Beine gemacht habe. „Das Steuer wurde auf jeden Fall herumgerissen und das politische Vokabular Frankreichs mit einem neuen Wort belastet, das bald alle faulen Kompromisse, jeden Verrat abdecken sollte“36. Wörtlich erklärt Pétain in seiner sechs Tage später gesendeten, überall mit großer Resonanz aufgenommenen Radioansprache, dass er „zur Aufrechterhaltung der in zehn Jahrhunderten gewachsenen Einheit Frankreichs im Rahmen einer konstruktiven Rolle in der neuen politischen Ordnung Europas den Weg der Kollaboration einschlagen“ werde. Damit hatte das Wort seine offizielle Weihe. Aus der alltäglichen Kollaboration als dem Sich-permanent-Durchschlängeln, Kompromisse-Machen und Nischen-Besetzen war die Staatskollaboration geworden, mit der man viele Hoffnungen verband. Tatsächlich ist bei dem Gipfeltreffen von Montoire nicht viel Zählbares herausgekommen. Weiterhin bleiben über eine Million französische Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter in Deutschland, umgekehrt weigert sich Vichy-Frankreich, England den Krieg zu erklären, und Pétains Hoffnung, in Verhandlungen über einen Friedensvertrag einzutreten, in dem ein Ende der Besatzung avisiert wird, zerschellt an Hitlers tauben Ohren. Keine drei Wochen nach Montoire werden gegen den ausdrücklichen Rat von Abetz und Stülpnagel mehrere Hunderttausend französischstämmige Lothringer aus ihrer Heimat gewiesen, es kommt in beiden Zonen zu den ersten offenen Unmutsbekundungen, und der Mythos gleichberechtigter Staatskollaboration ist schnell dahin. Der Marschall greift daraufhin zu einer viel umrätselten brachialen personellen 36 Du Moulin de Labarthète, 1946, zit. nach Baruch, Das Vichy-Regime, a. a. O., S. 75; vgl. zur breiteren Einordnung: Birgit Kletzin, Trikolore unterm Hakenkreuz. Deutsch-französische Collaboration in den diplomatischen Akten des Dritten Reiches, Opladen 1996; zusammenfassend: Johannes Willms, Frankreich, München 2009, S. 75–95.
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Maßnahme. Wohl auch, um zu zeigen, wer Herr im Haus ist, enthebt er am 13. Dezember 1940 Pierre Laval aller Ämter und stellt ihn zusätzlich unter Arrest, Lavals Positionen bleiben vorerst unbesetzt. Insbesondere dessen reger Pendelverkehr mit dem Pariser Hotel „Majestic“ hatte Pétain von Anfang an missfallen. Dort war Best bestrebt gewesen, in der Nordzone ein (schein-)republikanisches und vor allem laizistisches Gegengewicht zum katholisch-klerikalen Süden zu schaffen, nicht zuletzt auch deshalb, um das Land weiter zu spalten. Dass der kollaborierende gallische Hahn alles andere als gleichberechtigt war bzw. sein sollte, demonstrierten die Deutschen insbesondere im Bereich der ideologischen „Partnerschaft“: Das Entstehen einer ganz Frankreich umfassenden radikalen und rassistischen Massenbewegung – das Spezifikum des Faschismus schlechthin – wurde à tout prix verhindert. Christian Message, der „Führer“ der französischen nationalsozialistischen Partei, sieht sich am 9. Januar 1941 verhaftet und vor ein deutsches Militärgericht gestellt. Was stattdessen gefördert wird, sind die miteinander rivalisierenden kollaborationistischen und ultrakollaborationistischen Gruppierungen in Paris, denen das Régime Pétains nicht kollaborationsbereit genug ist. Eine von ihnen ist das Rassemblement national populaire (RNP) unter Marcel Déat. Déat wird 1894 geboren. 1914 tritt er in die SFIO ein, beginnt das Philosophiestudium an der Ecole Normale Supérieure, das er 1921 abschließt, und zieht in den Ersten Weltkrieg, aus dem er mit dem Kreuz der Ehrenlegion zurückkehrt. Er gilt als die große Hoffnung der Partei und ist für viele bereits der „natürliche“ Nachfolger von Léon Blum.1926 wird er erstmals in die Assemblée Nationale gewählt und 1933 wegen Rechtslastigkeit aus der SFIO ausgeschlossen. In den Staatskrisen von 1934 und 1936 schlägt er vor, zur Wiedererlangung des sozialen Friedens die Methoden des Nationalsozialismus anzuwenden, untermauert mit dem berühmten Ausruf „Lieber Hitler als Blum!“. Am 4. Mai 1939 veröffentlicht er in der Tageszeitung „L’Œuvre“, deren Leitung er bald drauf übernimmt, den berühmten Artikel „Faut-il mourir pour Dantzig?“, in dem er eine militärische Intervention zugunsten Polens ablehnt, weil der französische Bauer kein Interesse daran habe, sich für die „Pollaken“ („Poldèves“) zu schlagen. Voll und ganz hinter Laval stehend und mit Billigung der deutschen Botschaft in Paris beginnt Déat im Sommer 1940 mit dem Aufbau einer nationalen Einheitspartei. Einen Tag nach der Entlassung seines Schutzpatrons in Vichy wird er von der französischen Polizei verhaftet, jedoch auf Initiative von Abetz wieder freigelassen. Mit dem Geld des Kosmetikkonzerns L’Oréal gründet er am 1. Februar 1941 das RNP als offizielle Einheitspartei Frankreichs, die es jedoch auf nicht mehr als 20.000 Mitglieder bringt, in der Südzone gar nicht operieren darf und sich in Wirklichkeit zur rabiaten Opposition gegen das „reaktionäre“ Vichy entwickelt.37 Von Anfang an krankte das RNP an der tief gehenden, bis zu Todeshass und Verachtung reichenden Rivalität zwischen Déat und 37 Reinhold Brender, Kollaboration in Frankreich im Zweiten Weltkrieg. Marcel Déat und das Rassemblement national populaire, München 1992; im Ergebnis etwas magerer: Reinhard Schwar-
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Eugène Deloncle, der dem Rassemblement als eines von fünf Direktoriumsmitgliedern angehörte. Deloncle hatte 1936 mit dem Comité secret d’action révolutionnaire, das unter dem Namen Cagoule („Mönchskappe“) bekannt wurde und auf seinem Höhepunkt 170.000 Mitstreiter verzeichnen konnte, eine üble rechtsterroristische Schlägertruppe aufgebaut und bis zur Ankunft der Deutschen überwiegend im Gefängnis gesessen. Bereits im engen Benehmen mit der SS bildet er das Mouvement Social Révolutionnaire (MSR), das er – mit dem Ziel der Machtübernahme – in das RNP eingliedert, in dem sich seine cagoulards inzwischen bewegen wie Fische im Wasser. Analog zu Mussolinis Marsch auf Rom plant er zusammen mit ihnen sogar einen Marsch nach Vichy, um Lavals Wiedereinsetzung zu erzwingen, aber das Hotel „Majestic“ stellt sich dazwischen. Man brauchte Pétain, denn er garantierte die Ruhe im Land. Eine kaum geringere Feindschaft verband Déat mit Jacques Doriot, dem führenden Kopf des Parti populaire française (PPF). Abetz stand dem ehemaligen Kommunisten, der über kaum mehr Anhänger als das RNP verfügte, äußerst kritisch gegenüber, aber Doriot genoss die Rückendeckung der Pariser SS. In der unbesetzten Zone konnte er nur mit einem Tarnunternehmen tätig werden, nicht jedoch mit seiner PPF. Auch er träumte von der großen Einheitspartei, natürlich mit ihm an der Spitze, und von einem gemeinsamen Europa unter deutsch-französischer Führung, und auch er war genauso wie Déat, Pierre Constantini mit seiner Ligue française und zahlreiche weitere Splittergruppen nichts anderes als ein Instrument in der Hand der Besatzer. Hitler hatte Abetz bereits im August 1940 angewiesen, mit der Staatskollaboration in Vichy gute Kontakte zu pflegen, die Kollaborationisten in Paris aber „wechselseitig auszuspielen“ – ein Geschäft, das diese oft auch ganz ohne deutschen Einfluss erledigten. Divide et impera. Doriots große Stunde schlägt, als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 aus einem geltenden Nichtangriffspakt heraus die Sowjetunion überfällt. Schlagartig wird nicht nur ihm klar, dass dies für die Kollaborationisten die Chance bietet, aus dem faktischen Sektierertum zu treten. Henri Amouroux urteilt: „Am Tage des Einmarsches der Deutschen in Rußland findet die Kollaboration ihr wahres Format.“ Endlich hatte der „Kreuzzug“ gegen den Bolschewismus begonnen! Doriot schickt noch am 22. Juni eine Depesche an Pétain und fordert, der Wehrmacht eine Legion französischer Freiwilliger an die Seite zu stellen. Déat ruft schon am nächsten Tag in Paris eine „Légion des vereinigten Europas“ ins Leben und wird von Stülpnagels Leuten zurückgepfiffen. Hitlers Überfall machte es sogar möglich, dass sich Doriot, Déat und Deloncle – vorübergehend – vertrugen. Letzterer informiert am 4. Juli das „Majestic“, dass in Vichy keinerlei Einwände gegen die Konstituierung einer Légion des Volontaires Français contre le Bolchevisme (LVF) erhoben würden, obwohl Pétain die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion erst am 30. Juni, auffallend spät, abgebrochen hat. Hitler seinerseits spricht noch am 16. Juli „von einer unverschämten Vichy-Zeitung, (die) den Krieg gegen die Sowjetzer, Vom Sozialisten zum Kollaborateur. Idee und politische Wirklichkeit bei Marcel Déat, Pfaffenweiler 1987.
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union (als) einen Krieg Europas“ bezeichne, so als ob „die Nutznießer dieses Krieges nicht allein die Deutschen sein dürften“.38 Wenn die Illusion und (Selbst-)Täuschung, der sich die Franzosen mit der Kollaboration hingaben, irgendwo deutlich geworden ist, dann hier. Tatsächlich haben in der LVF nicht mehr als 16.000 Mann gedient, ohne Marseillaise, in deutscher Uniform und mit einer nur unscheinbaren Trikolore am Unterärmel. Diese verschwindend geringe Zahl darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich im Land selbst 400.000 Franzosen als Mitglieder in der Waffen-SS, als von Deutschland bezahlte Spitzel, als „Géstapistes“ oder als Parteigänger der RNP und der PPF massiv mit dem Nationalsozialismus identifiziert haben. Als das erste Freiwilligenkontingent der LVF am 4. September von Versailles aus an die Ostfront zieht, ist Doriot dabei. In der Südzone hatte er für ihre Aushebung nicht werben dürfen, weil sie für Pétain eine Privatangelegenheit der Pariser Kollaborationisten war. Und Frieden brachte sie in deren Reihen schon gar nicht. Deloncle, Vorsitzender des LVF-Exekutivkomitees, versucht Déat mit einem fingierten Verkehrsunfall ums Leben zu bringen, und Déat, schwer verletzt, betreibt vom Krankenbett aus erfolgreich dessen Ausschluss aus dem RNP, der daraufhin merklich an Bedeutung verliert. Doriot wird währenddessen an der Ostfront zum Leutnant befördert und gewinnt für seine PPF damit die lang ersehnte Bewegungsfreiheit in beiden Zonen. Pétain besaß nach der Entlassung Lavals im Etat français eine Machtfülle, die den eigentlichen Herrschern im Land ein Dorn im Auge war. So kam er nach zweimonatiger Vakanz nicht umhin, am 10. Februar 1941 mit Admiral François Darlan einen neuen Vizepräsidenten des Ministerrats zu ernennen, der als gleichzeitiger Innen-, Außen-, Marine- und Informationsminister zum neuen starken Mann in Vichy avancierte. Wenige Tage zuvor, am 21. Januar, war ein Nationalrat (Conseil national) geschaffen worden, der aber nie zu einer regelrechten Sitzung zusammengetreten ist. Mit der Ernennung von Regierungskommissaren und Regionalpräfekten, die mit ihren „Säuberungsbefugnissen“ Vichy zum Überwachungsstaat machten, sowie mit der Unterzeichnung der „Pariser Protokolle“ vom Mai 1941, mit denen die deutschen Truppen in Nordafrika militärisch aktiv unterstützt und der Kriegseintritt gegen England und die Vereinigten Staaten in Aussicht gestellt wurde, zeigte Darlan bald sein wahres Gesicht. Natürlich ging es auch hier, wie in Montoire, um den Versuch, das Waffenstillstandsabkommen durch einen Friedensvertrag zu ersetzen, aber je mehr dies an den NS-Machthabern scheiterte, umso mehr drehte sich der Wind. Mit dem Kollaborationsalltag als Kuschelkurs war es langsam, aber sicher vorbei, und aus den Deutschen wurden „die Schweine“ (les boches). Pétains Finanzminister Bouthillier schreibt: „ Die öffentliche Meinung, die anfangs derart herzlich, sogar begeistert gewesen ist, wurde gekränkt, verletzbar, misstrauisch und schließlich allmählich feindselig.“39 Die Stimmung kippte, 38 Protokoll-Mitschrift Martin Bormanns vom 16.7.1941, zit. nach Müller, An der Seite der Wehrmacht, a. a. O., S. 124. 39 Yves Bouthillier, Le drame de Vichy, Bd. II, Paris 1950, S. 7.
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und zwar im ganzen Land, und ein Phänomen gewann Konturen, von dem (trotz späterer gigantischer Legendenbildungen) bis dahin nicht auch nur ansatzweise die Rede gewesen sein konnte: die Résistance. Sie war von Anfang an mit einem doppelten Makel behaftet: die weit überwiegende Mehrzahl der französischen Widerstandskämpfer waren Kommunisten, und diese, stalin- und moskauhörig, begannen mit ihrem Kampf erst, nachdem Hitler den Pakt mit der Sowjetunion gebrochen hatte.40 In den frühen Morgenstunden des 21. August 1941 erschießt der Kommunist Pierre Georges, der später als Colonel Fabien in den Untergrund geht, an der Pariser Metrostation „Barbès“ den deutschen Marinehilfsassistenten Moser, der sich auf dem Weg zur Arbeit befindet. Es ist der Wendepunkt sowohl in der Besatzung wie auch in der deutsch-französischen Kollaboration. Der Krieg kehrt nach Paris zurück. Verantwortlich hierfür sind die brutalen „Sühnemaßnahmen“, vor denen Stülpnagel anfänglich gewarnt hatte. Best erwog im Mai sogar noch, die Festnahme von Geiseln in der zone occcupé gänzlich zu untersagen. Davon war jetzt nicht mehr die Rede. Am 22. August wurden alle sich in Haft befindlichen Franzosen kollektiv zu Geiseln erklärt, und als sich am 3. September ein erneutes Attentat ereignete, ließ Stülpnagel „schon allein aus Prestigegründen“ drei inhaftierte Kommunisten erschießen. Daraufhin schaltete sich Hitler entrüstet ein: jeder deutsche Soldat sei wohl „viel mehr wert als drei französische Kommunisten. (…) Beim nächsten Mordanschlag seien mindestens 100 Erschießungen sofort vorzunehmen“41. Stülpnagel war klar, dass das Prinzip der „Aufsichtsverwaltung“ an seine Grenze stieß, und kabelte zurück, dass die Loyalität der gesamten französischen Bevölkerung auf dem Spiel stehe. Nun hieß es aus Berlin: „Die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und dem betroffenen Land sind für das Verhalten der militärischen Besatzungsbehörden nicht maßgebend.“ Stülpnagel warnt mehrfach vor „der Anwendung polnischer Methoden auf Frankreich“, das Ansehen des „Majestic“ in der Öffentlichkeit verblasst von Tag zu Tag, es beginnt ein wahrhaft „makabres Feilschen um Menschenleben“, und am 15. Januar 1942 unternimmt Stülpnagel den letzten Versuch, indem er telegraphiert: „Massenerschießungen kann ich (…) nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, noch vor der Geschichte verantworten“. Unmittelbar nachdem er in der Antwort erfahren hatte, dass ein solches Verhalten „der Grundeinstellung des Führers nicht Rechnung trage“42, stellte er sein Amt zur Verfügung. Insgesamt sind bis zum 31. Mai 1942 fast 500 Geiseln erschossen worden, trotz schärfster Proteste der Kollaborationsregierung in Vichy, die aber sehr 40 Vgl. Klaus Kellmann, Pluralistischer Kommunismus?, a. a. O., S. 236. 41 Zit. nach Herbert, Best, a. a. O., S. 301. Ernst Jünger verfasste in dem Zeitraum heimlich eine Denkschrift über die Geiselerschießungen, zu denen er später sagte: „Man kann eigentlich nur Fehler machen, ob man handelt oder nicht handelt“. Ernst Jünger, Zur Geiselfrage. Schilderung der Fälle und ihrer Auswirkungen, Stuttgart 2011; vgl. auch Cécile Desprairies, Paris dans la collaboration, Paris 2009 und Michèle Cointet, Nouvelle histoire de Vichy (1940–1945), Paris 2011. 42 Sämtliche Zitate nach Herbert, Best, a. a. O., S. 302 ff.
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wohl bereits einen Tag nach dem Anschlag an der „Barbès“ der Einrichtung von Sonderkammern zugestimmt hatte, die eine schnelle Aburteilung von „Terroristen“ gewährleisten sollten. Letztlich ist der Etat français damit auch in der Nordzone zum Helfershelfer der NS-Repression geworden. Neuer Militärischer Befehlshaber in Frankreich wird Carl-Heinrich von Stülpnagel, der Vetter des zurückgetretenen. In Vichy war in den frühen Januartagen des Jahres 1942 ein merkwürdiger Mann eingetroffen: verschüchtert, stolz, verschlossen und unendlich umtriebig. Am 10. Dezember 1941 war ihm nach achtzehn Monaten Haft im dritten Versuch die Flucht aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager gelungen, barfuß durch den eiskalten Schnee, und er wirkte so, als ob ihm die Gewehrkugeln der Lageraufseher immer noch um die Ohren pfiffen. Sein Name war François Mitterrand, geboren am 26. Oktober 1916 als Sohn eines Bahnhofsvorstehers in der tiefsten französischen Provinz, in Jarnac, mitten in der Charente. Er darf als einziges der acht Kinder studieren und muss das Fach wählen, das ihn am wenigsten interessiert: Jura. 1934 kommt er im aufgewühlten Paris an und engagiert sich in der extremen Rechten. Am 1. Februar 1935 sieht man ihn auf einem Foto, wie er bei einer Veranstaltung des Croix de Feux im Quartier Latin gegen die métèques, die missliebigen Ausländer, demonstriert. 1940 ist er sofort an der Front. Er wird wegen Tapferkeit vor dem Feind mehrfach befördert, schwer verwundet und gerät in Kriegsgefangenschaft. In einer Lagerzeitung wird er als Mann bezeichnet, „der vielerlei Gestalt annehmen kann.“43 Nachdem er wieder französischen Boden erreicht hat, findet er Unterschlupf bei Eisenbahnern, die allesamt in der kommunistischen Partei sind. Deren Disziplin und Gemeinschaftsgeist imponieren ihm so sehr, dass er 1981, nachdem er zum Staatspräsidenten gewählt worden ist, eine Koalition mit der KPF eingeht. Aber auch die Nationale Revolution des Marschalls Pétain imponiert ihm: Er erhält für seine erfolgreiche Flucht eine kleine Prämie und Ausweispapiere; die bisherigen hatte er mit dem Kartoffelstempel gefälscht. Die immer wieder geäußerte Frage, warum er sich nach seiner Rückkehr aus Deutschland nicht der Résistance, sondern der Kollaboration angeschlossen hat, ist so nicht formulierbar, weil es noch keinen nennenswerten Widerstand gab, sie beruht aber auch auf einer (bewussten?) Fälschung Mitterrands, der bis kurz vor seinem Tod das Erstere behauptet hat.44 In Vichy selbst steht er nicht alleine da, sondern besitzt Kontakte bis hinauf zu Admiral Darlan, vor allem aber zur (verbotenen) rechtsterroristischen Cagoule Eugène Deloncles, mit dem er weitläufig verschwägert ist. Er erhält die Aufgabe, für ein Monatsgehalt von 2100 Francs die Karteien der „Gegner der Nation“ zu führen, das heißt, er wird (im Alter von 25 Jahren) der Verfassungsschutzchef der Südzone. Anschließend leitet er das Kommissariat für die Eingliederung der Kriegsgefangenen, das im Wesentlichen 43 Zit. nach Franz-Olivier Giesbert, François Mitterrand. Die Biographie, Berlin 1997, S. 27. 44 Erst 1994 hat Mitterrand mit dem von ihm selbst initiierten und autorisierten Buch von Pierre Péan, Eine französische Jugend. François Mitterrand 1934–1947, München 1995, mit diesen Legenden aufgeräumt.
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den Landsleuten in Deutschland Fluchtwerkzeuge, Karten und gefälschte Papiere zuschickt. Er selbst hilft beim Packen der Pakete. Die falschen Pässe sind zumeist hinter einem Pétain-Bild versteckt. „Langsam und beschwerlich“45 beginnt der Loslösungsprozess von Vichy. Eine Zeit lang hat er wohl tatsächlich ein Doppelspiel getrieben, tagsüber am Schreibtisch des Marschalls und nachts im Dickicht der Résistance. Am 11. November 1942 kündigt er. Ein Jahr später erhält er die Francisque, den höchsten Verdienstorden des Etat français, dessen Verleihung mit dem folgenden Eid verbunden ist: „Ich lege mein Leben in die Hände Marschall Pétains, wie dieser seine Person für die Interessen Frankreichs hingegeben hat.“ Aber die Auszeichnung kommt zu spät. Mitterrand ist unter dem Decknamen „Morland“ bereits abgetaucht. Als die Gestapo am 11. November 1943 seine Wohnung in Vichy durchsucht, hält er sich bereits in London auf. Bis zu seinem Lebensende am 8. Januar 1996 hat er es sich nicht nehmen lassen, jedes Jahr am Todestag des Marschalls einen Kranz an dessen Grab abzulegen.46 Was er wohl am meisten an ihm geschätzt hat, war die Gleichzeitigkeit, das doppelte Spiel aus Kollaboration und Kollaborationsverweigerung. Die größte persönliche Niederlage hat Pétain nicht durch die Hand der Deutschen erlitten, sondern sich selbst zugefügt, indem er Léon Blum und Edouard Daladier als vermeintlich für den Zusammenbruch von 1940 Verantwortliche in einem groß angelegten Schauprozess am 19. Februar 1942 vor Gericht stellen ließ. Binnen weniger Tage drehten die beiden Angeklagten in der „Tragikomödie von Riom“ die Fronten um und wiesen nach, dass nicht sie, sondern die starre, in der Verteidigungsstrategie der Maginot-Linie gipfelnde Politik der 1920er und frühen 1930er Jahre, für die nicht zuletzt Pétain verantwortlich war, in die Katastrophe geführt hatte. Am 14. April wird das Verfahren auf Befehl Hitlers sine die vertagt, Blum und Daladier werden an die Deutschen ausgeliefert, und Pétains Stern beginnt zu sinken. Schon vier Tage später, als er auf Druck aus Berlin der Rückkehr Lavals zustimmen muss, wird dies mehr als sichtbar. Laval übernimmt neben der neu geschaffenen Position des Ministerpräsidenten auch das Außen-, Innen- und Informationsministerium. Er ist der „neue“ starke Mann in Vichy, dessen einziges Ziel darin besteht, den Staatschef auszuschalten, und der sich aus diesem Grund nur mit seinen engsten Getreuen umgibt. René Bousquet, der erst 33-jährige Polizeichef, ist einer von ihnen. Mit der Wiedereinsetzung von Laval geht auch der Zweikampf zwischen Doriot und Déat in seine nächste Runde. Laval weigert sich, Déat einen Ministerposten zu geben, schwächt dadurch dessen RNP, und Déat träumt nach wie vor von der ganz Frankreich umfassenden, eng an die NSDAP angelehnten Einheitspartei, deren Gründung er im Herbst 1942 als Front Révolutionnaire Nationale (FRN) ankündigt. Wie gehabt ist für deren Erfolg oder Misserfolg die Integration von Doriots PPF entscheidend, der nicht zu Unrecht behauptete, innerhalb der 45 Giesbert, François Mitterrand, a. a. O., S. 46. 46 Vgl. Klaus Kellmann, Die Ära Mitterrand. Eine Bilanz, in: „Zeitschrift für Parlamentsfragen“, Nr. 3/1995, S. 447–470.
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kollaborationistischen Gruppen des Nordens eine führende Rolle zu spielen. Zu Doriots Schicksalstag wurde der 21. September 1942, als Ribbentrop Abetz darüber unterrichtete, dass Hitler sich für Laval als den „zukünftigen Mann“ in Frankreich entschieden hatte. Damit war Doriot endgültig von den Schalthebeln der Macht entfernt und diente der Wehrmacht nur noch als nützliches Instrument an der Ostfront. In Paris herrschen für viele immer noch „Les beaux jours des Collabos“ (Henri Amouroux).47 Im Leitartikel der Zeitung „L’Illustration“ vom 21. Februar 1942 heißt es: „Wir können und wir müssen uns in der Reform unserer Mentalität und unserer Sitten von den Beispielen des Nationalsozialismus inspirieren lassen.“48 Dafür hatten die Deutschen alles Erdenkliche getan. Im „Majestic“ leitete ein großer blonder Offizier namens Gerhard Heller die „Arbeitsgruppe Schrifttum“. Im Herbst 1941 hatte er etliche französische Geistesgrößen zu einer Reise nach Deutschland eingeladen. Goebbels führte im Hintergrund die Regie, zögerte allerdings, die Franzosen auch zum europäischen Dichtertreffen in Weimar zu bitten, das einer Huldigung an die – auch kulturelle – Vormachtstellung des Dritten Reiches auf dem Alten Kontinent gleichkam. Hier setzte sich Heller durch. Höhepunkt war die Gründung der „Europäischen Schriftsteller-Vereinigung“, einer Art „nazistischem Gegen-PEN“ (Klaus Harpprecht)49, deren Vorsitzender Hans Carossa war. Die Besucher gehörten zu einer internationalen Delegation von 31 Schriftstellern aus 14 Ländern, die überall umschmeichelt, umworben und großzügig bewirtet wurden. In Wien wurden sie durch Baldur von Schirach in exzellentem Französisch begrüßt, in Salzburg sah man „Die Hochzeit des Figaro“. Marcel Jouhandeau notierte: „Ich für meinen Teil fühle mich unseren ehemaligen deutschen Feinden instinktiv tausendmal näher als all’ diesem vorgeblich französisch-jüdischen Pack“, und Jacques Chardonne folgerte kurz und bündig: „Der Nationalsozialismus macht den Menschen frei.“50 Inzwischen waren auch Literaten der allerersten Garnitur zu der Equipe gestoßen, nämlich Pierre Drieu La Rochelle und Robert Brasillach. Brasillach, 1909 in Perpignan geboren, besucht die Ecole Normal Supérieure und wird einer der wichtigsten Mitarbeiter von Maurras’ Zeitschrift „L’Action Française“. Er 47 Gleichzeitig der Titel des dritten Bandes seiner „Grande histoire des Français sous l’occupation 1939–1945“, Paris 1978. 48 Zit. nach Henri Amouroux, Vom Geist der „Kollaboration“, in: Franz Knipping und Ernst Weisenfeld (Hg.), Eine ungewöhnliche Geschichte: Deutschland und Frankreich seit 1870, Bonn 1988, S. 129–138, hier: S. 130. 49 Klaus Harpprecht, Pilgerfahrt nach Weimar. Französische Autoren unterwegs im „Dritten Reich“ – und ein Lager-Skizzenbuch, in: „Die Zeit – Literatur“ vom 4.10.2001, S. 84, Rezension zu: François Dufay, Die Herbstreise. Französische Schriftsteller im Oktober 1941 in Deutschland – Ein Bericht, Berlin 2001; vgl. Hellmut Seemann (Hg.), Europa in Weimar. Visionen eines Kontinents, Göttingen 2008. 50 Zit. nach Romain Leick, Stich in die Seele der Nation, in: „Der Spiegel“, Nr. 1/2001, S. 124–127, hier: S. 126; Wolf Scheller, Das trübe Licht der schwarzen Jahre. Französische Literaten im Dienst der Nazi-Propaganda, in: „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“, Nr. 1–2/2014, S. 82–85.
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besucht 1937 den Nürnberger Parteitag der NSDAP und wendet sich enttäuscht von dem „antideutschen“ Maurras ab. Er wird Chefredakteur der Zeitung „Je suis partout“ und nennt Frankreich „une société moribonde“. 1940 gerät er in deutsche Gefangenschaft, wird aber aufgrund offizieller Interventionen wieder entlassen, um im Februar 1941 Generalkommissar für das französische Filmwesen in Vichy zu werden. „Je suis partout“, von Doriot gestützt, erreicht eine Auflage von 300.000 Exemplaren und ist in beiden Zonen das wichtigste Organ der Kollaboration. Mehr und mehr stört Brasillach sich an der Einflussnahme der Deutschen und verlässt 1943 die Redaktion, das ändert aber nichts daran, dass die Franzosen für ihn „ein absurdes und mittelmäßiges Volk“ bleiben. Bis zuletzt begrüßt er die Niederlage von 1940, lobt die Gefangenschaft in Deutschland als „Jungborn“ und will den Nationalsozialismus als politisches Modell auf Frankreich übertragen.51 Am 19. Januar 1945 wird er vom Cour de Justice in Paris nach nur einer einzigen Sitzung ohne Zeugenanhörung und trotz der Gnadengesuche von 55 französischen Intellektuellen, unter ihnen Paul Claudel, Jean Anouilh, Paul Valéry, Jean Cocteau, Albert Camus und François Mauriac, wegen „geistigen Landesverrats“ zum Tode verurteilt und hingerichtet; de Gaulle lehnt eine Begnadigung kategorisch ab. Als ein Zuhörer das Todesurteil mit den Worten „C’est une honté!“ kommentierte, antwortete Brasillach ihm: „C’est un honneur!“52 Stülpnagels Entlassung hatte im „Majestic“ eine Entwicklung eingeleitet, die nichts Gutes verhieß. Am 9. März 1942 wurde per Führerbefehl die Einsetzung eines Höheren SS- und Polizeiführers im besetzten Frankreich bekanntgegeben, zu dessen Aufgaben auch „die Sühnemaßnahmen gegen Verbrecher, Juden und Kommunisten“ gehörten. Die Position wurde mit Karl Albrecht Oberg besetzt, den Heydrich am 6. Mai persönlich in sein Amt einführte und der ab sofort gegenüber Stülpnagels Cousin und Nachfolger sowie gegenüber Best und Abetz der starke Mann war. Mit Oberg begann (in beiden Zonen) die aggressive Phase der Judenverfolgung, was nicht heißt, dass Deutsche und Franzosen in dieser Hinsicht vorher untätig gewesen wären. Michael Marrus und Robert Paxton haben bereits 1981 nachgewiesen, dass durch die Kollaboration ein französischer Beitrag zum Holocaust nicht verhindert, sondern im Gegenteil erst ermöglicht worden ist.53 51 Vgl. Margarete Zimmermann, Robert Brasillachs letzter Roman und das Ende der Okkupationszeit, in: Hirschfeld und Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich, a. a. O., S. 236–251; Marleen Rensen, Fascist Poetry for Europe: Transnational Fascism and the Case of Robert Brasillach, in: Arnd Bauerkämper und Grzegorz Rossolinski-Liebe (Hg.), Fascism without Borders. Transnational Connections and Cooperation between Movements and Regimes in Europe from 1918 to 1945, New York und Oxford 2017, S. 192–215. 52 Seidler, Die Kollaboration 1939–1945, a. a. O., S. 103. 53 Michael Marrus und Robert A. Paxton, Vichy France and the Jews, New York 1981; erw. Neuaufl.: Vichy et les juifs, Paris 2015; Michael Mayer, Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und „Judenpolitik“ in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich. Ein Vergleich, München 2010; ders., Wie autonom regierte Vichy? Zur aktuellen Debatte um die Einführung einer antisemitischen Rassen-
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In Vichy beginnt man ganze zwölf Tage nach Errichtung des Regimes mit den ersten antisemitischen Maßnahmen, und zwar ohne jeden Druck der Deutschen. Zu dem Zeitpunkt lebten 330.000 Juden in Frankreich, von denen 200.000 französische Staatsbürger und 130.000 ausländische Flüchtlinge waren. Dem Consistoire Central als dem höchsten Organ der französischen Juden lag vor allem die scharfe, insbesondere rechtliche Unterscheidung zwischen beiden am Herzen, und auch damit nicht genug: Auf Initiative des Consistoire sollten die „alteingesessenen“ und die jüngst eingebürgerten Juden scharf voneinander getrennt werden. „Einhundertfünfzig Jahre nach der Emanzipation der Juden in Frankreich hatte der Rollback begonnen“54 (Saul Friedländer). Der französische Antisemitismus speiste sich dabei aus eigenen Quellen wie Gobineau, Drumont und der Action française wie auch aus der NS-Ideologie. An der „Endlösung“ beteiligt sich Vichy insofern, als die „eigenen Juden“ zwar ihrer Bürgerrechte beraubt, aber im Land bleiben sollen, die anderen französischen Boden hingegen zu verlassen haben, mit und ohne deutsche Hilfe.55 Am 22. Juli 1940 lässt Pétain die Einbürgerungen rückgängig machen, am 27. August wird die „Verordnung Marchandeau“ vom April 1939 aufgehoben, die antisemitische Äußerungen in der Presse untersagt hatte, und am 3. Oktober folgt das „Judenstatut“. Fortan ist nicht mehr von einer Religionsgemeinschaft, sondern von einer „Rasse“ die Rede. Zum ersten Mal in der französischen Geschichte unternimmt der Staat eine Definition des Begriffs „Jude“, indem dieser von allen staatlichen Ämtern ausgeschlossen wird. Nicht von ungefähr ist im Hinblick auf Vichy von einem „antisémitisme d’Etat“ die Rede. In schneller Folge werden bis zum 2. Juni 1941 über zwanzig Bestimmungen erlassen, mit denen den Juden jedweder Platz im ökonomischen und sozialen Leben des Landes genommen wird. Das war die französische Version der Nürnberger gesetzgebung in Frankreich 1940, in: VfZ, Nr. 1/2016, S. 151–163. Mayer wendet sich, den „semiautonomen französischen Antisemitismus“ (S. 159) betonend, scharf gegen Tal Bruttmann, Laurent Joly und Barbara Lambauer, Der Auftakt zur Verfolgung der Juden in Frankreich 1940. Ein deutsch-französisches Zusammenspiel, in: VfZ, Nr. 3/2012, S. 381–407, für die es „bis zum Ende der Dritten Republik keine einzige, auch nicht indirekt gegen Juden gerichtete Maßnahme gab“ (S. 382, Anm. 3) und für die das Judenstatut lediglich ein willfähriges Entgegenkommen war, um die eigene Kollaborationsbereitschaft zu demonstrieren. 54 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, a. a. O., S. 134; vgl. Sylvie Bernay, L’Église de France face à la persécution des Juifs 1940–1944, Paris 2012; Michael Mayer, „Die französische Regierung packt die Judenfrage ohne Umschweife an“. Vichy-Frankreich, deutsche Besatzungsmacht und der Beginn der „Judenpolitik“ im Sommer/Herbst 1940, in: VfZ, Nr. 3/2010, S. 329– 362; Florent Brayard, La „solution finale de la question juive“, Paris 2004; Renée Poznanski, Les juifs en France pendant la seconde guerre mondiale, Paris 1997; Moritz Scheyer, Selbst das Heimweh war heimatlos. Bericht eines jüdischen Emigranten 1938–1945, Reinbek bei Hamburg 2017. 55 Vgl. Ahlrich Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000; ders., Täter im Verhör. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich 1940–1944, Darmstadt 2005; Wolfgang Seibel, Macht und Moral. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich 1940–1944, München 2010.
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Gesetze. Am 29. März 1941 bildet sich auf Betreiben der Deutschen das Commissariat Général aux Questions Juives (CGQJ) unter Xavier Vallat und am 29. November die Union Générale des Israélites de France (UGIF), in der alle Juden Frankreichs Zwangsmitglieder sind. Beide Einrichtungen verfolgen das erklärte Ziel, das in Eigenregie zu tun, was die Deutschen sonst allein getan hätten, 47.000 Arisierungen von Wirtschaftsbetrieben zum Beispiel, bei deren Ausplünderung man der Besatzungsmacht zuvorkommen wollte (und weitestgehend auch kam). Das „Führungsvolk“ und das „Großraumvolk“ kollaborierten und rivalisierten. Ende September 1940 trifft der erst 27-jährige SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker in Paris ein, dessen aggressiver Antisemitismus selbst einen notorischen Judenhasser wie Vallat in Angst und Schrecken versetzt. Dannecker, ein Mitarbeiter Adolf Eichmanns, geht in die Dienststelle des „Beauftragten der Sicherheitspolizei und des SD“, wo er „Judenreferent“ wird und sofort das Projekt der „Gesamtabschiebung der Juden“ in Angriff nimmt. Unter seiner Regie wird das von Paul Sézille geleitete Institut des Questions Juives gegründet, das der Bevölkerung den Schein einer führenden Rolle der Franzosen beim Vorgehen gegen die Juden vorgaukeln soll. Es ist aber auch nicht so, dass sie sich verweigern. Vichy errichtet auch in der Nordzone eigene Internierungslager, bei der ersten Verhaftungsaktion von 3700 polnischen Juden am 14. Mai 1941 arbeiten deutsche und französische Polizisten Hand in Hand, die am 5. September in Paris eröffnete Ausstellung „Der Jude und Frankreich“ ist ein Riesenerfolg, und von den insgesamt bis Kriegsende erlassenen 183 antijüdischen Gesetzen stammen 162 von französischen und 21 von deutschen Stellen. Die Serie der Bombenanschläge auf Synagogen in Amiens, Vichy und Paris geht einzig und allein auf das Konto von Doriots PPF, und am 27. März 1942 geht der erste Zug nach Auschwitz – mit französischen Juden. Nur wenige Wochen später, am 6. Mai, kommt es unmittelbar nach der Amtseinführung Obergs im Hotel Ritz zur Begegnung zwischen Reinhard Heydrich und einer „Schlüsselfigur der Besatzungszeit“56, René Bousquet. Bousquet, 1909 geboren, wird noch vor Abschluss seines Studiums Kabinettschef eines Départementspräfekten, eine Position, die er 1941 in der Champagne selbst übernimmt. Schon ein Jahr später ist er Polizeichef des Etat français und koordiniert zusammen mit Oberg die Deportationen, praktisch zeitgleich mit Mitterrand nimmt er Anfang 1943 aber auch Kontakte zum Widerstand auf. Am 15. Dezember 1943 wird er entlassen, von der Gestapo verhaftet und nach Deutschland gebracht. Nach dem Krieg versteigt er sich genauso wie Mitterrand zu der Lüge, von der antisemitischen Gesetzgebung in Vichy nichts gewusst zu haben. Beide bleiben bis 1986 eng befreundet. Erst als die Ermittlungen gegen Bousquet beginnen, trifft sich der Staatspräsident nicht mehr mit ihm, was er bis dahin demonstrativ in aller Öffentlichkeit getan hat. Bis 1991 wird Bousquet 73 Mal vom Haute Cour de Justice vernommen und dann wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Zu einer Urteilsverkündung kommt es je56 Giesbert, François Mitterrand, a. a. O., S. 592.
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doch nicht, weil er am 8. Juni 1993 in Paris von einem Geistesgestörten erschossen wird. Dieser hatte an seiner Tür geklingelt, einen Revolver gezogen, mit fünf Schüssen die Mordtat begangen und danach eine improvisierte Pressekonferenz gegeben mit dem Statement „Ich habe diesen Widerling umgebracht, weil die Justiz ihre Arbeit nicht macht.“ Das Verbrechen, mit dem Bousquet für immer vor der Geschichte belastet ist, war la grande rafle, die größte Judenrazzia im Frankreich des Zweiten Weltkriegs. Sie fand am 16. und 17. Juli 1942 in der Winter-Radsporthalle Vélodrome d’hiver in der Nähe des Eiffelturms statt, wo 1913 das erste Sechstagerennen überhaupt veranstaltet worden war. Vorausgegangen waren intensive Verhandlungen zwischen Bousquet und Oberg, in denen es um die alten Streitfragen der Einbeziehung französischer Juden in die Deportationen und französischer Polizei bei den Aushebungen ging. Am 30. Juni haben sich die Standpunkte so verhärtet, dass Eichmann nach Paris eilt. Kurz darauf willigt Bousquet ein, dass seine Gendarmerie „auf dem gesamten französischen Territorium so viele Juden ausländischer Herkunft (verhaftet), wie die Deutschen verlangten“.57 Als Preis dafür erhält er, mithin Vichy, die Polizeigewalt auch in der Nordzone. Über das Schicksal der „naturalisierten“ Juden soll später befunden werden. Das Tragen des gelben Sterns, das im Norden seit wenigen Tagen verfügt worden ist, wird für die Südzone abgelehnt. In der Hauptstadt spricht sich schnell herum, was bevorsteht, insbesondere hinter vorgehaltener Hand. Über 10.000 Jüdinnen und Juden können sich rechtzeitig verstecken, aber für 13.152 Menschen kommt jede Hilfe zu spät. Sie werden im Stadion ohne Wasser und Nahrung eingepfercht, von dort aus auf Zwischenlager verteilt und schließlich nach Auschwitz gebracht. Bousquet ist der alleinige Organisator des Unternehmens, dem hierfür 4500 Polizisten zur Verfügung stehen. Kein einziger Deutscher ist an der Aktion beteiligt, dafür aber die Jugendbanden des PPF. „Ein bleibender Schandfleck der französischen Geschichte“58 ist das Schicksal der 4000 Kinder des „Vél d’Hiv“: Laval hatte von sich aus den Vorschlag gemacht, sie abtransportieren zu lassen. Verlangt hatte das niemand von ihm, aber Bousquet griff zu, weil man nicht auf ihnen „sitzenbleiben“ wollte. Natürlich erfolgte eine derartige 57 Zit. nach Baruch, Das Vichy-Regime, a. a. O., S. 105 f. 58 Helga Cazas, Auf Wiedersehen in Paris. Als jüdische Immigrantin in Frankreich 1938–1945, Frankfurt am Main 2005, S. 57; vgl. insbes. Serge Klarsfeld, Vichy – Auschwitz. Le rôle de Vichy dans la solution finale de la question juive en France 1942, 2 Bde., Paris 1983 und 1985; dt. Vichy – Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich, Darmstadt 2008 (Erstausgabe in deutscher Sprache: Nördlingen 1989); vgl. als beeindruckendes individuelles Beispiel: Hélène Berr, Pariser Tagebuch 1942–1944, München 2011 und nicht zuletzt Roselyne Boschs Film „La Rafle“, den 2009 fast drei Millionen Französinnen und Franzosen sahen. Anders: Jacques Semelin, Persécutions et entraides dans la France occupée. Comment 75% des juifs en France ont échappé à la mort, Paris 2013. Semelin zeichnet nochmals das – längst überholte – Bild der angeblich in sich geschlossenen, widerständigen französischen Gesellschaft.
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landesweite Razzia nicht geheim, aber sie ging reibungslos vonstatten. Die Menschen an den Straßen applaudierten, etliche weinten und die meisten schauten weg, wie in Deutschland und sonst wo in Europa. Schon am 3. August 1942 mahnte Dannecker ultimativ „die Lieferung“ weiterer Juden an. Es war klar, dass damit die nächst Paris größten jüdischen Gemeinden in Marseille, Bordeaux und Lyon ins Visier genommen wurden. Und auch am Vorgehen änderte sich nichts: Wenn schon Franzosen arretiert, verschleppt oder erschossen werden mussten, dann sollten Franzosen dies tun – Wahrung von Souveränität durch Erledigung der Drecksarbeit. Bousquet stand für diesen Deal bereit, ja er war, 33 Jahre alt, dadurch zum faktischen Polizeichef Frankreichs geworden. Oberg gratulierte ihm zu seinen „anerkennenswerten Leistungen“, natürlich nicht ohne Hintergedanken. Wegen des Krieges in der Sowjetunion war die Zahl der Besatzungssoldaten binnen weniger Monate von 100.000 auf 4000 gesunken, ihm selbst unterstanden nicht einmal mehr 3000 deutsche Polizisten, wohingegen Bousquet 47.000 Mann kommandierte. Kooperation, scheinbar auf Augenhöhe, war da das Gebot der Stunde. Was Marseille anging, bestand Bousquet erneut darauf, die „Aktion“ allein durchzuführen. Sie wurde zur ersten geplanten Stadtzerstörung in Europa. Auf den Anlass musste man nicht lange warten. Am 3. Januar 1943 platzte vor einem deutschen Truppenbordell in einer der labyrinthischen und unkontrollierbaren Gassen rund um den alten Hafen eine Bombe. Es gab keine Toten. Sofort wurde das Kriegsrecht eingeführt. Ein SS-Regiment rückte ein, übernahm die Polzeigewalt. Bousquet und Laval protestierten. Oberg überbrachte einen Befehl Hitlers, in dem die „Bereinigung von Marseille, des Saustalls Europas“, im Interesse der Gesundheit des künftigen Europa und die Einweisung von 40.000 Menschen, in der Regel Juden, in Konzentrationslager gefordert wurden. Eine derartige „Maßnahme“ angesichts einer relativ folgenlosen Explosion war in Westeuropa beispiellos, und das Ergebnis der Verhandlungen zeigt das bekannte Bild: Wenn schon unumgänglich, dann sollten Franzosen kontrollieren, deportieren und exekutieren. In der größten Razzia, die es je in Frankreich gegeben hat, marschierten am 21. Januar 1943 über 12.000 einheimische Polizisten in Marseille ein und durchkämmten das ganze Hafenviertel. Das Ergebnis konnte die NS-Herrscher nicht befriedigen, „nur“ 1600 Menschen, zumeist jüdische Flüchtlinge aus Mitteleuropa, wurden in Viehwaggons abtransportiert, dann begann die systematische Zerstörung der Altstadt. Immerhin hatte dies zur Folge, dass Himmler Bousquet als einen „wertvollen Mitarbeiter“ bezeichnete. Die Verfolgung der Juden in und um Bordeaux ist untrennbar mit dem Namen von Maurice Papon verbunden. Der 1910 Geborene hatte Laval bereits 1931 in dessen Luftwaffenministerium kennengelernt. 1942 wird er Generalsekretär in der Präfektur des Départements Gironde. Beflissen steht er der Gestapo beim Ausspähen der Juden zur Seite. Vom 20. Juni 1942 bis zum 16. Mai 1944 schickt er in zwölf Konvois 1690 Juden, darunter 223 Kinder, in deutsche Todeslager, nur acht kehren aus Auschwitz zurück! Auch Sanatorien und Altersheime werden von seinen Suchtrupps nicht verschont. An-
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geblich soll er am 1. Januar 1943 in die Résistance gegangen sein, wohl etwas zutreffender aber ist seine Titulierung als „Widerstandskämpfer der letzten Viertelstunde“59. Nach dem Krieg macht er eine steile Karriere. De Gaulle ernennt ihn 1958 zum Polizeichef von Paris, eine Position, die ihm ursprünglich schon 1951 zugewiesen worden war. In dieser Funktion trägt er die Verantwortung für das größte Verbrechen, dessen sich das demokratische Frankreich nach 1945 schuldig gemacht hat. Am 17. Oktober 1961 marschieren 30.000 Exil-Algerier nach Paris, um für ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren. Papon erwartet sie. Mit den Worten „Ihr seid gedeckt“, womit nur der amtierende Staatspräsident de Gaulle gemeint sein konnte, gibt er seinen Leuten die carte blanche zum Dreinschlagen. Die genaue Zahl der Toten ist bis heute unbekannt. 325 Leichen sollen die Seine hinabgetrieben und das Wasser des Flusses noch nach Tagen rot gewesen sein. Papons Aufstieg schadet dies nicht. 1978 wird er Haushaltsminister unter Giscard d’Estaing. Es ist der Höhepunkt seiner Laufbahn, doch dann holen ihn die Schatten der Vergangenheit ein. Das Enthüllungsmagazin „Le Canard enchaîné“ veröffentlicht 1981 Deportationsbefehle mit seiner Unterschrift. Die Ermittlungen ziehen sich vierzehn Jahre hin, Mitterrand tut alles, um sie zu verschleppen. Erst im Dezember 1995 kommt es zur Anklage wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Jedem Unbeteiligten und jedem Laien war von Anfang an klar, dass hier nicht eine Einzelperson, sondern Vichy, die Kollaboration, die Kontinuität der Eliten von der Dritten bis zur Fünften Republik und die Unehrlichkeit Frankreichs, sich über seine eigene Vergangenheit Rechenschaft abzulegen, mithin le passé qui ne passe pas, vor Gericht standen. Ganze 115 Zeugen werden gehört, im Frühjahr 1998 wird Papon zu zehn Jahren Haft und dem Verlust aller Bürgerrechte verurteilt. Der Mann, der sich „wegen erhöhter Fluchtgefahr“ außerhalb von Paris nicht mehr frei bewegen darf, flieht tatsächlich in die Schweiz, die ihn aber sofort wieder ausliefert. Von seiner Strafe hat er nicht einmal vier Jahre verbüßt. 2002 verlässt er, angeblich todkrank, in kerzengrader Haltung das Gefängnis, 2007 stirbt er im Alter von 96 Jahren. In der Anklageschrift hieß es, dass ein Beamter „aus freien Stücken und unter Kenntnis der Sachlage persönlich zu den von den Nazis begangenen kriminellen Handlungen beigetragen habe“60. Deshalb zweifelte auch niemand daran, dass es bei Papon nicht um ideologische Überzeugung, sondern um einen „Schreibtischtäter“, einen „kleinen Eichmann“, einen „ganz gewöhnlichen Franzosen und den Holocaust“ ging. Aus diesem Grund hatte die Staatsanwaltschaft – ein absolutes Novum – mit Robert Paxton, Jean-Pierre Azéma, Marc-Olivier Baruch, René Remond, Michel Bergès und 59 „Der Spiegel“, Nr. 9/2007, S. 198. 60 Zit. nach Patrick Troude-Chastenet, Der Papon-Prozess: Vichys ewige Wiederkehr, in: DeutschFranzösisches Institut (Hg.), Frankreich-Jahrbuch 1999, Opladen 1999, S. 195–206, hier: S. 196 f.; vgl. auch: Jean-Pierre Azéma und François Bédarida, La France des années noires, 2 Bde., Paris 1993; Arno Klarsfeld, Papon, un verdict français, Paris 1998; Eric Conan und Henry Rousso, Vichy, un passé qui ne passe pas, Paris 1996.
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Henri Amouroux, ja sogar mit dem Deutschen Eberhard Jäckel die in dieser Thematik führenden Historiker zum Prozess eingeladen61, die aber kein einziges Aktenkonvolut einsehen durften. Da behielt die französische Justiz sich ein Ausschlussrecht vor. Allerdings sollte der deutsche Staatsanwalt Rolf Holtfort gehört werden, der jahrelang gegen NS-Täter ermittelt hatte, die Juden aus dem besetzten Frankreich deportieren ließen. Als er unmittelbar vor seiner Vernehmung noch einmal auf das Hotelzimmer geht, sieht er einen unter der Tür hindurchgeschobenen Zettel. Auf ihm steht (in französischer Sprache) aus Zeitungsschnipseln zusammengesetzt: „Vichy lebt. Kein deutscher Zeuge. Sie spielen mit ihrem Leben.“ Das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ bestätigt und berichtet dieses wortwörtlich. Man schreibt den 22. Februar 1998. Holtfort kehrt unverrichteter Dinge nach Deutschland zurück. Um den Fall Touvier, die Judendeportationen aus Lyon und den umliegenden Départements sowie den 1994 gegen ihn angestrengten Prozess einordnen zu können, ist zunächst ein breiteres organisatorisches und personelles Umfeld in den Blick zu nehmen, war Paul Touvier doch vor Ort Komplize und Helfershelfer des SS-Hauptsturmführers Klaus Barbie und landesweit Chef der Geheimdienstabteilung der Miliz für allein zehn Départements. Laval hatte Hitler bei einem Gespräch im Dezember 1942 gebeten, eine Einrichtung gründen zu dürfen, die militant für die Ziele Vichys wie auch der Besatzungsmacht arbeiten sollte. Das war die Geburtsstunde der Milice française, an deren Spitze Joseph Darnand berufen wurde. Darnand war nach dem Ersten Weltkrieg zusammen mit Clemenceau und Marschall Foch zum Ritter der Ehrenlegion ernannt worden. Nach Stationen in der Action française und dem Croix de Feux war er 1936 in die PPF eingetreten. Auf ihrem Höhepunkt verfügte die Miliz über 30.000 Mann. Weit mehr als die anderen kollaborationistischen Gruppen ordneten die Milizionäre sich den Deutschen unter, die mit Darnand ein Bataillon der Waffen-SS in Frankreich bilden und das bisherige Tabu durchbrechen wollten, Franzosen nicht in SS-Uniformen zu stecken. Im August 1943 wird die Miliz der SS unterstellt. Darnand schwört den Treueid auf Hitler und sieht sich nacheinander zum Sturmbannführer, zum Generalsektretär „au Maintien de l’Ordre“ (anstelle Bousquets) und am 13. Juni 1944 zum Innenminister der Vichy-Regierung ernannt. In dieser Funktion unterstehen ihm die bewaffneten Ordnungskräfte in ganz Frankreich, denn die Miliz dehnt sich mit deutscher Beteiligung seit Jahresbeginn auch auf die Nordzone aus. Marcel Déat und Jacques Doriot, also RNP und PPF, versuchen daraufhin, die Miliz zu unterwandern. Mit Déat zeigt Darnand sich durchaus auf öffentlichen Veranstaltungen, so, um Franzosen für den Einsatz an der Ostfront zu gewinnen, Doriot hingegen kann er dessen 61 Eberhard Jäckel, Verfasser der grundlegenden Studie „Frankreich in Hitlers Europa“, Stuttgart 1966, nahm die Einladung nicht an, weil er eben diese Studie für „überholt“ hielt. Vgl. sein Interview mit „Le Monde“ vom 7.11.1997; s. auch: Henry Rousso, Justiz, Geschichte und Erinnerung in Frankreich. Überlegungen zum Papon-Prozess, in: Frei, Laak und Stolleis (Hg.), Geschichte vor Gericht, a. a. O., S. 141–163.
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kommunistische Vergangenheit nicht verzeihen. Letztlich verkörpert die Miliz einen „plebejischen Faschismus“62, der Arbeitsverweigerer, Widerständler und Juden aufspürt, terrorisiert, foltert und nicht selten standgerichtlich exekutiert. Am 31. Juli 1944 beschwert sich Pétain hierüber persönlich bei Laval. Ein Jahr zuvor hatten Darnand und Déat mit ihrem „Plan de Redressement National Français“ bei den Deutschen versucht, beide abzusetzen und an ihre Stelle zu treten, weil man in Vichy unmittelbar vor einem Schwenk zu den Alliierten stehe. Pétain reagierte mit dem Antrag, die Assemblée Nationale einzuberufen, die seit drei Jahren nicht mehr getagt hatte. Natürlich wurde ihm dieser Versuch, seiner Regierung eine neue Legitimität zu verleihen, untersagt. Stattdessen musste er per Anordnung aus Berlin zustimmen, dass Darnand und Déat als Minister ins Kabinett Laval aufgenommen wurden. Ende 1942 kommt Klaus Barbie als Chef der Gestapo nach Lyon. Nach außen spielt er die Rolle des guten Familienvaters und zugleich des lebenslustigen Bonvivants, während er im Keller des berüchtigten „Hôtel Terminus“, seiner Einsatzzentrale, die ausfindig gemachten „Zielgruppen“ der Miliz zu Tode foltert, unter ihnen Jean Moulin, die Widerstandsikone Frankreichs schlechthin. Ob Moulin tatsächlich aus den Reihen der Kollaboration verraten worden ist, darüber tobt seither ein unerbittlicher Forschungsdisput.63 Am 6. April 1944 macht Barbie seinem Vorgesetzten voller Stolz die Mitteilung, dass er aus dem jüdischen Kinderheim von Izieu 41 Kinder, das jüngste drei Jahre alt, in das Übergangslager Drancy deportiert hat, von wo aus sie nach Auschwitz gelangen. Keines von ihnen hat überlebt. Insgesamt sind in Barbies zweijähriger Terrorherrschaft 14.311 Menschen verhaftet, 7591 deportiert und 4342 hingerichtet worden. Die meisten waren Juden. 1987 wird der „Schlächter von Lyon“ zu lebenslanger Haft verurteilt, in der er 1991 stirbt. Das Verfahren sollte zur großen Demonstration und Abrechnung mit der NS-Okkupation werden, aber schon während des laufenden Prozesses kündigte Barbies Verteidiger Jacques Vergès an, „den Spieß umzudrehen“
62 Rousso, Vichy, München 2009, a. a. O., S. 112; ders., Frankreich und die „dunklen Jahre“. Das Regime von Vichy in Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2010; Mechtild Gilzmer, Widerstand und Kollaboration in Frankreich, in: dies. (Hg.), Widerstand und Kollaboration in Europa, a. a. O., S. 85–106; Clemens Klünemann, Vichy war kein Betriebsunfall, in: „Die Zeit“ vom 4.12.2014, S. 20. 63 Vgl. hierzu die Dokumentation „Qui a trahi Jean Moulin?“, in: „Globe Hebdo“, Nr. 19/1993, S. 8–31; s. auch: Markus C. Kerber, Der Präfekt de Gaulles. Der Streit um die französische Widerstandsbewegung in persona von Jean Moulin, in: ders., Europa ohne Frankreich? Deutsche Anmerkungen zur französischen Frage, Frankfurt am Main 2006, S. 171–180; Horst J. Andel, Kollaboration und Résistance. „Der Fall Barbie“, München 1987; Karin Urselmann, Die Bedeutung des Barbie-Prozesses für die französische Vergangenheitsbewältigung, Frankfurt am Main 2000; sehr aufschlussreich auch: Peter Hammerschmidt, Deckname Adler. Klaus Barbie und die westlichen Geheimdienste, Frankfurt am Main 2014.
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und daraus „eine Anklage gegen Frankreich“64 zu machen. Auf der Zuschauertribüne des Gerichts muss etlichen klar gewesen sein, dass der Plan durchaus Erfolg versprechend war, weil Barbie bei einem verbrecherischen Tun dieses Ausmaßes nicht ohne Mittäter vorgegangen sein konnte. Touvier war einer von ihnen. Paul Touvier ist 1915 geboren. Er versteht sich vor allem als Katholik und Franzose, „so wie es schon der Vater war“65. 1943 schwört er den Eid der Miliz, „gegen die jüdische Lepra und für die französische Reinheit zu kämpfen“. Er wird Leiter der Lyoner Geheimdienstabteilung. Vichy, das ist für ihn die Rache für 1905, die Rache für die Trennung von Staat und Kirche und die Verbannung der Religion aus der Schule und dem öffentlichen Leben. Seinen Hass auf die Juden hat er nicht von den Deutschen. In der Nacht zum 11. Januar 1944 soll er an der Ermordung des Sorbonne-Professors Viktor Basch beteiligt gewesen sein, jenes Mannes, der als Präsident der Liga der Menschenrechte für die Rehabilitierung von Dreyfus gekämpft hatte. Am 28. Juni 1944 wählt er sieben jüdische Geiseln aus und lässt sie als Sühne für die Ermordung von Philippe Henriot erschießen. Henriot war seit dem Dezember 1943 der Propagandaminister von Vichy gewesen und bescherte diesem „ein letztes, heftiges Aufflackern der Popularität inmitten des Niedergangs und Verfalls.“66 Alle hörten seine fanatischen Rundfunkansprachen, in denen er vor der Weltverschwörung des Bolschewismus warnte. Landeten die Alliierten, so betonte er, wäre dies keine Befreiung, sondern das Vordringen des Kommunismus bis an die französische Küste. Als Henriot erschossen wird, erhält er in Notre-Dame de Paris in Anwesenheit einer überwältigenden Menschenmenge eine von Kardinal Suhard persönlich gelesene Totenmesse. Touvier, die linke Hand Barbies, taucht nach der tatsächlichen Invasion 1944 unter, wird 1946 und 1947 in Abwesenheit zum Tode verurteilt und kurz darauf in Paris festgenommen. Verblüffenderweise gelingt ihm die Flucht aus der festungsartigen Anlage der Staatssicherheit in der Rue des Saussaies, und es beginnt eine vierzigjährige Odyssee durch alle Einrichtungen des katholischen Glaubens, die ihm alle bereitwilligen Schutz gewähren. Er flieht von Kloster zu Kloster und von Sakristei zu Sakristei. 1947 wird er heimlich von einem Priester getraut, seine beiden Kinder wachsen im viel besuchten Kloster La Grande Chartreuse hoch über Grenoble auf. Die Todesurteile verjähren 1967, aber er hat weder Besitz noch Aufenthaltsrecht. Da ergehen aus dem Umfeld des Primas der katholischen Kirche Frankreichs und des Kardinalstaatssekretärs in Rom Bittbriefe an Präsident Pompidou, der sowieso schon längst die Zeiten vergessen will, „da die Franzosen sich selbst nicht mochten“67, und sich 1971 heimlich, still und 64 Heinz Abosch, Krieger im Schatten. Wahrheit und Legende der Résistance, in: „Neue Zürcher Zeitung“, Nr. 141 vom 21.6.1988, S. 9. 65 Joachim Fritz-Vannahme, Im Schatten der Soutane, in: „Die Zeit“, Nr. 23 vom 2.6.1989, S. 7. 66 Howard R. Kedward, Das Vichy des anderen Philippe, in: Hirschfeld und Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich, a. a. O., S. 43–59, hier: S. 46. 67 Zit. nach Troude-Chastenet, Der Papon-Prozess, a. a. O., S. 200.
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leise zur Begnadigung entschließt. Doch unter der Headline „Vichy, weißgewaschen“ enthüllt der „Express“ die Vergebung. Ein Sturm der Entrüstung bricht los und Touvier muss zurück ins Kloster. Am 24. Mai 1989 wird er im Priorat Saint-Joseph zu Nizza verhaftet, aber schon 1991 wieder auf freien Fuß gesetzt. Er wird (vor Bousquet und Papon) als Erster eines „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ angeklagt, aber das Pariser Appellationsgericht stellt nach (damals) geltender Rechtslage fest, dass ein Franzose wegen solcher Verbrechen nicht angeklagt werden könne, das gehe nur bei Deutschen; ein Franzose habe lediglich „Beihilfe“ leisten können. Hier wurde es aber wirklich schwierig, denn es war zweifelsfrei erwiesen, dass Touvier völlig selbstständig, ohne deutschen Befehl gehandelt hatte. Somit standen die Richter zwischen der „historischen Wahrheit einerseits und der vorgeschriebenen juristischen Wahrheit andererseits“68 und entschieden sich für die letztere. Der als Anwalt der Nebenkläger amtierende Arno Klarsfeld baut die Brücke, indem er von einer „complicité générale“ zwischen dem Willen der Deutschen und dem Vorgehen der Miliz spricht. Der Pariser Kassationshof hebt den Freispruch auf, und 1994 wird Touvier zu lebenslanger Haft verurteilt, in der er 1996 stirbt. Erst nach und nach enthüllte sich das gesamte Ausmaß dessen, was die Franzosen den Juden angetan hatten. Schließlich war schon 1938 auf der Konferenz von 38 Ländern im französischen Evian klargeworden, dass kein Land bereit war, die gefährdeten deutschen Juden aufzunehmen. Als sie dann doch einfluteten, wurden sie eher aufgrund ihrer Nationalität als ihres Glaubens wegen diskriminiert, ghettoisiert und viele von ihnen deportiert. Serge Klarsfeld betont, dass „die einzigen Juden Europas, die aus unbesetzten Gebieten verschleppt wurden, aus Frankreich kamen.“69 Am 11. Dezember 1942 führt Vichy den Stempel „Jude“ im Personalausweis ein. Der Streit um die Trennung von französischen und nicht französischen Juden währt bis zum Schluss. Heinz Röthke, der Nachfolger Danneckers seit Juli 1942, dringt immer schärfer auf die „summarische Denaturalisierung“, also auf die Aberkennung der Staatsbürgerschaft der seit 1927 eingebürgerten Juden, was die sofortige Verhaftung von 50.000 Menschen bedeutet hätte. Im August 1943 liegt das Gesetz vor, aber Pétain weigert sich, es zu unterschreiben. Es ist sein letzter Akt demonstrierter Souveränität und der Beweis, dass Vichy Handlungsspielräume besaß. Überhaupt lag der Zugriff vom Anfang bis zum Ende bei der französischen Polizei. „Die kleine Truppe der SS war immer nur der Parasit der französischen Repressionsapparate.“70 Auch die französische Staatsbahn SNCF zeigt sich sehr zu Diensten. Sie kollaboriert mit der Deutschen Reichsbahn. Die Erstellung der Fahrpläne in den Tod erfolgt in enger Zusammenarbeit mit dem Reichs-
68 Rousso, Justiz, Geschichte und Erinnerung in Frankreich, a. a. O., S. 153. 69 In: „Der Spiegel“, Nr. 38/2001, S. 214. 70 Ernst Köhler, Die Macher der Kollaboration, in: „Kommune“, Nr. 2/2011, S. 110.
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sicherheitshauptamt.71 Im Juni 2006 verurteilt das Verwaltungsgericht in Toulouse die SNCF, weil sie niemals „gegen die Transporte protestiert“ und auch nicht versucht habe, diese zu sabotieren. Außerdem habe sie zu keinem Zeitpunkt unter irgendeinem Druck oder Zwang gestanden. Vielmehr habe sie den Deportierten Fahrkarten dritter Klasse ausgestellt und „die Bezahlung sogar noch nach der Befreiung eingefordert“72. Der französische Nachkriegsmythos von der SNCF als einer Hochburg des Widerstands war damit restlos zerstört. Die République Française hat das Urteil anerkannt. Mit dem 2012 in den Vereinigten Staaten verabschiedeten Holocaust Rail Justice Act werden weitere auf sie zukommen. Insgesamt sind in Frankreich 76.000 Jüdinnen und Juden deportiert worden, was 23 Prozent ihres Bevölkerungsanteils entspricht. 24.700 bzw. 7 Prozent waren französischer und 51.300 bzw. 16 Prozent nichtfranzösischer Nationalität. Nur 2560 sind lebendig zurückgekehrt.73 Wer keinen französischen Pass hatte, durfte erst ab 1981 einen Entschädigungsantrag stellen. Der letzte Zug von Drancy nach Buchenwald ging am 17. August 1944, acht Tage, bevor die Alliierten in Paris einmarschierten. Es gereicht dem französischen Volk nicht gerade zur Ehre, dass alle diese „Maßnahmen“ praktisch geräuschlos, ohne erkennbaren Protest auf den Straßen und Plätzen abliefen, während die Einführung des Zwangsarbeitsdienstes Service de travail obligatoire (STO) Anfang 1943 massive Reaktionen gegen die Besatzer hervorrief. Verantwortlich hierfür war seit dem 21. März 1942 der Gauleiter und Reichsstatthalter von Thüringen Fritz Sauckel als „Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz“. Abetz und die gesamte Militärverwaltung standen ihm von Anfang an skeptisch gegenüber. Bereits im Februar 1942 hatte Abetz der Reichsregierung die folgende Einschätzung übermittelt: Die Bereitschaft zu einer über die formaljuristischen Verpflichtungen einer besiegten Nation hinausgehenden freiwilligen Unterstützung der Kriegsführung des Siegers, wie Deutschland sie heute seitens Frankreich genießt (!), ist eine Erscheinung ohne geschichtliches Vorbild und nur den in das französische Volk geworfenen politischen Gedanken der Zusammenarbeit zu verdanken. Wir laufen Gefahr, dieses für unsere Kriegsführung sehr vorteilhaften Zustandes verlustig zu gehen, wenn die französische Regierung, das französische Volk und der französische Kriegsgefangene den Glauben an eine Verbesserung ihrer Lage
71 Vgl. den zweiteiligen Spielfilm „Nach Fahrplan in den Tod. Europas Bahnen und der Holocaust“ von Wolfgang Schoen und Frank Gutermuth, Deutschland 2008; s. auch: Jürg Altwegg, Geisterzug in den Tod. Ein unbekanntes Kapitel der deutsch-französischen Geschichte, Reinbek bei Hamburg 2001; ders., Die langen Schatten von Vichy. Frankreich, Deutschland und die Rückkehr des Verdrängten, München 1999. 72 „Nach Fahrplan in den Tod“, a. a. O., Sendung auf „arte“ vom 7.7.2010, 20.15 Uhr. 73 Klarsfeld, Vichy – Auschwitz, Nördlingen 1989, a. a. O., S. 332
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durch ihre Kollaborationsbereitschaft verlieren und die klassische Haltung eines besiegten Volkes, d. h. die der Sabotage und passiven Resistenz einnehmen.74
Hier hatte jemand die Zeichen der Zeit vollständig verstanden. Als Sauckel im April 1942 die Dienstverpflichtung von 350.000 und im Januar 1944 sogar von einer Million Franzosen forderte, bezeichnete Carl-Heinrich von Stülpnagel dies schlichtweg als „Rechtswidrigkeit“. Allerdings zeigte sich Bousquets und Darnands Polizei äußerst zugriffswillig, wenn es um die Verhaftung von ausländischen Juden ging. Wenn sie hingegen die réfractaires jagen sollte, jene jungen Leute, die sich dem im Februar 1943 eingeführten Pflichtarbeitsdienst zu entziehen wussten, agierte sie merkwürdig tumb und dilettantisch, mithin national. Sauckel führte vom Mai 1942 bis zum Juni 1944 vier große „Aktionen“ durch. Insgesamt sind durch sie 650.000 Personen ins Reich gekommen, wo bereits eine Million Kriegsgefangene arbeiteten. Hinzu traten 200.000 Freiwillige, die sich vor der Einführung des STO meldeten, um eine Prämie zu kassieren, sowie 750.000 in Frankreich mobilisierte Kräfte, nicht zu reden von den Zwangsinsassen der Lager und KZ. Summa summarum haben damit drei Millionen Franzosen für Deutschland gearbeitet, womit Frankreich europaweit den ersten Platz aller „Arbeitskraft-Lieferanten“ des Reichs belegt. Die eigentlichen Konsequenzen und Folgen des STO-Gesetzes hatte Abetz schon frühzeitig erkannt: Während der Widerstand Anfang 1943 noch ein mehr als begrenztes und zerstreutes Phänomen darstellte, liefen ihm jetzt nach und nach die Kräfte zu. Dabei hatte die Vichy-Regierung auch das Absegnen des Arbeitsdienstes als Deal genutzt: Jede Stufe der Rekrutierung sollte mit einem Verzicht auf willkürliche Geiselerschießungen einhergehen, und für je drei gestellte Arbeiter sollte ein Kriegsgefangener aus Deutschland heimkehren dürfen. Das war die Politik der sogenannten relève, der „Ablösung“. Sie war ein glatter Fehlschlag, denn sie konnte nur auf ganze 20.000 Anmeldungen und entsprechend wenige Rückkehrer verweisen. Das traurigste und unglaubwürdigste Beispiel unter den 200.000 Freiwilligen stellt der langjährige KPF-Vorsitzende George Marchais dar. Seit ein französisches Gericht im Juli 1978 die Echtheit eines Dokumentes aus dem Augsburger Stadtarchiv bestätigte, gilt es als erwiesen, dass sich der selbst ernannte Widerstandskämpfer Marchais ohne jeden Druck und Zwang zur Arbeit in einem deutschen Rüstungsbetrieb (!) meldete und die hierfür ausgesetzte Geldprämie einstrich.75
74 Zit. nach Conze et al., Das Amt und die Vergangenheit, a. a. O., S. 233; Roland Rey, Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers? Otto Abetz und die deutsche Frankreichpolitik 1930–1942, München 2000; Dieter Pohl und Tanja Sebta (Hg.), Zwangsarbeit in Hitlers Europa. Besatzung – Arbeit – Folgen, Berlin 2013. 75 Zit. nach Conze et al., Das Amt und die Vergangenheit, a. a. O., S. 233; Rey, Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers?, a. a. O.; Pohl und Sebta (Hg.), Zwangsarbeit in Hitlers Europa, a. a. O.
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Im August 1942 hatten die Deutschen noch einen Landungsversuch kanadischer Truppen an der Kanalküste bei Dieppe zurückgeschlagen, woraufhin Pétain ein Glückwunschtelegramm an Hitler sandte. Der Landung der Amerikaner in Nordafrika vier Monate später musste die Wehrmacht praktisch tatenlos zusehen. Dafür überquerte sie am 11. November 1942 die Demarkationslinie und besetzte die Südzone. Dies war ein eklatanter Bruch des Waffenstillstands von 1940 und damit der eigentlichen Basis der Staatskollaboration. Das 100.000-Mann-Heer wurde entwaffnet und die im Hafen von Toulon liegende Flotte versenkte sich selbst. Admiral Darlan, der sie im französischen Nordafrika in Sicherheit hatte bringen wollen, begann Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten; er wurde am 24. Dezember 1942 von einem jungen Gaullisten erschossen. Vichy besaß keine militärischen Machtinstrumente mehr. Dennoch tat man auch weiterhin so, als wäre nichts gewesen. Die Presse musste schreiben, dass „die deutschen Truppen die freie Zone (lediglich) durchqueren, um Verteidigungsstellungen an der Mittelmeerküste einzunehmen“, das Wort „Besetzung“ war verboten. Laval war zum Konkursverwalter geworden, die Nationale Revolution des Etat français neigte sich ihrem Ende zu. Die Miliz, die ihm formell unterstand, sollte hier Abhilfe schaffen. In Wirklichkeit brachte sie als schärfster französischer Repressionsapparat die Bevölkerung endgültig gegen das Regime auf. Trotzdem kann auch jetzt noch nicht vom Gegeneinander zweier Positionen, nämlich Kollaboration oder Widerstand bzw. Opportunismus und Attentismus (Warten auf die deutsche Niederlage), gesprochen werden. Als übergreifende Verhaltensmaxime für den einfachen Mann auf der Straße galt auch weiterhin die accomodation, die Anpassung, auch oder gerade weil an die Stelle der Parole travail, famille, patrie längst die Volksweisheit tracas, famine, patrouille (Sorgen, Hunger, Kontrollen) getreten war. Der beste Beweis, dass die Franzosen auch von 1940 bis 1944 ihr savoir vivre nicht verloren, ist das regelrechte Aufblühen des kulturellen Lebens. Die große Klammer, die große Integrationsfigur war und blieb Pétain bis zur letzten Minute. Die Legende seines „Doppelspiels“, mit dem er „Frankreich nur vor den deutschen Karren spannte, um Hitler besser täuschen zu können“76, wurde bereits zu Besatzungszeiten geboren. Le bouclier, „das Schild“, das er für die Franzosen darstellte, le don de sa personne, „das Geschenk“, das er für sie war, und die suggestive Frage „Seid Ihr französischer als er?“ verdeckten und verklärten alles. „Es ist nicht verblüffend, dass diese Blindheit noch heute andauert.“77 Sie ging bis zum Kult und bis zur Vergötterung, die sich in Millionen Bildern, Fotografien, Postkarten, Plakaten und Wandteppichen widerspiegelte, einer überlebensgroßen Hagiographie.78 Das war die französische Fassung des Führerprinzips. Im September 1943 wird in der Pariser Orangerie eine fünf76 Baruch, Das Vichy-Regime, a. a. O., S. 190. 77 Ebd., S. 191. 78 Vgl. Sarah Wilson, Kollaboration in den schönen Künsten 1940–1944, in: Hirschfeld und Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich, a. a. O., S. 139–160; vgl. hierzu als markantes, bereits erwähn-
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monatige Ausstellung einzig und allein mit Exponaten des Marschalls eröffnet. Der Mann entzog sich jeder rationalen Analyse, er stand jenseits und über der Politik, ja der Geschichte, er saß im Olymp. Wenn er schon in eine Ahnenreihe eingeordnet werden musste, dann kam nur die Dreiheit Charlemagne, Jeanne d’Arc, Pétain in Frage. Am 10. Mai 1941, auf der ersten Jeanne-d’Arc-Feier unter deutscher Besatzung, hallt der Ruf „Vive la France, vive le Maréchal, vive Jeanne d’Arc“ durch die Straßen von Orléans, und noch im Mai 1944 lässt die Regierung im ganzen Land die Parole plakatieren „Damit Frankreich leben kann, müssen wir die Engländer, wie einst Jeanne d’Arc, aus Europa vertreiben“.79 Dabei hat gerade Pétain immer den endgültigen Bruch mit England gescheut. Just in den Tagen, in denen er sich in Montoire mit Hitler traf, hat er seine geheimen Gesandten in London vorfühlen lassen, um die Chancen einer regelrechten anglofranzösischen Verbindung auszutesten. Insofern war das Finassieren für „die einzige Hoffnung Frankreichs“ sehr wohl die letzte und höchstmögliche Form der Politik. Endgültige Festlegungen hat der Attentist bis zum Schluss geschickt umgangen. Unzweifelhaft sind die hohe Popularität und die fast mystische Verehrung, die er genoss. Das lag durchaus im Interesse der Deutschen, denen „die Fiktion eines legitimen französischen Staates mit einem respektierten Führer an dessen Spitze“80 weit mehr entgegenkam als eine Herrschaft der kollaborationistischen Ultras um Doriot, Darnand und Déat, die in der Bevölkerung verhasst und mit denen die öffentlichen Abläufe nicht reibungslos abzuwickeln waren, weil sie zu offen mit den Besatzern gemeinsame Sache machten. Der Schein der Souveränität sicherte also die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, und genau darum ist es auch Pétain letztlich gegangen. „Entweder man ist für mich oder gegen mich, und dieser Gedanke gilt vor allem für die Diener des Staates“, so hatte er es schon 1941 formuliert, und tatsächlich erreichte der Mann, der in der besetzten Zone nicht einmal das Verbot der Tricolore und der Marseillaise rückgängig machen konnte, mit dieser Zuspitzung eine fast vollständige Kontinuität des Beamtenapparats vor und nach 1940 bis hinab zum Dorfbürgermeister. „Die Deutschen mochten Frankreich erobert haben, aber der französische Staat überstand das mehr oder weniger intakt.“81 Die Einheit der Nation als administratives und organisches Ganzes zu bewahren, das war Pétains Ziel von Anfang an, und dafür hat er die Kollaboration und – auch persönlich – entwürdigende Formen der Unterwerfung und Freiheitsberaubung in Kauf genommen. Vom November 1943 an, nach seinem missglückten, oder genauer: untersagten Versuch, die Nationalversammlung einzuberufen, wird er in Vichy praktisch unter Hausarrest gestellt. Der dorthin beorderte deuttes Beispiel: Harpprecht, Arletty und ihr deutscher Offizier, a. a. O.; auch: Patrick Modiano, Die Kleine Bijou, Paris 2001 79 Vgl. Wilson, Kollaboration in den schönen Künsten 1940–1944, a. a. O.; vgl. hierzu erneut: Harpprecht, Arletty und ihr deutscher Offizier, a. a. O.; auch: Modiano, Die Kleine Bijou, a. a. O. 80 Thalmann, Gleichschaltung in Frankreich 1940–1944, a. a. O., S. 237. 81 Mazower, Hitlers Imperium, a. a. O., S. 399.
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sche Diplomat Cecil von Renthe-Fink überwacht ihn auf Schritt und Tritt. Er ist im wahrsten, ja physischen Sinn des Wortes Hitlers Vasall. Unabhängig hiervon erreichen ihn auch jetzt täglich Waschkörbe von Briefen, Bittschriften und Geschenken. Man verknüpfte sein persönliches Schicksal mit dem des Siegers von Verdun. Diese Begeisterung ist als Ausdruck von Realitätsflucht gleichzeitig ein prägendes Kennzeichen der Alltagsrealität in Vichy: Der Marschall wird’s schon richten. Dabei bedeutet der Glaube an Pétain durchaus nicht automatisch die Parteinahme für die Kollaboration und schon gar nicht für die boches, im Gegenteil, die Ablehnung der Deutschen reicht bis in die innersten Zirkel der Laval-Regierung. Maréchalismus, Pétainismus und Vichyismus sind nicht deckungsgleich, und mit den Besatzern arbeitet man nur zusammen, wenn man sie braucht. Nachts wird BBC gehört, am Tag hingegen passt jeder auf, dass er sich nicht zu deutlich für die eine oder andere Seite engagiert; den Endsieg der Deutschen will eigentlich keiner. Deshalb ist und bleibt Pétains Besuch in der Nordzone am 26. April 1944, der erste und einzige seit dem Waffenstillstand von 1940, das große, rätselhafte Phänomen, das den Franzosen zu Recht bis heute vorgehalten wird. Die Massen in Paris jubeln ihm frenetisch zu. Niemand hat sie gedungen oder gezwungen. Auf den Tag vier Monate später werden sie dort einem anderen zujubeln. Anfang März 1944, also noch vor seiner Abreise in den Norden, stehen plötzlich SS-Offiziere in Pétains Vichyer Dienstsitz und zwingen ihn zur Aufzeichnung einer Rundfunkansprache. Sie enthält den dringenden Appell, dass jeder „auf seinem Posten bleibt, um das Leben der Nation aufrechtzuerhalten“. Laval fügt (von sich aus) hinzu, dass Vertreter eines „fremden Krieges“ den Franzosen nicht auch noch „den Horror des Bürgerkrieges“82 aufzwingen dürften. Die vorbereitete Rede wird am 6. Juni 1944 gesendet, dem Tag der Invasion der Westalliierten in Dünkirchen. Acht Tage danach ergreift der Marschall erneut das Wort: „Wir sind nicht im Krieg. Ihre Pflicht ist es, eine strikte Neutralität zu bewahren.“ Der Hauptvertreter des „fremden Krieges“ war General Charles de Gaulle (1890–1970), und den „Horror des Bürgerkrieges“ lieferten sich zu dem Zeitpunkt bereits die Résistance und die Miliz, die alle 70.000 Uniformierten der Gendarmerie und der Bereitschaftspolizei auf ihre Seite zu ziehen suchte. De Gaulle war im Ersten Weltkrieg Offizier in einem von Pétain geführten Regiment und avancierte schnell zu dessen Lieblingsschüler. Nach seiner Gefangennahme durch die Deutschen versuchte er fünfmal auszubrechen. Nicht wenige bezeichnen dies als seine größte militärische Leistung. Im débacle von 1940 ist er, inzwischen zum Brigadegeneral befördert, einer der ganz wenigen, der seine Panzerverbände erfolgreich einsetzt. Am 19. Mai 1940, neun Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht, nimmt Paul Reynaud Marschall Pétain und den Unterstaatssekretär im Kriegs- und Außenministerium Charles de Gaulle in die Regierung auf. Am 18. Juni, ein Tag nach der Kapitulation, ist de Gaulle bereits in London und verkündet von dort die Résistance. Keiner kennt ihn. Er ist eher der imaginäre als der tatsächliche Gegenspieler von 82 Zit. nach Baruch, Das Vichy-Regime, a. a. O., S. 166 f.
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Pétain. Wer sich in diesen Tagen zu den mehr als ungeliebten Engländern absetzt, gilt eher als Verräter denn als Widerstandskämpfer. Und diese blieben auf ihren Posten und verließen nicht Knall auf Fall ihre Kommandantur. Pétain verurteilt ihn in Abwesenheit zum Tode. Das in London um ihn versammelte Truppenkontingent seiner France libre wird nicht nur scherzhaft als „erweiterte Ordonnanz“ bezeichnet, aber er hat die BBC, jeden Abend. Er maßt sich die Herrschaft in den Kolonien an, wo es zu blutigen Gefechten zwischen den „beiden Frankreichs“ kommt. Um de Gaulle dort auszuschalten, nimmt Pétain Kontakt mit dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt auf, der die Franzosen wegen ihrer Feigheit und Dekadenz verachtet. Michel Debré, Georges Pompidou und Maurice Couve de Murville, die drei späteren Premierminister de Gaulles, dienten alle in Vichy. Nach dem Zeugnis von Widerstandskämpfern soll er sogar Papon zum Ausharren in dem Thermalbad aufgefordert haben, weil dieser ihm dort „nützlicher war als im Untergrund“.83 Der Tag der Invasion naht, nur einer weiß nichts von ihm: de Gaulle. Winston Churchill bezeichnet den „selbstgefälligen“ Führer des „Freien Frankreich“ in einem Brief an Roosevelt als „größten einzelnen Feind für den Frieden in Europa“ (!), und in einem Telegramm an Harry S. Truman nennt er ihn den „schlimmsten Feind Frankreichs“ (!). Churchill nahm es de Gaulle auf das Tiefste übel, „sich als Retter Frankreichs aufspielen zu wollen, ohne einen einzigen Soldaten zur Operation beizusteuern“. Er veranlasste bei seinem Informationsminister eine Presseerklärung, dass de Gaulles „Persönlichkeit und Verhalten das größte Hindernis“84 für vernünftige Beziehungen zwischen Frankreich und England seien. Von der Landung der angloamerikanischen Truppen wird der General erst im letztmöglichen Moment informiert, als Dünkirchen fast schon erreicht ist. Jedenfalls ist France libre an dem Unternehmen mit nicht einem einzigen Soldaten beteiligt. Deshalb glaubte der 17-jährige Valéry Giscard d’Estaing auch nicht, seinen Ohren zu trauen, als er vor dem Pariser Rathaus die Botschaft vernahm, dass die Franzosen sich in einem Aufstand gegen die Deutschen aus eigener Kraft befreit hätten, „die Republik nie aufgehört hat zu existieren und Vichy null und nichtig“ sei. Die Alliierten erwähnte de Gaulle mit keinem einzigen Wort, vielmehr tischte er den Parisern eine von patriotischer Verblendung eingegebene Version der Befreiung Frankreichs auf (…) Er wollte mit dieser manifesten Lüge der angeschlagenen Moral der Franzosen auf die Beine helfen (…) und ist insofern für die systematische Verleugnung der Wirklichkeit verantwortlich. (…) Die französische Politik hat seit dem Zweiten Weltkrieg ein großes Problem mit der Wahrnehmung der Realität, genau genommen seit jenem unvergesslichen 25. August 1944, als de Gaulle vier Tage vor den Alliierten in Paris einmarschierte und den Franzosen weismachte, sie, die alte Weltmacht, hätten den Krieg zuletzt noch heroisch gewonnen. An diesem Tag versäumten sie es, der Wahrheit ins Auge zu sehen, die darin bestand, dass sie den Krieg niederschmetternd verloren hatten, dass sie keine 83 „Der Spiegel“, Nr. 44/1997, S. 182. 84 „Der Spiegel“, Nr. 26/2002, S. 114.
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Weltmacht mehr waren und als solche von den Amerikanern, denen sie überdies noch ihre Befreiung verdankten, (…) abgelöst wurden. Aber (…) je mehr der Einfluss Frankreichs in der Welt zusammenschrumpft, desto stärker hält es an der Illusion seiner Besonderheit fest. (…) Es schüttelt panisch den Kopf, um nicht zu erwachen, denn sonst sähe es, dass es selbst ein Zwerg geworden ist. Die Verleugnung der Kriegsniederlage war eine psychische Katstrophe für Frankreich und die Folgen (…) schlagen sich in der sinistrose nieder, jener allgemeinen Katastrophenstimmung, die auf Frankreich lastet (…) und die nicht durch das Gefühl einer Krise, sondern einer absoluten Ausweglosigkeit erzeugt wird, und dieses wiederum dadurch, dass die Verleugnung der Geschichte in der Bevölkerung eine Art Unempfindlichkeit gegen alle schmerzlichen Wahrheiten erzeugt hat – angefangen bei der Negierung der Niederlage, dem Herunterspielen der landesweiten Kollaboration, der Glorifizierung der Résistance, dem Verzicht auf die „Entnazifizierung“ des Vichy-Regimes (dessen Opportunisten und Schreibtischmörder wie in Österreich ins neue Frankreich übernommen wurden) bis hin zum Verschweigen der Verbrechen in den Kolonien.85
Natürlich kann für den ungeheuerlichen Sieger- und Großmachtanspruch des Generals nur ein einziges Gewicht auf die Waage gelegt, nur eine einzige Glaubwürdigkeitsbasis ins Feld geführt werden, die Résistance, und hier nun geraten de Gaulle und der Gaullismus vollends in die historische Schieflage. Eine genaue Zahl der wirklich aktiven résistants gibt es bis heute nicht, die Angaben schwanken je nach Kriegslage. Deshalb wird man auch die 300.000 „Arbeitsverweigerer“, die sich nach der Einführung des Service du travail obligatoire „in die Büsche schlagen“86, kaum ernsthaft als Widerstandkämpfer bezeichnen können. Den Kern der inländischen Résistance vor Ort haben nach den neuesten Schätzungen 50.000 Mann gebildet, also keine 0,1 Prozent der Bevölkerung, und innerhalb dieser Gruppierung dominieren vor dem verlorenen Häuflein der Anhänger de Gaulles eindeutig die Kommunisten. Sie, und nicht mon général, wären deshalb vorrangig zur Führung des Nachkriegsfrankreichs legitimiert gewesen. Anfangs gab es eigentlich gar keinen Widerstand, denn die moskauhörigen Kommunisten unterstützten bis zum 22. Juni 1941 den Stalin-Hitler-Pakt. Einzelpersonen verübten Anschläge, die von der Bevölkerung als terroristisch empfunden wurden. De Gaulle war und blieb der „General Mikrofon“, wie ihn die Vichy-Propaganda bezeichnete, der es sich in London bequem gemacht hatte. Im Mutterland fing man eigentlich erst sei dem Juni 1943 an, ihn ernst zu nehmen, nachdem er in das befreite Algier gewechselt war und dort das Comité français de libération nationale gegründet hatte. Seine Résistance extérieure verfügte zu dem Zeitpunkt über 70.000 Soldaten, denen die 85 Benjamin Korn, Frankreichs großer Selbstbetrug, in: „Die Zeit“ vom 21.12.2005, S. 43; ähnlich: Albrecht Betz, Eins mit seinem Mythos. De Gaulle und die Verkultung Frankreichs, in: „Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“, Nr. 7 und 8/2007, S. 106–108 und Matthias Waechter, Der Mythos des Gaullismus. Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie, Göttingen 2006; anders: Peter Schunck, Charles de Gaulle. Ein Leben für Frankreichs Größe, Berlin 1998. 86 Rousso, Vichy, S. 108.
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Aktivisten der Résistance intérieure in der Mehrheit misstrauisch gegenüberstanden. Jean Moulin, der sie untereinander einigen und das Bindeglied zur France libre bilden sollte, starb bereits am 7. Juli 1943. Zwar gelang es seinem Nachfolger Georges Bidault, die noch unter Moulin zu den Mouvements unis de la Résistance zusammengeschlossenen Gruppierungen Combat, Libération-Sud und Franc-tireur an den mächtigen Front national der Kommunisten anzunähern, der auch im gemeinsamen Conseil national de la Résistance mitarbeitete, dennoch blieb der Widerstand bis zuletzt vom Widerspruch und der lähmenden Rivalität zwischen Gaullisten und Kommunisten gekennzeichnet. Die (verbotene) KPF war 1943 die einzige durchorganisierte, vor Ort präsente Partei in Frankreich. Fast alle der allein in diesem Jahr erschossenen 1500 Geiseln kamen aus ihren Reihen. Die Francs-tireurs et partisans (français), ihre militärische Organisation, stellte innerhalb der Forces françaises de l’intérieur das stärkste Kontingent, während de Gaulles Armée secrète hierin selbst mit der Bezeichnung „Bataillon“ noch überbewertet war. Die Kommunisten waren es auch, die den berühmten Maquis, den Untergrund, beherrschten. Unter ihrer Führung sind an der Loire und an der Rhône tatsächlich einige Gebiete ohne Beteiligung der Alliierten befreit worden. Die Bevölkerung blieb auch hier passiv. Die Grauzone zwischen Kollaboration und Widerstand umfasste bis zum Schluss den – mit Abstand – größten Teil der französischen Gesellschaft. Die Lebenslüge eines einigen, heroischen Volkes von Widerstandskämpfern vermochte zum Gründungsmythos des zerrissenen Landes taugen, in Wirklichkeit jedoch war das Verhalten der Französinnen und Franzosen gegenüber der Résistance „keineswegs eindeutig“, es reichte von versteckter und offener Solidarität bis hin zu „feindseliger“ Ablehnung“87. Wenn auch nicht annähernd so verhasst wie die Miliz, so fürchteten die Menschen doch ihre Repressalien und Racheakte, und manchen galt sie schlichtweg als terroristisch. Zu einem Massenphänomen wurde sie erst in den letzten Kriegstagen, als die Opportunisten und Trittbrettfahrer aller Schattierungen auf ihren Zug sprangen, und auch dieses Verhaltensstereotyp ist weit besser mit dem Wort accomodation als mit dem Begriff „Widerstand“ gekennzeichnet. Frankreich war als tief gespaltene Nation in den Krieg gegangen, und daran hatte sich auch nichts geändert, als de Gaulle in Paris die Geschichte von der heldenmütigen Selbstbefreiung erzählte. Für das Martyrium der französischen Juden hat er bis an sein Lebensende kein einziges Wort gefunden. In den frühen Morgenstunden des 20. Augusts 1944 stehen deutsche Soldaten im Dienstzimmer des Marschalls Pétain in Vichy. Sie haben den Auftrag, ihm das anzutun, was er sich, komme, was wolle, à tout prix verboten hatte, nämlich aus Frankreich entfernt zu werden. Laval ereilt das gleiche Schicksal. Ziel ist das Schloss der jüngeren schwäbischen Linie der Hohenzollern in Sigmaringen, wo sie drei Tage später von Hitler begrüßt werden und die „Regierungsdelegation zur Verteidigung der französischen Interessen in Deutschland“ bilden, die formell Fernand de Brinon unterstellt wird. Brinon war der Vertreter Vichys beim deutschen Botschafter in Paris gewesen und hatte 87 Baruch, Das Vichy-Regime, a. a. O., S. 185.
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sich als Scharfmacher gegen die Résistance profiliert. Er wird Chef der „Regierung im Exil“, weil Pétain sich weigert, auf deutschem Boden amtlich tätig zu werden, sich gleichzeitig aber auch weigert, von seinen Funktionen zurückzutreten. Es sind die letzten Zuckungen der „französischen Souveränität“. Mit der Genehmigung des Marschalls, mit dessen Namen und Bild, ist Brinon jetzt offizieller Interessenvertreter der 1,5 Millionen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in Deutschland. In dem beschaulichen Städtchen, bald „Vichy an der Donau“ genannt, entsteht ein Mikrokosmos aus 2000 Franzosen mit eigener Zeitung („La France“), eigenem Rundfunksender („Ici la France“), mehreren Botschaften (die deutsche wird von Otto Abetz geleitet), abendlichen Autorenlesungen (mit Céline und Rebatet) und schillernden Damen unten in den Gassen, wo die „France-Garde“ ansonsten für Ordnung sorgt. Eine französische Schule wird aufgebaut, Brinon veröffentlicht Ukasse einer Commission Gouvernementale pour la défense des interêts français en Allemagne. In Wirklichkeit herrscht Zwietracht. Die sich bis zum letzten Atemzug befehdenden Pariser Kollaborationisten und Vichyer Kollaborateure finden sich unter einem Dach des deutschen Hochadels eingezwängt. Vom Turm weht die Tricolore. Marcel Déat, der bis zum Schluss an einen europäischen Sozialismus und an die nationalsozialistische Revolution in Frankreich glaubt, ist verantwortlich für die Propaganda, und Joseph Darnand erhält den Auftrag, eine „nationale Befreiungsarmee“ auszuheben. Die 10.000 Milizionäre, die ihm gefolgt sind, werden über das ganze Land verteilt. Sofort gerät er in hasserfüllten Gegensatz zu Jacques Doriot, der mit seiner Légion des Volontaires Français contre le Bolchevisme (LVF) an der Ostfront bis zuletzt unentwegt seinen Dienst tat. Während Franzosen bislang nicht als SS-würdig galten, waren Himmlers Skrupel im Herbst 1944 längst verflogen. Im August wird die 33. Panzergrenadierdivision der Waffen-SS unter dem Namen Charlemagne aus den Resten der LVF (etwa 2000 Mann), 1500 Milizionären Darnands und französischen Freiwilligen gebildet. Von den insgesamt 7000 Soldaten der Division fallen 6000 im Februar 1945 bei der Verteidigung Pommerns, die Überlebenden werden im Kampf um Berlin eingesetzt. Noch nach dessen Selbstmord halten sie dem „Führer“ in den Kellern der Hauptstadt die Treue.88 Henri Fenet, ein ehemaliger Milizionär, erhält am 29. April 1945 das Ritterkreuz, weil er in den Straßen von Berlin 62 sowjetische Panzer in Brand geschossen und kampfunfähig gemacht hat. Insgesamt haben 60.000 Franzosen in deutschen Verbänden gedient, davon 10.000 an der Ostfront; die 52.000 Elsässer, die sich als Deutschstämmige freiwillig zur Waffen-SS oder zur Wehrmacht meldeten bzw. aufgrund der Wehrpflicht zwangsrekrutiert wurden, sind hier nicht eingerechnet. Ende August 1944 werden Doriot, Darnand und Déat in das Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ im ostpreußischen Rastenburg gebeten, wo Hitler Doriot zum Regie88 Kuzma Ivanovic Kozak, Franzosen in den Verbänden der Wehrmacht, in: Wolf Kaiser (Hg.), Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin und München 2002, S. 160–165.
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rungschef Frankreichs nach dem Krieg bestimmt. Er verlegt sein Hauptquartier auf die Insel Mainau und ruft in seiner Zeitung „Le petit Parisien“ zum Boykott der von de Gaulle verkündeten Wehrpflicht auf. Am 22. Februar 1945 wollen sich die drei Großkollaborateure zum Versöhnungsgespräch im süddeutschen Mengen treffen, aber Doriots Auto wird unterwegs von Tieffliegern beschossen und zerstört, er selbst erliegt den Verletzungen. Darnand versucht bei Kriegsende als Mönch verkleidet in die Schweiz zu fliehen, aber englische Soldaten nehmen ihn fest. Am 3. Oktober 1945 ergeht das Todesurteil in Paris, ein Gnadengesuch lehnt er ab. Er war und blieb bis zum letzten Atemzug der eigentliche homo fascista Frankreichs. Einzig Déat überlebt. Er flüchtet nach Genua und verbirgt sich bei den Franziskanern und Salesianern. Schon im Juni 1945 in Abwesenheit zum Tode verurteilt, stirbt er zehn Jahre später in San Vito bei Turin eines natürlichen Todes. Der Krieg war vorbei, und mit ihm die Kollaboration. Aber die Wunden eines zutiefst geschlagenen, zutiefst verletzten und zutiefst mitschuldig gewordenen Volkes saßen tief. Gern wollte man jetzt auf das Rezept zurückgreifen, das Ernest Renan schon am Beginn der Dritten Republik, nach dem blutigen Ende der Commune, ausgestellt hatte: Das Vergessen – ich möchte fast sagen: der historische Irrtum – spielt bei der Erschaffung einer Nation eine wesentliche Rolle, und daher ist der Fortschritt der historischen Studien oft eine Gefahr für die Nation (…). Es ist für alle gut, vergessen zu können.89
Doch so einfach ging es nicht. Pétain, der Retter und Verräter, bezeichnete sich jetzt mit scharfer Klinge gegen de Gaulle als ersten Widerstandskämpfer auf dem französischen Festland, der kleine Mitläufer auf der Straße hingegen antwortete schon bei den ersten Befragungen: „On s’installe.“ Sartre und Camus mahnen sofort zum Verstehen und Vergessen, aber sie können den guerre franco-française, die „innere und wilde Säuberung“, nicht verhindern. Verwunderlich war dies nach allem, was im Etat français versucht und auch weitestgehend erreicht worden war, nicht. Eine nationalistische und repressive, bis ins Kleinste durchorganisierte, klerikalisierte, Fremden verschlossene, von moralischem Rigorismus und Autoritarismus geprägte Gesellschaft, deren Sachwalter bis an den Rand der totalitären Unterwerfung als des eigentlichen Kennzeichens eines faschistischen Systems gingen, das war der Grundton jenes Regimes, das „sich eng an das nationalsozialistische Europa anschloss, für das es ein wichtiger, wenn nicht entscheidender Alliierter war“.90 Hatte de Gaulle so unrecht, wenn er sagte: „Um eine solche Knechtung zu erreichen und zu akzeptieren, wären Sie nicht nötig gewesen, Herr Marschall, man brauchte dazu den Sieger von Verdun nicht; jeder andere hätte genügt“91. Was trieb den Sozialisten Mitterrand, ihm jedes Jahr an seinem Todestag einen Kranz am Grab auf der Ile d’Yeu niederlegen zu lassen? 89 Ernest Renan, Was ist eine Nation?, Wien und Bozen 1995, S. 51 (Original: Paris 1882). 90 Rousso, Vichy, S. 134. 91 Zit. nach Baruch, Das Vichy-Regime, a. a. O., S. 193.
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Die années noires haben sich tief in das Bewusstsein und mehr noch in das Unterbewusstsein der Franzosen eingeprägt. Worte wie Ersatz wurden zum Bestandteil der Alltagssprache, als Synonym für Entbehrung. Da die Dimensionen der Staatskollaboration, mithin die historische Wahrheit, nur scheibchenweise ans Licht kamen, spalteten sie die Gesellschaft immer wieder, eigentlich bis heute. Dies zeigte sich insbesondere bei den Wirtschaftsprofiteuren und ihrem Motto „Geschäft ist Geschäft“. Dass beispielsweise der Autobauer Louis Renault weit über das erforderliche (und verlangte) Maß mit den Deutschen zusammengearbeitet hatte und dass sich Coco Chanel, die weltweite Modeikone, den Nazis in einer geradezu widerwärtigen und parasitären Form angebiedert hatte (was erst 2011 aufgedeckt wurde), musste mit dem Nationalstolz der Grande Nation erstmal in Einklang gebracht werden. Die Erfinderin des „kleinen Schwarzen“ benutzte die großen Braunen, um an ihrem Parfüm „Chanel“ zu verdienen. Berechnend ging sie im Hotel Ritz eine Liebesbeziehung mit einem deutlich jüngeren deutschen Agenten ein, um Familienangehörige zu schützen. Der Agent brachte sie in die Kreise Himmlers, in denen sie 1943 den Auftrag erhielt, mit Winston Churchill einen Separatfrieden auszuhandeln, aber die „Operation“ scheiterte. Immerhin bezeichnete der britische Premier sie als „ein starkes Geschöpf, fähig, über einen Mann oder ein Reich zu herrschen“92. Eines der schwierigsten und diffizilsten Kapitel des Zweiten Weltkriegs in Frankreich ist die Geschichte und das Schicksal der Malgré-Nous, was auf Deutsch etwa mit „Wider unseren Willen!“ zu übersetzen ist. Bei den Malgré-Nous handelt es sich um 130.000 von 1942 bis 1945 in die Wehrmacht und die Waffen-SS zwangsrekrutierte Elsässer und Lothringer. Der Zwang, eine fremde Uniform tragen zu müssen, dem sich der eigene Bruder durch Flucht entzog, hat dazu geführt, dass Familienangehörige sich an der Front wiedertrafen, um aufeinander zu schießen. Elsass-Lothringen war im Oktober 1940 in die „Reichsgaue“ Westmark und Oberrhein eingegliedert worden, seine Bewohner galten als „Volksdeutsche“. Da es eine tatsächliche, in einem Dekret verfügte Annexion aber nie gegeben hat, galt das Land nach internationalem Recht auch weiterhin als Französisch. Für den elsässischen Gauleiter Robert Wagner war die Durchführung der Wehrpflicht das elementare Instrument, mit dem sich die jungen Menschen dieser Region ihre Qualität als „vollwertige Reichsdeutsche“ verdienen konnten, ein Angebot also, wenn nicht ein Geschenk. Am 9. August 1942 wird der Wehrdienst als „Kollektivgermanisierung“ eingeführt. Fluchtversuche nach Innerfrankreich und in die Schweiz sind die Folge, eingezogene Rekruten entrollen bei der Abfahrt die französische Fahne und singen die Marseillaise. In der „Pädagogik des verlorenen Sohnes“ werden die deutschen Soldaten an der Front aufgefordert, ihren Kameraden bei der 92 Hal W. Vaughan, Coco Chanel. Der schwarze Engel – Ein Leben als Nazi-Agentin, Hamburg 2011 und Justine Picardie, Coco Chanel. Legende und Legenden, Göttingen 2011; vgl. als Beispiel anderer Wirtschaftskollaboration: Fabien Nury und Sylvain Vallée, Es war einmal in Frankreich, 2 Bde., Berlin 2010 und 2011.
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Rückkehr in die „deutsche Volksgemeinschaft“ behilflich zu sein. 15.600 Malgré-Nous sind desertiert, 40.000 sind gefallen. Die Zurückgekehrten legten das Schamgefühl, das Feldgrau des Feindes getragen zu haben, oft ihr ganzes Leben lang nicht mehr ab, genauso wenig wie den Hass auf die „occupants et tyrans“. Vom Mutterland fühlte man sich verraten und im Stich gelassen, einige mussten sich sogar „boches“ nennen lassen, und dies in einem Staat, der um seine Vergangenheit in den Jahren 1940 bis 1944 einen weiten Bogen machte. Stattdessen durften sie sich noch die Vorhaltung anhören, warum sie nicht desertiert seien. Nicht wenige Malgré-Nous empfanden sich deshalb als Märtyrer im Minenfeld der deutsch-französischen Volkstumspolitik, die ihre „qualité de citoyen français“ nach 1945 weit gewissenhafter nachweisen mussten als die Heerscharen der Kollaborateure in und um Vichy. Dennoch gibt es auch bei ihnen den „Mythos des von Anfang bis Ende unkompromittierten französischen Patrioten“, denn wie viele von ihnen völlig freiwillig und ideologisch überzeugt am „Schicksalskampf gegen die Russen“ teilnahmen, dazu „wäre noch eine Menge zu sagen“93. Ein erheblicher Teil des elsässischen Jahrgangs 1926 diente in der SS-Elitedivision „Das Reich“. Die eigentliche Kompromittierung der Menschen dieses Landstrichs basiert auf der abgefeimten Strategie der Nazis, bei der größten Geiselerschießungsaktion 1944 in Oradour-sur-Glane elsässische Zwangsrekrutierte einzusetzen, die im Nachhinein als Freiwillige deklariert wurden. Wenn irgendwo, dann wurde hier ihr Schicksal deutlich, bei jedem Lagerwechsel im Heimatland von Patrioten zum Verräter zu mutieren. Nur „Alsaciens und Elsässer“, das durften sie nie gleichzeitig sein. Im brutal germanisierten Elsass, in dem selbst das Tragen der Baskenmütze unter Strafe gestellt worden war, wurden 1945, unmittelbar nach der Befreiung durch die Alliierten, 10.000 „Suspekte“ verhaftet. Viele von ihnen waren über die Einweisung ins Internierungslager froh, weil sie dort vor der Lynchjustiz der eigenen Nachbarn sicher waren. Allerdings empfanden sie es als geschmacklos, dass hierfür auch die ehemaligen KZ in Struthof und Schirmeck ausgewählt wurden. Festgenommen hatten sie die Forces Françaises de l’Intérieur (FFI), ein Organ der Résistance, in dem zahlreiche Kommunisten und „Widerständler der 25. Stunde“ tätig waren. Entsprechend vage und willkürlich hörten sich dann auch die Internierungsgründe an, die entweder „Germanophilie“, „versessene Deutschfreundlichkeit“, „Bochophilie“ (!), „antifranzösische Machenschaften“ oder „Fanatismus“ lauteten. Demütigungen und Misshandlungen waren an der Tagesordnung. In den durchgeführten Prozessen wurde schnell deutlich, dass es den neuen Machthabern nicht nur um die Bestrafung wegen begangener Delikte ging, sondern weit mehr noch darum, die „ennemis de France“ zu finden und unschädlich 93 Clemens Krüger, Zwangsrekrutierung und autobiographisches Erzählen der elsässischen „Malgré-Nous“ (Wehrmachtssoldaten), in: Mathias Beer, Dietrich Beyrau und Cornelia Rauh (Hg.), Deutschsein als Grenzerfahrung. Minderheitenpolitik in Europa zwischen 1914 und 1950, Essen 2009, S. 135–162, hier. S. 160; vgl. auch: Nicolas Mengus und André Hugel, Entre deux fronts. Les incorporés de force alsaciens dans la Waffen-SS, 2 Bde., Saargemünd 2008.
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zu machen. Das ganze Elsass sollte endlich und endgültig französisiert werden. Um diese Ziel zu erreichen, wurde ein Fragebogen ausgegeben, den jeder Erwachsene ausfüllen musste. Das Erhalten der Lebensmittelkarte war hiervon abhängig. Auf ihm mussten natürlich die politischen Aktivitäten von 1940 bis 1944 eingetragen werden, der Bogen war aber für alle zur Einsicht frei, und in der Rubrik „informations supplémentaires diverses“ konnte jeder „Vergessenes“ eintragen. Das war die offene Aufforderung zur Denunziation. Schnell sahen sich angebliche oder tatsächliche „NSKomplizen“ reihenweise verhaftet. Im August 1945 bestanden die französischen Internierungslager, in denen Kollaborationsverdächtige einsaßen, zur Hälfte aus Elsässern! Struthof und Schirmeck mussten wegen Überfüllung schließen. Deshalb begann man vier Monate später mit Entlassungen und „Verbannungen“ in Städte und Orte Zentralfrankreichs, wo die Ausgewiesenen politisch überwacht wurden, unter Hausarrest standen und oft erst nach Jahren in ihre Heimat zurückkehren durften. Das Ergebnis all dieser Maßnahmen ist ambivalent: Sie (die Elsässer und Lothringer) fühlten sich tief schuldig wegen ihrer sprachlichen und kulturellen Wahlverwandtschaft mit einem verpönten und verhöhnten Deutschland und getrauten sich nicht mehr, ihre Identität oder gar ihren Partikularismus zu zeigen, aus Angst, für Nazis gehalten zu werden (…) und aus Furcht vor ihrer Dualität, gleichzeitig Franzose und Deutsche zu sein, beschlossen sie nach der Befreiung, mit ihrer Vergangenheit zu brechen und ganz mit der französischen Umgebung zu verschmelzen.94
Unabhängig hiervon und natürlich gänzlich anders verlief der Umgang mit den Kollaborateuren, die „Säuberung“ im Mutterland. Épuration, das Wort hatte schon seit der Großen Revolution einen fatalen Beiklang. „Die Nation säubern, (…) damit sie ihre Reinheit wiedererlangt“, so hatte Marat es schon 1789 verlangt, nur durch „actes de purification“, durch Reinigungshandlungen, sei die Wiederherstellung einer politischen und moralischen Ordnung möglich. Nicht wenige werden 1944 so gedacht und 94 Christiane Kohser-Spohn, Elsaß 1945: Eine Gesellschaft wird gesäubert, in: Beer, Beyrau und Rauh (Hg.), Deutschsein als Grenzerfahrung, a. a. O., S. 111–133, hier: S. 132 f.; vgl. auch: JeanLaurent Voneau, L’épuration en Alsace. La face méconnue de la Libération 1944–1953, Straßburg 2005; Ansbert Baumann, Die Erfindung des Grenzlandes Elsass-Lothringen, in: Burkhard Olschowsky (Hg.), Geteilte Regionen – geteilte Geschichtskulturen. Muster der Identitätsbildung im europäischen Vergleich, München 2013, S. 163–183. Christiane Kohser-Spohn unterscheidet – auf ganz Frankreich bezogen – zwischen dénonciation, dénonciation calomnieuse und délation. Erstere ist eine staatsbürgerliche Tugend, eine politische Pflicht und ein natürliches Recht des citoyens, die zweite ist verleumderisch und die dritte ist Denunziation aus niederträchtigen Gründen. Frankreich lebt bis heute in dem „dauerhaften Mythos“, dass es in den „dunklen Jahren“ nicht denunziert hat: Kohser-Spohn, Denunziations- und Anzeigepraxis in Frankreich während der „Épuration“ 1945–1953, in: Anita Krätzner (Hg.), Hinter vorgehaltener Hand. Studien zur historischen Denunziationsforschung, Göttingen 2015, S. 67–83, hier: S. 76, 77, 79 und 83, zum Elsass: S. 81.
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viele davor gezittert haben. Die neuerliche épuration sollte also sehr wohl eine revolutionäre Tradition fortsetzen, sie sollte aber auch Willkür, Ausschweifungen, Rache und Siegerjustiz vermeiden, und genau dies ist in den Noch- und Nachkriegswirren nicht gelungen: Die mit Abstand höchste Todeszahl der épuration ist in den „wilden Säuberungen“ unmittelbar vor und nach der alliierten Landung zu verzeichnen, als 10.000 Personen standrechtlich hingerichtet werden.95 Die libération, die schließlich auch ein Wettlauf zwischen den Français libres de Gaulles, den résistants de l’intérieur und den vorrückenden Amerikanern war und die vielerorts den Charakter bürgerkriegsähnlicher Volksaufstände annahm, artete hier in einen vordemokratischen Prozess aus, in dem mit Sicherheit auch alte Rechnungen beglichen wurden. Ein besonderes Problem in diesem Zusammenhang stellen die tondues dar, jene Frauen, denen angebliche oder tatsächliche Verhältnisse mit deutschen Soldaten nachgesagt wurden, im Volksmund collaboration horizontale genannt. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt und wird sicherlich auch nie bekannt werden. Fakt ist aber, dass diese Frauen „oft von Frauen“96 denunziert wurden, aus welchem Grund auch immer. Sie galten dann automatisch als Prostituierte, mussten – aus angeblich hygienischen Gründen – die Kopfscherung (la tonte) über sich ergehen lassen und wurden wie die Ehebrecherinnen des Mittelalters unter dem Gejohle der Bevölkerung durch die Straßen getrieben. Immerhin wurden sie „nur“ angespuckt und geschlagen, im Gegensatz zu den Männern aber nur in den seltensten Fällen hingerichtet. Das Ganze glich einem exorzistischen Ritual, einer Austreibung des Bösen. Worum es vor allem ging, war Demütigung. Wer seinen kahlen Kopf unter einem Kopftuch verbarg, sah sich erneut bestraft. Dass diese Frauen aus Hunger, barer Not oder schlichtweg aus Liebe Beziehungen mit den Besatzern eingegangen waren, stand jetzt nicht mehr zur Debatte. „Selbstverständlich warfen sich manche Frauen irgendwelchen Soldaten an den Hals, weil sie von ungezügelter Lebenslust waren oder sich, ohne im strengen Sinn Prostituierte zu sein, materielle und immaterielle Vorteile davon versprachen.“97 Schließlich handelte es sich fast durchweg um Frauen, die seit Jahren ohne Ehemänner, Zärtlichkeit und Sexualität mit zu versorgenden Kindern, Eltern und harter Arbeit gelebt hatten. Wenn da der gut aussehende und gut situierte deutsche Offizier kam, wurde nicht lange gefackelt. Eine 95 Marc Olivier Baruch (Hg.), Une poignée de misérables. L’épuration de la société française après la Seconde Guerre mondiale, Paris 2003; Dietmar Hüser, Vom schwierigen Umgang mit den „schwarzen Jahren“ in Frankreich. Vichy 1940–1944 und 1944/45–1995, in: Afflerbach und Cornelißen (Hg.), Sieger und Besiegte, a. a. O., S. 87–118. 96 Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, a. a. O., S. 61. 97 Ebba D. Drolshagen, Wehrmachtskinder. Auf der Suche nach dem nie gekannten Vater, München 2005, S. 56; dies., Nicht ungeschoren davongekommen, München 1998; dies., Der freundliche Feind, a. a. O.; Fabrice Virgili, La France „virile“. Des femmes tondues á la libération, Paris 2006; dies., Naître ennemi: Les enfants de couples franco-allemands nés pendant la seconde guerre mondiale, Paris 2009. Man beachte auch die Darstellung und Rolle der Großmutter in Didier Eribons Roman „Rückkehr nach Reims“, Berlin 2016!
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Million Besatzungskinder, „Deutschenbastarde“, haben die Wehrmachtssoldaten in Europa hinterlassen, die meisten davon, 100.000, in Frankreich, dem einzigen Land, das die zumeist verschwiegenen, versteckten oder weggegebenen jungen Menschen nach dem Krieg ausdrücklich anerkannt hat. Trotzdem blieben sie bis weit in die 1980er Jahre aus der französischen Gesellschaft faktisch ausgeklammert, sofern sie überhaupt von ihrer Herkunft erfahren hatten. Ihre Mütter sahen sich sogar als nationale Verräterinnen deklariert, zumal wenn es sich um Ehefrauen französischer Kriegsgefangener handelte, die dann auch noch mit dem Feind ins Bett gegangen waren. Der große JeanPaul Sartre hat in seinem berühmten, unmittelbar nach Kriegsende verfassten Essay „Qu’est-ce qu’un collaborateur?“98 von der praktisch ausschließlich sexuellen Form der Unterwerfung unter die germanischen Herrenmenschen gesprochen. Wenn man sich die Realität des Zusammenlebens von Deutschen und Französinnen in diesem Zeitraum anschaut, dann liegt er auch mit dieser seiner Analysen daneben. Zutreffender ist da schon, was die damals kaum weniger berühmte Schauspielerin Arletty den Richtern eines Säuberungsausschusses antwortete, die ihr die Beziehung mit einem deutschen Offizier zum Vorwurf machten. Sie entgegnete den hohen Herren: „Mein Herz gehört Frankreich, aber mein Hintern gehört mir.“99 Am 3. Juni 1944 bildet sich aus dem Comité français de libération nationale (CFLN) die provisorische Regierung der Republik, am 4. August wird die Administration von Vichy aufgelöst. Interimsgerichte sollen den „wilden Säuberungen“ Einhalt gebieten. Erst am 18. November wird die Haute Cour de la Justice geschaffen, die sich mit den führenden Politikern von Vichy befasste und ihnen Landesverrat vorwarf, weil sie „Frankreich in seiner Seele“ hintergangen hätten, nachdem bereits am 26. August mit der dégradation nationale eine Strafe für alle verfügt worden war, die sich der indignité nationale, der „nationalen Würdelosigkeit“, schuldig gemacht hatten. Damit war das Feld für die épuration bereitet, die weder Siegerjustiz noch bloßer Racheakt sein sollte. Insgesamt sind von der Haute Cour 108 Minister, Staatssekretäre und hohe Verwaltungsbeamte verurteilt worden, die Vichy vom 16. Juni 1940 bis zum 25. August 1944 gedient haben. Von den achtzehn zum Tode Verurteilten wurden allerdings nur drei hingerichtet. Allein 45 Verfahren wurden eingestellt und sieben wegen sogenannter faits de résistance, also einer Beteiligung am Widerstand, ausgesetzt, darunter auch der Fall René Bousquet. Die örtlichen und regionalen Säuberungskomitees, die Polizei, die Armee und die Gendarmerie haben der niederen Gerichtsbarkeit, den Cours de Justices und den Chambres civiques, insgesamt 311.263 Verfahren übergeben, in die 340.000 angebliche oder tatsächliche Kollaborateure verwickelt waren. Sechzig Prozent dieser Verfahren sind bereits im Frühstadium eingestellt und nur 118.060 auch durchgeführt worden, in denen 132.828 Personen belangt wurden. Die am häufigsten verhängten 98 In: „La République Française“, New York, August 1945. 99 Zit. nach Henry Rousso, L’Épuration. Die politische Säuberung in Frankreich, in: Henke und Woller (Hg.), Politische Säuberung in Europa, a. a. O., S. 192–240, hier: S. 207.
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Urteile lauteten auf dégradation nationale (fast 50.000), Gefängnis (fast 24.000), Zwangsarbeit (13.000) und Zuchthaus (2000). Fast 30.000 Freisprüchen standen 7037 Todesurteile gegenüber, von denen allerdings nur 791 (andere Quellen: 767) vollstreckt wurden. Immer noch relativ wenig untersucht ist der Sektor der Militärgerichtsbarkeit, deren Urteile später von der Strafkammer des Kassationshofes in großer Zahl wieder aufgehoben wurden. Die Militärgerichte hatten zumindest bis 1954 eine überaus wichtige Funktion; so waren sie auch für die Aburteilung der 20.127 Kriegsverbrechen zuständig, die von der Besatzungsmacht verübt worden waren.100 Im Rahmen dieser Tribunale sind noch einmal 694 (andere Quellen: 766) Kollaborateure hingerichtet worden, sodass sich die Gesamtzahl der in der épuration vollstreckten Todesurteile auf 1500 verdoppelt und die der Gefängnisstrafen auf 40.000 anwächst. Die Zahlenangaben der Säuberungen in Wirtschaft und Verwaltung sind bis heute unsicher und widersprüchlich. Von den 850.000 Beamten in der Justiz und in den öffentlichen Einrichtungen sind ganze 16.113 mit Sanktionen belegt und nur 6500 entlassen worden, also nicht einmal 1 Prozent. Der tatsächliche Umfang der Kollaboration in der Administration wird wohl etwas anders ausgesehen haben. Die ökonomische Zusammenarbeit mit den Deutschen war die alltäglichste und am weitesten verbreitete. „Sie wurde aber praktisch nicht geahndet.“101 Die Wirtschaftsführer wurden für den Wiederaufbau gebraucht, und zudem war ihnen auch nur schwer beizukommen. Die paritätisch aus Mitgliedern der Arbeiterschaft, der Arbeitgeber und Vertretern des Staates zusammengesetzten Komitees zur Wirtschaftssäuberung konnten ihnen zwar das Recht absprechen, ihren Betrieb zu leiten, aber Aktien und Dividende blieben unangetastet, womit die Sanktionswirkung verpuffte. Die Commission nationale interprofessionelle d’épuration hat hier insgesamt 1538 Verfahren eröffnet, von denen 1024 eingestellt und 150 an andere Instanzen überwiesen wurden, wobei sich lediglich 45 Betroffene zur dégradation nationale verurteilt sahen; 323 Unternehmer wurden freigesprochen, sodass nur ganze 146 eine Bestrafung erhielten. Das ist die – mit Abstand – niedrigste Säuberungsquote. Da die Commission in diesem Berufszweig bei Weitem mehr Unbedenklichkeitszertifikate ausstellte als Urteile aussprach, stellt sich sowieso die Frage, ob es statt einer Aufarbeitung nicht vielmehr um eine rasche Reinstallation der Wirtschaftselite ging. Welches ist die Bilanz der épuration? Sie war unvollkommen, weil sie die collaboration économique praktisch überging und weil sie die von den hohen Funktionären der Vichy-Regierung im Zusammenhang mit der „Endlösung der Judenfrage“ begangenen Verbrechen nicht zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht hat. Diese kamen als „zweite Säuberung“ erst in den Prozessen gegen Touvier, Papon und Barbie von 100 Vgl. hierzu: Bernhard Brunner, Der Frankreich-Komplex. Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und die Justiz der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 2007. 101 Rousso, L’Épuration, a. a. O., S. 230; Marc Bergère (Hg.), L’épuration économique en France à la Libération, Rennes 2008.
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1987 bis 1998 auf die Tagesordnung. 1946 saßen noch 30.000 Menschen im Gefängnis, 1954, nach den Amnestiegesetzen von 1951 und 1953, waren es 1000 und 1960 noch neun. Der größte Kollaborateur war der Staat selbst. Drei Viertel der Richter in allen Verfahren hatten selbst im Dienst von Vichy gestanden. Das daraus resultierende Gefühl tiefer Frustration hat in Frankreich lange angehalten. Die kommunistischen Schöffen verließen schon im Sommer 1946 aus Protest alle Gerichtssäle. Natürlich kam den Prozessen gegen Laval und Pétain eine herausragende, ja geradezu symbolische Bedeutung zu. Beide wurden zum Tode verurteilt, aber nur einen fand die Kugel. Laval hatte Hitler auf dem Obersalzberg mehrfach persönlich aufgesucht. Bereits am 20. Oktober 1944 hatte ihn ein Gericht in Marseille in absentia zum Tode verurteilt. Von Sigmaringen aus floh er in die Arme Francos, aber im Juli 1945 beschloss das spanische Außenministerium seine Auslieferung. Der Prozess vor der Haute Cour de la Justice beginnt am 4. Oktober. Laval ist ausgezeichnet vorbereitet, verteidigt sich selbst und macht das Gericht, das ihn nach acht Tagen zum Tode verurteilt, von Anfang an lächerlich. De Gaulle lehnt das Gnadengesuch kategorisch ab. Als er am 15. Oktober aus der Zelle geführt wird, stellen die Gefängniswärter fest, dass er eine Kapsel Zyanid geschluckt hat und kaum noch gehen kann. Daraufhin wird ihm das Gift mit siebzehn Magenspülungen ausgepumpt. Er sollte sich nicht selbst richten, nur Frankreich durfte ihn richten. Man bietet ihm einen Stuhl an, aber er lehnt ab. Daraufhin wird er an einen Pfahl gebunden und stirbt mit einem „Vive la France!“ auf den Lippen. Laval ist der einzige Ministerpräsident in der französischen Geschichte, der hingerichtet worden ist, und der einzige nicht begnadigte Repräsentant von Vichy. Als Pétain in Sigmaringen erfährt, dass ein französisches Gericht seine Verurteilung vorbereitet, bittet er Hitler sofort um die Ausreise nach Frankreich, um sich vor Ort verteidigen zu können, aber er muss im Hohenzollernschloss bleiben. Am 25. April 1945 wird er der Schweiz übergeben. De Gaulle erklärt ausdrücklich, dass ihm an einer Überstellung Pétains nicht gelegen ist, woraufhin sich dieser schon einen Tag später an der Schweizer Grenze freiwillig den französischen Behörden stellt. Damit wollte er demonstrieren, dass die Kollaboration der einzige und richtige Weg gewesen war. Am 23. Juli beginnt die Verhandlung. Die Anklage wirft ihm vor, die parlamentarische Regierungsform beseitigt, die Republik zerstört, die Gewerkschaften und die politischen Parteien aufgelöst, Juden und Freimaurer verfolgt und mit dem Deutschen Reich gegen die Alliierten zusammengearbeitet zu haben. Pétain erwidert, er habe zu keinem Zeitpunkt an den Grundprinzipien Frankreichs gerüttelt. Vielmehr sei es ihm gelungen, den Franzosen das Leben zu erhalten und ihnen ihr tägliches Brot zu geben, „er habe dem Land seine Person zum Geschenk gemacht“102. Am 15. August 1945 wird 102 Seidler, Die Kollaboration 1939–1945, a. a. O., S. 418; vgl. auch: Christiane Florin, Philippe Pétain und Pierre Laval: das Bild zweier Kollaborateure im französischen Gedächtnis. Ein Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung in Frankreich von 1945 bis 1995, Frankfurt am Main u. a. 1997 und Ulrich Pfeil, Frankreich: Entwicklungslinien der französischen Erinnerungskultur in den
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er nach siebenstündiger Beratung wegen Hoch- und Landesverrat mit 14 zu 13 Richterstimmen zum Tode verurteilt, aber de Gaulle wandelt das Urteil drei Tage später in lebenslange Haft um. Pétain wird auf die Insel Yeu gebracht, wo er nach neun Jahren „rechthaberischen Schweigens“ am 23. Juli 1951 mit 95 Jahren stirbt. Seine Person hat Frankreich und die Franzosen bis zum letzten Moment gespalten, sein Wunsch, im Fort Douaumont bei Verdun begraben zu werden, wird ihm nicht erfüllt, sein später und letzter Triumph besteht zweifelsohne darin, dass die Spitzenvertreter der Kollaboration, soweit nicht hingerichtet, nach und nach alle wieder ins öffentliche Leben Frankreichs eintreten. Damit hatte er die Résistance aus der Verbannung heraus doch noch besiegt. Mit dem Einsetzen des Kalten Krieges milderten sich die Urteile gegen Kollaborateure von Tag zu Tag. Nachdem über den Jahren 1944 und 1945 „der Schatten Robespierres und des terreur der großen Revolution“103 geschwebt hatte, konnte man jetzt bürgerkriegsähnliche Zustände nicht mehr gebrauchen. Die Restauration war wichtiger als die Revolution, die Rekonstruktion nationaler Identität konnte sich nicht auf dem Ausschluss von Millionen „Pétainisten“ bilden. Jetzt durften keine Köpfe mehr rollen, schon gar nicht diejenigen, die man noch brauchte. Das unübersehbare Ergebnis dieses neuen, spätestens ab 1947 einsetzenden Denkens bestand in der Tatsache, dass die Geschichtsklitterung über kurz oder lang an die Stelle der „Säuberung“ trat, die in der gloriosen Dreiheit aus Résistance, épuration und liberation nur deshalb ihren Platz behielt, um die unschöne Vergangenheit namens Vichy zur „illegitimen Parenthese“ zu erklären und aus der nationalstaatlichen Kontinuität auszuklammern, „als hätte es sie nie gegeben.“104 „Quatre ans à rayer de notre histoire“, so hatte es der Hauptankläger im Pétain-Prozess schon im Titel seiner Memoiren formuliert, und tatsächlich verschwanden die vier Jahre dann auch für über zwanzig Jahre aus der französischen Geschichte. Erst seit 1979 gibt es in Frankreich eine exakte Darstellung der Zeit von 1938 bis 1944105, und erst seit 1983 ist es für die Abschlussklassen des Gymnasiums obligatorisch, Kenntnisse über Vichy nachzuweisen. Mit de Gaulles Rückkehr an die Macht 1958 war endgültig jede kathartische Wirkung der épuration erloschen. Der psychische Heilungsprozess der Nation verlief jetzt über den „Mythos des résistancialisme“106. Damit war weniger die Résistance gemeint, sondern die Legende, dass sich ein ganzes Volk 1940 bis 1944 als erdrückende Über-
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letzten Jahren, in: Bernd Faulenbach und Franz-Josef Jelich (Hg.), „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Essen 2006, S. 299–327. Rousso, L’Épuration, a. a. O., S. 240. Peter Reichel, Harald Schmid und Peter Steinbach, Nach dem Ende nationaler Nachkriegsmythen – eine europäische Erinnerungskultur?, in: dies. (Hg.), Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung, Deutung, Erinnerung, Bonn 2009, S. 398–415, hier: S. 405. Jean-Pierre Azéma, De Munich à la Libération, Paris 1979. Hüser, Vom schwierigen Umgang mit den „schwarzen Jahren“ in Frankreich, a. a. O., S. 98.
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macht gegen eine Handvoll Kollaborateure im Widerstand befunden habe. Der unumstrittene Höhepunkt dieses Mythos wurde 1964 erreicht, als man die sterblichen Überreste von Jean Moulin in einem wohlinszenierten Staatsakt ins Panthéon, den Heiligentempel der Grande Nation, überführte. Für de Gaulle hatte die „große Erzählung“ damit ihre Vollendung gefunden. Flankiert wurde die große Umdeutung, wie sollte es in Frankreich anders sein, mit dem Medium des Films. In „La grande vadrouille“ („Die große Sause“), 1966 mit Louis de Funès produziert und mit über 17 Millionen Kinobesuchern der erfolgreichste Film in Frankreich, trickst der clevere Gallier den tumben teutonischen Besatzungstrottel ein ums andere Mal aus. So einfach ging das! Aber es ist gleichzeitig wiederum das Medium des Films, das maßgeblich dazu beiträgt, dem Mythos des résistancialisme das Ende zu bereiten. Alain Resnais’ „Hiroshima mon amour“ von 1959, zu dem Marguerite Duras das Drehbuch beisteuerte, steht am Beginn der Fünften Republik. Eine französische Schauspielerin reist nach Hiroshima und verliebt sich in einen japanischen Geschäftsmann. Sie sieht die kahlköpfigen Menschen, denen die Haare wegen der atomaren Verseuchung nur langsam nachwachsen, und erinnert sich an eine Affäre in ihrem Heimatort: Die Geliebte eines deutschen Soldaten wird während der „wilden Säuberung“ nackt und kahlgeschoren durchs Dorf getrieben, anschließend verstecken ihre Eltern sie im Keller, aber sie ist gesund und ihre Haare wachsen nach. Die Message des Films lautet dementsprechend, dass die Atombombe schlimmer war als die Kollaboration, aber de Gaulle mochte den Film trotzdem nicht, obwohl er die Leichen in seinem Keller leugnete. Erst nach seinem Abtreten 1969 wagten sie es, aus den Kellern ans Tageslicht zu treten. Marcel Ophüls Film „Le chagrin et la pitié“ wurde 1971 produziert. Er bricht erstmals mit der Opferrolle Frankreichs, indem er den Alltag und die Anpassung in einer Stadt zur Zeit der années noires zeigt, die sinnigerweise nur vierzig Kilometer von Vichy entfernt liegt. Der Lehrer, der Kaufmann, der Apotheker und die Hausfrau von Clermont-Ferrand vermeiden in unverhohlenem Antisemitismus beim Abtransport der Juden jedes Aufsehen und Risiko und schaffen damit „fatal günstige Bedingungen der Zusammenarbeit mit den Okkupanten“107. Weniger die Mittäter, sondern das Gros der effizienten Mitläufer geraten ins Bild. Die Präsidenten Pompidou und Giscard d’Estaing verhindern die Fernsehausstrahlung des Films, erst 1981 wird sie von François Mitterrand genehmigt. Bis dahin war er nur in einem kleinen Saal im Quartier Latin zu sehen. Der Kampf um die mediale Deutungshoheit über Vichy setzte sich 1973 mit Louis Malles „Lacombe Lucien“ eindrucksvoll fort. Von de Gaulles résistancialisme blieb nach 107 Klaus Peter Walter, Schwierige Vergangenheitsbewältigung. Die Okkupation Frankreichs (1940– 1944) im Spiegel von Kinofilm und Roman, in: „Frankreich – Jahrbuch 2000“, Redaktion: Joachim Schild, Opladen 2000, S. 129–144, hier: S. 136; vgl. Jérôme Cotillon, Ce qu’il reste de Vichy, Paris 2003 und Waechter, Der Mythos des Gaullismus, a. a. O.
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dem Anschauen dieses Streifens nichts mehr übrig, denn eigentlich trifft und verletzt er alle. Schon die Wortstellung im Titel, die korrekterweise ja eigentlich „Lacombe, Lucien“ geschrieben werden müsste, insinuiert, dass hier eine Akte aufgeblättert wird – es ist die Akte Frankreichs. Lucien ist ein munterer, völlig unbedarfter Bauernbursche, dessen Vater in der Kriegsgefangenschaft darbt. Die Mutter geht mit dem Nachbarn fremd, der Lucien ablehnt. Aus Orientierungslosigkeit, Langeweile und Betätigungsdrang bittet er darum, im Widerstand kämpfen zu dürfen, doch sein überheblicher Dorfschullehrer verweigert ihm die Aufnahme ins Maquis. Völlig zufällig gerät er ins Hauptquartier der police allemande, die ihn anerkennt und bewaffnet. Das Problem, jetzt Kollaborateur zu sein, reflektiert er in keinem einzigen Moment. Wohl aber genießt er die Macht, die aus dem Gewehrlauf kommt. Er verschafft sich Zugang zu einer jüdischen Familie. Der Tochter, die nicht zufällig France heißt, zwingt er Zudringlichkeiten auf. In der Folge entwickelt sich eine merkwürdige Melange aus Abgestoßensein, Hilfsbereitschaft und Liebe, die France veranlasst, Lucien in einem Moment, in dem ihr dies möglich gewesen wäre, nicht zu töten. Umso brutaler ist der Schluss. Während ein Schäferstündchen mit France und Lucien auf ein glückliches Ende hindeutet, läuft von unten langsam ein Text die Leinwand hinauf, in dem dessen Todesurteil und Hinrichtung durch die Résistance verkündet wird. Louis Malle und sein Drehbuchautor, der spätere Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano, wollen mit dieser (auch optisch) krassen Gegensätzlichkeit das „moralische Versagen einer gnadenlosen épurationBeflissenheit“108 bewusst anklagen. Natürlich darf Truffaut in diesem Genre nicht fehlen. Seine „Letzte Métro“ kann mit Fug und Recht als der stimmigste und gelungenste Film zu den Jahren der Kollaboration gelten. „Le Dernier Métro“ von 1981 verband ihn mit seiner Kindheit; als die Besatzung begann, war er acht Jahre alt. „Der Film ist durch eine strenge Litanei authentischer Details geprägt.“109 Der Schauspieler Bernard, verkörpert von Gérard Dépardieu, akzeptiert nie die Anwesenheit der Deutschen (die er im Publikum nicht verhindern kann), greift den französischen, die Aufführungen kontrollierenden Spitzel der Deutschen körperlich an und unterstützt die Résistance. Die Schauspielerin Marion, gespielt von Cathérine Deneuve, ist hingegen kalkulierender, um nicht zu sagen berechnend, und bewahrt dem von Heinz Bennent repräsentierten Direktor Steiner dadurch das Überleben seines Theaters. Die Résistance, und dies macht den Film so wirklichkeitsnah, wird lediglich als Randphänomen, ja als terroristisch dargestellt, der Antisemitismus dagegen als beherrschend. Jüdische Schauspieler erhalten bei Marion (die das Sagen hat) kein Engagement, sie werden an der Tür abgewiesen. Zu de Gaulles France libre fällt kein einziges Wort, dafür überlebt der Spitzel ungeschoren die épuration. 108 Walter, Schwierige Vergangenheitsbewältigung, a. a. O., S. 139. 109 Colin Nettelbeck, Kurskorrektur: Die Darstellung des Zweiten Weltkrieges in Frankreich ab 1968, in: Hirschfeld und Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich, a. a. O., S. 266–309, hier. S. 305.
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Die Aufarbeitung im Geschichtsbuch hinkte der Aufarbeitung auf der Leinwand um Jahre hinterher, mehr noch: Die eigentliche Wirkung von Truffauts „Die letzte Métro“ bestand darin, dass der Staat das Monopol über die Erinnerung verlor.110 Den gaullistischen Mythen glaubte schon längst keiner mehr. 1985 erschien Claude Lanzmanns monumentaler Dokumentarfilm „Shoah“.111 Fast zwölf Jahre hatte er an dem neuneinhalbstündigen Interview-Epos gearbeitet, doch als es fertig war, gingen die Uhren in Frankreich anders. Seitdem wird „die Verfolgung und Vernichtung der Juden als wesentliches Geschehnis betrachtet, das heute per definitionem alle Franzosen betrifft.“112 Während Mitterrand es ablehnte, ein Wort der Entschuldigung für das Verbrechen zu finden, geht der neu gewählte konservative Präsident Chirac am 16. Juli 1995 ins Vélodrome d’hiver und bekennt sich zur Verantwortung: „Der kriminelle Wahn der Besatzungsmacht wurde, wie jeder weiß, von Franzosen, vom französischen Staat unterschätzt, der eine untilgbare Schuld auf sich geladen hat. Jene schwarzen Stunden werden auf immer unsere Geschichte beschmutzen.“113 Zwei Jahre später geben die katholischen Bischöfe die déclaration de repentance, das „Reuebekenntnis“ angesichts der Passivität der Amtskirche während der Shoah ab, und im April 2000 legte die von der Regierung eingesetzte Mattéoli-Kommission ihren 3000-seitigen Bericht vor, dem zufolge der französische Staat 95 Prozent des durch ihn geraubten jüdischen Vermögens in Höhe von 8,8 Milliarden Francs zurückerstatten muss – eine späte Wiedergutmachung. Und schließlich wird im Januar 2005 im Pariser Stadtteil Marais ein architektonisches Ensemble aus Mahnmal, Museum und Forschungszentrum eingeweiht, dessen Gebäudefront durch eine Gasse verbunden ist, in deren Seitenwände die Namen aller 76.000 aus Frankreich deportierter Juden eingraviert sind. Ob und inwieweit dieses Shoah-Memorial ins Bewusstsein der Französinnen und Franzosen eindringt, steht dahin, denn dann kam eine Art staatlich verordnete Wende. Nicolas Sarkozy eilt 2007, am ersten Tag seiner Präsidentschaft, in den Bois de Boulogne zu der Gedenkstätte für 26 von den Deutschen ermordeten Studenten, die Widerstand geleistet hatten. Dabei ging es um den 17-jährigen Guy Môquet, der am 22. Oktober 1941 erschossen worden war, weil er Flugblätter verteilt hatte. Sarkozys definitiv erste Amtshandlung bestand darin, Môquets Abschiedsbrief „Je vais mourir“ zu Beginn jedes Schuljahres in allen französischen Schulen verlesen zu lassen, was als „eine neue Episode in der bewussten und
110 Vgl. Henry Rousso, Frankreich, in: Knigge und Frei (Hg.), Verbrechen erinnern, a. a. O., S. 273– 281, hier: S. 277. 111 Vgl. auch seine Lebenserinnerungen: Claude Lanzmann, Der patagonische Hase, Reinbek bei Hamburg 2010; der Filmtext als Buch: Claude Lanzmann, Shoah, Reinbek bei Hamburg 2011; vgl. auch: Max Dax, Was ist Erinnerung? Gespräche mit Claude Lanzmann, Berlin 2011. 112 Rousso, Frankreich, a. a. O., S. 278. 113 „Der Spiegel“, Nr. 44/1997, S. 182 und Nr. 38/2001, S. 213; zur Einordnung: Jörg Requate, Frankreich seit 1945, Göttingen 2011.
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reaktionären Rückwendung zum Nationalen, gegen jede Reue“114 gedeutet wurde. Nicht wenige entdeckten darin eine vergangenheitspolitische Kurskorrektur des Konservativen, die ausdrücklich gegen seinen Vorgänger und Erzwidersacher gerichtet war, dessen erste Schritte an eine andere Stätte geführt hatten. Auf jeden Fall hat Sarkozy bis zu seiner Abwahl 2012 die Worte Vichy und Kollaboration nicht in den Mund genommen, weil dieser dunkelste Fleck in der tausendjährigen Geschichte Frankreichs seiner Vorstellung von der „Auserwähltheit“115 des Landes, von der exception française, im Wege stand. Es durfte schließlich nicht sein, dass „das Vaterland der Menschenrechte zumindest einmal in seiner Geschichte in dieser Frage versagt hat“.116 Emmanuel Macron hat 2017, am Beginn seiner Präsidentschaft, zum 75. Jahrestag der Deportationen aus dem Vélodrome eine Rede gehalten, in der er die Mitschuld seines Landes an dem Verbrechen und die Mitverantwortung für den Holocaust apostrophierte. Scharf kritisierte er das latent immer noch existierende „Volksmärchen“, das Régime von Vichy habe nichts mit Frankreich zu tun gehabt. Findet das Land zu seiner Vergangenheit und zu sich selbst?
114 Nicolas Offenstadt, Brauchen wir ein „Haus der Geschichte Frankreichs“? – Oder die Rückkehr der nationalen Meistererzählung, in: Deutsch-Französisches Institut (Hg.), Frankreich Jahrbuch 2010. Frankreichs Geschichte: Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit, Wiesbaden 2011, S. 51–68, hier: S. 62; vgl. auch Volker Schlöndorffs Film „Das Meer am Morgen“ von 2012; Nicolas Offenstadt, Die „Geschichtspolitik“ während der fünfjährigen Amtszeit Nicolas Sarkozys. Streitfragen und Debatten (2007–2012), in: Yves Bizeul (Hg.), Rekonstruktion des Nationalmythos? Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich, Göttingen 2013, S. 65–82; AnneMarie Thiesse, Faire les Français. Quelle identité nationale?, Paris 2010. 115 Albrecht Betz, Europa ohne Frankreich?, in: „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“, Nr. 6/2007, S. 77–79, hier: S. 78. 116 Rousso, Frankreich, a. a. O., S. 280; Corine Defrance, Die Meistererzählung von der „Versöhnung“, in: APuZ, Nr. 1–3/2013, S. 16–22, hier: S. 22, nennt die deutsch-französische Versöhnung sogar eine erzählerische Fiktion, welche die Wirklichkeit inszeniere.
Niederlande Die Niederlande waren seit den Napoleonischen Kriegen Zuschauer auf der europäischen Bühne gewesen. Im Gegensatz zu Belgien war der Erste Weltkrieg praktisch spurlos an dem Land vorbeigegangen. Mit Hendrikus Colijn, dem Vorsitzenden der Antirevolutionaire Partij (ARP), hatten die Holländer schon seit 1918 ihren starken Mann. Mit Argusaugen wachte der Konservative darüber, dass das spezifisch niederländische „System der Säulen“ überall korrekt eingehalten wurde. Diese verzuiling sicherte den drei großen Bewegungen des Landes, der katholischen, der calvinistischen und der sozialistischen, seit dem späten 19. Jahrhundert eine prinzipielle Gleichrangigkeit in allen Bereichen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Innenpolitisch bedeutete das Kooperation und Konsens, außenpolitisch strikte Neutralität. Als in den 1920er Jahren der Rundfunk aufkam, erhielt jede „Säule“ aufgrund ihrer Mitgliederzahl, die regelmäßig überprüft wurde, Sendezeiten zugeteilt. Colijn, der als Kolonialoffizier in Niederländisch-Indien Aufständische bedenkenlos hatte erschießen lassen, amtierte seit 1933 mit harter Hand als Ministerpräsident. Worum es ihm vor allem ging, war ein gutes Verhältnis zu Deutschland. Obwohl er keinerlei Sympathien für die NSDAP hegte, wurden Hitler-Gegner wegen „Beleidigung eines befreundeten Staatsoberhauptes“ angeklagt und verurteilt. Als Willy Brandt seine holländischen Genossen besuchen wollte, ließ er ihn außer Landes weisen. Deutsche Oppositionelle, die im Polderstaat Zuflucht finden wollten, sahen sich der Gestapo ausgeliefert. Überhaupt galt der Nationalsozialismus gerade für junge Menschen, die sich in der Enge des „Säulenmodells“ nicht mehr wohlfühlten, als modern, dynamisch und zukunftsträchtig. Der spätere Sozialdemokrat und Ministerpräsident Joop den Uyl bewunderte in seinem Tagebuch „ein wiedergeborenes, selbstbewusstes Volk, in Eintracht um den Führer geschart“.1 Ruhe, Prosperität und Ordnung, das wünschte man sich auch in den Poldern und an den Grachten. Die Schlüsselwörter in der 1938 gegründeten „Bewegung zur Stärkung der niederländischen Gemeinschaft“ hießen entsprechend Volk, Einigkeit, Zusammengehörigkeit und Autorität, und die gleichen Vorstellungen lagen auch der 1940, am Beginn der Besatzungszeit formierten „Niederländischen Union“ sowie der im Befreiungsjahr 1945 konstituierten „Niederländischen Volksbewegung“ zugrunde. Das heißt, vor, während und nach der Anwesenheit der Deutschen ging es gleichermaßen darum, das System der Säulen durch die Demonstration nationaler Einheit und Homogenität zu durchbrechen. Demgegenüber ist es erstaunlich, dass die am 14. Dezember 1931 von Anton Mussert gegründete Nationaal Socialistische Beweging (NSB) nie einen Massenzulauf gefunden hat.
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Geert Mak, Niederlande, München 2010, S 181.
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Anton Adriaan Mussert wurde 1896 als Lehrerssohn geboren und studierte in Delft Ingenieurwissenschaften. 1918 trat er in den Staatsdienst ein und wurde Chef des Wasserbauwesens der Provinz Utrecht. Die mit zehn Getreuen, insbesondere Cornelis van Geelkerken, ins Leben gerufene NSB lehnte sich weder formal noch inhaltlich an die NSDAP an, als Parteiemblem fungierte nicht das Hakenkreuz, sondern ein Löwe. An dessen Stelle trat später ein Dreieck in den niederländischen Farben Rot, Weiß und Blau als Symbol des Flussdeltas von Rhein, Schelde und Maas. Der Parteigruß war der aus dem 17. Jahrhundert stammende Seemannsruf „Hou Zee“ („Halt aus!“). Die Mitglieder trugen schwarze Hemden – Mussert orientierte sich nicht an Hitler, sondern an Mussolini. So wie dieser wollte er einen christlichen Nationalstaat ohne Rassismus und Antisemitismus, Geld aus Deutschland wie auch aus Italien nahm er nicht an. Die NSB finanzierte sich durch Spenden aus dem eigenen Land. Bis 1938 gehörten zu den Geldgebern und Mitgliedern auch Juden; Mussert hat nie ein negatives Wort über sie verloren und sie noch bis 1940 zu schützen versucht. Analog zur SA bildete die NSB eine Weer Afdeeling (WA) mit 15.000 Mann, in der „WA marscheerd“, eine Imitation des Horst-Wessel-Liedes, gesungen wurde. Der höchste Mitgliederstand der NSB vor dem Krieg betrug 80.000, bei den Provinzialwahlen 1938 erreichte sie 8 Prozent der Stimmen. Am 16. November 1936 wurde Mussert von Goebbels, Göring und Hitler in Berlin empfangen, die ihm zusicherten, nie auch nur „einen Quadratmeter niederländischen Bodens zu begehren“. Massenanhang konnte die NSB nur vorübergehend gewinnen, die katholische Kirche drohte den führenden Funktionären mit dem Entzug der Sakramente und die calvinistische Kirche verbot ihren Gläubigen die Mitgliedschaft in der Partei. Mussert selbst war bereits 1933 aus dem Staatsdienst ausgeschlossen worden. 1940 hatte die NSB nur noch 29.000 Mitglieder, ihr Niedergang und ihre Radikalisierung liefen parallel. Letztere beschleunigte sich durch den Eintritt des aggressiv antisemitischen Rechtsanwalts Rost van Tonningen im August 1936. Rost war 1894 als Sohn eines Kolonialoffiziers auf Java geboren worden und hatte in Leiden Jura studiert. Kaum in der NSB, baute er die Kontakte zur NSDAP aus. Der Stempel in seinem Mitgliedsbuch war noch nicht trocken, da wurde er schon zur Privataudienz auf dem Obersalzberg eingeladen und durfte Himmler auf Jagdausflügen begleiten. Der SS-Reichsführer setzte auf ihn, um die Niederlande „heim ins Reich“ zu führen, und Hitler „betrachtete ihn als Kuckuck in Musserts Nest.“2 Dessen Vision eines mit Deutschland zwar eng verbündeten, ansonsten aber relativ eigenständigen großniederländischen Reichs, das sich vom Dollart bis nach Calais erstrecken und auch die holländischen wie belgischen Kolonien umfassen sollte, hat er zu keinem Zeitpunkt geteilt. Hitler hatte das niederländische Hoheitsgebiet bereits 1938 in seine Kriegszielplanung aufgenommen, während er öffentlich noch von „befriedeten Grenzen“ zwischen Deutschland und Holland sprach. Im Mai 1939 verfügte er vor dem Oberbefehlshaber 2
Seidler, Die Kollaboration 1939–1945, S. 459.
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der Wehrmacht, das Land „blitzartig (…) aus der Kaserne heraus (zu) überrennen“, während er den Gesandten der Benelux-Staaten noch am 26. August 1939 in Berlin deren absolute Neutralität garantierte. Am 10. Mai 1940 entfesselte er den „Westfeldzug“ mit massiven Luftlandungen hinter der holländischen „Wasserlinie“. Damit hatte keiner gerechnet. Schon am 13. Mai flüchteten die Königin und die Regierung nach London, am 14. Mai wurde Rotterdam bombardiert, und als das deutsche Oberkommando drohte, auch Utrecht in Schutt und Asche zu legen, kapitulierten die Streitkräfte der Oranjes. Der Krieg hatte ganze fünf Tage gedauert. Die Insel der Neutralität war Besatzungsgebiet. Im Gegensatz zu den meisten überfallenen Ländern wurde das „germanische Brudervolk“ im Westen einer Zivilregierung unterstellt, an deren Spitze als „Reichskommissar“ der Österreicher Seyß-Inquart stand. Dieser kündigte bei seiner Einsetzung im Haager Rittersaal an: „Wir wollen dieses Land und seine Bevölkerung weder imperialistisch in die Enge treiben, noch seinem Volk unsere politische Überzeugung aufdrängen.“3 Das hörte man gern. Die Spitzenpositionen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung, vor allem der unterhalb von Seyß-Inquart angesiedelte „Rat der Staatssekretäre“, blieben in holländischer Hand. Was begann, war der „Honeymoon“ (Geert Mak) mit den Deutschen. Colijn veröffentlichte die Schrift „Auf der Grenze zweier Welten“, in der er seine Ablehnung der parlamentarischen Demokratie kundtat und Anpassung predigte. Das war die Basis der im Juni 1940 entstandenen Nederlandse Unie (NU), die sich schnell zu einer überwältigenden, 800.000 Mitglieder zählenden Massenbewegung entwickelte. Sie war nie antideutsch, beschritt aber dadurch, dass sie die NSB als „unniederländisch“ abstempelte, einen Grat zwischen Anpassung und Abgrenzung gegenüber den Besatzern, der ihr schließlich zum Verhängnis wurde und den „Honeymoon“ beendete. Als deutlich wurde, dass sich die Union nicht zu einem Instrument holländischer Selbstnazifizierung umdrehen ließ, und als die NU es zudem im Sommer 1941, nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, ablehnte, im Kampf zwischen den beiden Ländern Stellung zu beziehen, wurde sie mundtot gemacht und im Dezember 1941 zusammen mit den anderen Parteien und Bewegungen verboten. Es war die Stunde Anton Musserts und der NSB. Mussert war zur Amtseinführung Seyß-Inquarts demonstrativ nicht eingeladen worden, er hatte davon aus der Zeitung erfahren. Gegen seinen ausdrücklichen Willen war auch bereits im Mai 1940 mit dem Aufbau der „Standarte Westland“ begonnen worden, der niederländischen SS, die schnell zum Rivalen seiner eigenen Weer Afdeeling heranwuchs. Um dessen Frustration etwas abzufedern, lud Hitler ihn am 23. September 1940 nach Berlin, wo Mussert ihm seinen Plan einer Nordischen Föderation unter deutscher Führung vorlegen durfte. In ihr sollten alle Mitgliedsstaaten die volle Souveränität behalten, so auch das Großdietsche Reich aus Holländern, Flamen, Friesen 3 Zit. nach Friso Wielenga, Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Münster 2008, S. 182.
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und Nordostfranzosen bis zur Mosel, das schon unter den Habsburgern eine Einheit gewesen war. Hitler antwortete ihm, er solle erst einmal dafür sorgen, dass alle Holländer Nationalsozialisten werden. Immerhin sicherte der sogenannte Führer ihm zu, „dass der Reichskommissar in den Niederlanden die Aufgabe habe, den Weg für eine Machtübernahme Musserts zu ebnen“. Am 26. Juli 1941 wurde aus der „Standarte Westland“ die „Freiwilligen Legion Niederlande“ – man kaschierte deren Zugehörigkeit zur SS, doch Mussert war entsetzt. Himmler wollte keinerlei nationale Selbstständigkeiten, die „gemischtgermanischen“ SS-Verbände wie die Division „Nordland“ und „Wiking“ sah er als „Schmelztopf aller Germanen“ in Europa. Erst im Sommer 1943 erreicht Mussert, dass seine uniformierten Landsleute wenigstens die Farben OrangeWeiß-Blau am Ärmel tragen durften. Zu dem Zeitpunkt stellten die Holländer mit 5000 Mann den größten Anteil der „germanischen Freiwilligen nichtdeutschen Volkstums“ in der Waffen-SS. Henk Feldmeijer, Musserts Leibgardist, bildete im September 1941 die Nederlandsche SS, die ein Jahr später in Germaansche SS in Nederland umbenannt wurde. 25.000 Holländer sind in sie eingetreten. Mussert wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, dass sie den Treueeid auf Hitler ablegten (was er selbst am 12. Dezember 1941 in Berlin vollzogen hatte), verlangte die Unterstellung der Landespolizei und erstrebte letztlich die volle Regierungsgewalt. Erst im Dezember 1942, bei seiner dritten Begegnung mit Hitler, wurde er als „Führer des niederländischen Volkes“ anerkannt, bekam aber gleichzeitig zu hören, dass Seyß-Inquart unumschränkter Herrscher der Exekutive blieb. Der NSB-Chef war darüber so verärgert, dass er den Vorsitz im „Rat der Staatssekretäre“ ablehnte. Himmler, der sich schon immer an den Träumen vom Großdietschen Reich gestoßen hatte und in ihnen „einen ausgesprochen großniederländischen Imperialismus“ sah, griff im Polderstaat jetzt immer rücksichtsloser durch. Am 4. Dezember 1943 traf Mussert Hitler zum letzten Mal. Zu Hause hatte man viel von ihm erwartet, aber er kam mit leeren Händen aus dem Führerhauptquartier in der Wolfsschanze zurück. Sein Ansehen sank ins Bodenlose. In der eigenen Partei warf man ihm vor, dass er nie an der Ostfront gewesen war, in der NSDAP galt er als bürgerlicher Nationalist, und für das Gros der Holländer war er schlicht und einfach ein Landesverräter. Nicht einmal den Jüdinnen und Juden, die bis 1938 die NSB unterstützt hatten, konnte er das Leben retten. Alle antijüdischen „Maßnahmen“ bis hin zur offenen, unverhohlenen Verfolgung und zum brutalen Terror konnten in den Niederlanden relativ reibungslos, oft genug unter Mithilfe der Bevölkerung, durchgeführt werden. Schon am 1. Juli 1940 werden die Juden vom Luftschutz ausgeschlossen, nach Einführung des Arierparagraphen entlässt man sie erst aus der Beamtenschaft und dann aus dem gesamten öffentlichen Dienst, und vom 1. Januar 1941 an hat sich jeder, der „ganz oder teilweise jüdischen Blutes“ ist, registrieren zu lassen. Keine einzige Behörde hat dies verweigert. Von da an werden die Weer Afdeeling und die deutschen Besatzungssoldaten angehalten, auf der Straße Schlägereien gegen die Juden anzuzetteln, und im Februar kommt es in Amsterdam zu ersten Razzien. Jetzt allerdings sind massive Streiks, auch in Haarlem und Ut-
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recht, die Antwort, auch von nichtjüdischer Seite..Sie werden nicht nur gewaltsam unterdrückt, Seyß-Inquart zwingt die Juden auch, den Joodse Road voor Amsterdam, den Amsterdamer Judenrat, zu gründen, „der sich unfreiwillig zu einem Instrument der deutschen Verfolgungspolitik entwickeln sollte“4. Im Mai fällt die Entscheidung, dass alle Juden aus den Niederlanden entfernt werden sollen, die Deportationen beginnen ein Jahr später. „Es ist bemerkenswert, dass die Zunahme antideutscher Gefühle nur in geringem Maße hiervon (…) verursacht wurde.“5 Das Amsterdamer Einwohnermeldeamt arbeitet penibel und akribisch, der Judenrat leistet Beihilfe, die Polizei führt aus. Adolf Eichmann frohlockte später, dass die Transporte aus den Niederlanden „so makellos (verliefen), dass der Anblick eine Freude war.“6 In den Arbeitslagern Amersfort und ‘s Hertogenbosch, vor allem aber im KZ Westerbork bestand das Personal weitgehend aus unterwürfigen holländischen Nazis, „die in ihrem schieren Sadismus die Deutschen häufig übertrafen“7 und zu Aufsehern eines funktionierenden Systems wurden. Insgesamt sind mit der „Endlösung“ in den Niederlanden nicht einmal 200 deutsche Beamte befasst gewesen. Bereits am 29. September 1943 war Amsterdam als eine der ersten europäischen Städte „judenfrei“. Am 9. Mai 1944 notiert Anne Frank in ihrem Versteck: „Zu unserem großen Leidwesen und zu unserem großen Entsetzen haben wir gehört, dass die Stimmung uns Juden gegenüber (…) umgeschlagen ist. Wir haben gehört, dass Antisemitismus jetzt auch in Kreisen aufkommt, die früher nie daran gedacht hätten! (…) Ich hoffe nur, dass dieser Judenhass vorübergehender Natur ist (…). Ich liebe die Niederlande. Ich habe einmal gehofft, dass es mir, der Vaterlandslosen, ein Vaterland werden wird. Ich hoffe es noch!“8 Hannah Arendt spricht nicht zufällig von „einer Katastrophe, die in keinem westlichen Staat ihresgleichen hatte“9. Von den 140.000 Juden, unter ihnen nur 20.000 „ausländische“, sind 105.000 ermordet worden. Anne Frank war eine der letzten. 75 Prozent hatten im Land der Freiheitsliebe und Toleranz keine Chance. Sie wurden 4 Zit. nach Friso Wielenga, Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Münster 2008, S. 182 f.; zu Seyß-Inquart umfassend: Johannes Koll, Arthur Seyß-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940–1945), Wien, Köln und Weimar 2015. Koll weist überzeugend nach, dass Seyß-Inquart mit seinem eigentlichen Auftrag, die Niederländer für eine Politik der Selbstnazifizierung zu gewinnen, letztlich gescheitert ist. 5 Wielenga, Die Niederlande, a. a. O., S. 197; vgl. Konrad Kwiet, Mussert, „Mussert-Juden“ und die „Lösung der Judenfrage“ in den Niederlanden, in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 151–168; Katja Happe, Viele falsche Hoffnungen. Judenverfolgung in den Niederlanden 1940–1945, Paderborn 2017. 6 Wielenga, Die Niederlande, a. a. O., S. 210. 7 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, a. a. O., S. 403. 8 Anne Frank, Anne-Frank-Tagebuch: Einzig autorisierte Ausgabe, hg. von Otto H. Frank und Mirjam Pressler, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2004, S. 283 f. 9 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 5. Aufl., München 2010, S. 272.
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das Opfer von Bequemlichkeit, Opportunismus und Gleichgültigkeit, weniger von Rassismus und Xenophobie. Zwar konnten sich 24.000 Juden in und bei Privatfamilien verstecken, von denen 16.000 auch überlebt haben, das Schicksal der übrigen 8000 ist aber eines der schäbigsten Kapitel des Holocaust. Es betrifft die „Kolonne Henneicke“, die vom Frühjahr bis zum Herbst 1943 für das „Kopfgeld“10 von 7,50 Gulden (was heute 40 Euro entspricht) versteckte Juden aufspürte und auslieferte. 85 Prozent der Kolonne waren Mitglied der NSB, unter ihnen viele, die es im Leben davor zu nichts gebracht hatten und sich oft in den Wohnungen der Verratenen einnisteten. Sie bekamen zusätzlich zu den „Prämien“ ein gutes Grundgehalt und stießen fast überall in der Verwaltung und Bevölkerung auf bereitwillige Hilfe. Formell waren sie Angestellte der Amsterdamer „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, wo jede Zahlung quittiert wurde. Einigen Entdeckten gelang die Flucht, weil die Kollaborateure sich für Bestechungen empfänglich zeigten. „Darin unterschieden sie sich fundamental von den Besatzern, welche sich niemals durch Geldangebote erweichen ließen.“11 Wim Henneicke, der Leiter der Gruppe, schloss sich später opportunistisch dem Widerstand an, verriet viele seiner ehemaligen Helfershelfer und wurde im Dezember 1944 von einem Kommunisten erschossen. Als die Alliierten 1945 das Lager Westerbork befreiten, fanden sie noch ganze 500 Überlebende vor. Insgesamt konnten 5000 Jüdinnen und Juden nach Kriegsende zurückkehren. Freundlich aufgenommen wurden sie nicht. Die meisten mussten sich ihre frühere Wohnung und ihren Besitz unter größten Demütigungen zurückerbetteln, wie überhaupt der gesamte Prozess der Judenverfolgungen und die Zunahme antideutscher Reaktionen in den Niederlanden in keinem signifikanten Zusammenhang gestanden hatten.12 Die Tatsache, dass die Judenvernichtung in diesem Land ihre – mit Abstand – höchste Todesrate im Vergleich zu allen anderen besetzten Staaten Europas erreicht hat, ist vor allem auf drei Faktoren zurückzuführen: Die Kollaborationsbereitschaft in Wirtschaft, Staat, Verwaltung und Bevölkerung suchte ihresgleichen, die „Österreich-Connection“ aus den drei Alpenländlern Seyß-Inquart, Adolf Eichmann und Ernst Kaltenbrunner, die Hand in Hand arbeiteten, machten sich diese zunutze, und unabhängig hiervon hatten die Juden im politisch-gesellschaftlichen „System der Säulen“ schon vor dem Krieg keinen richtigen Platz gehabt. Im Angesicht und unter der Bedrohung der Deutschen fielen sie ganz heraus. Kaum günstiger wird das Urteil, wenn es um den niederländischen Widerstand geht. Zwar hatte der „Nelkentag“ den Deutschen einen gehörigen Schrecken eingejagt, 10 Ad von Liempt, Kopfgeld. Bezahlte Denunziation von Juden in den besetzten Niederlanden, Berlin 2005; Peter Romijn, The „Lesser Evil“. The Case of the Dutch Local Authorities and the Holocaust, in: ders. et al.(Hg.), The Persecution of the Jews in the Netherlands 1940–1945, Amsterdam 2012, S. 13–26. 11 Liempt, Kopfgeld, a. a. O.; Romijn, The „Lesser Evil“, a. a. O. 12 Wielenga, Die Niederlande, a. a. O., S. 210.
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als Prinz Bernhard, der Ehemann von Prinzessin Juliana, sich gleich an seinem ersten Geburtstag unter deutscher Besatzung (29. Juni 1940) eine orangefarbene Nelke ans Revers gesteckt hatte und viele im Land es ihm gleichtaten; zwar hatte der Leidener Jurist Cleveringa eine mutige Rede gegen die Entlassung der jüdischen Hochschullehrer gehalten, woraufhin seine Universität geschlossen wurde – organisierter, flächendeckender Widerstand war das jedoch nicht. Erstmals nachhaltig ungemütlich reagierten die Holländer, als sie im Sommer 1942 durch die plötzliche Konfiskation von Zehntausenden Fahrrädern in ihrem Bewegungsnerv getroffen wurden. Noch zur Hochzeit von Prinzessin Beatrix und Claus von Amsberg 1966 wurden Postkarten mit dem Text „Mijn fiets terug“ („Mein Fahrrad zurück“) verbreitet, und während des Halbfinales der Fußball-Europameisterschaft 1988 zwischen den Niederlanden und Deutschland im Hamburger Volksparkstadion entfalteten Oranjefans das Riesentransparent „Oma, ich habe dein Fahrrad gefunden“. Aber auch derlei Geschichtsbewusstsein zeugt nicht von Widerstand. Seriösen Untersuchungen zufolge gab es im Polderland bis zum September 1944 erst 25.000 Menschen, auf die diese Bezeichnung im engeren Sinne zutraf, insgesamt waren es bis zum Kriegsende 45.000 – eine erbärmliche Zahl13, bei der auch noch zu bedenken ist, dass die meisten von ihnen Kommunisten, ideologisch also per se Gegner des Nationalsozialismus waren. 350.000 Personen allerdings waren untergetaucht – was immer sie dort taten. Sogar die Besatzer bezeichnen die Zahl der verübten Sabotagen und Attentate im Vergleich zu Frankreich als „erstaunlich gering“. Mutige Rettungsaktionen wie die des Dorfes Nieuwlande, in dem sich jede Familie verpflichtete, mindestens einen Juden zu verstecken14, oder die des Dorfes Putten bei Apeldoorn, wo am 30. September 1944 ein Anschlag auf einen deutschen Militärkonvoi verübt wurde, blieben die Ausnahme. Fast die gesamte männliche Bevölkerung der Gemeinde, 660 Personen, wird anschließend in das KZ Neuengamme und dessen Außenstelle Ladelund in Nordfriesland deportiert, nur 49 kehren nach dem Krieg zurück. In Ladelund entstand bereits 1950 eine der ersten deutschen Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors, die ihren Auftrag bis heute mit unvermindertem Engagement fortführt. Zu wirklicher Konfrontation und offenem Widerstand kam es in den Niederlanden erst während der letzten Monate der Fremdherrschaft, als sich schon 300.000 Holländer zur Zwangsarbeit in Deutschland befanden und im September 1944 die Rekrutie13 Ebd., S. 223; Hermann van der Dunk, Kollaboration und Widerstand in den Niederlanden und Belgien, in: Gilzmer (Hg.), Widerstand und Kollaboration in Europa, a. a. O., S. 61–84; David Barnouw, Die Niederlande im Zweiten Weltkrieg. Eine Einführung, Münster 2010; in der Belletristik: Jan Brokken, Vergeltung. Rhoon 1944 – Ein Dorf unter deutscher Besatzung, Köln 2015. Brokken, der sich für seinen Dokumentarroman durch 5000 Aktenseiten gelesen und 150 Zeitzeugen befragt hat, weist nach, dass das Dorf bis heute unter Schuldzuweisungen, Legendenbildungen, Feindschaften und Gerüchten zu leiden hat. 14 Arno Lustiger, Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit, Göttingen 2011, S. 366; Raimo Alsen und Angelika Königseder (Hg.), Das KZ im Dorf. Geschichte und Nachgeschichte des Außenlagers Ladelund, Berlin 2017.
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rung von weiteren 140.000 angekündigt wurde. Jetzt avancierte der Widerstand zum Massenphänomen, in den allerdings auch zahlreiche Opportunisten der letzten Stunde einströmten. Am Montag, dem 4. September 1944, ließ die Exilregierung über Radio Oranje die Nachricht verbreiten, dass alliierte Truppen die niederländische Grenze überschritten und die Stadt Breda bereits befreit hätten. Die Meldung war falsch, aber sie euphorisierte die Bevölkerung so sehr, dass der folgende Tag als Dolle Dinsdag in die Geschichte eingegangen ist. Mussert machte sich lächerlich, weil er mit 65.000 seiner Anhänger nach Deutschland floh. Rost van Tonningen hingegen trat in den Landstorm Nederland ein, der auch formal der SS unterstand, und wurde in der SS-Junkerschule in Bad Tölz auf höhere Aufgaben vorbereitet. Zum SS-Obersturmführer befördert, übernahm er am 14. März 1945 das Kommando über Einheiten des Landstorm. Sein Verhältnis zu Mussert verschlechterte sich immer mehr, weil sich beide bis zum Schluss nicht über die „großdietsche“ oder die „großdeutsche“ Zukunftsversion einig werden konnten und Rost kurz vor Kriegsende aus der NSB ausgeschlossen wurde. Unmittelbar vor seinem Prozess als Kriegsverbrecher nahm er sich am 6. Juni 1945 im Untersuchungsgefängnis Scheveningen das Leben. Königin Wilhelma hatte 1941 in einer ihrer Radioansprachen von der „Handvoll Landesverräter“ gesprochen, „für die in den befreiten Niederlanden kein Platz mehr sein wird“. Als sie 1948 den Thron an ihre Tochter Juliana übergab, sagte sie über die gleiche Gruppe, dass „auch sie irgendwann wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden müsse“. Zwischen diesen beiden Polen hat sich die strafrechtliche Verfolgung der Kollaborateure in den Niederlanden abgespielt. Einerseits wurde die 1886 abgeschaffte Todesstrafe gezielt und bewusst wiedereingeführt, andererseits sollte eine „Nacht der langen Messer“ à tout prix vermieden werden. Die unmittelbar nach der Kapitulation der deutschen Truppen in Holland am 6. Mai 1945 vorgenommenen massiven Verhaftungen hatten vor allem eine Schutzfunktion und sollten Lynchjustiz verhindern. Im Oktober 1945 waren 130.000 Menschen arretiert. Die Exilregierung hatte noch in London die Grundlagen für die „Besondere Rechtsprechung der Nachkriegszeit“ gelegt, die sich mit den foute Nederlanders, den „falschen Niederländern“, zu befassen hatte. Zu ihnen gehörten die Mitglieder der NSB, die Kollaborateure in allen Ämtern und Funktionen, die insgesamt 40.000 Soldaten in deutschem Dienst (sofern sie nicht gefallen waren), die Schwarzmarkthändler und die sogenannten moffenmeiden, also die Mädchen, die eine Beziehung mit deutschen Besatzungssoldaten gehabt hatten.15 Aus diesen – in aller Regel – Liebesverhältnissen sind mindestens 15.000 Kin15 Vgl. für den Gesamtkomplex: Harald Fühner, Nachspiel. Die niederländische Politik und die Verfolgung von Kollaborateuren und NS-Verbrechern, 1945–1989, Münster 2005; Gerhard Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940–1945, Stuttgart 1984; Norbert Fasse, Johannes Houwink ten Cate und Horst Lademacher (Hg.), Nationalsozialistische Herrschaft und Besatzungszeit. Historische Erfahrung und Verar-
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der hervorgegangen16, was die Frauen oft damit bezahlen mussten, dass sie geschert, geteert und gefedert durchs Dorf getrieben wurden. Die „wilden“ Verhaftungen und „wilden“ Bestrafungen hielten noch bis in den Sommer 1945 an, bis die erste Nachkriegsregierung in Ausführung der noch in London gefassten Beschlüsse zusätzlich zu den „Besonderen Gerichten“ Volkstribunale einrichtete. Erstere bestanden aus ordentlichen Richtern, Letztere aus Laien „patriotischer Gesinnung“, die „dem verbreiteten Bedürfnis nach (…) plebiszitärer Mitwirkung des Volkes bei der Bestrafung von Kollaborateuren (…) entgegenkommen (sollten)“17; lediglich die jeweiligen Präsidenten und Sekretäre waren Juristen. Die einen befanden über Verrat und Hochverrat, die anderen ahndeten das „anstößige Verhalten einzelner“, insbesondere der NSB-Mitglieder. Die Volksgerichte, insgesamt neunzehn, konnten maximal zehn Jahre Gefängnis und totalen Vermögensentzug anordnen. Bis 1948 fällten sie 50.000 Urteile. Die fünf „Besonderen Gerichte“, die bis 1950 amtierten, sprachen 15.000-mal Recht. Insgesamt sind 450.000 Fallakten angelegt worden, was 5 Prozent der Gesamtbevölkerung von 1946 entsprach, die NSB konnte auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung aber nur 0,75 Prozent der Niederländer auf sich vereinigen. 154 Todesstrafen wurden verhängt, aber nur 40 vollstreckt, 149 Delinquenten erhielten lebenslänglich. 40.000 Personen wurde für eine bestimmte Zeit das Wahlrecht bzw. die Staatsbürgerschaft, 12.000 wurde der Besitz entzogen, und 37.000 erhielten eine Haftstrafe. 1948 gab es 4800 Gefangene in Haft, 1955 waren es nur noch 471 und 1960 lediglich 39. Danach saßen in Breda noch vier und zuletzt nur noch zwei zum Tode verurteilte deutsche Kriegsverbrecher, diese, „die Zwei von Breda“, allerdings über vierzig Jahre. Der letzte Kollaborateur wurde 1964 auf freien Fuß gesetzt, danach galt die quasi regierungsoffizielle „Strategie der Stille“, die sich aber über kurz oder lang als Belastung erwies. Schon in den späten 1960er Jahren war die „Besondere Rechtsprechung“ als chronique scandaleuse einer nicht erfolgten Aufarbeitung verrufen. So stand und blieb auch der Fall Klaas Carel Faber im Raum. Der niederländische SS-Freiwillige hatte im Lager Westerbork gemordet, war 1952 aus Breda in die Bundesrepublik geflohen und von dort nicht ausgeliefert worden, weil er die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte. 2012 ist er in Ingolstadt gestorben. Ähnlich ist die Sachlage bei dem Niederländer Siert Bruins, der noch 2013 als 92-Jähriger unbehelligt in Nordrhein-Westfalen lebte, als erfolglos gegen ihn Anklage erhoben wurde. Im öffentlichen Dienst war fast jeder Dritte von Kollaborationsvorwürfen bebeitung aus niederländischer und deutscher Sicht, Münster, New York, München und Berlin 2000. 16 Vgl. Ebba D. Drolshagen, Schattendasein der Feindeskinder. Die Nachkommen der Wehrmachtssoldaten in den ehemals besetzten Ländern, in: „Neue Zürcher Zeitung“ vom 17.1.2004, S. 38; Laura Fahnenbruck, Ein(ver)nehmen. Sexualität und Alltag in den besetzten Niederlanden, Göttingen 2017. 17 Peter Romijn und Gerhard Hirschfeld, Die Ahndung der Kollaboration in den Niederlanden, in: Henke und Woller (Hg.), Politische Säuberung in Europa, a. a. O., S. 281–310, hier: S. 293.
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troffen, jeder zweite Bürgermeister musste entlassen werden. Praktisch ungeahndet blieben die Unternehmer und Wirtschaftsprofiteure, weil das völlig ausgehungerte Land sie im Wiederaufbau dringend benötigte. Nicht nur deshalb und nicht nur, was diese Berufsgruppe angeht, ist das ursprüngliche Ziel der Trennung von „Guten und Bösen“ und die Entfernung der Letzteren aus der Gesellschaft gescheitert. Die hierfür extra eingerichteten Säuberungskommissionen gaben ihren Auftrag, überrollt von immer neuen Begnadigungswellen, oft schon 1947 zurück. Da war der Widerwille, sich mit der eigenen schuldhaften Vergangenheit auseinanderzusetzen, bereits tief in der Gesellschaft verankert. Sogar hochrangige Deutsche wie der Föhrer General Friedrich Christiansen, der ehemalige Befehlshaber der Wehrmacht in den Niederlanden, wurden schon 1951 wieder aus der Haft entlassen. Im November 1945 steht Anton Mussert vor Gericht. Er gab zu, die „Auswüchse des Nationalsozialismus“ ignoriert zu haben, verteidigte aber seinen Kampf für ein unabhängiges Holland im Verband einer von Deutschland geführten Liga „germanischer“ Nationen. Nur so habe die totale Annexion seines Vaterlandes abgewehrt werden können. Zwar wurde er wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, der Kassationshof stellte aber ausdrücklich fest, dass seine Motive möglicherweise nicht verwerflich gewesen seien. In seinem Abschiedsbrief vom 28. März 1946 „an das holländische Volk“ rechtfertigte er seinen 28-jährigen Kampf für die niederländische Volksgemeinschaft und setzte die Ziele der NSB mit denen der Widerstandsbewegung im Untergrund gleich. Leider habe Hitler, auf den er bis zuletzt gehofft habe, ihn im Stich gelassen. Am 7. Mai 1945 wurde er von einem Erschießungspeloton hingerichtet. Fast allen verurteilten Kollaborateuren wurde die Pflicht auferlegt, sich nach dem Verbüßen ihrer Strafe in die Obhut der „Stiftung zur Überwachung politischer Delinquenten“ zu begeben. Diese war privat, wurde aber von den meisten Parteien sowie von herausragenden Richtern, Bischöfen, Gewerkschaftsvertretern und zunehmend auch von Mitgliedern des Widerstands getragen. Vom September 1945 bis Ende 1951 hat diese Einrichtung, die im Nachkriegseuropa einzigartig dasteht, insgesamt 90.000 mit oder ohne Gerichtsverfahren aus der Internierung Entlassenen auf dem Weg in die Demokratie geholfen. Die Aufsichtsdauer betrug für jeden drei Jahre, und wer in diesem Zeitraum auffällig wurde, sah sich sofort der Staatsanwaltschaft gemeldet. 17.000 Freiwillige, denen nur 320 fest Bedienstete zur Seite standen, sorgten auf diese Weise dafür, dass auch schwer belastete Kollaborateure wieder eine Wohnung, Arbeit und einen Platz in der Gesellschaft fanden. Auf jeden Fall agierte die Stiftung effektiver als die mit dem Durchleuchten des öffentlichen Dienstes beauftragten Säuberungskommissionen, in denen sich die örtlichen Bürgermeister mit den Vertretern des Militärs und des Widerstands nie richtig einig werden konnten. Von den 380.000 Angehörigen, die der öffentliche Dienst 1945 zählte, sind 24.000 mit Disziplinarstrafen belegt oder entlassen worden; am wenigsten belangt wurden die Polizeibeamten, jene Berufsgruppe also, die den Deutschen am meisten geholfen hatte. Alles in allem ist der niederländischen Regierung die „Selbstreinigung“ geglückt, doch „Erscheinungen wie Willkür,
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Korruption und Durchstecherei, aber auch das Gefühl einer unzulänglichen Bestrafung bleiben in der kollektiven Erinnerung an die politische Säuberung engstens miteinander verknüpft.“18 Welchen Weg würde, welchen Weg sollte man jetzt gehen? Bedeutete die Befreiung gleichzeitig eine politische Erneuerung oder würde das „System der Säulen“ zurückkehren? Darüber hatte man sich schon früh Gedanken gemacht. In einem katholischen Internat im nordbrabantinischen St. Michielsgestel und im benachbarten Haaren hielten die Besatzer vom Sommer 1942 an über 1000 Geiseln gefangen, mit deren Exekution sie bei Widerstandshandlungen drohten. Diese Schar verkörperte einen Großteil der wirtschaftlichen, politischen und intellektuellen Elite Hollands. Abgesehen davon, dass jedem jederzeit die Erschießung bevorstand, führten die Geiseln ein privilegiertes Leben, denn St. Michielsgestel war kein Lager wie die anderen. Täglich hörte man Vorträge, bildete Diskussionsgruppen, sah Filme und genoss klassische Musik. Das übergreifende Thema war natürlich die Gestaltung der Niederlande nach der ersehnten deutschen Niederlage, und hier wurde zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen relativ schnell die Übereinkunft erzielt, dass die „Antithese“, sprich der Gegensatz zwischen den Christen und Nichtchristen und mit ihm das versäulte Kästchendenken überwunden werden müssten. Nach dem, was man erlebt und erlitten hatte, sollte die nationale Einheit an die Stelle der versäulten Spaltung treten. Um dieses große Ansinnen umzusetzen, wurde schon im Mai 1945 mit großem Aplomb die Nederlandse Volksbeweging gegründet, aber je mehr das Bewusstsein wich, nicht mehr dem deutschen Terror ausgeliefert zu sein, umso schneller kehrten die alten Strukturen zurück. Die Wahlergebnisse von 1946 bis 1948 glichen denen von 1938 bis 1940, insbesondere die Sozialdemokraten und die Katholiken hatten es nach dem Krieg versäumt, sich in einer Partei zu finden. Streit, nicht Konsens bestimmten die Tagesordnung. Im Februar 1946 bildeten die Sozialdemokraten ihre eigene Partij van de Arbeid, die Konservativen folgten mit ihrer Volkspartij voor Vrijheid en Democratie, und bald war das Land wieder in reformierte, katholische, sozialistische, kommunistische, calvinistische und libertäre Lebenswelten aufgeteilt. Die Säulen standen weiterhin, fast fester als vor dem Krieg. „Die Niederlande wirkten von außen wesentlich toleranter, als sie in Wirklichkeit waren. Sie waren nur sehr gut im Wegschauen, im Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen des anderen, wenn man dadurch den inneren Frieden bewahren konnte.“19 Die Arbeit der früh eingesetzten Politieke Recherche Afdelingen Collaboratie ließ Justizminister van Maarseveen ins Leere laufen, indem er ihr 1948 den Geldhahn abdrehte. „Die Brauchbarkeit beim Wiederaufbau (…) unseres Landes nach dem Krieg entschied über die Sauberkeit während des Krieges.“20 Die „Zwei von Breda“ wurden 1989 freigelassen.
18 Ebd., S. 310. 19 Mak, Niederlande, a. a. O., S. 200. 20 Zit. nach Fühner, Nachspiel, a. a. O., S. 73.
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Längst waren sie zum Symbol für die immer noch unverarbeitete Besatzungszeit geworden, die man auf sie projiziert hatte. Tatsächlich saß das Trauma der massiven Kollaboration weit tiefer, als man es sich einzugestehen bereit war – kompensiert und „therapiert“ wurde es mit zunehmendem Deutschenhass. Als Louis de Jong, der Leiter des „Reichsinstituts für Kriegsdokumentation“ und Verfasser eines 14-bändigen, erst 1991 abgeschlossenen Geschichtswerkes über die besetzten Niederlande, das Drehbuch für die von 1960 bis 1965 ausgestrahlte Fernsehserie „Die Besatzung“ verfasst hatte und die letzte Folge gesendet war, urteilte die heimische Medienkritik: „Das ist die Geschichte der Vergewaltigung eines unschuldigen Volkes, das aber durch seine geistige Stärke und Unbeugsamkeit, unter der beseelten Führung seiner Monarchin, das Böse besiegt und im Prinzip ungebrochen und bereinigt aus diesem Kampf hervorgeht.“21 Aber dieser Mythos hielt sich nicht lange. 1965 veröffentlichte Jacques Presser, der dem Abtransport ins Todeslager nur knapp entronnen war, sein zweiteiliges Werk „Untergang. Die Verfolgung und Ausrottung des niederländischen Judentums 1940–1945“, das primär eine Anklage der ungezählten Mithelfer und Denunzianten von Kerkrade bis Groningen war. Ausgerechnet in diesen Zeitraum fiel die Nachricht von der bevorstehenden Hochzeit zwischen Prinzessin Beatrix und Claus von Amsberg. Der Ministerrat setzt sich intensiv mit der Frage auseinander, ob dessen zu deutsch klingender Vorname in „George“ abzuändern ist (es bleibt aber bei der Ersetzung des „von“ durch „van“), die Jugendprotestbewegung Provo verteilt Flugblätter, auf denen über seine angebliche faschistische Vergangenheit informiert wird, und Louis de Jong erhält den Regierungsauftrag, eben diese zu untersuchen. Das Ergebnis ist mehr als dürftig: Von Amsberg war noch im März 1945 als 18-Jähriger zur Wehrmacht einberufen worden, hatte sich aber nach wenigen Wochen zu den Amerikanern abgesetzt. Das Parlament stimmte der Trauung daraufhin zu, aber trotzdem konnte eine Unterschriftenaktion gegen diese Entscheidung 60.000 Eintragungen verzeichnen, vorwiegend aus den meinungsbildenden Kreisen. Die Feierlichkeit selbst am 10. März 1966 in Amsterdam war von wütenden Protesten begleitet. Der wahre Grund für den hypernervösen und skrupulösen Umgang mit dem Bräutigam war jedoch ein anderer. Er lag in einer fast dreißig Jahre zurückliegenden Heirat, die tatsächlich einen aktiven Nationalsozialisten ins holländische Herrscherhaus geführt hat. Prinz Bernhard zur Lippe, seit 1933 Mitglied der NSDAP, der Reiter-SS und der Motor-SA, heiratete 1937 die niederländische Prinzessin und spätere Königin Juliane. Zwar verließ er daraufhin die Partei, stritt die Mitgliedschaft später aber ganz ab. Bei seiner Hochzeit hatte er noch das Horst-Wessel-Lied spielen lassen. Nach dem Krieg wurde von offizieller Seite alles getan, um Bernhards Vergangenheit zu vertuschen. So erreichte die Regierung in Den Haag, dass die SS bei den Nürnberger Prozessen zwar insgesamt als kriminelle Organisation eingestuft, dass die Reiter-SS hiervon 21 Frank van Vree, In de schaduw van Auschwitz. Herinneringen, beelden, geschiedenis, Groningen 1995, S. 4.
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aber ausgenommen wurde. Die Ausgabe des Hamburger Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ vom 9. Mai 1962, in der Bernhards NS-Aktivitäten erstmals aufgedeckt wurden, durfte in den Niederlanden nicht verkauft werden. Generell reicht die Abneigung gegenüber den Deutschen in der alten Seefahrernation weit zurück. Schon in der niederländischen Literatur des 16. Jahrhunderts findet sich das Wort mof als Kennzeichnung für einen groben, unbehauenen Kerl. Spätestens vom 19. Jahrhundert an wird es bezogen auf alle Deutschen verwendet. Die Wehrmacht und die SS bestätigten mit ihrem terroristischen Verhalten ein längst bestehendes, festgefügtes Image. Nach dem Krieg hatte jeder Holländer ein verständliches Interesse daran, dass Deutschland nicht zu stark wurde. Hierauf zu achten war wichtiger, als sich mit eigenen Fehlern, Vergehen und Verbrechen zu befassen. In dieser Hinsicht hat erst Hans Bloms berühmte Antrittsvorlesung „Im Banne von ‚gut‘ und ‚böse‘? Wissenschaftliche Geschichtsschreibung über die Besatzungszeit in den Niederlanden“ von 1983 den Weg zu einer differenzierenden Wahrnehmung gewiesen. Bloms Ansatz, der oft mit Martin Broszats Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus verglichen wurde, blieb zwar nicht unwidersprochen, zwang aber dazu, sich nicht nur mit den Deutschen zu beschäftigen. Wie sehr diese Haltung nach dem Fall der Berliner Mauer allerdings erneut wirksam wurde, hat der Utrechter Historiker Hermann van der Dunk in seiner Analyse „Die niederländische unbewältigte Vergangenheit und die deutsche Einigung“22 überzeugend dargelegt. Am 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Einheit, titelte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit „Holland fällt der Abschied schwer“. Wohl noch unter dem Eindruck derartiger Entwicklungen führte das Niederländische Institut für internationale Beziehungen Clingendael 1993 unter 15bis 19-jährigen Jugendlichen eine Umfrage zum „Bild von Deutschland und den Deutschen“23 durch. Sie löste einen Schock aus. Unter der (als Ergebnis zu verstehenden) Überschrift „Bekannt und unbeliebt“ beurteilen hier 71 Prozent der Jugendlichen Deutschland als dominierend, 60 als arrogant, 46 als kriegstreiberisch und 47 als Land, das die Welt beherrschen will. Nur 19 Prozent sehen es als friedliebend an. Die Befragung wird 1995 und 1997 mit ähnlichen Ergebnissen wiederholt und dann stillschweigend eingestellt. Fest steht also, dass es sich keineswegs um Momentaufnahmen gehandelt hat, vielmehr machten die sie betreuenden Wissenschaftler für die vernichtenden Urteile tief verwurzelte antideutsche Gefühle aus, die durch einen einseitigen Geschichtsunterricht über die Zeit von 1933 bis 1945 ausgelöst worden seien.24 Die Deut22 Hermann van der Dunk, Nederlands onverwerkt verleden en de Duitse eenwoording, in: Wam de Moor (Hg.), Duitsers!? Ervaringen en verwachtigen, Den Haag 1990, S. 119–138; Barbara Beuys, Leben mit dem Feind. Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940–1945, München 2016. 23 Auf Deutsch abgedruckt in: Bernd Müller und Friso Wielenga (Hg.), Kannitverstan? Deutschlandbilder aus den Niederlanden, Münster 1995, S. 165–200. 24 Vgl. Dik Linthout, Frau Antje und Herr Mustermann. Niederlande für Deutsche, 6. Aufl., Berlin 2010, S. 26.
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schen waren und blieben nun einmal die moffen. Aber sie machten es den Niederländern in der Bestätigung ihrer Urteile und Vorurteile auch nicht gerade schwer: In eben jener Zeit, in der die Clingendael-Studie durchgeführt wurde, brannten in Rostock, Lübeck, Hoyerswerda und Solingen die Häuser, und in ihnen verbrannten – zum ersten Mal seit 1945 – wieder Menschen. Lange schwelender Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus war in offenen Rechtsterrorismus umgeschlagen – die Angst und Abneigung gegenüber dem großen Nachbarn war so unverständlich nicht, doch die Art und Weise, wie sie sich artikulierte, gab wiederum Anlass zur Kritik. Mit direktem Bezug auf die Toten von Solingen liegen unter der Überschrift „Ich bin wütend“ im Frühling 1993 in jedem holländischen Café, Supermarkt und Tabakladen Postkarten mit der Aufforderung zur Unterschrift aus. 1,2 Millionen Menschen folgen dem Appell, unter ihnen viele Schülerinnen und Schüler. Mit großem Brimborium und entsprechendem Medientross wird die „gesammelte Meinungsfracht“25 nach Bonn gebracht und Bundeskanzler Kohl übergeben. Die Aktion hatte „zeitweise den Charakter einer nationalen Erhebung“ bzw. „kollektiver moralischer Überlegenheit“26. Uneingestandenermaßen war sie aber auch ein unfreiwilliges Spiegelbild der unaufgearbeiteten eigenen Vergangenheit. Der in dieser Hinsicht erfolgte Tabubruch kam nicht aus der Wissenschaft, Gesellschaft oder Politik, sondern aus der belletristischen Literatur, und für ihn steht wie kein zweiter der Name von Harry Mulisch (1927–2010). Sein Vater, ein Sudetendeutscher, war nach dem Ersten Weltkrieg in die Niederlande ausgewandert und dort zum Bankdirektor aufgestiegen; seine Mutter, eine Jüdin, stammte aus Frankfurt am Main. Zwar lässt das Ehepaar sich 1936 scheiden, aber trotzdem schützt der Vater in seiner beruflichen Funktion, in der ihm die Verwaltung des konfiszierten jüdischen Eigentums obliegt, beide, die Ex-Frau und den gemeinsamen Sohn, vor der Verschleppung und Ermordung. 1945 wird er zu drei Jahren Internierungshaft verurteilt. Das schriftstellerische Werk Harry Mulischs, das siebzig Bücher umfasst, hat durchweg das Spannungsverhältnis zwischen der Verfolgung der Mutter und der Kollaboration des Vaters zum Gegenstand. Bereits 1957 erhält er den Anne-Frank-Preis, 1961 ist er Berichterstatter im Eichmann-Prozess, und 1978 wird er mit dem Niederländischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet; mehrfach ist er für den Literaturnobelpreis im Gespräch. In seinem 1992 erschienenen Buch „Die Entdeckung des Himmels“ ist die Mitschuld der Holländer am Holocaust erstmals umfassend thematisiert. 2007 wird der Bestseller zum „besten niederländischen Roman aller Zeiten“ gewählt. Zweiundsechzig Jahre nach Kriegsende bekennt sich ein Volk damit demonstrativ zu seiner eigenen Vergangenheit. Seit 2010 arbeitet in Amsterdam als Nachfolger des Instituts für Kriegsdokumentation das Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien. 25 Bernd Müller, Stille Tage im Klischee. Sinn, Unsinn und Entwicklung niederländischer Deutschlandbilder, in: ders. und Wielenga (Hg.), Kannitverstan?, a. a. O., S. 15–30, hier: S. 24. 26 Ebd., S. 24–25.
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Dass es gleichwohl und gleichzeitig unverhohlen revisionistische Tendenzen bei der Beurteilung der Kollaboration im Polderland gab, dafür sorgte das 2001 erschienene Buch „Graue Vergangenheit. Die Niederlande und der Zweite Weltkrieg“27 des Historikers Chris van der Heijden, dessen Vater ein überzeugter Nationalsozialist und Mitglied der Waffen-SS war. Dabei lehnt auch van der Heijden das lange und gern konturierte Bild eines Landes, in dem von 1940 bis 1945 ausschließlich heroische Widerstandskämpfer und NS-Mittäter einander gegenüberstanden, scharf ab. Das Ergebnis seiner legitimen und überfälligen Entmythologisierung ist das Bewusstsein von einer gut 95 Prozent ausmachenden Mitte der Gesellschaft, die aus Opportunismus, Nichtstun, Wegschauen, Abwarten und Schweigen bestand. Auch seiner These, dass die NSB „authentisch niederländisch“ war und erst unter deutschem Einfluss antisemitisch wurde, mag man noch folgen. Er bezieht sich hier vor allem auf Paul Verhoevens bereits 1968 gedrehten, aber erst 2008 (!) in voller Länge gezeigten Dokumentarfilm „Portret van Anton Mussert“, in dem mit einer unübersehbaren Sympathie dessen Versuch präsentiert wird, die Eigenständigkeit der Niederlande durch Kollaboration zu retten, wobei Verhoeven folgert: „Mussert war mit seinen Ansichten von dem fünfmaligen Ministerpräsidenten Colijn (…) weniger weit entfernt, als man gemeinhin denkt.“28 Vollends ins Mark traf er die niederländische und die gesamte westliche Erinnerungskultur aber mit seiner Kennzeichnung der in- und ausländischen Juden als „halbe“ Kollaborateure, „ganze“ Kollaborateure und schließlich als Täter. Mussert hingegen sei nichts anderes als „ein verkannter Judenretter“ gewesen.29 Ob bzw. inwieweit die schweren Identitätskrisen, denen sich die Niederlande im späten 20. und im frühen 21. Jahrhundert ausgesetzt sahen und die in dem enormen Anschwellen rechtspopulistischer Bewegungen und den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh gipfelten, direkt oder indirekt mit dem gefährlich schwankenden Selbstbild zusammenhingen, welches man sich hinsichtlich des eigenen Verhaltens in 27 Chris van der Heijden, Grijs verleden. Nederland en de Tweede Wereldoorlog, Amsterdam u.a. 2001 28 Zit. nach Chris van der Heijden, Die NSB – eine ganz normale politische Partei?, in: Colin, Lorenz und Umlauf (Hg.), Täter und Tabu, a. a. O., S. 25–32, hier: S. 26. 29 Vgl. Krijn Thijs, Kontroversen in Grau. Revision und Moralisierung der niederländischen Besatzungsgeschichte, in: Colin, Lorenz und Umlauf (Hg.), Täter und Tabu, a. a. O., S. 11–24, hier: S. 17 sowie Evelien Gans, Eigentlich waren doch alle ein bisschen Täter und Opfer. Nivellierungstendenzen und sekundärer Antisemitismus im Geschichtsbild des niederländischen Historikers Chris van der Heijden, in: ebd., S. 33–48, hier: S. 44 und 46. Vor der Dichotomie zwischen Widerstand und Kollaboration warnte im Übrigen bereits Hans Blom, Leiden als Warnung. Konstanten und Variablen im niederländischen Umgang mit der Besatzungszeit, in: Fasse, Houwink ten Cate und Lademacher (Hg.), Nationalsozialistische Herrschaft und Besatzungszeit, a. a. O., S. 321–330; vgl. auch: Friso Wielenga, Die „Guten“ und die „Bösen“. Niederländische Erinnerungskultur und nationale Identität nach 1945, in: Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 246–264.
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der Besatzungszeit machte, steht dahin. Fakt ist aber, dass van der Heijdens Thesen in der Breite der Gesellschaft „viel Anerkennung und viele Nachahmer gefunden30haben. Wie sehr sie sogar die eigene Regierung verunsicherten, zeigte sich insbesondere in der offiziellen Kampagne Den Haags für die gemeinsame Europäische Verfassung im Jahr 2005, die allen Ernstes mit dem Slogan „Für die Europäische Verfassung – gegen ein zweites Auschwitz“ geführt wurde. Das waren Steilvorlagen für Populisten wie Geert Wilders, die dieser langfristig und geschickt ausnutzte. Das Verfassungsreferendum in Holland scheiterte mit einem Anteil der Gegenstimmen von fast zwei Dritteln und damit auch die Verfassung selbst. Nirgendwo ist penetranter und dilettantischer versucht worden, mit europäischer Erinnerung europäische Identität zu erzwingen. Der Versuch musste scheitern, denn die langen Schatten der Kollaboration waren noch längst nicht gewichen. Immerhin ist das „System der Säulen“, das in den 1950er und 1960er Jahren eine neuerliche Renaissance erlebte, inzwischen eingestürzt, wenngleich niemand zu sagen vermag, wann dies genau geschehen ist. Es ist das Ergebnis eines schleichenden Säkularisierungsprozesses, demzufolge jeder zweite Holländer heute ohne Konfession lebt und jede Woche zwei Kirchen für immer entweiht und geschlossen werden.
30 Gans, Eigentlich waren doch alle ein bisschen Täter und Opfer, a. a. O., S. 47.
Belgien Belgien erklärt 1830 nach einer Erhebung gegen den König der Vereinigten Niederlande seine Unabhängigkeit und hebt Leopold I. von Sachsen-Coburg-Gotha auf einen eigenen Thron. Er muss einen Eid auf die Verfassung ablegen und das Parlament anerkennen. 1898 wird das Flämische neben dem Französischen als offizielle Landessprache anerkannt. In der Auseinandersetzung um die „Niederlandisierung“ der Universität Gent erreicht der Sprachen- und Nationalitätenstreit zwischen Flamen und Wallonen 1903 einen ersten Höhepunkt. Das kaiserliche Deutschland missachtet die belgische Neutralität im Ersten Weltkrieg, besetzt das Land und fördert durch die 1917 erfolgte Einberufung des „Rates von Flandern“ den Spaltungsprozess, der nur mit der deutschen Niederlage verhindert wird. Als Bestimmung des Versailler Vertrages erhält Belgien die westdeutschen Landkreise Eupen und Malmedy. Der Sprachenstreit verschärft sich. 1933 bildet sich der „Flämische Nationale Verband“ (VNV), der in der Vereinigung mit dem nördlichen Nachbarn einen „großniederländischen Staat“ anstrebt. Die Antwort der Wallonen in Form einer gleichermaßen rechtsorientierten Partei ließ nicht lange auf sich warten. Sie folgte drei Jahre später durch die Gründung der Rexpartei, angeführt von der eigentlichen Zentralfigur des belgischen Nationalsozialismus, Léon Degrelle. Léon Marie Ignace Degrelle wird am 15. Juni 1906 als achtes Kind eines Bierbrauers in Bouillon nahe der französischen Grenze geboren. Er besuchte das Jesuitenkolleg in Namur und studiert danach an der Katholischen Universität Löwen Philosophie, Jura und Politische Wissenschaften. Er wird Leiter der Action Catholique de la Jeunesse, Belge und knüpft Kontakte zum Löwener Verlagshaus „Rex“ (Christus König), das die Programme von Charles Maurras’ Action française herausgibt. Degrelle und seine Freunde nennen sich von da an „Rexisten“, 1930 wird er Direktor des Verlages. Ab 1935 attackiert er in rhetorisch gekonnten Selbstinszenierungen die katholischen, liberalen und sozialistischen Politiker des Landes. 1936 gelingt ihm der Durchbruch. Bei den Wahlen im Mai erhalten die Rexisten auf Anhieb 11 Prozent der Stimmen und 21 von 202 Sitzen im Parlament. Von Mussolini, den er mehrfach aufsucht, bekommt er zu Propagandazwecken monatlich 250.000 Franken, und am 26. September 1936 händigt ihm Hitler in Berlin 250.000 Reichsmark aus. Zwei Wochen später bespricht er mit Goebbels in Köln den „Marsch auf Brüssel“, aber aus dem Analogon zu Mussolinis Unternehmen wird nichts. Noch am selben Tag schließt er mit dem VNV eine Allianz, aber sie ist wirkungslos. Bei den Parlamentswahlen vom April 1939 erhält der „Rex“ nur 4 Prozent der Stimmen. Als die Deutschen am 10. Mai 1940 einmarschieren, ist Degrelle ein machtloser Mann. Die erneute Nichtachtung der belgischen Neutralität trifft Regierung und Bevölkerung gleichermaßen schwer. Die Notkoalition aus Katholiken, Liberalen und Sozialis-
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ten flieht nach London, ruft den Widerstand aus und verurteilt das Verhalten König Leopolds II., der nach der Einnahme Brüssels am 11. Mai kapituliert und sich im Schloss Laeken freiwillig in die Gefangenschaft begibt. Am 19. November lässt er sich in Berchtesgaden von Hitler empfangen. Er rechtfertigt das Treffen mit dem Versuch, sich für die Freilassung der belgischen Kriegsgefangenen einzusetzen, was ihm hinsichtlich der flämischen auch gelingt, jedoch nicht für die wallonischen. In Brüssel amtiert eine aus sogenannten Generalsekretären gebildete Fachkräfteregierung unter dem Vorstandschef der staatlichen Société Générale, Alexandre Galopin, dessen Namen zum Sinnbild der ökonomischen Kollaboration wird. Auch die Verwaltung bleibt in belgischen Händen. Die „unideologischen“ Generalsekretäre werden nach und nach aber durch Mitglieder kollaborationsbereiter Organisationen ersetzt. Es entsteht ein Schwebezustand, in dem es „zwischen SS, Militärverwaltung, frankophoner Elite, flämischen Nationalisten, wallonischen Faschisten, den Generalsekretären und der Wirtschaft Interessenkongruenzen, Interessengegensätze, wechselnde Koalitionen und Konflikte gibt.“1 Flämische wie auch wallonische Rechtsparteien buhlten schon unmittelbar nach dem Einzug der Wehrmacht zur Durchsetzung ihrer national-separatistischen Ziele um die Gunst der neuen Herren. Es ist die Stunde von Staf de Clercq, dem großen Gegenspieler von Léon Degrelle. Jeroom Gustaaf, genannt Staf de Clercq, wird am 16. September 1884 in Everbeck geboren. Er ist Lehrer, so wie sein Vater. 1933 gründet er den VNV, dessen Fernziel ein Großdietsches Reich aus den Niederlanden und den in Belgien bzw. in Nordfrankreich lebenden Flamen ist. Auf der orangefarbenen Parteifahne ist das Mündungsdelta von Schelde, Maas und Rhein symbolisiert. Die Flamen waren für de Clercq eine im Ausland lebende deutsche Minderheit, so wie die Österreicher und die Sudetendeutschen; Hitlers Zerschlagung der „Resttschechei“ trug er aber nicht mehr mit. Bei den Wahlen 1939 erreichte der VNV 17 Mandate, er galt als „redemokratisiert“. Im neuen Programm des VNV vom 10. November 1940 war von einer Gemeinschaft der Deutschen und Flamen nirgendwo mehr die Rede, andererseits bekannte sich de Clercq am selben Tag öffentlich zu Hitler. Schon zu dem Zeitpunkt stellten seine Leute im flämischen Landesteil jeden zweiten Bürgermeister. Eine gänzlich andersartige, gleichwohl kurzfristig mit den Nationalsozialisten kooperierende Persönlichkeit stellt der schillernde Linksintellektuelle Hendrik de Man (1885–1953) dar, der sich früh von seinem wohlhabenden Elternhaus, einer Antwerpener Reedersfamilie, abgewandt und 1902 in die Belgische Arbeiterpartei eingetreten war. Auch er engagierte sich in der flämischen Nationalbewegung, lehnte deren Separatismus aber ab. Als die NSDAP immer erfolgreicher wird, analysiert er diese zutreffend sozialpsychologisch, weil sie den von Proletarisierung bedrohten Schichten gesellschaftliche Alternativen aufzeigt, und stellt sie der eigenen Arbeiterpartei indirekt als 1
Klaus Bachmann, Vergeltung, Strafe, Amnestie. Eine vergleichende Studie zu Kollaboration und ihrer Aufarbeitung in Belgien, Polen und den Niederlanden, Frankfurt am Main 2011, S. 107.
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Vorbild hin. Von 1929 bis 1933 ist er Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Frankfurt am Main, dann Arbeits- und Finanzminister in Brüssel. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht löst er die Arbeiterpartei auf (deren Vorsitzender er ist) und ruft zur Gründung einer Einheitsgewerkschaft nach deutschem Muster, der „Union der Hand- und Geistesarbeiter“, auf. Bei einem Treffen mit Degrelle in Paris erhält er dessen Zustimmung, die „Union“ wird kurzfristig Wirklichkeit, scheitert aber schon im Sommer 1941 am mangelhaften Zuspruch der Belgier. De Man ist inzwischen als Flügeladjutant und Berater Leopolds III. tätig, dem er empfiehlt, sich mit den Besatzern zu arrangieren. Immer mehr gerät er zwischen die Fronten. Den Kollaborateuren gilt er als „linker Sozialist“, den Widerständlern als „Agent Hitlers“. Ende 1941 wird ihm der Boden unter den Füßen so heiß, dass sein großer Förderer Otto Abetz, der deutsche Botschafter in Paris, ihm einen gefälschten Pass besorgen muss, mit dem er sich in die Savoyer Alpen absetzt. 1946 verurteilt ein belgisches Militärgericht ihn wegen „Förderung der Absichten des Feindes“ in Abwesenheit zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit und zur Aberkennung aller Rechte und Titel. Auf ein an Leopold gerichtetes Rehabilitierungsgesuch erhält er keine Antwort. 1953 stirbt er völlig verarmt und vereinsamt in der Schweiz. Abetz hatte sich auch für Degrelle eingesetzt, der am 10. Mai 1940 von der Landespolizei verhaftet und anschließend durch 22 belgische und französische Gefängnisse geschleppt worden war. Wieder frei, legte er dem Botschafter im Oktober 1940 eine umfangreiche Denkschrift über die Zukunft Belgiens vor. Nach ihr sollten der „Rex“ in der Wallonie und der VNV im Flämischen die Bevölkerung erziehen und auf ein Reich vorbereiten, das unter Einschluss niederländischer Provinzen und französischer Gebiete von Amsterdam bis nach Dijon reichen und so groß werden sollte wie das Burgund Karls des Kühnen im 15. Jahrhundert. Aber die Deutschen winkten ab. Sie wollten Flandern mit dem Reich vereinigen. Degrelle durfte lediglich die Garde Wallone, eine paramilitärische Selbstschutzorganisation aus 4000 schwarz gekleideten Kämpfern, aufstellen. Gleichzeitig begann die SS mit der Werbung von Freiwilligen, die zum Misserfolg wurde. In der „Standarte Nordwest“ dienten zum 3. April 1941 ganze 500 Flamen neben 1400 Holländern und 100 Dänen. De Clercq gelang es bis zum Oktober, hieraus eine eigene „Legion Flandern“ zu bilden, die tausend Soldaten umfasste. Sie wurde am Ladogasee bis auf 45 Mann aufgerieben. Natürlich betrieb auch Degrelle die Aufstellung einer „Legion Wallonien“, zunächst im Rahmen der Wehrmacht. Für die Überführung in die Waffen-SS warb er am 31. Januar 1943 vor belgischen und französischen Zwangsarbeitern in einer flammenden Rede im Berliner Sportpalast, und zwar durchaus mit Erfolg. Degrelle erreichte bei Himmler den Einsatz wallonischer Offiziere, Wappen und französischer Kommandosprache für seine „Sturmbrigade Wallonien“, ideologisch hatte er sich der nationalsozialistischen Großraumpolitik inzwischen aber vollständig und bedingungslos unterworfen. Wallonien sollte in einem germanischen Europa aufgehen, in dem für ein unabhängiges Belgien kein Platz mehr war. Degrelle war zu einem Kollaborateur ohne Patriotismus geworden, auch wenn er
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ihn nach außen durchaus noch demonstrierte. Am 20. Februar 1944 schlug die Stunde seines Lebens. Er bekam im Führerhauptquartier in Rastenburg aus den Händen des „Führers“ das Ritterkreuz verliehen, und Hitler verabschiedete ihn mit dem berühmt gewordenen Satz: „Wenn ich einen Sohn hätte, wünschte ich, dass er so wäre wie Sie.“2 Anfang Juni zog die Brigade unter dem frenetischen Jubel von Hunderttausenden Belgiern durch Brüssel. Degrelle nahm die Parade ab. Am Ende des Krieges war er SSObersturmbannführer und besaß 22 Auszeichnungen, darunter das Goldene Eichenlaub. Da war Belgien bereits von den Westalliierten befreit und er selbst von einem Brüsseler Militärgericht am 27. Dezember 1944 in Abwesenheit zum Tode verurteilen worden. Zu eben dem Zeitpunkt wirft er sich mit seinen Wallonen der Roten Armee an der Oder entgegen. Noch am 2. Mai 1945 trifft er sich mit Himmler im holsteinischen Malente. Am Tag der bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschland flüchtet er mit dem Flugzeug, das Speer für Quisling bereitgestellt hatte, nach Spanien. Dort erreicht ihn die Nachricht, dass er von einem belgischen Sondergericht erneut zum Tode verurteilt worden ist. Alle Versuche der Alliierten, ja sogar der Vereinten Nationen, bei General Franco Degrelles Auslieferung zu erreichen, scheitern. Er taucht in einem Dominikanerkloster unter und wird spanischer Staatsbürger. 1994 stirbt er in Málaga. Die tiefe Feindschaft mit Staf de Clercq und dessen VNV, der 1941 auf seinem Höhepunkt 60.000 Mitglieder besaß, dauerte auch über dessen frühen Tod 1942 hinaus; sie war ein Sinnbild des auch unter Fremdherrschaft zerrissenen 8-Millionen-Staates, dessen Kontrahenten beide mit der Besatzungsmacht kollaborierten. Auch die faschistische Utopie des „Neuen Europa“, in dem beide zusammen mit den Deutschen eine gleichberechtigte, große Rolle spielen wollten, entfachte zwischen ihnen keinerlei Bindekräfte. Insgesamt haben 22.000 Flamen und 16.000 Wallonen in der Waffen-SS gedient. An der Ostfront wurden sie zwei verschiedenen Legionen zugeteilt, damit es nicht zum Krieg im Krieg kam.3 Léon Degrelle erfährt 2006 posthum eine ungeahnte, aber auch hoch umstrittene Würdigung. In diesem Jahr erscheint bei Gallimard in Paris der 1400 Seiten starke Roman „Les Bienveillantes“ des in Frankreich aufgewachsenen amerikanischen Juden Jonathan Littell, der sich schnell über eine Million Mal verkauft und eine rege Diskussion auslöst. Unter dem Titel „Die Wohlgesinnten“ wird das Buch wenig später auch in Deutschland publiziert.4 Insbesondere die Hauptfigur des Romans, der SS-Obersturmbannführer Dr. Maximilian Aue und dessen Credo, dass es Zeiten geben könne, „in denen eine Allianz mit den Nazis eine ethische Option“ sei, haben die Fantasie der 2 3
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Zit. nach Seidler, Die Kollaboration 1939–1945, a. a. O., S. 170. Vgl. Ludwig Nestler und Wolfgang Schumann (Hg.), Europa unterm Hakenkreuz. Die faschistischen Okkupationsbewegungen in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden (1940–1945), Berlin 1990; Robert Grunert, Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen 1940–1945, Paderborn [u. a.] 2012, S. 298 ff. Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten, Berlin 2008.
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Leser immer wieder befeuert und die Frage nach dem realen historischen Vorbild für Aue immer lauter werden lassen. Littell hat sie dann in dem (wesentlich kürzeren) Nachfolgewerk „Das Trockene und das Feuchte. Ein kurzer Einfall in faschistisches Gelände“5 selbst beantwortet: Dr. Max Aue und Léon Degrelle sind identisch. Beide sind eiskalte Präzisionstäter, ohne den Hauch eines Skrupels, beide sind gleichzeitig aber auch hochgradig belesen, intellektuell und kultiviert. Littell lässt Aue mit den Kollaborationskoryphäen Brasillach und Rebatet eng befreundet sein. Der zentrale Vorwurf der Kritik Littell und seinem monumentalen Epos gegenüber bestand darin, dass es „ein großes fatalistisches Schulterzucken (ist): Was geschehen ist, ist geschehen, musste geschehen. Die christliche Moral (…) wird als rückständiges Ideengut verhöhnt“, insgesamt handle es sich um „eine verstörende Arbeit am nationalsozialistischen Mythos“6, die zu allem Überfluss auch noch einen Preis der Académie française sowie den Prix Goncourt, die größte literarische Auszeichnung Frankreichs, erhält und 2011 unter tosendem Applaus am Berliner Maxim-Gorki-Theater aufgeführt wird. Sieht so die Historisierung und Relativierung des Holocaust aus, in Deutschland und seinen ehedem kollaborierenden Nachbarstaaten? Littell jedenfalls will mit seinem Buch einer „Dejudaisierung“ des Verbrechens den Weg bahnen, es der deutschen Spezifik entkleiden und potentiell jedem Volk zuschreiben. Die Verfolgung, Deportation und Ermordung der belgischen Juden vollzog sich in vielem ähnlich, in manchem jedoch anders als im übrigen Europa. Es gab bereits am 28. Oktober 1940 ein Judenstatut, einen zwangseingesetzten Judenrat, Identitätskarten und Registrierung. Anders als in Frankreich oder den Niederlanden hatten aber nur 6 Prozent der 90.000 in Belgien lebenden Juden auch die belgische Staatsbürgerschaft. Nur in Belgien hat es pogromartige Ausschreitungen der einheimischen Bevölkerung gegeben, und zwar schon im Frühjahr 1941. Ein Protest vonseiten der Kirche unterblieb. Am 4. August 1942 verließ der erste Transport ausländischer Juden Malines (flämisch: Mechelen) in Richtung Auschwitz. Die Deutschen konnten die jüdische Bevölkerung weitgehend unbehelligt in ihre Gewalt bringen, obwohl die belgischen Behörden und die Polizei weniger mithalfen als in anderen Ländern.7 Die Aushebungen gestalteten sich zusehends erfolgloser, weil vor allem Privatleute, in geringerem Maße auch Einrichtungen der katholischen Kirche und des Widerstands Juden in Kellern und auf Dachböden versteckten. Zu ihnen gehörte auch Paul Spiegel, der 1999 zum Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland gewählt wurde. Die Erinnerung an die Brutalität der deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg mag bei vielen der heimlichen Helfer eine Rolle gespielt haben. Fast zwei Drittel der Juden in Belgien, also knapp 60.000 Men5 Ders., Das Trockene und das Feuchte. Ein kurzer Einfall in faschistisches Gelände, Berlin 2009. 6 Iris Radisch, Am Anfang steht ein Missverständnis, in: „Die Zeit“ vom 14.2.2008, S. 51 f., hier: S. 52. 7 Vgl. Insa Meinen, Die Shoah in Belgien, Darmstadt 2009; Dan Michman (Hg.), Belgium and the Holocaust, Jerusalem 1998.
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schen, hat überleben können. Die Brüsseler Polizei hat sich mehrfach Razzien verweigert, „Judensterne“ wurden von ihr nicht ausgegeben. Insgesamt konnten die Deutschen nur ein Fünftel der Opfer mithilfe der belgischen Polizei und Verwaltung in ihre Gewalt bringen. Das vergleichsweise positive Bild, das durch diese Zahlenrelation vermittelt wird, trübte sich spät, aber nachhaltig ein, als Rudi Van Doorslaer, der Direktor des Brüsseler „Forschungs- und Dokumentationszentrums Krieg und Zeitgeschichte“, 2007 ein umfangreiches Sammelwerk „Williges Belgien“ vorlegte.8 Es war die erste systematische Untersuchung zur landesinternen Kollaboration. Van Doorslaer weist nach, dass „der Schritt von der passiven zur aktiven Kollaboration schnell getan war.“ Schon im November 1940 werden die Nürnberger Rassengesetze mit großer Unterstützung der Belgier umgesetzt. Die einen versteckten, und die anderen verrieten, und dabei oft die eigenen Nachbarn. In der Nacht vom 28. auf den 29. August 1942 verhaftet die Antwerpener – also flämische – Polizei ohne jegliche deutsche Aufforderung 1.200 Juden und schickt sie in den Tod. Mehr als aufschlussreich ist die Wende von der Kollaboration zum Widerstand in Belgien: Sie setzt Ende 1942 in dem Moment ein, in dem auch die Helfershelfer der Nazis zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert werden. Van Doorslaer: „Erst von da an war die Zusammenarbeit mit den Deutschen sehr gering.“ Anfänglich waren 130.000 freiwillig bzw. wegen der höheren Löhne nach Deutschland gegangen, vom Herbst 1942 an wurden weitere 180.000 jedoch deportiert. Wieder einmal schafften es die Deutschen, eine ihnen vielerorts gesonnene Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Belgien, zunächst einer Militärverwaltung unterstellt, wurde Reichskommissariat und erhielt im Juli 1944 mit dem Ziel der Eingliederung eine Zivilverwaltung im Rahmen der neuen „Reichsgaue“ Flandern und Wallonien. Da waren die Alliierten aber bereits gelandet. Am 3. September ist Brüssel erobert, zwei Tage später kehrt die Exilregierung zurück. In den tief verschneiten Ardennen eröffnet Hitler im Dezember seine letzte Offensive. De Clercqs flämische Waffen-SS weigert sich, gegen die eigenen Landsleute zu kämpfen, die Mitglieder von Degrelles Rex-Partei nehmen sie aber gern ins Visier. „Zahlreiche Kollaborateure werden (…) attackiert. Anscheinend sind sie Spitzel (…). Die Vergeltungen sind noch brutaler (…). Infolge der blutigen Dramen herrscht in einem großen Teil des Landes (…) eine echte Atmosphäre des Schreckens (…). Der Hass, den manche Belgier jetzt zeigen, ist (…) unendlich heftiger als der gegen die Besatzer.“9 Die Deutschen geben sich erst am 21. Januar 1945 geschla8 Rudi Van Doorslaer, Emmanuel Debruyne, Frank Seberechts und Nico Wouters (Hg.), Gewillig België. Overheid en Jodenvervolging tijdens de Tweede Wereldoorlog, Antwerpen 2007; Christoph Brüll, „Das Recht, über die Geschichte zu urteilen“. Der Umgang mit dem Holocaust in Belgien an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in: Eckel und Moisel (Hg.), Universalisierung des Holocaust?, a. a. O., S. 43–58. 9 Paul Struye, L’Evolution du sentiment public en Belgique sous l’occupation allemande, Brüssel 1945, S. 178 f.; Alfred Minke, Grenzland seit Menschengedenken, in: Anne Begenat-Neuschäfer (Hg.), Die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt am Main 2010, S. 3–26.
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gen, und jetzt beginnt die richtige Hatz auf die Kollaborateure beiderseits der Sprachgrenze. 57.000 werden zu Haftstrafen verurteilt, 1.200 zum Tode, und 242 werden hingerichtet. Die 20.000 Belgierinnen, die Kinder von deutschen Besatzungssoldaten haben, sehen sich den übelsten Schmähungen ausgesetzt, eine besondere Zielscheibe des Hasses ist aber die kleine, 73.000 Menschen umfassende deutschsprachige Gemeinschaft in Eupen und Malmedy, die Hitlers Truppen im Mai 1940 mit offenen Armen empfangen hatte. Jeder Dritte ist entweder der NSDAP, der NS-Frauenschaft oder der Hitlerjugend beigetreten. Dass die Stimmung in den „ins Reich heimgekehrten Ostkantonen“ schon im Herbst 1941 gekippt war, wollte jetzt niemand mehr wissen. 12.000 wurden interniert oder inhaftiert, und nach 1945 gab es für alle nur noch das Ziel der Assimilierung. Für deutsche Sprache und deutsche Kultur war im „ewigen Vaterland Belgien“ kein Platz mehr, am Hohen Venn herrschte tiefe Niedergeschlagenheit. Erst 1963 erkennt der belgische Staat das deutsche Sprachgebiet offiziell an, seit 1973 ist es ein autonomer Bundesstaat mit eigenem Parlament, das sich aus dem großen Streit zwischen Flamen und Wallonen tunlichst heraushält. Belgien war nach dem Zweiten Weltkrieg gespaltener als jemals zuvor, gerade weil sich beide Kontrahenten vorwarfen, der größere Kollaborateur gewesen zu sein. Hinzu kam, dass sich die Integrationsposition des Königs für lange Zeit als Leerstelle erwies, da die Deutschen Leopold III. unmittelbar nach der Invasion der Alliierten auf die Burg Hirschstein in Sachsen gebracht hatten, wo er bis 1950 blieb. Die Regierung setzt in dem Jahr eine Volksbefragung hinsichtlich seiner Rückkehr an. Sie erzielt mit 56 Prozent Ja-Stimmen ein positives Votum, verdeutlicht aber erneut die Zerrissenheit des Landes: 70 Prozent der Flamen, aber nur 42 Prozent der Wallonen haben für Leopold gestimmt. Nach seiner Rückkehr brechen in Brüssel schwere Straßenkämpfe aus, ein Bürgerkrieg droht, und der König dankt am 16. Juli 1951 zugunsten seines 20-jährigen Sohnes Baudouin ab. Die 1954 entstandene flämische Volksunie wandte sich von Anfang an gegen die Nachkriegssäuberung und verlangte eine Amnestie der wegen Kollaboration verurteilten Flamen. Die eigenen SS-Formationen und Ostfrontkämpfer mutierten zu Patrioten, Kollaboration war weniger Zusammenarbeit mit dem Besatzer, sondern Kampf um nationale Rechte, die durch die Säuberungen beschnitten werden sollten. Die Zielprojektionen der Partei reichten von der Föderalisierung Belgiens bis hin zur Errichtung eines unabhängigen Staates. 1971 erreichte die Volksunie mit 21 von 212 Sitzen im Brüsseler Unterhaus ihren größten Erfolg. Dass in diesem Klima hochgradiger nationaler Verunsicherung und Schizophrenie kein Platz für eine gleichwohl erforderliche Erinnerungsarbeit war, kann kaum überraschen. Noch 1983, als Hugo Claus, der belgische Harry Mulisch, seinen berühmten Roman „Der Kummer von Flandern“ über den Kollaborationsalltag in einer Kleinstadt veröffentlicht, sieht er sich Anfeindungen im ganzen Land ausgesetzt. Vier Jahre zuvor war aus dem rechten Flügel des flämischen Nationalismus die Partei Vlaams Blok hervorgegangen, die sich 2004 als Vlaams Belang neu gründete und von Wahl zu Wahl erstarkte. Ihr Kernziel ist natürlich die Gründung eines eigenen Staates, aber auch von einer belgischen Mitschuld am Ju-
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denmord will sie nichts wissen. Das Museum Kaserne Dossin in Mechelen, dem Ort, von dem einst die Transporte nach Auschwitz gingen, nunmehr „Archiv und Bildungszentrum über den Holocaust“ und erstes Zeichen selbstkritischer Erinnerungskultur, wurde 2010 gegen ihren erklärten Willen eingeweiht. Ob es in der heutigen belgischen Gesellschaft ein konsensfähiges Masternarrativ über den Zweiten Weltkrieg gibt, ist fraglich. Weit über den Vlaams Belang hinaus stufen viele Flamen die Ahndung der Kollaboration als Versuch des frankophonen Staatsteiles ein, „die flämische Bewegung“ aufzulösen, wenn gegen sie oder ihre Väter wegen Kollaboration vorgegangen wurde. Sie sehen sich als Opfer einer Repression und verwischen bewusst die Unterschiede zwischen Widerstand und Kollaboration. In den Positionen und Positionierungen der beiden Belgiens gibt es nach wie vor wenig Versöhnliches.
Luxemburg Das seit 1866 selbstständige und neutrale Großherzogtum Luxemburg erhielt 1890 seine eigene Adelsdynastie. 1912 bestieg mit Marie-Adelheid erstmals ein Landeskind den Thron, musste ihn aber schon sieben Jahre später wieder hergeben, weil ihr eine zu große Deutschenfreundlichkeit während der völkerrechtswidrigen deutschen Besetzung im Ersten Weltkrieg vorgeworfen wurde. „Mir wëlle bleiwe, wat mir sinn“, nämlich Luxemburger, keine Deutschen, Franzosen, Belgier oder Niederländer – mit diesem Leitgedanken ist der Kern der sich entwickelnden Landesidentität im Großherzogtum umrissen.1 Deshalb beging Marie-Adelheids Tochter Charlotte 1940 nicht den Fehler ihrer Mutter, sich den Deutschen zu ergeben, sondern begab sich mit ihrer Regierung außer Landes. Am 10. Mai 1940 hat die Wehrmacht den Pufferstaat überrannt, im Juli wird er einer deutschen Zivilverwaltung unterstellt und bildet zusammen mit Koblenz und Trier den „Moselgau“. Die förmliche Annexion an das „Großdeutsche Reich“ lässt nicht lange auf sich warten. Schon im August beginnt Gauleiter Gustav Simon mit seiner brutalen Germanisierungs- und Gleichschaltungspolitik, die im nationalen Gedächtnis Luxemburgs bis heute die Kernsubstanz der Kriegserinnerung darstellt. Nach ihr ist ein 300.000 Einwohner zählender Staat als wehrloses Opfer mit heldenhaftem Widerstand letztlich doch noch als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen – David gegen Goliath. Als Glanz- und Gipfelpunkt in diesem kollektiven Narrativ wird die Befragung vom Oktober 1941 empfunden, in der die Luxemburger ihre Staatsangehörigkeit definieren sollten. Lëtzebuergesch wird auf den Bögen ausdrücklich als hochdeutscher Dialekt bezeichnet. Neunzig Prozent der Befragten beantworteten alle Fragen mit „luxemburgisch“, woraufhin die Parole „draimol Lëtzebuergesch“ als einer der größten Widerstandserfolge von 1940 bis 1944 gefeiert wurde. Auch was die Kriegsbeteiligung angeht, ergibt sich ein positives Bild. Nur 2000 junge Luxemburger sind freiwillig in die Wehrmacht eingetreten, fast 10.000 mussten aufgrund der 1942 eingeführten Wehrpflicht als „Zwangsrekrutierte“ in sie hineingepresst werden, und eine mindestens ebenso große Zahl der Wehrpflichtigen entzog sich durch Flucht oder Abtauchen in den Untergrund. Die Bevölkerung antwortete auf die Dienstverpflichtung mit einem Generalstreik, den die Besatzer mit standgerichtlich verhängten zwanzig Todesurteilen grausam niederschlugen. Die zwangsweise Eingezogenen waren keine „normalen deutschen Soldaten“; nur schwer integrier-
1 Gilbert Trausch, Vom Sonderbewußtsein zur Nation. Beiträge zur Geschichte Luxemburgs vom Ende des „Ancien Régime“ bis zum Zweiten Weltkrieg, Luxemburg 1989.
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bar, beteiligten sie sich aber auch am Vernichtungskrieg.2 Spätestens durch ihr Verhalten wird klar, dass es auch eine andere Seite Luxemburgs gab, für die wie kein zweiter Damian Kratzenberg steht. Kratzenberg ist 1878 geboren und studiert in Paris und Berlin Philologie. Er wird Studienrat für Deutsch und Griechisch in Echternach. Bald liebt er das deutsche Volk genauso wie die deutsche Literatur. Von 1922 bis 1934 leitet er den linksorientierten „Volksbildungsverein“. Sein Bekenntnis zu Deutschland und sein gleichzeitiges, noch 1940 bekräftigtes Eintreten für die Unabhängigkeit des Großherzogtums bilden für ihn keinen Gegensatz. Den Nationalsozialismus billigt er, weil dadurch fremde Einflüsse von der deutschen Kultur ferngehalten werden. Ab 1935 tritt er an die Spitze der „Luxemburger Gesellschaft für deutsche Literatur und Kunst“. Er sorgt dafür, dass in ihrem Vorstand mehr und mehr Luxemburger und keine Deutschen vertreten sind. Als ihm 1936 die Goethemedaille verliehen wird, nennt er Hitler den „edelsten Menschen“ und den „stärksten Hort für die Zukunft Europas“. An den höheren Schulen des Landes wirbt er für den „Sturmtrupp Lützelburg“, den luxemburgischen Ableger der Hitlerjugend. Auf einem Vortrag im Mai 1939 in Köln bekräftigt er die Gemeinsamkeit mit der „germanischen Rasse“. Nach der Besetzung am 10. Mai 1940 wird er Vorsitzender der „Volksdeutschen Bewegung“, die den Anschluss propagiert. In einem ihrer Aufrufe heißt es: „Luxemburger, höre die Stimme des Blutes! Sie sagt Dir, dass Du nach Rasse und Sprache ein Deutscher bist. Luxemburgertum in allen Ehren! Denn wahres Luxemburgertum ist reines Deutschtum.“ Kratzenberg avanciert zum mächtigsten Mann, nur noch Gustav Simon unterstellt. Über tausend Familien müssen das Land verlassen, der Hitlergruß bürgert sich ein und entgegen der Legende vom landesweiten Widerstand schließen sich unerwartet viele der „Bewegung“ an. Ihr Erkennungszeichen, eine „de Roff “ genannte silberne Nadel, tragen sie mit sichtbarem Stolz. Nach dem Krieg flieht Kratzenberg. Er wird festgenommen und am 1. August 1946 von einem luxemburgischen Gericht zum Tod durch Erschießen verurteilt. Direkt oder zumindest indirekt hatte er selbst zum Tod von 8000 seiner Landsleute beigetragen, unter ihnen 4000 Gefallene sowie fast die Hälfte der 3000 luxemburgischen Juden. Es ist schon bemerkenswert, dass der Name Kratzenberg in einschlägigen luxemburgischen Untersuchungen zu dieser Zeit nicht einmal genannt wird.3 2272 Luxemburger – 0,8 Prozent der Bevölkerung – sind nach dem Krieg wegen Kollaborationsverbrechen verurteilt worden, davon zwölf zum Tode. Die „Zwangsre2
Paul Dostert, Die Luxemburger im Reserve-Polizei-Bataillon 101 und der Judenmord in Polen in: „Hémecht“, Jahrg. 52 (2000), S. 81–99. 3 S. insbesondere Peter M. Quadflieg, Luxemburg – Zwangsrekrutiert ins Großdeutsche Reich. Luxemburgs nationale Identität und ihre Prägung durch den Zweiten Weltkrieg, in: Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 170–188. Dies überrascht umso mehr, da sich gerade Quadfliegs Untersuchung durch ein Höchstmaß an Enttabuisierung und Selbstkritik auszeichnet!
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krutierten“, im Sprachgebrauch nur ons Jongen genannt, wurden überhaupt nicht belangt und 1981 (auch entschädigungsrechtlich) den victimes patriotiques gleichgestellt. Ein im Vernichtungskrieg Hitlers gefallener Luxemburger galt damit genauso viel wie ein von der Gestapo ermordeter Widerstandskämpfer. Kein Vergleichsbeispiel zeigt deutlicher, wie sehr die realgeschichtlichen Fakten und das offizielle Nachkriegsnarrativ im Großherzogtum immer noch voneinander abweichen. Die Einordnung des Kleinstaates in die Reihe der Siegermächte inklusive einer eigenen Besatzungszone in Deutschland begünstigten und ermöglichten Verdrängungs-, Relativierungsund Verharmlosungsprozesse, insbesondere wo es um passive und aktive Teilhabe, um Mitverantwortung und „Mitschuld“ an den Verbrechen Großdeutschlands ging. Gleichzeitig und gleichermaßen hatte die (Nicht-)Verarbeitung der Kriegs- und Besatzungserfahrung einschließlich der Annexion an das Dritte Reich im kollektiven Gedächtnis eine geradezu katalytische Funktion für die seit dem 19. Jahrhundert fortschreitende Nationalstaatswerdung und Identitätsfindung der Luxemburger, die es erst 1984 wagen, Lëtzebuergesch neben Französisch und Deutsch zu einer der drei Amtssprachen des Landes zu machen. Nicht die Wirklichkeit, sondern die Verklärung – ergänze: der Opfer- und Heldenrolle – sind die entscheidenden Merkmale in diesem Prozess, der erst in jüngster Zeit durch Versuche tatsächlicher Aufarbeitung konterkariert wird. So zeigte das Musée d’Histoire de la Ville de Luxembourg erstmals 2005 gezielt Beispiele persönlicher Vorteilsnahme und Kollaboration im eigenen Land. David wird entmythologisiert, aber deutlich langsamer als im übrigen Europa, weil die Befreiung 1944/45 nicht als Neubeginn oder „Wiedergeburt“, sondern als glückliches Ende einer als Feuertaufe und Bewährung empfundenen Probe für das Nationalbewusstsein galt.4 In diesem Verständnis war „das im Zweiten Weltkrieg geflossene Märtyrerblut (…) die Abschlussphase der letzten Nationsbildung in Westeuropa“5, und die Schlussbetrachtungen des Standardwerkes zur Besatzungsgeschichte in Luxemburg sind schlicht und einfach mit „Selbstfindung eines kleinen Volkes“6 überschrieben. Daran ist einiges wahr, aber nicht alles. 2002 wird in der Hauptstadt die erste Ausstellung gezeigt, in der die Kollaboration nicht ausgespart ist. Ihre Kernaussage lautet: „Es war alles nicht so einfach.“ Noch dreizehn lange Jahre sollte es dauern, bis in dem am 9. Februar 2015 dem Premierminister Xavier Bettel 4 Vgl. Quadflieg, Luxemburg – Zwangsrekrutiert ins Großdeutsche Reich, a. a. O., S. 170. 5 Gilbert Trausch, Die Bedeutung des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besatzung für die Geschichte des Großherzogtums Luxemburg, in: „Hémecht“, Jahrg. 39 (1987), S. 360–374, hier: S. 365; Benoit Majerus, Besetzte Vergangenheiten. Erinnerungskulturen des Zweiten Weltkriegs in Luxemburg – eine historiographische Baustelle, Luxemburg 2007; Chantal Kesteloot, Die Stellung des Krieges in den nationalen Gesellschaften: Belgien, Luxemburg und die Niederlande, in: Jörg Echternkamp und Stefan Martens (Hg.), Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung, Paderborn [u. a.] 2007, S. 45–63. 6 Paul Dostert, Luxemburg zwischen Selbstbehauptung und nationaler Selbstaufgabe. Die deutsche Besatzung und die Volksdeutsche Bewegung 1940–1945, Luxemburg 1985, S. 261
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nach akribischer Arbeit einer offiziellen Kommission überreichten „Rapport final. La ‚question juive‘ au Luxembourg (1933–1941): L’Etat luxembourgeois face aux persécutions antisémites nazies“ eine Mitverantwortung hinsichtlich der Verbrechen des Holocaust eingeräumt wird.7
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Offizieller Abschlussbericht zur Judenverfolgung: Vincent Artuso, La „question juive“ au Luxembourg (1933–1941): L’Etat luxembourgeois face aux persécutions antisémites nazies. Rapport final. Remis au Premier ministre le 9 février 2015 (Luxembourg).
Dänemark Die Geschichte des dänischen Gesamtkönigreichs, das ursprünglich vom Nordkap bis an die Elbe reichte, ist eine Geschichte ständiger Verkleinerungen. 1658 muss Schonen an Schweden abgetreten werden, 1814 wird Norwegen selbstständig und 1819 Island. Kein Verlust, keine Niederlage hat den dänischen Nationalstolz aber tiefer getroffen als die verlorene Schlacht bei den Düppeler Schanzen 1864 und die Annexion der Herzogtümer Schleswig und Holstein durch Preußen, womit sie bald darauf zum Deutschen Reich gehörten.1 Dänemark verlor damit fast die Hälfte seines Staatsgebietes. Nordschleswig mit seiner dänischen Mehrheitsbevölkerung und Südschleswig mit einer dänischen Minderheit wurden von Berlin aus regiert und mit der um 1900 kulminierenden „Köllerpolitik“ gnadenlos prussifiziert. Für die Wiederaufrichtung des dänischen Selbstbewusstseins steht wie kein zweiter der Name des Pfarrers und Volkserziehers Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783–1872), der 1844 in Rödding die erste Volkshochschule der Welt begründet hatte. Grundtvig verehrte die nordische Mythologie und „Kämpennatur“ sowie die Gesänge der Skalden und die altnordischen Götter- und Heldensagen, weil nur mit ihnen das eigene Brauchtum gestärkt, fremde Kulturen abgewehrt und überhaupt eine „Wiedergeburt des Nordens“ bewirkt werden könnten. Er propagierte das Ideal einer organischen Volksgemeinschaft, seine Bildungseinrichtungen sollten „Hochschulen für das dänische Volks- und Bürgerleben (sein), auf denen die Muttersprache allein regiert und alles sich um König, Volk und Vaterland dreht“.2 Als Folge der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und als Bestimmung des Versailler Vertrages wird 1920 in Nordschleswig und Teilen Südschleswigs eine Volksabstimmung durchgeführt, in deren Ergebnis der Norden mit Dänemark wiedervereinigt wird, von nun an aber eine 30.000-köpfige deutsche Minderheit beherbergt, der Süden mit einer 10.000 Personen starken dänischen Minderheit jedoch bei Deutschland bleibt. Um der Gefahr einer drohenden „Aufsaugung“ zu begegnen, wird auf beiden Seiten der neuen Grenze sofort mit einer breiten „Volkstumsarbeit“ begonnen. Die Zentralfigur der deutschen Nordschleswiger ist Pastor Johannes Schmidt-Wodder, der das Programm des „Schleswigschen Wählervereins“ entwirft, in dem die Revision der Grenze, die kulturelle Autonomie und die vollständige Selbstverwaltung gefordert werden. Schmidt-Wodder ist von 1920 bis 1939 der einzige deutsche Abgeordnete im Kopenhagener Folketing. Eine Schlüsselposition nahm außerdem Ernst Schröder wahr, 1 2
Vgl. Inge Adriansen und Birgit Jenvold, Dänemark. Für Fahne, Sprache und Heimat, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, Berlin 1998, S. 78–100. Zit. nach Klaus Kellmann, Friedrich Paulsen und das Kaiserreich, Neumünster 2010, S. 92; John A. Hall, Ove Korsgaard und Ove K. Pedersen (Hg.), Building the Nation. N.F.S. Grundtvig and Danish National Identity, Kopenhagen 2015.
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der als Leiter der in Flensburg angesiedelten „Grenzmittelstelle Nord“ alle Verbindungen zwischen dem Auswärtigen Amt in Berlin und Schmidt-Wodder koordinierte. Die kleinere dänische Minderheit in Südschleswig organisiert sich im „Schleswigschen Verein“, der die Nähe zum „Schleswig-Friesischen Verein“ sucht. Doch der weitaus größere Teil der Nordfriesen bekennt sich 1926 in den „Bohmstedter Richtlinien“ eindeutig zu Deutschland. Dänemark selbst, wo der Sozialdemokrat Thorvald Stauning 1924 erstmals Ministerpräsident geworden war und dieses Amt mit kurzen Unterbrechungen bis 1942 behielt, wurde Ende der 1920er Jahre immer stärker in die Weltwirtschaftskrise hineingezogen. 1933 steigen die Arbeitslosigkeitsraten auf 40 Prozent, die Regierung sieht sich gezwungen, jedweden Arbeitskampf zu verbieten. Die dänischen Nationalsozialisten glauben, dass ihre Stunde jetzt gekommen ist. Ihre Partei, Danmarks National Socialistike Arbejder Parti (DNSAP), war 1930 gegründet worden. Frits Clausen avancierte in ihr schnell zur unumschränkten Führungsperson. Clausen war 1893 im nordschleswigschen Apenrade geboren und hatte in Heidelberg Medizin studiert. Als Soldat des deutschen Reichsheeres war er 1915 in russische Gefangenschaft gekommen. Nach der Abstimmung von 1920 ging er zunächst in die konservative Folkeparti, schloss sich 1931 aber der DNSAP an, deren Führung er im Juli 1933 übernahm. Er verstand sich als Ableger der deutschen Mutterpartei und entwickelte deshalb auch keine eigenen Pläne über die Rolle Dänemarks in einem nationalsozialistischen Europa. Insgesamt bildeten sich in dem kleinen Königreich in den 1930er Jahren über ein Dutzend Parteien und Parteiungen mit NS-Gedankengut, die sich gegenseitig bekämpften und entkräfteten. So erreichte die DNSAP bei den Parlamentswahlen 1935 ganze 16.257 Stimmen, was nicht einmal für einen Sitz ausreichte. 1934 hatte Clausen mit dem National Socialistike Ungdom (NSU) eine eigene Jugendorganisation mit Christian Frederik von Schalburg an der Spitze formiert, auch eine Parteimiliz, die Storm Afdeling, wurde aufgestellt, die sich wie in Deutschland SA nannte. Trotz dieser formalen Übereinstimmungen zeigten sich im ideologischen und vor allem im „volkstumspolitischen“ Denken doch recht bald erhebliche Unterschiede zwischen Clausen und der Berliner Zentrale. Für Clausen waren alle Schleswiger „von dänischem Blut“ und das gesamte 1920 geteilte Herzogtum „dänische Erde“.3 Die Grenze zwischen Deutschen und Dänen verlief für ihn deshalb an der Eider, am alten Dannewerk, und in einem nationalsozialistisch regierten Deutschland und Dänemark sah er deshalb die Chance, dass sich beide Länder auf diese Grenze einigen würden. Mit dieser politischen Naivität von geradezu erheblichem Ausmaß stieß er nicht nur in den Führungszirkeln der NSDAP, sondern auch bei der eigenen Minderheit auf Erstaunen, Ablehnung und Entsetzen. In Nordschleswig vermochte die Hitlerpartei zunächst keinerlei große Resonanz zu entfachen. Auch die „Machtergreifung“ bedeutete hier keinen sichtbaren Umschwung, 3
Vgl. John T. Lauridsen (Hg.), Føreren har ordet! – Frits Clausen om sig og DNSAP, Kopenhagen 2004, S. 206 f.
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obwohl das erklärte Ziel des Nationalsozialismus darin bestand, „alle Deutschen einer Zunge“ in einem Reich zusammenzuführen, der 30. Januar 1933 mithin die ersehnte Chance der Grenzrevision bot. Lokale Funktionäre südlich der Grenze wollten aus diesem Grund die Gunst der Stunde nutzen und inszenierten eine heftige Kampagne, um die Abtretung Nordschleswigs an Deutschland zu erreichen, den sogenannten „Ostersturm“. Ihm blies der Gegenwind von zwei Seiten ins Gesicht: Alle dänischen Parteien und Organisationen bildeten eine geschlossene Abwehrfront, und die NSDAP-Führung in Berlin pfiff ihre schleswig-holsteinischen Genossen scharf zurück, weil ihr wegen der „Rassenverwandtschaft“ an ungestörten Beziehungen zu Dänemark gelegen war. So blieb die Grenze von 1920 unangetastet, und der „Ostersturm“ flaute schnell wieder ab. Währenddessen tobte unter den deutschen Nordschleswigern der Streit um eine „neue Linie“. Erst 1938 konnte die drei Jahre zuvor unter Leitung des Gravensteiner Tierarztes Jens Möller gegründete „Nationalsozialistische Deutsche ArbeiterparteiNordschleswig“ (NSDAP-N) alle politischen und kulturellen Organisationen der Volksgruppe unter ihrem Dach vereinigen, und Möller übernahm 1939 auch SchmidtWodders Folketingsmandat. Der Gleichschaltungsprozess war abgeschlossen. Einer der überzeugtesten Nationalsozialisten dieser Region war im Übrigen der Maler Emil Hansen aus dem kleinen Dorf Nolde, dessen Namen er später annahm und unter ihm zum weltberühmten Expressionisten wurde. Nolde hat sich zeit seines Lebens als „deutscher Künstler“ verstanden, behielt nach der Volksabstimmung von 1920 aber seinen dänischen Pass und erklärte sich zum nordschleswigschen Volksdeutschen, obwohl er seinen Wohnsitz südlich der Grenze in Seebüll nahm. Den „Aufruf der Kulturschaffenden“ ein Jahr nach der „Machtergreifung“ unterzeichnet er hymnisch mit „Wir glauben an diesen Führer“. Abwechselnd in Berlin und Seebüll tätig, wird er bereits 1934 Mitglied der „Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig“, aus der ein Jahr später die NSDAP-N wird, und veröffentlicht das Buch „Jahre der Kämpfe“, den zweiten Teil seiner schließlich vierbändigen Autobiographie, wo er den Präsidenten der Berliner Sezession und Juden Max Liebermann aus der Distanz von 25 Jahren mit wütenden antisemitischen Tiraden überzieht – späte Rache in einem opportunen Moment. Wörtlich heißt es dort: „Juden haben wenig Seele und Schöpfergabe. Juden sind andere Menschen, als wir es sind. (…) Durch ihre unglückselige Einsiedlung in die Wohnstätten der arischen Völker und ihre starke Teilnahme in deren eigensten Machtbefugnissen und Kulturen ist ein beiderseitig unerträglicher Zustand entstanden.“4 Goebbels dachte und schrieb nicht anders. Nolde empfiehlt sich ihm in einem Brief vom 2. Juli 1938 für die Arbeit in der Partei und den Kampf gegen die Überfremdung der deutschen Kunst. Er betont, „seine Zugehörigkeit zum Deutschtum stets allem vorangestellt und bei jeder Gelegenheit im In- und Ausland kämpfend und bekennend für Partei und Staat eingetreten (zu sein, um) (…) von der Weltbedeutung
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Zit. nach Florian Illies, Deutschstunde. Nolde und die Juden, in: „Die Zeit“ vom 31.7.2008, S. 56.
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des Nationalsozialismus zu überzeugen.“5 Wohl erst in der Auseinandersetzung um eine führende Position Noldes in der Reichskulturkammer und deren Sektion für bildende Künste ist es zwischen beiden zum Bruch, zu dem Malverbot von 1941 und den berühmten 1300 „ungemalten Bildern“ gekommen. Zwar schildert der Schriftsteller Siegfried Lenz in seinem 1968 erschienenen Roman „Deutschstunde“ genial die nationalsozialistischen Verblendungen des Malers Nansen (alias Nolde), der Nordschleswiger selbst hat nach dem Krieg aber alles getan, um diese Spuren zu verwischen. In dem 1958, zwei Jahre nach seinem Tod, allen Ernstes als „zweite erweiterte Auflage“ der „Jahre der Kämpfe“ unter dem Titel „Mein Leben“ publizierten Teil seiner Autobiographie hatte er alles Belastende getilgt. Noch in der 2008 im renommierten Kölner DuMont-Verlag auf den Markt gebrachten Neuauflage fehlt jeder editionskritische Hinweis auf die Ursprungsfassung. Was sein Verhältnis zum Nationalsozialismus anging, so sah er sich bis zu seinem letzten Atemzug als verkannt, verfemt und ungerecht behandelt. Dabei ging es um einen Mann, der den „Führer“ schon 1933 als „groß, edel und genialen Tatenmensch“ bezeichnet hatte, der „mit dem Einsatz meiner ganzen Lebenskraft für urdeutsche Ideen“ kämpfte, dessen persönliche Beziehungen bis ins Haus Göring reichten, der sich bei den Nazis noch anbiederte, als ein großer Teil seiner Gemälde in der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt wurde, der mutmaßlich etliche seiner über tausend beschlagnahmten Werke über den dubiosen Kunsthändler Hildebrand Gurlitt retten konnte, denn sonst hätte man nicht noch 2012 (!) echte Noldes in der Münchner Etagenwohnung von dessen Sohn Cornelius Gurlitt gefunden, der andererseits noch 1941, wie ihm aufgetragen, einen riesigen Packen seiner „Verfallskunst“ zur „Begutachtung“ nach Berlin schickte, um seinen Ausschluss aus der Kammer zu verhindern (was misslang), und der noch 1942 (vergeblich) nach Wien reiste, um bei Baldur von Schirach die Wende zu erwirken. In dem anschließend aufgesetzten „Abschiedsbrief “ betont er seine – bis 1895 (!) – zurückreichende „triebhafte Auflehnung gegen die von allen Künstlern hingenommene alljüdische Bevormundung“6. Man kommt um das Urteil nicht herum: Er war ein von den Nazis verkannter Nazi. Am 13. August 1946 wird er wegen seiner „gegensätzlichen Haltung, die durch die vom Nazi-Regime erfolgte Bewertung seiner Kunstwerke unzweifelhaft gekennzeichnet ist“, entnazifiziert, aber ein sich auf 70.000 DM belaufender Entschädigungsantrag als „Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ findet keine Anerkennung. Im Ablehnungsbescheid vom 25. Juni 1954 heißt es, „besonders schwer“ wiege die zwölfjährige Parteimitgliedschaft, weil
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Zit. nach Uwe Danker, „Vorkämpfer des Deutschtums“ oder „entarteter Künstler“? Nachdenken über Emil Nolde in der NS-Zeit, in: „Demokratische Geschichte“, Bd. 14, 2001, S. 149–188, hier: S. 174. Zit. nach Kirsten Jüngling, Emil Nolde. Die Farben sind meine Noten – Biographie, Berlin 2013, S. 262 f.
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Nolde mit ihr „der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet hat“.7 Da hatte er bereits den Kulturpreis der Stadt Kiel und den Orden Pour le mérite erhalten. Die Stiftung Ada und Emil Nolde, Hausherr der weltberühmten Gemäldesammlung im nordfriesischen Seebüll, hat unter ihrem Direktor Martin Urban alles getan, um die braunen Spuren aus der Biographie des 1956 gestorbenen Künstlers zu tilgen, sofern dies nicht bereits durch Nolde selbst geschehen war, bis hin zur Verfälschung historischer Abläufe. Erst unter Urbans Nachfolgern Manfred Reuther und Christian Ring setzte eine schonungslose, wissenschaftlichen Maßstäben entsprechende Aufarbeitung ein. Ring brachte 2013 das internationale Forschungsprojekt „Nolde und der Nationalsozialismus“ auf den Weg und betonte: „Es darf keine Tabus mehr geben.“ Die Zeiten des „Beschweige- und Beschönigungskartells“ in Sachen Nolde sind vorbei. Siegfried Lenz selbst kritisierte Nolde noch 2014 dafür, „dass er sich nie für seine Kollaboration entschuldigt habe.“ Es war eine seiner letzten Verlautbarungen. Dänemark und die Dänen waren und sind mit dem Mann bis heute nicht im Reinen, was sich an der Missachtung seines Geburtshauses in Nolde zeigt. Dort galt und gilt der Satz: „Bei der Wiedervereinigung (1920) haben wir Nolde bekommen. Die Deutschen hätten ihn gern behalten dürfen.“8 Die dänische Minderheit in Südschleswig hatte vom 30. Januar 1933 an den Standpunkt vertreten, dass die Herrschaft der NSDAP und die nachfolgende Gleichschaltung eine rein innerdeutsche Angelegenheit seien. Verständlicherweise war dies eine Strategie, um der Gleichschaltungswelle zu entgehen, was auch in erheblichem Ausmaß gelang: Organisationsapparat, Presse und Schulen der Minderheit blieben weitgehend unangetastet, und sogar ihre Vertreter in der Flensburger Stadtverwaltung konnten zunächst weiterarbeiten. Ab 1937 begann jedoch eine systematische Unterminierungskampagne, vor allem gegenüber dem „Schleswigschen Verein“ und „Flensborg Avis“, der Zeitung und dem Organ der Minderheit. Der „Schleswig-Friesische Verein“ war schon 1933 verboten worden. „Flensborg Avis“ hatte sich, um zu überleben, einer so scharfen Selbstzensur unterworfen, dass dies in dänischen Kreisen beträchtlichen Unmut hervorrief. Der Mann, um den es hier ging, war Chefredakteur Ernst Christiansen, dessen Denken und Handeln von der Grundtvig’schen „Volksgemeinschaft“ ausging. Für Christiansen war Südschleswig ursprünglich dänisch, und der Kampf um dieses Gebiet sollte die „nationale Erweckung“ im ganzen Land einleiten. Sein Blatt sah er da7 Zit. nach ebd., S. 284. 8 Ebd., S. 285; s. dazu: Stefan Koldehoff, Noldes Bekenntnis, in: „Die Zeit“ vom 10.10.2013, S. 19 und Maren Kruse, Der andere Blick auf Noldes Erbe, in: „Kieler Nachrichten“ vom 28.12.2013, S. 17. In einer Edition der Reden, die Walter Jens 1967 und 1987 zu Nolde gehalten hat, schlägt Reuther dann wieder versöhnlichere Töne an und spricht von „Noldes bitterem Zwiespalt“: Manfred Reuther, Walter Jens über Emil Nolde. Befreiung von Legenden, Nolde Stiftung, Seebüll 2014. Auch Christian Rings Grundsatzartikel „Nolde und der Nationalsozialismus“ („Flensburger Tageblatt“ vom 9.5.2014, S. 46) ist zu glättend und harmonisierend, teilweise apologetisch geraten.
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bei in einer Doppelrolle: Einerseits sollte es Front und Vorposten des Dänentums sein, andererseits aber auch Brücke nach Deutschland, dessen Kultur er seit jeher bewundert hatte. Mehr und mehr glaubte er, Grundtvigs Ideale im Nationalsozialismus wiedererkennen zu können, und näherte sich diesem Schritt für Schritt an. Ende der 1930er Jahre war „Flensborg Avis“ praktisch gleichgeschaltet. Christiansen wurde den einen genauso suspekt wie den anderen und landete letztlich zwischen allen Stühlen. Die Zeitung konnte nur dadurch überleben, dass Christiansen 1940 entlassen wurde.9 Insgesamt zeigten die Politik und das Procedere der dänischen Minderheit in ihrer Loyalitäts- und Anpassungsbereitschaft deutliche Parallelen zur „Verhandlungs- und Zusammenarbeitspolitik“ der Kopenhagener Regierung mit der deutschen Besatzungsmacht von 1940 bis 1943. Am 31. Mai 1939 unterschreibt Dänemark als einziger nordischer Staat den von Deutschland angebotenen Vertrag über einen Nichtangriffspakt. Nur wenige Monate später beginnen in Berlin die Vorbereitungen für die „Operation Weserübung“. Sie beinhaltet die Besetzung Dänemarks, und zwar allein aus strategischen, nicht aus ideologischen Gründen. Dänemark war das Sprungbrett nach Norwegen, von wo aus der Nordatlantik beherrscht, die Landung Großbritanniens verhindert, die kriegswichtige schwedische Erzzufuhr gesichert und die Ostseeausgänge kontrolliert werden konnten. Schließlich war die deutsche Flotte im Ersten Weltkrieg am Skagerrak untergegangen. Zwar ist die „Studie Nord“ des Oberkommandos der Wehrmacht vom Dezember 1939 verschollen, aber am 18. Januar 1940 steht der erste Lagebericht. In schneller Folge bildet sich ein Sonderstab, der entsprechende Operationsbefehl ergeht, und als das Eis der Ostsee am 28. März aufbricht, laufen die Motoren heiß. Die deutsche Kriegsmarine war nicht getrieben, wie Walther Hubatsch zeit seines Lebens behauptet hat, sondern trieb.10 Aber auch in Dänemark gab es lange, zählebige, bis zum Mythos und „Dolchstoß“ reichende Legenden, und es ist kaum überraschend, dass Pastor Schmidt-Wodder hinter ihnen stand.11 Nach ihnen hat sich der linksliberale dänische Außenminister Peter Munch im Einvernehmen mit Thorvald Stauning am 18. März 1940 in Bad Doberan bei Rostock mit Himmler getroffen, um die kampflose Besetzung abzusegnen. SchmidtWodder behauptete später sogar, Munch am gleichen Tag und am gleichen Ort persönlich begegnet zu sein. Der eigentliche Hintergrund des „Rostock-Mythos“ bestand da 9 Vgl. Réne Rasmussen, Front og Bro. Flensborg Avis i spil mellem Danmark og Tyskland 1930– 1945, 2 Bde., Flensburg 2005. 10 Vgl. hierzu sehr aufschlussreich: Christoph Cornelißen, Die „Weserübung“ im Spiegel der populären und wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, in: Robert Bohn, Christoph Cornelißen und Karl Christian Lammers (Hg.), Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skandinavien seit 1945, Essen 2008, S. 139–152. 11 Peter Hopp, Pastor Johannes Schmidt-Wodder und der Rostock-Mythos, in: „Grenzfriedenshefte“, Nr. 3/2008, S. 243–256.
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rin, dass der DNSAP und Frits Clausen nahestehende Politiker schon im Frühjahr 1940 versuchten, den „entlarvten Landesverräter Stauning“, der schon in seiner Neujahrsansprache jeden Widerstand als zwecklos bezeichnet hatte, zugunsten einer dänisch-nationalsozialistischen Regierung zu stürzen. Richtig ist allerdings, dass die handstreichartige Besetzung des Landes am 9. April 1940 für die politische Führung in Dänemark nicht überraschend kam. Der deutsche Abwehrchef und spätere Widerständler Hans Oster hatte schon sechs Tage zuvor das unmittelbare Bevorstehen der „Weserübung“ an die Botschaften der betroffenen Länder in Berlin durchsickern lassen. Die Kernaussage des Munch in den frühen Morgenstunden des 9. April überreichten Memorandums bestand darin, dass die „friedliche Besetzung“ dem Schutz Dänemarks vor einer anglofranzösischen Landung diene, durch die das Land zum Schlachtfeld geworden wäre. Es enthielt aber auch alle Grundzüge der deutschen Besatzungsstrategie, nach der Dänemark seine Unabhängigkeit, Neutralität und territoriale Unversehrtheit zugesichert wurde, keinerlei Eingriffe in die Innenpolitik, Polizeigewalt und das demokratische System erfolgen würden und sich das Land nicht im Kriegszustand befinde. Die wechselseitigen Beziehungen verliefen auch weiterhin in diplomatischer Form über das Auswärtige Amt und dessen Gesandten in Kopenhagen. Der Kopenhagener Historiker Karl Christian Lammers resümiert: „Diese Stellung Dänemarks war einmalig im deutsch besetzten Europa.“12 Das Königreich war weiterhin ein souveräner Staat, weil König Christian X. das ultimativ präsentierte Memorandum annahm. Kurz nach acht Uhr erhielten die letzten bei Hadersleben kämpfenden Truppen den Befehl zur Feuereinstellung. Über der deutschen Gesandtschaft am Öresund wehte da bereits die Reichskriegsflagge. Der deutsch-dänische Krieg hatte zwei Stunden gedauert. „Die Deutschen begriffen sich fortan als Gäste, welche dem Gastgeber durch die Art ihres Verhaltens darlegten, dass es ein Fehler gewesen sei, nie eine entsprechende Einladung an sie formuliert zu haben.“13 Ganz so weit gingen der König und die Regierung zwar nicht, aber sie formulierten noch am Besatzungstag einen Aufruf „An das dänische Volk“, dass es die „Pflicht der Bevölkerung (sei), sich jeden Widerstandes zu enthalten“ und ein „loyales Auftreten“ gegenüber den Deutschen zu zeigen. „Ruhe und Ordnung“ seien das Gebot der Stunde. Um 19.00 Uhr trat der Reichstag zusammen und beschloss eine „Sammlungsregierung“ aller im Folketing vertretenen Parteien. Die Konservativen 12 Karl Christian Lammers, Der 9. April 1940. Ein Schicksalstag in der deutsch-dänischen Geschichte, in: „Grenzfriedenshefte“, Nr. 4/2010, S. 255–264, hier: S. 257; ders., Die neue dänischdeutsche Grenze als „Versailles-Grenze“. Die Grenzfrage in den dänisch-deutschen Beziehungen 1933–1955, in: Martin Krieger, Frank Lubowitz und Steen Bo Frandsen (Hg.), 1200 Jahre deutschdänische Grenze, Neumünster 2013, S. 259–268. 13 Jörg Zägel in Zusammenarbeit mit Reiner Steinweg, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1: Auseinandersetzungen in den nordischen Staaten über Krieg, Völkermord, Diktatur, Besatzung und Vertreibung, Berlin 2007, S. 18.
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und die liberale Venstre stellten je drei Minister ohne Geschäftsbereich. Für die von nun an verfolgte Generallinie haben sich drei unterschiedliche, ja gegensätzliche Begriffe eingebürgert, nämlich Verhandlungspolitik, Zusammenarbeitspolitik und Staatskollaboration. Schon am 15. April wird in Kopenhagen eine „Staatsanwaltschaft für besondere Angelegenheiten“ eingerichtet. Ihre einzige Aufgabe besteht darin, gegen die Besatzungsmacht gerichtete Handlungen zu verfolgen und zu ahnden. Und schon vom Frühsommer 1940 an werden Flüchtlinge und Emigranten, die seit 1933 Schutz in dem Inselreich gesucht hatten, heimlich, still und leise an Deutschland ausgeliefert. Im Juli treten deutschfreundliche, allerdings nicht nationalsozialistische Politiker in die Regierung ein, der Konservative Christmas Møller wird Handelsminister und Peter Munch übergibt das Außenministerium an Erik Scavenius, die Schlüsselfigur der Kollaboration. Scavenius, Jahrgang 1877, war der Sohn eines königlichen Kammerherrn. Er tritt früh in den diplomatischen Dienst ein und wird 1906 Legationssekretär an der dänischen Botschaft in Berlin. 1909, im Alter von 32 Jahren, wird er erstmals Außenminister und bekleidet das Amt erneut von 1913 bis 1920. Die dänische Neutralität interpretiert er in dieser Zeit als wohlwollende Haltung gegenüber Deutschland, von dem das Land wirtschaftlich abhängig ist. 1924 ernennt Stauning ihn zum dänischen Gesandten in Stockholm. In der neuen „Sammlungsregierung“ oblag es ihm, die am 8. Juli 1940 verkündete Antrittserklärung auszuarbeiten, in der es heißt: „Eine neue Zeit ist in Europa angebrochen, die eine politische und wirtschaftliche Neuordnung unter der Führung Deutschlands mit sich bringen wird.“ Dänemarks Aufgabe sei es, „seinen Platz in einer notwendigen und gegenseitigen aktiven Zusammenarbeit mit Großdeutschland zu finden, (dabei aber) seine Selbstständigkeit und Eigenart zu bewahren.“ Hitlers Siege verfolge man mit „Erstaunen und Bewunderung“. Obwohl das Vier-Millionen-Volk die 50.000 Wehrmachtssoldaten nicht als Gäste empfand und den 9. April als Schock wahrgenommen hatte, war die Bereitschaft in der Bevölkerung groß, auf diesen Kurs einzuschwenken. Maßgeblich hierfür war das Verhalten Christians X., König seit 1912, der schon am 10. April 1940 seine alte Gewohnheit eines morgendlichen Rundritts durch die Innenstadt von Kopenhagen wiederaufnahm, bei dem er immer Zeit für einen Plausch mit jedermann und jeder Frau fand. Das signalisierte Normalität. Der König war noch im Land und hatte es nicht, so wie anderenorts in Europa, verlassen. Hitlers Vorstellung, durch die Propagierung des „germanischen Gedankens“ werde er dem „König von Dänemark sein Volk langsam unter der Sitzfläche“14 wegziehen, erwies sich als wirres Zeug. Eine Woche nach dem Einmarsch widerfuhr dem 69-Jährigen etwas, was er kaum noch zu hoffen gewagt hat14 Zit. nach Matthias Bath, Danebrog gegen Hakenkreuz. Der Widerstand in Dänemark 1940–1945, Neumünster 2011, S. 30; ders., Der SD in Dänemark: Heydrichs Elite und der „Gegenterror“, Berlin 2015; Nathaniel Hong, Occupied. Denmark’s Adaption and Resistance to German Occupation 1940–1945, Copenhagen 2012; Henning N. Larsen, Haengt ud – de illegale Blade under Besaettelsen, Sonderburg 2016.
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te: Ihm wurde ein Enkelkind, eine Tochter, die heutige Königin Margrethe, geboren. Die Dänen sahen das als Zeichen des Himmels. Christians 70. Geburtstag am 26. September wurde zum größten Volksfest der Landesgeschichte. Und man besann sich, auch wenn es eine Flucht aus der Gegenwart war, auf den großen Skandinavisten Grundtvig, der sich immer gegen deutschen Einfluss in Dänemark ausgesprochen hatte. Im „Studienring“ des Sozialdemokraten Frode Jakobsen und in Dansk Ungdoms Samvirke, dem „Zusammenwirken der dänischen Jugend“, im Herbst 1940 gegründet, wurden seine Werke jetzt wieder begierig gelesen. Insgesamt ist die Disposition der Bevölkerung nicht einfach oder einhellig zu beurteilen. Die einmarschierenden Deutschen wurden nicht freundlich begrüßt, wie in etlichen Ländern Osteuropas, ihnen schlug aber auch keine offene Feindseligkeit entgegen. Man reagierte abwartend-reserviert und war durchaus erleichtert, dass es nicht wie in Polen zu Krieg und Zerstörung gekommen war. Resistente Verhaltensweisen wie die der Kolde Skulder (kalte Schulter) etablierten sich nur langsam. Sie artikulierten sich dergestalt, dass Kinosäle erst nach der (deutschen) Wochenschau betreten und Restaurants verlassen wurden, wenn Wehrmachtssoldaten eintraten. Mehr und mehr kam es in der Öffentlichkeit auch in Mode, sich eine Plakette mit den drei Buchstaben SDU (Smid Dem Ud – Schmeißt sie raus!) ans Revers zu stecken. Wenn es bei dem einfachen Mann und der einfachen Frau Kollaboration gab, dann war dies „Kollaboration aus Opportunismus“ (Kirchhoff).15 Nur einer hat in der dänischen Gesellschaft nie richtig Fuß fassen können: Frits Clausen und seine DNSAP. Bei den Parlamentswahlen 1939 hatte sie drei Mandate bzw. 31.000 Stimmen errungen, was 2 Prozent der Dänen entsprach! Von der Besatzungsmacht bekam sie die erhoffte Führungsrolle nicht zugewiesen, wohl aber 600.000 Kronen aus der deutschen Staatskasse, um aus der Splitterpartei eine Massenbewegung zu machen. Nur – die Massen kamen nicht. Die DNSAP hatte 6000 Mitglieder. Anbiederungen wie der Gruß „Dansk Front“ statt „Heil Hitler“ fruchteten nichts. Clausen war in die „Operation Weserübung“ nicht eingeweiht worden, trotzdem wollte er jetzt an die Macht. Am 17. Juni 1940 schließt er sich mit der Bauernpartei zusammen und hat zehn Sitze im Folketing. In schizophrener, populistischer Argumentation wird der Regierung Stauning hier der „Verrat des 9. April“ vorgeworfen und deren Rücktritt gefordert. Eine Großkundgebung in der Kopenhagener Forum-Halle, dem größten Gebäude der Stadt, mit anschließendem Demonstrationszug zum Rathausplatz und feurigem Schlussappell soll den Umschwung bringen, doch die dänische Machtergreifung endet im Fiasko, im Gejohle einer gigantischen Gegendemonstration. Unter den Augen der Deutschen werden DNSAP-Mitglieder krankenhausreif geschlagen, Clausen wird von der Besatzungsmacht verboten, den Verratsvorwurf zu wiederholen, er ist politisch erledigt. 15 Hans Kirchhoff, Die dänische Staatskollaboration: Der Kollaborationsbegriff in der dänischen Forschung, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 101–118, hier: S. 102.
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Himmler versagt ihm bei einem Treffen am 16. Februar 1941 in Kopenhagen jedwede Unterstützung für eine Machtübernahme. Die DNSAP mit inzwischen immerhin 23.000 Mitgliedern dient fortan praktisch nur noch als Personalreserve für die Wehrmacht und die SS, aber die „nazistische Einverleibung Dänemarks“ war für immer gescheitert. Auch in den Spitzen der Besatzungsadministration erwartete jetzt keiner mehr, dass die Dänen „im Innersten ihres Herzens für uns sind“16. Die Deutschen hatten von Anfang an das Ziel, aus Dänemark ein „Musterprotektorat“ zu machen, auch wenn dies keine offizielle Bezeichnung war. Aber eben deshalb blieb „das Land von den allermeisten Regulierungs- und Repressionsmaßnahmen verschont, die die deutsche Besatzungspolitik in ganz Europa charakterisierten.“17 Schließlich gehörte man in der „rassischen Schicksalsgemeinschaft“ der nordischen Völker ja sowieso zusammen. Bereits 1942 verfasste der nach England exilierte dänische Intellektuelle Sten Gudme ein Buch unter dem Titel „Denmark – Hitler’s ‚Model Protectorate‘“. Geleitet wurde dieses Protektorat, deutlich niederschwelliger als in Norwegen oder in Polen, von einem „Reichsbevollmächtigten“ und nicht von einem „Reichskommissar“ oder einem „Generalgouverneur“. Cécile von Renthe-Fink, der Bevollmächtigte in Dänemark, war ursprünglich kein Nazi, sondern kam aus dem diplomatischen Dienst, weshalb er sich auch so gut mit Scavenius, dem Hauptvertreter der „Erfüllungspolitik“, verstand. Der Höhepunkt dieser Politik war zweifellos erreicht, als das Inselreich im Herbst 1941 seine Beziehungen zur Sowjetunion abbrach, die kommunistische Partei im eigenen Land – in klarem Bruch der Verfassung – verbot und der Verhaftung ihrer Funktionäre tatenlos zusah. Wenn man zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon von Widerstand sprechen kann, dann richtete er sich gegen die eigene Regierung, nicht gegen die Deutschen. Das im wahrsten Sinne des Wortes fruchtbarste Feld der „Zusammenarbeitspolitik“ lag in der Wirtschaft, vor allem der Landwirtschaft. Hier hatten die Dänen Freiräume, von denen andere nur träumen konnten. Nach dem Motto „Man schlachtet nicht die Kuh, die man melken will“ wurden die Agrarexporte in Deutschland zu sehr guten Konditionen abgenommen und im Gegenzug wurde Kohle geliefert. Dänemark erzielte während der Besatzungszeit einen Exportüberschuss und konnte die Kaufkraft enorm ankurbeln. Drei Viertel aller Ausfuhren gingen schließlich nach Deutschland. Butter, Milch, Käse und Fisch wurden profitabel ins Reich geliefert, das kleine Land 16 So Cécil von Renthe-Fink in einer Stellungnahme vom 10. Mai 1940, zit. nach Bath, Danebrog gegen Hakenkreuz, a. a. O., S. 34; vgl. Thomas Steensen (Hg.), Dänemark und die Niederlande unter deutscher Besatzung, Nordfriesisches Institut, Bredstedt 1991. 17 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 16; Fritz Petrick, Dänemark, das „Musterprotektorat“?, in: Robert Bohn (Hg.), Die deutsche Herrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940–1945, Stuttgart 1997, S. 121–134; auch: Jan Hecker-Stampehl, Vereinigte Staaten des Nordens. Vereine in Dänemark, Schweden und Finnland über ein geeintes Nordeuropa im Zweiten Weltkrieg, München 2011.
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deckte ein Fünftel des deutschen Fleischbedarfs. Dem Lebensstandard der eigenen Bevölkerung schadete dies nicht, man lebte in Kopenhagen, Odense und Arhus besser als in Köln, Kassel oder Königsberg. Irgendeine Versorgungskrise hat es in Dänemark im Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Die Arbeitslosigkeit, die 1940 im zweistelligen Bereich gelegen hatte, sank bis 1943 praktisch auf null Prozent. Jeder zehnte dänische Arbeiter, insgesamt 100.000, ging als „Deutschlandarbeiter“ über die Grenze, keineswegs aus Zwang, sondern weil er dort besser verdiente. Zwar mussten insgesamt 1,5 Milliarden Reichsmark an „Besatzungskosten“ entrichtet werden, prozentual zur Einwohnerschaft war das aber die Hälfte der Frankreich und ein Viertel der Holland widerrechtlich abgepressten Gelder. Dänische Firmen bauten, produzierten und lieferten in bzw. für Deutschland, auch militärisches Gerät für die Wehrmacht, so wie der Kopenhagener Konzern A. P. Möller-Maersk, einer der großen Kriegsgewinnler, der sich nach dem Krieg merklich bei der Finanzierung dänischer Schulen in Südschleswig hervortat. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion nahmen hochrangige Vertreter der dänischen Wirtschaft gern das Angebot an, sich an der „Aufbauarbeit im Osten“ zu beteiligen, die nichts anderes als brutale Ausbeutung bedeutete. Zur Realisierung ist es aus Kriegsgründen allerdings nicht gekommen. Ansonsten aber lief die ökonomische Kollaboration praktisch bis 1945 wie geschmiert. Und noch ein Projekt wird angepackt, dessen Planungen bis 1863 zurückreichen: die gemäß dem Flug der Vögel über den Fehmarnsund kürzestmögliche Verbindung zwischen Hamburg und Kopenhagen. Am 8. April 1941 treffen sich der deutsche und der dänische Verkehrsminister zum ersten Spatenstich, doch, symbolisch genug, der Spaten bricht. Die Arbeiten beginnen zwar, müssen aber bald eingestellt werden. Erst 1963 wird die Vogelfluglinie vollendet. Unmittelbar nach dem Einmarsch war damit begonnen worden, unter den „Blutsverwandten“ Freiwillige für die SS-Standarte „Nordland“ zu werben. Das Ergebnis war mehr als dürftig. Ein Jahr später betrug das Kontingent ganze 216 Mann. Nach dem 22. Juni 1941 lehnte die dänische Regierung es ab, ein Regiment des dänischen Heeres für die Ostfront zur Verfügung zu stellen, stimmte der Aufstellung eines „Freikorps Danmark“ als geschlossener dänischer Formation im Rahmen der Waffen-SS aber widerwillig zu. Im Juli hatten sich 600 Freiwillige hierfür gemeldet, die im Namen des Königs eine Fahne verliehen und damit einen quasi offiziellen Status bekamen. „Nach Kriegsende wollte von staatlicher Seite natürlich niemand diesen Akt so verstanden wissen.“18 Im Mai 1942 zogen schließlich 1000 Soldaten als verstärktes Infanteriebataillon der SS-Division „Totenkopf “ in den Kampf vor Leningrad, geführt von Christian Frederik von Schalburg, der als ehemaliger Kapitän der königlichen Garde und Teilnehmer des finnischen Winterkrieges den Offizier par excellence darstellte. Schalburg, 1906 in der Ukraine geboren und mit elf Jahren ins zaristische Kadettenchor eingetreten, war während der Oktoberrevolution hasserfüllt geflohen. In der DNSAP wächst er 18 Müller, An der Seite der Wehrmacht, a. a. O., S. 145; Dennis Larsen, Fortrængt Grusomhed. Danske SS-Vagter 1941–45, Kopenhagen 2010.
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zum Konkurrenten von Frits Clausen heran, weil er die Rückendeckung Himmlers besitzt. Im März 1942 übernimmt er das Kommando des „Freikorps“ und fällt am 2. Juni 1942 im Kessel von Demjansk. In Kopenhagen wird „zu Ehren der Heimat für den gefallenen Kämpfer Germaniens“ ein Staatsakt zelebriert, unter Ernennung Schalburgs zum SS-Obersturmführer; Himmler nennt ihn den „dänischen Heydrich“. Der Mythos um ihn erfasst in der Hauptstadt auch nicht nationalsozialistische Kreise. Ausgerechnet dort, wo man die propagierte „Blutsbrüderschaft“ ernst nahm und nur darauf wartete, sie umsetzen zu können, wurde sie von übergeordneter Stelle faktisch verhindert. Die Deutschen in Nordschleswig hatten die einmarschierende Wehrmacht offen begrüßt, ihr den Weg gewiesen, sie beköstigt und umarmt, denn sie wollten „heim ins Reich“. Doch die Hoffnungen trogen. Hitler hatte 1938 die „Volksdeutsche Mittelstelle“, eine von der SS durchsetzte Einrichtung, mit der gesamten grenz- und volkstumspolitischen Arbeit in alle vier Himmelsrichtungen betraut. Diese Stelle verbot der Volksgruppe nunmehr kategorisch alle Annexionsforderungen, die im Programm der NSDAP-N bis dahin eine zentrale Rolle gespielt hatten. Deren Vorsitzendem Jens Möller wurde signalisiert, entweder den Berliner Weisungen zu folgen oder zurückzutreten, ja, er wurde sogar vor einer zu engen Zusammenarbeit mit den DNSAP-Mitgliedern in der Region gewarnt. Trotzdem verlangte man ihm größtmögliche Freiwilligenkontingente für das „Muttervolk“ ab, sodass Ende 1944 über 6000 Nordschleswiger in deutschen Diensten standen, die nach dem Krieg in Dänemark als „Landesverräter“ galten. Dass der „Kollaborationsdruck“ unter ihnen weit größer war als bei Clausens Nationalsozialisten, spielte da keine Rolle mehr.19 Allerdings hatten es die ca. 2000 nordschleswigschen Freiwilligen in der Wehrmacht und der Waffen-SS schon 1942 abgelehnt, sich in das „Freikorps Danmark“ eingliedern zu lassen, sondern waren in „rein deutsche“ Verbände gegangen. Am 3. Mai 1942 stirbt Thorvald Stauning. Nach einem kurzen Intermezzo seines Parteifreundes Vilhelm Buhl übernimmt Scavenius im November auf Drängen Ribbentrops in Personalunion die Ämter des Außenministers, des Ministerpräsidenten und des Staatsministers. Er ist von nun an der mächtigste Däne in Dänemark, aber sein Verbindungsmann zur Besatzungsmacht ist nicht mehr der als zu weich empfundene von Renthe-Fink. Auslöser dieses Revirements ist ein grundsätzlicher Stimmungsumschwung in Berlin, insbesondere bei Hitler, der schon seit Längerem wegen der „anmaßenden“ Haltung des Inselreichs verärgert war. Als er Christian X. am 26. September 1942 zum Geburtstag gratuliert hatte, war aus Kopenhagen nur ein kurzes, knappes Dankeschön gekommen. Aus dieser „Telegrammkrise“ erwuchsen ungeahnte Folgen. Neuer Befehlshaber der deutschen Truppen in Dänemark wurde der Scharfmacher 19 Vgl. Hans Schultz Hansen und Henrik Skov Kristensen (Hg.), Sønderjylland under krig og besættelse 1940–1945, Apenrade 2003; Steffen Werther, SS-Vision und Grenzland-Realität. Vom Umgang dänischer und „volksdeutscher“ Nationalsozialisten in Sønderjylland mit der „großgermanischen“ Ideologie der SS, Stockholm 2012.
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Hermann von Hanneken, der sich mit der „Führerinstruktion“ auf den Weg machte, dass „ein Staatsgebilde mit demokratischer Regierung (…) in einem unter deutscher Führung neu geordneten Europa“ unmöglich sei. Das Königshaus und die Demokratie müssten beseitigt werden, Dänemark sei ab sofort als „Feindesland“ zu behandeln, und das vorrangige Ziel müsse eine „Marionetten-Regierung“ unter Führung der DNSAP sein, deren Chef jederzeit zu gewärtigen habe, „bei einem etwaigen Abmarsch der deutschen Truppen am nächsten Laternenpfahl aufgehängt“ zu werden.20 Frits Clausen klingelten die Ohren. Bei der deutschen Gesandtschaft in Kopenhagen forderte er die sofortige Machtübernahme seiner Partei, doch Scavenius flog nach Berlin und konnte dort sogar eine Regierung aus DNSAP, Gewerkschaftern und neutralen Fachministern abwehren. In dieser Situation trat der neue „Reichsbevollmächtigte“ am 5. November 1942 sein Amt an. Hitler hatte sich für Dr. Werner Best entschieden. Dessen sehnlichster Wunsch, aus der zweiten Reihe zu treten und „als selbständiger Chef über irgendein Gebiet des Reiches oder seiner Nebenländer zu walten“21, ging damit in Erfüllung. Der Hamburger Historiker Erich Thomsen beschließt 1971 seine Untersuchung über die deutsche Besatzungspolitik in Dänemark mit der rundum zufriedenen Feststellung, Best sei für Deutsche und Dänen „ein Glücksfall“ gewesen, weil er „seine Mission ohne ideologische Bedenken auf einer sachlichen und vernünftigen Basis durchgeführt (habe).“22 Die Wirklichkeit indes sah anders aus. 20 Zit. nach Herbert, Best, a. a. O., S. 331. 21 Ebd., S. 323; John T. Lauridsen (Hg.), Die Korrespondenz von Werner Best mit dem Auswärtigen Amt und andere Akten zur Besetzung von Dänemark 1942–1945, 10 Bde., Kopenhagen 2012; Niels-Birger Danielsen, Werner Best. Tysk Rigsbefuldmaegtiget i Danmark 1942–45, Kopenhagen 2013; Robert Bohn, Werner Best und die deutsche Besatzungsherrschaft in Dänemark 1940– 1945 im Spiegel einer dänischen Aktenedition, in: „Historische Zeitschrift“, Nr. 2/2015, S. 416– 427 (zum Editionsprojekt von Lauridsen). Aus dem gigantischen Quellenfundus wird ersichtlich, dass Best in dem umstrittenen, von Siegfried Matlok herausgegebenen Band „Dänemark in Hitlers Hand“ ein falsches Bild von sich gegeben hat. Best hat der legalen dänischen Regierung sehr wohl damit gedroht, Frits Clausen als Ministerpräsidenten einzusetzen, nämlich immer dann, wenn diese sich seinen Forderungen widersetzte. Andererseits hielt er auch Hitler hin, der die DNSAP in der höchsten Verantwortung sehen wollte, indem er dem „Führer“ am 9. November 1942 mitteilte: „Clausen wünscht vorläufig keine Beteiligung an der Regierung“ (Lauridsen (Hg.), Die Korrespondenz von Werner Best mit dem Auswärtigen Amt, Bd. 1, a. a. O., S. 584). Solange er es konnte, spielte er im deutsch-dänischen Mächteparallelogramm alle gegeneinander aus. Clausen hatte er zuvor abgewimmelt, indem er ihm eröffnet hatte, nun keine Verantwortung dafür zu tragen, was die Regierung künftig „an unangenehmen Dingen schlucken muss“ (ebd.). Vgl. auch: Jacob Halvas Bjerre, Udsigt til forfølgelse. Det danske udenrightsministerium og de europæiske joedeforfølgelser 1938–1945, Odense 2015. 22 Erich Thomsen, Deutsche Besatzungspolitik in Dänemark 1940–1945, Düsseldorf 1971, S. 222 und 225; vgl. Karl Christian Lammers, Die deutsche Besatzungspolitik und ihre dänischen Partner. Eine Forschungsbilanz, in: Bohn (Hg.), Die deutsche Herrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940–1945, a. a. O., S. 135–144.
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Best, der ewig Zurückgesetzte, sah seine Sendung darin, aus Dänemark das Musterbeispiel für die Okkupation in einem „germanischen Land“ zu machen. Schon wenige Stunden nach seiner Ankunft stand er vor der Alternative einer demokratischen oder einer DNSAP-Regierung und entschied sich für die erstere, weil er in der ClausenPartei „nichts typisch Dänisches“ entdeckte. Damit war der Boden für eine fruchtbare „Zusammenarbeitspolitik“ mit Scavenius bereitet, in die über kurz oder lang auch der König eingebunden werden sollte. Aus der Vernunfts- sollte eine Neigungsehe werden. Die größte Trumpfkarte in diesem Spiel war das Zugeständnis freier, demokratischer Wahlen. So etwas hatte es nirgendwo im besetzten Europa gegeben. Best, mit seinen gerade einmal 215 deutschen Angestellten und Beamten, war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Gerade weil der am 23. März 1943 durchgeführte Urnengang zum rauschenden Erfolg der Sozialdemokratie wurde, die bei einer Wahlbeteiligung von über 90 Prozent 66 der 149 Mandate erreichte, war er eine Bestätigung für Bests Kurs, denn die DNSAP brachte es nur auf 43.000 Stimmen, was ganzen drei Sitzen entsprach. Jetzt entzogen die deutschen Stellen Clausen ihre Protektion. Im November trat er als Sturmbannführer und Oberstabsarzt in die Waffen-SS ein und ging an die Ostfront, am 5. Mai 1944 erklärte er als Parteiführer der DNSAP seinen Rücktritt. Von einem Widerstand in engerem Sinne und flächendeckendem Ausmaß kann erst vom Frühjahr 1943 an die Rede sein. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen spielte natürlich die Niederlage in Stalingrad eine Rolle, zum andern die Tatsache, dass man gegenüber den Alliierten nicht als Partner Deutschlands angesehen werden wollte. Die Royal Air Force hatte nämlich begonnen, Fabriken zu bombardieren, in denen von Dänen für Deutsche produziert wurde. Der konservative Handelsminister Christmas Møller hatte sich schon im Mai 1942 nach London abgesetzt und leistete dort prodänische Überzeugungsarbeit. Im März 1943 landen Fallschirmagenten der britischen Sabotagetruppe „Special Executive Organisation“ (SOE) in Jütland und rüsten die ersten Widerstandsgruppen mit Waffen und Sprengstoff aus. Bis dahin war es im Land praktisch drei Jahre ruhig geblieben. Noch am 2. September 1942 hatte der sozialdemokratische Ministerpräsident Buhl in einer berühmten Rede zur Denunziation aller „fanatischen Provokateure“ der deutschen Besatzungsherrschaft aufgerufen und die dänische Polizei gegen Widerständler eingesetzt. Nun aber stieg die Zahl der Sabotageaktionen von 24 im Januar auf 80 im April 1943. Dass sich aus diesen Nadelstichen ein umfassender Widerstand entwickelte und die Idee des „Musterprotektorats“ zerstört wurde, daran waren die Deutschen schuld, konkret die Machtrivalität zwischen Best und von Hanneken, also zwischen ziviler und militärischer Autorität. Während der Reichsbevollmächtigte, und zwar mit Erfolg, Scavenius und den König bat, Aufrufe gegen die Sabotage an die Bevölkerung zu erlassen, sah der militärische Befehlshaber in der „Zusammenarbeitspolitik“ eine Schwäche und verlangte die Auflösung des 6000-köpfigen dänischen Heeres. Als die Widerstandsaktionen bis zum Sommer auf über zwanzig pro Woche anstiegen, wollte er die Todesstrafe für Saboteure einführen. Im August 1943 befanden sich bereits weite Teile des
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Landes in heller Aufruhr, Scavenius bot seinen Rücktritt an, in Odense wurde ein deutscher Offizier von Demonstrierenden schwer misshandelt und anschließend der Generalstreik ausgerufen, der aber nur in der Region Anhänger fand. Presse, Regierung und Gewerkschaften hielten sich merklich zurück, weil ihnen Best lieber war als von Hanneken. Dieser kündigte in einem Bericht an das OKW die Einführung des Ausnahmezustandes an. Aber nicht er, sondern Best wurde am Abend des 24. August von einem tobenden Hitler in der Wolfsschanze gezwungen, diesen durch ein an die dänische Regierung gerichtetes unannehmbares Ultimatum herbeizuführen. „Damit war das Ende des ‚dänischen Modells‘ besiegelt und Bests Rolle in Dänemark ausgespielt.“23 Als „politisch toter Mann“, wie er selbst es formulierte, flog er nach Kopenhagen zurück. Die Regierung Scavenius, die dem Ultimatum zufolge sogar mit Waffengewalt gegen die Streikenden vorgehen sollte, lehnte ab, und am 29. August wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Die Maßnahmen dieser „Zweiten Okkupation“ waren tief- und durchgreifend. Von Hanneken entwaffnete und internierte die dänische Wehrmacht (die dänische Flotte versenkte sich weitestgehend selbst), Streiks wurden verboten, wichtige Gebäude besetzt, Telefone abgehört, die königlichen Schlösser bewacht und Standgerichte gebildet. Andererseits wirkten sie auf die Bevölkerung aber auch wie eine Selbstbefreiung von der Kollaboration. Best schrieb an Himmler: „Das politische Paradepferd Dänemark ist tot“.24 Er blieb (nach nur einwöchiger Unterbrechung) auf ausdrückliche „Führerweisung“ die höchste Autorität im Land und wurde mit der Errichtung einer neuen „Zentralinstanz“ betraut. Die Regierung Scavenius hatte die durch von Hanneken vorgenommene Demission als „nicht rechtsgültig“ bezeichnet und sah sich weiter im Amt, aber „außer Funktion“. Best, politisch keineswegs tot, arrangierte aus ihr die „Regierung der Staatsekretäre“, die keinerlei Legitimation durch König oder Reichstag besaß, sondern einzig und allein dem „Bevollmächtigten“ unterstand. Sie setzte die Staatskollaboration auf niedrigerer Ebene fort. Schon nach einem Monat wurde der Ausnahmezustand wieder aufgehoben, aber von Kontinuität konnte keine Rede sein. Der noch im September 1943 gegründete „Dänische Freiheitsrat“ vereinigte alle Widerstandsgruppierungen von den Kommunisten bis hin zu den Nationalkonservativen. Auch ad hoc gebildete Organisationen wie Frit Danmark und Ringen, aber auch das Dansk Samling gehörten ihm an. Er entwickelte sich schnell zu einer Art Untergrundregierung, die den Kontakt sowohl zu den „Staatssekretären“ wie auch nach England suchte. Durch eine Ausweitung der Sabotageaktionen strebte sie danach, von den Westmächten als faktischer Alliierter anerkannt zu werden. Ihre eigentliche Feindfigur aber fand sie mehr denn je in Best, der nunmehr ohne „legale“ Regierung, aber mit deutschen Polizeikräften und Sondergerichtsbarkeit gegen Widerständler wie ein Gouverneur amtierte und dabei so tat, als ob die „Aufsichtsverwaltung“ weiterging. Im 23 Herbert, Best, a. a. O., S. 352. 24 Zit. nach Herbert, Best, a. a. O., S. 357.
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Oktober und November wurde die Zahl der Sprengstoffanschläge, insbesondere auf strategisch wichtige Eisenbahnlinien, auf ein bisher unbekanntes Maß ausgeweitet, und der „Freiheitsrat“ begann damit, für die Deutschen arbeitende dänische Spitzel (Stikker) liquidieren zu lassen. Hitler befahl daraufhin die Durchführung von „Clearing-Morden“, in denen geheime, in Zivil gekleidete Kommandos für jede Widerstandsaktion Vergeltung üben sollen. Dieses Prinzip wurde am 30. Juni 1944 in Form des „Terror- und Sabotage-Erlasses“, auf das gesamte in Europa besetzte Gebiet ausgedehnt. Best untersagt den „Gegenterror“, er verbietet angesichts der in Frankreich gemachten Erfahrungen auch Geiselerschießungen und Sühnemaßnahmen, lässt Ende 1943 durch „sein“ Kriegsgericht aber sechs Dänen hinrichten. Das ist Hitler zu wenig. Am 30. Dezember 1943, erneut in der Wolfsschanze, wird Best zum „Gegenterror“ gezwungen. Der deutsche „Kleinkriegsexperte“ Otto Schwerdt (Deckname: Peter Schäfer) ist bereits in Kopenhagen, wo er zusammen mit dem SS-Mann Naujocks die „Peter-Gruppe“ aufbaut. Ein erbarmungsloser, grausamer und schmutziger Untergrundkrieg beginnt, der noch dadurch eine Steigerung erfährt, dass auch Dänen in die Gruppe eintreten. Ihren Sitz hatte sie in der nach dem gefallenen Christian Frederik von Schalburg benannten SS-Schule, in der dänische Freiwillige für das „SchalburgKorps“ angeworben wurden. „Im Bemühen, eine unangenehme Debatte über das Zusammenwirken von Besetzten und Besatzern gar nicht erst aufkommen zu lassen, zeigten dänische Behörden nie wirkliches Interesse an der Erforschung der Todesschwadronen oder gar der Aufklärung ihrer Mordtaten.“25 Erst das 2004 erschienene Buch von Henrik Högh-Sörensen bringt hier Licht ins Dunkel. Er hat 160 dieser Morde untersucht und nachgewiesen, dass mindestens ein Dutzend der an den Taten beteiligten Dänen, in der Regel Offiziere der Waffen-SS, nach dem Krieg völlig unbehelligt weiterleben konnten, und spricht in diesem Zusammenhang von einer „Politik des Vertuschens und Verschweigens in einer staatsgesteuerten dänischen Geschichtsschreibung“26. Kurt Heel und Walter-Carl Rasmussen, zwei (unbehelligte) Mitglieder der „Peter-Gruppe“, waren allein an 44 Ermordungen beteiligt. Am 3. September 1943, zehn Tage nach dem Ausrufen des Ausnahmezustandes, sendet Best ein Telegramm an das Auswärtige Amt in Berlin, seine vorgesetzte Dienststelle: „Bei folgerichtiger Durchführung des neuen Kurses in Dänemark muss nach meiner Auffassung nunmehr auch eine Lösung der Judenfrage (…) ins Auge gefasst werden.“ Er betont die Dringlichkeit, weil nach dem absehbaren Ende des Ausnahmezustandes König, Reichstag und Regierung wieder neu und keineswegs ohnmächtig positioniert seien (was zutraf.) Jetzt aber könne „die Rechtssetzung von mir im Verord-
25 Manfred Ertel, Allianz des Schweigens, in: „Der Spiegel“, Nr. 24/2004, S. 120. 26 Erik Högh-Sörensen, Forbrydere uden Straf (Verbrecher ohne Strafe), Hellerup 2004, zit. nach Ertel, Allianz des Schweigens, a. a. O., S. 120 f.; vgl. auch Jorgen Kieler, Dänischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Hannover 2011.
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nungswege ausgeübt werden. (…) Ich bitte um Entscheidung“.27 Diese kommt zwanzig Tage später, die „Judenaktion“ läuft an – und wird ein Fehlschlag. Die Tatsache, dass 98 Prozent der in Dänemark lebenden Jüdinnen und Juden gerettet worden sind, gilt als eines der größten, wenn nicht als das größte Verdienst in der an Toleranz und Liberalität reichen dänischen Geschichte. Auf der Eingangstafel an der zentralen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, auf der alle mit der Täternation Deutschland kollaborierenden Staaten verzeichnet sind, fehlt der Name Dänemarks, zum Ruhm und Stolz des Landes. Dieses makellose Bild hat in jüngster Zeit aber gerade durch dänische Forschungen einige Flecken bekommen. Juden erreichten in Dänemark relativ früh die rechtliche (1814) und die politische Gleichstellung (1849). Dennoch hat sich hier eine spezifische Form des Antisemitismus entwickelt, die eng mit Grundtvigs Volks- und Nationsverständnis verknüpft ist, nach dem jeder Fremde willkommen war, sofern er die Bereitschaft zeigte, sich über kurz oder lang vollständig zu assimilieren und zu integrieren, mithin sein Judentum abzulegen. Als sich der Dichter Meir Goldschmidt 1848 zu Fragen des Gesamtstaates äußert, wird er von Grundtvig scharf zurechtgewiesen, weil es einem Juden nicht zukomme, sich zu Fragen von nationaler Bedeutung zu Wort zu melden. Dass dies im Europa des 19. Jahrhunderts keine dänische Eigenart war, beweisen die fast zeitgleich publizierten Schriften Friedrich Paulsens, des „Pädagogikpapstes“ im deutschen Kaiserreich.28 Von einem derartigen Gedankengut ist die am Beginn des 21. Jahrhunderts überaus erfolgreiche Dänische Volkspartei zudem bis heute beherrscht. „Der Topos, dass Judenfeindschaft vom Grad der Identifizierbarkeit der Betroffenen als Juden abhänge und dieser daher durch Anpassung vorgebeugt werden könne, besaß im öffentlichen Diskurs in Dänemark (…) selbst noch nach dem Holocaust eine gewisse Verbreitung.“29 Sofie Lene Bak hat in ihren Arbeiten den Mythos der angeblichen Unvereinbarkeit von Dänentum und Antisemitismus erheblich angekratzt, indem sie am Beispiel der Lutherischen Kirche, der Inneren Mission, der antijüdischen Liga Aage Andersons, der Bewegung Landbrugernes Sammenslutning mit 100.000 organisierten Bauern und der deutschen Minderheit in Nordschleswig judenfeindliche Strömungen und Artikulationen in den 1930er Jahren verfolgt.30 Georg Brandes, einer der bedeutendsten dänischen Philosophen des 19. Jahrhunderts (und Freund Paulsens), wurde in den Kopenhagener Salons lächerlich gemacht, weil er Jude war. Zwar fand all dies in der Gesellschaft „keine signifikante Verbreitung“ – Andersons Liga zählte gerade einmal 500 Mitglieder –, aber einflusslos war es nicht. Eine nicht unwichtige und nicht unproblematische Rolle in dieser Hinsicht spielte die deutsche Minderheit, und hier insbesondere das NSDAP27 28 29 30
Zit. nach Herbert, Best, a. a. O., S. 359. Vgl. Kellmann, Friedrich Paulsen und das Kaiserreich, a. a. O., S. 92. Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 47. Sofie Lene Bak, Dansk antisemitisme 1930–1945, Kopenhagen 2004.
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N-Mitglied Lorenz Christensen, dessen auf Dänisch geschriebene, an ein dänisches Publikum gerichtete Bücher Bak als „Hauptwerke des dänischen Antisemitismus“ bezeichnet. Dazu mag man urteilen, wie man will, was aber bis zum Tag der berühmt gewordenen Rettungsaktion stehen blieb, war der Grundsatz, dass dänische Juden keine Fremden, sondern „unsere“ Juden und deshalb vor der Besatzungsmacht zu schützen waren, während es das erklärte Ziel staatlicher Flüchtlingspolitik war, den dauerhaften Aufenthalt ausländischer Juden in Dänemark zu verhindern, und deutsche Juden vielfach an der Grenze abgewiesen wurden. „Eine solche Position ist nicht besonders sympathisch.“31 Auch mit dem Selbstbild der letzten Bastion von Gastfreundlichkeit und Mitmenschlichkeit verträgt sie sich nicht. Ende September 1943 lebten 6000 Juden in Dänemark, was nicht einmal 0,2 Prozent der Bevölkerung entsprach. Hinzu kamen 4500 jüdische Flüchtlinge, von denen 3000 das Land aber wieder hatten verlassen müssen. Die „Judenaktion“ kam, auch für die Betroffenen, nicht überraschend. Spätestens nachdem Best am 17. September die Akten der Jüdischen Gemeinde in Kopenhagen hatte beschlagnahmen lassen, wusste jeder, dass etwas bevorstand. An eine einheimische Beteiligung, beispielsweise der Polizei, die in Frankreich das organisatorische Rückgrat aller Abtransporte gebildet hatte, dachten nicht mal die Scharfmacher im Apparat des Bevollmächtigten, aber Hitler drängte. Logistisch war wenig vorbereitet, im Gegenteil, der deutsche Hafenkommandant von Kopenhagen hatte seine Schiffe zur Reparatur aufdocken lassen, sodass die Küstenüberwachung den Öresund hinüber nach Schweden nun allein in dänischen Händen lag. Auch in Bests engster Umgebung wurden Bedenken gegen die „Aktion“ geäußert, insbesondere vonseiten des ihm direkt unterstellten „Schifffahrtssachverständigen“ Georg Ferdinand Duckwitz, der am 28. September in Kenntnis gesetzt worden war und die dänischen Politiker sofort informierte. Best hingegen wollte die andere Seite „offenbar im Dunkeln tappen lassen“32, musste aber gewärtigen, dass man im Land inzwischen von den geplanten „Maßnahmen“ wusste, und berichtete dem Auswärtigen Amt von einer sich überall verbreitenden „Panikstimmung“. Duckwitz, der innerlich mit dem Nationalsozialismus gebrochen hatte, suchte am Abend des 28. September den Kopenhagener Hafenkommandanten, die schwedische Botschaft, das dänische Außenministerium und, ganz zuerst, den Sozialdemokraten und späteren Ministerpräsidenten Hans Hedtoft auf, der sofort zu Carl Bertel Henriques, dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Dänemark, hinüberrannte. Am nächsten Tag, dem jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana, wurde das Bevorstehen der Razzia im Gottesdienst bekanntgegeben. Eine fieberhafte Rettungsaktion begann. Die schwedische Regierung bot in Berlin an, alle dänischen Juden aufzunehmen. Nachdem dieses Angebot abgelehnt worden war, ließ sie es im Radio verlesen, sodass man im gesamten Inselreich 31 René Rasmussen, Rezension zu Sophie Lene Bak, Dansk antisemitisme 1930–1945, a. a. O., in: „Grenzfriedenshefte“, Nr. 2/2006, S. 76–79, hier: S. 79. 32 Herbert, Best, a. a. O., S. 369.
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informiert war. Fischer standen mit ihren Booten bereit und brachten 7900 Menschen über den Sund, die deutsche Marine und die dänische Küstenwache verhielten sich passiv, die schwedische Marine hielt sich für Hilfestellungen bereit. Nur 481 Juden wurden Anfang Oktober von den deutschen Polizeieinheiten ergriffen und verhaftet.33 Best hatte ihnen verboten, gewaltsam in die Wohnungen und Häuser einzudringen. 454 Deportierte kamen nach Theresienstadt, wo „sie größere Privilegien als irgendeine andere Gruppe genossen“ (Hannah Arendt)34; Eichmann sagte sogar zu, dass sie von dort nicht weiter „in den Osten“, sprich: nach Auschwitz verschleppt würden. Ausschlaggebend für diese „ganz ungewöhnlichen Zugeständnisse“ (Ulrich Herbert) des Reichssicherheitshauptamtes war die Tatsache, dass die „Judenaktion“ in Dänemark „unter den Augen der internationalen Öffentlichkeit in einem de jure autonomen Land stattgefunden hatte.“35 Nur 48 der in Dänemark lebenden Jüdinnen und Juden sind eines gewaltsamen Todes gestorben, es ist der – mit Abstand – größte Fehlschlag des antisemitischen NS-Terrors in Europa. Dennoch spricht Best in seinem Bericht an das Auswärtige Amt von der „erfolgreichen Entjudung“ Dänemarks, so wie er sie in dem Telegramm vom 8. September gefordert hatte. Er hat keinen einzigen Juden retten wollen, wie er es später behauptet hat. Er hat das Land vielmehr, indem er den Zeitpunkt der Razzia durchsickern ließ, auf seine Art und Weise schnell und unblutig „judenrein“ gemacht. Die Rettungsaktion vom Herbst 1943 ist verblüffenderweise bis in die 1980er Jahre hinein kein zentraler Bestandteil des nationalen Geschichtskanons gewesen. Nur vereinzelt und hymnisch heißt es vor allem in Selbstdarstellungen des Widerstands, dass die „Brücke über den Öresund“, wäre „die Redaktion der Bibel nicht schon seit langer Zeit abgeschlossen“, dieser Schrift unbedingt „einverleibt“36 werden müsse. Als „größte Stunde der dänischen Geschichte“ gilt sie aber erst, seitdem „der Holocaust in den Mittelpunkt einer transnationalen Suche nach ethischem Allgemeingut“37 gerückt ist, wie Therkel Stræde zutreffend bemerkt. Und auch da noch zeigten sich auf der hell leuchtenden dänischen Sonne einige Flecken, so insbesondere der „erschreckend hohe Profit, mit dem dänische Fischer es sich versüßen ließen, dass sie ihre Boote für die Flucht über den Öresund zur Verfügung gestellt hatten (…).“38 Nicht wenige Flüchtlin33 Therkel Stræde, Die Menschenmauer. Dänemark im Oktober 1943: Die Rettung der Juden vor der Vernichtung, Kopenhagen 1997; Herbert Pundik, Die Flucht der dänischen Juden 1943 nach Schweden, Husum 2009 (auch: Aarhus 2013). 34 Arendt, Eichmann in Jerusalem, a. a. O., S. 278. 35 Herbert, Best, a. a. O., S. 373. 36 So Julius Margolinsky von der Jüdischen Gemeinde Kopenhagen im Nachwort zu: Aage Bertelsen, Oktober 1943. Ereignisse und Erlebnisse während der Judenverfolgung in Dänemark, München 1960, S. 157. 37 Therkel Stræde, Die schwierige Erinnerung an Kollaboration und Widerstand, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 1, S. 123–150, hier: S. 140. 38 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 46; vgl. auch: Thorsten Wagner, Ein vergebliches Unterfangen? Der Antisemitismus und das Scheitern des dänischen Natio-
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ge mussten umgerechnet ein Jahresgehalt für ihre Rettung bezahlen. In der akutesten Not kostete eine Überfahrt (von insgesamt 700) rund 2000 Kronen. Ebenso ließen sich die Fahrer, die die Menschen an die Küste brachten, großzügig entlohnen, und an die dänischen Offiziere der Küstenwache floss Schutzgeld. Am 4. Januar 1944 wird der dänische Schriftsteller Kaj Munk durch deutsche SSLeute in Zivil umgebracht. Es ist ein „Vergeltungsmord“ für ein DNSAP-Mitglied, das als Stikker vom Widerstand liquidiert worden war. Von nun an beginnt ein schmutziger Untergrund- und Abnutzungskrieg, in dem nicht mehr die dänischen Politiker, sondern der „Freiheitsrat“ das Sagen hat. Der stark von Grundtvig geprägte, anfänglich vom Faschismus begeisterte Munk war einer der populärsten Schriftsteller des Landes, sein Tod bedeutete eine ungemeine Eskalation an der unsichtbaren Binnenfront. Anschlag folgte auf Anschlag. Die „Peter-Gruppe“ und das „Schalburg-Korps“ verbreiten Mord und Terror, aber die Antworten bleiben nicht aus. Am 19. April wird Bests Chauffeur erschossen. Für den „Bevollmächtigten“ hat sich „die bisherige Kulturhauptstadt Europas längst in ein europäisches Chicago“39 verwandelt. Am 5. Juli nimmt ihm ein tobender Hitler beim Treffen auf dem „Berghof “ jedweden politischen Spielraum. Großbritannien hatte Dänemark schon am 12. Januar zur „befreundeten Nation“ erklärt und damit inoffiziell in den Kreis der Alliierten aufgenommen, doch die Kollaboration war nicht tot. Im Gegenteil, in vielerlei Hinsicht florierte sie sogar wie eh und je. Best berichtet Ende Juli 1944 nach Berlin: Die Bevölkerung Dänemarks hält zwar den Sieg der Alliierten für sicher und erhofft von ihm die Befreiung von der deutschen Besetzung, aber sie verhält sich absolut ruhig und leistet keinerlei Widerstand (!). Sie arbeitet außer für die Versorgung ihrer 3,8 Millionen Menschen ausschließlich für deutsche Zwecke: bei den umfangreichen Wehrmachtsarbeiten, in der Landwirtschaft und in der mit deutschen Aufträgen versehenen gewerblichen Wirtschaft. Hervorzuheben ist, dass die Landwirtschaft (…) sich mit Erfolg bemüht, ihre dem Reich zugutekommende Erzeugung auf der bisherigen Höhe zu halten.40 nalsozialismus, in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 275–296, bes. S. 294 ff. Eine überaus unkritische, Dänemark und die Dänen wieder in hellstem Lichterglanz präsentierende Darstellung der Rettungsaktion wurde 2013 vorgelegt: Bo Lidegaard, Die Ausnahme. Oktober 1943: Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen, München 2013. Zwar verschweigt der Verfasser die Schattenseiten nicht („Manche Flüchtlinge mussten unerhört hohe Preise zahlen, aber es wurde niemand zurückgelassen, nur, weil er nicht zahlen konnte – oder wollte“, S. 516), aber sein abschließendes Urteil wird durch derartige Sachverhalte nicht getrübt: „Wie sich die Zivilbevölkerung Dänemarks im Oktober 1943 der dänischen und staatenlosen Juden angenommen hat, ist präzedenzlos“ (S. 560). Kritischer: Hans Kirchhoff, Holocaust i Danmark, Odense 2013 und Karl Christian Lammers, Der Holocaust im kollektiven Gedächtnis in Skandinavien. Dänemark und Schweden im Vergleich, in: Schmid (Hg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis, a. a. O., S. 181–198. 39 Zit. nach Herbert, Best, a. a. O., S. 383. 40 Ebd., S. 391.
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Das letzte große Kollaborationsreservoir öffnete sich durch die Aktion „Taifun“, die am 19. September 1944 schlagartig durchgeführte Entwaffnung der 10.000 dänischen Polizeibeamten und Grenzpolizisten. 2235 von ihnen wurden in das KZ Buchenwald deportiert. Best, bei dem ja „alles herauskommt“, wie Hitler in Anspielung auf die „Judenaktion“ sagte, war nicht eingeweiht, seine Dienststelle wurde abgesperrt und seine Telefonleitungen waren gekappt. In die gelichteten und aufgelösten Reihen rückten nicht nur Deutsche, sondern auch „zuverlässige“ Dänen ein, insbesondere in die „Hilfspolizei“ (Hipo), die in Kopenhagen von Erik Victor Petersen geleitet wurde. Seine ganz in schwarz gekleideten, in der Bevölkerung zutiefst verhassten Beamten bekämpften den Widerstand mit brutalen Razzien. Bis zum März 1945 wuchs seine Truppe auf 700 Mann, die meisten von ihnen waren Dänen. In der 100-köpfigen Kopenhagener Gestapozentrale, der Schaltzentrale der Sabotagebekämpfung, in der jeder Dritte dänischer Nationalität war, wütete mit Ib Birkedahl Hansen (1909–1950) einer der übelsten Kollaborateure. Er hat 72 Widerstandskämpfer mit dem Rohrstock und der Hundepeitsche misshandelt und 16 erschossen. Am 20. Juli 1950 wurde er als letzter Handlanger der Besatzungsmacht in Dänemark hingerichtet. Schließlich und letztlich taten dänische Soldaten an der Front nach wie vor ihren Dienst. Die aus dem SSPanzer-Regiment „Danmark“ gebildete Division „Nordland“ war seit dem Herbst 1943 bei der Partisanenbekämpfung in Kroatien eingesetzt. Dort beteiligten sich Dänen am Niederbrennen von Dörfern und an Geiselerschießungen. Das Regiment „Danmark“ wurde im April 1945 nach Berlin gesandt, um die Reichshauptstadt zu verteidigen und in fanatischem Kampf das Leben des „Führers“ zu retten. Insgesamt haben sich (mit Billigung der eigenen Regierung) 6500 junge Dänen freiwillig für den „Russlandfeldzug“ gemeldet, was „einen inzwischen als beschämend empfundenen Spitzenwert unter den nordischen Ländern darstellt.“41 Jeder Zweite ist gefallen, was bedeutet, dass an der Ostfront aufseiten der Deutschen mehr Dänen umgekommen sind als im deutschdänischen Krieg von 1864. Ihren umstrittensten und paradoxesten Ausdruck fand die „Zusammenarbeitspolitik“ im Lager Frøslev. Es wurde im August 1944 auf Betreiben der dänischen Behörden errichtet und finanziert. Mit ihm sollte gewährleistet werden, dass inhaftierte dänische Staatsbürger der Deportation in deutsche KZ entgehen – Souveränitätswahrung durch die Übernahme typischer Unterdrückungsmaßnahme des Besatzers. Bis zum August 1943 waren zehn Dänen in deutsche Gefängnisse und Zuchthäuser verschleppt worden. „Eine so niedrige Anzahl von Deportierten zu diesem relativ späten Zeitpunkt des Krieges war im europäischen Zusammenhang einzigartig“.42 Best hatte schon ein hal41 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 29. 42 Henrik Skov Kristensen, Eine Politik von großer Tragweite: Die dänische „Zusammenarbeitspolitik“ und die dänischen KZ-Häftlinge, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Hilfe oder Handel? Rettungsbemühungen für NS-Verfolgte, Bremen 2007, S. 81–94, hier: S. 82; Andreas C. Johannsen, Danske laeger under Nazismen, Kopenhagen 2016.
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bes Jahr vor Eröffnung des Lagers zugesagt, dass verhaftete Dänen in Dänemark bleiben durften – und sich nicht im Traum daran gehalten. Bereits einen Monat nach der Inbetriebnahme des Frøslev-Lagers sahen sich 200 von insgesamt 1600 Menschen von dort nach Deutschland deportiert. Die unweit der Grenze gelegene Zwangseinrichtung wurde dänisch verwaltet, ihre Hauptbastion war die Lagerküche mit kräftiger, nahrhafter und reichhaltiger Kost. Da in ihr Erniedrigungen, Gewalt, Brutalitäten und Tötungen praktisch nicht vorkamen, wurde sie auch von den eigenen Insassen „das merkwürdigste Konzentrationslager der Welt“43 genannt. Bis zum Kriegsende haben 12.000 Gefangene das Lager durchlaufen. Vom Sommer 1944 an, nach dem äußerst erfolgreich verlaufenen Kopenhagener Volksstreik, kippten die Machtverhältnisse. Der „Freiheitsrat“, der inzwischen direkt oder indirekt auf 50.000 Widerstandskämpfer im ganzen Land zurückgreifen konnte, kümmerte sich immer weniger um die „Regierung der Staatssekretäre“ und trat, wenn auch taktisch vorsichtig, als die eigentliche Macht auf. Am 19. September erging die ausdrückliche Warnung an die bewaffneten Untergrundkräfte, „dass die Zeit für den offenen Kampf noch nicht gekommen ist“, und dass die Deutschen noch präsent waren, zeigte sich am 14. Oktober, als der Gestapo mit der Festnahme von Mogens Fog ihr größter Schlag gegen den „Freiheitsrat“ gelang. Fog war die Zentralfigur und der inoffizielle Vorsitzende des Rates. Wenn er unter der Folter sein Wissen preisgeben würde, stand die gesamte Widerstandsarbeit auf dem Spiel. Doch er gab nichts preis, und am 21. März 1945 glückte ihm schließlich die Flucht. Im sichtbar geschwächten Rat wuchs de facto Frode Jakobsen in dessen Rolle hinein, der seinerseits den Kontakt zu Christmas Møller suchte, der inzwischen von Stockholm aus agierte. Jakobsen sah den Konservativen bereits als Staatsminister in der „Befreiungsregierung“, doch Møller wollte lieber die Rolle des „ehrlichen Maklers“ zwischen dem Rat und den klassischen Parteien spielen. So waren die Dinge völlig in der Schwebe, als in einer der größten Evakuierungsaktionen der Weltgeschichte „die zweite Besetzung Dänemarks“ begann. Hitler hatte am 4. Februar 1945 verfügt, dass die „aus dem Osten des Reiches vorübergehend rückgeführten Volksgenossen“ auch nach Dänemark gebracht werden sollten. Um die Dimensionen der Probleme verstehen zu können, die sich hieraus ergaben, muss man sich zunächst das nackte Zahlenmaterial vergegenwärtigen. Best hatte signa43 Kristensen, Eine Politik von großer Tragweite, a. a. O., S. 84; vgl. aber auch: ders., Eine Station auf dem Weg in die Hölle. Harrislee-Bahnhof und die Deportation dänischer Gefangener aus Frøslev in deutsche Konzentrationslager. Mit einem Beitrag von Anke Spoorendonk, Apenrade und Flensburg 2010. Jens-Christian Hansen, Dänische Häftlinge im KZ-Außenlager Husum-Schwesing, in: „Grenzfriedenshefte – Jahrbuch 2014“, S. 59–78, beschreibt das Schicksal der 79 dänischen Häftlinge, die am 15. September 1944 vom Polizeigefangenenlager Frøslev über das KZ Neuengamme nach Husum-Schwesing verschleppt worden sind. Zu den dortigen Bewachern gehörte auch der dänische SS-Mann Kurt Niels Mikkelsen, der nach dem Krieg wegen Häftlingsmisshandlung zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, von denen er nur dreieinhalb Jahre verbüßte.
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lisiert, dass höchstens 100.000 Flüchtlinge aufgenommen werden könnten, tatsächlich wurden es fast 250.000. Hinzuzurechnen sind über 40.000, die auf Schiffen lebten und nicht an Land gehen durften. Außerdem befanden sich 287.000 deutsche Soldaten in Dänemark, sodass Fachleute für das Frühjahr 1945 die exakte Zahl von 568.885 Deutschen auf dänischem Terrain errechnet haben44, die alle essen, trinken, lieben und schlafen wollten. Hatte man zunächst daran gedacht, die Entwurzelten bei Familien einzuquartieren, so führte um die Errichtung großer Lager schon bald kein Weg mehr vorbei. Zudem empfanden die Einheimischen die erneute Invasion von Deutschen als neuerliche nationale Entmündigung und Souveränitätsverletzung. Daran änderte sich auch nach Kriegsende nichts, als die Alliierten entschieden, dass die „ungebetenen Gäste“ bis auf Weiteres im Land bleiben sollten. Bei dem schnell wachsenden Aversions- und Aggressionspotential war es undenkbar, dass sich die Deutschen frei auf der Straße bewegten. Provokationen, Pöbeleien, Anspucken, Schlägereien und Schlimmeres wären die auf dem Hintergrund des seit dem 9. April 1940 Erlebten irgendwo auch verständliche Folge gewesen. So blieb nur die Internierung. Dass sie von bewaffneten Wachposten durchgeführt wurde, die von der Schusswaffe Gebrauch machten, verwandelte die Flüchtlinge in Gefangene. Im Lager selbst gab es eine leidlich kalorienhaltige und medizinische Versorgung, es gab Volks- und Oberschulen, Bibliotheken, Theater, Kinos, Bälle und Fußballplätze. Johannes Kjærbøl, „der starke Schmied“, der von offizieller Seite als Leiter der Flüchtlingsverwaltung eingesetzt war, tat, was er konnte, damit die „zweite Besetzung“ ähnlich glimpflich verlief wie die erste, und doch ist Dänemark aus dieser Zeit nicht ohne Makel hervorgegangen. Anfang der 1990er Jahre beginnt Kirsten Lylloff, Fachärztin für Immunologie in Kopenhagen, die Totenlisten aus den Flüchtlingslagern für ein Dissertationsvorhaben zu sichten und zu analysieren. Ihr Ergebnis und ihre Schlussfolgerungen sind gleichbedeutend mit der „größten humanitären Katastrophe der Neuzeit in Dänemark“45. Von den 10.000 in den letzten beiden Kriegsmonaten in die Lager gekommenen Kindern unter fünf Jahren sind nach der Befreiung noch im Jahr 1945 über 7000 gestorben, weil der dänische Ärzteverband, einer faktischen Anweisung des „Freiheitsrates“ folgend, schon im März des Jahres beschlossen hatte, deutschen Flüchtlingen keinerlei Hilfe zu leisten. Auch das dänische Rote Kreuz rührte keine Hand. Einheimische, die ein Stück Brot über den Stacheldrahtzaun warfen, wurden hart bestraft. So verhungerten die 44 Henrik Havrehed, Die deutschen Flüchtlinge in Dänemark 1945–1949, Heide 1989 (Odense 1987), S. 280 f. Leif Hansen Nielsen, Tyske Flygtninge i Nordslesvig 1945–1948, Apenrade 2013, S. 374, macht es sich erheblich zu einfach, wenn er behauptet, dass dieses Kapitel in Dänemark nie verdrängt worden sei und dass es an der Behandlung der Flüchtlinge nichts auszusetzen gebe. Ähnlich und mit scharfer Kritik an Kirsten Lylloff kommt Svend Bach, Om de tyske flygtninge i Danmark 1945–1949. Opgoer med en mythe, Varde 2015 daher. Es ist Gerret Liebing Schlaber („Grenzfriedenshefte“, Nr. 1/2016, S. 100) zu danken, dass er die Dinge wieder ins richtige Lot gerückt hat. 45 So Lylloff selbst in: „Der Spiegel“, Nr. 19/2005, S. 142.
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Kinder, von den Babys unter einem Jahr hat kein einziges überlebt. Sie waren die letzten „Opfer des Zweiten Weltkriegs“, wie es auf der Steinplatte vor ihren Gräbern in Kopenhagen heißt. Allein im Lager Oksbøl bei Billund, in dem 35.000 Flüchtlinge lebten, müssen sich unbeschreibliche Szenen abgespielt haben. Während die polnischen, lettischen und litauischen Kinder auffällig gut behandelt wurden, mussten die deutschen in feuchten, ungeheizten Baracken ohne Licht dahinvegetieren. Als sechzig dänische Pastoren gegen diese Bedingungen protestieren, wird gegen sie ermittelt. Insgesamt sind in den Lagern mehr deutsche Flüchtlinge umgekommen als Dänen während des Krieges. Die Namen der deutschen Väter wurden aus den Geburtsurkunden gestrichen und den Kindern alle Rechte abgesprochen. Lylloffs 2006 publizierte Forschungsergebnisse46 wühlten die dänische Öffentlichkeit ungemein auf. Jörgen Poulsen, der Vorsitzende des nationalen Roten Kreuzes, sagt: „Das ist ein ganz dunkles Kapitel in unserer Geschichte, für das wir uns schämen müssen.“47 Der Historiker Claus Bryld von der Universität Roskilde verlangt, „dass wir das Bild von unserem Verhalten im Zweiten Weltkrieg revidieren“48, und Lylloff selbst antwortet auf die Frage nach den Ursachen für eben dieses Verhalten: „Auf die Kinder prasselte der Hass nieder, der sich während der Besatzung aufgestaut hatte“, und – vor allem – ging es um „den Versuch, die eigene Kollaboration vergessen zu machen.“49 Im März und im April 1945 wurden durch die Erweiterung des „Freiheitsrates“ die entscheidenden Weichenstellungen für die Gestaltung der Nachkriegszeit in Dänemark vorgenommen. Am Freitag, dem 4. Mai, abends um 20.30 Uhr, gab der Sprecher des dänischen Programms von BBC die deutsche Kapitulation in Nordwestdeutschland, Holland und Dänemark bekannt. Sofort kam es überall im Inselreich zu Freudenkundgebungen. Am nächsten Tag wurde Frits Clausen von Widerstandskämpfern gefangen genommen, und Werner Best erbat den Schutz des dänischen Außenministeriums. Er wurde am 21. Mai verhaftet und in die Kopenhagener Festung gebracht. In den ersten neun Nachkriegstagen waren schon landesweit auf der Basis des Arrestationsausschusses des „Freiheitsrates“ 21.630 Personen inhaftiert worden. Hier handelte es sich um den harten Kern der Kollaborateure aus Mitgliedern der DNSAP, der NSDAP-N, der Wehrmacht, der SS, der Gestapo sowie um Stikker, Denunzianten und Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten. Man achtete darauf, dass die Prozedur demütigend und in der Öffentlichkeit ablief. Lynchstimmung und geradezu „orgiastische Raserei“ waren die Folge, „wobei sich vor allem Frauen hervortaten“, die ihren „während der Besatzungszeit nicht geleisteten Widerstand nunmehr risiko46 Kirsten Lylloff, Kinder oder Feinde? Unbegleitete deutsche Flüchtlingskinder in Dänemark 1945–1949, Kopenhagen 2006. 47 „Der Spiegel“, Nr. 19/2005, S. 142. 48 Zit. nach Heike Stüben, „Man sah die deutschen Kinder als Feinde“, in: „Kieler Nachrichten“ vom 22.4.2005, S. 3. 49 „Der Spiegel“, Nr. 19/2005, S. 142.
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frei, aber nicht minder gewaltsam kompensieren (konnten).“50 Es war nicht zuletzt auch der Hass von Frau auf Frau, der hier eine Rolle spielte. Die Fraternisierung zwischen Deutschen und Dänen hatte am 9. April 1940 begonnen, und sie sollte volle neun Jahre währen. Bis zum 5. Mai 1945 ging es hier um offiziell 5579 (real 12000) Kinder, die deutsche Väter hatten, und danach um die 600 Kinder, die dänische Väter hatten. Die „Deutschmädchen“, auch „Feldmatratzen“ genannt, sahen sich erst in den letzten beiden Kriegsjahren einer zunehmenden Verachtung und einem regelrechten Kesseltreiben ausgesetzt, weil ihr Tun und Treiben „unpatriotisch“ und „undänisch“ war. Ob bzw. dass sie die deutschen Soldaten auch tatsächlich geliebt hatten, danach fragte niemand. Vom 19. September 1944 an, dem Tag der Entwaffnung der dänischen Polizei, waren sie praktisch vogelfrei. Hier, und nicht erst nach dem Krieg, ist es zu den meisten Fällen gekommen, in denen die „Deutschmädchen“ kahlgeschoren, nackt und den Hintern mit Hakenkreuzen bemalt durch die Straße getrieben wurden. Am übelsten nahm man ihnen, dass sie einen Deutschen einem Dänen im Bett vorgezogen hatten. In später durchgeführten Befragungen bekannten 63,2 Prozent der betroffenen Dänen, keine Probleme damit zu haben, dass ihr Vater Deutscher war, 17,7 Prozent waren sogar stolz darauf, und 49,8 Prozent waren überzeugt, dass ihre Mutter mit dem Vater die größte Liebe ihres Lebens erfahren hatte. Vom 5. Mai 1945 an hing vor allen Lagerein- und -ausgängen eine Warntafel mit dem Wortlaut: „Jeder Umgang und jede Verbindung mit internierten deutschen Flüchtlingen ist verboten“, doch Sexualität und Liebe bahnten sich auch hier ihren Weg. Es entstand der Begriff des „Oksbøl-Paares“, in dem sich eine wesentlich ältere, reife Frau einen deutlich jüngeren Mann holte, andererseits urteilt Johannes Kjærbøl aber auch, dass „die hübschen Frauen für viele dänische Männer so reizend waren, dass oft Einbrüche in die Lager vorkamen, in Oksbøl hatte man sogar eine Mannschaft, deren einzige Aufgabe darin bestand, die Löcher im Zaun nach dem Einbruch zu schließen.“51 Während die Amerikaner und Briten das Fraternisierungsverbot in ihren Besatzungszonen schon im Juli 1945 aufhoben, wurde in Dänemark jeder Kontakt mit Deutschen bis zum Schluss hart bestraft. Deutsche Mütter, die von einem Dänen ein Kind bekommen hatten, wurden sofort ausgewiesen, Anträge der Väter, sie zu besuchen, abgelehnt. Insgesamt sind vom 5. Mai 1945 bis zum 15. Februar 1949, dem Tag der Repatriierung der letzten Flüchtlinge, 4500 Anträge auf Ehebewilligungen gestellt worden. Die meisten wurden abschlägig beschieden. Nicht wenige Dänen holten ab 1949 nach, was ihnen in ihrem Heimatland versagt worden war: Sie reisten nach Deutschland, um die Mutter ihres Kindes zu heiraten. „Die Stimmung bei einer solchen Heirat war in Deutschland festlicher als
50 Bath, Danebrog gegen Hakenkreuz, a. a. O., S. 312. 51 Ingvill C. Mochmann und Stein Ugelvik Larsen, Kriegskinder in Europa, in: APuZ, Nr. 18– 19/2005, S. 34–38, hier: S. 37.
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im noch immer allem Deutschen gegenüber skeptisch und feindlich eingestellten Dänemark.“52 Die Hakenkreuzflagge auf dem Dagmarhaus am Kopenhagener Rathausplatz, dem Sitz des Reichsbevollmächtigten, wird am 6. Mai 1945 eingeholt. An ihre Stelle tritt der Danebrog. Scavenius, der sich seit dem August 1943 aus der Politik zurückgezogen hatte, vermittelte zwischen Best und dem König, um einen reibungslosen Abzug der Wehrmacht zu gewährleisten. Ministerpräsident der ersten Nachkriegs- oder auch „Fifty-fifty“-Regierung wird erneut der Sozialdemokrat Vilhelm Buhl. Seine Administration bestand je zur Hälfte aus Politikern der alten Parteien, die die „Staatskollaboration“ getragen hatten, und aus Widerstandskämpfern, einschließlich zweier Kommunisten. Am 29. Mai begannen die Beratungen des neuen Strafgesetzes „betreffs Verrats und anderer landesschädigender Aktivitäten“. Die Stunde der Retsopgør, der „Rechtsabrechnung“, hatte geschlagen. Der Hass, aber auch der uneingestandene Selbsthass in der Gesellschaft war groß und drängte nach Entladung bzw. Kompensation. Die Internierung der 21.630 Personen galt deshalb auch ihrem Schutz; Denunziationen und der Verdacht von „Deutschfreundlichkeit“ waren eng beieinander. Für die Verhafteten galt untereinander ein absolutes Sprechverbot. Nach wenigen Tagen wurden 12.500 Betroffene freigelassen, jedoch 9000 weitere in Gewahrsam genommen. Interessant ist, dass von den 644 verurteilten „Deutschmädchen“ keine einzige wegen Fraternisierung mit der Besatzungsmacht bestraft worden ist. Trotzdem war ihr Leidensweg auch nach der Rückkehr aus dem Gefängnis nicht beendet. Oft wurden sie auf offener Straße befummelt. Die Schwimmweltrekordlerin und Silbermedaillengewinnerin von 1936, Ragnhild Hveger, die ihrer großen Liebe nach Kiel gefolgt war, musste nach ihrer Rückkehr Gefängnisse schrubben. Entscheidend für den gesamten juristischen Prozess werden das „Zusatzgesetz“ und das „Gesetz über die Bestrafung von Kriegsverbrechen“ vom 1. Juli 1945 bzw. vom 12. Juli 1946. Beide gelten rückwirkend vom 9. April 1940 an. Von den insgesamt während der „Rechtsabrechnung“ erfolgten 13.500 Verurteilungen sind über 10.000 wegen der Teilnahme am deutschen Kriegs- und Polizeidienst ergangen. Die Angehörigen des „Freikorps Danmark“ und die anderen SS-Mitglieder an der Front erhielten in der Regel zwei Jahre Gefängnis. Parteigänger der DNSAP wurden, sofern sie Beamte waren, aus dem Staatsdienst entlassen. Es sind, auf der Basis des „Zusatzgesetzes“, insgesamt 78 Todesurteile ausgesprochen, aber nur 46 vollstreckt worden. Der Kern der „Peter-Gruppe“ wurde am 9. Mai 1947 erschossen, Knud Børge Martinsen, der letzte Chef des „Freikorps“ und Gründer des „Schalburg-Korps“, am 25. Juli 1949. Frits Clausen entging dieser Strafe nur, weil er am 5. Dezember 1947 in der Haft einem Herzinfarkt erlag. „Sein Name in Vergessenheit gerate! Sein Andenken sterbe!“, so waren die Nachrufe einen Tag später in der Presse betitelt. Jede einzelne
52 Zit. nach Havrehed, Die deutschen Flüchtlinge in Dänemark 1945–1949, a. a. O., S. 251.
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Zeile der Verteidigungsschrift, die er in der Haft verfasste, bezeugt seinen unerschütterlichen Glauben an die „nationalsozialistische Idee“ bis zum letzten Atemzug.53 Das „Gesetz über die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht“ vom 28. August 1945 führte zu 1139 Verurteilungen. Gleichwohl zeigten diese Prozesse aber auch, wie sehr die „Wehrmacher“ – so die Bezeichnung jener Vielzahl von Unternehmern, die mit den Deutschen gute Geschäfte gemacht hatten – mit Wissen, Willen und Förderung der dänischen Regierung tätig geworden waren. Die Herren der Reederei Maersk konnten dies ausgesprochen gut bestätigen. Ein besonderes Problem war die Anklage des Führungspersonals der Besatzungsmacht, zumal man sich ja auch nach dänischer Rechtsauffassung zu keinem Zeitpunkt im Kriegszustand befunden hatte. Wie beispielsweise sollte man Best beikommen, der formell nicht nur Reichsbevollmächtigter, sondern auch deutscher Botschafter war und insofern diplomatische Immunität genoss? Man wählte einen für Dänen und Dänemark durchaus nicht untypischen Weg, nämlich Abwimmeln und Abschieben, scheiterte aber. Erst als britische und französische Behörden sowie der amerikanische Chefankläger in Nürnberg nach intensiven Anfragen aus Kopenhagen ihre Nichtzuständigkeit erklärt hatten, begann am 16. Juni 1948 der Prozess „gegen Best und andere“. Interessanterweise hatte der „Freiheitsrat“ vor dem Kriegsende alle juristischen Vorbereitungen für die Bestrafung der dänischen Kollaborateure, nicht aber der deutschen Kriegsverbrecher getroffen. Wie groß die Unsicherheit überhaupt war, zeigt das Auf und Ab der Urteile gegen Best: Am 20. September 1948 wird er als Verantwortlicher der Aktion gegen die Juden und des „Gegenterrors“ zum Tode verurteilt, am 18. Juli 1949, nach einem Berufungsverfahren, zu nur noch fünf Jahren Gefängnis, weil er keinerlei „Schuld“ hinsichtlich der „Judenaktion“ habe, und am 17. März 1950, nach heftigen öffentlichen Protesten, legt das dänische Höchstgericht das endgültige Strafmaß auf zwölf Jahre fest. Zu dem Zeitpunkt waren bereits fast alle deutschen Kriegsverbrecher mit einer Strafe von bis zu zwölf Jahren begnadigt worden, der letzte allerdings erst 1960. Am 24. August 1951 unterschreibt König Frederik IX., der Nachfolger Christians X., den Gnadenerweis für Best und lässt ihn nach Deutschland abschieben, wo dieser eine glänzende zweite Karriere als Rechtsanwalt, Justitiar des Stinnes-Konzerns, Verteidiger von NS-Straftätern und FDP-Politikern machte. Erst als die Unterlagen der Einsatzgruppen während der ersten Kriegswochen in Polen vollständig verfügbar sind, kommt man ihm erneut auf die Spur und verhaftet ihn am 11. März 1969 als Amtschef I des Reichssicherheitshauptamtes und „Haupttäter“; wegen „gemeinschaftlich mit Hitler, Göring, Himmler, Heydrich und Müller“ begangenen Mordes an 8723 Menschen wird drei Jahre später 53 Ebd., S. 256; vgl. Anette Warring, War, Cultural Loyality and Gender, in: Kjersti Ericsson und Eva Simonsen (Hg.), Children of World War II: The Hidden Enemy Legacy, Oxford 2005, S. 35–52; Lulu Anne Hansen, “Youth Off the Rails”: Teenage Girls and German Soldiers. A Case Study in Occupied Denmark, 1940–1945, in: Dagmar Herzog (Hg.), Brutality and Desire. War and Sexuality in Europe’s Twentieth Century, Basingstoke 2009, S. 135–167.
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die Anklage erhoben. Best, so hieß es, war „seinem Wesen und seiner Stellung nach einer der bedeutendsten Nationalsozialisten überhaupt, (…) (das) Muster eines sogenannten ‚Schreibtischtäters‘“54. Das Verfahren jedoch wird nie eröffnet, weil es Best immer wieder schafft, medizinische Gutachten seiner Verhandlungsunfähigkeit einzubringen. Vom 2. August 1972 an ist er wieder ein freier Mann. Ende der 1980er Jahre gelingt es ihm, in Zusammenarbeit mit Siegfried Matlok, der intellektuellen Zentralfigur der deutschen Nordschleswiger im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert, das Buch „Dänemark in Hitlers Hand“55 herauszubringen, das im Inselreich für etlichen Aufruhr sorgt. Es enthält Bests großes Entlastungsmanuskript von 1952, ein Interview mit dem Herausgeber, in dem er erneut seine „völkisch-organische Weltsicht“ präsentieren kann, und es endet in „kaum glaublicher Verdrängungsarbeit“ (Ulrich Herbert) mit der Feststellung, dass er in allem recht gehabt und sich bei niemandem, schon gar nicht bei den Dänen, für irgendetwas zu entschuldigen habe. Dänemark wünscht er abschließend „eine glückliche Zukunft und eine stets gute Nachbarschaft mit meinem deutschen Volke“.56 Matlok musste sich wegen dieser Publikation mit Recht einiges anhören. Best hingegen fiel den deutschen Behörden wegen seines „erstaunlich frischen Eindrucks (auf) – sowohl geistig als auch körperlich“,57 was sich bei angeforderten Zeugenaussagen in anderen Fällen mehrfach bestätigte. Daraufhin wurde er für verhandlungsfähig erklärt, und die Staatsanwaltschaft Düsseldorf stellte am 5. Juli 1989 den Antrag der Eröffnung des Hauptverfahrens gegen Dr. Werner Best. Der allerdings war bereits zwei Wochen zuvor, am 23. Juni, 85-jährig gestorben. Nicht ohne Pikanterie war die Untersuchung des Verhaltens dänischer Politiker während der Besatzungszeit, weil hier die Gefahr bestand, dass sich die Repräsentanten der Zusammenarbeitspolitik mit ihresgleichen bzw. mit sich selbst befassten. Die am 15. Juni 1945 vom ersten Nachkriegsparlament eingesetzte Kommission kam deshalb überein, dass mit ihrer Untersuchungsarbeit anders als bei der „Rechtsabrechnung“ keinerlei juristische Konsequenzen verbunden sein sollten. So produzierte die Kommission eine Menge Papier, bis 1958 insgesamt 23 Berichts- und Dokumentenbände, aus denen keinerlei Gründe für irgendeine Ministeranklage herausgelesen werden konnten. Man hatte sich selbst einen Persilschein ausgestellt. Positiv wurde hervorge54 Vgl. Lauridsen (Hg.), Dansk nazisme 1930–1945 – og derefter, Kopenhagen 2003 und ders. (Hg.), Føreren har ordet!, a. a. O.; vgl. für den Gesamtzusammenhang: Ditlev Tamm, Retsopgøret efter besaettelsen, 2 Bde., Kopenhagen 1984 und ders, Die Abrechnung mit der Kollaboration in Dänemark, in: Robert Bohn und Jürgen Elvert (Hg.), Das Kriegsende im Norden. Vom heißen zum Kalten Krieg, Stuttgart 1995, S. 117–131 sowie Søren Billeschou Christiansen und Rasmus Hyllested, På den forkerte side. De danske landssvigere efter befrielsen, Aarhus 2011. 55 Siegfried Matlok (Hg.), Dänemark in Hitlers Hand. Der Bericht des Reichsbevollmächtigten Werner Best über seine Besatzungspolitik in Dänemark mit Studien über Hitler, Göring, Himmler, Heydrich, Ribbentrop, Canaris u. a., Husum 1988. 56 Zit. nach Herbert, Best, a. a. O., S. 517. 57 Zit. nach Herbert, Best, a. a. O., S. 521.
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hoben, dass es bis auf wenige Ausnahmen nie zu einer intellektuell-geistigen Kollaboration, beispielsweise der Universitäten Kiel und Kopenhagen, gekommen sei.58 Von hohem Symbolgehalt blieb natürlich das Schicksal von Erik Scavenius, dessen Verhaftung und Anklage aus Widerstandskreisen heraus in aller Schärfe verlangt wurde. Doch Christian X. stellte sich persönlich vor ihn, was an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ und einer nachträglichen Absegnung der Staatskollaboration gleichkam. Scavenius jedenfalls blieb bis zu seinem Tod 1962 ein freier Mann. Überhaupt begann die Stimmung in der Gesellschaft schon bald nach Kriegsende gegen den Widerstand, der im August 1945 entwaffnet worden war, zu kippen. Nicht nur in der konservativen, sondern auch in der liberalen und sozialdemokratischen Presse konnte man jetzt lesen, dass die Widerstandskämpfer Abenteurer und Vabanquespieler, ja „unmoralische Menschen“ und „Banditen“59 gewesen seien, die sich um die allgemeine Sicherheit nicht gekümmert hätten. Diese „Gegenbewegung“ fand in der Bevölkerung Zuspruch, weil man jetzt sein eigenes Verhalten im Nachhinein als gerechtfertigt ansah, und sie erlebte ihren Höhepunkt, als Frode Jakobsen der Widerstandsbewegung Anfang Oktober 1945, unmittelbar vor den ersten Nachkriegswahlen, endgültig den Rücken kehrte. Der dänische Widerstand sollte sich von diesem Schlag nie wieder erholen. Nach den Wahlen vom 30. Oktober stellte die Widerstandsbewegung lediglich 27 (untereinander heftig zerstrittene) von 148 Abgeordneten im Folketing. Immerhin waren Christmas Møller von den Konservativen und der abtrünnige Jakobsen für die Sozialdemokraten dabei. Letztere erlitten herbe Verluste, die Kommunisten wurden mit 18 Mandaten so stark wie nie zuvor, und der Rechtsliberale Knud Kristensen übernahm die Regierung. „Dänemark war quasi in die Zeit vor 1940 zurückversetzt worden. Die Macht lag in der Hand der gleichen Politiker, und wer von neuen Zuständen im Land geträumt hatte, erlebte eine Enttäuschung.“60 Dafür gab es einen einfachen Grund: Der durchaus gelungenen, weitestgehend durchgreifenden „Rechtsabrechnung“ war keine historische bzw. moralische Aufarbeitung gefolgt. Im 58 Best in Matlok, (Hg.), Dänemark in Hitlers Hand, a. a. O., S. 207. Vgl. Karl Christian Lammers, Die Beziehungen zwischen den Universitäten Kiel und Kopenhagen während der NS-Jahre, in: Christoph Cornelißen und Carsten Mish (Hg.), Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, Essen 2009, S. 81–95. Der Versuch, von der Universität Kiel aus ein anfänglich von dem Kieler Ordinarius Otto Scheel geleitetes „Deutsches Wissenschaftliches Institut“ in Kopenhagen und in der dänischen Kulturlandschaft zu etablieren, blieb praktisch ohne Erfolg: Carsten Mish, Otto Scheel (1876–1954). Eine biographische Studie zu Lutherforschung, Landeshistoriographie und deutsch-dänischen Beziehungen, Göttingen 2015, S. 230 ff.; auch: Christoph Cornelißen, Videnskabsfolk og akademikere i Det Tredje Rige, in: Niklas Olsen, Karl Christian Lammers og Palle Roslyng-Jensen (Hg.), Nazismen, universiteterne og videnskaben i Danmark, Kopenhagen 2015, S. 33–58. 59 Zit. nach Bath, Danebrog gegen Hakenkreuz, a. a. O., S. 340. 60 Bernd Kretschmer, Dänemark. Eine Nachbarschaftskunde, Berlin 2010, S. 73; Carsten Jahnke, Geschichte Dänemarks, Stuttgart 2017.
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Gegenteil: Dänemark war es „als Siegermacht honoris causa“61 und Gründungsmitglied der Vereinten Nationen geschickt gelungen, sich aus der Verantwortung für die Vergangenheit herauszuschleichen. „Praktisch alle Dänen sahen sich nach der Kapitulation der deutschen Truppen als Widerstandkämpfer.“62 Von den 3,8 Millionen Dänen waren 11.000 in deutsche Lager verschleppt worden und 6256 infolge von Kriegseinwirkungen gestorben. Das Nationaleinkommen sank um 22 Prozent. Das war für jede betroffene Familie viel, zu viel, aber im europäischen Maßstab wenig. Ein britischer Fallschirmjäger, der am 5. Mai 1945 über Kopenhagen absprang und mit den Menschen auf der Straße ins Gespräch kam, erfuhr, „dass Schokolade das Einzige war, was sie wirklich vermisst hatten.“63 Als „nationale Meinungserzählung“ und dominantes Nachkriegsnarrativ setzte sich die Hochstilisierung der Staatskollaboration zum passiven Widerstand durch, der den aktiven unterstützt habe. Diese Exkulpationsformel hatte auch dann noch Bestand, als dänische Forscher nachgewiesen hatten, dass von einem Widerstand im engeren Sinne nicht vom August 1943, sondern erst von Ende 1944 an die Rede sein kann, also als schon alles entschieden war.64 Der allumfassende Widerstandsmythos bot „die Möglichkeit, die traumatische Erfahrung der Besatzungszeit und der ‚Rechtsabrechnung‘ sinnstiftend, d. h. durch die Konstruktion eines auf Vereinfachungen und Verfälschungen basierenden Bewusstseins zu bewältigen.“65 Scavenius diente als Sündenbock zur Verdrängung des eigenen Schamgefühls, quasi als dänischer Alleinverantwortlicher für die „Ruhestörung“66 von 1940 bis 1945, dem gleichwohl mit höchster Protektion kein Haar gekrümmt wurde. Die Heldengeschichte von der seit dem 9. April 1940 in sich vereinigten Widerstandsnation fand in dem 1957 eröffneten, von Veteranenverbänden konzipierten Kopenhagener „Museum für Dänemarks Freiheitskampf 1940–1945“ ihren institutionalisierten und erinnerungspolitisch monopolisierten Ausdruck. Das Folketing hatte schon 1955 eine „Reichsanklage“ gegen Personen abgelehnt, die für die „Verhandlungspolitik“ verantwortlich gewesen waren, und damit die Staatskollaboration politisch gerechtfertigt. Ausgesprochen schwierig und problematisch gestaltete sich die „Rechtsabrechnung“ in Nordschleswig. An der Jahreswende 1944/45 standen allein 6000 Mitglieder der dortigen deutschen Minderheit im Dienst des Besatzers. 1500 hatten sich zur Waffen-SS gemeldet, 500 zur Wehrmacht, 1600 zum 1943 installierten Zeitfreiwilligendienst, einer Art uniformierter Heimwehr zur Unterstützung der deutschen Truppen, 61 62 63 64
Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 35. Stræde, Die schwierige Erinnerung an Kollaboration und Widerstand, a. a. O., S. 126. Nach Kretschmer, Dänemark, a. a. O., S. 72. Vgl. Claudia Knauer, Dänemark. Ein Länderporträt, Berlin 2015, S. 55: „Dass Dänemark ein Volk im Widerstand war, trifft nicht zu – auch wenn die Dänen das gerne selbst so sehen wollen.“ 65 Vgl. Christian A. Widmann, Machtkampf und Mythos. Die Genese des dänischen „Résistancialismus“ (1944–1957), in: Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 284– 297, hier: S. 287. 66 Widmann, Machtkampf und Mythos, a. a. O., S. 294.
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und 450 zum 1944 gegründeten Selbstschutz, der ihre Einrichtungen gegen Anschläge sichern sollte. Viele Frauen, ihre genaue Zahl ist nicht bekannt, arbeiteten in den Kasernen als Sekretärin, Reinigungskraft oder Küchenhilfe. Und schließlich seien auch jene 50 Angehörigen der Volksgruppe nicht vergessen, die zusammen mit weiteren 50 Dänen (davon allein 30 in Neuengamme) in deutschen Konzentrationslagern tätig gewesen sind und dabei nicht weniger brutal vorgingen als die KZ-Wächter aus Flensburg, Augsburg oder Insterburg.67 Im Übrigen ließ Pastor Schmidt-Wodder bis zum bitteren Ende nicht von seiner (fleißig publizierten) Vision eines vereinigten Skandinavien in einem deutsch geführten Europa ab. Er hat auf seinem Petersholmer Hof, wo man ihn unter Dauerarrest gestellt hatte, wohl noch bei seinem Tod 1959 an ihr festgehalten. 3000 deutsche Nordschleswiger sind aufgrund des rückwirkend vom 9. April 1940 an geltenden Gesetzes zur Bestrafung von „Hoch- und Landesverrat und nationaler Untreue“ vom Juni 1945 verurteilt worden, die meisten wegen ihres Fronteinsatzes zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr. Nur 65 Personen mussten längere Haftstrafen zwischen fünf und fünfzehn Jahren antreten.68 Fast alle, gegen die Anklage erhoben worden war, kamen ins Lager Frøslev, dessen früherer Lagerältester Povl Digmann am 17. Mai 1945 zum neuen Kommandanten bestimmt wurde. Kurz darauf wird die Internierungsstätte in „Straflager Faarhus“ umbenannt, weil der Name „Frøslev“ als Symbol des dänischen Widerstands rein und makellos bleiben sollte. Die deutsche Minderheit in Nordschleswig, in der es kaum eine nicht betroffene Familie gab, hat sich mit der „Rechtsabrechnung“ innerlich nie abgefunden. Sie sah ihren Loyalitätskonflikt zwischen Herbergsstaat und Mutterland nicht ausreichend gewürdigt und entdeckte deshalb keinen Anlass für Schuld oder Reue. Bis vor wenigen Jahren wurde sogar noch darüber nachgedacht, eine offizielle Entschuldigung vom dänischen Staat einzufordern. Diese Einstellung wurde recht bald als „Faarhus-Mentalität“69 bezeichnet. Man sah sich nicht als Täter, sondern als doppeltes Opfer, betrogen von Nazideutschland und kriminalisiert vom Gaststaat Dänemark, weshalb man für das Geschehene auch keinerlei Verantwortung habe. 4500 bzw. zwei Drittel der Insassen in Faarhus waren Nordschleswiger. Henrik Skov Kristensen, der spätere Leiter des Frøslevlejrens Museums, legte 2011 seine heiß diskutierte Untersuchung „Straffelejren“ zur Geschichte des
67 Vgl. Dennis Larsen, Fortrængt grusomhed. Dansk SS-vagter 1941–1945, Kopenhagen 2010 und Siegfried Matlok, Ein grausames Kapitel Minderheit. Angehörige der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig als KZ-Wächter 1941–45, in: „Grenzfriedenshefte“, Nr. 2/2011, S. 99–116. 68 Sabine Lorek, Retsopgør – Rechtsabrechnung. Politische Säuberung nach dem Zweiten Weltkrieg in Nordschleswig, Neumünster 1989. 69 Frank Lubowitz, Die deutsche Minderheit in Dänemark 1945–1955, in: Jørgen Kühl und Robert Bohn (Hg.), Ein europäisches Modell? Nationale Minderheiten im deutsch-dänischen Grenzland 1945–2005, Bielefeld 2005, S. 93–108, hier: S. 97.
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Lagers vor.70 In ihr erklärt er die gesamte „Rechtsabrechnung“ als den „Umständen entsprechend angemessen“, er lässt aber keinen Zweifel daran, dass es sich gerade in Faarhus nicht um Gerechtigkeit, sondern um Vergeltung und Rache gehandelt habe. Gleichzeitig jedoch entschleiert er akribisch und systematisch die Mythen von den angeblich unhaltbaren Zuständen in Faarhus und der angeblich ungerechten Behandlung der Internierten. Die Suspendierung der Widerständler von der Leitung und deren Übernahme durch das dänische Direktorat für das Gefängniswesen im August 1945 bedeuteten hier bereits die Wende. Schließlich waren die Existenz und die Notwendigkeit von Faarhus ja auch ein Beleg für die mehrheitlich nationalsozialistische Ausrichtung der Minderheit gewesen, und deshalb sollte es sich als demokratischer Glücksfall erweisen, dass dieser Personenkreis bei der Neukonstituierung der Volksgruppe 1945 nicht allein das Wort geführt hatte, auch wenn er in beträchtlichem Maße wieder in Ämter und Positionen einrückte. Ein vergleichsweise kleiner Kreis um Friedrich Prahl, dem deutschen Pastor in Hadersleben, hatte sich seit Ende 1943 getroffen. In einer Besprechung dieses „Haderslebener Kreises“ vom 11. November 1943 hieß es: „Wir erstreben ein gutes Verhältnis zu unseren dänischen Nachbarn, das nur auf gegenseitigem Vertrauen aufgebaut werden kann und sich auf eine absolute Loyalität gründen muss.“71 Diese Erklärung wird zur Grundlage des am 22. November 1945 neu gegrün70 Henrik Skov Kristensen, Straffelejren. Fårhus, landssvigerne og retsopgøret, Kopenhagen 2011; vgl. dazu „Der Nordschleswiger“ vom 25.8.2011, S. 15, vom 17., 20. und 24.1. sowie vom 7.2.2012, S. 13, 15 bzw. 13; vgl. auch die Kontroverse zwischen Nis-Edwin List-Petersen und Henrik Skov Kristensen, „Straffelejren“. Faarhus und die dänische Rechtsabrechnung (1945–1949) in der Diskussion, in: „Grenzfriedenshefte“, Nr. 1/2012, S. 21–32. Florian Greßhake, Deutschland als Problem Dänemarks. Das materielle Kulturerbe der Grenzregion Sønderjylland – Schleswig seit 1864, Göttingen 2013, S. 422, nennt Fårhus das „Paradebeispiel für einen binationalen Erinnerungsort“, in dem die „notwendige gleichberechtigte museale Behandlung der beiden historischen Zeitabschnitte (…) bis in die Gegenwart nicht realisiert worden (ist).“ Es dominiert das dänische Meisternarrativ. Auch: Thomas Tschirner und Melf Wiese, Wer darf erinnern? – Das Frøslevlejren Museum als binationaler Erinnerungsort?, in: Katja Köhr, Hauke Petersen und Karl Heinrich Pohl (Hg.), Gedenkstätten und Erinnerungskulturen in Schleswig-Holstein. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Berlin 2011, S. 95–114; Henrik Skov Kristensen, Fårhus 1945–1949. Neue Forschungsergebnisse zu einem umstrittenen Kapitel deutsch-dänischer Geschichte, in: „Grenzfriedenshefte“, Nr. 1/2013, S. 27–44; ders., Fra Ehrenhain til Gedenkstätte – erindringspolitik og –kultur under forandring i det tyske mindretal, in: Anne Blond et al. (Hg.), Forundringsparat. Festskrift til Inge Adriansen, Sønderborg 2014, S. 135–153. 71 Zit. nach Lubowitz, S. 99. Hans Schultz Hansen, Ein Attentatsversuch und ein Totschlag. Zwei Ereignisse aus der Nordschleswigschen Nachkriegszeit 1946–1948, in: „Grenzfriedenshefte – Jahrbuch 2014“, S. 127–144 zeigt, wie hasserfüllt das Klima in der Region bei deutsch und dänisch Gesonnenen war. Die Lehrerin Wilhelmine Saß wird am 28. Dezember 1948 in Lügumkloster durch Schüsse getroffen, als dort eine Veranstaltung des Bundes Deutscher Nordschleswiger schikaniert werden soll; am 20. April 1946 verüben Mitglieder einer noch von der SS gebildeten geheimen deutschen Werwolf-Gruppe ein (fehlgeschlagenes) Attentat auf Jens Peter
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deten „Bundes deutscher Nordschleswiger“, der sich zur Demokratie, zur Grenze von 1920 und eben zur Loyalität gegenüber dem dänischen Staat bekennt. Langsam, ganz langsam kommt auch eine Aufarbeitung der Vergangenheit zustande, aber es dauert eine Ewigkeit, bis sie die ersten sichtbaren Ergebnisse zeitigt. So wurde der 1962 eingeweihte „Ehrenhain“ für die Gefallenen beider Weltkriege auf dem Knivsberg, in dem auch SS-Kämpfern und KZ-Wächtern der Minderheit gedacht worden war, erst 2012 in „Gedenkstätte“ umbenannt. Eine Loyalitätserklärung der dänischen Minderheit südlich der Grenze für den deutschen Staat hat es nie gegeben. Nach der Abstimmung von 1920 hatten ihr noch 10.000 Menschen angehört, bis zum Januar 1945 war sie aber auf 2700 organisierte Mitglieder zusammengeschrumpft, die noch einmal, zum letzten Mal, die Grenzfrage aufwarfen und zum nationalpolitischen Kampf erweiterten. Das Ziel war, wie im 19. Jahrhundert, die Eider. Der Rektor der dänischen Duborg-Schule in Flensburg formulierte unmittelbar nach der Kapitulation „Wir schulden es unseren Gefallenen, dass wir heimkommen.“72 Damit war der Anschluss an das Mutterland gemeint, und das Anliegen stieß in Kopenhagen auf offene Ohren. Während Ministerpräsident Buhl den Grundsatz „Grænsen ligger fast“ propagiert hatte, konzentrierte sein Nachfolger Kristensen alle Kräfte auf eine Grenzrevision, und die Bedingungen hierfür entwickelten sich nicht schlecht. Der Zulauf zum 1946 gebildeten „Südschleswigschen Verein“ (SSV) schoss sprunghaft in die Höhe, weil man in ihm Arbeit, Butter und Brot bekam, was in der Nachkriegszeit einiges bedeutete. Als zwei Jahre später der „Südschleswigsche Wählerverein“ (SSW) als politische Interessenvertretung des SSV gegründet wurde, zählte Letzterer 7500 Mitglieder. Die meisten von ihnen hatten noch nie in ihrem Leben etwas mit dem Königreich zu tun gehabt und sprachen kein Wort dänisch, weshalb das Wort vom „Speckdänentum“ die Runde machte.73 Tatsächlich resultierte das unvermittelte Anschwellen der „neudänischen Bewegung“ aus einer Vielzahl von Gründen, Egebjœrg Andersen, den Ortspolizisten von Tingleff, der das KZ Neuengamme überlebt und danach reihenweise deutsche Schulen geschlossen hat. „In beiden Angelegenheiten spielten dänische Justizbehörden eine Rolle, die diesen nicht zur Ehre gereichte“ (S. 143). Der ermittelte Täter im Fall Wilhelmine Saß wurde zu fünf Monaten, der im Fall Egebjœrg Andersen zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Auch in dem Film „Unter dem Sand“ (2016) des Dänen Martin Zandvliet spielt der Nachkriegshass der Dänen auf die Deutschen eine entscheidende Rolle. Junge deutsche Kriegsgefangene müssen im Frühsommer 1945 über 1,5 Millionen Minen an den dänischen Küsten entschärfen. Die meisten sprengen sich selbst in die Luft. 72 Zit. nach Martin Klatt, Die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein 1945–1955, in: Kühl und Bohn, Ein europäisches Modell?, a. a. O., S. 109–125, hier: S. 109. 73 Vgl. Klaus Kellmann, Geschichte Schleswig-Holsteins, in: Werner Künzel und Werner Rellecke (Hg.), Geschichte der deutschen Länder. Entwicklungen und Traditionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Münster 2008, S. 367–384, hier: S. 381; Hanns Christian Jessen (Hg.), Faarhus 1945–1949. Straflager für die deutsche Minderheit in Dänemark – Erlebnisse, Berichte, Dokumente, Husum 2014.
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zu denen nicht zuletzt auch der Versuch gehörte, sich „aus der Geschichte zu stehlen“ und historischer Verantwortung zu entgehen. Immerhin hatte die NSDAP – bei einer starken Funktionärsdichte – in den Landkreisen Schleswig, Flensburg, Husum und Südtondern schon 1932 bis zu 70 Prozent der Stimmen erhalten. „Viele jener, die sich jetzt zum Dänentum bekannten, hatten also Hitler gewählt – eine doch verblüffende Wendung (…).“74 Den eigentlichen Grund für die wundersame Massenverwandlung jedoch entdeckte ein zeitgenössischer Sozialdemokrat: „Die Hoffnung, die Flüchtlinge billig loszuwerden, ist ja neben den materiellen Vorteilen das Hauptmotiv, das die Leute dänisch macht.“75 Damit war die entscheidende Stoßrichtung artikuliert. SchleswigHolstein hatte bis 1946 über eine Million Ostpreußen, Schlesier und Pommern aufgenommen, die sich zu den 1,6 Millionen Einheimischen gesellten. Es war klar, dass ein „Anschluss“ Südschleswigs nur nach deren „Entfernung“ möglich war, und entsprechend gestalteten sich denn auch die Eingaben und Appelle der „Betroffenen“: „Es geht um nichts Geringeres als Leben oder Untergang des Dänentums in Südschleswig.“76 Mischehen, überhaupt jedwede „Vermischung“, „Unterwanderung“ und „schleichende Aufostung“ sollten strikt vermieden werden. Bei den ersten schleswig-holsteinischen Landtagswahlen 1947 votierten 100.000 Menschen dänisch, das waren fast 60 Prozent der alteingesessenen Bevölkerung im nördlichen Landesteil. Doch die Grenzfrage war zu dem Zeitpunkt schon entschieden. Die Mehrheit im Folketing, vor allem die Sozialdemokraten, wollten den „Anschluss“ nicht und brachten die Regierung Kristensen zu Fall. Eigentlicher Ansprechpartner waren und blieben die Briten, zu deren Besatzungszone Schleswig-Holstein gehörte, und deshalb problematisierte man in einem Memorandum des dänischen Außenministeriums an den Gesandten des Vereinigten Königreichs in Kopenhagen vom 19. Oktober 1946, „ob der Gesinnungswandel, der bei vielen Südschleswigern stattgefunden hat, von Dauer ist. (…) Unter diesen Umständen beabsichtigt die dänische Regierung nicht, irgendeine Änderung in Südschleswigs nationalem Zugehörigkeitsverhältnis vorzuschlagen.“77 Das Landesparlament in Kiel verabschiedete 1949 eine Erklärung, in der es hieß: „Das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur ist frei. Es darf von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden.“ Damit sollten alle Diskussionen über „echte“ und „unechte“ Dänen beendet werden. Dies wurde in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955 nochmals ausdrücklich bestätigt. Seither gelten die Zeiten des Grenzkampfes als 74 Uwe Danker, Südschleswig 1945–1955. Vom letzten Kampf um Südschleswig zum dauernden Grenzfrieden (Reihe „Labskaus“, Nr. 7, hg. von der Landeszentrale für politische Bildung), Kiel 1997, S. 8. 75 Richard Schenck, Flensburg, 1946, zit. nach Danker, Südschleswig 1945–1955, a. a. O., S. 9. 76 Zit. nach Danker, Südschleswig 1945–1955, a. a. O., S. 19; vgl. auch Martin Klatt, „… und sich nicht mit den Flüchtlingen zu vermischen“, in: „Grenzfriedenshefte“, Nr. 1/2002, S. 43–52 und Lars N. Henningsen (Hg.), Zwischen Grenzkonflikt und Grenzfrieden. Die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein in Geschichte und Gegenwart, Flensburg 2011. 77 Zit. nach Danker, Südschleswig 1945–1955, a. a. O., S. 19.
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für immer vorbei, und es ist in der dänischen Minderheit nur noch eine ganz kleine, verschwindende Minderheit, die ihre Zuflucht in vorgestrigen Parolen und nationalseparatistischen Autoaufklebern sucht. Der Mythos von der heroischen Widerstandsnation unter Einschluss der Kollaboration als „Schutz vor Schlimmerem“ hatte eine lange, intensiv kultivierte Lebensdauer. Schon 1946 wurde der „Befreiungstag“ eingeführt. Alljährlich beging man jetzt vom 9. April bis zum 5. Mai einen regelrechten Zyklus von Gedenkfeierlichkeiten vom Tag der Besatzung bis zur Kapitulation der Deutschen. 1995, am 50. Jahrestag, verband – gegen den scharfen Protest des Widerstands – eine riesige Laserstrahl-Installation alle von der Wehrmacht errichteten Bunker des dänischen „Westwalls“. Seit 1903 hatte es bis weit in die Nachkriegszeit keinen deutschen Staatsbesuch in Dänemark gegeben. Adenauer, der (auch zur eigenen Aufwertung) darauf drängte, durfte Ministerpräsident H. C. Hansen 1957 nur auf der Durchreise nach Schweden an einer Würstchenbude auf einem Bahnsteig des Kopenhagener Hauptbahnhofs begegnen. Erst der Sozialdemokrat Gustav Heinemann wurde 1970 mit allen diplomatischen Ehren empfangen. Da war das Bild, das man in Dänemark von der DDR hatte, immer noch weit besser als die Einschätzung der „BRD“, des Rechtsnachfolgers des Dritten Reiches mit seinen renazifizierenden Tendenzen. Den eigenen Beitritt zur Nato verstand man deshalb unverhohlen auch als Schutz vor deutschem Neo-Militarismus und einem „Vierten Reich“.78 Kaum überraschend spielte das neue Medium Fernsehen in diesem problematischen Normalisierungs- und Verdrängungsprozess eine entscheidende Rolle. Die dreizehn Jahre, von 1978 bis 1991 ausgestrahlte Serie „Matador“ ist die erfolgreichste dänische TV-Produktion überhaupt. Die letzte ihrer 24 Folgen hatte eine Einschaltquote von 83 Prozent. „Matador“ zeigt am Beispiel einer Familie den Alltag in der fiktiven Provinzstadt Korsbæk zwischen 1929 und 1947. Bis auf ganz wenige Verräter und nicht integrationsfähige Nazis sind in Korsbæk alle Menschen gut: der kommunistische Aktivist, der vom Krieg profitierende Schweinehändler, der behutsame Bankdirektor, ja sogar der „anständige“ deutsche Wehrmachtssoldat. Sie alle bilden ein für alle positives Beziehungsgeflecht und kommen so gut über die Runden. In seinem Innersten ist jeder für Widerstand und geht moralisch gestärkt aus den Kriegswirren hervor. Die Serie hat eine bis heute reichende „Deutungsmacht“79 für Dänen aller Generationen, sie ist gewissermaßen ihre visualisierte Meistererzählung der Besatzungszeit. Ein78 Vgl. Karl Christian Lammers, Das Bild vom neuen Deutschland in den skandinavischen Ländern, in: Bohn, Cornelißen und Lammers (Hg.), Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs, a. a. O., S. 259–269 und Troels Fink, Deutschland als Problem Dänemarks. Die geschichtlichen Voraussetzungen der dänischen Außenpolitik, Flensburg 1968. 79 Lars Breuer und Isabella Matauschek, „Seit 1945 ist ein guter Däne Demokrat“. Die deutsche Besatzungszeit in der dänischen Familienerinnerung, in: Welzer (Hg.), Der Krieg der Erinnerung, a. a. O., S. 76–111, hier: S. 84.
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zelne Folgen werden im Geschichts- und Sozialkundeunterricht gezeigt, 2006 wurde sie im Fernsehen zum sechsten Mal wiederholt, über zwei Millionen Exemplare gingen als DVD oder Videokassette über den Ladentisch. Verblüffenderweise ist die „Brücke über den Öresund“, die heute so oft angeführte Rettungsaktion der Juden, die „größte Stunde der dänischen Geschichte“80, bis weit in die 1980er Jahre hinein kein zentraler Bestandteil der nationalen Erinnerungskultur gewesen. Sie wurde „nicht zur Quelle gesellschaftlicher Reflexion und ethischer Inspiration“, sondern ihr „haftete im kollektiven Gedächtnis ein Makel an“81, weshalb man sie lieber verdrängte. Die Aktion, so Therkel Stræde, stellte „die große Erzählung von der dänischen als der besten aller Kulturen grundsätzlich in Frage“, weil hier ja jemand ihr Angebot der Integration und Assimilation nicht angenommen hatte. Da es in Dänemark aber keine antijüdische Gesetzgebung gab, handelte es sich um „eine Angelegenheit zwischen deutschen Barbaren“ und den „oft halsstarrigen“ Juden82, was mindestens teilweise auf eine „Opferbeschuldigung“83 hinausläuft. Noch 2001, als alle Dimensionen des Verbrechens im gesellschaftlichen Diskurs des Königreichs fest verankert waren, sieht Hans Kirchhoff „lautstarke Moralisten“84 am Werk, wo es um die Übernahme international gesicherter Forschungsergebnisse in das bisherige dänische Geschichtsverständnis geht. Drei Jahre zuvor war in Kopenhagen das Zentrum für Holocaust- und Völkermordstudien gegründet worden. Praktisch zeitgleich veröffentlichen Claus Bryld und Anette Warring ihre Studie „Besatzungszeit als kollektive Erinnerung“85, und hier fallen jetzt alle Tabus. Schonungslos greifen sie die „Verherrlichung der Widerstandsbewegung“ an. Der um die Résistance errichtete Mythos sei letztlich nur ein Ablenkungsmanöver von der allüberall herrschenden Kollaborationsbereitschaft gewesen, die auch den angeblichen Umschwung vom August 1943 schadlos überdauert habe, was an der bis zum letzten Tag wie geschmiert laufenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit ablesbar sei. Das Selbstbild einer ganzen Nation geriet ins Wanken, ein schmerzhafter Entmythologisierungsprozess begann, in den schließlich auch die politische Führung des Landes eingriff. 2003, 2005 und 2008 geißelte der rechtsliberale Ministerpräsident Anders Fogh Ras80 So der Holocaust-Überlebende Tom Lantos am 2.5.2001 im amerikanischen Kongress, zit. nach Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 45. 81 Stræde, Die schwierige Erinnerung an Kollaboration und Widerstand, a. a. O., S. 139; Vilhjálmur Örn Vilhjálmsson und Bent Blüdnikow, Rescue, Expulsion, and Collaboration. Denmark’s Difficulties with Its World War II Past, in: „Jewish Political Studies Review“, Nr. 3–4/2006, S. 346– 368. 82 Stræde, ebd. 83 Ebd. 84 Hans Kirchhoff, Samarbejde og modstand under besættelsen, Odense 2001, S. 343. 85 Claus Bryld und Anette Warring, Besættelsetiden som kollektiv erindring, Roskilde 1998; vgl. auch Dirk Schümer, Wundenkunde: Der Streit um die dänische Kollaboration, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 2.10.1998, S. 46.
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mussen die „Erfüllungsrolle“ Dänemarks in bisher ungekannter Weise: „Hätten alle so gedacht wie die dänischen Politiker, hätte Hitler vermutlich den Krieg gewonnen und Europa wäre nationalsozialistisch geworden.“86 In der hierdurch ausgelösten Diskussion wurden schnell weitere und weiter gehende Fragen gestellt, so zum Beispiel, ob man in Wirklichkeit nicht ein Kriegsverbündeter Deutschlands gewesen sei, durch umfangreiche Güterlieferungen geholfen habe, den Krieg zu verlängern, und dadurch eine moralische Mitschuld an den Verbrechen des Krieges habe. „Wurde das positive Verhältnis Dänemarks in materieller und sozialer Hinsicht auf Kosten anderer Nationen erkauft?“87 Seit diese Vorwürfe im Raum stehen, ist das Inselreich auf dem Kampfplatz der Erinnerungen nicht mehr richtig zur Ruhe gekommen. Hatten gegen Deutschland gerichtete, nicht selten zum hässlichen Klischee gesteigerte Überfremdungsängste bereits alle innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen um den Beitritt zur EG, zur EU und zur Euro-Zone begleitet (der 2000 mehrheitlich abgelehnt wurde), so veränderte die neuerliche Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit doch die „Qualität“ mancher Argumente. Von drei Fingern, mit denen man auf den südlichen Nachbarn zeigte, wiesen zwei oder doch mindestens einer auf sich selbst zurück. Die unmittelbare Reaktion bestand in einer letzten Stimulierung antideutscher Ressentiments. 2002 spielen 355 Kopenhagener Pfadfinder vor laufenden Fernsehkameras die Besetzung Dänemarks 1940, nur diesmal gewinnen „die Guten“: „Das deutsche Hauptquartier wird in Kürze in die Luft gesprengt.“88 Als 2007 eine Diskussion über zweisprachige Ortsschilder im deutsch-dänischen Grenzbereich aufkommt, warnt „Jyllands-Posten“, die größte dänische Zeitung, vor den „Erinnerungen an das Herrenvolk“89. Der 95 Jahre alte dänische Großreeder Arnold Mærsk McKinney Møller kann 2008 aber, damit „das Dänische in Südschleswig weiter gestärkt wird“90, ein neues dänisches Gymnasium in der Stadt Schleswig einweihen. Es ist nach seinem Familienkonzern benannt, der von 86 Zit. nach Hannes Gamillscheg, NS-Vergessen: Dänische Diskussionen, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 11.9.2003, S. 19. Lulu Anne Hansen und Martin Rheinheimer (Hg.), Bunker-Perspektiven des Atlantikwalls in Dänemark, Esbjerg 2014, haben eruiert, dass allein 1943 fast 70.000 Dänen freiwillig bei der Errichtung des Westwalls tätig waren und „am Zubetonieren der eigenen Küste prächtig verdient haben.“ 87 Lammers, Der 9. April 1940, a. a. O., S. 260; zur wirtschaftlichen Kollaboration vgl. Christian Jensen, Tomas Kristiansen und Karl Erik Nielsen, Krigens Købmænd (Händler des Krieges), Kopenhagen 2001 sowie Marc-Christoph Wagner, Ein fremdes Land. Dänemark entdeckt seine Weltkriegsvergangenheit neu, in: „Neue Zürcher Zeitung“ vom 23.11.2001, S. 46. Allerdings wird Mads Clausen, der Gründer des Flensburger Danfoss-Konzerns, in einem Gutachten des Rechtsprofessors Ditlev Tamm von jeder Kollaborationsschuld freigesprochen; vgl. Volker Heesch, Wenige Geschäfte mit deutschen Besatzern, in: „Flensburger Tageblatt“ vom 7.2.2002, S. 7. 88 „Der Spiegel“, Nr. 34/2002, S. 104 f. 89 „Kieler Nachrichten“ vom 22.6.2007, S. 4. 90 „Kieler Nachrichten“ vom 2.9.2008, S. 4.
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1940 bis 1945 zu den Großverdienern der Wirtschaftskollaboration gehörte. Gerret Liebing Schlaber, einer der feinsinnigsten Beobachter der Befindlichkeiten im Grenzland, studiert 2011 ein „vom wohl renommiertesten dänischen Verlag“ herausgegebenes Buch mit Sinnsprüchen und liest erschüttert unter dem Stichwort Tysk/Tysker: „All unser Unglück ist deutsch“ bzw. „Der Deutsche ist dem Dänen niemals gut“.91 2006 wird die gesamte dänische Öffentlichkeit durch ein schmales belletristisches Bändchen aufgewühlt, das monatelang nicht von den Bestsellerlisten verschwinden will. Es trägt den Titel „Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod“92. Knud Romer, sein Autor, ist 1960, fünfzehn Jahre nach Kriegsende, als Sohn einer deutschen Mutter und eines dänischen Vaters in Nykøbing geboren, als angeblich bereits aller Deutschenhass aus Dänemark verschwunden war. Das Buch ist der autobiographische Beweis des Gegenteils, ein „Tatsachenbericht“, wie der Verfasser selbst sagt. Romer macht sich nämlich gar nicht erst die Mühe, Personen, Vorgänge und Sachverhalte zu verfremden, sondern schildert schlicht und einfach seine Kindheit als „deutsches Schwein“ in Nykøbing: wie er morgens mit seiner bildschönen blonden Mutter beim Kaufmann „übersehen“ wird, beim Bäcker schimmeliges Brot erhält und die für ihn beim Schlachter eingepackte Wurst stinkt. Der Roman entfacht eine heiße Diskussion, wird in fünfzehn Sprachen übersetzt und vermittelt gerade der dänischen Jugend etwas, was sie bis dahin (2006!) weder in der Schule noch in der Familie erfahren hatte. Erst jetzt geriet die große Meistererzählung ins Wanken, und jedermann wurde klar, dass nicht nur zwischen 1940 und 1945 etwas faul war im Staate Dänemark.
91 Ole Knudsen, Ordsprog fra hele verden, Gyldendal-Verlag, Kopenhagen 2005, S. 298, zit. nach Gerret Liebing Schlaber, Selbstverständliche Zusammenarbeit und unerwartete Rückschläge. Zwischenbilanzen, Beobachtungen und Gedanken eines Grenzgängers zur aktuellen Lage der Region, in: „Grenzfriedenshefte“, Nr. 3/2011, S. 189–212, hier: S. 197. 92 Knud Romer, Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod, Frankfurt am Main und Leipzig 2007.
Norwegen Seit dem späten Mittelalter waren Dänemark, Norwegen und Schweden in der „Kalmarer Union“ unter dänischer Herrschaft vereinigt. Im Kieler Frieden von 1814 wurde Norwegen an Schweden abgetreten und von diesem in Personalunion regiert, verankerte im gleichen Jahr aber seine eigene Erbmonarchie und Verfassung. Das gesamte 19. Jahrhundert ist vom Kampf gegen die schwedische Statthalterschaft gekennzeichnet. Paragraph 2 der Verfassung hatte Juden und Jesuiten den Zutritt zum Reich untersagt, er wurde aber 1851 aufgehoben. 1884 wird das parlamentarische System eingeführt. Das Land blüht auf und besitzt bald eine der größten Handelsflotten der Welt, für die es eigene konsularische Vertretungen im Ausland beansprucht. Als der schwedische König diese nicht zugesteht, tritt die norwegische Regierung zurück, und das Storting, das Parlament in Oslo, erklärt die Union 1905 für aufgelöst. Mit großer Mehrheit entscheiden sich die Norweger für die Beibehaltung der konstitutionellen Monarchie und wählen Haakon VII., einen dänischen Prinzen, zum König. Er amtiert bis zu seinem Tod 1957. Zwar bleibt Norwegen im Ersten Weltkrieg neutral, stellt seine Flotte aber in den Dienst Englands – immerhin ist Haakon mit der Tochter des englischen Königs Edward VII. verheiratet. Von 1918 bis 1935 amtieren wechselnde bürgerliche Regierungen, danach übernimmt die Arbeiterpartei in Kooperation mit der Bauernpartei die Macht. Obwohl zu dem Zeitpunkt nur 1300 Juden im Land leben, herrschen in ihm starke antisemitische Vorurteile. Besonders deutlich werden diese in einem Aufsatz, der am 24. Mai 1930 unter dem Titel „Politische Gedanken zu Fridtjof Nansens Tod“ in der Zeitung „Tidens Tegn“ erscheint. Sein Verfasser ist Vidkun Quisling, dessen Name zum Symbol, ja zur Chiffre für jedwede Form von Kollaboration auf der ganzen Welt werden sollte. Vidkun Abraham Lauritz Jonsson Quisling kam am 18. Juli 1897 in der Telemark als Sohn eines Pastors auf die Welt und wurde 1905 mit Haut und Haaren vom Rausch der nationalen Unabhängigkeit erfasst. Er schlägt die Offizierslaufbahn ein und arbeitet bereits als 24-Jähriger im norwegischen Generalstab. 1917 erlebt und fördert er die Oktoberrevolution als Militärattaché in Petrograd, wendet sich als Mitarbeiter Nansens in der Ukraine aber angewidert von den kommunistischen Gräueln ab und wird 1923 aus dem Militärdienst entlassen. Das Gefühl rassischer Überlegenheit und das Bekenntnis zum Führerprinzip bestimmen von nun an sein Leben. In dem genannten Aufsatz zu Nansens Tod verlangt er, „das Vaterland von Klassenkampf und Parteipolitik zu befreien“. 1931 gründet er die Bewegung „Nordisches Erwachen“ und wird Verteidigungsminister in einer von der Bauernpartei geführten Regierung. Als das Kabinett im März 1933 zurückgetreten war, verschmolz er seine Bewegung mit dem „Klub faschistisch gesonnener Kaufleute“ zur „Nationalen Sammlung“. Diese neue Partei, norwegisch Nasjonal Samling (NS), scheiterte bei den Stortingwahlen 1933 und 1936 kläglich und erreichte kein einziges Mandat.
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Vor dem Krieg hat die NS nie mehr als 15.000 Mitglieder verzeichnet. Quisling nannte sich analog zu Hitler Förer und seine Parteiorganisation analog zur SA Rikshird. Im Dezember 1939 legte er Hitler in Berlin einen Plan zum Sturz der Regierung und zur Machtübernahme der NS vor, aber der deutsche „Führer“ lehnte ab. Gleichwohl muss er in seiner Illusion von einer „friedlichen Besetzung“ Norwegens von Quislings Ausführungen geblendet worden sein. Als der schwere Kreuzer „Blücher“ in den frühen Morgenstunden des 9. April 1940 unter norwegischem Feuer im Oslofjord versank, konnte von „friedlicher Besetzung“ keine Rede mehr sein – der König wie auch die Regierung dachten nicht daran, sich zu ergeben. Nachdem Oslo noch am selben Tag von deutschen Truppen besetzt wurde, zogen sie sich zunächst ins Landesinnere und dann ins Londoner Exil zurück. Die Wehrmachtsführung staunte nicht schlecht, als Quisling am Abend des Tages in ihrem Stabsquartier auftauchte und über den Rundfunk eine „nationale Regierung“ ausrief. Man schickte sich bereits an, ihn zu verhaften, hätte nicht Hitler persönlich eingegriffen. Er forderte Haakon VII. ultimativ auf, Quislings Herrschaft anzuerkennen, und erst als dieser strikt ablehnte, wurde der Usurpator nach nur sechs Tagen im Amt entlassen. Bischof Eivind Berggrav, der höchste Vertreter der Geistlichkeit, ruft aus: „Dieser Mann ist ein Landesverräter!“ Wohl auch, um Quisling für die Zukunft den Wind aus den Segeln zu nehmen, ernennt das Oberste Gericht Norwegens einen „Verwaltungsausschuss für die besetzten Gebiete“, der mit den Deutschen zusammenarbeiten sollte. Dies war der erste Schritt zur Kollaboration, während die Kampfhandlungen noch liefen. Da sich aber schnell zeigte, dass der Ausschuss nur administrative Aufgaben wahrzunehmen gedachte, bestimmt Hitler am 24. April 1940 den Essener Gauleiter der NSDAP Josef Terboven zum „Reichskommissar“ und „Wahrer der Reichsinteressen“ in Norwegen. Das Storting tagt am 18. Juni zum letzten Mal, der „Verwaltungsausschuss“ wird schrittweise entmachtet, und am 25. September bildet Terboven eine aus dreizehn Staatsräten zusammengesetzte Marionettenregierung, in der allein neun Posten an die National Samling gehen. Quisling wird nicht bedacht. Seine Rolle ist erst einmal ausgespielt. Am 10. Juni 1940 schweigen die Waffen. Die Operation „Weserübung“ war auch in Norwegen militärisch erfolgreich abgeschlossen, aber die ursprünglich verfolgte Strategie, „nicht in feindlicher Absicht“ zu den Blutsbrüdern und Artverwandten zu kommen, war mit Ausnahme von Quislings sektenhafter NS längst nicht in dem erhofften Maße angenommen worden. Deshalb verschärften sich im Sommer 1940 die Auseinandersetzungen zwischen den Befürwortern eines pragmatischen und denen eines ideologischen Vorgehens, die Terboven mit seinem Schwerthieb vom 25. September beendete. Die NS war von dem Tag an die einzige zugelassene Partei. Bei nicht wenigen im Land gebliebenen Stortingmitgliedern ist auf diese Weise eine durchaus vorhandene Kollaborationsbereitschaft blockiert worden. Auch in der norwegischen Forschung selbst wird inzwischen konzediert, dass sich die legitime Regierung ohne den Faktor Quisling möglicherweise auf eine förmliche Kollaboration
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eingelassen hätte.1 Die Bevölkerung reagierte geschockt auf die Fremden im Land, vor allem, weil man erst seit 35 Jahren unabhängig war und Berlin die norwegische Neutralität noch kurz zuvor ausdrücklich bestätigt hatte. Zudem empfand das DreiMillionen-Volk die Anwesenheit von 300.000 nach und nach einrückenden Besatzungssoldaten als zutiefst entwürdigend. Doch die Diktatur des Alltags normalisierte auch hier schnell das Unnormale; mehr noch, für viele begann eine Zeit, an die sie sich später außerordentlich gern erinnerten. Norwegen war 1940 ein armes Land. Produktionsanlagen standen still, Bauern und Fischer mussten ihre Rohstoffe zu niedrigen Preisen verkaufen, und es herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit. Zwei Jahre später gab es nicht nur Vollbeschäftigung, sondern über 100.000 sowjetische Kriegsgefangene standen dem Arbeitsmarkt praktisch zum Nulltarif zur Verfügung. Die Tatsache, dass von 1941 bis 1945 auf norwegischem Boden mehr Russen gestorben sind als Norweger im In- und Ausland, ist eine der erstaunlichsten Statistiken des Zweiten Weltkriegs. Sie sagt einiges über die Ausbeutung dieser Menschen aus.2 Zahllose norwegische Unternehmen, die brakkebaroner, führten Bauvorhaben für die Deutschen aus; kein anderes Land im besetzten Europa konnte einen derartigen Import von Kapital und Arbeit verzeichnen. Etwa 120.000 norwegische tyskerarbeider errichteten (gegen gutes Geld) Bunker, Straßen, Eisenbahnen und Flugplätze und stellten Fertigungs- und Dienstleistungen zur Verfügung. Der NorskHydro-Konzern arbeitete profitabel mit der IG Farben zusammen, die Handelskammer in Oslo verzeichnete 1943 über 1000 norwegische und 650 deutsche Mitgliedsunternehmen – zwei Länder waren wirtschaftlich zusammengewachsen. Neben der ökonomischen funktionierte die administrative Kollaboration praktisch reibungslos, vor allem im Bereich der inneren Sicherheit. Die norwegische Polizei unter Führung des berüchtigten Jonas Lie war nach deutschem Vorbild organisiert, uniformiert und nazifiziert. 1942 gehörten 42 Prozent ihrer Bediensteten der NS an, zu deren „Führer“ Terboven am liebsten Lie an der Stelle Quislings gemacht hätte. Die der Gestapo nachgebildete norwegische „Staatspolizei“ bestand ausschließlich aus Angehörigen der NS; Lie selbst, der sich am 8. Mai 1945 das Leben nahm, führte die „Germanische SS Norwegen“. Alle in dem Land eingesetzten deutschen SS- und Polizeikräfte empfanden die Norweger „als ihre natürlichen Kooperationspartner“3. Angesichts derartig schnell
1 Vgl. Ole Kristian Grimnes, Occupation and Collective Memory in Norway, in: Stig Ekman und Nils Edling (Hg.), War Experience, Self Image and National Identity: The Second World War as Myth and History, Hedemora 1997, S. 130–148, hier: S. 132. 2 Vgl. Rolf Hobson, Die weißen Flecken in der norwegischen Geschichtsschreibung über die deutsche Besatzung, in: Bohn, Cornelißen und Lammers (Hg.), Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs, a. a. O., S. 95–103, hier: S. 102. 3 Fritz Petrick, Die norwegische Kollaboration 1940–1945, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 119–130, hier: S. 125.
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und effektiv installierter Strukturen dachte der ausrangierte Quisling nicht im Traum daran, sich aus dem politischen Geschäft zurückzuziehen. Während sich der NS 1939 nur noch 2700 Personen angeschlossen hatten, gewann sie allein 1940 über 22.000 Mitglieder, und von 1941 bis 1945 kamen nochmals 27.000 hinzu. Die guten Posten in der Verwaltung und Polizei lockten. Zwar konnte kaum jemand den „Universismus“, Quislings verquere, an die nordische Mythologie angelehnte Parteiideologie, verstehen, aber alle begrüßten sich mit dem ausgestreckten rechten Arm. Am 12. Januar 1941 wirbt Quisling im Radio für die „SS-Freiwilligenstandarte Nordland“, aber bis Ende des Jahres schließen sich ihr nur 2000 Interessierte an, 300 dienen in der SS-Division „Wiking“. Weitere 2000 nahmen als „Legion Norwegen“ aufseiten der Wehrmacht an der Belagerung Leningrads teil, die Überlebenden bildeten im Mai 1943 das „SS-Panzergrenadierregiment Norwegen“. Insgesamt sind fast 8000 junge Menschen für Hitlerdeutschland an die Front gegangen, davon 3500 in der Waffen-SS; über 15.000 hatten sich beworben. Quisling wollte zurück ins politische Geschäft, weil er sich als eigentlicher Chef des 13-köpfigen Kabinetts der Staatsräte sah, und dies wohl durchaus nicht nur in seiner Fantasie, denn am 21. Dezember 1940 verweigerte das Oberste Gericht die weitere Mitarbeit und trat geschlossen zurück. Quislings Strategie zielte jetzt darauf ab, spätestens am 1. März 1941 als „Reichsverweser“, also als Staatsoberhaupt, eine „selbständige norwegische NS-Regierung“ zu bilden, deren Legitimation der Bevölkerung gegenüber von der Besatzungsmacht genauso geachtet werden sollte wie die der Regierung Dänemarks. Terboven sollte „durch Bestellung eines außerordentlichen Bevollmächtigten oder eines Sonderbeauftragten des Deutschen Reiches“ abgelöst, die Neutralität Norwegens „wiederhergestellt und von Deutschland anerkannt“, der Kriegszustand beendet und „Friedensverhandlungen“ begonnen werden.4 Nichts davon wurde ihm erfüllt. Zwar setzten die Deutschen „nach einer Legitimität und Souveränität vortäuschenden Prozedur“5 am 1. Februar 1942 eine aus den Staatsräten gebildete „nationale Regierung“ mit Quisling als Ministerpräsident ein, die alle Macht, die nach der Verfassung dem König und dem Storting zukam, für sich beanspruchte, aber sie blieb ein im Lande nicht akzeptiertes Marionettenregime. Ribbentrop ließ deshalb bereits im Mai 1942 bei ehemaligen Mitgliedern des Obersten Gerichts vorfühlen, ob nicht doch eine Exekutive ohne Quisling und die NS geschaffen werden könne, „die das Vertrauen des norwegischen Volkes hätte und mit der Okkupationsmacht zusammenarbeiten könnte“. Erst jetzt, nach dem Ablehnen dieser Offerte, war die Staatskollaboration nach dänischem Vorbild in Norwegen gescheitert. Quisling selbst hat die Missachtung seines Kabinetts und seiner Person durch das eigene Volk sehr wohl registriert, dafür aber die „immer mehr demütigenden und das nationale Bewusstsein kränkenden Maßnahmen und Handlungen“ der Besatzungsherrschaft verantwortlich gemacht, „die gewaltige Belas4 Zit. nach ebd., S. 124. 5 Ebd.
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tungen schafften“.6 Nach und nach wandte er sich zusehends nationalnorwegischen, teilweise sogar antideutschen Positionen zu, weshalb er im Urteil von Margret Boveri „der am wenigsten typische Vertreter der Gattung ist, der er den Namen gegeben hat“.7 Während das Verdammungsurteil zu Quisling aber unstreitig war und blieb, streiten sich die Norweger über einen anderen, kaum weniger untypischen Kollaborateur bis heute: den Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun. Der am 4. August 1859 im Gulbrandstal geborene Hamsun hieß eigentlich Pedersen, so wie viele Menschen in Skandinavien. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie in den Ort Hamsund auf einer Insel im Nordland, und mit neun gab ihn sein Vater, ein bettelarmer Schneider, auf den Pfarrhof eines reichen Onkels, der ihn tyrannisierte, schlug und hungern ließ. Von 1882 bis 1888 wanderte er in die Vereinigten Staaten aus, wo er sich als Laufbursche, Hilfsarbeiter, Schuster, Schaffner, Buchhalter, Postbote, fliegender Händler, Privatlehrer und Landstreicher durchschlug. In dieser Zeit ist sein lebenslanger, geradezu pathologischer Hass auf alles Englische, Amerikanische, Industrielle, Großstädtische und Parlamentarische entstanden. Er verfasst einen Artikel über Mark Twain, den er einer Zeitschrift unter dem Pseudonym „Knut Hamsund“ zusendet. Der Setzer vergisst das d, woraufhin er sich fortan „Hamsun“ nennt. Bereits 1888 erlebt er mit dem Roman „Hunger“ den großen Durchbruch. Erst im Alter von 49 Jahren heiratet er seine Frau Marie Anderson, kauft einen Hof in Nordland, wo jeder zweite seiner 23 Romane spielt, und will dort nur noch Bauer sein. In seinen Büchern geht es immer um Boden, Aussaat und Ernte. 1920 erhält er den Nobelpreis für sein Werk „Segen der Erde“, in dem es keineswegs um die reaktionäre Agraridylle auf der „Scholle“ geht und das kein Vorläufer der „Blut- und Boden-Literatur“ ist, sondern das von den konkreten Bedingungen entsagungsvoller Existenz handelt.8 Das Preisgeld verschenkt er. Anders als der Großteil seiner Landsleute nahm Hamsun schon im Ersten Weltkrieg Partei für Deutschland, dessen Kultur er liebte. 1934 erhält er in Weimar die Goethemedaille. Im Gegensatz zu seiner Frau, die bereits 1936 in den Nasjonal Samling eingetreten war und auf Propagandareisen durch Deutschland für die Nazis trommelte, hat sich Hamsun nie einer Partei angeschlossen; an Quislings Programm gefiel ihm aber die Forderung nach Vertreibung der Russen aus Spitzbergen, der Dänen aus Grönland und der bevorzugte Platz Norwegens im künftigen „Großgermanischen Reich“. Er machte Wahlkampf für ihn und ließ seine Kinder in Deutschland ausbilden. 1940 ruft er die Norweger zum stillschweigenden Akzeptieren der Okkupation auf, den Rückzug der königlichen Familie nach London empfindet er als Schande, weil für ihn England 6 Ebd., S. 125. 7 Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 49. 8 Vgl. Thomas Krömmelbein, Gustav Frenssen und Knut Hamsun. Skizze einer Dichterfreundschaft, in: Kay Dohnke und Dietrich Stein (Hg.), Gustav Frenssen in seiner Zeit. Von der Massenliteratur im Kaiserreich zur Massenideologie im NS-Staat, Heide 1997, S. 386–399, hier: S. 389 f.
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durch seinen Blockadering um Deutschland beide Weltkriege ausgelöst hat. Nach seinem Aufruf „Norweger! Werft die Gewehre fort (…), die Deutschen kämpfen für uns und brechen Englands Tyrannei“ verbrennen viele seine Bücher. Er selbst setzt sich in Briefen an Goebbels, dem er seine Nobelpreismedaille schenkt, für verfolgte Mitbürger ein, auch für Juden, und befürwortet gleichzeitig das Aufstellen einer eigenen Legion an der Seite der Wehrmacht. Sein Sohn Tore wird Mitglied der Waffen-SS. An der Spitze des Landes indes soll der Norweger Quisling und nicht der Deutsche Terboven stehen. Deshalb wird der Besuch des 83-Jährigen im Juni 1943 auf dem Obersalzberg bei Hitler zum Fiasko. Hamsun fleht ihn an: „Die Handlungsweise des Reichskommissars passt uns nicht! Seine Preußerei ist für uns unerträglich. Und dann die Hinrichtungen! Wir können nicht länger.“9 Als er abschlägig beschieden wird, bricht er in Tränen aus, und der Dolmetscher hat alle Mühe, ihn zu beruhigen. Obwohl seine Mission gescheitert ist und der, den er für einen Übermenschen gehalten hat, auf ihn wie ein gewöhnlicher „Handwerkergeselle“ wirkt, hält er Hitler die Treue. Noch einen Tag vor der deutschen Kapitulation preist er ihn in einem Nachruf als „reformatorische Gestalt von höchstem Rang“. Drei Wochen nach Kriegsende werden Hamsun und seine Frau verhaftet. Er weist den Vorwurf des Landesverrats zurück und bekräftigt seine Sympathie für Deutschland. In einem Brief an den Reichsstaatsanwalt schreibt er: „Es ist wohl möglich, dass ich hin und wieder im Geist des Nationalsozialismus geschrieben habe. Ich weiß es nicht; denn ich weiß nicht, was der Geist des Nationalsozialismus ist.“10 Die „Gnade“, ihn für geisteskrank zu erklären, damit man ihn entmündigen und straffrei entlassen könne, lehnte er entrüstet ab. Daraufhin befragten die behandelnden Ärzte seine Frau, die Hamsun als tyrannisch eifersüchtig und labil charakterisierte. Als er davon erfuhr, verbot er ihr vier Jahre lang jeden Besuch. Im Gerichtsverfahren vom Dezember 1947 wird er zwar vom NS-Vorwurf freigesprochen, wegen „Schaden gegenüber dem norwegischen Staat“ aber zu einer Geldstrafe von 425.000 Kronen verurteilt, die ihn finanziell ruiniert. Weil er angeblich „an bleibend geschwächten Seelenkräften“ leidet, kommt er in die Psychiatrie, die dort entstandenen literarischen Werke zeugen jedoch von seinem ungetrübten Verstand. Zum Sterben darf er nach Hause. Immerhin ist der Sarg, in dem der 92-Jährige am 19. Februar 1952 vom Gut Nörholm bei Grimstad getragen wird, von der norwegischen Flagge bedeckt, aber er gilt fortan als Unperson im eigenen Land. Bis heute erinnert keine Straße und kein Platz an ihn. Erst seit den 1990er Jahren gibt es Hamsun-Tage, an denen auch das Königspaar teilnimmt, und erst 2010 wurde in Hamaroy, wo er auf dem Pfarrhof so unendlich gedemütigt worden war, 9 Zit. nach Seidler, Die Kollaboration 1939–1945, a. a. O., S. 235; vgl. auch „Das Martyrium Knut Hamsuns“, in: Martin Ros, Schakale des Dritten Reiches. Untergang der Kollaborateure 1944– 1945, Stuttgart 1997, S. 142–158. 10 Zit. nach Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 137; vgl. auch Aldo Kell, Knut Hamsun und die Nazis: neue Quellen, neue Debatten, in: „Neue Zürcher Zeitung“ vom 9.2.2002, S. 47.
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ein Hamsun-Museum eingeweiht, 300 Kilometer nördlich des Polarkreises, im Nordland, seiner eigentlichen Heimat. Marcel Reich-Ranicki hatte ihn schon 1995 im „Literarischen Quartett“ den „zeitlosen, klassischen Schriftsteller“ des 20. Jahrhunderts genannt. Die antisemitische Ausrichtung des Nasjonal Samling hatte Hamsun nie mitgetragen. Bedingt durch die Flucht aus Deutschland lebten am 9. April 1940 etwas mehr als 2000 Juden in Norwegen. Wie überall im besetzten Europa wurden sie willkürlich beschimpft, belästigt, beleidigt, geschlagen und diskriminiert. Zumeist ging all dies allein von Norwegern aus, Judenfeindschaft war dem lutheranischen Glauben ja nicht fremd. Keine sechs Wochen nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten hatte Quisling den Paragraphen 2 der Verfassung von 1814 reaktiviert und den Deportationen damit den Weg gebahnt. Die Kategorisierung in Voll-, Halb- und Vierteljuden ging noch über deutsche Definitionen hinaus. Schon nach dem deutschen Einmarsch in Österreich und den Novemberpogromen 1938 hatte in ganz Norwegen die Angst vor einer „Judeninvasion“ geherrscht, und die wenigen dort Ansässigen mosaischen Glaubens lebten in einem „mauerlosen Ghetto“. Das Feld war bereitet. Die im Oktober 1942 durchgeführten Verhaftungen wurden weitestgehend von Quislings Marionettenregime veranlasst, das sich den Deutschen hiermit als gleichrangiger Partner präsentieren wollte. Tatsächlich haben an den Razzien nur zwei oder drei Gestapo-Männer teilgenommen. Die „Drecksarbeit“ erledigte die eigene Staatspolizei unter Knut Rød, der nach dem Krieg weiterarbeiten konnte und 1964 ehrenvoll verabschiedet wurde. Kein Norweger fragte sich, was er da eigentlich tat, obwohl es der Perfektionist Rød darauf angelegt hatte, aller Juden habhaft zu werden. 350 von ihnen kamen in das Konzentrationslager Berg, das unter norwegischer Leitung stand und „Quislings Hühnerhof “ genannt wurde, weil er seine Gegner dort einweisen ließ. Von hier wie auch vom deutschen Lager Grini unweit Oslos aus sahen sich bis zum Februar 1943 ca. 750 Juden nach Auschwitz deportiert, von denen nur 24 überlebten. Nach dem Krieg widmete man dem KZ Grini eine weitaus größere Aufmerksamkeit als dem KZ Berg. Erst 2006 eröffnete Königin Sonja in der „Villa Grande“, der ehemaligen „Führerresidenz“ Quislings, eine Dauerausstellung, aus der Norwegens Beteiligung am Holocaust ersichtlich wird. Dennoch hat dieser Sachverhalt bis heute keinen Eingang in die eigene Nationalgeschichte gefunden. 900 Juden konnten nach Schweden fliehen. Dies war zweifellos nur mit der Hilfe und dem Schutz der einheimischen Bevölkerung möglich, doch ist auch diese Rettungsaktion nicht ohne Makel geblieben. Schon Ende 1943 lässt die Vertretung der norwegischen Regierung in Schweden verlautbaren, dass keine weiteren Juden mehr über die Grenze kommen sollen, weil sie eine Gefahr der „Exportwege“ darstellen. Zur gleichen Zeit wird das jüdische Ehepaar Rahel und Jacob Feldmann von den sie schleusenden Norwegern ermordet und ausgeraubt. Die Täter wurden 1947 freigesprochen, weil das Ehepaar angeblich die Fluchtrouten gefährdet habe und die Tat deshalb in Notwehr erfolgt sei. Der Freispruch war kein Einzelfall. Auch das Verfahren gegen Rød
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endete so, weil das Gericht das Leben von Juden als nicht gleichwertig mit dem von „gode nordmenn“ („guten Norwegern“) einstufte. Das zeigt, dass sie auch weiterhin außerhalb der Gesellschaft standen. Der Versuch, die dezimierten jüdischen Gemeinen durch Holocaustüberlebende zu stärken, stieß auf scharfe Ablehnung. Antisemitische Grundhaltungen waren in Norwegen nach dem Krieg verbreiteter als in den 1930er Jahren. Die Judenverfolgungen und ihr Abtransport spielten in der rechtlichen Aufarbeitung der Kriegsverbrechen praktisch keine Rolle. Zwar lässt der Kronprinz schon am 26. November 1948 auf dem jüdischen Friedhof in Oslo ein Denkmal für die deportierten Juden errichten, er wünscht jedoch keine Fotos und keine Öffentlichkeit. „Die Vernichtung wurde beschrieben, als handele es sich um Opfer eines Verkehrsunfalls oder eines Erdbebens.“11 Man tat so, als hätten die Beteiligten aus Unwissenheit oder „Unachtsamkeit“ gehandelt, schuld waren allein die Deutschen. Erst spät setzte hier ein Wandel ein. Am Morgen des 26. November 1998 bestellt der Künstler Victor Lind einhundert Taxen in den Kirkeveien in Oslo, so wie es Knut Rød auf den Tag vor 56 Jahren gemacht hatte. Zusammen mit den Taxifahrern, damals wie jetzt auch wieder Norwegern, stellt er die Deportation nach. Praktisch zeitgleich formuliert Erik Solheim, der Vorsitzende der Linkspartei: „Dass Norweger an der Verhaftung von Juden teilnahmen und sich an deren Vermögen bereicherten, ist eine nationale Schande, mit der wir uns zu befassen haben.“12 Im März 1999 verabschiedet das Storting einstimmig ein Gesetz, mit dem 600 Juden Entschädigungszahlungen erhalten. Das Problem des uneingestandenen norwegischen Antisemitismus war damit keineswegs erledigt. Noch 2007 kommt eine breit angelegte, auf konkreten Befragungen basierende Analyse zu dem Ergebnis, dass in dem Land von den deutschen Besatzern ein positiveres Bild herrscht als von den bis 1942 dort lebenden Juden (!).13 Die norwegische Polizei hat sich erst 2012 für ihre Willfährigkeit bei den Deportationen entschuldigt. Erst jetzt geriet ein Grundsatz ins Wanken, den Katharina Pohl wie folgt beschreibt: „Da ‚gute‘ Norweger, die nicht unbedingt der Nasjonal Samling angehörten, 11 Irene Levin, zit. nach Bjarte Bruland, Wie sich erinnern? Norwegen und der Krieg, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 1, S. 455–480, hier: S. 466 f.; vgl. auch Einhart Lorenz, Die Deportation der norwegischen Juden und ihre verspätete Aufarbeitung, in: Bohn, Cornelißen und Lammers (Hg.), Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs, a. a. O., S. 104–121. 12 Zit. nach Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 77; vgl. auch: Christhard Hoffmann, Die reine Lehre einer politischen Sekte. Antisemitismus in der norwegischen „Nasjonal Samling“, in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 253–274; Katharina Pohl, „Eine unbehagliche Geschichte“. Norwegische Vergangenheitsdebatten und der Holocaust, in: Schmid (Hg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis, a. a. O., S. 229–247, Zitat: S. 235. 13 Claudia Lenz, Vom Widerstand zum Weltfrieden. Der Wandel nationaler und familiärer Konsenserzählungen über die Besatzungszeit in Norwegen, in: Welzer (Hg.), Der Krieg der Erinnerung, a. a. O., S. 41–75, hier: S. 71.
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an den Deportationen beteiligt gewesen waren, konnte sich die norwegische Gesellschaft in den Nachkriegsjahren eine ausführliche Beschäftigung mit der jüdischen Bevölkerung nicht erlauben. Zu sehr hätte diese Beschäftigung das nationale Selbstverständnis – und eben auch den nationalen Mythos – erschüttert.“ Dass 900 Juden der NS-Vernichtungsmaschinerie entgangen sind, ist ein großes Verdienst des Widerstands, dessen Bild in der Geschichte ansonsten aber erheblich schwankt. Dies beginnt bereits mit der Frage, ab wann es überhaupt Widerstand gab. Nicht wenige mit den Deutschen kollaborierende Wirtschaftsunternehmen haben als „Nachmittagspatrioten“ von Anfang an die Résistance unterstützt. Im ersten Halbjahr der Besatzung, bis zur partiellen Machtübernahme der Nasjonal Samling, gab es kaum offene Feindseligkeiten gegenüber den Invasoren, die man nicht unnötig reizen wollte. Formen des Protests, die sich hier und da zeigten, richteten sich zudem weniger gegen Terboven und die Wehrmacht, sondern vielmehr gegen Quisling, weil man die eigene nationale Identität durch ihn gefährlicher bedroht sah als durch die Konfrontation mit einem äußeren Feind. Erst von der Jahreswende 1940/41 an kann von sporadischen, unkoordinierten und praktisch durchweg gewaltlosen Widerstandshandlungen die Rede sein. Man unterscheidet zwischen der Utefronten, der Außenfront, gebildet durch den König, die Exilregierung, deren Streitkräfte und die Handelsflotte, und der Hjemmefronten, der Heimatfront, dem Sammelbegriff für alle Akteure im Innern. Letztere entsteht offiziell äußerst spät – erst im Mai 1944 als Zusammenschluss von Milorg und Sivorg, der militärischen und der zivilen, stark gewerkschaftlich geprägten Widerstandsorganisation, die sich im Frühjahr 1941 bzw. 1942 formiert hatten. Obwohl die Milorg ab Januar 1944 von Großbritannien mit leichten Waffen versorgt wird, ruft die Exilregierung sie zur Zurückhaltung auf. Ihr eigentliches Ziel ist nicht die Sabotage, sondern die Präsenz in der Phase der Befreiung. So blieb die Sprengung der Elektrolyseanlage von Norsk Hydro im Februar 1943, in der „schweres Wasser“ für die Entwicklung der Atombombe produziert wurde, die eigentlich große Tat der Milorg. Sie kann nicht über die „Tatsache einer aufs Ganze gesehen geringfügigen militärischen Résistance in Norwegen“ hinwegtäuschen.14 Zu regelrechter Befehlsverweigerung kam es erst im Februar 1943, als Quisling das Gesetz über den nationalen Arbeitseinsatz mit einer Dienstpflicht für alle Männer von 18 bis 55 und für alle Frauen von 21 bis 40 Jahren einführte. Von da an hörte der Zulauf zu seiner Nasjonal Samling auf, die „Warnung an die Helfer des Feindes“, im Herbst des Jahres von der Widerstandsbewegung ausgegeben, tat ein Übriges. Viele junge Menschen gingen einfach in die Wälder, um sich der Dienstpflicht zu entziehen, und unterstützen von dort aus die Milorg, die bei Kriegsende über 40.000 Mitglieder verfügte. Der Begriff gutta pȧ skauen, „Jungs aus dem Wald“, wurde zum Synonym für den gesamten Widerstand. Ohne den Mut dieser Männer und Frauen schmälern zu wollen, kann trotzdem nicht das Urteil formuliert werden, dass in Norwegen ein ganzes Volk vereint gegen Quisling und die Deutschen stand. Anpas14 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 64.
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sung und Überleben waren viel wichtiger. Es gab einen (später überzeichneten) holdningskamp („Haltungskampf “), so etwas wie einen Partisanenkampf hat es nie gegeben. Nicht umsonst lautet die letzte Parole der Heimatfront vom Abend des 7. Mai 1945 „Würde, Ruhe, Disziplin“. Damit sollte Selbstjustiz verhindert werden. Schon einen Tag später beginnt die Heimatfront mit der Internierung mutmaßlicher Kollaborateure als Auftakt zur rettsoppgjør, der Rechtsabrechnung. Das in letzter Minute aufgebaute Untergrundheer kommt nicht mehr zum Einsatz. Am 7. Juni 1945, auf den Tag genau fünf Jahre, nachdem er das Land verlassen hatte, setzte König Haakon wieder seinen Fuß auf norwegischen Boden. Nun beginnt die Arbeit am Mythos, wobei dem Widerstand, wie überall in Europa, eine Rolle zugeschrieben wird, die er in Wirklichkeit nicht verdient. Die Abrechnung gestaltete sich nicht als Entnazifizierung im deutschen Sinn, sondern hatte fast ausschließlich justiziellen Charakter und basierte auf den Paragraphen 86 und 98 des Strafgesetzbuchs von 1902, wo es heißt: „Wer im Krieg den Feind unterstützt, ist Landesverräter“ bzw. „Umsturz der Staatsordnung ist Revolution“. Nach dieser polarisierenden Logik, die dem Besatzungsalltag nicht entsprach, wurden die Norweger in Jossinger und Quislinger, in „Gute“ und „Verräter“ eingeteilt. Wer sich „unnorwegisch“ verhalten hatte, durfte kein vollwertiges Mitglied der Nachkriegsgesellschaft sein. Nur so konnte man der Zeit von 1940 bis 1945 eine geradezu Identität stiftende Bedeutung zumessen und sie in kaum verhohlener Selbstglorifizierung sogar zum „Schöpfungsmythos des modernen Norwegens“15 machen. Zentral in diesem Zusammenhang ist die Behauptung, die norwegische Armee habe gegenüber der Wehrmacht nie vollständig kapituliert und ein einig Volk von Widerstandskämpfern habe als „illegale Nation“ fortbestanden. Beides wird von der jüngeren Forschung stark in Frage gestellt.16 Die Exilregierung hatte sich mit dem tatsächlichen Widerstand bereits im Dezember 1944 auf ein Landesverratsdekret geeinigt. In diesem wird die Mitgliedschaft in der Nasjonal Samling rückwirkend für strafbar erklärt, was nach der norwegischen Verfassung verboten ist, aber mit dem angeblichen Fortbestehen des Kriegszustandes gerechtfertigt wurde. Von 1945 bis 1951 werden in 92.000 Fällen Nachforschungen angestellt, das sind 3,2 Prozent der Bevölkerung. 49.000 Personen sind verurteilt worden, von ihnen 45.000 Mitglieder der NS, die während der gesamten Zeit ihres Bestehens 55.000 Parteigänger hatte. Den Begriff des „Mitläufers“ kannte man also praktisch nicht. Von den insgesamt 500.000 deutschen Soldaten, die in Norwegen eingesetzt waren, sind nach 2700 Verfah15 Anne Eriksen, Det var noe annet under krigen, Oslo 1995, S. 163, zit. nach Lenz, Vom Widerstand zum Weltfrieden, a. a. O., S. 43. 16 Vgl. Robert Bohn, „Schuld und Sühne“. Die norwegische Abrechnung mit den deutschen Besatzern, in: ders. (Hg.), Deutschland, Europa und der Norden. Ausgewählte Probleme der nordeuropäischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 133 ff. sowie ders., Reichskommissariat Norwegen. „Nationalsozialistische Neuordnung“ und Kriegswirtschaft, München 2000, S. 9.
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ren nur 81 wegen Kriegsverbrechen belangt worden. „Was die Deutschen angerichtet hatten, ging im Großen und Ganzen als Begleiterscheinung ‚legaler Kriegsführung‘ einer Besatzungsmacht durch.“17 Terboven nahm sich das Leben. Knapp 30.000 Norweger erlitten den (meist zeitweiligen) Verlust bürgerlicher Ehrenrechte oder wurden mit Geldbußen bestraft, 17.000 kamen in Haft. Dreißig Todesurteile wurden ausgesprochen, aber nur fünfundzwanzig vollstreckt. Zweiundsiebzigmal gab es „lebenslänglich“. Praktisch ungeschoren blieben die ökonomischen Kollaborateure. Von den 150.000 tyskerarbeidere sahen sich nur 3,6 Prozent, deren Arbeit „ungebührlichen Charakter“ gehabt hatte, verurteilt. Ein schnell errichtetes „Kompensationsamt“ erhielt die Kompetenz, den Sühnebeitrag festzusetzen und begleitet von der lokalen Polizeistreife in die Häuser zu gehen, um den Betrag, oft auch in Sachwerten, einzuziehen. Knapp 300 Millionen Kronen hat das Amt an Sanktionen festgesetzt, von denen aber nur 180 Millionen gezahlt worden sind. Bis 1957 wurden alle noch in Haft Befindlichen begnadigt, aber draußen vor den Gefängnistoren fanden sie keine Gnade, sie blieben sozial geächtet; eine wirkliche Versöhnung mit ihnen hat nie stattgefunden. Dies galt insbesondere für die frontkjemperne, die Freiwilligen in der Wehrmacht und der Waffen-SS, die unter deutschen Offizieren in deutschen Divisionen und oft auch in deutscher Uniform gedient und nicht selten auch den Eid auf Hitler geleistet hatten. Nur 8,5 Prozent aller Beamten, aber 50 Prozent aller Polizisten waren Mitglieder der Nasjonal Samling gewesen und wurden entsprechen belangt. Hier wie überall differenzierten die Richter besonnen zwischen Opportunismus, Kollaborationismus und autochthonem norwegischem Nazismus, um das entsprechende Strafmaß zu finden, das meistens „Entlassung“ hieß. Bis 1952 waren fast alle Fälle entschieden, „und die norwegische Gesellschaft konnte mit dem Vergessen beginnen.“18 Unumstrittener Höhepunkt der gesamten „Rechtsabrechnung“ war natürlich das Verfahren gegen Quisling. Am 28. Januar 1945 hatte er sich zum letzten Mal mit Hitler getroffen und den Gedanken entwickelt, mit den 400.000 in Norwegen stehenden Soldaten und den 77.300 Kriegsgefangenen den Kampf auch dann noch fortzusetzen, wenn Berlin gefallen war, doch dazu kam es nicht mehr. Einen Tag nach der deutschen Kapitulation stellte er sich der Heimatfront, und am 20. August 1945 begann der Prozess. Acht Ärzte untersuchten ihn und erklärten ihn übereinstimmend für nicht geisteskrank. Sein mehrstündiges Schlussplädoyer, das er frei und ohne Notizen hielt, begann mit den Worten: „Ich bin der Märtyrer Norwegens“. Am 10. September verurteilte man ihn zum Tode, die Strafe wurde einen Monat später vollstreckt. Bis heute herrscht im Lande keine Einigkeit darüber, ob der Säuberungsprozess zu unerbittlich oder zu milde gewesen ist. Ein Teil, aber durchaus nicht alle Parteigänger Quislings fanden Eingang in die Nachkriegsgesellschaft, anderen wurde nie verziehen. 17 Stein U. Larsen, Die Ausschaltung der Quislinge in Norwegen, in: Henke und Woller (Hg.), Politische Säuberung in Europa, a. a. O., S. 241–280, hier: S. 251. 18 Ebd., S. 277.
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Genaue Zahlen hierzu gibt es nicht. Die soziale Ausgrenzung erwies sich nach dem Verbüßen der in der Regel geringfügigen juristischen Strafe als die eigentliche, viel härtere Strafe, die oft auch noch die Kinder der NS-Mitglieder zu spüren bekamen. Auch andere Kinder bekamen etwas zu spüren. Für sie begann der Krieg eigentlich erst am 8. Mai 1945, weil sie jetzt am eigenen Leibe erfuhren, wie einfach es sich die norwegische Gesellschaft mit ihrer Einteilung in Gut und Böse, in Weiß und Schwarz machte.19 1981 veröffentlicht die Schriftstellerin Herbjørg Wassmo den ersten Band ihrer fiktiven Romantrilogie über das Mädchen Tora.20 Das Beispiel ist erfunden, das Problem nicht. Tora hat eine norwegische Mutter und einen deutschen Vater. Sie ist, so wie 12.000 andere auch, Besatzungskind. 50.000 Norwegerinnen hatten sexuelle Beziehungen zu Mitgliedern der deutschen Wehrmacht, der SS, der Polizei oder der Zivilverwaltung. Die Auseinandersetzung um die tyskerbarna und die (angeblichen) Deutschenhuren hat das Land der Fjorde vierzig Jahre vor sich hergeschoben. Bis dahin dienten die „Deutschenflittchen“ vor allem der Selbstvergewisserung, dass man auf der richtigen Seite gestanden hatte, während die tyskertøser mit ihrer horizontalen Kollaboration „die verwerflichste Form des Landesverrats überhaupt“21 begangen hatten. Doch so einfach war das alles nicht. Vor allem wird hier außer Acht gelassen, dass die Beziehungen zwischen den Besatzungssoldaten und den „arischen“ Norwegerinnen regelrecht gefördert und Nachwuchs begrüßt wurde. Dagegen drohte Besatzungssoldaten, die eine Norwegerin vergewaltigt hatten, die Todesstrafe, und es blieb nicht bei der Drohung. Ledige Mütter, die ihre Kinder nicht selbst aufziehen konnten oder wollten, durften sie ohne Probleme in eines der zehn Entbindungs- und Fürsorgeheime des „SS-Lebensborns“ in Norwegen geben, wo sie gut umsorgt wurden. Das Reichskommissariat in Oslo übernahm die Vaterschaftszahlungen und den Unterhalt. Die Heime waren keineswegs Zuchtanstalten oder SS-Bordelle, wie es die alliierte Propaganda behauptete. Erst durch derartige Parolen ist aus dem, was bis zum 8. Mai 1945 durchaus Normalität und auch juristisch völlig konform war, Verbrechen geworden. Die Frauen wurden stigmatisiert, verspottet, verachtet und geschoren durch die Straßen getrieben, ihre Kinder – auch innerhalb der eigenen Familie – geschnitten, gedemütigt und sexuell missbraucht, was ihren Müttern nicht widerfahren war. Wenn die heranwachsenden 19 Vgl. Dorothee Schmitz-Köster, Der Krieg meines Vaters. Als deutscher Soldat in Norwegen, Berlin 2004, S. 257. 20 Herbjorg Wassmo, Huset med den blinde glassveranda, Oslo 1981; deutsch: Tora. Das Haus mit der blinden Glasveranda, München 1993. 21 Lenz, Vom Widerstand zum Weltfrieden, a. a. O., S. 59; dies., Zwischen nationalem Verrat und romantischer Liebe. Zur diskursiven (Ent-)Politisierung sexueller Verhältnisse zwischen norwegischen Frauen und deutschen Soldaten, in: Henning Albrecht, Gabriele Boukrif, Claudia Bruns und Kirsten Heinsohn (Hg.), Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2006, S. 166–187; Rasso Knoller, Norwegen. Ein Länderporträt, Berlin 2013, S. 101 ff.; Keith Lowe, Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950, Stuttgart 2014, S. 220 ff.
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Söhne und Töchter danach fragten, wer ihr Vater sei, hüllten sich die Frauen in Schweigen, und einige übertrugen „ihre Wut und Verzweiflung für ihre miserable Lage auf das Kind“22 und gaben es zur Adoption frei. Es war norwegischer Staatsbürger und galt den Norwegern doch als Deutscher, als Fortexistenz des Feindes im Land. Mit ihrem vermeintlich negativen Erbgut stellten die Kinder sogar eine potentielle Gefahr dar, wenn erst die autoritär-„germanischen“ Charakterzüge der Väter wieder zur Entfaltung kämen. In Kirkenes im hohen Norden beispielsweise waren von 3000 Einwohnern 200 „Deutschenkinder“. Schon im Sommer 1945 entsteht ein „Kriegskinderausschuss“, in dem Überlegungen angestellt werden, die gesamte Schar der Ungeliebten nach Deutschland oder Australien abzuschieben, während ihre Mütter als Vaterlandsverräterinnen vor Gericht gestellt werden sollten. 14.000 werden verhaftet, 5000 kommen in Arbeitslager. Sie galten als geistig minderwertig und ihre Nachkommen als „Kinder der Schande“. Die Tageszeitung „Lofotposten“ schrieb am 19. Mai 1945: „Erlaubt man ihnen, in diesem Land zu bleiben, ist dies so, als würde man die Aufzucht einer fünften Kolonne legalisieren.“ Der Ausschuss ließ sogar ein Gutachten erstellen, mit dem die Schwachsinnigkeit von Müttern und Kindern „wissenschaftlich“ belegt werden sollte. Etliche von ihnen landeten in Schweden, wo sie unter einer Schweigeabsprache beider Länder und der unwahren Kennzeichnung „Eltern unbekannt“ in Adoptionsfamilien gegeben wurden. Das berühmteste ist Anni-Frid Lyngstad, die allerdings kurz nach dem Krieg zusammen mit ihrer von norwegischen Nachbarn vertriebenen Mutter nach Schweden kam. Lyngstad feierte als Sängerin der Pop-Gruppe Abba in den 1970er und 1980er Jahren internationale Erfolge. Ihren deutschen Vater lernte sie erst kennen, als sie schon ein Weltstar war.23 Erst jetzt wagten es Norwegerinnen zu sagen, dass sie mit einem Deutschen „die schönsten Jahre ihres Lebens“ verbracht hatten, und erst jetzt wird auch öffentlich über die Kinder aus diesen (Liebes-)Beziehungen gesprochen. Eines von ihnen bekennt: „Ich bin auf der Welt, weil meine norwegische Mutter sich in einen deutschen Besatzungssoldaten verliebt hat. Ohne Hitler hätte es mich nicht gegeben. Welches Gefühl ist für so einen Fall reserviert?“24 Langsam setzt sich das Bewusstsein durch, dass diesen Menschen Unrecht getan worden ist. Seit dem 1. Januar 1987 haben sie das Recht, über ihre biologischen Väter aufgeklärt zu werden, zu denen bis dahin jede Spur getilgt, ja von denen nicht einmal Unterhaltszahlungen verlangt worden waren. Kurz zuvor war der Norwegische Kriegskinderverband entstanden, und ihr Schicksal ist seither Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Es kommt Ende 22 Mochmann und Larsen, Kriegskinder in Europa, a. a. O., S. 34–38, hier: S. 37; zum „Lebensborn“: Kåre Olsen, Vater: Deutscher. Das Schicksal der norwegischen Lebensbornkinder und ihrer Mütter von 1940 bis heute, Frankfurt am Main 2002. 23 Carl Magnus Palm, Bright Lights, Dark Shadows. The Real Story of Abba, London 2001. 24 Drolshagen, Der freundliche Feind, a. a. O., S. 164; Lillian Crott Berthung und Randi Crott, Erzähl es niemandem! Die Liebesgeschichte meiner Eltern, Berlin 2012.
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der 1990er zu Sammelklagen, mit denen von der Regierung finanzielle Wiedergutmachung für die Misshandlungen in der staatlichen Fürsorge und die Tatsache gefordert wird, dass von staatlicher Seite nie etwas gegen die Diskriminierung und soziale Ausgrenzung der tyskerbarna unternommen worden ist. Ministerpräsident Kjell Magne Bondevik entschuldigt sich in seiner Neujahrsansprache 2000 bei ihnen. Fünf Jahre später verfügt das Storting, dass jedes betroffene Kriegskind, inzwischen im beginnenden Rentenalter, eine Entschädigungssumme von 20.000 Kronen erhält, was 2500 Euro entspricht. Dieser Betrag konnte sich bei nachgewiesenen schweren Misshandlungen in staatlichen Heimen verzehnfachen. Zu dem Zeitpunkt wurde in der Forschung immer noch problematisiert, ob es sich hier wirklich um das „Eingeständnis historischer Fehlentwicklungen“ oder um die „Stillstellung der ‚unangenehmen Fragen‘“25 handelte. Obwohl die betroffenen Frauen inzwischen offiziell rehabilitiert sind, gelten sie den norwegischen Veteranen wohl immer noch als moralisch dubiose, „leichte Mädchen“, einfach als Flittchen. Wie in einem Brennglas waren diese Probleme bereits in einem 1957 erschienenen, Jahrzehnte nachwirkenden Roman von Jens Bjørneboes fokussiert gewesen, in dem praktisch alle Traumata der norwegischen Nachkriegsgesellschaft schonungslos dargelegt sind. Bjørneboes verurteilt in seinem viel gelesenen Werk „Under en hȧrdere himmel“ die „Rechtsabrechnung“ auf das Schärfste, weil die Gesetze nicht von einem legitimierten Parlament gemacht und weil sie rückwirkend angewendet worden seien, die Todesstrafe sogar zurückgehend bis 1802. Die Hauptfigur des Romans ist ein norwegischer Major, der mit der NS-Ideologie teilweise übereinstimmt, nach der Befreiung ins Gefängnis geworfen wird und dort stirbt. Da seine Tochter von einem Besatzungssoldaten ein Kind hat, steckt man sie wie die anderen „Deutschenliebchen“ in ein Internierungslager, wo sie psychiatrisch untersucht wird, „denn Frauen, die sich mit dem Feind ‚eingelassen‘ hatten, konnten nur geistesschwach gewesen sein“26. Auch sie kommt ins Gefängnis und geht daran zugrunde. 1964 wird im Storting die lange erarbeitete „Empfehlungsschrift des Justizausschusses zur Landesverratsabrechnung“ vorgestellt. Sie ist ein eindeutiger Sieg für den norwegischen Geschichtspapst Magne Skodvin und dessen Einteilung der norwegischen Gesellschaft in viele Gute und wenige Böse. Erste Risse erhält dieses festgefügte Geschichtsbild, als Hans Fredrik Dahl in einem Aufbegehren gegen die Skodvin-Schule 1971 seine „Sechs Mythen über die Okkupation“ vorstellt. In ihnen kritisiert er, dass die 25 Claudia Lenz, Haushaltspflicht und Widerstand. Erzählungen norwegischer Frauen über die deutsche Besatzung 1940–1945 im Lichte nationaler Vergangenheitskonstruktionen, Tübingen 2003, S. 202; dazu enorm ergiebig: Susanne März, Die langen Schatten der Besatzungszeit. „Vergangenheitsbewältigung“ in Norwegen als Identitätsdiskurs, Berlin 2008. 26 Heiko Uecker, Die deutsche Okkupation in der norwegischen Nachkriegsliteratur: Höchst vorläufige Überlegungen zu einer vielleicht möglichen Fragestellung, in: Bohn, Cornelißen und Lammers (Hg.), Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs, a. a. O., S. 226–234, hier: S. 230; vgl. auch Georg Maas’ Film „Zwei Leben“ von 2013.
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Besatzungsjahre mit „Humor, Ernst, Wertbeständigkeit, nationaler Gemeinschaft, Einsatzwillen, Entfaltung ungeahnter positiver Eigenschaften und ähnlichem“ assoziiert, als „im Allgemeinen in positiven Werten“ erinnert, anderes und andere aber vergessen werden. 1981 beginnt mit der vierteiligen Fernsehdokumentation „Im Zeichen des Sonnenkreuzes“, in der frühere NS-Anhänger ihr Engagement darlegen, eine Gegenerinnerung, die den Widerstandsmythos ins Wanken bringt. 1972 und 1994 stimmt Norwegen über einen Beitritt zur EG bzw. zur EU ab, und beide Male erringen die „Gegner Brüssels“ einen knappen Erfolg. Dass sie gleichzeitig die „Gegner Deutschlands“ sind, ist nicht erwiesen, die Referendumsprozesse haben keinen direkten Einfluss auf die „Vergangenheitsbewältigung“, aber in dem Chor der EU-Verweigerer sind die warnenden Stimmen gegen ein (neuerlich?) übermächtiges Deutschland unüberhörbar. Wer nach einem Datum sucht, mit dem sich die tatsächliche Hinwendung Norwegens zu Mitverantwortung und Mitschuld verbindet, der könnte auf den 26. November 2006 stoßen. An diesem Tag wird vor dem „Center for Studies of Holocaust and Religious Minorities“ in Oslo die Statue „Der Täter“ eingeweiht. Sie zeigt Knut Rød in der Hitlergrußpose und in der Uniform der Staatspolizei. Seit diesem Ereignis hat eine breite, nicht enden wollende Diskussion nicht nur darüber eingesetzt, warum so ein Norweger nach dem Krieg freigesprochen werden konnte.27 Gleichwohl ist die Versuchung, sich in bösen Situationen der bösen Deutschen zu bedienen, bis heute geblieben. Als ein 32-jähriger Massenmörder und Hitler vergötternder Rechtsterrorist namens Anders Breivik am 22. Juli 2011 Teile des Osloer Regierungsviertels in die Luft sprengte und kurz danach auf einer Insel vor der Stadt binnen einer Stunde 69 Menschen erschoss, nur weil sie Jungsozialisten und damit eine „Gefahr“ für die Zukunft seines Landes seien, verband Ministerpräsident Stoltenberg diese nationale Tragödie in seiner Trauerrede im Dom zu Oslo direkt und ohne jede Abschweifung mit dem 9. April 1940.28 So einfach hat es sich sein Landsmann Karl Ove Knausgard (Jahrgang 1968) nicht gemacht. Für sein monumentales, über 4500 Seiten umfassendes autobiographisches Romanepos „Min Kamp“ („Mein Kampf “), das er Ende 2011 abschloss, hatten zwei zentrale Motive eine eminent wichtige Rolle: die Tat Breiviks und die Mittäterschaft der Norweger beim Holocaust, eruiert an der Hinterlassenschaft seines eigenen Vaters, die er im sechsten und letzten Band „Kämpfen“ schonungslos thematisiert. Der internationale Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Das „aufregendste literarische 27 Susanne März, Problem Landesverrat. „Vergangenheitsbewältigung“ in Norwegen, in: Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 265–283, hier: S. 265; Katja Köhr, Vom Ende der Unschuld – Der Holocaust im norwegischen Erinnerungsdiskurs, in: dies., Die vielen Gesichter des Holocaust. Museale Repräsentationen zwischen Individualisierung, Universalisierung und Nationalisierung, Göttingen 2012, S. 76–90. 28 Vgl. Lena Clausen, Zwischenruf: Die Anschläge von Oslo und Utoya und das norwegische Selbstbild, in: „Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“, Nr. 9/2011, S. 13–14, hier: S. 13.
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Projekt unserer Zeit“ („Der Spiegel“) wurde in über dreißig Sprachen übersetzt, von 2011 bis 2017 auch ins Deutsche. Sinn, Zweck und Ziel von „Kämpfen“ ist es, die Grenze zwischen dem guten „Wir“ (den Norwegern) und dem bösen „Sie“ (den Nazis) bewusst zu verwischen: „Die Nazis waren nicht sie. Das waren wir. Und es kann wieder passieren.“ Seine Schlussfolgerung lautet: „Wir wissen alle, selbst wenn es nicht jeder zugibt, dass wir selbst, wären wir ein Teil der damaligen Zeit gewesen und nicht dieser, wahrscheinlich hinter der Fahne der Nationalsozialisten marschiert wären.“29
29 Karl Ove Knausgard, Bd. 6: „Kämpfen“, München 2017, S. 1267 ff. (Bd. 1: „Sterben“, Bd. 2: „Lieben“, Bd. 3: „Spielen“, Bd. 4: „Leben“, Bd. 5: „Träumen“). Der im Norwegischen verwendete Obertitel „Min Kamp“ („Mein Kampf “) ist im Deutschen wohlweislich weggelassen.
Schweden Wenn man Neutralität als Nichtbeteiligung an einem Krieg definiert, dann war Schweden seit 1815, dem Ende der Napoleonischen Kriege, neutral. Unparteiisch war es deshalb noch lange nicht, und eingemischt, zu eigenem Nutz und Frommen, hat es sich immer wieder. Schweden war noch bis zum 18. Jahrhundert eine europäische Großmacht gewesen, danach aber Stück für Stück zur skandinavischen Regionalmacht abgesunken. Der aufkommende, namentlich durch Grundtvig geprägte Skandinavismus fand in dem Land, dessen gebildete Oberschicht von jeher deutsch sprach, nur einen kargen Nährboden und erlitt 1864 seinen schwersten Schlag. In dem Jahr verlor Dänemark nach der Schlacht bei den Düppeler Schanzen gegen preußische und österreichische Verbände des Deutschen Bundes zwei Fünftel seines Territoriums. Schweden, das den skandinavischen Brüdern von jenseits des Skagerraks und Kattegats zuvor noch ein Garantieversprechen gegeben hatte, kümmerte sich jetzt nicht mehr darum, bestätigte die Gebietsverluste und leistete damit Geburtshilfe für die Entstehung des Bismarckreiches. Nicht nur aus dänischer Sicht war dies alles andere als neutral. Berlin und Stockholm pflegen fortan rege Handelsbeziehungen, und auch im Ersten Weltkrieg, als Schweden seine Neutralität abermals bekräftigt, liefert es kriegswichtige Rohstoffe ins Reich, insbesondere Eisen. Diese Unterstützung setzt sich nach Kriegsende in Form von verdeckten Rüstungskooperationen fort, weil der Nordstaat die Bestimmungen des Versailler Vertrages Deutschland gegenüber als zu hart und ungerecht empfindet. 1920 stellen die Sozialdemokraten erstmals den Ministerpräsidenten und entwickeln sich fortan zur dominierenden politischen Kraft. Von 1932 bis 1976 sind sie ununterbrochen mit nur drei Führungspersönlichkeiten an der Macht: Per Albin Hansson, Tage Erlander und Olof Palme. Auf Hansson geht die weltweit bewunderte Zauberformel des folkhemmet, des „Volksheims“, zurück, einer Solidargemeinschaft, in welcher der Staat die Sicherheit seiner Bürger garantiert, sie alle miteinander aber für eine gerechte materielle Versorgung einstehen und dadurch jedweden Klassenkampf überflüssig machen. Dieses vielgerühmte „Volkshaus“ bekam allerdings empfindliche Kratzer und Risse, als bekannt wurde, dass nicht alle unter sein Dach treten durften und dass die Berechtigung zum Eintritt „rassenbiologisch“ geprägt war. 1909, vier Jahre nach der Gründung der Berliner „Gesellschaft für Rassenhygiene“, ruft der schwedische Arzt Herman Lundborg eine vergleichbare Einrichtung ins Leben. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg veranstaltet er in der Stockholmer Kunstakademie eine „Volkstypenausstellung“, und 1921 richtet das hauptstädtische „Tageblatt“ einen ungemein erfolgreichen Schönheitswettbewerb aus, um den besten Vertreter des „schwedisch-germanischen Rassetyps“ zu finden. Nur ein Jahr später eröffnet Lundborg an der Universität Uppsala das erste „Institut für Rassenbiologie“ auf
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der Welt. Mit Maßband und Fotoapparat eilt er durchs Land, um 100.000 Schweden zu vermessen und nach ihren Lebensbedingungen zu befragen. Das Ergebnis dieser „Inventur“, sein Buch „Schwedische Rassenkunde“, wird ein Bestseller. In ihm taucht erstmals die These auf, dass „minderwertiges Erbgut“ in der Bevölkerung bekämpft werden müsse. Praktisch zeitgleich zum Aufbau des „Volksheimes“ präsentiert Ministerpräsident Hansson gegen den scharfen Protest des Forscherehepaares Alva und Gunnar Myrdal den Entwurf eines Sterilisierungsgesetzes, das auf der „eugenischen Indikation“ basiert: „mental langsame“, seelisch gestörte und geisteskranke Menschen sollen unfruchtbar gemacht werden, die Myrdals hatten lediglich für eine „soziale Indikation“ plädiert. Diese wird 1941, bei einer Novellierung des 1935 in Kraft getretenen Gesetzes, verschärfend in den Maßnahmenkatalog aufgenommen und trifft nunmehr auch „sozial unangepasste“ und Asoziale. Inzwischen gelten Teile der Nürnberger Rassengesetze im Land. Insgesamt sind von 1935 bis 1975 (!) über 60.000 Schweden, vor allem aber Schwedinnen, gegen ihren Willen sterilisiert worden, und auch danach dauerte es noch zwanzig Jahre, bis man sich diesen wenig idyllischen Seiten im folkhemmet stellte. Anlass war der Schadensersatzantrag einer Betroffenen, den die sozialdemokratische Sozialministerin Margot Wallström in einem „Musterbeispiel ministerieller Kaltherzigkeit“1 routinemäßig abgewiesen hatte. Die Frau wandte sich daraufhin an die Presse, und jetzt brach der Sturm los. Eine eilig einberufene Enquête-Kommission schlägt im März 1998 vor, jedem Geschädigten umgerechnet 20.000 Euro als Kompensation zu zahlen. Zwar stimmt das Parlament zu, aber die Beweislast, Opfer einer mit „geistigen Mängeln“ begründeten Sterilisierung zu sein, liegt beim Antragsteller – eine Art letzter Verteidigung der eugenischen Praxis. In den innergesellschaftlichen Debatten wurde nunmehr allerdings die Frage aufgeworfen, die viele insgeheim schon seit Jahrzehnten bewegt hatte, nämlich ob bzw. inwieweit beim Modell des schwedischen „Volksheims“ und der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft Schnittmengen und Übereinstimmungen zu konstatieren sind.2 Unbestritten jedenfalls war, dass es in Schweden NS-affine Parteien, Strömungen und Gruppen schon lange vor 1933 gegeben hatte; die Angaben reichen bis zu neunzig. Auch wenn sie durchweg klein und kurzlebig blieben, waren sie nicht ohne gesellschaftlichen Einfluss. Die intellektuelle Gründungsfigur der schwedischen Rechten ist der „Vater der Geopolitik“ Rudolf Kjellen, Ordinarius für Staatswissenschaften an der Universität Uppsala. Er entwickelte eine sozialdarwinistische Ideologie, trat im Ersten Weltkrieg für den Kampf Schwedens auf deutscher Seite gegen Russland ein und führte den ersten Mitgliedern der NSDAP bei ihrem Lebensraumkonzept die Hand. Er starb bereits 1922. Zwei Jahre später gründet der Tierarzt Birger Furugard die Nationalsocialistiska Bondeoch Arbetaparti, die 1930 maßgeblich unter dem Einfluss von Sven Olof Lindholm mit der 1 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 111. 2 Vgl. Norbert Götz, Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Baden-Baden 2001.
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Sveriges Fascistiska Kamporganization zum Nysvenska Nationalsocialistiska Förbundet fusioniert. Bei den Reichstagswahlen 1932 erreicht die Partei nur 15.000 Stimmen und bleibt ohne Mandat. Da sowohl Furugard als auch Lindholm Kontakte zu Hitler aufnehmen, kommt es zu Rivalitäten, die 1933 in der Bildung der Nationalsocialistiska Arbetaparti (NSAP) unter Lindholms Leitung gipfeln. Bei den Wahlen von 1936 erhält er nur 17.483 Stimmen und kein einziges Mandat. Daraufhin entfernt er das Hakenkreuz aus dem Parteiemblem und ersetzt es durch die Wasa-Garbe, um an den Nationalstolz der Schweden zu appellieren. Seit 1938 nennt die Partei sich Svensk Socialistisk Samling (SSS), sie fordert die Eingliederung in die germanische Rassengemeinschaft, aber die Resonanz bleibt aus. Nimmt man den rechtsextremen Sveriges Nationella Förbund und den Nationalsocialistiska Blocket unter Martin Ekström hinzu, dann hatten alle faschistischen, nationalsozialistischen und antisemitischen Gruppierungen Mitte der 1930er Jahre in Schweden nicht mehr als 30.000 Mitglieder, was einem halben Prozent der Bevölkerung entsprach. Trotzdem darf diese Erfolglosigkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hauptprotagonisten solcher Kreise gerade bei der Jugend durchaus Gehör fanden, ebenso aber auch bei Industriellen, Militärs und Künstlern. Die beiden weltweit mit Abstand herausragendsten Beispiele in diesem Zusammenhang sind zweifelsohne der IKEA-Gründer und „reichste Schwede“ Ingvar Kamprad sowie Ingmar Bergman. Kamprad gab 1998 zu, als Jugendlicher ein glühender Nazi gewesen zu sein, und Bergman litt zeit seines Lebens unter dem, was sein älterer Bruder, ein fanatischer Nationalsozialist, und sein Vater, ein gnadenlos strenger lutherischer Pastor, ihm angetan hatten. Bergman wurde 1936 als 18-Jähriger zum Schüleraustausch nach Deutschland geschickt und erlag dem braunen Faszinosum. In seinen Memoiren erzählte er, wie er den „Führer“ in Weimar erlebt hatte: „Ich schrie wie alle anderen und reckte den Arm wie alle anderen. Der Idealismus der Deutschen imponierte mir, der Nationalsozialismus, den ich gesehen hatte, wirkte interessant und jugendlich.“3 Die eigentliche, zentrale Persönlichkeit, die bis heute für die Kooperation und Kollaboration zwischen Deutschland und Schweden steht, ist Sven Hedin. 1865 geboren, lernte er früh Russisch, Tatarisch und Persisch. Sein Geographiestudium in Halle an der Saale schließt er 1892 mit der Promotion ab. Zu Pferd reitet er 3000 Kilometer nach Bagdad, Exkursionen führen ihn nach Samarkand, Taschkent, in den Himalaya, die Wüste Takla-Makan und das Quellgebiet des Indus. Er stellt sich an die Spitze des 3
Zit. nach Manfred Ertel, Blond mit braunen Wurzeln, in: „Der Spiegel“, Nr. 51/1999, S. 152–156, hier: S. 154 f.; Anne Renate Schönhagen, „Die Brüder schauen sehnsüchtig nach einer ausgestreckten Hand von der anderen Seite des Meeres“. Das Verhältnis der schwedischen Staatskirche zum nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt am Main 2000. Es spricht für sich und ist wohl Ausdruck eines lebenslangen Verdrängungsprozesses, dass der Zweite Weltkrieg in den über sechzig Spielfilmen Ingmar Bergmans nirgendwo eine Rolle spielt. Elisabeth Åsbrink, Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume. Ein jüdisches Schicksal in Schweden, Zürich 2014, berichtet allerdings, wie Kamprad den aus Österreich emigrierten Juden Otto Ullmann schon früh zu seinem Vertrauten und nach 1945 zum Mitarbeiter seines Weltkonzerns machte.
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„Schwedischen Panzerkreuzer-Vereins“ und damit gegen die Sozialdemokaten. Für die Rechten wird er zum Nationalhelden. Im Ersten Weltkrieg ist er Kriegsberichterstatter auf deutscher Seite, die Niederlage 1918 ist für ihn gleichbedeutend mit der Dolchstoßlegende. Auf seiner letzten Expedition von 1926 bis 1935 erkundet er im Auftrag der Lufthansa Flugmöglichkeiten nach Fernost. Den 30. Januar 1933 sieht er als den Beginn einer neuen Heilszeit; er wird mehrfach von Hitler empfangen und tritt in 91 deutschen Städten auf. In der Stockholmer Tageszeitung „Dagsposten“ wirbt er für ein festes Bündnis, und noch am 25. Januar 1944 schreibt er dort: „Deutschland ist die einzige Macht, die nicht nur Europa, sondern die ganze Menschheit vor dem größten Unheil und der furchtbarsten Erniedrigung bewahren kann.“ Nach dem Krieg rechtfertigt er in dem 1949 erschienenen Buch „Ohne Auftrag in Berlin“ den Einsatz für den Nationalsozialismus und fordert die „Wiederaufrichtung Deutschlands in seinen alten Grenzen“. Als er 1952 im gleichen Jahr wie Knut Hamsun stirbt, besitzt er elf Ehrendoktorhüte und hat dreimal den Ruf auf eine Universitätsprofessur ausgeschlagen. Die dem Neutralitätsgedanken verpflichtete offizielle schwedische Politik und Erinnerungskultur tut sich mit seinem Erbe schwer. Die Neutralität als faktisches Primat der Innenpolitik diente in den 1930er Jahren dazu, sich von den großen Weltkonflikten abzuschotten. Dies führte so weit, dass der Sozialdemokrat Hansson es seinen Landsleuten strikt verbot, im Spanischen Bürgerkrieg in die sozialistischen Internationalen Brigaden einzutreten. Eine Sonderrolle in diesem Konzept besaß von Anfang an Deutschland. Graf Eric von Rosen, ein nicht unbedeutender, mit Göring verwandter Repräsentant der schwedischen Oberschicht, engagiert sich ab 1935 für den Nationalsocialistiska Blocket und nährt die – nicht erfüllten – Hoffnungen, das zersplitterte und verfeindete Rechtsaußenlager als deutschen Brückenkopf in Schweden zu vereinigen. Alfred Rosenbergs in Lübeck beheimatete „Nordische Gesellschaft“ vermochte hier wenig auszurichten. Erfolgreicher waren da schon die kulturell orientierte „Schwedisch-deutsche Vereinigung“ mit Selma Lagerlöf und die 1937 gegründete „Reichsvereinigung Schweden-Deutschland“, in der sich die traditionellen, seit der Bismarckzeit aktiven „Deutschenfreunde“ aus Industrie, Militär und Adel trafen, und nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang auch das Königshaus zu nennen. Gustav V. hatte Göring im Februar 1939 den höchsten schwedischen Militärorden verliehen und 1941 hinter dem Rücken seiner Regierung dem „lieben Reichskanzler“ Adolf Hitler ein Telegramm gesandt, in dem er ihm im Namen des ganzen schwedischen Volkes für den Kampf gegen den Bolschewismus dankte. Da passte es nur zu gut ins Bild, dass der schwedische Außenminister Rickard Sandler die Einverleibung Österreichs durch Deutschland im März 1938 als „Befreiung aus der Zwangsjacke des Versaillesfriedens“ bezeichnet hatte. Einheimische Medien, die diesen Kurs kritisieren, werden zensiert. Neutralität, welche bei Kriegsbeginn noch einmal ausdrücklich bekräftigt wird, sieht anders aus. Per Albin Hansson bildet im September 1939 eine Samlingsregering, ein Allparteienkabinett aus Sozialdemokraten, Bauernpartei, Volkspartei und Konservativen, das
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im Gegensatz zu Dänemark zwar das deutsche Angebot eines Nichtangriffspakts ablehnt, ansonsten aber den Weg für eine Zusammenarbeit mit dem Reich auf allen Ebenen und Feldern bahnt. Bis zum 9. April 1940 wird sogar Verständnis für das deutsche Vorgehen auf dem Kontinent artikuliert, was de facto einem Absegnen des Überfalls auf Polen gleichkam. Der Krieg fing für Schweden erst mit dem sowjetischen Angriff auf Finnland am 30. November 1939 an. Obwohl Stockholm dem Kreml sofort seinen Status als Nichtkombattant zusichert, geht ein 12.000 Mann starkes Freiwilligenkorps über die Grenze nach Finnland, Waffen werden geliefert, Großbritannien und Frankreich erhalten kein Durchmarschrecht – ein merkwürdiger Widerspruch zu der offiziellen Parole „Finnlands Sache ist die unsere“. Nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens durch die Wehrmacht gab es nur noch ein Ziel: die Invasion der Deutschen in Schweden zu verhindern (obwohl die Personallisten für diesen Fall in Stockholm bereitlagen). Die Schriftstellerin Astrid Lindgren, die als Mitarbeiterin der Postzensurstelle des schwedischen Geheimdienstes in Stockholm einer äußerst „systemstabilisierenden“ Tätigkeit nachgeht, notiert im Juni 1940 in ihrem Tagebuch: Das Schlimmste ist, dass man sich kaum Deutschlands Niederlage wünschen kann (…). Ein schwaches Deutschland kann für uns im Norden nur eines bedeuten – dass wir die Beute Rußlands werden. Und ich glaube, ich sage lieber mein ganzes Leben lang „Heil Hitler“, als die Russen hier zu haben.
In vollständiger Aushöhlung der Neutralität wird die Durchfahrt von zwei Millionen als Urlauber getarnten deutschen Soldaten von und nach Norwegen gestattet, im sogenannten „Hufeisenverkehr“ finden sogar reguläre Wehrmachtstransporte statt, auf deutschen Wunsch legen die Schweden Minenfelder in der Ostsee; der schwedische See- und Luftraum wird regelmäßig von Kriegsschiffen bzw. Flugzeugen genutzt, notlandende Flugzeuge werden nicht beschlagnahmt; im unerklärten deutsch-sowjetischen U-Boot-Krieg fungiert die schwedische Marine als Befehlsempfänger deutscher Nachschubstellen; Wernher von Brauns gefürchtete V2-Raketen werden mit Kugellagern aus Schweden gebaut; riesige Mengen an Eisenerz stehen den Deutschen zur Verfügung, in Luleå wird ein Versorgungsdepot für die Wehrmacht eingerichtet. Im Juni 1941 droht Gustav V. indirekt sogar mit Rücktritt, falls der „Division Engelbrecht“, einem 15.000-köpfigen, erstmals bewaffneten Verband, nicht der Durchmarsch nach Finnland gewährt wird – und setzt sich durch, in klarem Bruch der in der 5. Haager Konvention festgelegten Neutralitätsprinzipien. Zwar führt dies im Kabinett Hansson zur sogenannten Mittsommerkrise, doch sie geht vorbei, nachdem man sich die Einmaligkeit dieses Vorgangs durch Berlin hat bestätigen lassen. Besonders schlecht erging es der einzigen Partei, die nicht an der Samlingsregering beteiligt war, den Kommunisten. Für sie wurden Arbeitslager errichtet. Lindholms SSS-Leute, die ihre Büros und Zeitungshäuser anzündeten, blieben praktisch ungeschoren, und die schwedischen Behörden arbeiteten mit der Gestapo zur Erfassung der 60.000 Parteimitglieder reibungslos zusammen. Schon im Frühjahr 1940 waren in Luleå bei einem Attentat auf
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das Redaktionsgebäude der sozialistischen Zeitung „Norrskensflamman“ fünf Menschen ums Leben gekommen. Paul Wilhelmsson, der Täter, war von einem „Komitee“ gut betuchter NS-Sympathisanten in der Region für das Verbrechen ausgewählt und bestimmt worden. „Diese Spielart der Verständigung mit den Deutschen ist so gut wie überhaupt noch nicht erforscht, warum eigentlich nicht?“4 Den historisch schwerwiegendsten Komplex im Gesamtzusammenhang der als Neutralität getarnten deutsch-schwedischen Kooperation stellt die – auch und gerade im Vergleich mit anderen, besetzten Staaten – enormen Umfang annehmende und praktisch bis ins Frühjahr 1945 fortgeführte ökonomische Kollaboration dar. Sicherlich hängt dies mit der Tatsache zusammen, dass Schweden wegen der Skagerrak-Sperre der Reichsmarine vollständig vom Handel mit Deutschland abhängig und die Ostsee durch die Blitzkriegssiege faktisch ein deutsches Binnenmeer war, aber alle „unnötige Eilfertigkeit und Liebedienerei“5 sind damit nicht zu erklären. Levine urteilt sogar, „that the Swedish government economically collaborated with and thus aided militarily Germany’s genocidal Nazi regime far beyond reasonable necessity.“6 Ausgerechnet 1940, als die Wehrmacht die skandinavischen Nachbarländer überfiel, wurde der vom schwedischen Gewerkschaftsbund 1933 verkündete Boykott deutscher Waren und Produkte sang- und klanglos aufgehoben. Die Eisenerzlieferungen funktionierten ohnehin wie zu Friedenszeiten und waren jetzt zusätzlich durch ein Kriegshandelsabkommen abgesichert. Da die deutsche Rüstungsindustrie von diesen Lieferungen vollständig abhängig war, hätte die Regierung Hansson hier einen erheblichen Handlungsspielraum gehabt, nutzte ihn aber nicht. Bei Kriegsende war Schweden das einzige offiziell neutrale Land, das keine offenen Forderungen an Deutschland hatte. Hanssons Außenminister bilanzierte schon im Sommer 1944 vor dem Reichstag in Stockholm: „Schwedens Lage muss nach fünf Jahren Krieg in der Tat als gut bezeichnet werden.“ Summa summarum „betrieb Stockholm gegenüber dem totalitären deutschen Regime eine Politik, die die Bedürfnisse der deutschen Aufrüstungs- und Kriegswirtschaft bereitwillig und mit beträchtlichem Eigenprofit bediente“7. Dieser Aspekt spielt in der bis heute anhaltenden Diskussion um das „Raubgold“ der Nationalsozialisten eine herausragende Rolle. In einem Bericht des Washingtoner State Departments vom Mai 1997 heißt es: „The neutrals continued to profit from their trading links with Germany and thus contri4 Kellmann, Die kommunistischen Parteien in Westeuropa, a. a. O., S. 27; Ann-Marie Ljungberg, Dunkelheit, bleib bei mir, München 2016. 5 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 93. 6 Paul Levine, Swedish Neutrality during the Second World War: A Controversy Still Unresolved, Stockholm 1999, S. 30 (Hervorhebung im Originalzitat). 7 Daniel B. Roth, Hitlers Brücken in Schweden. Die deutsche Gesandtschaft in Stockholm 1933– 1945, Berlin 2009, S. 331; Rasso Knoller, Schweden. Ein Länderporträt, Berlin 2016, S. 92 (Zitat Außenminister).
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buted to prolonging one of the bloodiest conflicts in history.“8 Was Schweden betraf, ging es hier vor allem um die Enskilda Banken, deren Geschäftsführer Jacob und Marcus Wallenberg aus der (einfluss-)reichsten schwedischen Industriellenfamilie kamen. Schon 1940 diente die Bank der Deutschen Bosch AG bei dubiosen Anteilsgeschäften auf dem amerikanischen Markt, die zu großen Teilen mit Goldbeständen aus der Deutschen Reichsbank abgewickelt wurden, als Strohmann. Dass dieses Gold aus Kriegsbeutebeständen stammte, müssen die Wallenberg-Brüder, die zusätzlich an ähnlich gelagerten Geschäften mit Industriegiganten wie Siemens, der IG Farben und Telefunken verdienten, gewusst haben, denn sie drängten permanent auf Verschleierungsmaßnahmen und hielten sogar noch nach 1943 an den lukrativen Geschäften fest, als sich die Niederlage Hitlerdeutschlands abzeichnete. „Durch die stillschweigende Akzeptanz ihrer möglichen Rolle als Hehler in einem europaweiten Raubzug erleichterten die Bankhäuser in der Schweiz, Spanien, Portugal und Schweden den Deutschen tatsächlich die Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs.“9 Realiter hat die schwedische Riksbank bis zum Frühjahr 1944 von Deutschland 34 Tonnen Gold im Wert von 163 Millionen Kronen übernommen, unterstützt, ja ermutigt vom Allparteienkabinett Hansson, das auch dann noch an dieser Praxis festhielt, als die Riksbank 1943 von den Deutschen Garantien verlangte, dass es sich bei dem Edelmetall nicht um „Raubgold“ handle. Alle an den Geschäftsgebaren Beteiligten wurden auch dann noch von der Stockholmer Regierung gedeckt, als die Riksbank im Sommer 1944 erstmals den konkreten Verdacht äußerte, dass die ihr zum Kauf angebotenen Goldbestände zumindest teilweise aus jüdischem Besitz stammten, bis hin zu Zahngold und Eheringen. Während sich Dag Hammarskjöld, der damalige Staatssekretär im Finanzministerium, noch mit windigen Erklärungen aus Deutschland zufriedengab, bestätigten fünfzig Jahre später sowohl in Schweden wie auch in der Schweiz eingesetzte Findungskommissionen genau diesen Verdacht. Unter den Alliierten galt Schweden längst als „indirekter Kriegsgewinnler“. Fast 90 Prozent des Außenhandels, den das Land zwischen 1940 und 1944 tätigte, wurden mit dem Dritten Reich realisiert. „De facto war Schweden ein – vor Bomben geschützter – Teil des großdeutschen Wirtschaftsraums.“10 Henning Mankell beschreibt im Jahr 2000 in einem seiner berühmtesten Romane die Geschichte eines ehemaligen schwedischen Mitglieds der Waffen-SS und lässt den ermittelnden Polizeikommissar Stefan Lindman dabei zu folgenden Erkenntnissen gelangen: Der Nationalsozialismus war im Schweden der 30er Jahre und bis 1943 oder 1944 sehr viel verbreiteter gewesen, als den meisten heutzutage bewusst war. Es hatte mehrere nationalsozialistische Parteien gegeben, die untereinander zerstritten waren. Hinter den paradierenden Männern und Frauen hatte sich eine graue Masse anonymer Menschen befunden, die 8 Zit. nach Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 98. 9 Ebd., S. 100. 10 Wolfgang Zank, „Wir waren ihre Parasiten“, in: „Die Zeit“ vom 29.8.2002, S. 80.
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Hitler verehrt und nichts sehnlicher gewünscht hatten als eine deutsche Invasion und ein nationalsozialistisches Regime. Er fand verblüffende Informationen über die Nachgiebigkeit der schwedischen Regierung gegenüber den Deutschen. Darüber, dass die schwedischen Eisenerzexporte es der deutschen Rüstungsindustrie ermöglicht hatten, Hitlers ständigen Forderungen nach immer mehr Panzern und anderem Kriegsgerät nachzukommen. Er fragte sich, warum er von diesen Tatsachen nichts gehört hatte, als er in die Schule gegangen war. Woran er sich vage aus dem Geschichtsunterricht erinnern konnte, war ein ganz anderes Bild: ein Schweden, dem es durch Klugheit und vorsichtiges Taktieren gelungen war, sich aus dem Krieg herauszuhalten. Die Regierung hatte eine strikte Neutralität verfolgt, die das Land davor bewahrt hatte, von der deutschen Wehrmacht zermalmt zu werden. Von größeren Mengen einheimischer Nazis hatte er in seiner Schulzeit nie etwas gehört. Jetzt stieß er auf ganz andere Informationen (…).11
So sehr dieser Text dazu beigetragen haben mag, den schwedischen Selbstbetrug auch einem größeren, nicht fachwissenschaftlichen Publikum zugänglich zu machen, so sehr sind einige seiner Aussagen anzuzweifeln. Kein Schwede hat eine Invasion der Wehrmacht herbeigewünscht. Im Gegensatz zu Dänemark und Norwegen sank die Wähler- und Mitgliedschaft NS-affiner Parteien im Zweiten Weltkrieg. Lindholms SSS erhielt bei den Wahlen 1944 nur noch erbärmliche 4204 Stimmen – selbst eine „graue Masse“ sieht anders aus. Die „Braune Garde“ Engströms, die sich 1941 von der SSS abspaltete, um den Einmarsch der Deutschen vorzubereiten, blieb ein Kleckerhaufen, Engström wurde 1944 wegen Vorbereitung zum Staatsverrat zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Lindholm hingegen hütete sich, gegen die schwedische Souveränität und Monarchie vorzugehen, und als er dem König 1942 den Beitritt zum Antikominternpakt nahelegte, beachtete man ihn nicht. Richtig ist, dass es in der Sicherheitspolizei und in der Armee Sympathisanten des Nationalsozialismus gab, die Einladungen zu Besuchen an der Ostfront gerne annahmen oder aber nach Schweden geflohene Mitglieder des norwegischen Widerstands an die Gestapo verrieten. Auch Willy Brandt, der für die illegale Zeitung „Håndslag“ schrieb, musste sich vorsehen. Der Journalist Bosse Schön hat ermittelt, dass 500 Schweden als Freiwillige in die Waffen-SS-Divisionen „Wiking“ und „Nordland“ eingetreten sind und an Massenerschießungen in der UdSSR beteiligt waren. Einige wurden sogar Mitglied der „Leibstandarte Adolf Hitler“ und verteidigten den Führerbunker in Berlin noch im April 1945. Kämpfer aus dem neutralen Schweden gehörten mithin zum letzten Aufgebot.12 Auf einem anderen Blatt steht, dass der Krieg gegen die Sowjetunion, Stalin und den Bolschewismus in den konservativen und bürgerlichen Kreisen Schwedens bis in die Sozialdemokratie hinein gutgeheißen und als „richtig“ angesehen wurde. Oberbefehlshaber Thörnell forderte Hansson sogar indirekt auf, sich am Kampf gegen die Rote 11 Henning Mankell, Die Rückkehr des Tanzlehrers, Wien 2002, S. 249 f. (Original: Stockholm 2000). 12 Vgl. Ertel, Blond mit braunen Wurzeln, a. a. O.
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Armee zu beteiligen. Verteidigungsminister Sköld beeilte sich dagegen, schon im März 1941 zu erklären, dass sein Land kein Interesse am Sieg eines der am Krieg beteiligten Staaten habe. Gleichwohl saß der uralte schwedische Erbfeind in Moskau. Angeblich soll der zu den Sozialdemokraten übergetretene Außenminister Christian Günther 1941 bereit gewesen sein, die schwedische Demokratie freiwillig zu demontieren, durch ein autoritäres System zu ersetzen und sich aktiv am „Russlandfeldzug“ zu beteiligen. Auch wenn dies bezweifelt werden muss, so gehörte er doch zu den aktiven Kräften, die das positive Votum der Regierung für das „Unternehmen Barbarossa“ herbeiführten. Zwar hatte auch das mit Neutralität nichts zu tun, aber durch die Bindung aller disponiblen Wehrmachtsverbände an der Ostfront fiel jegliches militärische Drohpotential gegenüber Schweden weg, was eine enorme Ausweitung des eigenen Handlungsspielraums bedeutete. Trotzdem fürchtete man in der Sammlungsregierung bis zum Kriegsende Hitlers Zorn und dessen irrationale Entscheidungen. Nicht umsonst sprach Hansson immer wieder davon, dass es darauf ankomme, „den Führer bei Laune zu halten“13. Die Wahrnehmung Deutschlands als Bollwerk gegen die Sowjetunion führte sogar noch nach der Kriegswende vor Moskau und Stalingrad zu dem Wunsch, dem Dritten Reich die bedingungslose Kapitulation zu ersparen, damit dieses Gegengewicht in Europa territorial möglichst unversehrt erhalten bliebe. Die große Formel, mit der all diese Verhaltensweisen begründet wurden, war diejenige des „Kleinstaatsrealismus“. Zu ihr heißt es in einer einschlägigen, sechsfach aufgelegten Untersuchung: Die Rolle des Kleinstaates gab Schweden moralische Absolution. Alle schwierigen Fragen, welche die Politik der Zugeständnisse an den schwedischen Gesellschaftsethos während des Krieges, an den Widerstandswillen, die Nachgiebigkeit (…) und an ideologische Prinzipien stellte, wurden angesichts des Triumphes des Kleinstaatsrealismus unter den Teppich gekehrt.14
Das, was später Stück für Stück als „kleinstaatsrealistische Scheinmoral“15 entlarvt wurde, war für ihre Akteure eine Politik ohne Alternativen: Ein Kriegseintritt aufseiten der Alliierten hätte die sofortige Besetzung durch das übermächtige Deutschland zur Folge gehabt. Diese – durch die deutsche strategische Planung tatsächlich aber nicht gedeckte – Wahrnehmung mag subjektiv durchaus nachvollziehbar sein, fest steht aber genauso, dass der Nordstaat, von dessen Rohstoffen, Produkten und Lieferungen die Wehrmacht auf Gedeih und Verderb abhängig war, zu keinem Zeitpunkt das ihm zur 13 Vgl. Sven Radowitz, Schweden und das „Dritte Reich“. Die deutsch-schwedischen Beziehungen im Schatten des Zweiten Weltkrieges, Hamburg 2005, S. 589. 14 Alf Johansson, Den nazistika utmaningen. Aspekter på andra världskriget, 6., erw. Aufl., Falun 2006, S. 280, dt. Übersetzung nach Ingolf Notzke, Die schwedische Neutralitätspolitik. Eine Tradition und ihre Geschichtsschreibung, Marburg 2010, S. 62. 15 Vgl. Notzke, Die schwedische Neutralitätspolitik, a. a. O., S. 64.
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Verfügung stehende Druckpotential ausgenutzt, ja dies nicht einmal erwogen hat. „Stockholm blieb auf allen entscheidenden Politikfeldern, in denen Schweden von einer strikt neutralen Linie in den Jahren 1939 bis 1942 abwich, die Möglichkeit, die deutschen Forderungen abzulehnen.“16 Da dies in der Öffentlichkeit und Presse aber sehr wohl diskutiert wurde, ist hier auf das unrühmlichste Kapitel der schwedischen „Neutralität“ hinzuweisen: Bis zum September 1942 werden 304 Zeitungen und Zeitschriften beschlagnahmt, weil sie die „amtlichen Sprachregelungen“ ignorieren. Journalisten, die auch weiterhin bei ihrer kritischen Linie bleiben, sehen sich von Justizminister Karl Gustaf Westmann kurzerhand vor Gericht gestellt. Eine Pressezensur von derartigem Ausmaß gab es im zeitgenössischen Europa nur noch in Hitlers Deutschland und in Stalins Sowjetunion. Dabei war gerade in Schweden früh, offen und mutig über das größte Verbrechen in der Geschichte der zivilisierten Menschheit berichtet worden. Die Lebensbedingungen der Jüdinnen und Juden sind in dem Land, einem der Mutterländer der Rassenbiologie, nie einfach gewesen. Eine „florierende antisemitische Untervegetation“17 hat es in ihm wohl immer gegeben. Noch 1951 (!) ist es ihnen gesetzlich untersagt, ein politisches Amt zu bekleiden. Der Prozess der schwedischen Identitätsbildung im 19. Jahrhundert ging mit Judenfeindschaft einher. Die Svenska Antisemitiska Föreningen, der auch Hermann Göring angehörte, entfaltete in den 1920er Jahren ihre größte Aktivität. Die jüdische Gemeinde in Schweden umfasste zu dem Zeitpunkt 7000 Personen. Im Ausländergesetz von 1927 wird die „Reinheit der nordischen Rasse“ zur Leitlinie der schwedischen Einwanderungspolitik erklärt. Es wird 1937 zwar dahingehend novelliert, dass „rassisch Verfolgte“ als politische Flüchtlinge anzuerkennen seien, aber Gesetzestext und Gesetzeswirklichkeit stimmten nicht überein. Aufgenommene Juden, die nach Arbeit suchten, „wurden mit der Praxis der freiwilligen Unterwerfung unter die Arisierungsideologie der Nationalsozialisten konfrontiert.“18 Lieferverträge mit jüdischen Firmen werden gekündigt, innerschwedische Geschäftsrivalen als jüdisch dominiert und als „antideutsch“ bezeichnet. Schweden ist über die 1933 einsetzende Judenverfolgung von Anfang an im vollen Umfang informiert gewesen und hat als „Bystander“ des Holocaust wenig dagegen getan. Jüdischen Exilanten aus Deutschland und Österreich wird der Status als politisch Verfolgter gezielt verweigert, stattdessen werden sie unter der Rubrik „sonstige Flüchtlinge“ 16 Radowitz, Schweden und das „Dritte Reich“, a. a. O., S. 592 f.; vgl. auch: Charlotte Brylla, Von realen und irrealen Handlungsspielräumen. Die Bedeutung kollektiver Wahrnehmungsmuster in den deutsch-schwedischen Beziehungen des Zweiten Weltkriegs, in: Matthias Hannemann et al. (Hg.), Im Spannungsfeld. Affinitäten, Abgrenzungen und Arrangements in den deutsch-schwedischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts, Greifswald 2008, S. 59–80. 17 Lorenz, Die Deportation der norwegischen Juden, a. a. O., S. 107. 18 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 127 f.; vgl. auch Gerhard Fischer, Der Mythos von Schwedens Unschuld, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 17.8.2002, S. 46.
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geführt, die kein permanentes Aufenthaltsrecht haben. Just in dem Moment, in dem man zur Kennzeichnung und Erfassung dieser Gruppe das Einstempeln eines roten „J“ in den Pass von den deutschen Behörden verlangen will, prescht die Schweiz 1938 mit dem gleichen Anliegen vor, und Schweden beruft sich schnell auf das „schweiziska förebilden“19. Auf dieser Grundlage konnten Menschen, die ausschließlich aus „rassischen“ Gründen um Asyl nachsuchten, aussortiert und zurückgeschickt werden. Bereits ab 1935 galt in Schweden das antisemitische „Blutschutzgesetz“ des Deutschen Reiches, das „Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ verbot. Insgesamt haben in dem großen skandinavischen Land nur 2000 Juden Zuflucht gefunden, kaum mehr als in Luxemburg. Die 370 Seiten umfassende Studie von Ole Kristian Grimnes über das norwegische Exil in Schweden enthält über die Flucht von Juden nur einen einzigen Satz: „Übrigens kamen im Herbst 1942 auch Juden über die Grenze.“20 Das Wissen vom Holocaust und dessen Verdrängung gehen Hand in Hand. Die schwedische Reichregierung weiß seit dem Herbst 1941 von der Vernichtungspolitik. Ein Jahr später ist auch die gesamte Öffentlichkeit informiert. Das viel gelesene Göteborger „Handels- und Seefahrtsblatt“ bringt auf der ersten Seite einen Artikel mit der Überschrift „Der Ausrottungskrieg gegen die Juden“, man schreibt den 1. Oktober 1942. Wenige Wochen zuvor hatte der Diplomat Göran von Otter im Nachtzug Warschau–Berlin den SS-Obersturmführer Kurt Gerstein getroffen, eine der zwielichtigsten Figuren des Nationalsozialismus, der für die Lieferung von Zyklon B in die Vernichtungslager zuständig war. Nach allen verlässlichen Quellen hat Gerstein dem Diplomaten den Horror des Holocaust in der Hoffnung enthüllt, dass diese Nachricht in die deutsche und schwedische Öffentlichkeit gelangt. Wörtlich schreibt von Otter, bezogen auf die Vernichtungslager Belzec und Treblinka: „Er (Gerstein) schilderte den gesamten Vorgang des Vergasens und gab mir sämtliche Details, die ich zu Überprüfungszwecken von ihm verlangte: Über die Transportumstände, den technischen Ablauf, die Reaktion der Opfer, des SS-Wachpersonals und der ausführenden ukrainischen Zwangsarbeiter, die Behandlung der Opfer vor und nach der Exekution, die Verwertung von Schmuck, Zähnen, verstecktem Geld, die Entsorgung der Leichen usw.“21 Wann diese Informationen das Kabinett Hansson erreichten, weiß man nicht, aber sie haben es erreicht, wie aus vergleichbaren Berichten des in Stettin tätigen Kon19 S. Thomas Maissen, Vom Umgang mit Deutschland – und mit der eigenen Geschichte. Aspekte eines Vergleichs zwischen Schweden und der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs, in: Irène Lindgren und Renate Walder (Hg.), Schweden, die Schweiz und der Zweite Weltkrieg, Frankfurt am Main et al. 2001, S. 11–32, hier: S. 26. 20 Zit. nach Lorenz, Die Deportation der norwegischen Juden, a. a. O., S. 106. 21 Zit. nach Peder Bjursten, Schwedens Goldkäufe von der deutschen Reichsbank. Parallelen zwischen Schweden und der Schweiz, in: Lindgren und Walder (Hg.), Schweden, die Schweiz und der Zweite Weltkrieg, a. a. O., S. 114–132; hier: S. 128 f.
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sularbeamten Karl Yngve Vendel bekannt ist, der über Kontakte in den innersten Kreis des deutschen militärischen Widerstands verfügte. Von Otter hatte sogar die schwedische Botschaft in Berlin gebeten, die von Gerstein erfahrenen Horrormeldungen als Flugblatt massenhaft über Deutschland abzuwerfen, aber nichts geschah. Damit nicht genug, auch nach dem Bekanntwerden der Deportationen aus Norwegen und Dänemark gab es in Stockholm noch starke Vorbehalte gegen Juden, die sich nach Schweden retten wollten. Wann und weshalb sich diese Haltung, insbesondere bei dem für die Auswanderung zuständigen Staatssekretär im Außenministerium Gösta Engzell, wandelte, ist seitdem Gegenstand heftiger Forschungskontroversen, in deren Zentrum die Rettungsaktionen von Folke Graf Bernadotte und Raoul Wallenberg stehen. Saul Friedländer formuliert sibyllinisch: „Ob die Kehrtwendung Schwedens durch humanitäre Empfindungen veranlasst war oder durch eine prosaischere Einschätzung des Kriegsverlaufs, ist eine offene Frage.“22 Auf jeden Fall war sie nicht frei von politischem Kalkül und passte gut in das lange Zeit ungetrübte, moralisch reine Nachkriegsgewissen. Wallenberg hat als Botschaftsattaché in Budapest und als inoffizieller Repräsentant des War Refugee Board der amerikanischen Regierung durch das Ausstellen von Schutzpässen für angebliche Immigranten nach Schweden vom Juli 1944 an Zehntausende Juden gerettet. Dabei hat er Dutzende deutsche Beamte bestochen und Himmlers Hoffnung, über Schweden Verhandlungen mit den Westmächten einleiten zu können, geschickt bei der SS ins Spiel gebracht. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ungarn wird er verhaftet und ist nach sowjetischen Angaben am 17. Juli 1947 in einem sowjetischen Gefängnis an einem Herzinfarkt gestorben. Beweise hierfür gibt es nicht. Nach anderen Versionen ist er als angeblicher amerikanischer Spion auf Weisung Stalins erschossen worden. Die schwedische Regierung, die für den Verhafteten genauso wenig wie sein eigener mächtiger Familienclan auch nur einen Finger rührte, ließ noch 2012 Recherchen zur Klärung seines Schicksals anstellen. Graf Bernadotte war Vizepräsident des schwedischen Roten Kreuzes und nutzte diese Position, um in der Aktion „Weiße Busse“ vom März 1945 an 17.000 hauptsächlich skandinavische Häftlinge deutscher Konzentrationslager und Gefängnisse, unter ihnen mehrere Tausend Juden, nach Schweden transportieren zu lassen, mit eigenem Personal und dänischer Hilfe. Auch hier spielten Himmlers Hoffnungen eine Rolle, weshalb der britische Historiker Hugh Trevor-Roper in dem Unternehmen den gezielten Versuch sah, Schwedens fragwürdiges Verhalten gegenüber dem Dritten Reich in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Angeblich sei die Rettung erst durch die Neutralitätspolitik ermöglicht worden.23 Problematisch war und blieb, dass wegen der Einrichtung des gesonderten „Skandinavierlagers“ im KZ Neuengamme andere Häft22 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, a. a. O., S. 477. 23 Vgl. Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 130; Claudia Lenz, Vom Heldentum zum moralischen Dilemma. Die „weißen Busse“ und ihre Deutungen nach 1945, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Hilfe oder Handel?, S. 68–80; Jens-Christian Hansen,
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linge weichen mussten, was für diese den sicheren Tod bedeutete. Auch ihr Gefährt waren die „weißen Busse“. Aber diese Aspekte wurden später wenig beachtet. Stattdessen diente die massive Konzentration der kollektiven Erinnerung auf Wallenberg und Bernadotte faktisch der Verschleierung eigener Versäumnisse. Schwedens große Wende im Jahr 1943 ist nicht autonom, aus sich heraus, sondern auf Druck der Alliierten erfolgt „und strapazierte ein weiteres Mal die Neutralitätsdoktrin.“24 Das Land muss sogar von Washington und London dazu angehalten werden, sich schärfer gegen den NS-Judenmord zu positionieren. Die Hilfsaktion für die 8000 über den Öresund geretteten dänischen Juden ist auch in diesem Licht zu sehen. Zwar dürfen seit dem 5. August 1943 keine deutschen Truppentransporte mehr über schwedisches Territorium führen, aber Hanssons Politik bleibt bis zum Schluss zwielichtig und letztlich nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Man versucht sogar, die Handelsbeziehungen und den Güteraustausch mit dem Reich auf dem bisherigen Niveau fortzuführen. Die schwedischen Versorgungsinteressen werden „über jeden Beitrag zu einem alliierten Sieg gestellt“, mehr noch, die Sammlungsregierung war bis kurz vor Kriegsende nicht bereit, für die Opfer des Nationalsozialismus oder die Interessen der Nachbarländer „ein substantielles Risiko“ einzugehen oder „einen Beitrag zur Niederlage des Nationalsozialismus zu leisten, der schwedische Interessen tangierte“25. Letztere gingen einfach vor. Nach einschlägigen Untersuchungen hat der Krieg den behaglichen schwedischen Alltag weder mental noch materiell sonderlich beeinträchtigt.26 Zwar dürfen 90.000 Flüchtlinge aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten ins Land kommen, aber nicht alle dürfen bleiben. Auf Verlangen der Sowjetunion, der neuen Hegemonialmacht im mare balticum, werden 3000 Wehrmachtssoldaten, 2250 Rotarmisten und 200 Esten, Letten und Litauer in deutscher Uniform zum Teil mit Polizeigewalt zurückbefördert. Die Balten versuchten durch Selbstverstümmelung ein Bleiberecht zu erzwingen, andere nahmen sich das Leben. Per Olov Enquist hat 1968 darüber seinen viel diskutierten Tatsachenroman „Legionärerna“ geschrieben, als Eingeständnis nationaler Schande! Schweden ist am Ende des Krieges, als weite Teile Europas in Schutt und Asche liegen, durch seine Exporte nach Deutschland weltweit eine der reichsten Industrienationen. Per Albin Hansson, der am 10. Oktober 1946 stirbt, ist am Ziel. Nur mit seinem Skandinavien in der Zeit des Nationalsozialismus und die „Aktion Bernadotte“, in: „Grenzfriedenshefte“, Nr. 3/2010, S. 195–202. 24 Max Liljefors und Ulf Zander, Der Zweite Weltkrieg und die schwedische Utopie, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 2, S. 569–591, hier. S. 574. 25 Radowitz, Schweden und das „Dritte Reich“, a. a. O., S. 585, 587 und 593; ein Beispiel: Peter Fritz, „Camp der falschen Hoffnung“ – Zur Auslieferung von Österreichern aus dem neutralen Schweden in sowjetische Kriegsgefangenschaft 1945/1946; in: Siegfried Mattl, Gerhard Botz, Stefan Karner und Helmut Konrad (Hg.), Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft, Wien, Köln und Weimar 2009, S. 247–268. 26 Vgl. Liljfors und Zander, Der Zweite Weltkrieg und die schwedische Utopie, a. a. O., S. 570.
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Versuch, unmittelbar nach dem 8. Mai 1945 „die Neutralität forsch zu Schwedens ureigener Form des Widerstands gegen die Nationalsozialisten umzudeuten“27, konnte er sich nicht durchsetzen, war dies doch sogar den eigenen Landsleuten zu viel der Wahrheitsverdrehung. Dafür aber ist die Abkehr von Deutschland, mit dem man seit der Frühen Neuzeit engste kulturelle, wirtschaftliche und militärische Beziehungen gepflegt hatte, total. Der Verdrängungsprozess beginnt. Staatlich gelenkte Geschichtsschreibung tritt an die Stelle von Aufarbeitung. Heikle Akten verschwinden aus den Archiven, die Vergangenheit wird „kaltschnäuzig (…) geschönt und zurechtgebogen“28. Parlamentarische Untersuchungskommissionen und ministerielle Weißbücher dienen im Wesentlichen der Selbstrechtfertigung. Noch auf Jahrzehnte galt der Grundsatz: „Verdunkeln und Vertuschen – das ist das übliche Muster, nach dem die Schweden alles von ihrem Selbstbild abspalten, das nicht zur heilen Oberfläche der ‚Bullerbü‘-Gesellschaft passt.“29 Eine „Säuberung“ von Sympathisanten und Kollaborateuren des nationalsozialistischen Deutschland hat es in Schweden nicht gegeben. Auch das von den Sozialdemokraten seit den späten 1950er Jahren mit hohem moralischem und ethischem Anspruch propagierte Ideal, das erneut bündnisfreie Schweden als die globale Kontrollmacht der Menschenrechte, ja geradezu als „Weltgewissen“ zu etablieren, diente auch im Urteil einheimischer Historiker der „Überkompensation eigener Schuldkomplexe bezüglich des Zweiten Weltkriegs.“30 Überaus enthüllend in diesem Zusammenhang wirkte hier das Zusammentreffen der deutschen und schwedischen Nationalelf im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft in Göteborg 1958, in dem professionelle Einpeitscher mit Heja-Rufen im ganzen Stadion einen regelrechten Deutschenhass forcierten, den es von 1939 bis 1945 nicht gegeben hatte. Inzwischen ist in einschlägigen Fachstudien nachgewiesen, dass auch die Neutralität in der Ära des Kalten Krieges letztlich keine solche war, weil sie mit einer massiven Aufrüstung zur führenden nordischen Militärmacht und mit einer faktischen Nato-Kooperation parallel lief. 1991 veröffentlicht die Journalistin Maria-Pia Boëthius ihr Buch „Heder och Samvete. Sverige och andra världskriget“ – „Ehre und Gewissen. Schweden und der Zweite 27 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 106. 28 Wolfgang Matl, Wahrheit, die schmerzt. Schweden lernt, wie gut es als neutrales Land im Zweiten Weltkrieg am Geschäft mit den Nazis verdient hat, in: „Die Zeit“, Nr. 45 vom 31.10.1997, S. 11; vgl. auch Helle Bjerg, Claudia Lenz und Erik Thorstensen (Hg.), Historicizing the Uses of Past Scandinavian Perspectives on History Culture, Historical Consciousness and Didactics of History Related to World War II, Bielefeld 2011; Claus Wohlert, Von der Co-Operation zur Kollaboration – Schwedens Wirtschaftsweg ins NS-Rondell, in: Robert Bohn, Jürgen Elvert, Hain Rebas und Michael Salewski (Hg.), Neutralität und totalitäre Aggression. Nordeuropa und die Großmächte im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1991, S. 302–309; Lindgren und Walder (Hg.), Schweden, die Schweiz und der Zweite Weltkrieg, a. a. O. 29 Agnes Bührig und Alexander Budde, Schweden. Eine Nachbarschaftskunde, Berlin 2007, S. 175. 30 Vgl. Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 104.
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Weltkrieg“. Es ist der Abschied vom Mythos der makellosen Vergangenheit. Sie hebt an: Dieses ist ein Buch für die Nachkriegsgeborenen; eine Anklageschrift, ein Sündenregister und ein Debattenbuch. Die Nachkriegsgenerationen in Schweden wissen augenscheinlich wenig um Schweden und den Zweiten Weltkrieg. Das kann ein Teil unserer allgemeinen Geschichtslosigkeit sein, das kann (aber auch) eine Konspiration des Schweigens sein. Schwedens Rolle im Zweiten Weltkrieg war keine ehrenvolle.31
Sie räumt mit der Formel vom „Kleinstaatsrealismus“ auf, demaskiert die „Wendehalspolitik“ von 1943 und spricht ihrem Land jedwede Neutralität ab: Wir hatten faktisch eine Regierung, welche während des gesamten Krieges nie öffentlich Abstand von den Verbrechen der Nationalsozialisten nahm. (…) Wir setzten die Zugeständnisse auch dann fort, als keine Gefahr für einen Krieg mehr vorlag und wir aufgerüstet hatten. (…) Deutsche Panzer wärmten unsere Heime, da wir im Austausch gegen Eisenerz Kohle und Koks bekamen. (…) Wir trugen aktiv zu Kriegsanstrengungen bei, deren letztes Ziel der eigene Untergang war. Anstatt für Demokratie und Freiheit einzutreten, bereiteten wir uns lieber auf ein Leben als Vasallenstaat eines der schlimmsten Regime vor, die den Erdball jemals heimgesucht haben.32
Da in der Stockholmer Tageszeitung „Dagens Nyheter“ nun laufend Untersuchungen erschienen, nach denen in den 1930er und 1940er Jahren immer größere Kreise „eine profunde geistige Affinität“33 zum Nationalsozialismus, zu seiner „Großraumpolitik und zur „nordischen Rasse“ entwickelt hatten, und der Amerikaner Stuart Eizenstat 1997 im Zusammenhang mit der „Raubgold-Diskussion“ bilanzierte, dass Schweden gewinnbringend mit dem Dritten Reich kooperiert und damit entscheidend zur Verlängerung des Zweiten Weltkriegs beigetragen habe, stand bald das ganze Land unter Schock, und die Regierung Persson musste handeln. Der Sozialdemokrat initiiert das Projekt „Levande historia“ – „Lebendige Geschichte“ und beauftragt eine Untersuchungskommission mit der Erforschung der eigenen Vergangenheit. Sie kommt in ihrem 1999 vorgelegten Abschlussbericht „Statens Offentliga Utredningar“ zu keinem eindeutigen Urteil, in etlichen Abschnitten wird Hanssons Allparteienkabinett nach wie vor in Schutz genommen. Als Ergebnis von „Levande historia“ legen die Historiker Stéphane Bruchfeld und Paul Levine 1998 das Buch „Erzählt es euren Kindern“ vor, das 31 Maria-Pia Boëthius, Heder och Samvete. Sverige och andra världskriget, Stockholm 1991, vollst. überarb. Neuausg.: Stockholm 1999, S. 9, dt. Übersetzung nach Notzke, Die schwedische Neutralitätspolitik, a. a. O., S. 58. 32 Boëthius, S. 225, 166, 126 und 18; dt. Übersetzung nach Notzke, Die schwedische Neutralitätspolitik, a. a. O., S. 66 ff. 33 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 108; vgl. auch Patrick Vonderau, Schweden und das nationalsozialistische Deutschland, Stockholm 2003.
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kostenlos an alle schwedischen Haushalte verteilt (!), zwei Jahre später ins Deutsche übersetzt und über die Landeszentralen für politische Bildung auch dort flächendeckend ausgegeben wird.34 Über Sinn, Zweck und Ziel dieser volkspädagogischen Maßnahme gingen die Meinungen auseinander. In ihr wird kindgerecht über den Holocaust informiert, aber zu der gerade auf dem Hintergrund seines Entstehungszeitraums brisanten Frage nach der direkten oder indirekten schwedischen Begünstigung von NS-Verbrechen steht in dem Buch kein einziges Wort. Deshalb hat man zu Recht gemutmaßt, dass Persson mit ihm einer moralischen Verurteilung durch das Ausland zuvorkommen wollte.35 Genau dieser Zielsetzung dürfte auch sein mit Abstand ambitioniertestes Projekt, die Einberufung einer internationalen Holocaust-Konferenz vom 26. bis 28. Januar 2000 in Stockholm, gegolten haben. Sie diente dem Versuch, „nicht in negativem Zusammenhang mit dem Holocaust genannt zu werden“ und gleichzeitig den „langjährigen schwedischen Führungsanspruch bei der Realisierung einer normativen Außenpolitik zu erneuern.“36 Konkret: Die traditionelle Rolle Schwedens als moralische Großmacht und Weltgewissen durfte durch die lästige Diskussion über die eigenen Vergehen nicht bedroht werden. Ob die Rechnung aufgegangen ist, steht dahin. Die faktische Kollaboration mit Hitlerdeutschland ist nach wie vor Tabuthema. In der behördlichen Geheimhaltungskultur des folkhemmet wird immer noch verschleiert und verschwiegen. Nur das Bild von der über Jahrhunderte Identität stiftenden heiligen Kuh namens „Neutralität“ schwankt, 34 Stéphane Bruchfeld und Paul A. Levine, Om detta må ni berätta, Stockholm 1998; dt. Ausgabe: Robert Bohn und Uwe Danker, Erzählt es euren Kindern, München 2000. 35 So Jens Kroh, Die Transnationalisierung der Holocaust-Erinnerung. Vom Medienereignis zur Geschichtspolitik, phil. Diss., Gießen 2006, S. 76 ff. und 217; Alexander Muschik, Schweden und das „Dritte Reich“. Die Geschichte einer späten Aufarbeitung, in: Bohn, Cornelißen und Lammers (Hg.), Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs, a. a. O., S. 57–66, hier: S. 63 ff.; Rolf Hugoson, History and Memory in Support of Neutrality: The Case of Sweden, in: Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 201–224; Klas-Göran Karlsson, The Holocaust, Communist Terror and the Activation of Swedish Historical Culture, in: Oliver Rathkolb und Imbi Sooman (Hg.), Geschichtspolitik im erweiterten Ostseeraum und ihre aktuellen Symptome – Historical Memory Culture in the Enlarged Baltic Sea Region and its Symptoms Today, Göttingen 2011, S. 195–212; Jonas Hansson, Sweden and Nazism, in: Stig Ekman und Klas Åmark (Hg.), Sweden’s Relations with Nazism, Nazi Germany and the Holocaust: A Survey of Research, Stockholm 2003, S. 137–196; Swante Nordin, Das Verhältnis Schwedens zum nationalsozialistischen Deutschland: Gedanken zur Notwendigkeit einer innen- und außenpolitischen Kontextualisierung, in: „Nordeuropa-Forum“, Nr. 1/2001, S. 47–54. 36 Kroh, Die Transnationalisierung der Holocaust-Erinnerung, a. a. O., S. 96 f. und 177; Jasper von Altenbockum, „Lebende Geschichte“: Warum Schweden mit großem Aufwand eine internationale „Holocaust-Konferenz“ veranstaltet, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 19.1.2000, S. 7; Hannes Gamillscheg, Nicht nur Wallenberg und die weißen Busse: Schweden versucht mit einer Holocaust-Konferenz, sein schlechtes Gewissen aus der Nazi-Zeit zu erleichtern, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 25.1.2000, S. 18.
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nachdem publik wurde, was sich von 1933 bis 1945 unter ihrem Deckmantel ins Werk gesetzt sah. Weil sie „immer stärker als ein Schandfleck der schwedischen Geschichte“37 empfunden wurde, fiel es auch leichter, sie im Zuge des Beitritts zur EU und nach dem Zusammensinken der Türme des New Yorker World Trade Centers heimlich, still und leise zu Grabe zu tragen.38 Persson hatte am Beginn „seiner“ Konferenz noch mutig erklärt: „Die moralische und politische Verantwortung für das, was von schwedischer Seite während der Kriegsjahre geschah und nicht geschah, werden wir stets zu tragen haben.“39 Davon ist bislang noch nicht allzu viel zu merken. Der Prozess hat – wenn überhaupt – gerade erst begonnen. Susanne Kärgel beschreibt, mit welcher Anklage er enden wird: „Schweden hat ganz klar den Weg des geringsten Widerstandes gewählt, um unbeschadet aus dem Zweiten Weltkrieg herauszukommen, nun muss es sich aber auch gefallen lassen, dass es als ‚Mittäter‘ von der Weltöffentlichkeit gebrandmarkt wird.“40
37 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 113; ähnlich: Stig Ekman, Schweden, Deutschland und der Holocaust: Historiographische Anmerkungen zur Außenpolitik der schwedischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges, in: „Nordeuropa-Forum“, Nr. 1/2001; S. 5–26. 38 Daniel Hundmaier, Das Ende einer außenpolitischen Doktrin. Die Abkehr Schwedens von der Neutralität, Berlin 1999. 39 Zit. nach Gamillscheg, Nicht nur Wallenberg und die weißen Busse, a. a. O.; vgl. Claus Bryld, Sweden’s Politics of History and the Holocaust, in: Blaive, Gerbel und Lindenberger (Hg.), Clashes in European Memory, a. a. O., S. 131–140. 40 Susanne Kärgel, Eine Frage der Neutralität? Deutsch-schwedische Beziehungen im Zweiten Weltkrieg, Marburg 2008, S. 102.
Finnland Als Folge des Großen Nordischen Krieges von 1700 bis 1721 musste Schweden zunächst den Westen, später auch den Osten Finnlands an Russland abtreten. 1809 wurde Finnland russisches Großfürstentum, behielt aus der Schwedenzeit aber die Verfassung, Gesetze und Verwaltung. 1880 begann der Zar eine massive Russifizierungspolitik und löste 1901 das finnische Heer auf. Statt des Schwedischen sollte Russisch Amtsund Unterrichtsprache werden, die Finnen lehnten beides ab. Ihrem erwachenden Nationalbewusstsein kam die verheerende russische Niederlage im Krieg gegen Japan 1905 zu Hilfe. Das geschwächte St. Petersburg musste zusehen, wie in Helsinki der alte Vier-Stände-Landtag durch die Eduskunta, ein frei gewähltes Parlament, ersetzt und erstmalig in Europa den Frauen das Wahlrecht gewährt wurde. Hierdurch ermutigt, nutzte man die Oktoberrevolution als nächste Phase der Labilität und des Umbruchs, um am 6. Dezember 1917 die Unabhängigkeit auszurufen, die Lenin zur Überraschung der Finnen noch im selben Monat anerkannte. Auch im Land der tausend Seen brach anschließend ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Weißen und Roten aus, die einen unterstützt von den Bolschewiki, die anderen vom deutschen Kaiserreich, mit dem eine intensive „Waffenbrüderschaft“ bestand. Die Wiege der finnischen Armee liegt im holsteinischen Lockstedt, dem heutigen Hohenlockstedt, vor den Toren Hamburgs, wo unter strengster Geheimhaltung, als „Pfadfinder-Feldmeister-Schulung“ getarnt, gleichwohl aber als Teil des Königlich Preußischen Jägerbataillons 27, von 1915 bis 1918 fast 2000 Freiwillige ausgebildet werden, aus denen fünfzig Generäle hervorgehen. Schweden und Dänemark hatten den Ausbildungswunsch abschlägig beschieden. Bereits ab 1916 kämpft das finnische Bataillon aufseiten der Reichswehr in Riga, es bildet den Grundstein der Soldaten der „Weißen“, und noch bis 1959 hat jeder militärische Oberbefehlshaber Finnlands das „Lager Lockstedt“ durchlaufen. Und auch eine andere Verwandtschaft kündigt sich an: Auf den Tragflächen der Flugzeuge der „weißen“ Luftwaffe prangt – blau auf weißem Grund – das Hakenkreuz. Das von der Ostfront zurückkehrende Bataillon wird am 25. Februar 1918 von dem Mann begrüßt, der wie kein Zweiter für die Freiheit und Unabhängigkeit Finnlands stand, obwohl er dessen Sprache zeit seines Lebens nur bruchstückhaft beherrschte: Carl Gustaf Emil Freiherr von Mannerheim. Mannerheim wird am 4. Juni 1867 als Sohn einer finnlandschwedischen Familie geboren. Er erhält den militärischen Drill in St. Petersburg, gehört zur Leibwache des Zaren und heiratet die Russin Anastasia Arapowa. Er spricht fließend Schwedisch und Russisch und fühlt sich beiden Kulturen näher als der Finnlands. Als nach der Oktoberrevolution im Umfeld des Zaren kein Platz mehr für ihn ist, kehrt er deshalb in ein Land zurück, das ihm weitestgehend fremd ist, dessen Armee er aber als einziger amtierender General aufbauen soll. Der Kommandierende der „Weißen“ obsiegt, von deutschen Verbänden unter-
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stützt, im Mai 1918, kandidiert ein Jahr später in den Präsidentschaftswahlen, unterliegt dem Liberalen Kaarlo Juho Ståhlberg und zieht sich bis 1933 ins Privatleben zurück. Als Monarchist konnte er sich mit der parlamentarischen Demokratie nur schwer anfreunden, und fast noch mehr missfiel ihm die prodeutsche Politik der finnischen Regierung. Aus den ersten Wahlen zur Eduskunta am 5. März 1919 gingen die Sozialdemokraten als stärkste Fraktion hervor. Sie sind auch die treibende Kraft hinter dem Friedensschluss von Tartu mit der werdenden Sowjetunion, in dem 1920 die Grenzen Ostkareliens zwischen Onegasee, Ladogasee und Weißem Meer fixiert werden. Die an einem „Großfinnland“ festhaltende politische Rechte spricht von einem „Schandfrieden“, weil in der 1923 formierten Karelischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik derjenige Teil der Bevölkerung auf Helsinki orientiert bleibt, der nie schwedischer Herrschaft unterworfen und deshalb als die eigentlichen, „ursprünglichen“ Finnen verstanden wird. Den Bolschewiki die Hand gereicht zu haben, sei nationaler Verrat. Die politischen Lager waren so zerstritten, dass die „Roten“ und „Weißen“ auch nach dem Bürgerkrieg bewaffnet blieben, die Rechten bildeten eine eigene Zivilgarde und die Frauenorganisation Lotta Svärd, die größte studentische Vereinigung des Landes, nannte sich in rassistischem Russenhass nicht zufällig Akademische Karelien-Gesellschaft. Im November 1929 lösen Einwohner der westfinnischen Gemeinde Lapua gewaltsam eine kommunistische Versammlung auf. Die sich daraus entwickelnde gleichnamige Massenbewegung organisiert am 7. Juli 1930 einen spektakulären Bauernmarsch nach Helsinki, setzt das Verbot aller kommunistischen Aktivitäten durch, forciert 1931 mit Erfolg die Wahl des Nationalisten Svinhufvud zum Präsidenten und verlangt die Auflösung der sozialdemokratischen Partei. Es ist das erste Mal, dass der Rechtsextremismus in Finnland seine Zähne zeigt. Als die Lapua-Bewegung 1932 in Mäntsälä offen gegen eine Kundgebung von den Sozialdemokraten vorgeht, wird sie ihrerseits verbotenen, aber umgehend konstituiert sich aus ihren Mitliedern die Isänmaallinen kansanliike (IKL), die „Vaterländische Volksbewegung“. Mit den von ihr präsentierten Uniformen, Ritualen, Emblemen, Symbolen, Kulten und Mythen wirkt sie wie eine Imitation der NSDAP bzw. des Mussolini-Faschismus, sie bleibt aber marginal. Die bei den Wahlen von 1936 erzielten 8,3 Prozent sind der einsame Rekord einer faschistischen Partei in Skandinavien überhaupt, durch den Verbotsversuch von Innenminister Kekkonen 1938 wurde sie eher noch über Gebühr aufgewertet. Insgesamt setzt sie, ähnlich wie ihre Vorgängerin, sowieso auf außerparlamentarische Aktion, Militanz, Gewalt und den bedingungslosen Anschluss Ostkareliens, gewinnt aber keinen nennenswerten Einfluss. Auf der Straße fehlt ihr die Führungspersönlichkeit, und ins Parlament wählen die Bauern auch weiterhin die Konservativen. Die IKL stellte nur einmal, von 1941 bis 1943, den Verkehrsminister. Trotzdem galt Finnland in der außenpolitischen (Fehl-)Wahrnehmung der 1930er Jahre als „profaschistischer Staat mit demokratischem Deckmäntelchen“1. So ging Stalin fest von der Einbezie1
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hung des Nordstaates in die deutschen Angriffspläne aus. Vor allem, um Leningrad zu schützten, das nur dreißig Kilometer von der Grenze entfernt lag, schlug er deshalb territoriale Austauschgeschäfte im Zusammenhang mit der Karelischen Sowjetrepublik vor, aber die Regierung in Helsinki verwies auf ihre Neutralität und lehnte ab. Am 30. November 1939 griff die Rote Armee ohne jede Kriegserklärung an, so wie Hitler zuvor Polen überfallen hatte. Helsinki wurde bereits am ersten Tag bombardiert, so wie Warschau am 1. September 1939. Insgesamt rechnete Stalin mit einem „Spaziergang“ von zehn bis zwölf Tagen, und ob es wirklich nur um Karelien ging, kann in Frage gestellt werden. Der finnisch-russische Winterkrieg wurde, auch wenn Moskau ihn nach nie exakt bezifferten Verlusten schließlich für sich entscheiden konnte, zur blamablen Katastrophe des Angreifers, dessen Divisionen in den unendlichen Wäldern, Sümpfen und Morasten umkamen. Trotz des Aufschreis der gesamten demokratischen Welt blieb Finnland genauso wie Polen völlig auf sich allein gestellt und musste am 12. März 1940 die karelische Landenge abtreten. Nicht einmal die Schweden rührten eine Hand. Der Sowjetunion, die schon kurz nach dem Angriff aus dem Völkerbund verbannt worden war, blieb als einziger Partner nur noch Deutschland, das ihr Finnland im Geheimen Zusatzprotokoll des Nichtangriffspakts vom 23. August 1939 als Interessenssphäre überlassen hatte. Die neu entstandene, vergrößerte Karelo-Finnische Sowjetrepublik bestand bis 1956. Der Winterkrieg 1939/40 nährte in Helsinki mehr denn je die Hoffnung auf eine Allianz mit dem Deutschen Reich, die jetzt konkrete Gestalt annahm. In Berlin wurden die Studien „Finnlands Lebensraum“ und „Die Ostfrage Finnlands“ erarbeitet, denen zufolge nicht nur ganz Karelien, sondern das ganze Nordwestrussland an Helsinki abzutreten war, die Deutschen durften die Nickelvorkommen bei Petsamo umfangreich ausbeuten, bereits seit 1933 (!) existierte eine geheime Zusammenarbeit zwischen der finnischen Staatspolizei Valpo und der Gestapo mit einem gemeinsamen Sondereinsatzkommando2, und im April 1941 beginnt die Anwerbung von Freiwilligen für die Waffen-SS, mit dem Segen von Staatspräsident Risto Ryti. Ryti, Mitglied der Freisinnigen Partei, war während des Winterkrieges an die Spitze einer Allparteienregierung getreten. Er gestattete die Stationierung von 100.000 deutschen Soldaten, bestand aber auf dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Die finnische Demokratie blieb als einzige im deutschen Machtbereich unangetastet, und faschistische Gruppierungen erfuhren keinerlei Förderung. Andererseits war Rytis Bolschewistenhass so groß, dass er nach einem gewonnenen Krieg an seiner Ostgrenze lieber Deutsche als Russen zu Nachbarn gehabt hätte. Nicht nur derartigen Träumen ist wohl geschuldet, wie er mit der Nachricht von der Operation „Barbarossa“ umging, dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, der auf seinem Terrain von Lappland aus begann. Als er hiervon vertrau2 Oula Silvennoinen, Geheime Waffenbrüderschaft. Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Finnland und Deutschland 1993–1944, Darmstadt 2010.
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lich und vorab informiert worden war, ließ er dem OKW den Wunsch übermitteln, vor dem Start eigener Aktivitäten ein paar Tage in (Schein-)Neutralität verharren zu dürfen. Wenn die sowjetische Luftwaffe dann, wie zu erwarten, finnische Städte bombardiere, könne man nach außen den Anschein erwecken, wie Treibholz in einer Flussströmung in einen (Verteidigungs-)Krieg hineingerissen worden zu sein. Genau dies geschah und wurde später zu einer der raffiniertesten Exkulpationsstrategien auf dem gesamten Kontinent. Am 25. Juni nahm Finnland die Kampfhandlungen auf, und zwar – einmalig in Europa – mit Billigung der Sozialdemokraten. Nach dem Beginn von „Barbarossa“ ging Ryti kein Militärbündnis mit Deutschland ein, sondern führte als dessen „Waffenbruder“ einen eigenen Parallel- bzw. „Fortsetzungskrieg“ zur Rückgewinnung“ der 1939/40 verlorenen Gebiete. Die finnische übernahm als einzige der mit dem Reich kollaborierenden Armeen einen Frontabschnitt in völliger Selbstverantwortung, sechshundert lange Kilometer in Karelien. Offiziell hatte sie mit Hitlers Rassenvernichtungsfeldzug nichts zu tun, in ihren Reihen dienten auch jüdische Soldaten, aber trotzdem trat Finnland im November 1941 dem Antikominternpakt bei und besetzte als „gleichzeitig kriegführender Staat“ auch karelische Gebiete, die nie zu Finnland gehört hatten. Großbritannien erkannte derlei Spitzfindigkeiten nicht an und erklärte Helsinki am 6. Dezember 1941 den Krieg. Mannerheim, 1933 zum Marschall, dann zum Feldmarschall und 1939 zum Oberbefehlshaber der finnischen Streitkräfte befördert und als solcher bereits Held des Winterkriegs, trug den Spagat-Kurs des „Separatkrieges“ in vollem Umfang mit, obwohl im Süden des Landes auch deutsche Verbände seinem Kommando unterstanden. Die Einladung zum Festbankett anlässlich seines 75. Geburtstages am 9. Juni 1942 in Anwesenheit Adolf Hitlers nahmen auch die Sozialdemokraten aus Rytis Kabinett an. Allerdings widersetzte sich Mannerheim dem Druck des „Führers“, ihm die vollständige Einkesselung Leningrads zu ermöglichen und die amerikanischen Rüstungslieferungen für die UdSSR über die Bahn von Murmansk zu blockieren. Stattdessen verkleinerte er seine Armee von 500.000 auf 150.000 Mann, unterstützte Ryti bei dessen guten Kontakten nach Washington und ließ gemeinsame deutsch-finnische Stabsstellen auflösen, ebenso 1943 das tausend Mann starke Freiwilligenbataillon in der Waffen-SS. Ob er tatsächlich großfinnische Visionen genährt und an Kriegsverbrechen beteiligt bzw. diese hingenommen oder sogar befohlen hat, ist umstritten. In seinem Tagesbefehl vom 10. Juli 1941 erklärt er die „Befreiung“ Ostkareliens für wünschenswert und lässt die Annexion vorbereiten. Auf jeden Fall war der „Fortsetzungskrieg“ nicht sauber. Ins deutsche Todeslager Stalag 309 im lappländischen Salla ließen die Finnen 3.000 sowjetische Kriegsgefangene einliefern, sie stellten dort einen Teil des Wachpersonals und der Erschießungskommandos. So sieht Kollaboration aus.3 Im August 1944, als sein 3 Unter den Ausgelieferten waren auch finnische Kommunisten, Juden, emigrierte deutsche NSGegner und russisch gesonnene Ostkarelier; vgl. Elina Sana, Luovutetut („Die Ausgelieferten“), Helsinki 2003; Antti Laine, Finnland als Okkupationsmacht in Sowjetkarelien und die Kollabo-
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Land längst auf anderem Kurs war, wählten die Finnen Mannerheim als Nachfolger von Ryti zum Staatspräsidenten. Im Protokoll der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 sind mit Blick auf Finnland 2300 zu liquidierende Juden vermerkt. Lange Zeit ging man davon aus, dass kein Einziger von ihnen umgekommen ist, zum Stolz und zur Gewissensberuhigung der Nation. Die acht am 6. November 1942 von der Valpo an die Gestapo ausgelieferten jüdischen Flüchtlinge seien nach den Worten des konservativen Innenministers im Kabinett Ryti, Toivo Horelli, „Saboteure, Spione und Ganoven“ gewesen. Doch die Dinge liegen anders. Tatsächlich hat Finnland keinerlei antisemitische Gesetze erlassen. In einem streng geheimen Regierungsbericht zu Himmlers Helsinki-Besuch vom Juli 1942 heißt es: Himmler fragte, wie es um die Juden im Land bestellt sei. Ich (i. e.: Premierminister Rangell) antwortete ihm, dass es in Finnland rund zweitausend Juden gebe, deren Söhne ebenso in unserer Armee kämpfen wie die aller anderen Finnen und die ebenso respektierte Bürger sind wie alle anderen auch. Ich schloss meine Antwort mit den Worten: „Bei uns gibt es keine Judenfrage“, und ich hatte es deutlich genug ausgedrückt, denn das Gespräch über dieses Thema endete hiermit.4
Als am 5. November 2000 im Zentrum der Hauptstadt ein Denkmal für die acht Ausgelieferten enthüllt wird, stehen jüdische Kriegsveteranen Spalier, mit ihren Orden am Revers. Dreihundert finnische Juden haben als gleichwertige „Waffenbrüder“ am Krieg gegen die Sowjetunion teilgenommen. Jüdische Sanitätsoffiziere pflegten verwundete Soldaten der SS-Division Nord, der jüdische Major Leo Skurnik rettete ein gesamtes deutsches Feldlazarett, jüdische Soldaten errichteten in Ostkarelien ihre Synagoge, wo sie unter den Augen der 136. Wehrmachtsdivision den Sabbat feierten. In der letzten Ausgabe ihrer Zeitung „Front Karolina“ vom September 1944 setzen sie sich mit den inzwischen bekannt gewordenen Gräueltaten der Nazis auseinander, betonen aber, dass „ihre Loyalität gegenüber Finnland (und) das Pflichtgefühl immer siegten (…)“5. Nicht zuletzt Aussagen wie diese haben dazu geführt, dass es in dem Nordstaat bis heute kein echtes Schuldbewusstsein im Hinblick auf den Holocaust gibt. Erst Vertreter
ration der Karelier, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 319– 333. Bernd Wegner, Der Ostseeraum im Zweiten Weltkrieg, in: Jan Hecker-Stampehl und Bernd Henningsen (Hg.), Geschichte, Politik und Kultur im Ostseeraum, Berlin 2012. S. 97–119, hier: S. 111, deckt die Mär vom angeblich unabhängigen „Parallelkrieg“ gegen die Sowjetunion schonungslos auf. 4 Vernehmung Premierminister Rangels am 3. Oktober 1947, Archiv der Staatspolizei, zit. nach Hannu Rautkallio, Politik und Volk – die zwei Seiten Finnlands, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 1, S. 203–226, hier: S. 215. 5 Zit. nach ebd., S. 216.
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einer jüngeren Historikergeneration wie Heikki Ylikangas haben dies – in regierungsoffiziellem Auftrag – problematisiert.6 Nach Stalingrad begannen in Helsinki die Absetzbewegungen von Deutschland, als Schlingerkurs, als doppeltes Spiel und als Täuschungsmanöver. Bemühungen um einen Separatfrieden mit der Sowjetunion auf der Basis der Grenzen vor dem Winterkrieg hatte es schon früh gegeben, aber Stalin ließ sich darauf nicht ein. Ende 1943 erklärte er auf der Konferenz von Teheran seine Bereitschaft, Finnlands Unabhängigkeit zu respektieren, wenn es die Beziehungen zu Berlin aufgibt, die Wehrmacht aus dem Land treibt und die Grenzen von 1940 anerkennt. Am 9. Juni 1944 bricht die Rote Armee nach dreijährigem Stellungskrieg an der karelischen Front durch. Mannerheim muss an der Spree um acht deutsche Divisionen und neue Waffen betteln. Jetzt schickt Hitler Ribbentrop nach Helsinki, der ein „klares, öffentliches Bekenntnis zu Deutschland“ verlangt, mithin den formellen Beistandspakt. Umgekehrt bekundet Stalin, mit den Finnen erst zu verhandeln, wenn sie um Frieden bitten, sprich: kapitulieren. Was tun? Es drohte nicht mehr und nicht weniger als der Einmarsch der Rotarmisten. Ryti gibt Hitler am 28. Juni eine Ehrenerklärung, die nur für seine Person, nicht aber für seinen bereits ausersehenen Nachfolger Mannerheim gilt: Er werde nur im Einvernehmen mit Deutschland aus dem Krieg ausscheiden. Die Sozialdemokraten in der Eduskunta stimmen dieser Erklärung unter dem Einfluss ihres Außenministers Väinö Tanner zu, und der Nachschub aus Berlin kommt. Mit deutschen Jagdbombern und Stukas schlagen die Finnen Stalins Verbände bei Tali-Ihantala in der größten Schlacht der skandinavischen Geschichte zurück. Nun jedoch erkrankt Ryti auf einmal, ein Nachfolger muss her. Berlin ist ratlos. Keitel überbringt Mannerheim, seit dem 8. August Staatspräsident, das Eichenlaub zum Ritterkreuz, doch es hilft alles nichts. Am 2. September geht ein Schreiben des neuen Eichenlaubträgers in der Reichskanzlei ein, dass sich die Wege „wahrscheinlich sehr bald scheiden“; zwei Tage später schweigen die finnischen Waffen an allen Fronten. Der mit Großbritannien und der Sowjetunion in Moskau abgeschlossene Waffenstillstandsvertrag datiert auf den 19. September 1944. Er beinhaltet die Zwangsumsiedlung von 400.000 finnischen Ostkareliern, die Zulassung der kommunistischen Partei, das Verbot von IKL, Lotta Svärd und anderen als faschistisch eingestuften Gruppierungen und die Vertreibung, Internierung oder Auslieferung aller in Finnland stationierten deutschen Truppen binnen zwei Wochen. Was für die einen Täuschung und Verrat bedeutete, war für die anderen ein Wechsel nach Maß. Hitler jedenfalls stand mit leeren Händen da. Der „Waffenbruder“ von gestern führte jetzt Krieg gegen ihn, genauer: musste ihn führen, weshalb von den 200.000 Wehrmachtssoldaten in dem Nordstaat auch nur tausend an Stalin überstellt worden sind. Die 6 Vgl. Jochen Reinert, Helsinki und der Holocaust, in: „Ossietzky-Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft“, Nr. 5/2004, S. 1–16; Gerhard Fischer, Die Ausgelieferten. Das Buch der Sozialwissenschaftlerin Elina Sana zeigt, wie Polizei und Militär Finnlands mit den Nazis kollaboriert haben, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 7.11.2003, S. 84.
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Deutschen hingegen übten grausame Rache. Der riesige, sich nach Norwegen zurückziehende Rest der eigenen Verbände hinterließ in Lappland nichts anderes als „verbrannte Erde“, kein Stein stand mehr auf dem anderen. Der Moskauer Vertrag enthielt auch eine Bestimmung über Kriegsverbrecher. Schon im Oktober 1944 kam der Leningrader KPdSU-Chef Andrej Schdanow nach Helsinki und legte eine Liste mit 61 Personen vor, deren Bestrafung er verlangte. Mannerheim war nicht dabei, man brauchte ihn noch als Integrationsfigur, aber Tanner, der „finnische Quisling“, und vor allem Ryti sollten hart bestraft werden. Folgerichtig erschien am 5. März 1945 in der „Prawda“ ein Artikel, in dem das Nachbarland für einen „Angriffskrieg“ verantwortlich gemacht wurde, von irgendeinem „Treibholz“ war nicht die Rede. Schdanow forderte ein Sondergesetz, dem die Eduskunta und Mannerheim widerwillig zustimmten. Bis zum 21. Februar 1946 werden acht führende Politiker wegen des Transitvertrages mit Deutschland, der Kriegserklärung an die Sowjetunion und des Abkommens mit Ribbentrop vom Sommer 1944 angeklagt. Immer wieder werden Dokumente aus dem parallel laufenden Nürnberger Prozess vorgelegt, mit denen die finnische Kriegsschuld belegt werden soll. Allerdings genossen die Finnen im Vergleich zu Nürnberg ein unschätzbares Privileg: Sie durften mit eigenen Richtern über sich selbst urteilen. Alle acht „Delinquenten“ werden schuldig gesprochen, Ryti erhält zehn Jahre Zuchthaus, die anderen hohe Gefängnisstrafen. Obwohl alle bis 1949 ihre Begnadigung in Händen halten, steht die gesamte Gesellschaft unter Schock.7 Ryti zerbricht an seinem Urteil und stirbt 1956 verbittert. Tanner dagegen kehrt 1951 ins Parlament zurück und übernimmt 1958 den Vorsitz der sozialdemokratischen Partei, fast so, als wäre nichts gewesen. Für nicht wenige ist er sogar ein Märtyrer. Mannerheim tritt noch im Sommer 1946 zurück und stirbt am 27. Januar 1951 schwer krank in einem Schweizer Sanatorium. Bis zum letzten Atemzug hat er jede Form von finnischer Kriegsschuld kategorisch von sich gewiesen. 2004 wählen die Finnen ihn zum wichtigsten Mann ihrer Geschichte, Ryti kommt an zweiter Stelle. Am 10. Februar 1947 musste Finnland im Frieden von Paris endgültig Ostkarelien abtreten, Reparationen in Höhe von 226 Millionen Dollar leisten, die bis 1952 auch tatsächlich gezahlt werden, und sich zu einer „Demokratisierung“ seines politischen Systems verpflichten. Sie war gleichbedeutend mit der „Finnlandisierung“ als Ausrichtung auf die Sowjetunion, böse Zungen sprachen von einer Fernlenkung durch den Kreml. Die Kommunisten, gemäß Stalins Volksfrontstrategie als „Demokratischer Bund des Finnischen Volkes“ angetreten, erreichten bei den ersten Nachkriegswahlen 1945 fast ein Viertel der Stimmen, blieben aber nur drei Jahre in der Regierung. 1948 wurde der bis 1991 gültige Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion abgeschlossen, in dem Moskau eine Neutralität Finnlands nicht anerkannte. Für diese Ostorientierung 7 Klaus Reichel, An Hitlers Seite. Wie Finnland 1941 zum Bundesgenossen Deutschlands wurde – und etliche seiner führenden Politiker sich dafür 1946 vor einem Kriegsverbrechertribunal verantworten mussten, in: „Die Zeit“ vom 2.3.2006, S. 96.
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stand der patriarchalisch-autoritäre Führer der Bauernpartei Urho Kaleva Kekkonen, bereits 1938 Innenminister, 1950 Ministerpräsident und von 1956 bis 1981 Staatspräsident. Der von ihm ausdrücklich erwünschte Nebeneffekt des Vertrages bestand darin, dass über Finnlands Rolle beim Überfall auf die Sowjetunion kein offizielles Wort mehr verloren wurde. Kekkonens Wahlkämpfe sind nachweislich aus Moskau mitfinanziert worden.8 Der erste Russe, der die Neutralität seines Nachbarlandes anerkannte, war Michail Gorbatschow. 1994 entscheiden sich 57 Prozent der Finnen für den zum 1. Januar des Folgejahres vollzogenen Beitritt zur EU. Das Wort „Finnlandisierung“ galt da von Turku bis zum Inarisee längst als Synonym für die Unterwürfigkeit unter ein die Menschenrechte verachtendes System. Ob es in Finnland wirklich jemals eine befriedigende Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit gegeben hat, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden. An ihre Stelle traten Ausblendung, Verdrängung und Opfermythos, beginnend mit der bereits 1948 von Arvi Korhonen präsentierten „Treibholz-These“9. Im Zentrum der Volksheroisierung steht der 1954 in Millionenauflage erschienene Roman „Der unbekannte Soldat“ – „Tuntematon sotilas“ von Väinö Linna. Er wurde 1955 und 1985 verfilmt, in zahllosen Theatern und auf Freilichtbühnen inszeniert und jedes Jahr am Unabhängigkeitstag im Fernsehen gezeigt. Linna beschreibt den (Fortsetzungs-) Krieg als legitimen Abwehr- und Überlebenskampf eines kleinen Volkes, das sich weder gegenüber der Sowjetunion noch gegenüber Deutschland etwas habe zuschulden kommen lassen. Damit traf er die nationale Psyche im Kern, auch wenn die Waffenbrüderschaft mit den Nazis hier und da hinterfragt wird. Die Eindimensionalität in der Selbstwahrnehmung währte lange. Nicht einmal die Besatzung in Sowjetkarelien, 200 Kilometer hinter den eigenen Grenzen, wurde problematisiert, und das „Treibholz“ schwamm munter durch alle finnischen Flüsse und Seen. Fast spöttisch bastelten die Landeshistoriker Mauno Jokipii und Ohto Manninen Ende der 1970er Jahre aus dem Treibholz ein „Stromschnellboot“, das nur flussabwärts fahren und kaum gelenkt werden konnte, das Mannerheim, Ryti und Tanner aber freiwillig als Fahrgäste bestiegen hätten. 1987 hat Jokipii das Treibholz dann versenkt, indem er nachwies, dass Finnland bewusst den Krieg aufseiten der Deutschen gewählt und den Schulterschluss schon im Februar 1941 perfekt gemacht hatte. Auf einmal stand das Wort vom Angriffskrieg im Raum.10
8 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 166. 9 John H. Wuorinen (d. i. Arvi Korhonen), Finland and World War II, New York 1948. 10 Vgl. Seppo Hentilä, Treibholz oder Stromschnellenboot? Zur finnischen Erinnerungskultur während des Kalten Krieges, in: Bohn, Cornelißen und Lammers (Hg.), Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs, a. a. O., S. 81–92, hier: S. 87 f.; Bernd Wegner, Selbstverteidigung, Befreiung, Eroberung? Die finnische Historiographie und der Zweite Weltkrieg, in: ebd., S. 153–166, hier: S. 159; Henrik Meinander, Finnlands Geschichte. Linien, Strukturen, Wendepunkte, Regensburg 2014, S. 220 ff.
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Auch die Zeitenwende 1989/90 und die Implosion der pax sovietica brachten zunächst keine Wende zu selbstkritischer Erinnerungskultur. Im Gegenteil, Winter- und Fortsetzungskrieg blieben im offiziellen Sprachgebrauch „nationale Notwehr“, und die Entspannung an der 1300 Kilometer langen Ostgrenze wurde dazu genutzt, um Tabus aus der Ära Kekkonen aufzubrechen. Ryti und seine gesamte Familie sahen sich vollständig rehabilitiert. Die Veteranen der „Waffenbrüderschaft“ mit der Wehrmacht und der SS trugen ihre Orden wieder in aller Öffentlichkeit, insbesondere das Eiserne Kreuz; ihre Memoiren waren schon vorher Verkaufserfolge. In der großen Helsinkier Sonderausstellung „Finnland im Krieg“ von 2001/2002 wurden alle möglichen Fragestellungen aufgegriffen, nur nicht diejenige der Kollaboration. Lotta Svärd, die große, 200.000 Frauen starke Hilfsorganisation, die der eigenen und der deutschen Armee im Pflege-, Verpflegungs- und Bekleidungsbereich, in der Schreibstube, der Luftüberwachung und wohl auch noch anders zur Verfügung stand, erfährt die verspätete, aber vollständige Ehrung des Vaterlandes. Nannte man sie bis dahin verschämt nur „Soldatendirnen“, so wurden Familienanzeigen jetzt wieder stolz mit dem Emblem aus dem Gründungsjahr 1921, das ein Hakenkreuz enthält, geschmückt. Man genoss es sichtlich, nicht mehr dem sowjetischen Deutungsmonopol zu unterliegen, das Finnland vorwarf, sowohl den Krieg von 1939 als auch den von 1941 provoziert zu haben, sondern sah sich in historischer Perspektive in beiden als Sieger, denn die UdSSR war 1991 nicht mehr, wohl aber das nie besetzte demokratische Finnland. Die Mythen blühten – die einer „reinen Nation“, die nicht schuldig geworden war, und als Verkörperung dieser sittlichen und moralischen „Reinheit“ im Neupatriotismus der 1990er Jahre galten, wohl kaum noch zufällig, die Lottas. Der sozialdemokratische Staatspräsident Mauno Koivisto kleidete dieses Verständnis praktisch zeitgleich in Worte, nach denen die politische Führung während des Zweiten Weltkriegs in all ihren Entscheidungen „fehlerfrei“11 gewesen sei, und seine Parteigenossin und Nachfolgerin Tarja Halonen sprach noch 2005 (!) bei einem Staatsbesuch in Frankreich vom „Sonderkrieg 1941– 1944“.
11 Tiina Kinnunen, Finnische Kriegserinnerungen, in: Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 350–369, hier: S. 364. In diesem Zusammenhang ist auf den Roman von Katja Kettu, Wildauge, Berlin und Köln 2014, und mehr noch auf das als historische Grundorientierung gedachte Nachwort „Lapplandkrieg und Wörterschlacht“ von Angela Plöger einzugehen, die das in dem skandinavischen Staat große Furore machende Buch kongenial aus dem Finnischen ins Deutsche übersetzt hat. Dieses Nachwort verharrt – auch und gerade, was den Fortschritt der finnischen Geschichtswissenschaft angeht – auf dem Stand der 1950er Jahre. Es versucht zwar, die tragische Liebe einer finnischen Hebamme zu einem deutschen SS-Offizier, das Sujet des Romans, in das komplizierte Geschehen einzubetten, ohne Anführungszeichen (!) ist aber weiterhin vom „Fortsetzungskrieg“ (S. 405 ff) die Rede. Rytis Frontwechsel im September 1944 wird mit großem Verständnis und als alternativlos dargestellt. Im Lapplandkrieg sind 700 Kinder geboren worden, die einen deutschen Vater hatten.
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Natürlich darf Karelien in den Volten der nationalen Narration nicht fehlen. Die „Akademische Karelien-Gesellschaft“, einst Träger der großfinnischen Vision, erlebte ab 1991 ihre Renaissance. In einer Meinungsumfrage aus dem gleichen Jahr befürwortete ein Drittel aller Finnen die Rückgabe der ursprünglich finnischen Gebiete, ein kleinerer Teil erhob auch den Anspruch auf Russisch-Karelien. Die Evakuierten-Organisation „Pro Karelia“ ermutigt nach wie vor dazu, die Wiedervereinigung mit allen in den Kriegen verlorenen Gebieten zu fordern, und die offiziöse Politik in Helsinki hält sich bis heute die Option offen, im Einvernehmen mit dem Kreml die Grenzen zu revidieren. Eine Reihe von Abgeordneten der Eduskunta hat sich seitdem die raffiniert ausgeklügelte Forderung zu eigen gemacht, Karelien „an Finnland und die EU (!)“ zurückzugeben12, und plötzlich erinnerte man sich an den eigenen Philosophen Georg Henrik von Wright (1916–2003), der in den 1940er Jahren Schriften im Sinne der NS-Rassenideologie verfasst und Sowjetkarelien dabei als altes „Wikinger-Gebiet“ bezeichnet hatte. Alle Thesen von Verteidigung und Unschuld, ja die gesamte finnische Weltkriegshistoriographie sah sich erschüttert, als der renommierte Historiker Heikki Ylikangas 2001 nachwies, dass Finnland schon im Winterkrieg auf die deutsche Karte gesetzt hatte, als Berlin ja noch mit Moskau verbündet war. In der Tat hat Hermann Göring der finnischen Regierung zur Nachgiebigkeit dem Kreml gegenüber geraten, weil das Verlorene später zurückgeholt werden könne, dafür garantiere er.13 Konkret: Helsinki habe den Krieg nicht wegen der verzweifelten Frontsituation und der ausbleibenden alliierten Hilfe beendet, sondern – bereits frühzeitig vom „Unternehmen Barbarossa“ informiert – im Kalkül eines Revanchekrieges auf der Seite des siegreichen Deutschland. „Waffenbrüderschaft“ in einem Verteidigungskrieg sieht anders aus. Aus dem Opfer war ein Aggressor geworden. Nicht umsonst sprachen Ryti und Tanner von einem „Zwischenfrieden“. Als Ylikangas von 2004 bis 2009 regierungsoffiziell mit einem anderen sensiblen Forschungsprojekt, dem Umgang mit den Kriegsgefangenen und der Auslieferungspraxis, beauftragt wurde, wies er außerdem nach, dass nicht nur politische und militärische Entscheidungsträger, sondern auch ein Großteil der zeitgenössischen Wissenschaftselite und ganze Bevölkerungskreise sich zumindest partiell mit der NS-Ideologie und deren außenpolitischen Zielen identifiziert hatten.14 Der Grund für die Affinität zu Deutschland lag im „Lager Lockstedt“, der Hilfe für die „Weißen“ im Bürgerkrieg und im gesamten Unabhängigkeitskampf. Einiges davon hat sich bis heute 12 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 176; s. auch Kimmo Rentola, Finnish Perspectives in Ostseeraum-Politics of History, in: Rathkolb und Sooman (Hg.), Geschichtspolitik im erweiterten Ostseeraum, a. a. O., S. 77–88. 13 Wegner, S. 156 f., Anm. 14 und Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 1, a. a. O., S. 180. 14 Vgl. Edgar Hösch, Faschismus und Antisemitismus in Finnland, in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 227–252.
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gehalten. Die finnischen Mitglieder der Waffen-SS und die eigenen Veteranen genießen die gleiche Wertschätzung und sind auch rentenrechtlich gleichgestellt. 2007, zum 90. Unabhängigkeitsjubiläum, war in den Nachtclubs von Helsinki ein T-Shirt groß in Mode, das einen Wehrmachtssoldaten und die Aufschrift „1917–2007 Kiitos!“ (Danke) zeigt. Und noch ein anderes Souvenir wurde aus gleichem Anlass zum großen Kassenschlager: das Hakenkreuz, wahlweise als Ring oder als Halsband zu erwerben.15 Das auch sonst noch vielerorts zu entdeckende Symbol, das in ganz Skandinavien für das Glück und die aufgehende Sonne steht, hat in Finnland allerdings eine andere, „unideologischere“ Bedeutung. Nicht nur im Heer und in der Luftwaffe wurde es benutzt, sondern auch vom Verband finnischer Krankenschwestern. Bis 1963 war es sogar auf dem Orden, den man ausländischen Staatsgästen verlieh, und die Standarte des Präsidenten ziert es immer noch, aus Stolz auf die eigene Geschichte. Auch auf die „Waffenbrüderschaft“ mit den Deutschen?
15 „Der Spiegel“, Nr. 51/2007, S. 116 und Rasso Knoller, Finnland. Ein Länderporträt, Berlin 2011, S. 46 f.
Estland Der nach der Februarrevolution von 1917 gebildete Estnische Nationalrat proklamierte am 24. Februar 1918 die Unabhängigkeit des von deutschen Truppen besetzten Landes, die Lenin gezwungenermaßen erst am 2. Februar 1920 anerkannte. Die Veteranen dieses Freiheitskrieges werden in der Entwicklung des eine Million Einwohner zählenden Staates eine entscheidende Rolle spielen und drohen Anfang der 1930er Jahre mit einem Staatsstreich. Über eine nicht minder gewichtige Rolle im Lande verfügte schon seit dem Spätmittelalter die deutschbaltische Minderheit, die zwar weniger als 2 Prozent der Bevölkerung stellte, unter den Gutsherren und im städtischen Großbürgertum aber überrepräsentiert war. Sie hatte ihren enormen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Einfluss auch im Zarenreich bewahren können. Die Zwischenkriegszeit im Baltikum war dadurch gekennzeichnet, dass die Letten Angst vor Deutschland, die Litauer vor Polen und die Esten vor der Sowjetunion hatten, obwohl diese 1920 „freiwillig und für alle Zeiten“ auf ihr Gebiet verzichtete. Diese Zeiten waren kurz. Der Bauernsohn Konstantin Päts (1874–1956), der 1918 maßgeblich an der Staatsgründung beteiligt war, die Landwirte-Partei anführte, sich 1925 wegen wirtschaftskrimineller Machenschaften hatte zurückziehen müssen und seinen Putsch von 1934 als Präventivmaßnahme gegen eine angeblich oder tatsächlich drohende Diktatur der Freiheitskrieger ausgab, spielte in ihnen von Anfang an eine zwielichtige Rolle. Er herrschte in seiner „geführten, gelenkten bzw. ausgeglichenen Demokratie“, in der es als einzige Partei nur die „Vaterlandsunion“ gab, per Dekret im permanenten Ausnahmezustand, vermied, wo immer es nur ging, die Bezeichnung juht („Führer) und richtete an der Universität Tartu demonstrativ ein Seminar für Judaistik ein, unterschrieb 1940 aber die ersten Dekrete der Sowjetisierungspolitik und beendete damit die mitgeschaffene Eigenstaatlichkeit. Nachdem er noch im selben Jahr in die Sowjetunion deportiert worden war, hütete Stalin sich, ihm auch nur ein Härchen zu krümmen. Streng genommen hat der Herr im Kreml die Entstehung faschistoider Regime im Baltikum sogar gefördert, weil sie untereinander und vor allem mit dem Polen Piłsudskis rivalisierten. Divide et impera.1 Im Hitler-Stalin-Pakt ist Estland der sowjetischen „Interessenssphäre“ zugeteilt worden; der in Europa völlig isolierte und machtlose Staat wurde im August 1940 Teil des russischen Imperiums. Stalin und sein Emissär Andrej Schdanow installierten eine Marionettenregierung unter Johannes Vares, den die eigenen Landsleute als „Kollaborateur sahen, der Estland verkauft habe.“2 So sehr auch und gerade mit Moskaus Hilfe 1 So auch Besier, Das Europa der Diktaturen, a. a. O., S. 88. 2 Olaf Mertelsmann, Führer im Ausverkauf. Estland 1939–1945, in: Ennker und Hein-Kircher (Hg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, a. a. O., S. 234–252, hier: S. 241.
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versucht wurde, ihn mit großflächigen Fotos und Plakaten als populären Führer darzustellen, die Tatsache, dass unter seiner Ägide 30.000 Esten für die Rote Armee zwangsrekrutiert, 11.000 Politiker, Offiziere und Grundbesitzer als „antisowjetische Elemente“ in die UdSSR verschleppt und 1000 getötet wurden, diskreditierte ihn völlig und wirkte sich positiv für die andere Großmacht aus. Hitler hatte schon am 6. Oktober 1939 alle Baltendeutschen zur „Rückkehr ins Reich“ aufgerufen, was nicht unerhört blieb und die generelle Frage nach ihrem Verhalten vor, während und nach dem Einmarsch der Wehrmacht vom 22. Juni 1941 aufwirft. Gab es eine „Kollaboration vor der Kollaboration?“3 Nicht wenige der über 50.000 „Umsiedler“ waren aktiv am „Kreuzzug gegen den Bolschewismus“ beteiligt, in „aktivistischen Gruppen“, „baltischen Geheimbünden“ sowie in „National- und Befreiungskomitees“. Herausragend sind hier die estnischen „Freiheitskämpfer“ Vaps, die lettischen „Donnerkreuzler“ Pérkonkrusts und der litauische Geležinis Vilkas. Erstere, die sich offiziell „Liga der Veteranen des Estnischen Unabhängigkeitskrieges“ nannten, hatten Ribbentrop bereits 1938 um zehn Millionen Reichsmark für die Unterstützung eines Putsches gebeten, und sie alle verfolgten nur ein Ziel: die Wiederherstellung der Souveränität ihrer von der Sowjetmacht okkupierten Staaten, am liebsten mit eigenen militärischen Streitkräften. Die deutschen Dienststellen verhielten sich hierzu reserviert, insbesondere als Pérkonkrusts eigene lettische Fronteinheiten aufstellen wollte. Am 31. Mai 1941 gründet der Vaps-Führer Hjalmar Mäe das „Estnische Befreiungskomitee“ als die „interimistische oberste Staatsgewalt des estnischen Volkes“. Der 1901 geborene Mäe wird 1929 einer der Führer des nach nationalsozialistischem Vorbild organisierten „Freiheitskämpferbundes“. Unter Päts ist er mehrere Jahre inhaftiert, weil er versucht hatte, die Macht an sich zu reißen. Unmittelbar nach Ankunft der Roten Armee geht er nach Deutschland, dessen Staatsbürgerschaft er erwirbt! Zusammen mit der Wehrmacht, die praktisch im ganzen Land als Befreier begrüßt wird, ist er 1941 wieder da. Vergeblich hofft er, von Hitler an die Spitze eines estnischen Satellitenstaates gesetzt zu werden, stattdessen wird er „Führer der Selbstverwaltung“ eines Terrains, in der par ordre de Berlin so ziemlich nichts selbst verwaltet werden darf. Trotzdem ist er als Eigentümer des Verlages, in dem – unter deutscher Aufsicht 3 Kārlis Kangeris, Kollaboration vor der Kollaboration? Die baltischen Emigranten und ihre „Befreiungskomitees“ in Deutschland 1940/41; in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 165–190; Alvin Isberg, Zu den Bedingungen des Befreiers. Kollaboration und Freiheitsstreben in dem von Deutschland besetzten Estland 1941 bis 1944, Stockholm 1992; Dietrich A. Loeber, Diktierte Option. Die Umsiedlung der Deutsch-Balten aus Estland und Lettland 1939–1941 – Dokumentation, Neumünster 1974; vgl. auch: Norbert Angermann, Die Deutschbalten – eine Oberschicht? in: Ortwin Pelc (Hg.), Mythen der Vergangenheit. Realität und Fiktion in der Geschichte, Göttingen 2012, S. 249–263; nach wie vor grundlegend für diesen Zeitraum: Seppo Myllyniemi, Die Neuordnung der baltischen Länder 1941–1944. Zum nationalsozialistischen Inhalt der deutschen Besatzungspolitik, Helsinki 1973.
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– alle estnischen Zeitungen erscheinen, nicht ohne Einfluss, aber in der Bevölkerung als „lächerlicher Usurpator“4 unbeliebt. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Esten und Deutschen nicht so bruchlos positiv, wie Mäe es gerne gehabt hätte. Er gehört zwar zur Vaps-Bewegung, die an den Deutschen aber nur das Abschütteln des sowjetischen Jochs schätzt und deshalb auch nicht als das Zentrum der estnischen Kollaboration gesehen werden kann. In Kooperation und Rivalität mit den antisowjetischen Partisanen der „Waldbrüder“, die sich mit anderen Gruppen zum nationalen „Selbstschutz“ (Omakaitse) vereinigten und noch vor dem Eintreffen der Wehrmacht in einigen Regionen die Kontrolle übernahmen, erstrebten sie die autonome Befreiung Estlands und nicht dessen langfristige Germanisierung, die Mäe und Hitler auf dem Zettel hatten. Zwar stellte sich die Omakaitse bei der Vertreibung der Roten Armee Seite an Seite mit den deutschen Truppen, zwar bildete sie das 40.000-köpfige Personal der „Selbstverwaltung“, aber schon die administrative Gliederung Estlands als einer der vier „Generalbezirke“ des neu geschaffenen „Reichskommissariats Ostland“ (RKO) trug sie nur äußerlich mit, und die Aussiedlung der Baltendeutschen, die man schon „siebenhundert Jahre loswerden wollte“, wurde nicht nur von ihr offen begrüßt. Peter Kleist, Ribbentrops Mann im Auswärtigen Amt für die Errichtung von Kollaborationsnetzwerken in allen baltischen Staaten, stand deshalb vor keiner leichten Aufgabe, was bei einem Blick auf die Anwerbung von Freiwilligen für die Wehrmacht, die estnische SS und Sicherheitspolizei besonders deutlich wird. Jüri Uluots, der letzte Ministerpräsident des Landes, hatte dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord am 29. Juli 1941 die Kooperation mit einer eigenen estnischen Armee angeboten. Eine solche hat es nie gegeben, wohl aber dienten schon im Herbst des Jahres 5000 Mann in sechs Abteilungen der 18. Armee. Uluots wird im Herbst durch den „Ersten Landesdirektor“ Mäe ersetzt, der Frontdienst der „eindeutschungsfähigen“ und „rassisch wertvollen“ Soldaten wird von den deutschen Kameraden geschätzt. Eine estnische SS-Division ist erst 1944 gebildet worden, die 1942 formierte Legion unterstand einem Deutschen, die Kommandosprache war Deutsch. Deshalb haben sich bis zum Frühjahr 1943 nur 1300 Mann für diese Einheit der Waffen-SS gemeldet. Grundsätzlich anders verhielt es sich mit der Sicherheitspolizei, die im estnischen Holocaust eine unrühmliche Rollte spielt.5 Hier, in der Wahrnehmung der Sowjets und nicht der Deutschen als den eigentlichen Besatzern, liegen auch die Wurzeln für die estnische Kollaboration und die Gründe und Ursachen, dass diejenigen, die sich
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Andres Kasekamp, The Ideological Roots of Estonian Collaboration during the Nazi Occupation, in: Anu Mai Köll (Hg.), The Baltic Countries under Occupation. Soviet and Nazi Rule 1939– 1991, Stockholm 2003, S. 85–95, hier: S. 95; vgl. auch: Dieckmann, Quinkert und Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen, a. a. O. 5 Hierzu umfassend: Ruth Bettina Birn, Die Sicherheitspolizei in Estland 1941–1944. Eine Studie zur Kollaboration im Osten, Paderborn 2006.
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ihnen in deutscher Uniform entgegengestellt hatten, nach 1991 regelrecht zu Nationalhelden erklärt wurden. Es war Katharina die Große, die eine erste jüdische Population in Estland vertrieben hatte. Von den 4500 Juden, die sich bis 1920 in dem Ostseestaat angesiedelt hatten, sprachen die meisten untereinander russisch, weshalb sie als Teil der russischen Minderheit wahrgenommen wurden. Beginnende antisemitische Tendenzen gab es erst in der Vaps-Bewegung der 1930er Jahre; Mäe bot dem „Führer“ im Manifest seines „Befreiungskomitees“ vom 31. Mai 1941 ein gemeinsames Vorgehen bei der „Judenbeseitigung“ dann auch ausdrücklich an. In Estland hatte sich wie in allen anderen von der Roten Armee 1939 und 1940 besetzten Gebieten der Negativmythos verfestigt, dass die Juden den Einmarsch latent vorbereitet, begrüßt und von ihm profitiert hätten. Richtig daran war, dass sie jetzt erstmals in den Staatsdienst und in Verwaltungsstellen gelangen konnten, die ihnen bis dahin versperrt waren. Unmittelbar nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ flohen über 3000 in die Sowjetunion. Von den verbliebenen gingen einige in das Estnische Korps der Roten Armee, andere beteiligten sich am Kampf gegen die „Waldbrüder“. Im Gegensatz zu Litauen kam es im heillosen Chaos der Übergangsphase zwischen beiden Besatzungsregimen nicht zu Pogromen, so sehr die Deutschen diese auch anzustacheln versuchten, wohl aber traten jetzt die Sicherheitspolizei und der „Selbstschutz“ auf den Plan. Die Kollaboration verlief so schnell und reibungslos, dass auf den Bau eines Ghettos in Tallinn verzichtet werden konnte. Omakaitse und Polizei hatten, oft in Eigenregie oder mit den Deutschen, schon im Januar 1942 alle tausend Juden ermordet. Auf der Wannsee-Konferenz verkündete Heydrich deshalb, dass Estland als einziges Land Europas bereits „judenfrei“ sei. Die 1991 ausgesprochene Mahnung des Historikers Hain Rebas, der eine Untersuchung forderte, ob und inwieweit die estnische Selbstverwaltung wie in Dänemark versucht habe, „die in der Heimat gebliebenen Juden zu schützen“6, wirkt angesichts dessen reichlich naiv. Es war praktisch niemand geschützt oder versteckt, dafür aber massiv denunziert worden. Umrahmt von der Sicherheitspolizei, in der die Einheimischen über 90 Prozent der Beschäftigten stellten, gab es „eine in dieser Form einmalige kollegiale Verantwortungshierarchie mit beträchtlichem Spielraum für die Esten“7, die Omakaitse ist ab 1942 von der Wehrmacht finanziert worden. Der Este Roland Lepik hat praktisch vom ersten Tag der Okkupation an als Sonderabteilungsleiter, Polizeichef und schließlich als 6 7
Hain Rebas, Vor 50 Jahren und heute: Estland zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Eine historisch-chronologische Einführung, in: Bohn et al. (Hg.), Neutralität und totalitäre Aggression, a. a. O., S. 24–46, hier: S. 43 f. Jörg Zägel in Zusammenarbeit mit Reiner Steinweg, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 2: Die Sicht auf Krieg, Diktatur, Völkermord und Vertreibung in Rußland, Polen und den baltischen Staaten, Berlin 2007, S. 189; so auch Meelis Maripuu, Kollaboration und Widerstand in Estland 1940–1944, in: Gaunt, Levine und Palosuo (Hg.), Collaboration and Resistance during the Holocaust, a. a. O., S. 403–419, vgl. bes. S. 419: „Was mit den Juden passierte, rief die Menschen nicht zum Widerstand auf.“
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Kommandant des Tartuer Konzentrationslagers die Verhaftung und Hinrichtung der estnischen Juden organisiert und realisiert. Seine blutige Karriere nahm im Dezember 1941 ein schnelles Ende, als die Deutschen ihn angeblich wegen übermäßiger Gewalttätigkeit und Machtmissbrauch verhafteten und erschossen. Wahrscheinlich wollten sie auf diese Weise einen Mann loswerden, der zu viel wusste. Auf jeden Fall war die sogenannte Judenfrage gelöst, als Estland am 5. Dezember 1941 als Teil des Reichskommissariats Ostland unter die Kontrolle der deutschen Zivilverwaltung gestellt wurde. Das RKO war unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion aus den eroberten Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie Teilen Weißrusslands („Weißruthenien“) gebildet worden, die nunmehr seine vier Generalkommissariate bildeten. „Reichskommissar Ostland“ mit Sitz in Riga wurde im Juli 1941 der schleswig-holsteinische NSDAP-Gauleiter und Oberpräsident Hinrich Lohse aus Mühlenbarbek bei Itzehoe. Er unterstand dem Reichsminister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg und befehligte die vier Generalkommissare Litzmann in Estland, Drechsler in Lettland, von Renteln in Litauen und Kube in Weißruthenien. Lohse offiziell „persönlich und unmittelbar“ unterstellt war der Höhere SS- und Polizeiführer Ostland Prützmann (später Friedrich Jeckeln), der die Befehlshaber der Ordnungs- und der Sicherheitspolizei Jedicke und Stahlecker befehligte; Letzterer war gleichzeitig Chef der berühmt-berüchtigten Einsatzgruppe A. Die SS- und Polizeiführer der vier Gebiete waren den jeweiligen Generalkommissaren zu- bzw. untergeordnet. Interessant ist, dass von der Wehrmacht kein direkter Strang zu Lohse führt. Der Militärbefehlshaber Ostland, Braemer, und die Kommandanten der vier Terrains erhielten ihre Weisungen ausschließlich vom OKW-Chef Keitel. Mit den Sachwaltern dieses Organigramms werden der brutale „Lebensraumkrieg“, die „Umvolkungen“ und der – weitgehend öffentliche – Judenmord im Baltikum vollzogen. Das RKO wird zur eigentlichen Bezugsgröße und Anlaufstelle der baltischen Kollaboration, das bis zum Schluss die alleinige Kommandogewalt behält. Mit und in ihm wird der Prozess der institutionellen und „rassischen Verschmelzung“ deutscher und baltischer Menschen eingeleitet, der letztlich auch die Grenzen nationaler Identität überwinden soll. Am sichtbarsten wird dies bei den im RKO aufgestellten Schutzmannschaftsbataillonen, die den Kern der estnischen und lettischen SS-Legionen bilden. Die Rekrutierung einer litauischen Waffen-SS-Legion ist zwar gescheitert, aber auch hier gab es zahlreiche „gemischte“ Schutzmannschaften. Nach einem detaillierten Plan Himmlers von Ende 1942 sollte aus der 1. Kompanie eines jeden Schuma-Bataillons eine Elite aus „gutrassigen Elementen“ gebildet werden, die ein systematisches Programm ideologischer Germanisierung und „SSifizierung“ erwartete. Auf diese Art und Weise wollte man auch den allenthalben aufkeimenden Unabhängigkeitsbestrebungen das Wasser abgraben. Sofort und mit Erfolg haben die NS-Machthaber darauf hingearbeitet, die jeweiligen antisowjetischen Guerillagruppen, die sich während des deutschen Einmarsches spontan formierten, systematisch in das Netz der Selbstschutz-
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und Hilfspolizeimilizen und damit in die SS- und Polizeihierarchie einzugliedern. So wurden aus den Widerständlern gegen die Sowjets Kollaborateure der Deutschen. Nur in Estland war ihnen das Privileg der Waffenbrüderschaft mit der Wehrmacht eingeräumt. Himmlers Entscheidung zum Aufbau einer militarisierten Truppe aus einheimischen Polizeihilfskräften, eben den Schutzmannschaften, resultierte aus Hitlers Erlass vom 16. Juli 1941, dass im Osten nur Deutsche Waffen tragen durften, der Einsatz von Balten für „Polizeiaufgaben“ aber erlaubt war. Daraufhin befahl Himmler schon am 25. Juli die Aufstellung von „Schutzformationen aus den uns genehmen Volksteilen der eroberten Gebiete“8. Anfang 1942 forcierte er die „Rassenverschmelzung“ innerhalb der SS, um seiner großen Zukunftsversion, einem „transnationalen pangermanischen Staatsschutzkorps“, auf den Weg zu helfen. Als Vorbild hierfür diente ihm die im gleichen Zeitraum geschaffene „Kampfgruppe Jeckeln“, die statt der zerschlagenen SSPolizeidivision die Blockade Leningrads fortsetzen sollte. Sie stand unter der persönlichen Befehlsgewalt von Friedrich Jeckeln und formierte sich vorwiegend aus estnischen und lettischen Schutzmannschaftsbataillonen. Die Stimmung und Einstellung in der Bevölkerung gegenüber diesen „gemischten Verbänden“ war nicht schlecht. Mütter sahen es gern, wenn ihre Söhne „zu den Deutschen“ gingen. Dies änderte sich erst, als das 36. Estnische Schuma-Bataillon in der Schlacht um Stalingrad komplett aufgerieben worden war. Im Winter 1942/1943 verlangt die Heeresgruppe Nord die vollständige Mobilisierung Estlands. Die Zwangsrekrutierung wird als Einberufung zum Arbeitsdienst getarnt, weil die NS-Gewaltigen in Berlin nach wie vor nicht daran dachten, dem Land nationale Autonomierechte zuzugestehen. 1942 erscheinen 85 Prozent, ein Jahr später immerhin noch 70 Prozent der einberufenen Jahrgänge zur Musterung bei den Ämtern. Im Januar 1944 ordnet Himmler die Wehrpflicht für alle Männer von 17 bis 55 an, der ehemalige Ministerpräsident Uluots ruft kurz darauf zur Totalmobilmachung auf. Jeder kann sich entscheiden, ob er in die SS-Hilfsverbände der Wehrmacht oder in kriegswichtige Betriebe einrücken will. In der 1. Estnischen Waffengrenadierdivision stehen im Sommer 1944 fast 14.000 Mann, insgesamt sind es zu dem Zeitpunkt auf deutscher Seite 60.000, auf sowjetischer 30.000 Soldaten. Nur wenige entziehen sich durch Flucht zu den „Waldbrüdern“ oder in die finnische Armee, aber trotzdem verschlechtern sich die Beziehungen rapide. „Die estnische Bevölkerung fühlte sich wie in einem besetzten Land und als Partner nicht ernst genommen.“9 8
9
Zit. nach Matthew Kott, Rekrutierung der Waffen-SS im Reichskommissariat Ostland: Der Versuch einer schwer fassbaren Synthese, in: Sebastian Lehmann, Robert Bohn und Uwe Danker (Hg.), Reichskommissariat Ostland. Tatort und Erinnerungsobjekt, Paderborn [u. a.] 2012, S. 117–145, hier: S. 135, s. auch: Olaf Mertelsmann, Das „kleinere Übel“? Das Generalkommissariat Estland im estnischen Vergangenheitsdiskurs, in: ebd., S. 349–365 sowie Meike Wulf, Shadowlands. Memory and History in Post-Soviet Estonia, New York und Oxford 2016. Müller, An der Seite der Wehrmacht, a. a. O., S. 164.
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Im März 1944 gründet sich das „Nationalkomitee der Estnischen Republik“, im August ist die Lage der Wehrmacht so hoffnungslos, dass der Rückzug beginnt. 70.000 Esten schließen sich an, womit die Zahl der Kollaborateure – auch und vor allem in ihrer Selbsteinschätzung – recht gut fixiert sein dürfte. Bevor sie die Rache der Roten Armee ereilte, gingen sie lieber widerwillig mit den Deutschen und verteilten sich als estnische Diaspora über die gesamte westliche Welt. Militärischen Widerstand hat es nicht gegeben, erst im Oktober 1944, in allerletzter Minute, kam es zu ein paar Gefechten zwischen deutschen und einheimischen Verbänden. Diejenigen, die, nunmehr gegenüber den neuen Herren, tatsächlich Widerstand leisteten, waren wiederum die „Waldbrüder“. Er dauerte bis 1956 und in vereinzelten Fällen sogar bis in die 1970er Jahre hinein. Bis Ende 1945 sehen sich 15.000 Esten als „Kollaborateure“ oder „bürgerliche Nationalisten“ verhaftet, was 3000 nicht überlebt haben. Die Vorwürfe bzw. Klassifizierungen wurden in stalinistischen Schnellverfahren behandelt. Hjalmar Mäe setzte sich nach Deutschland ab, wurde von den Exil-Esten aber kategorisch geschnitten. In seiner zweiten Karriere stilisierte er sich geschickt zum „Kommunismusexperten“, sagte als Zeuge bei den Nürnberger Prozessen aus und diente sich der Bundeszentrale für Heimatdienst, dem Vorläufer der heutigen Bundeszentrale für politische Bildung, erfolgreich als Autor an. Seine „Drei Reden gegen den Kommunismus“, eine der ersten Ausgaben ihrer Schriftenreihe, erreichten ab 1953 eine Auflage von über 100.000 Exemplaren.10 1954 gelang es ihm, eine Anstellung in der österreichischen Landesverwaltung zu bekommen, und dort, in der Steiermark, ist er 1978 gestorben. Er war zeit seines Lebens mehr Opportunist als Kollaborateur. Estland hatte 1945 knapp 300.000 seiner Einwohner verloren. Die nationalen Minderheiten der Deutschbalten, Schweden und Juden gab es nicht mehr. Das Land hatte den prozentual höchsten Anteil an Soldaten für Hitlers Rassen- und Vernichtungskrieg im Osten gestellt, aber kaum einer dieser Esten kämpfte aus nationalsozialistischer Überzeugung, sondern alle für die Unabhängigkeit. Deshalb wurde in der geschichtspolitischen Aufarbeitung auch kaum zwischen Kollaborateuren und „Freiheitskämpfern“ unterschieden. Die zweite Sowjetisierung, das größere nach dem kleineren Übel, griff schnell und dauerte lange. Dreißig Prozent der in den 1980er Jahren 1,3 Millionen Einwohner waren russisch oder russophon. Selbst als die Freiheit 1991 endlich erreicht war, gab es wenig Kritik an der Zusammenarbeit mit den Deutschen und der Beteiligung am Holocaust, weil dies die „identitätsstiftende historische Opferrolle“11 bedroht 10 Hjalmar Mäe, Drei Reden gegen den Kommunismus (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, Bd. 16), Bonn 1953. 11 Karsten Brüggemann, „Wir brauchen viele Geschichten“. Estland und seine Geschichte auf dem Weg nach Europa?, in: Helmut Altrichter (Hg.), GegenErinnerung – Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozess Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München 2006, S. 27–50, hier: S. 41; sehr schonungslos und provozierend zur estnischen Mitwirkung am Holocaust: Anton Weiss-Wendt, Murder without Hatred. Estonians and the Holocaust, Syracuse 2009.
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hätte. Stattdessen wurden wiederholt „wilde“, also behördlich nicht genehmigte Denkmäler errichtet, auf denen ein estnischer Soldat der Waffen-SS mit einem nach Russland gerichteten Maschinengewehr steht, und noch 2010 (!) war in Tallinn ein Kalender erhältlich, der aus Werbeplakaten für die estnische Legion der Waffen-SS bestand. Er fand guten Absatz.12 2004 wird auf dem Gelände des „Museums des Kampfes für die Befreiung Estlands“ ein offizielles Denkmal für die Legionäre der Waffen-SS eingeweiht – in der gespaltenen Erinnerungskultur des Landes war da kaum noch eine Unterscheidung zwischen Kollaborateuren und „Freiheitskämpfern“ erkennbar. Im Gegenteil, dass jetzt endlich auch den Veteranen in deutscher Uniform Verehrung zuteilwerden durfte, nachdem diese fast ein halbes Jahrhundert lang nur den Esten in der Roten Armee gegolten hatte, wurde als legitime Form der „Generationengerechtigkeit“ empfunden. Nach wie vor fühlte man sich in dem Land, das sich durch das größte Ausmaß an Kollaboration und pragmatischer Kooperation im deutsch besetzten Osteuropa ausgezeichnet hatte, als Opfer. Ihren sichtbarsten Ausdruck fand die gelebte baltische Schizophrenie in der Auseinandersetzung oder genauer im Kampf um Aljoscha, eine zwei Meter hohe Bronzestatue, die einen Soldaten in der Uniform der Roten Armee zeigt. Seit dem 22. September 1947, dem dritten Jahrestag des Einmarsches dieser Armee in Estland, schaute er „streng und übermannshoch von einem Sockel auf die Passanten in der Innenstadt Tallinns.“13 Vermutlich waren es Angehörige der russischen Minderheit, die ihn Aljoscha tauften, für die Esten war er nichts anderes als die Symbolfigur der sowjetischen Okkupation. Als Putin die drei baltischen Staatschefs am 9. Mai 2005 zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus nach Moskau einlädt – nur die Lettin Vaira Vika-Freiberga wird der Einladung folgen –, sieht sich Aljoscha erstmals mit roter Farbe beschmiert. Am 10. Januar 2007 beschließt das estnische Parlament mit 66 zu 6 Stimmen ein „Gesetz zum Schutz von Militärgräbern“, das angeblich der Umbettung der zu Aljoschas Füßen begrabenen sowjetischen Soldaten dient, in Wirklichkeit aber die Grundlage für seine Entfernung aus dem Zentrum der Hauptstadt schafft. Als die Exhumierung Ende April beginnt, sind Geschäftsplünderungen, Gebäudezerstörungen, Cyberattacken, bürgerkriegsähnliche Zustände mit Straßenschlachten, Verletzten und Toten, Wirtschaftsembargos sowie eine schwere diplomatische Krise zwischen Moskau und Tallinn die Folge. Die Duma hatte schon vorher von einem „weiteren Kapitel der 12 Vgl. Karsten Brüggemann, Gefangen in sowjetischen Denkmustern? Anmerkungen zum Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit in Estland und Lettland, in: Rathkolb und Sooman (Hg.), Geschichtspolitik im erweiterten Ostseeraum, a. a. O., S. 121–139, hier: S. 128; s. auch: EvaClarita Pettai, Establishing „Holocaust Memory“ – A Comparison of Estonia and Latvia, in: ebd., S. 159–173 und dies., Erinnerungsdiskurse und Geschichtspolitik in den baltischen Staaten, in: APuZ, Nr. 8/2017, S. 28–33. 13 Claus Leggewie zusammen mit Anne Lang, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 56 f.
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Heroisierung des Nazismus“ gesprochen, estnische Produkte verschwinden aus russischen Supermarktregalen. Witalij Tretjakow, der Chefredakteur von „Moskowskije Nowosti“, spricht von einer „schmutzigen Operation und unheiligen Koalition aus USA, NATO und EU, die sich willig denen ergibt, deren Väter und Großväter mit dem Hitlerismus kollaboriert haben.“ Ihr Ziel sei es, „Rußland aus dem Rang einer Siegermacht über den Faschismus zu einem der Länder zu degradieren, die Verbrechen begangen hätten, ja fast Hitlers Verbündete gewesen seien.“14 In Estland prallten und prallen drei Geschichtsnarrative in aller Härte aufeinander: das estnische-nationale, das der russischen Minderheit und das von außen kommende der internationalen Holocaust-Forschung, dem im Land nach wie vor kein Platz eingeräumt wird. Aljoscha schaut währenddessen auf einem Militärfriedhof weit außerhalb von Tallinn ins Leere.
14 „Moskowskije Nowosti“ vom 4. Mai 2007, zit. nach Stefan Scholl, Denkmalschänder und Hintermänner. Blut und Tränen gegen Estland: Moskaus Edelfedern auf den Barrikaden, in: „Internationale Politik“, Nr. 6/2007, S. 142–145, hier: S. 142 und 144; Felix Münch, Diskriminierung durch Geschichte? Die Auseinandersetzung um den „Bronzenen Soldaten“ im geschichtspolitischen Diskurs des postsowjetischen Estland, Marburg 2008; Karsten Brüggemann, Geteilte Geschichte als transnationales Schlachtfeld. Der estnische Denkmalstreit und das sowjetische Erbe in der Geschichtspolitik Russlands und der baltischen Staaten, in: Hofmann et al. (Hg.), Diktaturüberwindung in Europa, a. a. O., S. 210–225; Aleida Assmann, Formen des Vergessens, Göttingen 2016, S. 75 ff.
Lettland Die Siedlungsgebiete der Letten gehörten seit dem 18. Jahrhundert zum Zarenreich. Deutschbalten spielten in ihnen eine erheblich größere Rolle als in Estland. Durch die starke Konzentration auf Riga, das einzige urbanisierte Zentrum, in dem damals wie heute jeder dritte Einwohner lebt, existierte schon vor dem Ersten Weltkrieg eine auf Lenin orientierte Arbeiterschaft, deren Partei in den Städten bei Kommunalwahlen bis zu 70 Prozent der Stimmen gewann. Ab 1915 kämpfen 130.000 lettische Schützen in der Zarenarmee, die zur Forcierung eines antideutschen Nationalbewusstseins beitragen. Im September 1917 erobert das kaiserliche Heer Riga. Die Loslösung von Russland und die Massenansiedlung deutscher Bauern wird gefordert, die 60.000 Baltendeutschen träumen gar von einem unmittelbaren Anschluss an Preußen. Am 18. November 1918 proklamiert ein pluralistisch zusammengesetzter Volksrat die Unabhängigkeit; Kārlis Ulmanis, der Führer der Bauernpartei, wird zum Ministerpräsidenten gewählt. Der Vormarsch der Roten Armee auf Riga vereinigt die lettischnationalen Kräfte und die deutschbaltischen Großgrundbesitzer, die durch eine Agrarreform entscheidend geschwächt werden. 1920 besitzen sie 48 Prozent des Gesamtterritoriums, 1930 nur noch 1,3 Prozent. Das Zusammenwachsen des ZweiMillionen-Staates mit seiner sowjetisch orientierten Arbeiterschaft, der russischen und jüdischen Minderheit sowie den frustrierten Deutschen und den drei Landesteilen Kurland, Livland und Lettgallen gestaltet sich schwierig. Analog zur Weimarer Republik in Deutschland wechselten die Regierungen im Jahrestakt, allerdings immer wieder mit der Integrationsfigur Ulmanis an der Spitze. 1934 wird er zum siebten Mal Ministerpräsident. Ein Jahr zuvor hatte Gustav Celminš die rechtsradikale, antisemitische und antideutsche Organisation Ugunskruts (Feuerkreuz) gegründet, die nach einem Verbot in Pérkonkrusts (Donnerkreuz) umbenannt wird. Es beginnt der Ruf nach dem starken Mann. In der Nacht vom 15. auf den 16. Mai 1934 besetzen das Militär und die „Heimatgarde“ (Aiszargi) Riga, Ulmanis löst das Parlament auf und verbietet die Parteien wie auch die „Donnerkreuzler“. Unter dem Vorwand, diesen lediglich zuvorgekommen zu sein, ruft er den Ausnahmezustand aus und lässt sich zwei Jahre später zum Staatspräsidenten ernennen. Ein Personenkult um ihn beginnt, der sich aus der agrarromantisch verklärten, nationallettischen Bewegung des 19. Jahrhunderts herleitet, aber auch Anleihen bei den großen zeitgenössischen europäischen „Führern“ nimmt, gleichzeitig aber den Kampf gegen Deutschbalten und Russen glorifiziert. Ulmanis wird wechselweise „majestätische Providenz“, „Landesrichter“ und „allmächtiger Herrscher des Landes“ genannt. Er gibt den offiziellen Auftrag zur Formulierung einer „lettischen Ideologie und Weltanschauung“, an die sich die Minderheiten anzupassen hätten, und lässt in der Hauptstadt als Sinnbild der eigenen Mythologie die Freiheitsstatue Milda errichten.
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Auch Lettland war im Pakt vom 23. August 1939 dem sowjetischen Machtbereich zugeschlagen worden. Die Rote Armee besetzt das Land Mitte Juni 1940, und im August fordert eine neu installierte Marionettenregierung den Anschluss an die Sowjetunion. Real nichts anderes als Opfer einer brutalen Unterwerfung, sind ihr 30.000 Menschen zum Opfer gefallen, die meisten erst im Juni 1941, in allerletzter Minute. Ulmanis war da bereits in ein Gefängnis in Turkmenistan verschleppt worden, in dem er 1942 verstarb. Vergeblich hatte er 1940 noch versucht, von den Deutschen Waffen zu bekommen. International ist die Eingliederung der baltischen Staaten in die UdSSR nur vom nationalsozialistischen Deutschland und vom „neutralen“ Schweden (!) anerkannt worden. Vom ersten Moment an, nachdem die Wehrmacht am 26. Juni 1941 die lettische Grenze überschritt, haben sich ihr Kollaborateure „von sich aus und freiwillig“1 an die Seite gestellt. Das Spektrum war breit gefächert und reichte von Gruppierungen der lettischen „Waldbrüder“ über nationalradikale Organisationen wie Pérkonkrusts sowie weite Teile der Armee, der Verwaltung, der Polizei und des öffentlichen Lebens bis hin zu reinen Opportunisten und Trittbrettfahrern. Übergreifendes Ziel war auch hier genau das, was die Besatzer zu keinem Zeitpunkt zu geben bereit waren: die nationale Unabhängigkeit. Auf ihrer Agenda stand vielmehr „Eindeutschung“, „Kolonisierung“ und „Aussiedlung unerwünschter Elemente“. Ein Teil der von 1939 bis 1941 ausgesiedelten Baltendeutschen kehrte als quasi „natürliche“ Kollaborateure im Gefolge der deutschen Truppen zurück. Schwieriger gestaltete sich der Umgang mit den „Donnerkreuzlern“. Obwohl Gustav Celminš 1938 das Asyl im Deutschen Reich versagt worden war, zog auch er 1941 als „Sonderführer“ der Wehrmacht wieder in Riga ein, um kurzfristig politische Aktivitäten zu entfalten. Am 11. Juli 1940 erarbeiteten „40 lettische Patrioten“ ein Memorandum für Adolf Hitler, das mit seiner autoritären, antisemitischen und antisowjetischen Ausrichtung eindeutig die Handschrift von Pérkonkrusts trug, den „Führer“ aber nie erreichte. Die „Donnerkreuzler“ werden am 17. August 1941 zum zweiten Mal verboten, woraufhin Celminš getreu seinem alten Grundsatz „Deutsche, Juden, Russen raus!“ mit dem Aufbau einer eigenen Widerstandsbewegung beginnt. Beim Einmarsch der Wehrmacht hatten sich seine Anhänger noch geschlossen der deutschen Sicherheitspolizei zur Verfügung gestellt. Immerhin wurde ihr lettisches Pendant von Viktor Bernhard Arājs (1910–1988), einem ehemaligen Parteigänger Celminš, geführt, in dessen Reihen die Aiszargi stark vertreten war. Arājs stammte aus einer verarmten Bauernfamilie, hatte es bis zum Polizeileutnant gebracht und war als (gescheiterter) Jurastudent Mitglied der exklusiven Burschenschaft Lettonia. Nachdem er sich zunächst der sowjetischen Besatzungsmacht angedient und von ihr sogar ein Hochschuldiplom erhalten hatte, wandelte er sich zum führenden Untergrundkämpfer gegen die kommunistische Herrschaft. 1 Robert G. Waite, Kollaboration und deutsche Besatzungspolitik in Lettland 1941 bis 1945, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 217–237, hier: S. 217.
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Mit Arājs arbeiteten die Schutzmannschaften eng zusammen, die sich unmittelbar nach dem Abzug der Roten Armee gebildet hatten, und auch der Teil von Pérkonkrusts, der nicht in den Untergrund gegangen war. Arājs leitete im Einvernehmen mit den Deutschen sogar ein eigenes lettisches „Sicherheitshilfskommando“, das unmittelbar an der Ermordung der lettischen Juden beteiligt war und beteiligt sein wollte. Es galt das strikte Prinzip der Freiwilligkeit. Bedingt durch die Repressionspolitik Katharinas der Großen hatten sich Juden auf dem Terrain des späteren Lettland erst spät ansiedeln können. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs lebten dort 170.000 Menschen ihres Glaubens. Während des „Freiheitskrieges“ von 1919 kommt es zu den ersten antisemitischen Krawallen, in der Zwischenkriegszeit neidet man den Juden ihren wachsenden Wohlstand. Die „Donnerkreuzler“ werfen in Anlehnung an das deutsche „Vorbild“ erstmals die „Judenfrage“ auf. Trotz des Gegensatzes zwischen Ulmanis und Pérkonkrusts setzt sich die Ausgrenzung der jüdischen Minderheit unter dessen Regime fort. In Abwandlung eines alten Volksliedtextes singt man in nationalistischen Kreisen: „Werft die Juden in die Daugava!“ Auch in Lettland entsteht 1940 der Mythos von der „jüdisch-bolschewistischen Kollaboration“, dem zufolge die Juden die Sowjetmacht als „Panzerküsser“ begrüßt und von ihr profitiert haben. Richtig daran ist, dass sie die UdSSR als das kleinere Übel ansahen und erstmals niederrangige Positionen im lettischen Staatsdienst bekamen. Das hinderte die russische Besatzungsmacht nicht daran, Tausende von ihnen zu deportieren, sodass im Frühjahr 1941 nur noch 80.000 im Lande lebten. Schon wenige Stunden nach Ankunft der Deutschen werden die ersten Juden ermordet, und zwar von Letten, ohne dazu angestiftet worden zu sein. Der SS-Brigadeführer und Leiter der Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei Walter Stahlecker lobt die „natürlichen Reaktionen gegen jahrzehntelange Unterdrückung durch die Juden“2. Die Heimatgarde und die Schutzmannschaften erschießen am 27. Juli 1941 in Dünaburg fast 4000 Juden. In den Dörfern hatte man den ganzen Monat über „mit der unterschiedslosen Abschlachtung jüdischer Männer, Frauen und Kinder begonnen, ohne 2
Zit. nach Waite, Kollaboration und deutsche Besatzungspolitik in Lettland 1941 bis 1945, a. a. O., S. 220; vgl. hierzu umfassend: Katrin Reichelt, Lettland unter deutscher Besatzung 1941–1944. Der lettische Anteil am Holocaust, Berlin 2010 und Björn Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern 1940–1946, Paderborn [u. a.] 2009. Reichelt (S. 289) und Felder (S. 212) widersprechen sich allerdings scharf, was die Einschätzung der lettischen Beteiligung an den NS-Verbrechen angeht, die Felder zu relativieren versucht. Zu Arājs: Wolfgang Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944, Paderborn [u. a.] 2006, S. 909 ff. und Robert Bohn, Kollaboration und Genozid im Reichskommissariat Ostland. Die strafrechtliche Aufarbeitung in der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel des Arājs-Verfahrens, in: Lehmann, Bohn und Danker (Hg.), Reichskommissariat Ostland, a. a. O., S. 269–284 sowie Reichelt, Lettland unter deutscher Besatzung 1941–1944, a. a. O., S. 330 ff. und dies., Kollaboration: Zwei Beispiele aus der Judenverfolgung in Lettland 1941–1944, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 77–87.
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von Berlin dazu autorisiert worden zu sein“3. Stahlecker schrieb die hier und andernorts erzielten Todesraten dann auch seinen eigenen Leuten zu Buch, weshalb sich der lettische Anteil am Holocaust bis heute zahlenmäßig nicht eindeutig fixieren lässt. In Riga hatten Aizsargi, Pérkonkrusts und Studentenkorporationen ihre „Abrechnung“ bereits vor dem 22. Juni 1941 geplant und führten sie dann spontan und autonom durch. Noch bis Ende 1942 waren die Todesschwadrone von Viktor Arājs im Lande bekannter als das Einsatzkommando 2 des SS-Sturmbannführers Rudolf Lange, dem späteren Chef der Sicherheitspolizei Lettland. Ungeduldig, ohne auf irgendwelche Direktiven „von oben“ zu warten und einfach nur die „günstige Konjunktur“ ausnutzend fungierten Arājs’ Leute als Zutreiber, Aussonderer, Posten, Erfasser und Leichenbestatter, nachdem sie an den Massenerschießungen aktiv teilgenommen hatten. „Dies widerspricht den überkommenen Anschauungen vom angeblich ausschließlichen SSTerror in den besetzten Gebieten.“4 Wo der örtliche „Selbstschutz“ und die eigenen „Ordnungskräfte“ nicht in der Lage waren, „ihr Haus vom Abschaum der Menschheit zu befreien“5, mussten sie sich sogar hämische Bemerkungen aus der Lokalpresse gefallen lassen. Für die „andere Seite“ der Kollaboration waren die Deutschen allerdings ganz allein verantwortlich. Indem sie sofort nach dem Einmarsch die Aufstellung lettischer Freiwilligenverbände zum Fronteinsatz gegen die Sowjetunion unterbanden, für die Zigtausende bereitstanden, sahen diese ihr Heil nun in Denunziation, Abrechnung und Vergeltung bei den im Land gebliebenen Juden und Kommunisten. Dort holte man sich, was noch zu holen war, durch Raub, Plünderungen, Lynchjustiz und schließlich in Pogromen. Gedeckt und an der Seite von Wehrmacht und SS ging dies natürlich am besten, was den Zulauf zu Heimatgarde, Schutzmannschaften und Polizei erklärt. Kollaboration im Sinne von Landesverrat war dies nicht, sondern weit häufiger Koope3 Hans-Heinrich Wilhelm, Offene Fragen der Holocaust-Forschung. Das Beispiel des Baltikums, in: Uwe Backes, Eckehard Jesse und Rainer Zitelmann (Hg.), Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1992, S. 403–425, hier: S. 409. 4 Margers Vestermanis, Der lettische Anteil an der „Endlösung“. Versuch einer Antwort, in: Backes, Jesse und Zitelmann (Hg.), Die Schatten der Vergangenheit, a. a. O., S. 426–449, hier: S. 433; vgl. auch bereits Max Kaufmann, Churbn Lettland. Die Vernichtung der Juden Lettlands, München 1947 (Reprint Konstanz 1999) sowie Antonijs Zunda, Collaboration in German-Occupied Latvia: Assessments of the Historical Literature, in: Gaunt, Levine und Palosuo (Hg.), Collaboration and Resistance during the Holocaust, a. a. O., S. 111–126 und Edward Anders, Amidst Latvians during the Holocaust, Riga 2010. Deshalb ist auch die Darstellung von Snyder, Black Earth, a. a. O., S. 190 f., zu korrigieren, der behauptet, Arājs habe nur getötet, wenn er es für die Deutschen sollte. Vgl. dazu: Richards Plavnieks, Nazi Collaborators on Trial during the Cold War. The Cases against Viktors Arājs and the Latvian Auxiliary Security Police, phil. Diss., University of North Carolina, Chapel Hill 2013. 5 Vestermanis, Der lettische Anteil an der „Endlösung“, a. a. O., S. 435.
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ration aus Überlebensnotwendigkeit, die aber vor Mordbereitschaft nicht zurückschreckte. Im Ergebnis gab es, was den Holocaust in Lettland anging, keinen einzigen Bereich, an dem Letten nicht beteiligt gewesen wären, beginnend mit den Hausmeistern, die den Deutschen bereitwillig mitteilten, wo Juden wohnten. „In sämtliche Stufen des Vernichtungsprozesses von Terrorisierung, Enteignung, Ausbeutung von Arbeitskraft, Isolation in Ghettos und Konzentrationslagern sowie in die Ermordung der Juden waren Letten involviert, auch wenn die Entscheidungsgewalt bei den deutschen Besatzern lag.“6 Eine zentrale Rolle spielte das Arājs-Kommando, das zuletzt fast 2000 Personen umfasste. Es muss festgehalten werden, dass fast die Hälfte der in Lettland umgekommenen 70.000 Juden auf das blutige Konto seiner Mordbrenner geht, von denen zumeist auch die Initiative für die Verbrechen kam. Sie allein zündeten am 4. Juli 1941 die große Rigaer Choralsynagoge an und verbrannten die Menschen bei lebendigem Leib, die anderen Gebetshäuser folgten binnen weniger Tage und Wochen. Darüber hinaus spielten sie nicht nur bei der Tötung der einheimischen, sondern auch der aus dem „Großdeutschen Reich“ nach Lettland und hier vor allem ins Rigaer Ghetto deportierten Juden eine zentrale Rolle. Als Hauptsitz des „Reichskommissariats Ostland“ besaß Riga eine Schlüsselfunktion nicht nur im baltischen Holocaust. In den Wäldern rund um die Stadt erschossen Arājs’ Schergen Ende 1941 und Anfang 1942 zunächst 26.500 lettische und dann 10.000 aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei deportierte Juden, „wobei sie sich von anwesenden Gaffern fotografieren ließen.“7 Anschließend wurden sie auch außerhalb der eigenen Grenzen, so beispielsweise in Weißrussland, eingesetzt. Dass Arājs mit diesem Blutzoll auch nur an irgendeiner Stelle oder in irgendeinem Moment auf die Unabhängigkeit Lettlands hingearbeitet hätte, ist durch keine einzige Quelle belegbar, und es kann auch nicht nur an seiner deutschen Mutter gelegen haben. Anfang 1945 kam er als Kommandeur eines lettischen SS-Bataillons nach Deutschland, wurde von der britischen Militärpolizei verhaftet, aber am 1. Februar 1949 entlassen. Im Zuge der Riga-Komplex-Ermittlung des Hamburger Landgerichts wurde am 11. Oktober 1949 ein Haftbefehl gegen ihn erlas6 Katrin Reichelt, Kollaboration und Holocaust in Lettland 1941–1945, in: Kaiser (Hg.), Täter im Vernichtungskrieg, a. a. O., S. 110–124, hier: S. 115 f. 7 Gerhard Paul, Endstation Riga-Jungfernhof, in: Landeszentrale für politische Bildung SchleswigHolstein (Hg.), Zum Gedenken. 6.12.2011: 70. Jahrestag der Deportation der Juden aus Schleswig-Holstein, Kiel o. J. (2011), S. 58–65, hier: S. 62; hierzu umfassend: Bettina Goldberg. Abseits der Metropolen. Die jüdische Minderheit in Schleswig-Holstein, Neumünster 2011; Bernhard Press, Judenmord in Lettland 1941–1945, Berlin 1995; Martin Knop, Viktor Arajs. Kollaboration beim Massenmord, in: Barbara Danckwort, Thorsten Querg und Claudia Schöningh (Hg.), Historische Rassismusforschung. Ideologien – Täter – Opfer, Hamburg und Berlin 1995, S. 231–245; Andrej Angrick und Peter Klein, Die „Endlösung“ in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941– 1944, Darmstadt 2006; darüber hinaus: Sven Jüngerkes, Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland 1941–1945. Eine Kommunikations- und Kulturgeschichte nationalsozialistischer Organisationen, Konstanz 2010.
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sen, woraufhin er verschwand und 25 Jahre unter falscher Identität in Tübingen und Frankfurt lebte. Am 19. Juni 1974 wird er zur Fahndung ausgeschrieben und ein Jahr später festgenommen. Er leugnet, mit den Judenmorden etwas zu tun zu haben, er sei lediglich „auf Verlangen“ von Stahlecker und Lange zu „Sondereinsätzen abkommandiert“ worden. In der 194-seitigen Anklageschrift vom 10. Mai 1976, in der allein 19 von ihm persönlich geleitete Massenerschießungsaktionen aufgelistet sind, wird ihm das Gegenteil nur so um die Ohren geschlagen. Insbesondere das flächendeckende Morden bei der Räumung des Rigaer Ghettos am 8. Dezember 1941 ist minutiös belegt. Viktor Bernhard Arājs wird am 21. Dezember 1979 zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt, weil er „willentlich, grausam und aus niedrigen Beweggründen“ an der Ermordung von mindestens 13.000 Juden persönlich beteiligt war. Am 13. Januar 1988 ist er im Gefängnis in Kassel gestorben. Bis heute werden die lettischen Kollaborateure im eigenen Land „Judenschießer“ genannt. Dass sie in einem vorwiegend passiven, lethargischen Umfeld, ja oft genug auch mit stillschweigender Billigung und klammheimlicher Freude der „normalen“ Mitbürger operieren konnten, wollte man lange genug nicht wahrhaben. Nur 5000 Juden haben überlebt, in Verstecken oder weil man sie auf Baustellen oder beim Torfstechen brauchte. Katrin Reichelt kommt, was die lettische Beteiligung am Holocaust betrifft, zu folgendem Urteil: Auch als Objekte der deutschen Okkupationspolitik hatten Letten angesichts der vor ihren Augen ablaufenden Judenverfolgung gewisse Spielräume für eine aktive oder passive Beteiligung. In vielen Fällen lag Eigeninitiative von lettischer Seite vor (…). Es ist erstaunlich, mit welcher Flexibilität und Selbstverständlichkeit sich viele Kreise der lettischen Gesellschaft den neuen Notwendigkeiten der deutschen Besatzungsziele anpassten, Teil von ihnen wurden und in deren Sinn funktionierten. Dass die Juden innerhalb eines so unglaublich kurzen Zeitraums (…) vernichtet wurden, war für viele Letten (…) Konsequenz einer neuen und nicht zu beeinflussenden Realität. (…) Sie spielten die ihnen zugeteilte Rolle als Komplizen und Gehilfen ohne Zwang. (…) Die Entscheidung, als Mittäter aktiv zu werden, (…) kam allein von lettischer Seite. Täter werden nicht „gemacht“, sondern agieren aufgrund eigener Entscheidungen.8
Doch auch hier gab es eine „andere Seite“. Die ersten rot-weiß-roten Flaggen und Flugblätter tauchen am 18. November 1941, dem lettischen Unabhängigkeitstag, auf. Das war noch kein Widerstand, die Zivilverwaltung, die auf kommunaler Ebene in den eigenen Händen geblieben war, achtete darauf, dass die Zusammenarbeit mit den Deutschen reibungslos verlief. Ab Februar 1942 wurde sie landesweit von Oskar Dankers geleitet. Zwar übte Otto Drechsler, der „Generalkommissar Lettland“ und frühere Bürgermeister von Lübeck, die eigentliche Macht aus, mit der Einsetzung des Letten Dankers verband sich aber die Hoffnung, das zu verwirklichen, was die Berliner Dienststellen beim Einmarsch 1941 noch ausdrücklich verboten hatten: die Aufstellung eigener 8
Reichelt, Lettland unter deutscher Besatzung, a. a. O., S. 270 f., 321 und 364.
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lettischer Verbände an der Seite von Wehrmacht und SS zum Kampf an der Ostfront. Dazu war Dankers bereit, aber nur um den bekannten Preis der nationalen Autonomie. Sein Chefdolmetscher Gustav Celminš stärkte ihm hier ausdrücklich den Rücken. Dieser war trotz des Verbots seiner „Donnerkreuzler“ nach wie vor ein starker Mann, dessen auf 10.000 Mitglieder geschätztes Netzwerk weite Teile der Selbstverwaltung der Hilfspolizei und das „Lettische Antisemitische Institut“ unterwandert hatte. Angesichts derartiger illegaler, aber realer Machtverhältnisse stellte Himmler nach der Katastrophe von Stalingrad die gesamte lettische Selbstverwaltung vor vollendete Tatsachen und gründete am 19. Februar 1943 die „Waffen-SS-Legion Lettland“. Die erforderliche Rekrutierung ihrer Mitglieder wurde als Einberufung zum Arbeitsdienst getarnt. Das war nichts anderes als Zwangskollaboration, auf die Dauer mit kontraproduktiver Wirkung. Die durchs Land eilenden Werber wurden von vielen als „Verräter ihres Volkes“9 angesehen, und 22.000 junge Letten mussten im Rahmen verschiedener Arbeitsprogramme nach Deutschland. Sie waren dazu ausersehen, als Fahnenträger der „germanischen Idee“ in ihre Heimat zurückzukehren. Wie irreal dies war, zeigte die Bildung der lettischen SS. Die Mitte 1943 erreichte Stärke der „Legion“ war mit 18.000 Mann zufriedenstellend, aber schon im August 1943 vermerkte die deutsche Sicherheitspolizei, dass die „deutschfeindliche“ Propaganda in ihr von Tag zu Tag aggressiver werde. Da greift Himmler zum äußersten Mittel und ernennt mit Rudolf Bangerskis einen autochthonen Letten zum Generalinspekteur der „Lettischen SS-Freiwilligenlegion“, wie sie sich fortan nennt; Dankers immerhin hatte baltendeutsche Wurzeln. Bangerskis hatte schon 1918 als „Weißer“ gegen die Bolschewiki gekämpft, war 1925/1926 kurzzeitig Kriegsminister gewesen und war nun bei seiner Berufung bereits 65 Jahre alt. Er hatte keine Kommandogewalt, sondern sollte werben und rekrutieren. Am 6. Oktober 1943 erneut im Amt des Kriegsministers, bereitet er die Letten unter Bezugnahme auf ihre Unabhängigkeitserklärung von 1920 auf die Einberufung der Jahrgänge 1915 bis 1924 vor. In einer Versammlung mit allen lettischen Bürgermeistern erklärt er dies zum ersten Schritt auf dem Weg in einen freien Staat. Mit der Generalmobilmachung vom Februar 1944 werden auch die Jahrgänge 1908 bis 1914 zu den Waffen gerufen, im Sommer umfasst die lettische SS-Legion in zwei Divisionen 87.500 Mann. Es ist der größte nichtdeutsche Verband der Wehrmacht, keine andere europäische Nation hat einen höheren Anteil bei der militärischen Kooperation mit dem Dritten Reich gestellt. Zusammen mit Polizeiregimentern und „Hilfswilligen“ dienten 115.000 Letten bei den Deutschen, in der Roten Armee waren es 20.000. Um die Zivilbevölkerung für den „Endsieg“ zu gewinnen, darf Bangerskis im November 1944 ein „Lettisches Nationalkomitee“ bilden, am 20. Februar 1945 wird er von fünfzig führenden, geflohenen Persönlichkeiten seines Landes in Potsdam gar zum Präsidenten gewählt, aber da ist alles zu spät. 9
Zit. nach Waite, Kollaboration und deutsche Besatzungspolitik in Lettland 1941 bis 1945, a. a. O., S. 235.
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Der Umschlagspunkt in der Kollaboration zwischen Letten und Deutschen ist klar zu benennen. Es ist die Verhaftung von Gustav Celminš, nominell und vor allem seinem Anspruch nach immer noch Führer der „Donnerkreuzler“, im März 1944 durch den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS. Danach wandten sich die nationalen und stolzen Balten ab. Vom Herbst 1944 an haben 120.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Es bedarf keiner großartigen Fantasie, um das Gros der Kollaborateure unter ihnen zu vermuten. 40.000 Letten sind auf deutscher Seite gefallen, 170.000 wurden im Zuge der zweiten Sowjetisierung ab 1945 deportiert und exekutiert. 535.000 Weißrussen, Russen und Ukrainer wanderten ein, zeitweilig stellten sie über 40 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bis 1989 sank der Anteil der ethnischen Letten auf 52 Prozent der Einwohner, 1935 waren es noch 75 Prozent gewesen. In Riga stellen die Russen nun die Mehrheit. Schon Ende 1944 lässt Stalin die „Außerordentlichen Kommissionen“ gründen, um die Kollaboration in dem Baltenstaat untersuchen zu lassen. Im Juli 1945 steht eine „Fahndungsliste“ mit 2822 Namen, die Ermittlungen führt der KGB, Verbrecher ermitteln mithin gegen Verbrecher. Viele werden gleich vor Ort erschossen. Lettische Geschichte gibt es an den Schulen erst wieder seit den 1960er Jahren, und zwar als integraler Teil der Geschichte der Sowjetunion. Das Hinmorden von 95 Prozent der jüdischen Bevölkerung findet in ihr keinerlei Erwähnung. Wenn einzelne Opfer erwähnt sind, dann nur als „Bürger der Sowjetunion“. „So wurde das Böse exterritorialisiert und die pauschale Diffamierung der im Exil lebenden Letten als Kriegsverbrecher ein fester Bestandteil der Geschichtsschreibung.“10 Am 28. Juli 1989 erklärt Lettland seine Souveränität, am 20. Januar 1991 scheitert der Angriff sowjetischer OMON-Sicherheitskräfte auf das Land. In einer Volksabstimmung vom 3. März 1991 stimmen 74 Prozent für die Unabhängigkeit, am 7. Juli 1993 wird Guntis Ulmanis, der Großneffe von Kārlis Ulmanis, vom Bauernbund zum Staatspräsidenten gewählt und die Verfassung von 1922 wieder in Kraft gesetzt. Seine 1999 ins Amt getretene Nachfolgerin, die parteilose Professorin Vaira Vike-Freiberga aus Montreal, macht das Lettische wieder zur Amtssprache in allen Behörden, Staatsbetrieben und im öffentlichen Leben. Mochten die Dinge hier auch geklärt sein, so waren sie es im nationalen „Erinnerungsspeicher“ noch längst nicht. Der Oberste Rat der Republik konzedierte im September 1990 zwar, „dass auch Bürger Lettlands unter jenen waren, die halfen, den Terror der Besatzer zu verwirklichen“, eine erkennbare Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit ist dem aber nicht gefolgt. Nachdem man unter zwei Fremdherrschaften zweimal Opfer geworden war, glaubte man, „sich Reue und Scham (…) ersparen zu dürfen“.11 Noch 1996 wertete ein exillettischer Forscher die Kennzeich10 Eva-Clarita Onken, Wahrnehmung und Erinnerung: Der Zweite Weltkrieg in Lettland nach 1945, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 2, S. 671–692, hier: S. 674. 11 Margers Vestermanis, Der Holocaust in Lettland. Zur „postkommunistischen“ Aufarbeitung des Themas in Osteuropa, in: Arno Herzig und Ina Lorenz (Hg.), Verdrängung und Vernichtung der Juden unter dem Nationalsozialismus, Hamburg 1992, S. 101–118, hier: S. 114.
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nung der lettischen Bevölkerung von 1941 bis 1945 als antisemitisch, willfährig und den Deutschen oft aus eigener Initiative zum Handlanger geworden als sowjetische und nationalsozialistische Propagandalüge.12 Zwei Jahre später wurde von staatlicher Seite eine Historische Kommission zur Untersuchung von in Lettland begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit einberufen. Zur im gleichen Maße umstrittenen wie unumstrittenen Nagelprobe ihrer Arbeit avancierte die Frage nach der Einschätzung der SS-Freiwilligenlegion Lettland. Es steht außer Frage, dass die meisten ihrer Mitglieder vor die Wahl gestellt wurden, Zwangsarbeit in Deutschland zu leisten oder in sie einzutreten, was höchstens jeder Sechste freiwillig tat. 1991 gründeten ihre Ehemaligen die paramilitärische Heimatschutzorganisation Zemessargi, mit der sie ihre offizielle Anerkennung als Freiheitskämpfer Lettlands forderten. Umso schärfer und unausweichlicher wurde deshalb die Problematik: Durften sie „als vermeintliche Schutzkraft der lettischen Nationalidee noch immer in irgendeiner Form Identifikation stiften und positiv gewürdigt werden?“13 Die Auseinandersetzungen hierzu dauern bis heute an. Im Schrifttum der Exilletten dominierte eine fast schon verherrlichende Sicht „ihrer“ Legion, weil sie 1945 „als einzig legitime nationallettische Armeeformation“ gegen die zweite Besetzung durch die Rote Armee gekämpft habe und dabei „tragisch, aber schuldlos zwischen zwei Großmächten zerrieben worden sei.“14 Der 16. März 1944 wurde glorifiziert, weil sich lettische SS-Einheiten an diesem ersten Jahrestag ihrer Feuertaufe am Wilikaja-Fluss ein gnadenloses Gefecht mit Stalins Truppen geliefert hatten. Auch nach dem Umbruch 1990/1991 galten ihre Soldaten als Freiheitskämpfer und Nationalhelden, denen alljährlich am 16. März mit Aufmärschen und Umzügen gedacht wurde, an denen – unter scharfem internationalen Protest – bis 1998 sogar staatliche Vertreter teilnahmen. Wer es wagte, die Veteranen „Kriegsverbrecher“ oder „Faschisten“ zu nennen, machte sich verdächtig, die Moskauer Karte zu spielen. Auf einmal tauchten Untersuchungen auf, in denen gigantische Größenordnungen von 146.000 Mitgliedern der „Legion“ genannt wurden15, also praktisch die gesamte „wehrfähige“ Bevölkerung Lettlands im Zweiten Weltkrieg. Immerhin lebten 1993 noch 11.500, die es jetzt, fast ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Krieges, riskieren konnten, ihre 12 Andrievs Ezergailis, The Holocaust in Latvia 1941–1944. The Missing Center, Riga und Washington D. C. 1996. 13 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 2, a. a. O., S. 290; Valters Nollendorfs, Achse der Erinnerung. Krieg und Okkupation in lettischen Denkmälern, in: „Osteuropa“, Nr. 6/2008, S. 267–283. 14 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 2, a. a. O., S. 291. 15 Vgl. Onken, Wahrnehmung, a. a. O., S. 685, Anm. 38; dies., Demokratisierung der Geschichte in Lettland. Staatsbürgerliches Bewusstsein und Geschichtspolitik im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit, Hamburg 2003; dies., Revisionismus schon vor der Geschichte. Aktuelle Kontroversen um Judenvernichtung und Kollaboration in Lettland, Köln 1998; Ulrike von Hirschhausen, Denkmal im multiethnischen Raum. Zum Umgang mit der Vergangenheit in der Gegenwart Lettlands, in: Altrichter (Hg.), GegenErinnerung, a. a. O., S. 51–66.
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Rente einzureichen, nicht in Riga oder Moskau, sondern in Berlin, und der Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches zahlte. Hätten sie sich vorher geoutet, wären sie geächtet, verurteilt oder in ein sowjetisches Lager verschleppt worden. So aber konnten sie eine späte Dividende einstreichen, die der Kollaboration und des nationalen Unabhängigkeitskampfes. Die endgültige Abkehr des Staates von ihren Märschen und Paraden folgte im Übrigen erst, als Lettland den Kurs auf die 2004 erfolgte Mitgliedschaft in der Europäischen Union aufnahm. Gleichwohl marschierten noch am 16. März 2015 über 1500 SS-Veteranen unter massivem Polizeischutz zu ihrer alljährlichen Parade durch Riga. Da der Zweite Weltkrieg im Bewusstsein der meisten Letten erst 1991 zu Ende gegangen ist, wird es in dem Land auf absehbare Zeit keine gemeinsame Erinnerungskultur all derer geben, die von 1940 bis 1945 in ihm Uniform und Waffen getragen haben. Die „roten Partisanen“, die von 1941 bis 1944 im Untergrund gegen die Wehrmacht kämpften, galten bis 1991 als „Helden“, zählen aber seitdem als „Banditen“. Damit tragen sie heute genau die Bezeichnung, die in der sowjetischen Propaganda für die „Waldbrüder“ verwendet wurde, die noch bis 1956 gegen die zweite Fremdherrschaft angingen. Diese aber werden heute wiederum als „nationale Widerstandskämpfer“ geehrt. Wer hatte wann mit wem die nationale Ehre beschmutzt? Es war schon kein Zufall, dass die Einwohner aller anderen früheren Sowjetrepubliken nach dem Untergang der UdSSR automatisch die Staatsangehörigkeit des neuen Landes bekamen, nur die Letten nicht. Sie mussten nachweisen, dass ihre Vorfahren schon vor 1940 in Lettland gewohnt hatten, oder die lettische Sprache lernen, ansonsten blieben sie staatenlos. Als der junge Regisseur Edvin Snore 2009 (mit EU-Mitteln) den Film „Soviet Story“ dreht, in dem die sowjetischen Verbrechen den deutschen drastisch und klar übergeordnet werden, bekommt er den renommieren Lačplesis-Orden, der eigentlich nur für betagte Lebensleistungen vergeben wird.16 Der Graben in dem kleinen, 2,3 Millionen Einwohner zählenden Volk, in dem 34 Prozent sich als russisch oder russophon empfinden, ist und bleibt tief, weil in der lettischen Geschichte immer wieder Verfolger zu Verfolgten und Verfolgte zu Verfolgern geworden sind. In dem inzwischen fertiggestellten Okkupationsmuseum in Riga wird der lettische Antisemitismus nicht thematisiert. Der Judenmord taucht in einem einzigen verschwommenen Foto auf, die Kollaboration mit den Deutschen wird auf das angeblich nur 300 Letten umfassende Arājs-Kommando reduziert. Zur Beteiligung der eigenen Hilfspolizeitruppen an der Massenvernichtung 16 Katja Wezel, „Brauner“ versus „roter Genozid“? Erinnerungspolitische und filmische Auseinandersetzungen mit dem diktatorischen Erbe in Lettland, in: Hofmann et al. (Hg.), Diktaturüberwindung in Europa, a. a. O., S. 308–330; dies., „Okkupanten“ oder „Befreier“? Geteilte Erinnerung und getrennte Geschichtsbilder in Lettland, in: „Osteuropa“, Nr. 6/2008, S. 147–158; dies., Geschichte als Politikum. Lettland und die Aufarbeitung nach der Diktatur, Berlin 2016; Valters Nollendorfs und Erwin Oberländer (Hg.), The Hidden and Forbidden History of Latvia under Soviet and Nazi Occupations in Latvia 1940–1991, Riga 2005.
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fällt kein einziges Wort. Auch bei dem seit 2010 vorgenommenen Umbau führten Exilletten die Hand und sorgten dafür, dass nichts die nationale „Meistererzählung“ trübt. Im Grunde genommen ist man immer noch auf dem Stand von 1998, als Staatspräsident Ulmanis (auf Druck der EU) eine Historikerkommission zur Untersuchung beider Diktaturen in Lettland einberief. In ihr prallten die Positionen des Exilletten Andrievs Ezergailis und des Leiters des (ohne staatliche Unterstützung arbeitenden) Jüdischen Museums in Riga, Margers Vestermanis, unerbittlich aufeinander. Bis heute „hat noch keine Seite eine endgültige Deutungshoheit über diesen Teil der Geschichte erlangt.“17 Als 2016 im Wald von Rumbula südöstlich von Riga der dortigen Erschießung von 25000 Juden vor 75 Jahren gedacht wurde, nahm eine Gruppe junger lettischer Historiker dies zum Anlass, an Ort und Stelle mit der Kampagne „Es sind die Unsrigen“ zu demonstrieren. Damit wurden zum ersten Mal jüdische Opfer des Holocaust zu Mitbürgerinnen und Mitbürgern erklärt.
17 Regina Fritz und Katja Wezel, Konkurrenz der Erinnerungen? Museale Darstellungen diktatorischer Erfahrungen in Lettland und Ungarn, in: Hammerstein et al. (Hg.), Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung?, a. a. O., S. 233–247; Valters Nollendorfs, Lettland unter der Herrschaft der Sowjetunion und des nationalsozialistischen Deutschland 1940–1991, Riga 2010; Zitat: Claudia Matthes, Opfer und Opferverbände in Lettland – erneut Opfer einer doppelten Deutung der Geschichte?, in: Günther Heydemann und Clemens Vollnhals (Hg.), Nach den Diktaturen. Der Umgang mit den Opfern in Europa, Göttingen 2016, S. 209–232, hier: S. 232.
Litauen Der Angriff des Deutschen Ordens gab dem Fürsten Mindaugas um 1240 die Gelegenheit, Litauen erstmals zu einigen. Gedymin, einer seiner Nachfolger, verbündete sich mit Polen. In der Schlacht von Tannenberg (Grunwald) konnte das vereinigte polnisch-litauische Heer den Orden 1410 vernichtend schlagen. Nach den drei polnischen Teilungen war auch das litauische Siedlungsgebiet fremdbeherrscht, vor allem von den Heeren aus St. Petersburg. Die brutale Russifizierungspolitik bewirkt eine erste Auswanderungs- und Nationalbewegung, insbesondere in den Priesterseminaren. Auch der Gegensatz zu Polen entsteht und wächst. Nach der Revolution von 1905 und 1906 muss der Zar die litauische Sprache in Schule und Verwaltung zulassen. 1915 besetzen deutsche Truppen die von Litauern bewohnten Gouvernements in Russland. Zwei Jahre später gründen Vertreter aller Parteien unter Führung von Antanas Smetona (1874–1944) einen Landesrat (Taryba), der am 11. Dezember 1917 die Unabhängigkeit des Zwei-Millionen-Staates verkündet. Die im Folgejahr gebildete Regierung unter Augustinas Voldemaras erlässt eine vorläufige Verfassung nach westlichem Vorbild. Die große polnische Minderheit verweigert dem neuen Staat von Anfang an die Mitarbeit. Zankapfel ist das Gebiet um Vilnius, das am 1. Januar 1919 von polnischen Freiwilligenverbänden besetzt wird. Die litauische Regierung muss nach Kaunas ausweichen. Von dort gibt es bis 1938 keinerlei diplomatische Beziehungen mit Warschau, während die junge Sowjetunion Vilnius ausdrücklich als Teil und Hauptstadt Litauens anerkennt. Das Memelland, ein zweites umstrittenes Terrain, das im Versailler Vertrag von Deutschland abgetrennt und den Siegermächten des Ersten Weltkriegs unterstellt worden war, wird am 10. Januar 1923 von zivil gekleideten Angehörigen der litauischen Armee in einem vorgetäuschten Aufstand besetzt und nach diesem fait accompli der Regierung in Kaunas zugesprochen. Sie muss sich allerdings dazu verpflichten, den Autonomiestatus und die Rechte der deutschen Minderheit zu garantieren. Paramilitärische Gruppierungen besitzen bereits zu diesem Zeitpunkt eine erhebliche Macht im Lande. Den größten Zulauf genießen die aus dem Schützenbund heraus gebildeten Siauliai, die sich als dessen Dachverband und als selbsternanntes Verbindungsglied zwischen Staat und Armee sehen. Hatten sie 1919 lediglich 800 Mitglieder, so stieg diese Zahl bis 1940 auf 62.000, von denen über 80 Prozent Bauern waren. Ein ganzes Netzwerk von „Volkshäusern“, Bibliotheken und Wohlfahrtseinrichtungen gehörte ihnen. Das erklärte Ziel war die Mobilisierung der Heimatfront, die Nationalisierung der gesamten Gesellschaft. Die Juden wurden schon 1922 als „unproduktive, degenerierende Nation“ bezeichnet. Smetona wurde von den Siauliai begeistert unterstützt, sie dienten ihm als politische Polizei. 1935 übernahm allerdings das Oberkommando der Armee die Aufsicht über ihre sämtlichen Aktivitäten.
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Unter dem Vorwand eines angeblich drohenden kommunistischen Umsturzversuchs putschen Teile der Armee am 17. Dezember 1926 gegen die Koalition aus Bauernbund und Sozialdemokraten und bringen die Tautininkai, die Nationale Partei, die bis dahin gerade einmal drei Sitze im Parlament hatte, mit Smetona als Staats- und Voldemaras als Ministerpräsident an die Macht. Sie rufen im Seimas, dem Parlament, das Kriegsrecht aus, errichten eine Einparteienherrschaft der „Union der litauischen Nationalisten“ sowie eine der italienischen Miliz nachgebildete paramilitärische Kampftruppe, die „Eiserne Garde“, und reißen mit immer neuen Verfassungsnovellierungen die gesetzgebende Gewalt an sich. Smetona hatte den coup d’état vorher mit dem sowjetischen Botschafter in Kaunas bis ins Detail abgesprochen, konkret: Er hatte Stalins Segen.1 Als Voldemaras, der Exponent der extremen Rechten, den neuen Staat immer mehr an Mussolinis Vorbild ausrichtete, ließ Smetona auch ihn stürzen. Seit 1929 galt er als Tautos vadas, als alleiniger „Führer des Volkes“. Jetzt fing auch er an, von den Erfolgen des italienischen Faschismus zu schwärmen, pflegte bis zu seinem 60. Geburtstag aber das Image eines „Philosophenkönigs“, der sein Volk aus Weisheit, Erfahrung, Autorität und Vorhersehung regiert. Erst erstaunlich spät wurden das Dorf und die Bauernschaft als die eigentlichen Bewahrer des Litauertums in den Kult um seine Übermenschlichkeit eingebaut. Bei den Feierlichkeiten zu seinem 60. Wiegenfest, am 10. August 1934, ließen ihn alle hochleben: die Schützen, die Tautininkai, die Junglitauer, die radikalnationalistische Studentenverbindung Neo-Lithuania, die Pfadfinder, die Landwirte und die Juden. In den Kaunasser Synagogen wurde für ihn gebetet, und im ganzen Land erklang das Lied „Ohne Vilnius werden wir niemals ruhen“. Ausdrücklich proklamierte Smetona, auch der Führer aller Nicht-Litauer zu sein – die Juden, Deutschen, Polen und Russen stellten immerhin 20 Prozent der Staatsbevölkerung2, die jüdischen Privatschulen, Kultureinrichtungen und Banken wurden in ihrer 1 Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmitteleuropa 1919–1944, Paderborn 2001, S. 6; Raimundas Lopata, Die Entstehung des autoritären Regimes in Litauen 1926 – Umstände, Legitimation, Konzeption, in: Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime, a. a. O., S. 95–143. Klaus Richter, Antisemitismus in Litauen. Christen, Juden und die „Emanzipation“ der Bauern (1889– 1914), Berlin 2013, betont die „beträchtliche rechtliche Autonomie (der Juden), die in Europa ihresgleichen suchte“ (S. 387), und nimmt als Fixpunkt für dieses Urteil die Machtübernahme Smetonas; ein latenter und offener Antisemitismus bestand vor und nach diesem Zeitpunkt. Vgl. auch: Eglè Bendikaite, Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Politik gegenüber den Juden in Litauen in der Zwischenkriegszeit, in: Dittmar Dahlmann und Anke Hilbrenner (Hg.), Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen. Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa, Paderborn 2007, S. 101–120; Tomas Balkelis, Von Bürgern zu Soldaten. Baltische paramilitärische Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg, in: Robert Gerwarth und John Horne (Hg.), Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2013, S. 201–225. 2 Alvydas Nikžentaitis et al., The Vanished World of Lithuanian Jews, Amsterdam [u. a.] 2004; Mathias Niendorf, „Litwaken“. Stationen jüdischen Lebens in Litauen (1388–1944), in: Annelore Engel-Braunschmidt und Eckhard Hübner (Hg.), Jüdische Welten in Osteuropa, Frankfurt am
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Mehrzahl nicht angetastet. Die „Vereinigung jüdischer Soldaten, die für die Unabhängigkeit gekämpft haben“, die katholische Litauische Arbeitsföderation, der Bund evangelischer Frauen und der memelländische Schützenbund stellten sich auf die Seite des Tautos vadas. Mit dem Vytis-Kreuz, dem Lilienorden, dem Verdienstorden und dem Hakenkreuzorden wurden ihm die höchsten Auszeichnungen des Landes verliehen, doch dann begann sich der Wind zu drehen. Am 17. März 1938 sah Smetona sich gezwungen, ein polnisches Ultimatum zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu akzeptieren und damit auch offiziell den Anspruch auf Vilnius fallen zu lassen. Seine Sympathiewerte, wie man heute sagen würde, sanken daraufhin ins Bodenlose, die Bezeichnung „Führer des Volkes“ verschwand aus der Presse. Dafür tauchte in ihr nun umso häufiger sein einstiger politischer Ziehsohn, der Verteidigungsminister General Stasys Raštikis, auf. Es ist der letzte Rivale, dessen Machtgelüste Smetona abzuwehren vermag. Am 15. Juni 1940 geht er bei Nacht und Nebel über die grüne Grenze nach Deutschland. Zu dem Zeitpunkt gehörte er zu den dienstältesten Autokraten Europas. Mit seiner Flucht fiel er aus dem litauischen Heldennarrativ, in das er sich so tief und geschickt eingebettet hatte. Sechs Jahre zuvor hatte es noch in einer Zeitung geheißen: „Antanas Smetona ist ein Führer. (…) Ein Führer kann seine Leute nicht im Stich lassen. Smetona floh während des (Ersten Welt-)Krieges nicht nach Russland, sondern blieb in Litauen und kämpfte mit den deutschen Besatzern.“3 1944 ist er im Exil in Cleveland/Ohio gestorben. Litauen, das im März 1939 unter massivem deutschen Druck das Memelland an das Reich hatte abtreten müssen, war im Hitler-Stalin-Pakt zunächst der deutschen Interessenssphäre zugeordnet, aber schon einen Monat später Stalin geopfert worden. Am 11. Oktober 1939 muss Smetona einem Beistandspakt mit der UdSSR und der Stationierung sowjetischer Truppen zustimmen, erhält aber den Großteil des Vilnius-Gebietes zusammen mit der Stadt zurück. Am 16. Juni 1940 marschiert die Rote Armee ein, gut einen Monat später entsteht die Litauische Sozialistische Sowjetrepublik. 14.000 Menschen fallen einer ersten „Säuberungswelle“ zum Opfer. Angeblich hat sich die jüdische Minderheit hieran beteiligt, die auch bereits die Ankunft der Rotarmisten freudig begrüßt haben soll. Der daraus entstandene, nur zu einem kleinen Teil von der Wirklichkeit gedeckte Mythos sollte sich fatal auswirken. Er ist mit dem Stereotyp vom „jüdischen Kommunisten“ hinreichend umrissen, obwohl unter den Deportierten mindestens die Hälfte Juden waren. Fast auf den Tag ein Jahr nach der ersten Verschleppung folgt die zweite. 15.000 Litauer fallen ihr zum Opfer, vorwiegend die jüdische und die nicht jüdische Elite, sofern sie nicht, wie die letztere, vorher nach Deutsch-
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Main 2005, S. 101–126; Rudolf Heberle, Die Deutschen in Litauen, Stuttgart 1927; Norbert Angermann, Die Deutschen in Litauen. Ein historischer Überblick, Lüneburg 1996. Zit. nach Klaus Richter, Der Kult um Antanas Smetona in Litauen (1926–1940). Funktionsweise und Entwicklungen, in: Ennker und Hein-Kircher (Hg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, a. a. O., S. 111–136, hier: S. 136.
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land geflohen war. Dort, in Berlin, hatte der ehemalige litauische Botschafter Oberst Kazys Škirpa am 17. November 1940 aus Sozial- und Christdemokraten sowie aus Tautininkai und Voldemarininkai die „Litauische Aktivistenfront“ (LAF) gegründet, die über engste Beziehungen zu nationalistischen und rechtsextremen Kreisen im Mutterland verfügte. Das OKW, das Auswärtige Amt, das Außenpolitische Amt der NSDAP und die Sicherheitspolizei werden umgehend von Škirpa informiert. Das übergreifende Ziel der LAF war die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit, die über einen simultan und synchron mit dem Einmarsch der Wehrmacht inszenierten Volksaufstand erreicht werden sollte – Deutsche und Litauer Hand in Hand, Kollaboration von Anfang an. Škirpa sollte an der Spitze einer provisorischen Regierung stehen, wurde jedoch zu Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ in Berlin unter Hausarrest gestellt. Antanas Maceina, der LAF-Chefideologe, schrieb: „Der neue Staat duldet keine ethnische Vermischung. In ihm muss ein Volk klar herrschen.“4 Im berüchtigten Artikel 16 des LAF-Programmes hieß es: „Die Litauische Aktivistenfront widerruft die Gastfreundschaft für die jüdische ethnische Minderheit.“ Und in der Anleitung zur Befreiung Litauens vom Februar 1941 sowie weiteren schnell verbreiteten Pamphleten und Flugblättern wird den Juden die Vertreibung und Ermordung angedroht: „Juden, eure Geschichte in Litauen, die fünfhundert Jahre währte, ist nun vorbei. Habt keine hoffnungsvollen Illusionen! Es gibt für euch keinen Platz mehr in Litauen! Für das litauische Volk, das zu neuem Leben aufersteht, seid ihr Verräter, und es wird euch behandeln, wie man Verräter behandeln sollte.“5 Das „Neue Litauen“ hatte „arisch rein“ und nach dem Führerprinzip ausgerichtet zu sein; die Programme der LAF und der NSDAP waren weitgehend deckungsgleich. Der konkreten Umsetzung dieser Ziele dienten die am 30. März 1941 gegründeten Bataillone „Schutz der nationalen Arbeit“, in der litauischen Abkürzung TDA, die für die Organisation der bewaffneten litauischen Einheiten zuständig waren und die politischen Ziele der LAF umsetzen sollten. Sie wurden später in „Selbstschutzeinheiten“ und „Schutzmannschaften“ umbenannt. Die Wehrmacht ist in Litauen praktisch bis ins hinterste Dorf mit Freudentränen, frenetischem Jubel, Brot, Salz, Blumen und Geschenken begrüßt worden. In Vilnius entließ ein Bürgerkomitee am 26. Juni 1941, einen Tag vor der Ankunft deutscher Truppen, alle Juden und Kommunisten aus der Stadtverwaltung. Die nachrückende deutsche Sicherheits- und Ordnungspolizei hat vom ersten Moment an mit Tausenden litauischen Polizisten und Soldaten zusammengearbeitet, die vielerorts sogar die Initiative ergriffen. Die ca. 20.000 Mann umfassenden Partisanengruppen eröffneten das Feuer gegen Stalins Soldaten, bevor Hitlers Soldaten auch nur in Sicht waren. Tatsächlich kam es zum Aufstand, denn alle glaubten, jetzt sei die Stunde der Befreiung ge4 Zit. nach Klaus Richter, Der Holocaust in der litauischen Historiographie seit 1991, in: ZfO, Nr. 3/2007, S. 389–416, hier: S. 396. 5 Zit. nach Richter, Der Holocaust in der litauischen Historiographie seit 1991, a. a. O., S. 397, Anm. 44.
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kommen. Škirpa hetzte in einer Rundfunkansprache zum Mord an den Juden auf. Von den 36.000 Untergrundkämpfern der LAF agierte ein Großteil unabhängig gegen die Sowjets, insgesamt beteiligten sich 100.000 Bewaffnete am Aufstand, die Rote Armee verließ Litauen schon nach fünf Tagen, und dann begannen die Pogrome gegen die Juden. Überall bildeten sich, zumeist spontan und in Eigenregie, Kommissionen zur „Regelung der jüdischen Angelegenheiten“. Vom 23. Juni bis zum 4. August 1941 amtierte in Kaunas eine provisorische Regierung, die „entschieden dagegen war, sich zu ‚Quislingen‘ machen zu lassen“6, gleichwohl erging sie sich sofort in einer Dankesadresse an Hitler. Die LAF spielte in ihr eine maßgebliche, aber nicht die einzige Rolle. Kaum weniger stark war die bereits 1934 in Opposition zu Smetona gegründete „Litauische Nationalisten Partei“ (LNP) vertreten, die bis Anfang 1940 nicht öffentlich in Erscheinung trat. Obwohl eindeutig nationalsozialistisch orientiert, war die Unabhängigkeit auch ihr oberstes Ziel. Als die LAF Generalkommissar von Renteln am 5. August 1941 eine Denkschrift mit eben dieser Zielsetzung überreicht, teilt er den Mitgliedern der provisorischen Regierung ihre Absetzung mit. An deren Stelle treten neun Generalräte, von denen sechs der LNP angehören. Diese Generalräte standen den nunmehr ehemaligen litauischen Ministerien vor, denen jeweilige deutsche Abteilungen im Generalkommissariat übergeordnet waren. „Die Deutschen hielten nicht nur eine zentrale litauische Regierung für gefährlich, sondern jegliche zentrale politische Vertretung der Litauer.“7 Dementsprechend überrascht es kaum, dass die LAF im September 1941 und die LNP im Dezember 1941 verboten wurden. Aktueller Anlass war eine direkt an Hitler gerichtete Denkschrift der LAF, in der man sich beklagte, nach einem Kampf „an der Seite des deutschen Reiches (wie) besetztes Feindesland“ behandelt zu werden. Die Zustände seien fast schlimmer als unter den Sowjets. In einem ähnlich ausgerichteten, wenig später folgenden Memorandum der LNP werden die Gründe für die Entfremdung konkret benannt: das Verbot von Nationalhymne und Nationalflagge, das Aussaugen der Wirtschaft, die Schließung der Hochschulen, die Unterstellung der TDAbzw. Hilfspolizeibataillone unter deutschen Befehl und die Tatsache, dass der enteignete jüdische Besitz „nicht zur Verfügung des litauischen Volkes gestellt“ worden ist. Mit der letzten Bemerkung ist das benannt, was sich in der relativ kurzen Zwischenzeit in engstem Zusammenwirken zwischen Litauern und Deutschen als nicht unwesentlicher Teil des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte in diesem Terrain des Baltikums abgespielt hatte. „Litauen 1941 – das war der Holocaust im Holocaust“, so lautet das Wort von Ralph Giordano. „Die Vollständigkeit, Schnelligkeit und Grausamkeit des litauischen Anteils 6 Kazys Pelėkis, Genocide. Lithuania’s Threefold Tragedy, München 1949, S. 97. 7 Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, a. a. O., Bd. 1, S. 473; Rudolf Hilbrecht, Litauen im Reichskommissariat Ostland 1941–1943/44. Parallelen und Kontraste zum übrigen Baltikum, vornehmlich Estland, in: Bohn (Hg.), Die deutsche Herrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940–1945, a. a. O., S. 187–208.
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an der Shoah haben in der Geschichte des Völkermords im deutsch besetzten Teil Europas während des Zweiten Weltkrieges nicht ihresgleichen.“ Giordano betont die „grenzenlose Freude“ über die Ankunft der Wehrmacht, die Unmittelbarkeit der „Tötungsorgie“ und den enorm hohen Grad litauischer „Privatheit“ bei allen Aktivitäten: „Es war, als wenn eine lang schwelende Bereitschaft dazu endlich grünes Licht bekommen hätte.“8 Schon hier wird das Diktum, dass die Deutschen bei allen Mordaktionen die Kontrolle und Befehlsgewalt hatten, merklich relativiert. Auch der Täterkreis lässt sich keineswegs auf die beteiligten zehn einheimischen Hilfspolizeibataillone reduzieren. Die mobilen Killerkommandos, die das Land durchkämmten, fanden überall ganz gewöhnliche Litauer, die sich für alles zur Verfügung stellten. Ihr Handlungsspielraum war anfangs sogar größer als derjenige der Deutschen.9 Als das Einsatzkommando 3 der Einsatzgruppe A, das berüchtigte „Rollkommando Hamann“, am 2. Juli offiziell die „sicherheitspolizeilichen Aufgaben in Litauen“ übernahm, war das Morden bereits in vollem Gange. Vor Ort liefen ihm die Handlanger in Scharen zu, die alle um „Festanstellung“ baten. Schließlich war das Verhältnis der einheimischen Hilfspolizisten zu den deutschen Kräften dreimal so hoch wie im übrigen Reichskommissariat Ostland. „Damit dokumentiert sich der hohe Grad an Verlässlichkeit, den die Besetzer den litauischen Kollaborateuren insgesamt beimaßen.“10 Insbesondere die aufgelösten Partisaneneinheiten mutierten in Windeseile zu Hilfspolizeibataillonen. Abgesehen von Mariampolė arbeitete das Kommando vorwiegend im ländlichen Raum, weshalb es auch am 2. Oktober 1941 schon wieder aufgelöst wurde, denn da gab es in den Dörfern keine Juden mehr. Der Umfang, in dem polizeiliche, auch sicherheitspolizeiliche Aufgaben „an vertrauenswürdige einheimische Kollaborateure übergeben wurden“11, war beträchtlich. 8 Ralph Giordano, Geleitwort, in: Vincas Bartusevičius, Joachim Tauber, und Wolfram Wette (Hg.), Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1941, Köln, Weimar und Wien 2003, S. 1–4, hier: S. 1. 9 Joachim Tauber, 14 Tage im Juni. Zur kollektiven Erinnerung von Litauern und Juden, in: Bartusevičius, Tauber und Wette (Hg.), Holocaust in Litauen, a. a. O., S. 40–50, hier: S. 40; als erschütternde Erfahrungsberichte: Abraham Sutzkever, Wilner Getto 1941–1944, Zürich 2009 und Grigorijus Smoliakovas, Die Nacht, die Jahre dauerte. Ein jüdisches Überlebensschicksal in Litauen 1941–1945, Konstanz 1992. 10 Knut Stang, Kollaboration und Massenmord. Die litauische Hilfspolizei, das Rollkommando Hamann und die Ermordung der litauischen Juden, Frankfurt am Main 1996, S. 188; ders., Kollaboration und Völkermord. Das Rollkommando Hamann und die Vernichtung der litauischen Juden, in: Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann (Hg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2000, S. 464–481; Eric Heine, Allgemeine Ermächtigung und konkrete Eigendynamik. Die Ermordung der Juden in den ländlichen Gebieten Litauens, in: Bartusevičius, Tauber und Wette (Hg.), Holocaust in Litauen, a. a. O., S. 91–102. 11 Michael MacQueen, Einheimische Gehilfin der Gestapo. Die litauische Sicherheitspolizei in Vilnius 1941–1944, in: Bartusevičius, Tauber und Wette (Hg.), Holocaust in Litauen, a. a. O., S. 103– 116, hier: S. 103; Arūnas Bubnys, Die litauischen Hilfspolizeibataillone und der Holocaust, in:
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Die Sicherheitspolizei (SP), zumeist kurz saugumas genannt, war in der Zwischenkriegszeit ein Machtfaktor gewesen. Viele ihrer Mitglieder hatten sich im Juni 1940 nach Deutschland abgesetzt und kamen ein Jahr später mit der Wehrmacht zurück, so auch am 20. August 1941 der ehemalige stellvertretende Leiter der SP in Vilnius, Aleksandras Lileikis. Die Deutschen machten ihn an seinem alten Wirkungsort zum Chef. Sein erklärtes nationallitauisches Ziel war die Entfernung aller „fremden Elemente“ aus der Stadt, insbesondere der Polen, Russen und Juden. Maßgeblich unter seiner Mitwirkung sind von den 60.000 Juden im „Jerusalem des Ostens“ 55.000 ermordet worden, und zwar im Wald von Ponary (Panieriai), zehn Kilometer außerhalb der Stadt, in einer von mehr als 200 Hinrichtungsstätten im ganzen Land. Dort waren unter sowjetischer Herrschaft riesige Gruben für eine Heizöl-Tankanlage ausgebaggert worden, die bei der Ankunft der Deutschen aber noch leer stand. Vom Juli 1941 bis zum Juli 1944 sind 100.000 erschossene Menschen in sie hineingeworfen worden, Juden, Polen, russische Kriegsgefangene und Roma. Der polnische Journalist Kazimierz Sakowicz, der in der Nähe wohnte, beobachtete von seinem Dachboden aus, wie die deutschen und litauischen Todesschwadrone Tag für Tag mit ihren Lastwagen an die Gruben heranfuhren. Die Aufzeichnungen, die er hierüber machte, vergrub er in seinem Garten. Sie sind erst 1999 in einem kleinen polnischen Verlag und 2004 auf Deutsch erschienen.12 In Kaunas übernahmen bewaffnete Gruppen der LAF am 23. Juni 1941 noch vor dem Einmarsch der deutschen Truppen die Kontrolle. Die sich dort unmittelbar entfachende viehisch-menschenverachtende Tötungsorgie an den Juden steht einzigartig da. Zehn der insgesamt 25 TDA-, Polizei- und Hilfspolizeibataillone waren zwar von Anfang an massiv in den litauischen Holocaust verwickelt und vom 1. Oktober 1941 an im Stab der Litauischen Selbstschutzeinheiten bzw. dem Inspektorenstab auch einer eigenen nationalen Führung unterstellt, doch was in den Junitagen in Kaunas geschah, steht für sich da: Jeder Jude hat auf einmal gefühlt, dass der Boden unter seinen Füßen brennt. (…) Planmäßig haben dann die litauischen Partisanen ihre ersten Massenexekutionen begonnen. (…) Am Abend des 24. Juni, nachdem die ersten deutschen Militärs in der Stadt waren, nahmen ebd., S. 117–131. MacQueen betont die „unabhängige executive Befugnis der SP gegenüber den Juden“ (S. 108). In ihrem Urteil anders und abschwächend, aber nicht überzeugend: Marie Mrázková, Deutsche Besatzungspolitik und litauische Gesellschaft 1941–1944. Litauische Reaktionen auf Holocaust und Mobilisierung, Prag 2010, bes. S. 103. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich im litauischen „Atlas zur jüngsten Zeitgeschichte“ des Verlages „Briedis“ kein einziger Hinweis auf die Beteiligung der LAF und der litauischen Bevölkerung am Judenmord findet! Vgl.: Sebastian Rode, Die Kartierung der Extreme. Die Darstellung der Zeit der Weltkriege (1914–1945) in aktuellen europäischen Geschichtsatlanten, Göttingen 2015, S. 363. 12 Vgl. Christina Eckert, Die Mordstätte Paneriai (Ponary) bei Vilnius, in: Bartusevičius, Tauber und Wette (Hg.), Holocaust in Litauen, a. a. O., S. 132–144; Rachel Margolis und Jim G. Tobias (Hg.), Die geheimen Notizen des K. Sakowicz. Dokumente zur Judenvernichtung in Ponary, Nürnberg 2004.
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die Morde von Seiten der Litauer sehr viel mehr zu. (…) Der Höhepunkt wurde aber mit dem grausamen Pogrom in Slobodka erreicht. Das schreckliche Massaker geschah dort in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni. Mörderische Banden, unter denen sich viele uniformierte litauische Studenten und Partisanen befanden, mit Gewehren, Revolvern, Hacken und Messern, brachen in der Dunkelheit der Nacht die Türen zu jüdischen Häusern auf. (…) 60 Juden wurden auf den Hof der Lietukis-Garage am Vytautasprospekt gebracht und dort zu Tode gequält, wie Augenzeugen aus den angrenzenden Häusern berichtet haben, (…) mit Autowerkzeug, Spaten und Hacken (…).13
Slobodka ist der Kaunasser Stadtteil, in dem die provisorische Regierung in Windeseile ein Ghetto errichten ließ. Viele Juden waren von dem Amoklauf wie auch von der Selbstjustiz völlig überrascht; eine Jüdin schrieb an den „Chef der Sicherheitspolizei“, um ihn zu fragen, warum litauische Partisanen fast ihre gesamte Familie festgenommen hätten, und bat um deren Freilassung, da alle „ganz unschuldig sind“. Währenddessen tobte sich der blanke Hass unter den Augen einer feixenden, johlenden und höhnenden Menschenmenge aus, der die Schadenfreude ins Gesicht geschrieben stand. Ein deutscher Armeefotograf steht am Nachmittag des 27. Juni an einer Tankstelle in Kaunas: Ein junger Mann, es muss sich um einen Litauer gehandelt haben (…), mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, war mit einer eisernen Brechstange bewaffnet. Er zog jeweils einen Mann aus einer Gruppe heraus, erschlug ihn mit der Brechstange durch einen oder mehrere Hiebe auf den Hinterkopf. Auf diese Weise hatte er innerhalb einer dreiviertel Stunde die ganze Gruppe von 40–50 Personen erschlagen. Von diesen Erschlagenen machte ich eine Reihe von Aufnahmen. (…) Nachdem alle erschlagen waren, legte der Junge die Brechstange beiseite, holte sich eine Ziehharmonika, stellte sich auf den Berg der Leichen und spielte die litauische Nationalhymne. (…) Das Verhalten der anwesenden Zivilpersonen (Frauen und Kinder) war unwahrscheinlich, denn nach jedem Erschlagenen fingen sie an zu klatschen, und bei Beginn des Spiels der Nationalhymne wurde gesungen und geklatscht (…).14
Wie auf dem Jahrmarkt drängeln sich Frauen in der gaffenden Menschenmenge nach vorn und halten ihre kleinen Kinder in die Höhe, damit sie auch alles mitbekommen. Umstritten sind die Art und Weise sowie das Ausmaß der Ermunterung durch die deutsche Besatzungsmacht. „Dass Juden mit und ohne ausdrückliche Aufforderung durch die Deutschen in großer Zahl von Mitbürgern mit sarkastischer Freude ermordet wurden, steht außer Zweifel.“15 Das Quartier der 16. Armee lag nur zweihundert Meter von der Tankstelle entfernt. Deren Befehlshaber, Generaloberst Busch, erteilte den strikten Befehl, sich aus den „Selbstreinigungsaktionen“ herauszuhalten, die tage13 Augenzeugenberichte, zit. nach Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen, Bd. 1, S. 9. 14 Zit. nach Wolfram Wette, Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden, Frankfurt am Main 2011, S. 72. 15 Wolfgang Benz, Im Schatten von Auschwitz? Der Holocaust im Baltikum, in: Lehmann, Bohn und Danker (Hg.), Reichskommissariat Ostland, a. a. O., S. 35–50, hier: S. 46.
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lang weiterliefen und Tausende Juden das Leben kosteten. Es wurde „von vornherein angestrebt, dass die zuverlässige Bevölkerung bei der Bekämpfung der Schädlinge in ihrem Lande (…) mitwirkt, (…) und dass zuverlässige Kräfte (…) zu ständigen Hilfsorganen der Sicherheitspolizei gemacht wurden“.16 So geschah es. Seit dem Eintreffen des ersten SS-Kommandos am 28. Juni 1941 erschossen Deutsche und Litauer im VII. Fort im alten Festungsring um Kaunas binnen fünf Tagen 5300 Juden. Da sich im gesamten Land nicht auch nur der geringste Widerstand gegen die einmarschierende Wehrmacht erhob, konnte die Militärverwaltung schon am 21. Juli 1941 an die Zivilverwaltung übergehen. Obwohl die positive Stimmung gegenüber den Deutschen jetzt kippte, ging das gemeinsam gewollte Morden weiter. Seit dem 2. Juli war Karl Jäger in Kaunas zunächst noch in der Funktion des Chefs des Einsatzkommandos 3, dann als Kommandeur der Sicherheitspolizei. Er kam mitten in die aufgeheizte Pogromatmosphäre hinein, in der uniformierte litauische Nationalisten Juden auf offener Straße erschossen. Diese erhofften sich von den „Preußen“ deshalb die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, weshalb Jäger die Einrichtung der ersten Ghettos auch als Schutz vor den marodierenden litauischen Banden deklarierte, die sich oft nur eine weiße Armbinde übergestreift hatten oder wie die Siauliai blutrünstige Antisemiten waren. Als Mitte August das Ghetto im IX. Fort von Kaunas stand, waren aus den „Weißbändern“ längst TDA-Bataillone geworden, die mit Jäger auf das Engste zusammenarbeiteten. Allein bei der „Großen Aktion“ am 29. Oktober mussten 9200 Juden in das Ghetto marschieren, um dort erschossen zu werden. „Bewaffnete Litauer säumten beide Seiten der Straße, soweit das Auge sehen konnte, bereit, jeden zu erschießen, der zu fliehen versuchte. Es ist unmöglich, die Klagen jener zu beschreiben, die ihre Verwandten erkannten.“17 Der detaillierte Tätigkeits- und Täterbericht des SSStandartenführers Jäger vom 1. Dezember 1941 ist ein Dokument, „das in der Holocaustforschung kaum seinesgleichen haben dürfte“18. Jäger meldet seinen Vorgesetzten in ihm die Exekution von 137.346 Juden und prahlt damit, dass Litauen jetzt „judenfrei“ sei. Der „arbeitsteilige Massenmord“19 Deutscher und Litauer, Kugel für Kugel, 16 Aus Stahleckers Gesamtbericht bis zum 15. Oktober 1941, zit. nach Wette, Karl Jäger, a. a. O., S. 78. 17 Augenzeugenbericht, zit. nach Wette, Karl Jäger, a. a. O., S. 121. 18 Giordano, Geleitwort, a. a. O., S. 11. 19 Rüdiger Ritter, Arbeitsteiliger Massenmord. Kriegsverbrechen in Litauen während des Zweiten Weltkrieges, in: Timm C. Richter (Hg.), Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München 2006, S. 53–62; Dieckmann, Quinkert und Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen, a. a. O.; Wolfgang Benz und Marion Neiss (Hg.), Judenmord in Litauen. Studien und Dokumente, Berlin 1999; Arūnas Bubnys, The Holocaust in Lithuanian Province in 1941: The Kaunas District, in: Gaunt, Levine und Palosuo (Hg.), Collaboration and Resistance during the Holocaust, a. a. O., S. 283–312; Saulius Sužiedelis, Foreign Saviors, Native Disciples: Perspectives on Collaboration in Lithuania, 1940–1945, in: ebd., S. 313–360; ders., Baltische Erinnerungen und der Vernichtungskrieg 1941–1945, in: Babette Quinkert und Jörg Morré (Hg.), Deutsche
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völlig ohne Giftgas und Wochen vor Beginn der Wannseekonferenz, war beendet. Kein Litauer ist dazu gezwungen worden, Juden zu erschießen, es galt das Prinzip der Freiwilligkeit. Zwar wurden 40.000 „Arbeitsjuden“ zunächst verschont und in die Ghettos von Kaunas, Vilnius und Siauliai gesteckt, aber auch von ihnen hat kaum eine Menschenseele länger als bis 1943 existiert. Tatsächlich sind von den 220.000 Juden, die im Sommer 1941 in Litauen lebten, bis Kriegsende über 200.000 umgekommen. Nur 10.000 konnten fliehen, im Land selbst hielten sich höchstens noch 5.000 versteckt. Das litauische Judentum war zu über 95 Prozent ausgelöscht. An die Spitze der landeseigenen Verwaltung setzten die Deutschen den früheren litauischen Generalstabschef Petras Kubiliunas. Das bereits mehrfach erwähnte, in allen besetzten europäischen Staaten gerade in der Zivilverwaltung zu konstatierende Spezifikum der im Vergleich zum einheimischen Personal eminent geringen deutschen Präsenz vor Ort hat in Litauen sein herausragendes Beispiel. Hier ist das nationalsozialistische Konzept der „Kalkulation des direkten oder indirekten Kräftegewinns“20, in dem Kollaboration die schlichtweg entscheidende Rolle spielte, voll und ganz aufgegangen. Die Kontrolle und Unterwerfung der Litauer gelang, und zwar mit Litauern. „(D)ass so viele Litauer mitmachten, darin bestand der eigentliche Schock, der sich bis heute tief in das kollektive Gedächtnis der Opfer eingegraben hat. (…) Für die Juden bedeutet dies, dass sie (…) im Sommer 1941 plötzlich in der Falle saßen und es keinen Ausweg mehr gab.“21 Spätestens vom August 1941 an hatten nationalistische, rechte und rechtsextreme litauische Gruppierungen mithilfe der Gestapo alle Schlüsselstellungen in der Polizei, der Verwaltung und den Schutzmannschaften besetzt. Drei Jahre später standen den 660 in der Zivilverwaltung tätigen Deutschen 20.000 litauische Angestellte gegenüber. Ein äußerst begehrtes gemeinsames Arbeitsfeld war die „Liquidierung des jüdischen Eigentums“, wo den Deutschen die Kontrolle vollständig entglitt. In Vilnius mit seinen über hundert Synagogen hatten 46 Prozent der Grundstücke und 40 Prozent der Häuser insgesamt 6000 Juden gehört. Dieser gigantische Besitz wurde von einer „Grundstücksgesellschaft“ umverteilt, in der 13 Deutsche und 2000 Litauer saßen. Besonders die Letzteren bereicherten sich mit beiden Händen, und niemand brauchte sie dazu anzustiften. Die litauische Verwaltung war in Form von sogenannten Generalräten organisiert, die in ihren jeweiligen ArbeitsfelBesatzung in der Sowjetunion 1941–1944. Vernichtungskrieg, Reaktionen, Erinnerung, Paderborn 2014, S. 344–363. 20 Werner Röhr, Okkupation und Kollaboration, in: ders. (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 59–84, hier: S. 60; Christoph Dieckmann, Deutsche und litauische Interessen. Grundlinien der Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, in: Bartusevičius, Tauber und Wette (Hg.), Holocaust in Litauen, a. a. O., S. 63–746; Joseph Levinson (Hg.), The Shoah (Holocaust) in Lithuania, Vilnius 2006. 21 Christoph Dieckmann, Kollaboration? Litauische Nationsbildung und deutsche Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 128–139, hier: S. 135; ders., The Role of Lithuanians in the Holocaust, in: Beate Kosmala und Feliks Tych (Hg.), Facing Nazi-Genocide. Jews and Non-Jews in Europe, Berlin 2004, S. 149–168.
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dern den entsprechenden deutschen Abteilungen des Generalkommissars, also von Renteln, zugeordnet waren. Diesem unterstanden der SS- und Polizeiführer Litauen sowie die Kommandeure der Sicherheits- und Ordnungspolizei, in der noch im September 1942 ganze 4 Prozent des Personals von Deutschen gestellt wurden. Als der Höhere SS- und Polizeiführer Ostland Friedrich Jeckeln im April 1943 litauische Studenten aufspüren wollte, die vor den deutschen Mobilisierungsversuchen geflohen waren, standen ihm nur 233 deutsche Polizisten zur Verfügung; das Unternehmen scheiterte, so wie die gesamte Arbeitskräftemobilisierung. Nicht einmal Himmler konnte zusätzliches Personal entsenden. In einem der größten Gebietskommissariate gab es zur Erzwingung der Ablieferung von landwirtschaftlichen Produkten aus 11.000 Bauernhöfen gerade einmal 26 Polizisten. Beim Generalrat für Ernährung und Landwirtschaft waren 4200 Litauer aus dem ehemaligen Landwirtschaftsministerium und der ehemaligen Landwirtschaftskammer tätig. Ohne Litauer lief in Litauen nichts. „Insofern kann kaum von völliger Machtlosigkeit die Rede sein.“22 Am wenigsten beim litauischen Holocaust. Die deutsche Zivilverwaltung und die litauische Verwaltung haben im engsten Benehmen die Juden erfasst, sie ihres Vermögens beraubt, zur Zwangsarbeit eingewiesen, die Ghettos errichtet, bewacht und ihre Insassen den Hinrichtungskommandos zugeführt. Vom Oktober 1941 an haben Deutsche und Litauer im IX. Fort von Kaunas dorthin deportierte Juden aus anderen europäischen Staaten wie Österreich und Frankreich sowie sowjetische Kriegsgefangene erschossen. Auch hier wurden die Einheimischen Teil der deutschen Mordmaschinerie. Am 9. März 1942 geht beim Kommandeur der Sicherheitspolizei eine der fünfzig Ausfertigungen des Erfahrungsberichts der Einsatzgruppe A für den Zeitraum vom 16. Oktober 1941 bis zum 31. Januar 1942 ein. Diesem sogenannten zweiten Stahlecker-Bericht ist ein undatiertes Flugblatt offensichtlich kooperationsbereiter litauischer Nationalisten beigefügt, in dem scharfe Kritik an der deutschen Besatzungspolitik geübt wird. Die Flugschrift markiert den Wendepunkt in einer äußerst effektiven Kollaborationssynergie. In ihr heißt es, dass die Litauer die Wehrmacht mit offenen Armen empfangen hätten, weil Deutschland als „westeuropäischer Kulturstaat“ ihnen keine neue Sklaverei auferlegen würde. Jetzt aber fühle man sich „getäuscht“ und „verkauft“, weil jede eigenständige Regung unterdrückt werde, ja, die Litauer sollen sogar „als Volk ausgerottet“ werden. Es sei zwar wahr, dass man von den Deutschen „aus den Klauen des Todes gerettet“ worden sei, „aber sie nahmen uns nicht, als wir ihnen auch weiterhin Waffenhilfe leisten wollten.“ Zu den Hilfspolizeibataillonen heißt es: „Viele von uns freuten sich und ließen sich willig anwerben in der Hoffnung, es könne hier der Anfang des litauischen Heeres liegen.“ Stattdessen hätten sie sich als „einfache An22 Christoph Dieckmann, Die Zivilverwaltung in Litauen, in: Kaiser (Hg.), Täter im Vernichtungskrieg, a. a. O., S. 96–109, hier: S. 106; Joachim Tauber, Die litauische Verwaltung und die Juden in Vilnius, 1941–1943, in: Johannes Hürter und Jürgen Zarusky (Hg.), Besatzung, Kollaboration, Holocaust. Neue Studien zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München 2008, S. 103–114.
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gestellte“ in die Gewalt „ungebildeter deutscher Feldwebel“ begeben müssen und seien, schlimmer noch, dazu gezwungen worden, Juden zu ermorden. „Es ist jedoch unverantwortlich, scheußlich niedrig und gemein, solche Pflichten (…) in Litauen zu erfüllen, wenn hier nicht mehr litauische, sondern deutsche, tschechische, vielleicht sogar polnische Juden erschossen werden, (…) richtige Schlachtereien.“ Sollten die Litauer sich zu den Henkern Europas machen? Während der Exekutionen würden die litauischen Soldaten gefilmt und fotografiert, aber die Besatzer passten auf, dass sie selbst dabei nicht gefilmt würden. Später, wenn sie mit der Vernichtung des litauischen Volkes beginnen würden, um für die „Preußen“ Platz zu schaffen, würden sie sagen: „Seht, was die Litauer für ein Volk sind“. Nun müsse endlich Schluss sein mit solchen „Nichtswürdigkeiten“. Man habe sich den deutschen Forderungen zu widersetzen und dürfe nicht mehr in neue Bataillone eintreten. Zwar kämen bewaffnete Aufstände nicht in Frage, weil die „sehr rachsüchtigen“ Okkupanten wahllos hundert ruhige Bürger für jeden getöteten Deutschen umbrächten, aber litauische Väter dürften ihren Söhnen auf keinen Fall erlauben, weiterhin zu Mördern zu werden. „Die Deutschen wollen mit unseren Händen Millionen Menschen ausrotten. Schließlich kommen auch wir an die Reihe (…).“23 Die Botschaften des Flugblatts, über dessen (wahrscheinlich großen) Verbreitungsund Wirkungsgrad wir wenig wissen, sind in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Äußerst markant ist, dass die eigene Beteiligung am Judenmord hier bereits zu einem frühen Zeitpunkt verzerrt, verklärt und verfälscht wird – ein Prozess, der fast ein Jahrhundert anhalten sollte. Genauso auffällig ist aber auch die schonungslose Analyse des Kollaborationspartners Deutschland, was zu der generellen Frage führen muss, ob der Begriff „Kollaboration“ für das, was die Litauer wollten, eigentlich der richtige und treffende Terminus ist. Das Zusammengehen mit dem Dritten Reich war für Litauen 1941 die einzige, quasi naturgegebene Alternative, und zwar nur so weit und so lange, wie es dem übergreifenden Ziel dienlich war, der unterdrückten Nation die staatliche Unabhängigkeit zurückzuerobern. Mit dieser Kollaborationsdisposition stand Litauen in Europa sicher nicht allein, aber sie war hier am stärksten ausgeprägt. Anfang 1942 wurden 30.000 Litauendeutsche, die erst ein Jahr zuvor in das besetzte Westpolen und nach Ostpreußen gebracht worden waren, zurückgesiedelt. Dafür mussten 28.500 Litauer, Polen und Russen ihre Höfe verlassen. Die Spannungen steigerten sich. Das Wort von der „Kolonisierung“ machte schnell die Runde, denn die Volksdeutschen aus den anderen Ländern waren nicht zurückgelassen worden. Im Mai 23 Einsatzgruppe A: Erfahrungsbericht vom 16.10.1941 bis 31.1.1942, Geheime Reichssache, undat., ungez., 147 Seiten Text mit 19 Anlagen, 32. von 50 Ausfertigungen, Eingangsstempel KdS Litauen, sämtl. zit. nach Hans-Heinrich Wilhelm, Die Rolle der Kollaboration für die deutsche Besatzungspolitik in Litauen und „Weißruthenien“. Konzepte, Praxis, Probleme, Wirkungen und Forschungsdesiderata, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 191–216, hier: S. 191 f.
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1942 wandten sich alle Generalräte in einem Schreiben an von Renteln, in dem sie ihn „über die entstandene unerträgliche Lage und über die Unmöglichkeit einer Zusammenarbeit mit der Bevölkerung“ informierten. Alle Zusagen, „dass die Litauer nach Beendigung des Krieges im Neuen Europa einen ihrer Teilnahme am jetzigen Kriege entsprechenden Platz und Vergeltung erhalten würden“24, brächen sich tagtäglich an der Wirklichkeit. Gleichzeitig wird der nationale Untergrund aktiv, der die Generalräte in seinen Verlautbarungen als „Totengräber der litauischen Nation“ bezeichnet und die Herrschaft von Kubiliunas mit dem sowjetlitauischen Regime vergleicht. In Flugblättern wird die litauische Selbstverwaltung als „Selbstmordverwaltung“ bezeichnet und als „Verräter“ und „Knechte der Deutschen“ gescholten. Im August 1942 ruft eine Untergrundzeitung erstmals zum Ungehorsam auf, insbesondere bei der Ernteeinbringung. Savivalda, das litauische Wort für Selbstverwaltung, wird dort als Akronym für „Hüte Dich vor den verräterischen Deutschen und vermeide Opfer, Litauen wird wiedererstehen“ präsentiert. Die Zwangsmobilisierungen zur SS, zur Wehrmacht und zum Arbeitseinsatz in Deutschland sind in Litauen im Vergleich zu den beiden anderen baltischen Staaten in hohem Maße gescheitert. Nicht einmal 20 Prozent der Einberufenen meldeten sich zur Musterung. Eine erhebliche Zahl litauischer Politiker und Funktionäre, die im Sommer 1941 noch aktiv und aggressiv bei der Ermordung der Juden im eigenen Land gewesen war, ist deshalb im Frühjahr 1943 in das KZ Stutthof bei Danzig eingewiesen worden. „Beteiligung an Verbrechen gegen die Juden im Jahr 1941 und Beteiligung am litauischen Widerstand gegen die Deutschen 1943/44 stellten keinen Gegensatz dar.“25 Der radikale Antisemitismus war der gemeinsame Nenner mit den Deutschen gewesen, weil die Auslöschung der Juden hier wie dort als unabdingbar für die Herausbildung einer ethnisch homogenen Nation angesehen wurde. Als man diese nicht bekam, wurden die Deutschen vom Partner zum Feind. Am litauischen Antisemitismus indes änderte dies nicht das Geringste. Das Vorhaben der Gründung einer eigenen litauischen SS-Legion wurde 1943 schließlich ganz aufgegeben, und als die bereits Gemusterten zur Zwangsarbeit in deutsche Rüstungsfabriken geschickt werden sollten, gingen sie stattdessen in die Wälder. Der Widerstand formierte sich. „Aktives Vorgehen gegen die Deutschen fand seine Grenze aber immer wieder darin, dass die Furcht vor der wiederkommenden Roten Armee und einer erneuten sowjetischen Herrschaft sehr groß war.“26 Im November 1943 entsteht das „Oberste Komitee zur Befreiung Litauens“, in der muttersprachlichen Abkürzung VLIK, als breites Widerstandsbündnis aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte des Landes, das nach dem Krieg als faktische Exilregierung weiterbesteht. Drei Monate später unternimmt von Renteln in dem „völlig unkriegerischen, von Disziplinlosigkeit, Indolenz, Feigheit und Trägheit“ geprägten litauischen Volk den letzten Versuch, Militärver24 Zit. nach Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, a. a. O., Bd. 1, S. 489. 25 Dieckmann, Kollaboration?, a. a. O., S. 137. 26 Dieckmann, Die Zivilverwaltung in Litauen, a. a. O., S. 106.
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bände aufzustellen. Zu seiner eigenen Überraschung melden sich 30.000 Mann, doppelt so viele wie erwartet. Die Nachrichten von dem Heranrücken der Roten Armee trieben sie den Deutschen in die Arme. Sofort melden sich das VLIK und der nationale Untergrund mit dem Verbot, einen Eid auf Hitler zu leisten und sich (wie geplant) im Reich und an der Westfront einsetzen zu lassen, denn Litauen habe keine Feinde im Westen, schon gar nicht in England und den Vereinigten Staaten. Daraufhin verkauften etliche der Freiwilligen ihre Waffen an die Waldbrüder und Partisanen. Im Mai 1944 kommt es bei der Auflösung der litauischen Militärakademie in Mariampolė und kurz darauf in Kaunas zu schweren Kämpfen zwischen Wehrmacht und Widerstand. 100 Gefangene werden erschossen und 3500 nach Deutschland deportiert. Anfang 1945 dienen 36.800 Litauer in Baukompanien, beim Reichsarbeitsdienst und der Organisation Todt. Am 3. Juni 1944, nach einem Partisanenüberfall auf deutsche Einheiten, wird das Dorf Pirčiupiai umzingelt und angezündet. Alle 119 Bewohner, unter ihnen 49 Kinder unter 15 Jahren, verbrennen. Pirčiupiai hat für die Litauer eine ähnliche Bedeutung wie Oradour-sur-Glane für die Franzosen und Lidice für die Tschechen. Das Verhältnis zwischen Deutschen und Litauern war von dem Zeitpunkt an endgültig und irreparabel zerrüttet. Einem der kollaborationsbereitesten Völker Europas, mit dessen Potential bei auch nur minimalsten nationalen Zugeständnissen spielend eine dritte Armee vor Leningrad aufgebaut und der Kriegsverlauf entscheidend hätte verändert werden können, war die Kollaboration systematisch ausgetrieben worden. Am 13. Juli 1944 marschiert die Rote Armee in Vilnius ein, knapp drei Wochen später in Kaunas. Die Deutschen haben in Litauen eine Spur des Grauens hinterlassen. Mindestens 420.000 Menschen verloren ihr Leben, unter ihnen allein 170.000 sowjetische Kriegsgefangene und 40.000 dorthin zwangsevakuierte sowjetische Zivilisten, 200.000 einheimische und 5.000 ins Land deportierte Juden. 61.000 Männer, Frauen und Jugendliche sind zur Zwangsarbeit innerhalb und außerhalb Litauens verpflichtet worden. Noch während des Krieges begann die große, bis heute andauernde und alle anderen Problematiken dominierende Diskussion um litauische Identität und Nationalität, in deren Zentrum der eigene Anteil am Holocaust stand und steht. Eine zusätzliche Aufladung erfuhr diese Auseinandersetzung dadurch, dass Institutionen wie die VLIK auch 1944/45 an dem übergreifenden Ziel eines „ethnisch reinen“ Staates festhielten, zum Teil in offener Konfrontation mit dem deutschen Besatzer. „Die Tatsache, dass Angehörige der polnischen und der russischen Bevölkerungsgruppe in Vilnius deutsche Stellen um Hilfe und Schutz vor Litauern ersuchten, spricht für sich.“ Noch im November 1945 heißt es aus diesen Kreisen: „(…) die Litauer haben den Polen sehr viel Schlechtes gebracht, mit ihnen will niemand leben, alle fürchten sie.“27 Da herrschten längst die Sowjets im Jerusalem des Ostens, in dem es praktisch keine Juden mehr gab. 27 Beide Zitate nach: Christiane Topp, „… die Litauer haben den Polen sehr viel Schlechtes gebracht“. Ethnisch-national geprägte Ordnungskonstruktionen in Vilnius während des Zweiten Weltkriegs, in: ZfO, Nr. 3/2007, S. 364–387, hier: S. 387 und 364.
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Die grundsätzliche, über Jahrzehnte wirksame litauische Einstellung zum Holocaust wurde im Frühjahr 1943 (!) von der Widerstandszeitschrift „In die Freiheit“ formuliert, in der es heißt: Über achtzig Prozent der Juden Litauens wurden erschossen. Die Exekutionen wurden nur von Deutschen befehligt. An der Durchführung selbst waren ebenfalls Deutsche und in litauische Uniformen gesteckter Abschaum – irgendwelche Janeks und Jasken (Polen) – beteiligt, der von den Deutschen betrunken gemacht und dem erlaubt worden war, die Ermordeten zu berauben. Das litauische Volk hat sich von den Massakern distanziert. Die provisorische Regierung hat keine gegen die Juden gerichteten Rechtsnormen erlassen, obwohl das gesamte litauische Volk das ihm frisch zugefügte Leid noch spürte und erwartete, dass eine gerechte Hand diejenigen Juden bestrafen werde, die den Bolschewiken geholfen hatten, Litauen zu quälen.28
So einfach ging das. Diesem Statement ist das Urteil gegenüberzustellen, das als Resolution „Über die Schuld eines breiten Teils des litauischen Volkes an der Ermordung der Juden Litauens“ der ersten Konferenz des „Verbandes der überlebenden litauischen Juden“ am 14. und 15. April 1947 in München in der jiddischen Zeitung „Unser Veg“ festgehalten worden ist: Die Konferenz konstatiert, dass alle Schichten des litauischen Volkes (die Intelligenz, die Beamten, die Bauern, die Handwerker, die Arbeiter) zusammen mit den Nazi-Banditen an der Ermordung der Juden Litauens aktiv teilnahmen (…). Wir, die Wenigen (…) sind die lebenden Zeugen der Grausamkeiten, die Litauer gegen ihre Nachbarn begingen. (…) Zu unserem großen Bedauern müssen wir konstatieren, dass die kleineren jüdischen Orte in der Provinz ausnahmslos durch Litauer vernichtet wurden, die größeren jüdischen Ansiedlungen mit ihrer aktiven Hilfe. (…) Der Verband der Juden Litauens in der Diaspora in Deutschland hält es für seine jüdische und menschliche Pflicht, diese Fakten der jüdischen und nichtjüdischen Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen.29
Der eigentliche Schock, so die Verfasser der Erklärung, resultierte aus dem „Ausmaß der Eigeninitiative beim Morden“. Diese sei „so groß gewesen, dass (…) im Grunde das ganze litauische Volk des Mordes an den Juden beschuldigt werden müsse.“30 1946 war, zunächst nur für den internen Gebrauch, aus der Feder des VLIK ein Dokument entstanden, wie es gegensätzlicher kaum sein konnte. Unter der Überschrift „Zur Frage der litauisch-jüdischen Beziehungen“ werden die Litauer zu den eigentlichen Opfern stilisiert, und zwar nicht nur der Deutschen, sondern auch der Juden. Diese hätten, nachdem es 600 Jahre in Litauen keinen Antisemitismus gegeben habe, 1940 mit den 28 Zit. nach Liudas Truska, Litauische Historiographie über den Holocaust in Litauen, in: Bartusevičius, Tauber und Wette (Hg.), Holocaust in Litauen, a. a. O., S. 262–276, hier: S. 263 f. 29 „Unser Veg“ vom 22.7.1947, zit. nach Dieckmann, Kollaboration?, a. a. O., S. 134. 30 Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, a. a. O., Bd. 1, S. 15.
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Sowjets gemeinsame Sache gemacht. An der deutschen Shoah hätten nur „wenige“ Litauer mitgewirkt, alle anderen seien unschuldig. In und mit ihr wird die berühmte „Theorie der zwei Genozide“ begründet, „deren Wirkungskraft bis heute anhält.“31 Sie besagt, die antijüdischen Handlungen 1941 seien „im Kern als Notwehr zu verstehen“, die „ursprüngliche“ Viktimisierung habe ein Jahr zuvor den Litauern gegolten. Die frühen Arbeiten von Valentinas Brandišauskas, in denen er dies das mythenhafte Märtyrerepos des litauischen Volkes nennt, blieben ohne Resonanz. Stattdessen heroisierte der LAF-Führer Kazys Škirpa im Exil das eigene Tun. Im seit 1944 erneut sowjetisierten Litauen galt er als Prototyp des „bourgeoisen Nationalisten“, der schon 1918 die Entstehung einer Sowjetrepublik verhindert und ab 1940 mit den Deutschen zusammengearbeitet habe. Nach dem Krieg seien seinesgleichen in die Wälder oder in den Westen gegangen, um sich der gerechten Strafe zu entziehen. Tatsächlich fällten die Sowjets schon 1944 und 1945 über 250 Todesurteile, 150.000 Litauer wurden bis 1952 nach Sibirien deportiert. Im selben Jahr entfernte man auf dem Denkmal in Ponary (Panieriai) die Inschrift für die dort ermordeten Juden und ersetzte sie durch „ermordete Sowjetbürger“. Gleichlautend mit einer forcierten Kollektivierungs- und Russifizierungspolitik, insbesondere der Einführung des Russischen als Amts- und Unterrichtssprache, werden weitere „politisch unerwünschte “Bauern und Intellektuelle über den Ural verschleppt, kaum eine litauische Familie bleibt verschont. Erst jetzt ist der Widerstand der „Waldmänner“ endgültig gebrochen. Im Gesamturteil zur deutschen Besatzung und zum deutsch-litauischen Verhältnis 1941–1944 sind viele Aspekte zu bedenken: Die Kooperation mit Wehrmacht und SS bei der Verfolgung und brutalen Ermordung von Juden, Polen und Russen widersprach keineswegs der „Logik“ eines (unbewaffneten) Widerstands gegen die Deutschen; die eigene Unabhängigkeit blieb für die Litauer bis zum letzten Tag die übergreifende Zielprojektion und Conditio sine qua non allen Handelns und Tuns. Sie verfügten in diesem Zusammenhang über erhebliche „Entscheidungsmöglichkeiten und nutzten diese auch“32. Das Ausrauben, Ghettoisieren und Ermorden der Juden ist im Wesentlichen von Litauern durchgeführt worden, die diese ein für alle Mal aus der nationalen Gemeinschaft ausschließen wollten. Die katholische Kirche in Litauen hat in diesem Prozess „auf ganzer Linie“ versagt, sodass von 200.000 Juden nur 9000 das Kriegsende erlebten, und die militärische Bedeutung des litauischen Widerstands war so gering, dass er das Kriegsgeschehen kaum beeinflusst hat. Insgesamt also alles andere als ein positives Bild. Im Sommer 1944 verließen 65.000 Litauer ihre Heimat, und die meistens von ihnen wussten, warum. Als displaced persons kamen sie in deutsche Flüchtlingslager und schwiegen über das, was sie wussten oder getan hatten. Viele wanderten von dort in die 31 Ebd., S. 16. 32 Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, a. a. O., Bd. 2, S. 1528, vgl. auch S. 1521 f., 1530 ff., 1538 und 1541.
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USA, nach Kanada oder Australien aus. Die im Exil entstehenden Analysen sind von Selbstgerechtigkeit und Unwahrheiten gekennzeichnet. Mykolas Biržiška schreibt 1952, dass „die Geduld der Litauer“ wegen der jüdisch-sowjetischen Kollaboration 1941 „vollends erschöpft“ gewesen sei. In der seit 1953 in den Vereinigten Staaten erscheinenden „Litauischen Enzyklopädie“ wird das „Gerede“ über die Beteiligung an der Shoah als Lüge des Weltjudentums hingestellt. Zenonas Ivinskis tritt dem 1972 zwar entgegen, behauptet aber, dass die Litauer von den Deutschen gezwungen worden seien. Zwei Jahre später veröffentlicht J. V. Balčiūnas seinen Aufsatz „Die provisorische Regierung und die Juden“, dem zufolge deren antijüdische Beschlüsse und Maßnahmen Fälschungen der Nazis waren. Vielmehr habe die Regierung alles in ihren Kräften Stehende getan, um den Juden zu helfen und sie zu schützen. Noch 1977 heißt es in einer von Bischof Vincentas Brizgys in Chicago veröffentlichten Schrift, „die Litauer haben es nicht zugelassen, dass sie in die deutsche Politik und ihre Taten hineingezogen wurden“. Nach wie vor beherrscht das Stereotyp von den in litauische Soldatenund Polizeiuniformen gesteckten (und dabei gefilmten) deutschen Mördern die eigene Wahrnehmung, doch ganz langsam tauchen auch Stimmen wie diejenigen von Vincas Rastenis auf, dass sich am Judenmord auch „hundertprozentige litauische Patrioten“ beteiligt haben.33 In der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik ab 1944 war der Holocaust ein (untergeordneter) Teil der Morde an der Zivilbevölkerung und nur eines von den zahlreichen Verbrechen des Hitlerfaschismus im „Großen Vaterländischen Krieg“. Das war auch ein „stillschweigendes Angebot des Vergessens“34 gegenüber den Völkern, in denen die Wehrmacht mit offenen Armen empfangen worden war. Von insgesamt 297 wegen Kollaboration verhängten Todesurteilen, davon noch 40 in den 1960er Jahren, ist kein einziges ausschließlich wegen Beteiligung an Judenerschießungen vollstreckt worden. Weit häufiger galt der Tatbestand des „bourgeoisen Nationalismus“ als ausschlaggebend. Das bedeutete Wasser auf die Mühlen des Exils, denn mit diesem Sachverhalt gewann die „Theorie der zwei Genozide“ einen geradezu willkommenen Nährboden: Zwischen dem rassisch begründeten Massenmord 1941 und den ideologisch motivierten Deportationen und Verbrechen 1940/41 und ab 1944 bestand eine vermeintliche Wechselwirkung, mit der „die Frage nach der litauischen (Mit)Täterschaft quasi entschärft werden konnte“.35 Immer wenn von der Tragödie der Juden die Rede war, wurde jetzt der eigene Opferstatus ins Spiel gebracht, fast vorwurfsvoll, auf jeden 33 Alle Zitate nach Truska, Litauische Historiographie über den Holocaust in Litauen, a. a. O., S. 265 ff. 34 Joachim Tauber, Vergangenheitsbewältigung in Litauen. Politik, Gesellschaft und der Holocaust nach 1945, in: Rathkolb und Sooman (Hg.), Geschichtspolitik im erweiterten Ostseeraum, a. a. O., S. 175–193, hier: S. 177; der Aufsatz ist auch abgedruckt in: Lehmann, Bohn und Danker (Hg.), Reichskommissariat Ostland, a. a. O., S. 331–348. 35 Ebd., S. 183.
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Fall aber mit der Erkenntnis, dass in gewissen historischen Situationen aus Opfern auch Täter werden können. Liudas Truska beurteilt diese komplizierte Dialektik folgendermaßen: „Es ist für die Litauer heute schwer zu verstehen, dass auch sie anderen Unrecht getan haben sollen. Zu einem charakteristischen Kennzeichen der litauischen Mentalität ist eine Art von nationaler Rechthaberei geworden, (…) dass Litauer den Inbegriff aller Tugenden verkörperten (…). ‚Schlecht‘ sind immer nur ‚die anderen‘ – Juden, Zigeuner, Polen, Russen, Deutsche (…). Gespeist aus einer solchen Mentalität bildete sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein heroisch-masochistisches Geschichtsverständnis heraus, das besagt, dass die Vergangenheit Litauens nur aus Kämpfen und Leiden bestanden habe.“36 Tomas Venclova hat diesen Mythos 1978 in der liberalen Exilzeitschrift „Akiračiai“ in wenigen Zeilen zerstört, indem er schrieb: „Das, was in den ersten Kriegstagen geschah, war eine Katastrophe für die Juden, aber noch eine weit schlimmere für die Litauer. Wir müssen für alle Zeit verstehen, dass die Vernichtung der Juden unsere eigene Vernichtung (…) ist, und dass die Zerstörung der jüdischen Kultur ein Angriff auf uns selbst ist.“37 Ende Oktober 1988 konstituiert sich die „Volksfrontbewegung für die Umgestaltung Litauens“ Sajudis, am 21. Februar 1989 wird Litauisch zur Staatssprache erklärt. Die Menschenkette mit anderthalb Millionen Teilnehmern von Tallinn über Riga bis nach Vilnius zum 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts zeigt, wohin die Reise geht. Am 20. Dezember 1989 spaltet sich die litauische KP von der KPdSU ab, sie nennt sich später Litauische Sozialdemokratische Partei, und am 11. März 1990 erklärt Litauen als erste sowjetische Unionsrepublik seine staatliche Unabhängigkeit. Nach einem viel zitierten Wort war der Zweite Weltkrieg in dem Land erst jetzt beendet, aber Moskau gab immer noch nicht klein bei. Vom 11. bis zum 13. Januar 1991 erstürmen OMON-Truppen den Fernsehturm und das Rundfunkgebäude in Vilnius, sie werden allerdings daran gehindert, das Parlament zu besetzen. Vierzehn Litauer sterben. In einem Referendum vom 9. Februar stimmen 90 Prozent der Wähler für die Unabhängigkeit, die Gorbatschow am 6. September kurz vor seinem politischen Ende anerkennt. Im August 1993 verlässt der letzte Rotarmist den Baltenstaat. Was die Aufarbeitung und die Verdrängung der eigenen Vergangenheit in Litauen angeht, so empfiehlt sich der Blick auf die Gedenkplatte an einem Polizeigebäude in Kaunas, die dort bereits 1991 angebracht wurde. Auf ihr wird ausschließlich an das „Russenjahr“ 1940/41 und an die sowjetische Herrschaft von 1944 bis 1989 erinnert, von der Zeit dazwischen, dem Holocaust und gar der Tatsache, dass in eben diesem Gebäude der Kommandeur der Sicherheitspolizei Karl Jäger residierte, ist hingegen nicht die Rede. „Die Bereitschaft der Litauer, sich dem Kapitel ihrer Geschichte von 1941/42 zu stellen, war und ist denkbar gering, und noch geringer, litauische Täter zu bestrafen – die Bilanz ist gleich null. Litauen kannte keine ‚Geschichte des Holocaust‘, 36 Truska, Litauische Historiographie über den Holocaust in Litauen, a. a. O., S. 263. 37 Zit. nach Tauber, Vergangenheitsbewältigung in Litauen, a. a. O., S. 184.
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sondern vor allem ihre Tabuisierung. (…) Bis 1995 tat sich gar nichts. (…) Die Lebenslügen der Nation werden dadurch dennoch nicht gerechtfertigt“ (Ralph Giordano).38 Es ist wenig überzeugend und schlimm genug, dass sich dies nur deshalb änderte, weil Litauen in die westlichen Bündnisse strebte, wobei die Mehrheit der Bevölkerung den nun endlich einsetzenden Ermittlungen immer noch indifferent oder feindselig gegenüberstand.39 Der in den Vereinigten Staaten lehrende Saulius Sužiedėlis hatte mit seinem Aufsatz „Foreign Saviors, Native Disciples. Collaboration in Lithuania“40 schon 1991 zur Umkehr gemahnt. Staatspräsident Algirdas Brazauskas entschuldigte sich 1995 in der Knesset nicht im Namen seines Volkes, sondern bat „um Vergebung für diejenigen Litauer, die Juden gnadenlos ermordeten, sie erschossen, sie deportierten und sie beraubten“ – und erntete im eigenen Land heftigen Widerspruch, der in der Frage gipfelte: „Wann werden sich die Juden bei den Litauern entschuldigen?“41 Zwar richtete sein Nachfolger Valdas Adamkus 1998 die „Internationale Kommission zur Erforschung der nationalsozialistischen und sowjetischen Verbrechen in Litauen“ ein, der auch der Deutsche Joachim Tauber angehörte, die Arbeit dieses Gremiums wurde aber – bewusst oder unbewusst – durch das gleichzeitig konstituierte „Zentrum zur Erforschung des Genozids und des Widerstands der Einwohner Litauens“, das deren im Ausland entstehendem Image als „Judenschießer“ gezielt entgegenwirken sollte, von Anfang an konterkariert. So urteilte das Kommissionsmitglied Liudas Truska 2004 denn auch: „Die Nation möchte ihre Geschichte als ‚schön‘ sehen (…) und die Schuld an allem Unglück ‚anderen‘ geben, besonders den Juden. (…) Viele sehen die Betrachtung der unangenehmen Probleme der Vergangenheit als eine Verleumdung Litauens an.“42 Die Zählebigkeit des Mythos vom „doppelten Genozid“ und der „vergleichenden Martyriologie“43 kann wohl kaum deutlicher dargelegt werden. Im Februar 1998 wird der fast 90-jährige Aleksandras Lileikis, ehemaliger Chef der Sicherheitspolizei Saugumas im Bezirk Vilnius, im Rollstuhl mit Halskrause und Sau38 Giordano, Geleitwort, a. a. O., S. 2 f. 39 Martin Dean, Die Suche nach litauischen Kriegsverbrechern in Australien, den Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien 1979–2001, in: Bartusevičius, Tauber und Wette (Hg.), Holocaust in Litauen, a. a. O., S. 277–289, hier: S. 287. 40 Ebd., Anm. 19. 41 Vgl. Richter, Der Holocaust in der litauischen Historiographie seit 1991, a. a. O., S. 414. 42 Zit. nach Wette, Karl Jäger, a. a. O., S. 177. 43 Ruth Kibelka–Leiserowitz, Osteuropäische vergleichende Martyrologie am Beispiel Litauens. Ein Denkmodell auf dem Abwärtstrend?, in: „Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik“, Nr. 1/2000, S. 27–33, hier: S. 31; Walter M. Iber und Peter Ruggenthaler, Drei Besatzungen unter zwei Diktaturen. Eine vorläufige Bilanz der Forschungsarbeiten der internationalen Historikerkommissionen in Lettland, Litauen und Estland, in: Hermann Weber et al. (Hg.), Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2007, Berlin 2007, S. 276–296; Michael Kohrs, Litauen. Von der Opfer- zur Täterdebatte, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., S. 693–718.
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erstoffflaschen in den Gerichtssaal seiner Heimatstadt geschoben. Er hatte ein halbes Jahrhundert unbehelligt in den Vereinigten Staaten gelebt, obwohl immer wieder Verdachtsmomente gegen ihn wegen der „Sonderbehandlung“ von Juden aufgetaucht waren. 1996 kommt er seiner Ausweisung zuvor und geht nach Litauen, wo er der erste Kollaborateur ist, gegen den der unabhängige Staat ermittelt und Anklage erhebt. Er stirbt am 26. September 2000 noch vor Abschluss des Verfahrens. Während des gesamten Prozesses hat er nicht den Hauch eines Unrechtsbewusstseins erkennen lassen, und im Justizgebäude, von den Zuschauerrängen, fliegt ihm eine Welle der Sympathie entgegen. Während das regierungsoffizielle Litauen einsieht und aufarbeitet, wird in der Bevölkerung das mündliche Narrativ von der Befreiung durch die Wehrmacht und dem selbstverschuldeten Unglück der „Judäo-Kommunisten“ seit dem Juni 1941 „mehr oder weniger ungebrochen bis in die Gegenwart tradiert.“44 Die in dem Baltenstaat heute noch lebenden 4000 Juden haben es nicht leicht, am wenigsten im „Jerusalem des Ostens“, ihrem früheren Zentrum. Im heutigen, 2,87 Millionen Einwohner zählenden Staat machen sie neben der jeweils sechsprozentigen polnisch- und russischsprachigen Minderheit nicht einmal mehr 0,1 Prozent der Bevölkerung aus. In der sowjetischen Ära wurden alle Erinnerungsspuren systematisch ausgelöscht, die Grabsteine jüdischer Friedhöfe dienten als Baumaterial für Straßen und Häuser, Sajudis hingegen entschuldigte sich schon am 5. März 1989 beim soeben wiederbegründeten Jüdischen Kulturverein Litauens für die Kollaboration seiner Landsleute. Die zehn Jahre später vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft ins Leben gerufene „Stiftung Neue Bildung“ ließ eine interaktive Landkarte erarbeiten, auf der zweihundert Schauplätze der Judenmorde in Litauen verzeichnet sind. Bis 2005 fand sie ihren Weg in alle Schulen, Akademien und Bildungsstätten des Landes – um die gesamte Gesellschaft zu entzweien. Für die einen war das Projekt sehr wohl eine Frage der Moral und historischen Selbstvergewisserung, für die anderen ein „vom Westen aufgezwungenes“ Unternehmen, um mit neuer internationaler Reputation in die EU aufgenommen zu werden.45 44 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 2, a. a. O., S. 306; Markas Zingeris, Juden in Litauen. Die Gemeinden im Leben danach, in: Bartusevičius, Tauber und Wette (Hg.), Holocaust in Litauen, a. a. O., S. 290–299; ders., Aus den Ruinen: Wiedererlangung der jüdischen Geschichtsschreibung im heutigen Litauen, in: Elke-Vera Kotowski und Julius H. Schoeps (Hg.), Vilne – Wilna – Wilno – Vilnius. Eine jüdische Topografie zwischen Mythos und Moderne, Berlin 2017, S. 174–183; Ruth Leiserowitz, Rekonstruktion von Identität und Imagination. Puzzlesteine des jüdischen Wilna, in: Kotowski und Schoeps (Hg.), Vilne – Wilna – Wilno – Vilnius, a. a. O., S. 141–152; Solomon Atamus, Juden in Litauen. Ein geschichtlicher Überblick vom 14. bis zum 20. Jahrhundert, Konstanz 2000; David Katz, Lithuanian Jewish Culture, Vilnius 2004; Mascha Rolnikaitė, Ich muß erzählen. Mein Tagebuch 1941–1945, Berlin 2002. 45 Vgl. Vytautas Toleikis, Verdrängung, Aufarbeitung, Erinnerung. Das jüdische Erbe in Litauen, in: „Osteuropa“, Nr. 8–10/2008, S. 455–464, hier: S. 464; Robert B. Fishman, Litauische Kapriolen. Die Geschichte, der Rechtsstaat und die Juden, in: ebd., S. 465–468; Alvydas Nikžentaitis, Die Epoche der Diktaturen. Erinnerungskonkurrenz in Litauen, in: ebd., S. 159–166; Barbara Chris-
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Der Konflikt dauert an. Im überall ausgeschilderten, bereits 1992 entstandenen „Genozidmuseum“ in bester Innenstadtlage in Vilnius erfährt man alles über die sowjetischen Verbrechen und die Deportationen nach Sibirien, über den Genozid von 1941 bis 1944 hingegen so gut wie nichts. Das abseitig gelegene „Museum der Toleranz“, das an die Tradition der jüdischen Aufklärung erinnert, und das nur mit ganz geringen Finanzmitteln ausgestattete „Holocaust-Museum“ führen ein Schattendasein..„Juden raus“ haben Unbekannte (auf Deutsch) am 9. August 2008 auf die Fassade des jüdischen Gemeindehauses in Vilnius geschmiert, ausgerechnet an jenem Tag, an dem der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der Opfer des Antisemitismus gedacht wird. Die Erinnerungskultur der dritten litauischen Republik ist gekennzeichnet von (Selbst-) Viktimisierung, partieller Amnesie, Dämonisierung der sowjetischen Okkupation und immer wieder aufflackerndem Antisemitismus, in toto eine gefährliche Melange, die aber bei einem Blick auf das nackte Zahlenmaterial verständlicher wird: Während 100.000 Litauer von der Roten Armee zwangsrekrutiert wurden, arbeiteten „nur“ 20.000 in den verschiedenen Polizeieinheiten für die Deutschen, im Widerstand waren höchstens 5000 aktiv. Bis 2010 wurden 22 Verfahren wegen „Genozidverbrechen“ in der Zeit von 1941 bis 1944 eingeleitet, allerdings nur in drei Fällen Anklage erhoben. Wegen Verbrechen während der Sowjetherrschaft eröffnete man 225 Verfahren, von denen 15 in Strafprozesse einmündeten. Noch spektakulärer als der Fall Lileikis gestalteten sich die Ermittlungen der litauischen Staatsanwaltschaft gegen Yitzhak Arad, weil dieser jüdische Partisan das grundlegende Werk über den Holocaust in Vilnius verfasst hatte46, als langjähriger Leiter der weltweit zentralen Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem über eine enorme Reputation verfügte und außerdem in der „Internationalen Kommission“ mitgearbeitet hatte, also alles andere als ein Kollaborateur war. Arad soll im Januar 1944 aufseiten der Sowjets an der Ermordung von Zivilisten in der Provinz beteiligt gewesen sein. Nachdem viel Porzellan zerschlagen war, erklärte die Behörde am 25. September 2008, dass gegen Arad keinerlei Verdacht bestehe. Die jüdische und die nichtjüdische Kultur haben in Litauen bis heute nicht zueinander gefunden.47 Der tophe, Staat versus Identität. Zur Konstruktion von „Nation“ und „nationalem Interesse“ in den litauischen Transformationsdiskursen von 1987 bis 1995, Köln 1997; Ekaterina Makhotina, Erinnerungen an den Krieg – Krieg der Erinnerungen. Litauen und der Zweite Weltkrieg, Göttingen 2017. 46 Yitzhak Arad, Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction of the Jews in Vilna in the Holocaust, Jerusalem 1980; vgl. auch: ders., The Murder of the Jews in German-Occupied Lithuania (1941–1944), in: ZfO, Nr. 1/2005, S. 56–79. 47 So auch Leonidas Donskis, Antisemitismus in Litauen. Tradition und heutige Erfahrung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), S. 21–31, hier: S. 30; Joachim Tauber, „Gespaltene Erinnerung“. Litauen und der Umgang mit dem Holocaust nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Micha Brumlik und Karol Sauerland (Hg.), Umdeuten, verschweigen, erinnern. Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa, Frankfurt am Main 2010, S. 47–70. Joachim Tauber hat in seiner grundlegenden Habilitationsschrift „Arbeit als Hoffnung. Jüdische Ghettos in Litauen“,
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Grund hierfür liegt in der nicht oder nur bruchstückweise bewältigten Vergangenheit. Was deshalb bleibt, ist das Urteil von Christopher Browning und Raul Hilberg, dass die einheimische Bevölkerung in den drei baltischen Staaten „von Anfang bis zum Ende der deutschen Herrschaft tief in die Ermordung der Juden verstrickt“ gewesen ist und dass, „gemessen am fast totalen Engagement, das Baltikum dem Reich am nächsten kam.“48 Das Adenauer-Deutschland wählte den Weg der „Wiedergutmachung“ mit Geld, den später, aber vielleicht nicht zu spät, auch der litauische Staat einschlug. Er wird der jüdischen Gemeinschaft seines Landes im Zeitraum von 2013 bis 2023 die Entschädigungssumme von 37 Millionen Euro zahlen. Allein die hundert Synagogen von Vilnius waren mehr als das Dreifache wert. 2012 werden die sterblichen Überreste des in den USA verstorbenen Juozas Ambrazevičius (später: Brazaitis), der 1941 an der Spitze der Litauischen Aktivistenfront (LAF) gestanden hatte, zu einem staatlichen Ehrenbegräbnis in die Auferstehungskirche von Kaunas überführt. Zahlreiche jüdische Organisationen protestieren. Noch 2013 wird in der vom litauischen Außenministerium in Zusammenarbeit mit dem Institut für internationale Beziehungen und Politik der Universität Vilnius herausgegebenen „Geschichte Litauens“ die Legende vom „Judäo-Kommunismus“ wieder aufgewärmt, indem es heißt: „Seit dem ersten Tag der nationalen sozialistischen Besetzung fühlten die Juden eine gewisse Feindseligkeit eines Teils der Bürger. Das lag daran, dass im Juni 1940 die kommunistische Judenjugend die Rote Armee mit Blumen und russischen Liedern empfangen hatte.“49 2016 kommt es zu einem erbitterten Streit um Jonas Noreika (1910–1947). Er gehörte zu den „Waldbrüdern“, die im litauischen Gedächtnis für ihre bis in die 1950er Jahre erfolgten Widerstandsleistungen gerühmt werden. In eben diesem Vermächtnis wird Noreika mit einer Gedenktafel an der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften in Vilnius geehrt. Dass Noreika im Spätsommer 1941 zusammen mit anderen „Waldbrüdern“ die Ermordung der Juden von Žagarė organisiert und an weiteren Erschießungen beteiligt war, ist tabu. Auch die Gedenktafeln für litauische Kollaborateure auf der Grünen Brücke in Vilnius hängen dort nach wie vor. Insofern kam das 2016
Berlin und Boston 2015, als „bislang mehr oder weniger unbekannte Facette der Kollaboration“ (S. 411) die Nutznießerschaft litauischer Betriebe an der jüdischen Zwangsarbeit herausgearbeitet, auch, dass sich die Litauer in den Lagern manchmal „deutscher als die Deutschen“ (S. 340) gebärdeten. In diesem Zusammenhang zitiert er Zwi Katz, Von den Ufern der Memel ins Ungewisse. Eine Jugend im Holocaust, Zürich 2002, S. 153: „Hier brauchte man keinen Adolf Eichmann und Kolonnen von Güterzügen, um die Menschen in die Todesfabriken zu bringen. Es genügte ‚ein Rollkommando von 10 bewährten Männern‘ (Jäger-Bericht) – das Übrige besorgten Hunderte unserer langjährigen Nachbarn“ (in: Tauber, Arbeit als Hoffnung, a. a. O., S. 343). 48 Christopher Browning, Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942, München 2003, S. 392; Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer, a. a. O., S. 218. 49 Alfonsas Eidintas et al., Geschichte Litauens, Vilnius 2013.
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von Rūta Vanagaitė veröffentlichte Buch „Die Unsrigen“50 einem Kometeneinschlag gleich, der die gesamte litauische Gesellschaft aufwühlte. Vanagaitė ist in Dörfer und Städte gefahren, in denen noch Zeitzeugen des Geschehens von 1941 lebten. Dabei ist sie auf Hunderte Litauer gestoßen, die sich noch sehr wohl und sehr authentisch an die Mittäterschaft der eigenen Landsleute beim Zusammentreiben, Quälen und Umbringen der Juden erinnerten.
50 Rūta Vanagaitė, Mūsiškiai („Die Unsrigen“), Vilnius 2016.
Polen Nach der dritten polnischen Teilung 1795 gab es den polnischen Staat nicht mehr. Zwar vereinigte Napoleon preußisch und russisch besetzte Teile zum Großherzogtum Warschau, das auf dem Wiener Kongress aber weitgehend in ein Königreich, das sogenannte Kongresspolen, umgewandelt wurde und fortan in einer Personalunion mit Russland verbunden war. Galizien blieb bei Österreich, das sich 1846 auch den 1815 gebildeten Freistaat Krakau wieder einverleibte, und Preußen behielt Posen und Westpreußen. Während der Zar und der preußische König in ihren Terrains eine aggressive Russifizierungs- bzw. Germanisierungspolitik betrieben, ließ Österreich den Einheimischen eine erhebliche innere Selbstständigkeit. Noch war Polen nicht verloren, aber es war und blieb politisch entmündigt, eine Nation ohne Staat. Als Reaktion hierauf ist Mitte des 19. Jahrhunderts der polnische Antisemitismus entstanden, was Andrzej Szczypiorski erläutert: „Damals begann die katholische Kirche, bei der Verbreitung antisemitischer Vorurteile und Einstellungen eine immer größere Rolle zu spielen. (…) Dies erschien umso selbstverständlicher, vielleicht sogar unvermeidlich, weil die katholische Kirche die Rolle einer Festung des Polentums spielte, belagert vom lutherischen Preußen und vom orthodoxen Rußland.“1 In der Bevölkerung verbreitete sich zusehends das Bild von Polen als dem „Christus der Völker“. So wie Juden einst Jesus von Nazareth getötet hätten, so wollten sie nun mit einer ganzen Volksgemeinschaft umgehen. Die Judenfeindschaft war auch die Gemeinsamkeit, die von den beiden zentralen Persönlichkeiten geteilt wurde, die ansonsten gegensätzlicher nicht gedacht werden konnten, aber beide für den Kampf um Unabhängigkeit auf Polens Weg ins 20. Jahrhundert standen: Roman Dmowski und Józef Piłsudski. Dmowski (1864–1939) gründete 1892 die „Nationale Liga“, aus der fünf Jahre später die Nationaldemokratische Partei hervorging, und 1917 das polnische Nationalkomitee, dessen Vorsitzender er wurde. Als Redakteur der Lemberger „Allpolnischen Rundschau“ (seit 1895), vor allem aber in seinen „Gedanken eines modernen Polen“ (1903) entwarf er das Programm eines ethnisch homogenen, antisemitischen und panslawistisch orientieren Staates, der die Aussöhnung mit Russland suchte und in Deutschland den Hauptfeind sah. Als er 1912 einen Boykott gegen jüdische Geschäfte anzettelte, verlor er sein Abgeordnetenmandat in der russischen Duma. Als seine Endecja (abgeleitet von den Buchstaben ND für Nationaldemokratie) 1919 bei den ersten freien Wahlen in Polen zwar mit 37 Prozent stärkste Partei wird, die zersplitterte Linke aber genau einen Prozentpunkt mehr erringt und der Sejm seinen großen Gegenspieler Piłsudski zum Staatschef, „Marschall“ und obersten Befehlshaber der 400.000 Mann starken Armee bestimmt, zieht 1
Andrzey Szczypiorski, Der März 1968 und die Polen, in: „Transodra“, Nr. 18 (1998), S. 3.
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Dmowski sich aus der aktiven Politik zurück. Auch sein Einfluss auf die 1928 entstandene, bald 200.000 Mitglieder starke Nationalpartei (SN) bleibt begrenzt. Józef Klemens Piłsudski (1867–1935), in der Nähe von Vilnius geboren, wurde als 19-Jähriger wegen Konspiration gegen die russische Teilungsmacht für fünf Jahre nach Sibirien verbannt. 1893 gehörte er zu den Mitbegründern der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS). Den Kampf um die Selbstständigkeit wollte er an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns führen, das ihm in Galizien die Errichtung einer eigenen „Legion“ gestattete. Gleichzeitig und zunächst noch geheim baute er in Kongresspolen die „Polnische Militärorganisation“ (POW) auf. Unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs geriet einer seiner Ulanen in das Haus des Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz, der ihm vorwarf, „mit den Deutschen zu gehen“. Daraufhin antwortete der Soldat, er werde „selbst mit dem Teufel gehen, Hauptsache in ein freies Polen“.2 Im Blick auf seinen Werdegang äußerte Piłsudski später, dass er in der Straßenbahn zum Sozialismus an der Haltestelle „Unabhängigkeit“ ausgestiegen sei, was bereits früh passiert sein muss, denn als „Staatschef “ regierte er schon ohne eigene Parteibasis mit wechselnden Koalitionen. Der Mythos Piłsudski beruht denn auch weniger auf dem Politiker als vielmehr auf dem Militär, das im polnisch-russischen Krieg 1920 mit seinem „Wunder an der Weichsel“ die Ostgrenze um 250 Kilometer bis weit in nicht polnisch besiedeltes Gebiet verschieben konnte. Frustriert vom politischen Alltag kandidierte er 1923 nicht für das Amt des Staatspräsidenten und lebte als Privatmann in der Nähe von Warschau. Als ein zwei Jahre später von Deutschland angezettelter Handelskrieg die polnische Wirtschaft jedoch immer mehr ruinierte, griff er (nach vorübergehendem Zögern) ein, in Form eines Militärputsches am 12. Mai 1926 mit seiner „Legion“ und der POW, der tausend Menschen das Leben kostete, das Parlament und die Verfassung aber unangetastet ließ. Piłsudski ging es vorrangig um die Sanacja, um die moralische Gesundung seines Landes, und um dessen außenpolitische Absicherung. Nach Hitlers Austritt aus dem Völkerbund bot er Frankreich deshalb einen gemeinsamen Präventivkrieg an, in dem er nach dem Vorbild der französischen Ruhrbesetzung in Ostpreußen, Danzig und Schlesien einmarschieren und das Dritte Reich so zur Einhaltung der Bestimmungen der Versailler Vertrages zwingen wollte, doch der Elysée winkte ab. Daraufhin schloss er in einer radikalen Kehrtwendung im Januar 1934 einen Nichtangriffspakt mit Deutschland. Der Handelskrieg war erst jetzt beendet. Mit seinem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 (einen Tag vor dem deutschen Pendant), letztlich aber erst mit der nur einige Tage vor seinem Tod am 12. Mai 1935 erlassenen „Aprilverfassung“ wandelte Piłsudski Polen in eine autoritäre Diktatur um. Die Minderheitenrechte wurden empfindlich beschnitten, die Versammlungs- und Vereinsfreiheit eingeschränkt, die richterliche Unabhängigkeit ausgehöhlt 2 Jerzy Kochanowski, „Selbst mit dem Teufel, Hauptsache in ein freies Polen“. War während des Zweiten Weltkriegs ein gemeinsames Vorgehen von Polen und Deutschen gegen die UdSSR denkbar?, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 289–304, hier: S. 289 f.
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und das Parlament endgültig marginalisiert. Die alleinige Exekutive lag jetzt beim Staatspräsidenten, der nur noch gegenüber „Gott und der Geschichte“ verantwortlich war. Der Kult um den Wódz, den „Führer“ Piłsudski, hatte schon Jahrzehnte vor seinem Ableben begonnen. In der Forschung wird er sogar bis auf das Jahr 1914 zurückdatiert.3 Spätestens mit der Staatsgründung 1918 und dem Sieg von 1920 erreicht seine Verklärung einen ersten Höhepunkt. Er wird in eine Reihe mit Jan III. Sobieski und Tadeusz Kościuszko gestellt. Einen Monat nach seinem Tod bildet sich das „Oberste Komitee zur Bewahrung des Gedächtnisses an Marschall Piłsudski“, nicht zufällig wird sein Herz 1936 in Vilnius beigesetzt. Er hinterließ eine Scheindemokratie, in der sich die Opposition an den Wahlen von 1936 und 1938 nicht mehr beteiligte, und einen durch und durch militarisierten Staat, in dem zum Schluss fast eine Million Mann unter Waffen standen, kaum weniger als in den beiden ungleich größeren Nachbarstaaten im Osten und im Westen. Józef Beck, Außenminister seit 1932 und der starke Mann nach Piłsudski, verfolgte denn auch weiterhin eine unverhohlene Großmachtpolitik, aber im Innern polarisierte sich die polnische Gesellschaft von Tag zu Tag. Das eh komplizierte Staatsgebilde aus 24 Millionen Polen, fünf Millionen Ukrainern, dreieinhalb Millionen Juden, anderthalb Millionen Weißrussen, einer Million (Volks-)Deutschen und je 100.000 Litauern und Russen hatte schon 1933 eine gefährliche Aufladung erfahren, als sich das „National-Radikale Lager“ (ONR) von Dmowskis Endecja abgespalten hatte. Das ONR zögerte nicht, jüdische Geschäfte zu plündern, und war verantwortlich für die Ermordung des Innenministers Pieracki im Juni 1934. Piłsudski ließ die ONR-Führer daraufhin ins KZ Bereza Kartuska einliefern, das er auf Goebbels’ Rat hin errichtet hatte.4 Ungeachtet dessen hielten sowohl das ONR wie auch die ND an ihrer Parole fest, dass Judenfeindlichkeit die Pflicht eines jeden „wahren Nationalpolen“ sei, und „die christliche Mehrheit tat nichts, um die bestehende Ferne zu überwinden und Wege der Verständigung zu finden.“5 Bereits seit dem 10. Jahrhundert waren Menschen jüdischen Glaubens aus allen vier Himmelsrichtungen nach Polen gekommen, zumeist als Verfolgte und Flüchtlinge. Dort bewahrten sie nicht nur ihre Sprache, das aus mittelhochdeutschen Elementen entstandene Jiddisch, sondern auch ihre Kultur, ihre Gebräuche und ihre Kleidung sowie ihren Speisezettel. Sie wohnten eng abgekapselt und isoliert in eigenen Vierteln, in manchen Städten stellten sie bis zu 50 Prozent der Einwohner. In Warschau bildete sich am Beginn des 20. Jahrhunderts die größte jüdische Gemeinde in Europa. Jeder Zehnte in dem 3 Heidi Hein-Kircher, Führerkult und Führermythos, in: Ennker und Hein-Kircher (Hg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, a. a. O., S. 3–23, hier: S. 18. 4 Besier, Das Europa der Diktaturen, a. a. O., S. 157; Marek Kornat, Polen zwischen Hitler und Stalin. Studien zur polnischen Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2012. 5 Jacek Andrzey Młynarczyk, Judenmord in Zentralpolen. Der Distrikt Radom im Generalgouvernement 1939–1945, hg. im Auftrag des DHI Warschau, Darmstadt 2007, S. 372.
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1918 wieder entstandenen Staat war Jude. Nach Piłsudskis Tod bemächtigte sich der Antisemitismus praktisch aller Bevölkerungsschichten. Von 1936 bis 1939 wurden in über 150 Pogromen mindestens 350 Jüdinnen und Juden brutal getötet. Die Regierung kam nicht nur der ONR entgegen, als sie den Anteil jüdischer Studenten an den Hochschulen von 25 auf 8 Prozent senkte, jüdische Beamte entließ, einen Numerus clausus für jüdische Ärzte und Rechtsanwälte verfügte, das Schächten verbot und eine unsichtbare Mauer um die Minderheit zog. In den Schulen mussten sich jüdische Kinder auf die hinteren Bänke setzen. Die Predigten des jungen Priesters Stefan Wyszyński, der später als Kardinal und Primas zur Ikone der Aussöhnung werden sollte, waren voller Hass auf die Juden. Auf den Straßen und selbst im Sejm häuften sich die Anpöbeleien. Schließlich erhielt das Konsulardepartement im Außenministerium, also in Becks Ressort, die Zuständigkeit für die „jüdischen Angelegenheiten“, was nichts anderes hieß, als dass sie das Land verlassen sollten. Beck selbst ließ bei den Westmächten vorfühlen, ob sie für einen massenhaften Exodus der polnischen Juden zu gewinnen seien. Die Internationale Konferenz zur Migrationsfrage 1938 in Evian am Genfer See wurde hauptsächlich aus diesem Grund einberufen. Gleichzeitig verhandelte Beck mit der französischen Regierung wegen eines Transfers der polnischen Juden nach Madagaskar, allerdings ohne „Erfolg“. Von den im gleichen Zeitraum in Deutschland inszenierten Wellen einer zunehmend aggressiveren Judenverfolgung nahm in Polen kaum jemand Notiz. Hitler und Stalin hatten Polen, den „hässlichen Bastard des Versailler Vertrages“6, im geheimen Zusatzprotokoll ihres Pakts vom 23. August 1939 etwa hälftig untereinander aufgeteilt. Hitler erhielt durch das Abkommen die carte blanche für den am 1. September erfolgten Überfall auf Polen, Stalin die (sich nicht bestätigende) Gewissheit, dass die Westmächte in diesem Fall die Waffen gegen Deutschland erheben und das Reich wie 1914 in einen Zwei-Fronten-Krieg ziehen würden. Deshalb dachte er trotz mehrfacher eindringlicher und diskreter Aufforderungen aus Berlin auch nicht daran, das ihm zugesicherte Terrain zu besetzen – insgeheim hoffte er bereits hier auf lange Abnutzungsschlachten wie weiland vor Verdun –, und so war es erst der Blitzkrieg und Blitzsieg der Wehrmacht, der ihn am 17. September zwang, den „ukrainischen und weißrussischen Blutsbrüdern“ in Ostpolen zu Hilfe zu kommen und sie vor den Deutschen zu schützen. Nach außen überraschte die Reibungslosigkeit, mit der die Wehrmacht Hunderte von Kilometern zu weit über die vereinbarte Teilungslinie an Weichsel, Narew und San vorgestoßene Einheiten wieder zurücknahm. Die „Hilfestellung“ Stalins in Ostpolen sah im Übrigen so aus, dass er dort in dem kurzen Zeitraum vom September 1939 bis zum Sommer 1941 rund 500.000 Menschen hat ermorden lassen, mehr als die Nazis zeitgleich in dem von ihnen besetzten Gebiet. Es ging ihm vor allem um die systematische Liquidierung der polnischen Intelligenz, weshalb der NKWD 6 So der sowjetische Außenminister Molotow wörtlich noch am 23.8.1939; vgl. auch: Anna Kaminsky, Dietmar Müller und Stefan Troebst (Hg.), Der Hitler-Stalin-Pakt in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011.
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Offiziere, Ärzte, Professoren, Priester, Adlige und Gutsbesitzer festnehmen und im Frühjahr 1940 im Wald von Katyn in der Nähe von Smolensk erschießen ließ. Bis heute weiß man von 22.500 Toten, die letzten sind erst im Juli 2006 gefunden worden. Stalin versuchte noch bei den Nürnberger Prozessen, das Verbrechen den Deutschen in die Schuhe zu schieben, Gorbatschow gab die Anweisung „Verstecken Sie die Dokumente so gut wie möglich“ und Putin nahm die 2012 erfolgte Verurteilung Russlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg nur widerwillig zur Kenntnis. 7 Am 28. September 1939 kapituliert Warschau. Polen konstituiert umgehend unter General Sikorski eine Exilregierung, zunächst in Paris, dann in London, und Deutschland schließt noch am selben Tag einen offensichtlich bereits fix und fertig ausgehandelten „Grenz- und Freundschaftsvertrag“ mit der Sowjetunion, in dem der polnische Staat für aufgelöst erklärt wird. Das sich immer weiter aufblähende Dritte Reich holte sich mit Danzig, Posen, Westpreußen und dem Rest von Oberschlesien jene Gebiete „wieder zurück“, die es im Versailler Vertrag hatte abtreten und die inzwischen mehrheitlich polnisch besiedelt waren. Was übrig blieb, war ein Dreieck mit den Städten Warschau, Lublin und Krakau, das zwar auch besetzt, aber Deutschland nicht angegliedert wurde. Hier, in diesem seit 1940 als „Generalgouvernement“ (GG) bezeichneten Raum, ließ Hitler ein Experimentierfeld gemäß seiner Rassenideologie errichten. Alle Polen sollten als „Arbeitssklaven“ in diesen Sammelplatz für unerwünschte Volksgruppen umgesiedelt werden. Die dreieinhalb Millionen Juden wurden in den großen Städten in Ghettos innerhalb und außerhalb des GG untergebracht. Im April 1940 lässt Himmler das KZ Auschwitz bauen, im November wird das Warschauer Ghetto abgeriegelt. SS und SD beginnen noch im September 1939 mit dem massenhaften Morden. Polen ist eines der ganz wenigen europäischen Länder, in dem die Nazis zu keinem Zeitpunkt und auf keiner Ebene ein Mittun der einheimischen Bevölkerung bei ihrer Verwaltung und ihren Verbrechen eingeplant, anvisiert oder auch nur erwünscht hatten. Die Wirklichkeit des Besatzungsalltags zeigte dagegen sehr schnell, dass man ohne sie nicht auskam. Deshalb avancierte die Frage „Gab es in Polen, dem Land ohne Quisling, Kollaboration?“ zur Schicksalsfrage für den Umgang einer Nation mit ihrer eigenen Vergangenheit. Sie erfordert eine umfassende und differenzierte Beantwortung. Im Generalgouvernement hielten sich bis zum Schluss Strukturen und Bruchstücke polnischer Administration. Noch 1944 waren von 1512 Dorfschulzen und Bürgermeistern 144 deutscher, 463 ukrainischer, aber 717 polnischer Nationalität. Als Funktionäre und ausführendes Organ der Besatzungsmacht waren sie de facto kollaborativ tätig. Der Warschauer Stadtpräsident Stefan Starzyński versicherte einem hochrangigen SSMann bereits am 2. Oktober 1939: „Wenn es um die Sicherheit der Bevölkerung und deren Versorgung geht, bin ich bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“7 Drei Wochen 7 Zit. nach Czesław Madajczyk, Kann man in Polen 1939–1945 von Kollaboration sprechen?, in: Röhr, Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 133–148, hier: S. 135.
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später wurde er von der Gestapo verhaftet. Die 11.500 Mann starke polnische Polizei im Bestand der Ordnungspolizei, wegen ihrer Uniform die „blaue“ genannt, hat freiwillig und gezwungen an der Deportation von Zwangsarbeitern, der Bekämpfung von „Banditentum“, der Verfolgung von Juden und der Exekution von deutschen Todesurteilen teilgenommen. Sie hat in vielen Fällen auch ohne Wissen der Deutschen gemordet. Etwas anderes waren die Angebote zur Zusammenarbeit auf politischer Ebene. Da gab es zunächst die nach Berlin gesandten Denkschriften des seit jeher fanatisch germanophilen Publizisten Władyslaw Studnicki, die an der Spree nicht auf fruchtbaren Boden fielen, wohl auch, weil sein Einfluss in der polnischen Gesellschaft gleich null war. Studnicki bot sich als Vertrauensmann für die Aufstellung einer polnischen Armee unter deutscher Leitung an. Hitler jedoch ließ ihn schon Anfang 1940 in ein bewachtes Sanatorium einsperren. Ähnlich unwirksam war das im Juli 1940 an das deutsche Außenministerium gerichtete sogenannte Lissaboner Memorandum einer achtköpfigen Gruppe polnischer Politiker um den Obersten Jan Kowalewski, die sich in Frankreich und Portugal aufhielten. Nicht ganz von der Hand zu weisen, allein schon wegen seines Bekanntheitsgrades, war das Angebot des ehemaligen Ministerpräsidenten Leon Kozłowski, der Sikorski ablehnend gegenüberstand, 1941 von einem polnischen Untergrundgericht zum Tode verurteilt worden war, floh und Weihnachten 1941 in Berlin eine große Pressebühne zugestanden bekam. „Dieser Mann hätte die Rolle eines polnischen Quisling spielen können, doch das Land seiner Wahl, Deutschland, war an ihm nicht interessiert.“8 Er wurde in das KZ Neuengamme eingeliefert und ist 1944 bei einem Fliegerangriff ums Leben gekommen. Demgegenüber marginal blieb das prodeutsche Engagement einiger Künstler und Intellektueller wie Feliks Burdecki, Boguslav Samborski, Józef Mackiewicz und Emil Skiwski mit dessen „Antibolschewistischer Liga“. Weit wirkungsmächtiger als diese zersplitterten und versprengten Kollaborationsansätze war das, was die Exilregierung über ihre Heimatdelegation im ganzen Land verfügte. Sie brachte bis Ende 1941 „zehn patriotische Gebote“ und einen „Kodex der Bürgermoral“ heraus, in denen entsprechende Verhaltensrichtlinien, eine komplette Untergrundgerichtsbarkeit mit eigenem Vollstreckungssystem und Verratsverbrechen am polnischen Staat und an der polnischen Nation definiert waren, die mit der Todesstrafe zu ahnden waren. Verrat an der Nation lag auch dann vor, wenn sich eine Polin mit einem Wehrmachtssoldaten einließ. Außerdem war in dem Kodex das Verbot festgelegt, sich „vollzusaufen“ und ostentativ zu konsumieren. Die Todesstrafe war über8 Madajczyk, Kann man in Polen 1939–1945 von Kollaboration sprechen?, a. a. O., S. 140; Maren Röger und Stephan Lehnstaedt, Gleiche Muster der Zusammenarbeit unter NS- und Sowjetbesetzung? Individuelle Kollaborateure im „Land ohne Quisling“, Warschau und Osnabrück 2013; Mikolaj Kunicki, Unwanted Collaborators. Leon Kozlowski, Wladyslaw Studnicki and the Problems of Collaboration among Polish Conservative Politicians in World War II, in: „European Review of History“, Nr. 2/2001, S. 203–220.
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dies für Denunziationen, unterlassene Hilfe für „vom Feind Verfolgte“, den Dienst „beim Feind ohne unbestreitbaren Zwang“ und das Befolgen von Anordnungen des Feindes „zum eigenen Nutzen“ vorgesehen. Es gab wohl kaum einen Polen, der die Jahre von 1939 bis 1945 überstanden hat, ohne auch nur eine einzige dieser Bestimmungen zu übertreten, doch das postulierte hohe ethische Niveau „sollte der Verteidigung der von Vernichtung bedrohten nationalen Substanz dienen. Was man in Paris auf kulturellem Gebiet tolerierte, galt in Warschau bereits als Kollaboration.“9 Mitte 1942 führen die sich immer dichter vernetzenden Organe des Untergrunds sogar eine Analyse zum Verhalten der Warschauer Bevölkerung gegenüber der Besatzungsmacht durch, deren Ergebnis eine Typologie aus drei Einstellungsmustern ist. Nach ihr bilden 5 Prozent das „Warschau der Schande“, das sich vergnügt und mit den Deutschen Geschäfte macht (die Zahl ist deutlich zu niedrig angesetzt10), 70 Prozent das „Warschau der Kowalskis“ (der Name ist in Polen so häufig wie Meyer oder Schmidt in Deutschland), das sich anpasst, aber die Würde bewahrt, und 25 Prozent das „heroische Warschau“, das den Widerstand unterstützt. Auch wenn dieses Raster und seine Zahlenangaben nicht in allem deckungsgleich mit der Wirklichkeit sein müssen, so zeigt es angesichts der auf die totale Zertrümmerung und Atomisierung aller gesellschaftlichen Bindungen ausgerichteten bestialisch brutalen NS- Unterwerfungspolitik doch grundsätzlich andere Verhaltensdispositionen auf als beispielsweise in Frankreich oder Norwegen. Andererseits heißt dies noch lange nicht, „dass ganz Polen einig und unnachgiebig vom ersten bis zum letzten Tag die Besatzungsmacht bekämpfte, keinerlei Kompromisse mit ihr schloss und keinerlei Vorteile aus der Besatzung zog.“11 Ein (Gegen-) Beispiel ist die noch im September 1939 von Andrzej Swietlicki gegründete Nationale Radikale Organisation (NOR), die ein polnischer Ableger der NSDAP werden sollte, aber völlig erfolglos blieb. Das Feld, auf dem das Selbstbild und der Mythos von Polen als dem ewig unschuldigen Opfer der Geschichte am nachhaltigsten erschüttert wurde und wird und sich mit dem Problemkomplex der Kollaboration auf das Engste und Fatalste berührt, ist 9 Madajczyk, Kann man in Polen 1939–1945 von Kollaboration sprechen?, a. a. O., S. 145. Über eine besonders pikante Liaison berichtet Maren Röger, Von Fischotter und seiner Frau. Besatzungsalltag und NS-Rassenpolitik am Beispiel eines deutsch-polnischen Paares im Generalgouvernement, in: „Historische Zeitschrift“, Nr. 1/2014, S. 70–98: Der SS-Hauptsturmführer Alois Fischotter, Leiter des Referats „Opposition“ in der Sicherheitspolizei Lublin, heiratet mit Himmlers Erlaubnis die polnisch-kaschubische Urszula B., die schon vorher als Sekretärin für die Deutschen gearbeitet hatte. Fischotter wird nach dem Krieg in Polen hingerichtet, Urszula B., die sich nach den Definitionen der polnischen Exilregierung schlimmster Kollaborationsverbrechen schuldig gemacht hatte, heiratet einen Soldaten der Armija Krajowa und überlebt. 10 Vgl. Madajczyk, Kann man in Polen 1939–1945 von Kollaboration sprechen?, a. a. O., S. 146. 11 Bachmann, Vergeltung, Strafe, Amnestie, a. a. O., S. 201; vgl. auch Klaus-Peter Friedrich, Collaboration in a ‘Land without a Quisling’: Patterns of Cooperation with the Nazi German Occupation Regime in Poland during World War II, in: „Slavic Review“, Nr. 4/2004, S. 711–746.
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der Holocaust, obwohl von den drei Millionen in Polen ermordeten Juden nur dreitausend durch polnische Hand umgekommen sind. Aufklärung und Aufarbeitung haben hier erst in jüngster Zeit begonnen, und sie gleichen immer noch einem Gang durch vermintes Gelände. Das Terrain, um das es hier in der Hauptsache geht, ist das Generalgouvernement, in dem anfangs 1,7 Millionen Juden lebten, was 14,2 Prozent der dortigen Bevölkerung entsprach. Wer für das, was sich hier vollzog, die Frage nach polnischer Schuld oder Mitschuld beantworten will, der hat eine zentrale Quelle: den tiefgläubigen Katholiken und glühenden polnischen Nationalisten Jan Kozielewski (1914–2000), der, so wie Willy Brandt, im Widerstand den Tarnnamen Karski annahm, den er Zeit seines Lebens behielt. Karski war der Augenzeuge, Kurier, Agent, Mittelsmann und Geheimnisträger des polnischen Untergrunds wie auch der Exilregierung, an die er von der ersten Minute an berichtete. Seine Dossiers sind ein Vernichtungsurteil für die Deutschen, sie gereichen aber auch dem polnischen Volk nicht zur Ehre. Schon im Februar 1940 kabelt er Sikorski nach Paris: Der polnische Bauer, der Arbeiter, der halbgebildete, unintelligente, demoralisierte arme Teufel verkündet lauthals: „Jetzt erteilen die Deutschen ihnen also endlich eine Lehre. (…) Wir sollen von ihnen lernen, (…) für die Juden ist das Ende gekommen (…). Was immer geschieht, wir sollten Gott danken, dass die Deutschen gekommen sind und die Juden übernommen haben.“ (…) Im Prinzip jedoch und in ihrer Masse haben die Juden hier eine Lage geschaffen, in der die Polen sie als Anhänger der Bolschewisten betrachten und – so kann man ohne weiteres sagen – auf den Moment warten, in dem es ihnen möglich sein wird, an den Juden einfach Rache zu nehmen. Faktisch alle Polen sind mit Blick auf die Juden verbittert und enttäuscht, die überwältigende Mehrheit (darunter in erster Linie natürlich die Jugend) wartet buchstäblich auf eine Gelegenheit zu „blutiger Vergeltung“.12
Sikorski befand sich nach dem Eingang dieses Berichts in einer mehrfach kalamitären Lage: Ihm war klar, dass er den Antisemitismus in seiner Heimat nicht anprangern konnte, ohne den Einfluss auf die eigene Bevölkerung zu verlieren; andererseits konnte er den polnischen Judenhass nicht unterstützten, weil er dann die Westmächte gegen sich aufbrachte, und schließlich musste er sich eingestehen, dass einige seiner Kabinettsmitglieder dem in Karskis Denkschrift kommunizierten Gedankengut nicht gerade fernstanden.13 Die überwiegende Mehrheit der polnischen Gesellschaft hat sich in den ersten Jahren der Besatzung für das Schicksal der Juden nicht interessiert. Die einsetzenden Verfolgungen und den unübersehbaren Terror „hielt sie für eine ausschließlich deutschjüdische Angelegenheit, die sie selber nichts anging. (…) Nur wenige konnten sich mit dem Leid der gejagten Menschen identifizieren oder verspürten eine moralische Ver-
12 Zit. nach Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, a. a. O., S. 72 f. 13 Vgl. ebd., S. 73.
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pflichtung, ihnen zu helfen.“14 Im Gegenteil, viele nutzten die neue Lage schamlos aus, denunzierten ihre Nachbarn, weideten sich an ihrer Hilflosigkeit, erpressten, schlugen und beraubten sie, oft nur um Nahrung oder einer Flasche Wodka willen. Die Szmalczownicy, die „Speckjäger“, waren geboren, keine marginale Bevölkerungsgruppe. Auf dem Land kommt es zu den ersten Morden einfacher, armer Bauern an den wehrlosen Opfern. Ein Augenzeuge aus der Region Zamość berichtet von der Plünderung jüdischer Geschäfte („Jeder grabscht sich, was er kann, und trägt es schnell nach Hause“), vom Beifall der polnischen Bevölkerung, wenn Juden von Wehrmachtssoldaten zusammengeschlagen werden, und von ihrer aktiven Beteiligung.15 In einer besonders abgefeimten Lügenversion rechtfertigten die Deutschen die Einführung der Ghettos damit, dass die Juden nur dort nachhaltig geschützt werden könnten. Richtig ist allerdings, dass die Juden im Ghetto mit ihrem eigenen Rat, mit ihrer eigenen Gemeinde und Polizei, „die als eine Art jüdische Gestapo fungierte“, eine weitgehende Selbstverwaltung ausübten, „die teilweise zum direkten Erfüllungsgehilfen der ‚Endlösung‘ wurde“16. Allein im Lemberger Ghetto wuchs der Personalbestand der „Jüdischen Gemeinde“ bis auf 4000 Mitarbeiter, die sich in einer weitverzweigten Verwaltung um Organisation und Finanzen, Lebensmittelzuteilung, sanitäre Anstalten, Sozialfürsorge, Krankenhäuser, Schulen, Wohnungen, Rechtshilfe, Lesungen und Musikabende kümmerten. Da sie aber letztlich nichts anderes als ausführende Instrumente der Deutschen waren, wurden sie von den eigenen Leuten gehasst. Władislaw Szpilmann, dem Titelhelden des weltberühmten Polanski-Films „Der Pianist“, wird vorgeworfen, Gestapo-Helfer im Warschauer Ghetto gewesen zu sein17, und Marcel Reich-Ranicki beeilt sich in seiner Autobiographie mit der Feststellung, für die Kulturabteilung des dortigen Judenrats nur Musikkritiken geschrieben zu haben18. Wie unsicher und schwankend das historische Urteil bis heute zu diesem wohl sensibelsten Bereich des gesamten Problemkomplexes Kollaboration ist, zeigt der Fall von Chaim Mordechaj Rumkowski, der als Judenältester und somit Vorsitzender des Judenrats im Ghetto von Litzmannstadt (Lodz) über eine enorme Machtfülle verfügte. Wie hat er sie genutzt? In den (inzwischen zahlreichen) Büchern und Schriften, die sich mit ihm befassen, wird 14 Młynarczyk, Judenmord in Zentralpolen, a. a. O., S. 375 und 377; genauso: Jerzy Holzer, Polen und Europa. Land, Geschichte, Identität, Bonn 2007, S. 123. 15 Tagebucheintrag Dr. Zygmund Klukowski vom 25. April 1940, zit. nach Gross, „Jeder lauscht ständig, ob die Deutschen nicht schon kommen“, a. a. O., S. 218. 16 Thomas Sandkühler, „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941–1944, Bonn 1996, S. 205 und 202; vgl. als selbstkritisches Zeugnis: Calel Perechodnik, Bin ich ein Mörder? Das Testament eines jüdischen Ghetto-Polizisten, Leipzig 1999. 17 „Der Spiegel“, Nr. 44/2010, S. 145. 18 Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, Stuttgart 1999, S. 225 ff.; Markus Roth und Andrea Löw, Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung, München 2013, S. 18 ff.
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er „Der Judenkönig“, so Leslie Epstein, „Der Kaufmann von Lodz“, so Adolf Rudnicki, und die Verkörperung des „Führerprinzips“, so Philip Friedmann, genannt. Primo Levi siedelt ihn „in der grauen Zone des Gewissens“ zwischen dem kategorisch Guten und dem kategorisch Bösen an, und für den ins Lodzer Ghetto umgesiedelten tschechischen Juden František Kafka ist er der Herr der „Grausamen Jahre“.19 Rumkowskis durchgehendes Prinzip hieß „Rettung durch Arbeit“, insofern könnte man ihn prima vista mit Oskar Schindler, Rudolf Kastner oder Berthold Beitz vergleichen, aber der Schein trügt. Er hat „sein“ Ghetto durch das Einführen der mörderischen Dreischichtarbeit in ein riesiges, für die Nazis höchst produktives Zwangslager verwandelt und aktiv an den Überstellungen in die Vernichtungslager mitgewirkt. Für Marek Edelmann, den Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, war er der „Henkershelfer“, bei dem die SS „alles auf dem Tablett präsentiert“ bekam.20 Immerhin hat seine Strategie „Ich muss einzelne Gliedmaßen opfern, um den Körper zu retten“ 15.000 Menschen das Leben bewahrt, mehr als in allen anderen Ghettos zusammen – an seiner Klassifizierung als Kollaborateur ändert dies aber nichts. Um mit Hannah Arendt zu sprechen: „Die Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung ihres eigenen Volkes ist für Juden zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte.“21 Am 22. Juni 1941 überfällt die Wehrmacht aus einem geltenden Nichtangriffspakt heraus die Sowjetunion, deren Grenze zum deutschen Machtbereich mitten durch das 19 Für weiterführende und bibliographische Hinweise vgl. Julian Baranowski, Chaim Mordechaj Rumkowski – Kollaborateur oder Retter? in: Jacek Andrzej Młynarczyk und Jochen Böhler (Hg.), Der Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebieten, Osnabrück 2010, S. 301–310, hier: S. 301 f.; Monika Polit, Mordechaj Chaim Rumkowski – Wahrheit und Legende. „Meine jüdische Seele fürchtet den Tag des Gerichts nicht“, Osnabrück 2017; Józef Zelkowicz, In diesen albtraumhaften Tagen. Tagebuchaufzeichnungen aus dem Getto Lodz/Litzmannstadt, September 1942, hg. von Angela Genger, Andrea Löw und Sascha Feuchert, Göttingen 2015; s. auch: Dan Michmann, Judenräte, Ghettos, „Endlösung“. Drei Komponenten einer antijüdischen Politik oder separate Faktoren?, in: Młynarczyk und Böhler (Hg.), Der Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebieten, a. a. O., S. 167–178; Jakub Tomaszewski, Neueste Geschichte der Juden in Polen, Warschau 1993. 20 Baranowski, Chaim Mordechaj Rumkowski – Kollaborateur oder Retter?, a. a. O., S. 304. 21 Arendt, Eichmann in Jerusalem, a. a. O., S. 153. Einen besonderen Stellenwert kann der Fall des am 7. Januar 1946 von einem polnischen Sonderstrafgericht freigesprochenen Leiters der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe in Polen im Zweiten Weltkrieg, Dr. Michał Weichert (1890–1967), beanspruchen, der kurz zuvor im Untergrund von einer jüdischen Widerstandsorganisation zum Tode verurteilt worden war. Den Ausschlag für den Freispruch gab, dass die Selbsthilfe nicht mit den lokalen Judenräten gleichgesetzt und der Kollaborations- bzw. Verratsvorwurf zumindest entkräftet werden konnte. Genau dies lastete ihm ein jüdisches Ehrengericht in einem erneuten Urteil vom 28. Dezember 1949 an. Weichert, dem fortan jede Tätigkeit in einer jüdischen Organisation untersagt wurde, ist 1967 verbittert in Israel gestorben. Hierzu umfassend: Hans-Jürgen Bömelburg, Der Kollaborationsvorwurf in der polnischen und jüdischen Öffentlichkeit nach 1945 – das Beispiel Michał Weichert, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 250–288.
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besetzte Polen verläuft. Kurz danach unternehmen die NS-Gewaltigen den ersten und einzigen Versuch zur Anwerbung polnischer Freiwilliger, indem sie in Warschau riesige Leinwände aufstellen lassen, auf denen ausländische Einheiten mit an die Ostfront marschieren. Wörtlich heißt es: „Ganz Europa kämpft gegen den Bolschewismus …, an der Seite des deutschen Soldaten sind Italiener, Belgier, Norweger, Holländer, Dänen, Kroaten … Und wo bist Du, Pole?“22 Die Aktion scheiterte, weil es in Polen im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten tatsächlichen und vor allem frühen Widerstand gab. An anderer Stelle wäre sie nicht gescheitert, nämlich in dem seit dem 17. September 1939 von der Sowjetunion unterworfenen und unterjochten Ostpolen. Ein Bauer aus der tiefsten Provinz erinnert sich: Die Deutschen wurden hier mit Begeisterung begrüßt. Es kam dazu, dass Landwirte ihnen freiwillig ihre Kühe ablieferten, Messen für sie bestellten und ihnen Triumphbögen errichteten (…). Sie wurden besonders bewirtet, die Soldaten betrunken gemacht (…). Die Deutschen befreiten in den ersten Tagen der Offensive viele Polen aus sowjetischen Gefängnissen und das war auch ein Grund für die Bittgebete für sie in den Kirchen.23
Der Antisemitismus wurde wie selbstverständlich als gemeinsame Verständigungsbasis vorausgesetzt. Jüdische Häuser raubte man aus, noch bevor die neuen Okkupanten da waren. Menachem Finkelsztejn berichtet: „Die Polen sehen (…) in den Deutschen ihre Erlöser. Überall haben sie die deutschen Soldaten fast enthusiastisch empfangen, manchmal sogar mit Blumen. (…) Es bezieht sich auf alle, unabhängig von ihrem sozialen Status.“24 Und im Feldpostbrief eines Soldaten an seine Gattin heißt es: „Die Frauen kamen und brachten uns ihre letzte Milch, und sie fragten: kommen die Bolschewiken zurück, bleibt ihr hier, vertreibt ihr die Machthaber (meistens Juden) noch weiter? Und wenn wir sagten: bis Moskau: ‚Dobsche, Dobsche‘, gut, gut, mit der bezeichnenden Halsabschneiderbewegung“.25 Da musste nichts angestachelt und aufgeheizt werden, da war ein echtes „Wir-Gefühl“. Es gab nicht wenige Polen, die „aktiv, freiwillig und (…) bewusst an die von den Deutschen praktizierte Judenvernichtung anknüpften.“26 Der Einmarsch der Wehrmacht war hier kein Überfall, sondern ein Ventil, das verdrängte Gewaltbereitschaft und unterdrückten Hass freisetzte. Der katholische Ortsgeistliche tut mit seinen Reden von der Kanzel herab ein Übriges: Quasi mit seinem Segen und im Schutz der Wehrmachtseinheiten kann man endlich gegen 22 Zit. nach Kochanowski, „Selbst mit dem Teufel, Hauptsache in ein freies Polen“, a. a. O., S. 294 f. 23 Ebd., S. 295. 24 Zit. nach Agnieszka Pufelska, Die „Judäo-Kommune“. Ein Feindbild in Polen – Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939–1948, Paderborn u. a. 2007, S. 91. 25 Feldpostbrief des Unteroffiziers Heinz Heppermann vom 17. Juli 1941, in: Martin Humburg, Das Gesicht des Krieges. Feldpostbriefe von Wehrmachtssoldaten aus der Sowjetunion 1941–1944, Opladen und Wiesbaden 1998, S. 200. 26 Pufelska, Die „Judäo-Kommune“, a. a. O., S. 92.
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die „jüdische Mischpoke“ vorgehen. Zentrum der sich in polnischer Eigenregie exzessiv steigernden Gewalt ist die Region Białystok im Nordosten des Landes. Dort liegt die Kleinstadt Jedwabne („die Seidene“), jener Ort, der nach polnischem Urteil „das selbstgerechte Bild der Polen von sich selbst, ihren falschen Hochmut, die Gerechten Europas während des Zweiten Weltkriegs gewesen zu sein, die als einzige nichts mit den Verbrechen Hitlers zu tun hatten, zu Fall gebracht hat.“27 In Jedwabne, knapp 200 Kilometer nordöstlich von Warschau, lebten bei der letzten Volkszählung vor dem Krieg 2167 Bürgerinnen und Bürger, davon 1600 Jüdinnen und Juden. Die Wehrmacht war am 23. Juni 1941 ganze 24 Stunden nach ihrem Überfall im Laufschritt durch den Ort gerannt, sehr zur Enttäuschung der christlichen Bewohner. Eine Chance war vertan. Jetzt, am 10. Juli, stand sie schon in der Nähe von Minsk, aber an diesem Tag kehren acht Gestapoleute nach Jedwabne zurück. Das wird von der Gemeindeverwaltung als Signal zum Losschlagen empfunden. Bürgermeister Karolak macht mit den Deutschen aus, „die Stadt werde die Angelegenheit mit den Juden selbst erledigen.“ Schon seit dem Morgengrauen strömen vollbesetzte Fuhrwerke aus der ganzen Gegend in die Stadt. Sie alle müssen gewusst haben, was kommt, und hoffen auf Plündergut. Juden, die in den Nächten zuvor versucht haben, über die Dächer zu fliehen, werden durch einen organisierten Wachdienst aus den Feldern und Wäldern zurückgebracht. Ohne von den Deutschen veranlasst oder gar gezwungen worden zu sein, befiehlt Karolak den Juden zunächst, auf dem Marktplatz niederzuknien und das Unkraut zu jäten. Dann müssen sie sich in Viererreihen aufstellen und zu einer abseits gelegenen Scheune gehen. Sie werden genötigt, das von den Sowjets hinterlassene Lenindenkmal abzumontieren, es symbolisch zu begraben und dabei das Lied „Wir wollten den Krieg“ zu singen, wozu ihr Rabbi eine rote Fahne schwenken muss. Schon auf diesem Weg werden etliche angespuckt, verprügelt und niedergestochen. Die Gestapomänner halten sich strikt abseits, fotografieren und filmen aber das Geschehen. Der Streifen wird später Heinrich Himmler vorgeführt und von diesem triumphierend als Lehrfilm und Beweis für das Bedürfnis der polnischen Bevölkerung nach „Selbstreinigung“ auf SS-Schulungen eingesetzt. Als alle Juden in der Scheune sind, wird sie vernagelt und angezündet. Zwischenzeitlich durchsuchen Jedwabner die jüdischen Wohnungen nach Kindern, Kranken und Greisen, um sie noch rechtzeitig ins Feuer werfen zu können. Von den 600 Menschen überleben nur sieben, die die Bäuerin Antonia Wyrzykowska den ganzen Krieg über auf ihrem Hof versteckt hält. Hierfür wird sie so drangsaliert, eingeschüchtert und terrorisiert, dass sie nach dem Krieg schließlich mit ihrer Familie nach Chicago auswandert. Andrzej Żbikowski hat nachgewiesen, dass es in der Region nicht ein Jedwabne, sondern über fünfzig mit ähnlichen oder vergleichbaren Pogromen gegeben hat. Immer geht ihnen ein Spektakel voraus, in dem die Opfer gedemütigt und lächerlich gemacht werden. In Stawiski stößt man den örtlichen Rabbiner, der die Thorarollen um27 Jacek Zakowski, in: „Gazeta Wyborcza“ vom 18./19.11.2000.
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klammert, in die brennende Synagoge. In Radziłow wird ein Triumphbogen mit der Aufschrift „Es lebe die deutsche Armee, die uns von der verfluchten ‚Judenkommune‘ befreit hat“ aufgebaut. Es ist so, berichtet ein Beobachter, als ob die Polen von einer Psychose ergriffen seien und „nach dem Vorbild der Deutschen im Juden oft nicht den Menschen sehen, sondern als eine Art schädliches Tier, das mit allen Mitteln ausgerottet werden muss, so wie tollwütige Hunde oder Ratten.“� Nochmals: Es ging hier weder um ein vereinzeltes noch um ein vorübergehendes Phänomen, „was den polnischen Nationalstolz am meisten verletzt, ist die Tatsache, dass es sehr viele waren.“28 Natürlich haben Polen Juden geholfen, aber sie waren eher die Ausnahme als die Regel, und sie hatten es nicht leicht. Für jede Familie, die Juden versteckt hielt, waren die Nachbarn eine Bedrohung. „Sie durften auf keinen Fall davon erfahren.“29 Im Mai und im August 1942 veröffentlicht die katholische „Front für die Wiedergeburt Polens“ Aufrufe, in denen die gesamte Paradoxie des polnisch-jüdischen Verhältnisses deutlich wird. Sie sind ein Beleg für die intime Kenntnis der begangenen Massaker, von denen man sich in aller Schärfe distanziert. Im Einzelnen heißt es dort: Wir müssen untätig Zeugen einer schrecklichen Tragödie sein: des geplanten Massenmordes der Deutschen an den Juden auf dem Gebiet der Republik Polen. (…) jüngst hat man Gas zum Vergiften verwandt. (…) Unser Verhältnis zu den Juden schwankte zwischen sklavischer Unterwerfung und Prügelorgien. (…) In vielen Ortschaften wie Kolno, Stawiski und Jedwabne nahm die Bevölkerung freiwillig an einem Massaker teil. Einer derartigen Schande muss man mit allen verfügbaren Mitteln entgegenwirken. (…) Das Übel breitet sich aus wie eine Epidemie, das Verbrechen wird zur Gewohnheit. Man darf unter keinen Umständen zulassen, dass sich die Pest der Vertierung und des Sadismus auf uns überträgt. (August 1942:) Weder England noch Amerika erhebt die Stimme. Es schweigt sogar das internationale Judentum, es schweigen auch die Polen. (…) Wer schweigt, wird zum Mittäter. Unsere Empfindungen gegenüber den Juden haben sich nicht verändert. Wir hören nicht auf, sie als politische, wirtschaftliche und ideelle Feinde Polens zu betrachten. Wir sind uns bewusst, dass sie uns mehr als die Deutschen hassen, dass sie uns für ihr Unglück verantwortlich machen. (…) Die Zwangsbeteiligung der polnischen Nation am blutigen Spiel (…) kann die gefährliche Überzeugung fördern, dass man die Nächsten schuldlos umbringen darf.30
28 Tagebucheintrag Dr. Klukowski vom 26.11.1942, zit. nach Gross, „Jeder lauscht ständig, ob die Deutschen nicht schon kommen“, a. a. O., S. 222. 29 Andrzej Zbikowski, Es gab keinen Befehl, in: Barbara Engelking und Helga Hirsch (Hg.), Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden, Frankfurt am Main 2008, S. 181– 190, hier: S. 188 und 190; s. auch: Edmund Dmitrów, Paweł Machcewicz und Tomasz Szarota (Hg.), Der Beginn der Vernichtung. Zum Mord an den Juden in Jedwabne und Umgebung im Sommer 1941 – Neue Forschungsergebnisse polnischer Historiker, Osnabrück 2004; Magdalena Marszałek, Die Tragödie der Nachbarn, in: Hans-Henning Hahn und Robert Traba (Hg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 2, Paderborn 2014, S. 641–660; Jochen Böhler und Stephan Lehnstaedt (Hg.), Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939–1945, Osnabrück 2012. 30 Jan Tomasz Gross, Interview mit der „Jüdischen Allgemeinen“ vom 5.5.2011, S. 6.
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Die heimlich, aber überall verbreiteten Aufrufe haben keine große Wirkung erzielt. In „Narod“, der Zeitschrift der (zur Exilregierung gehörenden) Christlich-Demokratischen Arbeiterpartei, wird fast gleichzeitig die Entfernung nicht nur aller Juden aus Polen, sondern aller neun Millionen Juden aus Mittel- und Südeuropa gefordert. Es ist die Stunde von Jan Karski, dem anderen Gesicht Polens. Anfang Oktober 1942 schleust der Untergrund ihn als „politischen Gesandten des zivilen Kampfes“ mit einem Mikrofilm in den Westen, auf dem der industrielle Mord in den Vernichtungslagern festgehalten ist. Der britische Außenminister Anthony Eden, der Alliierte Kriegsrat und Franklin Delano Roosevelt empfangen ihn, hören ihn an – und tun nichts. Die amerikanische Luftwaffe bombardiert Ziele, die fünf Kilometer entfernt von Auschwitz liegen, die dortigen Krematorien jedoch nicht. Karskis „Bericht an die Welt“31 geht in den Vereinigten Staaten 400.000 Mal über den Ladentisch – und das Töten in Belzec, Sobibor und Treblinka geht weiter, wie auch der Antisemitismus im eigenen Land. Seit dem Februar 1942 verfügte der Widerstand über eine eigene „Heimatarmee“, die Armia Krajowa (AK), die sich mit ihren schließlich fast 400.000 Mann der Londoner Exilregierung unterstellte. Auch in ihr gab es Judenfeindschaft. Marek Edelman, der Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto vom Frühjahr 1943, berichtet, dass AK-Einheiten ihm mit der Erschießung drohten32, und der mit Karski in engster Verbindung stehende Samuel Zygielbojm schrieb am 11. Mai 1943, nachdem die Erhebung endgültig gescheitert war, an Sikorski: „ Die Verantwortung für das Verbrechen der Ermordung des gesamten jüdischen Volkes liegt zuallererst bei denjenigen, die es begehen, aber indirekt fällt sie auch auf die ganze Menschheit, auf die Völker der alliierten Nationen und auf ihre Regierungen, die bis auf den heutigen Tag keine wirklichen Maßnahmen ergriffen haben, um diesem Verbrechen Einhalt zu gebieten. Dadurch (…) sind sie zu Teilhabern der Verantwortung geworden.“33 Einen Tag später nahm er sich das Leben. Alles ging so weiter wie gehabt, in Stadt und Land. Wer Juden versteckte, ließ sich dies in der Regel bezahlen, raubte sie aus und übergab sie danach den Deutschen. Schon 1943 war außerdem völlig klar, dass eine Rückkehr der überlebenden Juden nach dem Krieg in ihre Werkstätten und Wohnungen „völlig ausgeschlossen“ blieb, weil sich die nichtjüdische Bevölkerung dort
31 Zit. nach „Polen und wir“, Nr. 2/2001, S. 14 und „Die Zeit“ vom 22.3.2001, S. 46. 32 Jan Karski, Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund, München 2011; Original: Story of a Secret State, 1944; Marta Kijowska, Das Leben des Jan Karski. Kurier der Erinnerung, München 2014; auch: Witold Pilecki, Freiwillig nach Auschwitz. Die geheimen Aufzeichnungen des Häftlings Witold Pilecki, 5. Aufl., Zürich 2014. 33 Vgl. Jürgen Zarusky, Timothy Snyders „Bloodlands“, in: VfZ, Nr. 1/2012, S. 1–31, hier: S. 18; Bernhard Chiari, Kriegslist oder Bündnis mit dem Feind? in: ders. (Hg.), Die polnische Heimatarmee, München 2003, S. 497–527.
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eingenistet hatte und „mit physischen Mitteln zur Wehr setzen würde.“34 Genauso sollte es kommen. Die AK hat, was lang verschwiegen worden ist, mit den deutschen Besatzungstruppen kollaboriert. Der Grund hierfür lag in der zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnis, dass es Stalin war, der hinter den Morden von Katyn stand. Vor den Augen der Wehrmacht lieferte sich die Heimatarmee daraufhin in Ostpolen, Litauen und Weißrussland einen brutalen Bürgerkrieg mit sowjettreuen Partisanen. Noch im Februar 1944 trafen sich ihre Vertreter in Vilnius mit SS-Beauftragten zu weitreichenden Verhandlungen. Langfristig wollte man Hitler mit achtzehn Infanteriebataillonen unter die Arme greifen. Dafür verlangte die AK-Führung die Beendigung des deutschen Terrors und die Wiederherstellung Polens in den Vorkriegsgrenzen. Als Beweis für die Ernsthaftigkeit der eigenen Absichten wurde eine Partisanenbrigade dem deutschen Oberbefehl unterstellt. Trotz dieser konkreten Kollaborationsschritte ist es nicht zu einer flächendeckenden Zusammenarbeit gekommen, weil sich dies für die Londoner Exilregierung als der eigentlichen Befehlszentrale verbot und weil die Besatzer „einige Millionen Fehler zu viel“35 begingen. Der „Eidechsenbund“, die aus ihm hervorgegangenen rechtsextremen „Nationalen Streitkräfte“ (NSZ) sowie die Organisation „Schwert und Pflug“ als die wenigen gemischten deutsch-polnischen Verbände blieben praktisch bedeutungslos, obwohl Letztere von der Gestapo durchsetzt war. Am 19. Juni 1943 lehnte Hitler die Aufstellung einer polnischen Legion innerhalb der Wehrmacht ab. Polen waren nicht „würdig“, in ihr zu dienen, sie waren keine Kameraden und bewohnten eine „deutsche Kolonie“. Allerdings sind 20.000 Panjewagenfahrer unter deutschem Kommando frontnah tätig geworden. Am 4. Juli 1943 stirbt Sikorski bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz. Ein Jahr später entsteht in Moskau das Polnische Komitee für Nationale Befreiung, das sich bald darauf in Lublin niederlässt. Dieses ausschließlich aus Kommunisten bestehende „Lubliner Komitee“ ist von Stalin dazu ausersehen, die Rolle der Londoner Exilregierung zu übernehmen. Der Warschauer Aufstand, der am 1. August 1944 losbricht, ist deshalb der letzte Versuch der Polen, die Deutschen aus eigener Kraft zu vertreiben, sich noch vor Ankunft der Roten Armee in der polnischen Hauptstadt zu etablieren und die Sowjets als Herren im eigenen Haus zu begrüßen. Das Scheitern des Aufstands durch Stalins abgefeimtes Spiel, seine Truppen erst dann eingreifen zu lassen, als sich SS und AK gegenseitig aufgerieben hatten, lastet bis heute auf den polnisch-russischen Beziehungen. Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 erkannten die Westmächte das „Lubliner Komitee“ als einzige polnische Nachkriegsregierung an. Der Stalinisierung 34 Israel Gutman (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. 3, hg. von Eberhard Jäckel, Peter Longerich und Julius H. Schoeps, Berlin 1993, S. 1671. 35 Bericht an die Exilregierung vom August 1943, zit. nach Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, a. a. O., S. 562.
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Polens war der Weg bereitet, aber nur eine Minderheit der Polen wollte sie. Trotz des NS-Besatzungsterrors glaubten nach wie vor viele, die Deutschen seien der einzige Schutzwall vor dem „Sturm aus dem Osten“, und im Januar 1944 ging in Warschau das Gerücht um, „dass die Polen mit den Deutschen gegen die Bolschewiken marschieren würden, ja sogar über eine bereits verfügte Aushebung, (…) im Einklang mit den Alliierten.“36 In Krakau erscheint kurz darauf aus der Feder von Jan Emil Skiwski und Feliks Burdecki die erste Nummer des Periodikums „Der Durchbruch“, in der suggeriert wird, dass dies auch die Wunschvorstellung des Untergrunds sei. Ernst Kaltenbrunner, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, und Hans Frank, der Chef des Generalgouvernements, unternahmen gleichzeitig Rekrutierungsversuche, doch Hitler erklärte, er wolle keine neuen Piłsudski-Legionen. Am 19. Mai 1944 erging das „prinzipielle Verbot“, Polen in die Wehrmacht einzuberufen. Warum ein halbes Jahr später trotzdem ein Plakat verbreitet wird, das einen polnischen Arbeiter zeigt, der die Schaufel weglegt, während ihm ein deutscher Soldat einen Karabiner aushändigt, unterlegt mit dem Text, er hätte es sich durch das massenhafte Ausheben von Gräben gegen die Sowjets verdient, mit der Waffe in der Hand gegen den Feind zu kämpfen, ist ungeklärt. Nach wie vor wurde von deutscher Seite betont, dass dies nicht der Beginn einer allgemeinen Einberufung sei. Trotzdem verkündet die Heeresgruppe Mitte am 4. November 1944 unter dem Decknamen „Weißer Adler“ die Grundsätze für die Rekrutierung von Polen. Insbesondere sollte darauf geachtet werden, dass jede Meldung freiwillig erfolge, weshalb auch die Titulierung „Hi-Wi“ („Hilfswilliger“) strengstens untersagt war. Jeder Pole sollte – auf einmal und nach allem, was geschehen war – das Gefühl vermittelt bekommen, ein „echter“ Wehrmachtssoldat zu sein. Der Erfolg der geplanten Division „Weißer Adler“ sah so aus, dass sich einen Monat später im gesamten GG ganze 471 Männer für sie zur Verfügung gestellt hatten. Fünf Jahre brutalen deutschen Herrenmenschentums waren nicht ohne Wirkung geblieben. Den letzten, völlig absurden Versuch unternimmt bezeichnenderweise Władisław Studnicki, der Kollaborateur der ersten Stunde, indem er im März 1945 an Himmler appelliert, die Polen aus den KZ freizulassen und sie an die Front zu schicken. Da stand die Rote Armee schon vor Berlin. Das Ende des tausendjährigen Reiches zeichnete sich ab. Das „Lubliner Komitee“ erließ am 31. August 1944 seine „Strafzumessung für faschistisch-hitlerische Verbrecher (…) sowie für Verräter des polnischen Volkes“, das sogenannte August-Dekret, während die Exilregierung an der Themse bereits am 30. März 1943 ihren Normenkatalog verabschiedet hatte, der die Grundlage zur strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen bildete. In ihm ging es um die Verantwortung für Massaker, die Bestrafung polnischer Kollaborateure und den Umgang mit einer nur äußerst schwer abzugrenzenden gesellschaftlichen Großgruppe: den „Volksdeutschen“. Wer dies war, darum entstand bald heftiger Streit, und viele von denen, die mit zunehmendem deutschen Kriegsglück ihre deutschen Wurzeln entdeckt 36 Madajczyk, Kann man in Polen 1939–1945 von Kollaboration sprechen?, a. a. O., S. 140.
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hatten, sprachen selbst kein einziges Wort Deutsch. Die mit Schädelmessungen, Hausbesuchen, Befragungen und genealogischen (Pseudo-)Forschungen emsig befassten NS-Rasseinstitute hatten im September 1940 für die „eingegliederten Ostgebiete“ eine nach vier Kriterienbündeln abgestufte „Deutsche Volksliste“ erstellt, die hier Klarheit schaffen sollte. In deren Liste 1 kamen 400.000 Menschen, die sich schon vor dem Krieg „aktiv zum Deutschtum“ bekannt hatten. In Liste 2 wurden 47.000 „Nichtaktive“ eingeordnet, „die sich ihr Deutschtum aber nachweislich bewahrt“ hatten. Liste 3 beherbergte über 1,5 Millionen „deutschstämmige Personen, die Bindungen zum Polentum eingegangen“ waren, aber als „rückführbar“ galten. Sie bekamen die deutsche Staatsbürgerschaft „auf Widerruf “ und Bewährung, wobei als vorrangiges Bewährungsfeld an die Wehrmacht gedacht war, in der (bezogen auf alle Listen) 250.000 „Volksdeutsche“ gedient haben. Einer von ihnen war Józef Tusk, der Großvater des von 2007 bis 2014 amtierenden polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, den die Nazis wie viele andere vor die Wahl zwischen KZ oder deutscher Uniform gestellt hatten. Auf Liste 4 fanden sich schließlich 63.000 Deutsche, „die völlig im Polentum aufgegangen sind und sich deutschfeindlich betätigt haben“. Da die Zahl der „Volksdeutschen“ vor dem Krieg bei einer Million gelegen hatte, sie im Krieg einschließlich der abgelehnten Anträge auf Eintragung in die Volkslisten aber auf fast drei Millionen schnellte, konnte sich jeder an seinen fünf Fingern die Menge der „konjunkturbedingten Deutschen“37 abzählen. Als die Waffen schwiegen, sind sowohl die echten wie auch die unechten „Volksdeutschen“ juristisch verfolgt worden, die einen, weil sie als „fünfte Kolonne“ bzw. als „Kollektiv-Quislinge“ angesehen wurden, die anderen, weil sie sich wegen „Abfalls vom Polentum“ strafbar gemacht hatten. Die Exilregierung erklärte schon am 27. September 1944, dass ein „Zusammenleben der polnischen mit der deutschen Bevölkerung in einem Staat unmöglich“ sei.38 Insgesamt mussten nach 1945 in Polen 18.000 „Volksdeutsche“ Haftstrafen wegen angeblicher oder tatsächlicher Kollaborationsverbrechen verbüßen, gegen 100.000 war Anklage erhoben worden. Polen empfand sich 1945 als „die moralischste Nation unter all jenen, die unter der Besatzung leben mussten“.39 In der Heimatarmee brüstete man sich: „Polen ist ein 37 Zit. nach Kochanowski, „Selbst mit dem Teufel, Hauptsache in ein freies Polen“, a. a. O., S. 298. 38 Madajczyk, Kann man in Polen 1939–1945 von Kollaboration sprechen?, a. a. O., S. 147; s. auch Ryszard Kaczmarek, Polen in der Wehrmacht, München und Oldenburg 2017 und ders., Die nationalsozialistische Politik in Oberschlesien, in: Burkhard Olschowsky, Robert Traba, Matthias Weber und Andrea Huterer, Region, Staat, Europa. Regionale Identitäten unter den Bedingungen von Diktatur und Demokratie in Mittel- und Osteuropa, München 2014, S. 51–66. 39 Zit. nach Krzysztof Stryjkowski, Nachkriegsfolgen der „Deutschen Volksliste“ in Großpolen und das Schicksal der verbliebenen Deutschen, in: Beer, Beyrau und Rauh (Hg.), Deutschsein als Grenzerfahrung, a. a. O., S. 261–277, hier: S. 275; vgl. auch Gerhard Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012; zur breiteren Einordnung: Jerzy Kochanowski und Maike Sach (Hg.), Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei, Osnabrück 2006.
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durch und durch antifaschistisches Land. Es gibt in unserem Land keinen Hácha, Quisling, Wlassow, keine profaschistische Partei.“ Der Koeffizient nach dem Krieg bestrafter Kollaborateure lag bei 68 von 100.000 Einwohnern und war der mit Abstand kleinste in Europa. In Frankreich betrug er 94, in Dänemark 374, in Holland 419, in Belgien 596 und in Norwegen 633.40 Doch Statistiken sind bekanntlich mit Vorsicht zu behandeln. Berücksichtigt man die Zahl derer, die sich in eine der Volkslisten hatten eintragen lassen und die – freiwillig – in der lokalen Administration, in der „blauen Polizei“, in Baukolonnen und in militärischen Formationen Hitlerdeutschlands tätig waren, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild. Insgesamt sind im Land an der Weichsel 17.000 Menschen wegen Zusammenarbeit mit dem Feind angeklagt und bis 1956 über 1200 zum Tode verurteilt worden, zumeist Bauern, die Juden oder Partisanen an die Deutschen ausgeliefert hatten. Die meisten Todesurteile wurden vollstreckt. Im Untergrund, der sich als einzig legitimierter Staat empfand und dementsprechend „volkserzieherisch“41 tätig wurde, sind über 10.000 Urteile wegen „unangemessenen Verhaltens gegenüber der Besatzungsmacht“ ergangen, davon 2500 Todesurteile mit vollstreckter Hinrichtung. Danach schien man mit sich im Reinen, aber der Eindruck täuschte. In Wirklichkeit hatte das martyrologisch-heroische polnische Selbstbild von der Nation mit der größten Opfer- und Widerstandsleistung und der geringsten Kollaborationsrate in Europa schon in der Besatzungszeit sichtbare Risse erfahren; erneut ging es primär um die Juden, und zwar um die wenigen, die der NS-Terror übriggelassen hatte. Ihre Zahl wird auf etwa 250.000 geschätzt. Sie glaubten, dass die Vernichtung durch SS, SD und Wehrmacht „nicht ohne Beteiligung der Polen“ habe durchgeführt werden können, während die Polen ihrerseits die Juden „als Verfechter und Architekten“42 des ihnen ab 1945 aufgezwungenen kommunistischen Systems ansahen. Deshalb gingen die Judenverfolgungen weiter, obwohl die Deutschen weg waren. Zunächst noch heimlich, still und leise, dann aber immer offener und unverhohlener kam der Vorkriegsalltag in seinen nationalistischen, antisemitischen, xenophoben und autoritären Formen zurück, nun aber in geradezu traumatisierter Weise, denn „breite 40 Friedrich, Collaboration in a ‘Land without a Quisling’, a. a. O., S. 719. 41 Nach Włodzimierz Borodziej, Zur Debatte um Kollaboration im Zweiten Weltkrieg, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 342–352, hier: S. 350. 42 Klaus-Peter Friedrich, Zusammenarbeit und Mittäterschaft in Polen 1939–1945, in: Dieckmann, Quinkert und Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen, a. a. O., S. 113–150, hier: S. 121; Klaus-Peter Friedrich (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 4: Polen. September 1939 – Juli 1941, München 2011 und Bd. 9: Polen: Generalgouvernement August 1941–1945, München 2014; Stefan Zgliczynski, Wie Polen den Deutschen halfen, Juden zu ermorden, Warschau 2013. In seinem Buch „Städte des Todes. Judenpogrome in der Nachbarschaft“, Warschau 2015, weist der Autor Miroslaw Tryczyk nach, dass 1941 und 1942 unter deutscher Besatzung in mindestens 127 Ortschaften Ostpolens Judenpogrome verübt worden sind, bei denen Polen selbstständig oder gemeinsam mit den Deutschen, aber stets freiwillig, Juden demütigten, folterten und ermordeten.
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Schichten der polnischen Gesellschaft, die dem Holocaust zugeschaut hatten, wollten durch die Überlebenden nicht an ihr eigenes Versagen erinnert werden“ (Borodziej).43 So waren beispielsweise im KZ Majdanek, wo die Deutschen während des sogenannten „Erntefestes“ am 3. November 1943 fast 20.000 Juden ermordet hatten, die polnischen Mithäftlinge in einen wahren Freudentaumel ausgebrochen. Auf einmal geisterte jetzt wieder der Stereotyp der „Judäo-Kommune“ durch die Reihen, die Machtübernahme der Kommunisten wurde mit einem Sieg des „Judentums“ gleichgesetzt. Man nahm es vor allem dort gern an, wo KZ-Häftlinge in Städte und Dörfer zurückgekehrt waren und feststellten, dass ihre bewegliche Habe und ihre Liegenschaften den Besitzer gewechselt hatten. Für die durch den NS-Terror entmenschlichten und völlig verrohten neuen Eigentümer „zeichnete sich eine einfache ‚Lösung‘ ab: töten!“44 In Klimontów bei Kielce wird Ende 1945 eine fünfköpfige jüdische Familie (darunter eine hochschwangere Frau), die in ihr eigenes Haus zurückkehren will, brutal ermordet. Die Täter werden nie ermittelt. Wie viele solcher Fälle es gegeben hat, weiß man bis heute nicht. Weder die Exilregierung noch der ihr unterstehende bewaffnete Untergrund, weder das „Lubliner Komitee“ und die aus ihr hervorgehende regierende KP noch die katholische Kirche und genauso wenig die von 1945 bis 1947 legale demokratische Opposition in Gestalt der Bauernpartei Mikołajczyks „haben auch nur im Ansatz den Versuch unternommen“45, die Hetzparole von der „Judäö-Kommune“ aus der Welt zu schaffen. Sie war der einzige gemeinsame Nenner im Nachkriegspolen. Niemand wollte sich nachsagen lassen, ein Freund der Juden zu sein. Man ließ ihnen nicht einmal den Weg der „roten Assimilation“, obwohl Kommunisten das im Sommer 1944 gegründete Zentralkomitee der Juden in Polen beherrschten. Weder die politische Linke noch die nationalistische Rechte hatten mit dem Nationalsozialismus kollaboriert. Letztere war und blieb patriotisch, antideutsch, antisowjetisch – und antisemitisch. Der Völkermord im eigenen Land hatte daran nichts geändert. Für den Juni 1946 sind alle Polinnen und Polen zu einem Referendum aufgerufen, in dem sie über die Abschaffung des Senats, der zweiten Parlamentskammer, des Großgrundbesitzes und der Großindustrie sowie die „Festigung der Westgrenze“ abstimmen sollten. Um ein negatives Votum zu erreichen, setzt die antikommunistischnationaldemokratische Opposition die prosowjetische Regierung mit der „JudäoKommune“ gleich. Die Stimmung ist aufgeheizt. Nach der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar 1945 hatten sich etwa 1000 Juden nach Kielce, einer Großstadt zwischen Krakau und Warschau, gerettet, wo ungeachtet des Kriegsendes und des Abzugs der 43 Klaus-Peter Friedrich, Polen und seine Feinde (sowie deren Kollaborateure). Vorwürfe wegen „polnischer Kollaboration“ und „jüdischer Kollaboration“ in der polnischen Presse (1942– 1944/45), in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 206–249, hier: S. 206. 44 Wlodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 268. 45 Holzer, Polen und Europa, a. a. O., S. 125; Robert Traba, (Nicht-)Rückkehr. Polen 1945: Ereignis und Erinnerung, in: „Osteuropa“, Nr. 5/2017, S. 3–23.
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Deutschen 840 ausgeraubt und 135 einzeln ermordet werden, und zwar nicht nur von Kriminellen, sondern auch von ganz gewöhnlichen Durchschnittspolen. Am 4. Juli 1946 erscheint der neunjährige Henryk Blaszczyk auf einem Kielcer Polizeirevier und erzählt, er sei von Juden entführt und drei Tage lang in einem Keller misshandelt worden. Er wird vom NKWD, für den sein Vater offensichtlich als Spitzel arbeitet, anschließend acht Monate von der Außenwelt abgeschirmt. Unmittelbar nach seiner Aussage versammeln sich mehrere hundert Arbeiter, Soldaten, Pfadfinder und Hausfrauen vor dem Haus am Ufer der Silnica, in dem etliche jüdische Einrichtungen und hundert Überlebende des Holocaust untergebracht sind. Polizisten rufen in die Menge: „Juden wollten polnische Kinder töten“, und es beginnt ein Massaker, dem 39 Menschen zum Opfer fallen. Jugendliche werden vom Balkon geworfen, Babys an der Wand zerschmettert und Erwachsene müssen sich in den Fluss stellen, um in alttestamentarischer Manier gesteinigt zu werden. Jeder aus der Menge wirft einen Stein. Schon eine Woche nach dem Pogrom sehen sich neun Personen in einem Blitzprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dieses Verfahren ist von der polnischen Justiz 1996 als Farce bezeichnet worden, weil es sich um völlig zufällig und wahllos aufgegriffene Menschen gehandelt habe. Weder Blaszczyk, der später im örtlichen Parteiapparat Karriere macht, noch sein Vater, der ihn zu seinen Aussagen gedungen hat, sind jemals für ihr Verhalten belangt oder zur Rechenschaft gezogen worden. Die Nachricht vom Blutbad in Kielce wird schnell in ganz Südpolen verbreitet und führt zu einer Serie vergleichbarer Lynchtaten mit 1500 Toten. Hierin lag wohl die eigentliche Absicht für den Missbrauch des kleinen Henryk. Handfeste, gerichtsnotorisch verwertbare Beweise, die zu den eigentlichen Drahtziehern und Hintermännern des Verbrechens vom 4. Juli 1946 führen, sind bis heute nicht gefunden worden, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist aber nicht ein lokal oder regional einzugrenzendes Täterspektrum verantwortlich, sondern die große Politik. Der örtliche Geheimdienst stand mit dem sowjetischen NKWD im Benehmen, der einen Auftrag Stalins erhielt, das in seiner außenpolitischen Orientierung durchaus noch unsichere Polen mit geeigneten Maßnahmen vor den Westmächten zu kompromittieren und es so enger an die UdSSR zu binden, auf dem Rücken und auf den Leichen polnischer Juden. Im Gegensatz zu den Verfolgungen in Stalins Reich wurde nämlich über die Kielcer Ereignisse in ganz Europa umfassend berichtet. Das Verbrechen fand, keineswegs zufällig, nach dem Juni-Referendum, aber vor der Bekanntgabe der gefälschten Ergebnisse statt. Es war ein Mosaikstein in der Stalinisierung Osteuropas, und zwar kein kleiner. Vom Juli 1946 bis zum Februar 1947 bringt die jüdische Fluchthilfeorganisation Bricha („Flucht“) über 100.000 der eigenen Gläubigen illegal außer Landes, zumeist nach Deutschland. „Eine ungewisse Zukunft in den dortigen Displaced-Persons-Lagern erschien ihnen erträglicher als eine bedrohte Zukunft in Polen.“46 Wäh46 Helga Hirsch, Gehen oder bleiben? Deutsche und polnische Juden in Schlesien und Pommern 1945–1957, Göttingen 2011, S. 12. Gabriel Berger, Umgeben von Hass und Mitgefühl. Jüdische
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renddessen setzen diejenigen, die alle verlassenen KZ ausplündern (was immer in ihnen noch zu holen war), weiter Gerüchte vom Hostienfrevel und Ritualmord (der dem kleinen Henryk angeblich gedroht hatte) in die Welt. Mit der im Oktober 1950 gebildeten prokommunistischen Sozial-Kulturellen Vereinigung der Juden in Polen soll diesen endgültig jede Eigenständigkeit genommen werden. Über 30.000 reisen daraufhin, nunmehr legal, nach Israel aus. Damit ist das Leiden derer, die bleiben, nicht beendet. Im politischen Tauwetter des Entstalinisierungsjahres 1956 wird Władisław Gomułka als KP-Chef rehabilitiert und kehrt an die Macht zurück. Für die orthodoxe Fehlentwicklung seiner Partei findet er schnell einen Sündenbock: die Juden. Bis 1960 verlassen 51.000 von ihnen das Land, und diesmal sind es ausgerechnet jene, die sich der nach 1945 herrschenden Lehre zugewandt und in den Ämtern und Ministerien des kommunistischen Staates Karriere gemacht hatten. Schon längst lebten in Israel weit mehr polnische Juden als in ihrem Mutterland, weshalb der Sechstagekrieg 1967 zum Auslöser der letzten großen Vertreibungsaktion wird. Gestützt auf die Sowjetunion, die sich auf die Seite der arabischen Staaten geschlagen und die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen hatte, beginnt die Partei eine Kampagne gegen den „jüdischen Imperialismus“ und bezeichnet die polnischen Staatsbürger jüdischen Glaubens als dessen fünfte Kolonne, die es auszumerzen gelte. Im Zuge von umfassenden Säuberungen in den Hochschulen, den Presseorgangen und im Militär werden 8000 Parteimitglieder ausgeschlossen und insgesamt 13.000 Personen ausgewiesen. Einer von ihnen ist der erst 20-jährige Jan Tomasz Gross. Die „Entjudung“ der Gesellschaft wird als offizielles Ziel deklariert. Gomułka setzt die siegreiche israelische Armee mit der Wehrmacht gleich und Innenminister Moczar die „Zionisten“ mit den „Hitleristen“. Ganz nach den Kriterien der Nürnberger Gesetze lässt er in seinem Ressort Karteien anlegen, die jüdische Vorfahren bis in die dritte Generation zurückverfolgen. Im heutigen Polen mit seinen 38 Millionen Einwohnern sind noch 12.000 Juden ansässig. Es gilt als „antisemitisches Land ohne Juden.“47 Lange Zeit schien es so, als ob Autonomie in Polen nach der Shoah 1945–1949 und die Hintergründe ihres Scheiterns, Berlin 2016, beschreibt den genauso faszinierenden wie tragischen Versuch Jakob Egits, nach 1945 in Niederschlesien eine jüdische Autonomie mit Jiddisch als Kommunikationssprache, mit jüdischen politischen Parteien und mit eigenen jüdischen Produktionsstätten und sozialen Einrichtungen zu begründen – ein Jischuw als Alternative zur jüdischen Ansiedlung in Palästina. Funktionäre der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei zwangen ihn 1949, dieses in ganz Europa singuläre Experiment, in dem sich 30.000 überlebende polnische Juden vereinigt hatten, wieder zu beenden. Egit galt als „Volksverräter“ und wurde verhaftet. 47 Engelking und Hirsch (Hg.), Unbequeme Wahrheiten, a. a. O., S. 12; Beate Kosmala (Hg.), Die Vertreibung der Juden aus Polen. Antisemitismus und politisches Kalkül, Berlin 2000; dies., Polen. Lange Schatten der Erinnerung: Der Zweite Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 2, S. 509–540; dies., Der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 und der Warschauer Aufstand 1944 in der Geschichtspolitik der Volksrepublik Polen.
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man mit den Juden auch das Problem, die Vergangenheit und die Schuld weggesäubert hätte, aber das Bild trog. 1981 erscheint in einem polnischen Untergrundverlag und in einer Pariser Exilzeitschrift der Aufsatz von Jan Józef Lipski „Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen – Bemerkungen zum nationalen Größenwahn und zur Xenophobie der Polen“, in dem der Verfasser den Kult um den eigenen Opferstatus, die „Aufrechterhaltung falscher nationaler Mythen“ und das „Verschweigen der dunklen Flecke unserer Geschichte (als) Voraussetzung unseres augenblicklichen (und) Quelle unseres künftigen Übels“ identifiziert.48 Einer dieser dunklen Flecken war ausgerechnet AuschwitzBirkenau, wo das 1967 errichtete Denkmal an die Opfer des Faschismus erinnerte, die Juden aber mit keinem einzigen Wort erwähnte. Noch 1989 wurde direkt daneben ein überdimensionales Kreuz aufgestellt, mit dem der Eindruck erweckt werden sollte, dass in Auschwitz hauptsächlich ethnisch polnische Katholiken umgekommen sind. Willy Brandts Weg ins Warschauer Ghetto, den Gomułkas Nachfolger beim Staatsbesuch des Bonner Kanzlers am 7. Dezember 1970 mit allen nur denkbaren Finessen zu verhindern suchten, wandte sich ausdrücklich gegen die „überaus selektive Gedächtnispolitik“49 der kommunistischen Machthaber. Sein dortiger Kniefall ist bis 1990 in keinem einzigen polnischen Geschichtsbuch gezeigt worden, und wenn das Bild – was selten genug war – einmal in den Medien präsentiert wurde, dann war es unten abgeschnitten, sodass Brandt für den Betrachter nicht kniete, sondern stand – eine Geschichtsfälschung der besonderen Art. 1987 publizierte Jan Błoński unter dem Titel „Die armen Polen schauen auf das Ghetto“ in der Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“ eine These, die die Nation bis heute auf das Schärfste polarisiert und spaltet. Statt sich immer nur als Opfer und „vollkommen sauber“ darzustellen, so Błoński, sollten sich die Polen endlich einmal fragen, ob es ihnen nicht gleichgültig gewesen sei, als Juden getötet wurden, ob sie nicht sogar eine klammheimliche Freude darüber empfunden hätten, dass Hitler ihnen dieses „Problem“ abgenommen habe, und ob sie nicht auch beim Töten der Juden geholfen oder zumindest billigend zugeschaut hätten. Waren sie also nicht nur Helfer und Retter, wie es die Tafel für die 6706 „Gerechten“ in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem zum Ausdruck bringt, sondern auch Täter Zwischen Umdeuten, Verschweigen und Erinnerung, in: Brumlik und Sauerland (Hg.), Umdeuten, verschweigen, erinnern, a. a. O., S. 179–202; Anna Wolff-Powęska und Piotr Forecki (Hg.), Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur, Frankfurt am Main [u. a.] 2012; Piotr Kendziorek, Auf der Suche nach einer nationalen Identität. Polnische Debatten um die „Judenfrage“, in: Andreas Reinke, Kateřina Čapková, Michal Frankl, Piotr Kendziorek und Ferenc Laczó, Die „Judenfrage“ in Ostmitteleuropa. Historische Pfade und politisch-soziale Konstellationen, Berlin 2015, S. 249–387. 48 Jan Józef Lipski, Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen – Bemerkungen zum nationalen Größenwahn und zur Xenophobie der Polen, in: Georg Ziegler (Hg.), Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, zweisprachige Ausgabe, Gleiwitz und Warschau 1996, S. 185–228, hier: S. 185 ff. 49 Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, a. a. O., S. 265.
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und Henker?50 Nicht mehr und nicht weniger als der Vorwurf von der polnischen Mitschuld am Holocaust stand im Raum. Noch dreizehn Jahre später bestätigt Feliks Tych, der Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, dass in Polen immer noch die Meinung zu hören sei, Hitler sei insofern „ein Segen“ gewesen, als er die „Drecksarbeit“ übernommen habe, die Juden zu beseitigen.51 Während des gleichzeitig laufenden Präsidentschaftswahlkampfes wird der rechtspopulistische Kandidat Andrzej Lepper 1999 in einem ostpolnischen Dorf mit den Worten begrüßt: „Der liebe Gott persönlich hat uns Sie zur Rettung geschickt, genauso wie er einst Hitler geschickt hat, um mit den Juden aufzuräumen“.52 Das waren keineswegs verlorene, hinterwäldlerische Töne. Aus 1992, 2002 und 2008 vorgenommenen soziologischen Untersuchungen geht hervor, dass sowohl der religiös-traditionelle wie auch der ethnisch-nationale Antisemitismus in Polen nicht ab-, sondern zugenommen hat.53 Noch im November 2017 zogen anlässlich des polnischen Nationalfeiertages rechtsextreme Organisationen mit der Parole „Reines Polen, judenreines Polen“ durch Warschau. 2000 nimmt das „Institut für nationales Gedenken“ (IPN) seine Arbeit auf. Es ist in gewisser Weise das polnische Äquivalent zum deutschen Amt des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“, der sogenannten Gauck-Behörde. Das IPN, in dem die Akten der politischen Polizei aus der kommunistischen Ära archiviert wurden, überprüfte die Staatsbediensteten des neuen, demokratischen Polen, und überdies war es ermächtigt, Verfahren wegen nationalsozialistischer und kommunistischer Verbrechen einzuleiten. Dazu sah es sich früher als erwartet veranlasst, denn im Mai 2000 war in Polen „eine Atombombe mit verzögerter Zündung“54 eingeschlagen. Bei dieser Atombombe handelte es sich um ein Buch, und verzögert war ihre Zündung insofern, als es sich in dem Werk um einen seit sechzig Jahren bekannten, aber verschwiegenen und verdrängten Sachverhalt handelt. Wir sind wieder in Jedwabne. Der 1967 vertriebene Jan Tomasz Gross ist zurückgekehrt, und er lässt den Polen seitdem keine Ruhe mehr. „Nachbarn“55, so heißt das Buch ganz unverfänglich, doch es schildert, wie sich Menschen, die sich von Kindheit an gekannt, geholfen und gemocht haben, gegenseitig umbringen. Adam Michnik schreibt im Vorwort: „Heute büßt Polen für Jahrzehnte der Lüge.“ Der fortwirkende Judenhass im Krieg, im Widerstand, in der Heimatarmee, im Warschauer Aufstand, im Nachkrieg, in 50 Nach Engelking und Hirsch (Hg.), Unbequeme Wahrheiten, a. a. O., S. 16; Original in: „Tygodnik Powszechny“, Nr. 2/1987 unter dem Titel „Die armen Polen blicken aufs Ghetto“. 51 Feliks Tych, Deutsche, Juden, Polen: Der Holocaust und seine Spätfolgen. Vortrag im Rahmen des „Gesprächskreises Geschichte“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, Folge 33, Bonn 2000. 52 Friedrich Leidinger, Jedwabne und wir, in: „Polen und wir“, Nr. 2/2001, S. 13–21, hier: S. 15. 53 Engelking und Hirsch (Hg.), Unbequeme Wahrheiten, a. a. O., S. 17. 54 So Jacek Zakowski in der „Gazeta Wyborcza“ vom 18./19. November 2000. 55 Jan Tomasz Gross, Sasiedzi, Wyd. Fundacja Pogranicze, Sejny 2000; amerikanisch: Neighbours, Princeton University Press, 2001; deutsch: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, übersetzt von Friedrich Griese, München 2001.
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Kommunismus, Kriegsrecht, Solidarność und Demokratie wird auf einmal blitzartig und exemplarisch offengelegt. Seitdem wird die Welt am Beispiel des Umgangs mit Jedwabne in die „Freunde und Feinde Polens“56 eingeteilt, und dies nicht nur in der Warschauer Boulevardpresse. Unmittelbar nach Kriegsende war ein Verfahren gegen 21 Jedwabner eingeleitet worden. Einer wird zum Tode verurteilt, elf erhalten Haftstrafen und neun werden freigelassen. Trotzdem weist die regionale Kommission Białystok die alleinige Verantwortung für das Verbrechen kurz darauf den „Hitleristen“ zu. Seit 1963 stand am Dorfeingang ein Gedenkstein mit dem Wortlaut: „Ort der Hinrichtung der jüdischen Bevölkerung. Gestapo und Nazi-Gendarmerie verbrannten 1600 Personen bei lebendigem Leib. 10. Juli 1941“. Am sechzigsten Jahrestag des Pogroms eilt Aleksander Kwasniewski nach Jedwabne, um sich „als Mensch, als Staatsbürger und als Präsident der Republik Polen zu entschuldigen.“ 3000 Besucher aus aller Welt sind im Ort. Die Atmosphäre ist mehr als gespannt, teilweise vergiftet. Viele wohnen nach wie vor in den seinerzeit angeeigneten Häusern, schlafen in den Betten der Ermordeten und essen von ihrem Geschirr. Ein „Komitee für die Verteidigung des guten Namens von Polen“ hat in den Straßen Plakate aufgehängt, auf denen steht: „Wir entschuldigen uns nicht! Die Deutschen haben die Juden aus Jedwabne ermordet. Sollen die Lügner das polnische Volk um Verzeihung bitten!“ Das ist exakt die Position des Ortsgeistlichen Edward Orlowski, der von der Kanzel herab verkündet, dass „die Leute damals schon wussten, was sie taten“, und verlangt, „diesen Professor Gross zu verklagen“. Sein oberster Dienstherr, Kardinal Josef Glemp, Primas der katholischen Kirche in Polen, hat sein Erscheinen schon seit Monaten abgesagt, weil er sich nicht vorschreiben lasse, wie, ob und wen er um Verzeihung bittet. Es herrscht ein Klima der Einschüchterung und Angst vor jüdischen Restitutionsansprüchen. Wer es wagt, mit den auswärtigen Gästen über das Pogrom zu sprechen, wird mit Drohungen „einer weiteren brennenden Scheune“ mundtot gemacht. Als das IPN nach seinem am 1. September 2002 eröffneten Ermittlungsverfahren und eine staatliche Untersuchungskommission die Darlegung von Gross grundsätzlich bestätigen und der polnische Klerus in der Warschauer Allerheiligenkirche einen Bußgottesdienst mit der Erklärung „Unter den Tätern gab es auch Polen und Katholiken“ beschließt, verteilen Rechtsradikale vor der Kirche Flugblätter, in denen scharf gegen „chauvinistische Ansprüche jüdischer Zentren in Polen“ protestiert wird. Noch 2011 entdeckt die Polizei auf einem zwischenzeitlich in Jedwabne errichteten Mahnmal ein Hakenkreuz-Graffito mit den ergänzenden Worten: „Sie waren leicht brennbar. Wir entschuldigen uns nicht.“57 Da waren alle Kritiker und 56 Krzysztof Ruchniewicz, Die polnische Geschichtspolitik nach 1989, in: ders. und Dieter Bingen (Hg.), Länderbericht Polen. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 735), Bonn 2009, S. 219–233, hier: S. 229. 57 „Jüdische Allgemeine Zeitung“ vom 8.11.2011; vorhergehende Zitate: „Der Spiegel“, Nr. 29/2001, S. 118 f. sowie Nr. 10/2001, S. 186 ff.; weiterführend: Stephanie Kowitz, Jedwabne. Kollektives
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Nicht-Antisemiten mit mehr oder minder massiven Drohungen schon längst aus dem Ort herausgeekelt worden. Vor der Präsidentschaftswahl 2015 treten der Amtsinhaber Bronislaw Komorowski und sein rechtspopulistischer Herausforderer Andrzej Duda zum Fernsehduell an. Auch Jedwabne kommt zur Sprache. Duda sagt, die Aufgabe des Staatspräsidenten sei es, „den guten Namen Polens“ zu pflegen. Kurz darauf wird er mit deutlicher Mehrheit zu Komorowskis Nachfolger gewählt. Das Land an der Weichsel ist spätestens seit 2001 von einer Vergangenheit eingeholt, die nicht vergehen will. Allein im Jüdischen Historischen Institut in Warschau befinden sich über 7000 schriftliche Zeugnisse von Überlebenden des Holocaust dafür, dass ganz normale Polen an der Ermordung ihrer jüdischen Nachbarn mitgewirkt haben. Jan Tomasz Gross veröffentlichte in dichter Folge weitere Analysen, Aufsätze und Bücher, die alle auf eine einzige, so auch von ihm selbst formulierte These hinauslaufen: Es gab in ganz Polen den „Wunsch der Gesellschaft, das Land judenrein zu machen.“58 Die Staatsanwaltschaft in Krakau leitete Ermittlungen gegen ihn ein, immer größere Kreise verlangten das Einreiseverbot für den amerikanischen Staatsbürger, und 2006 wurde speziell für bzw. wegen Gross das polnische Strafgesetzbuch geändert. Im neuen Artikel 132a „Beleidigung der Nation“ hieß es dort: „Wer öffentlich die polnische Nation der Teilnahme, Organisation oder Verantwortung für kommunistische oder nationalsozialistische Verbrechen bezichtigt, dem droht eine Strafe von bis zu drei Jahren Freiheitsentzug.“ Der Passus hatte allerdings keinen langen Bestand und wurde wieder fallengelassen. Gleichwohl war er ein untrüglicher Beleg für die immer schärfere Polarisierung in zwei Lager. Das konservativ-nationale wollte auch weiterhin eine staatlich verordnete „Geschichtspolitik“, die „das Eingeständnis von Schuld als unpatriotisch, Gedächtnis und tabuisierte Vergangenheit, Berlin 2009; Christian Schmidt-Häuer, Der Ort, der nicht bereuen will, in: „Die Zeit“ vom 3.2.2005, S. 15 ff.; Carol Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen, Berlin 2004; zur weiteren Einordnung: Marci Shore, Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa, München 2014; Jan Grabowski, Hunt for the Jews. Betrayal and Murder in German-Occupied Poland, Bloomington 2013. Es gab außerdem Gruppierungen, die sich „durch ihre Pogrombereitschaft und (…) ihre Bereitschaft zur Kollaboration (…) zum gleichwertigen Partner (der Nationalsozialisten, K. K.) im besetzten Polen machen wollten“: Jacek Andrzej Młynarczyk, Zwischen Kooperation und Verrat. Zum Problem der Kollaboration im Generalgouvernement 1939–1945, in: ders. (Hg.), Polen unter deutscher und sowjetischer Besatzung 1939–1945, Osnabrück 2009, S. 345–383, hier: S. 349; auch: Ryszard Kaczmarek, Die Kollaboration in den eingegliederten Ostgebieten 1939–1945, in: ebd., S. 319–343. Allein im Jahr 1943 arbeiteten 2000 Einheimische in Krakau als Spitzel und Zuträger für die Gestapo. 58 Jan Tomasz Gross, Angst. Antisemitismus in Polen nach Auschwitz, Krakau 2007, deutsch: Berlin 2012, S. 317 (polnische Ausgabe); ders., Goldene Ernte. Was am Rande des Holocaust geschah, Krakau 2011 (polnisch); ders. (Hg.), The Holocaust in Occupied Poland, Frankfurt am Main 2012; Joanna Tokarska-Bakir, Cries of the Mob in the Pogroms in Rzeszów (June 1945), Cracow (August 1945) and Kielce (July 1946) as a Source for the State of the Mind of the Perpetrators, in: ebd., S. 205–229.
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antipolnisch und unehrenhaft abwehrt“59 und das Märtyrertum und den unbeugsamen Widerstand kultiviert. Dieses Lager schuf sich 2004 im Museum des Warschauer Aufstands seine eigene Kult- und Wallfahrtsstätte. Das liberale hingegen knüpfte direkt an Lipski an, aber es hatte nach wie vor keinen leichten Stand. 2005 übernahm eine Dreierkoalition aus den Parteien „Recht und Gerechtigkeit“ der Kaczyński-Zwillinge, „Liga der Polnischen Familien“ unter Roman Giertych und Andrzej Leppers „Selbstverteidigung“ die Macht. Zwar dauerte das Intermezzo dieser versammelten Rechtsausleger nur zwei Jahre, aber es hat Spuren hinterlassen. Die Kaczyńskis, die im gesamten Land 27, in Jedwabne jedoch 91 Prozent der Stimmen gewannen, stellten im Warschauer Regierungsviertel ein Denkmal für den Antisemiten Dmowski auf, Giertych gewährte dem zum Teil mit offener Judenhetze arbeitenden Radiosender „Maryja“ des Redemptoristenpaters Tadeusz Rydzyk wieder und wieder Flankenschutz, und Lepper machte sich zum Vorreiter der regierungsoffiziellen Initiativen, das IPN für die eigenen Zwecke zu nutzen. Am 1. September 2006 erhielt das Institut die Aufgabe, „eine möglichst vollständige namentliche Aufzählung aller polnischen Bürger, die in den Jahren 1939–1945 unter der deutschen Besatzung gelitten hatten (Ermordete, Gefangene, Ausgesiedelte), in einer zentralen Datenbank zu vereinen“. Sinn, Zweck und Ziel dieser Sisyphusaufgabe war es, die Stimmengewichtung bei den für den Sommer 2007 anstehenden Verhandlungen über die Sitzverteilung im Ministerrat der Europäischen Union zu beeinflussen, deren Mitglied Polen 2004 geworden war. In der Tat verlangte Jaroslaw Kaczyński in Brüssel dann auch, nicht die reale Einwohnerzahl Polens von 38,6, sondern 66 Millionen Menschen zugrunde zu legen, die Toten des Zweiten Weltkriegs (nach Zählung des IPN) und ihre Nachkommen eingerechnet. Die ab Ende 2007 amtierende liberale Bürgerplattform von Donald Tusk hatte diese rabulistische Geschichtspolitik zwischenzeitlich beendet, aber „bis heute hat eine Dekonstruktion des polnischen Selbstbildes vom Martyrium nicht stattgefunden.“60 Im59 Engelking und Hirsch (Hg.), Unbequeme Wahrheiten, a. a. O., S. 17. 60 Andrzej Zbikowski, Die Erinnerung an den Holocaust in Polen, in: Brumlik und Sauerland (Hg.), Umdeuten, verschweigen, erinnern, a. a. O., S. 115–124, hier: S. 120; genauso: Krzysztof Ruchniewicz, Die polnische Geschichtspolitik der Nach-„Wende“-Zeit am Scheideweg, in: Stefan Troebst (Hg.), Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahmen und Forschungsperspektiven, Göttingen 2010, S. 307–329; vgl. auch: Anna Musiol, Erinnern und Vergessen. Erinnerungskulturen im Lichte der deutschen und polnischen Vergangenheitsdebatten, Wiesbaden 2012; Hannah Maischein, Augenzeugenschaft, Visualität, Politik. Polnische Erinnerungen an die deutsche Judenvernichtung, Göttingen 2015. Maischein untersucht „die Bedeutungen der Augenzeugenschaft für die „polnische nationale Identität“ (S. 32) und zieht von hier Rückschlüsse auf die „Verortung Polens im europäischen HolocaustDiskurs“ (S. 136). In akribischer Analyse zeigt sie, wie Juden „als aktive Zeugen aus dem polnischen Erinnerungsdiskurs ausgeschlossen worden sind“, weil sie nur so „als Beweise für das polnische Heldentum dienen (konnten)“ (S. 523). Wer polnisches Mittun und polnische Kollaboration artikuliere, werde tabuisiert: „Dadurch sollen Polen als unschuldig erscheinen“
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mer noch streiten Polen und Juden mit einem Alleinvertretungsanspruch um die Ausgestaltung der Gedenkstätte in Auschwitz. Viel zu lang ist verschwiegen worden, dass es überhaupt so etwas wie Kollaboration mit den Deutschen gegeben hat. Als Anetta Rybicka 2002 ihre Dissertation über das 1940 von Hans Frank gebildete Krakauer „Institut für Deutsche Ostarbeit“ vorlegte und nachwies, dass von den 350 Mitarbeitern über ein Drittel Polen waren, fiel man aus allen Wolken.61 Das gleichermaßen auf Selbstüberhöhung und Selbstviktimisierung beruhende Erinnerungsnarrativ wurde nur langsam aufgebrochen. Mythen und Mysterien erwiesen sich als zählebig, Verdrängen, Verschweigen und Umdeuten war bequemer. Das „Opferkollektiv, das nach wie vor den höchsten Rang auf dem Podium des Leidens für Polen beansprucht“62, wurde, so lange es irgend ging, verteidigt. Im Selbstverständnis, der „Christus unter den Völkern“ zu sein, konnte es „nicht zwei auserwählte Völker geben, auch nicht zwei Völker, die am
(S. 525). Die eigentliche Schuld habe aus dieser Sicht der Westen, der durch Karski rechtzeitig informiert worden sei, aber nichts getan habe. Die Integration Polens in den westlichen Holocaust-Diskurs sei deshalb nur unter der folgenden Prämisse denkbar: Der „Anerkennung des polnischen Opfertums (…) sowie des westlichen Versagens“ (ebd.). Jedwabne, Kielce, 1968, Willy Brandts Kniefall und vieles andere mehr seien da nur störend. Maischeins Resümee ist erschreckend: „Eine der kompliziertesten Fragen, die der polnische Augenzeugen-Diskurs aufwirft, ist es, eine Erklärung dafür zu finden, warum das positive nationale Selbstbild trotz seiner Widersprüchlichkeit aufrechterhalten werden konnte und warum es weiterhin Gültigkeit besitzt. Denn das Image von Polen als Philosemiten hat sich gerade aufgrund des polnischen Antisemitismus herausgebildet und wird offiziell verbreitet, obwohl sich Helfer (der Juden, K. K.) in Polen vor Anfeindungen und der physischen Bedrohung durch ihr soziales Umfeld fürchten müssen“ (S. 534). Vgl. auch: Stephanie Kowitz-Harms, Die Shoah im Spiegel öffentlicher Konflikte in Polen. Zwischen Opfermythos und Schuldfrage (1985–2001), Berlin und Boston 2014; Wolff-Powęska und Forecki (Hg.), Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur, a. a. O. Noch im Jahre 2013 (!) schreibt der Historiker Krzysztof Jasiewicz den polnischen Juden eine Mitschuld am Holocaust zu: Katrin Steffen, Juden. Bilder eines imaginierten Kollektivs, in: Hans-Henning Hahn und Robert Traba (Hg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 1, Paderborn 2015, S. 741–777, hier: S. 768. Steffen spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verantwortungs- und Erinnerungsabwehr“ (S. 762). Vgl. auch: Zdzislaw Mach, Poland’s National Memory of the Holocaust and It’s Identity in an Expanded Europe, in: Jolanta AmbrosewiczJacobs, The Holocaust. Voices of Scholars, Krakau 2009, S. 61–70. 61 „Mehr als hundert polnische Wissenschaftler arbeiteten zielstrebig mit den Hitler-Deutschen. Keiner wurde nach dem Krieg bestraft“, so Sławomir Sieradzki, Institut der Kollaboration, in: „Wprost“ vom 30.3.2003, S. 80 ff.; vgl. dazu Pjotr Madajczyk, Verrat – Kollaboration – Passivität in der Geschichte der Volksrepublik Polen, in: „Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte“, Nr. 2/1999, S. 185–213, hier: S. 197 f.; Klaus Bachmann, Kollaboration während des Zweiten Weltkrieges in Polen – ein nicht normativer Ansatz, in: Marija Wakounig, Wolfgang Müller und Michael Portmann (Hg.), Nation, Nationalitäten und Nationalismus im östlichen Europa, Wien 2010, S. 419–440. 62 Pufelska, Die „Judäo-Kommune“, a. a. O., S. 248.
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meisten gelitten haben.“63 Diesen nicht gerade kleinen Anspruch muss man sich vor Augen halten, um ermessen zu können, was in Polen seit Jedwabne zusammengebrochen ist: der quasi sakrosankte Status polnischer Martyriologie und damit die Selbstimmunisierung gegenüber Mittun, Schuld und Verantwortung. Der Abschied von der Rolle der Exklusivität ist im Gange, eine selbstkritische Erinnerungskultur entsteht. Sie hat es nicht leicht, aber sie macht Fortschritte. Tadeusz Chrzanowski hat den Polen in seinem berühmt gewordenen Ausruf sogar den Rang vom „Land ohne Quisling“ genommen, indem er feststellte: Meine Landsleute rühmen sich oft dessen, dass Polen das einzige Land war, in dem es keine Kollaborateure von Rang gegeben habe und dass hier kein Marionettenkabinett entstanden sei (…). Aber um Himmels willen, Landsleute – die Deutschen selbst wollten hier doch nicht einmal eine Marionettenregierung haben, sie suchten keine Kandidaten für die Kollaboration, denn wenn sie welche gesucht hätten, dann hätten sie auch welche gefunden.64 63 Nach Engelking und Hirsch (Hg.), Unbequeme Wahrheiten, a. a. O., S. 10. 64 Nach Tomasz Szarota, Kollaboration mit deutschen und sowjetischen Besatzern aus polnischer Sicht – damals, gestern und heute, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 324–341, hier: S. 325; vgl. Hans-Henning Hahn und Robert Traba (Hg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte, 9 Bde., Paderborn [u. a.] 2012–2015; Tomas Chinciński und Tomasz Rabant, Die deutsche Besatzung im kollektiven Gedächtnis der Polen, in: „Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte“, Nr. 1/2014, S. 31–43; zur Gesamteinordnung: Jerzy Kochanowski und Peter Oliver Loew, Deutsch-Polnische Geschichte 1918–1945, Darmstadt, 2016. Auf der Karte „NS-Besatzungssystem und Widerstandsbewegungen in Europa“ des polnischen Schulgeschichtsatlasses aus dem Verlag „Demart“ werden die Länder, die mit den deutschen Besatzern zusammenarbeiteten, klar benannt, z. B. die polizeilichen Stellen in den baltischen Staaten. „Polnische Kollaboration hinterfragt sie seltsamerweise nicht“, so Rode, Die Kartierung der Extreme, a. a. O., S. 361. Zu den Museen: Irena Grudzinska-Gross und Iwa Nawrocki (Hg.), Poland and Polin. New Interpretations in Polish-Jewish Studies, Frankfurt am Main 2016 (mit scharfer Kritik am Warschauer Museum, weil in ihm allein von dem Mythos ausgegangen wird, dass Polen den verfolgten und vertriebenen Juden in den tausendjährigen Beziehungen zwischen den einen und den anderen Hilfe gewährt habe, S. 136); Daniel Logemann, Der Streit um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdansk, in: „Zeitschrift für moderne europäische Geschichte“ / „Journal of Modern European History“ / „Revue d’histoire européenne contemporaine“, Nr. 3/2017, S. 448–450; Ekaterina Makhotina, Ekaterina Keding, Wlodzimierz Borodziej, Etienne Francois und Martin Schulze Wessel (Hg.), Krieg im Museum. Präsentationen des Zweiten Weltkriegs in Museen und Gedenkstätten des östlichen Europa, Göttingen 2015; Monika Heinemann, Krieg und Kriegserinnerung im Museum. Der Zweite Weltkrieg in polnischen historischen Ausstellungen seit den 1980er Jahren, Göttingen 2017. Heinemann konstatiert, dass im „Museum der Geschichte der polnischen Juden“ diese erstmals „in ein gesamtpolnisches Narrativ“ integriert seien und sie als „gleichberechtigter Bestandteil der polnischen Geschichte“ dargestellt würden (S. 485). Eine „heroisch-martyrologische Sinnstiftung“ gebe es in dem Haus nicht. Das sei ein enormer Fortschritt. Gleichwohl nähert sie sich in ihrem grundsätzlichen Urteil zum musealen polnischen Selbstbild der Wahrnehmung von Grudzinska-Gross und Nawrocki an: Die Abgrenzung zwischen „Gut“ und „Böse“ sei gleichzeitig die Trennlinie „zwischen der eigenen Wir-Gemeinschaft
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Das 2014 auf dem Gelände des Warschauer Ghettos eröffnete Museum für die Geschichte der polnischen Juden („POLIN“), das sich den programmatischen Beinamen „Museum of Life“ gegeben hat, und das 2017 eröffnete Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig (mit einer eigenen Abteilung zum Problemkomplex Kollaboration) sind ein Quantensprung in eine neue, andere Zukunft. Aber der Kampf um die „richtige“ Erinnerung geht weiter, und er wird durch die 2015/16 erneut ins Amt getretene nationalpopulistische Regierung nicht einfacher. Sie verlangt, die Geschichte der Polen, „die polnische Wahrheit“, im Danziger Museum mit „Würde und Stolz“ darzustellen: Eine „Pädagogik der Schande“ habe dort nichts zu suchen. 2018 brachten Präsident, Senat, Regierung und Parlament in Warschau genau jenes Gesetz wieder auf den Weg, das 2006 schon kurzzeitig im Strafgesetzbuch Platz gefunden hatte und mit dem nunmehr der Status Polens als monolithische Helden- und Opfernation juristisch abgesichert werden soll: Es droht jedem Polen oder Nicht-Polen eine bis zu dreijährige Gefängnisstrafe an, der „öffentlich der polnischen Nation oder dem polnischen Staat faktenwidrig die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen zuschreibt, die durch das Dritte Deutsche Reich begangen wurden“. Die Antwort der israelischen Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Israel Katz, Minister im Kabinett Netanjahu, sagte: „Dieses Gesetz ist das Abstreifen der eigenen Verantwortung und eine Verleugnung von Polens Anteil am Holocaust.“ Daraufhin wurde es wieder entschärft.
und den Feinden ebenso wie den ‚inneren Feinden‘, den verfolgten Juden“. Sie sei eine Bestätigung für das eigene „moralische Überlegenheitsgefühl (der) ethnisch makellosen Helden, Opfer und Märtyrer“ in Polen (S. 434).
Sowjetunion In der Arbeiterdemonstration, die sich am 9. Januar 1905 auf das St. Petersburger Winterpalais zubewegte, spielte Lenins Arbeiterpartei praktisch keine Rolle. Der Zug wird von einem orthodoxen Priester angeführt, Kirchenikonen und Zarenbilder werden in die Höhe gehalten, und das einzige Ziel ist, den Romanows, die seit 1613 auf dem Zarenthron sitzen, eine fast schüchtern gehaltene Bittschrift zu überreichen. Erst als Nikolaus II. das Feuer in die Menge eröffnen lässt, entfacht er damit das Feuer der ersten russischen Revolution. Sie als Generalprobe der eigentlichen, großen Oktoberrevolution zu deklarieren, wie später in der offiziellen Parteigeschichte immer wieder getan, mag gerade noch durchgehen. Was aber durchgehend „vergessen“ wird, ist, dass diese Generalprobe praktisch ohne die Akteure von 1917 stattfand, und das gilt ganz besonders für einen jungen Bolschewisten namens Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili aus Georgien, der sich aber 1912 Stalin, der „Stählerne“, nannte. 1917, als das Winterpalais tatsächlich erstürmt ist, handelt er opportunistisch und erbärmlich, indem er nicht handelt. Überall glänzt er durch Abwesenheit. Nicht einmal an der Zentralkomitee-Sitzung am Morgen danach nimmt er teil. Der Ausgang des Unternehmens war ihm noch viel zu ungewiss. Sollte es scheitern, konnte er den anderen, Lenin eingeschlossen, die Schuld in die Schuhe schieben. Trotzki spricht offen von Hinterhältigkeit und Perfidie. In den Diadochenkämpfen um die Nachfolge Lenins tritt diese offen zutage. Dessen Testament, das uns zur Gänze erst seit wenigen Jahren bekannt ist, stellt nichts anderes als die Entlassungsurkunde Stalins dar, der als „großrussischer Chauvinist, ja im Grunde Schurke und Gewalttäter“ bezeichnet wird.1 Stalin beerbt Lenin, der am 21. Januar 1924 kurz vor 19.00 Uhr stirbt. Er hat nur ein Ziel: Aus der jungen Sowjetunion muss eine Weltmacht werden, und alle Hoffnungen ruhen hier auf Deutschland. Schon anlässlich des früh und kläglich gescheiterten „deutschen Oktober“ von 1923 hatte Stalin in der „Roten Fahne“ geschrieben: „Der Sieg des deutschen Proletariats wird ohne Zweifel das Zentrum der Weltrevolution von Moskau nach Berlin versetzen.“ Als Todfeind auf diesem Weg galt die SPD, was Stalin in seiner erstmals 1924 veröffentlichten, seither mehrfach bekräftigten und 1928 schließlich zur verbindlichen Lehre erklärten Schrift „Zur internationalen Lage“ darlegt, die gleichzeitig eine fatale Fehleinschätzung der damals noch relativ unbedeutenden NSDAP ist: Der Faschismus ist eine Kampforganisation der Bourgeoisie, die sich auf die aktive Unterstützung der Sozialdemokraten stützt. Die Sozialdemokratie ist objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus. (…) Diese Organisationen schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Das sind keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder.2 1 2
Vgl. hierfür und für das Folgende: Kellmann, Stalin, a. a. O., S. 63 ff. Stalin, Werke, Bd. 6 (russisch), Berlin 1950–1955, S. 253.
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Glaubte der Mann tatsächlich, was er hier sagte, oder diente diese ungeheuerliche Gleichsetzung ganz anderen Zwecken? Auf dem VI. Kongress der Kommunistischen Internationale 1928 zwingt er den Teilnehmern die These vom „Sozialfaschismus“ als verbindliche Leitlinie regelrecht auf. Ihr Kern ist die angeblich erwiesene „Kollaboration“ zwischen Sozialdemokraten und Faschisten. Dass in einem Halbdutzend europäischer Staaten von Portugal und Spanien über Österreich bis ins Baltikum und nach Finnland gegen den Widerstand von Sozialisten und Sozialdemokraten nationalautoritäre und faschistische Machthaber an die Regierung strebten und sie im PiłsudskiPolen und Mussolini-Italien bereits fest okkupiert hatten, schien seine Wahrnehmung nicht sonderlich zu trüben. Im Gegenteil, die Tatsache, dass in Berlin 1928 nach langen Jahren wieder ein Sozialdemokrat Kanzler geworden war, beunruhigte den Herrn im Kreml weit mehr als das täglich frechere Auftreten der braunen Rotten Hitlers. Den Genossen in Deutschland wurde jedwede Zusammenarbeit mit der SPD verboten, sogar als die Nazis schon vor den Toren der Macht standen. Die Weimarer Republik hatte ihre Kanzler, Kabinette und Koalitionen reihenweise verschlissen. Wie lange würde Hitler sich halten können? Oder, ganz anders: War der Mann, dessen Partei die Bezeichnungen „Arbeiter“ und „sozialistisch“ in ihrem Namen führte, nicht für die eigenen Zwecke gut zu gebrauchen? Auf einer 1932 abgehaltenen Konferenz des Exekutivkomitees der Komintern ist erstmals vom „Faschismus als Bundesgenossen“ die Rede. Sojusnik Hitler? Der Jungkommunist Herbert Wehner berichtet, dass kurz danach ein Telegramm aus Moskau in Berlin eintraf, in dem gemäß der These vom „Sozialfaschismus“ der verschärfte Kampf gegen die SPD verlangt wurde. Bei Streiks und Demonstrationen sei gemeinsam mit der NSDAP vorzugehen, was auch geschieht. Hitler wird in der „Roten Fahne“ als „Vorbote“, „Wegbereiter“ und schließlich als „Eisbrecher“ der deutschen Revolution bezeichnet, weil er die SPD und den bürgerlichen Herrschaftsapparat zerschlagen und Kommunisten damit eine Menge Arbeit abnehmen kann. Er ist ein wertvoller „Schrittmacher auf dem Weg zu einem Sowjetdeutschland“. Hat Stalin Hitler in einer paradoxen Form von ideologischer Kollaboration in den Sattel geholfen? Am 15. Dezember 1932 lässt er seinen Außenminister Litwinow in Berlin gegenüber dem Reichskanzler Schleicher äußern, es sei „durchaus natürlich, wenn man die Kommunisten in Deutschland so behandele, wie man in Rußland Staatsfeinde zu behandeln pflege.“ Hitler war für ihn eine vorübergehende Erscheinung, eine Spielfigur der Rechten, der Hochfinanz und der Industrie, ein „Agent des Monopolkapitals“, der genauso schnell wieder verschwinden würde, wie er gekommen war. Man konnte den Mann gut gebrauchen, um Zeit für die Kollektivierung und Aufrüstung zu gewinnen. Dafür durfte man ruhig die eigenen Leute ans Messer liefern. In dem Wirkungszusammenhang aus Sowjetunion, Sozialfaschismus und dem Ende von Weimar besteht Stalins historische Schuld darin, dass er nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal in einer weltpolitisch entscheidenden Situation Entwicklungen und Phänomene, in diesem Fall den Charakter der NSDAP, völlig falsch einschätzte, sich ausschließlich am Primat der Machterhaltung nach innen orientierte und bereitwillig die deutschen Ge-
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nossen verriet. „Nicht mit Wissen und Willen, sondern in dogmatischer Verblendung und gleichsam mit abgewandtem Antlitz hat Stalin so seinen bedeutsamen Beitrag zum Aufstieg Hitlers geleistet“ (Richard Löwenthal).3 Auch nach der sogenannten Machtergreifung, ja sogar nach dem Reichstagsbrand und der unmittelbar einsetzenden gnadenlosen Kommunistenverfolgung verharrte die KPD in „revolutionärem Attentismus“, in Achtung und Wartehaltung vor dem „Eisbrecher“ Adolf Hitler, mit dem Stalin im Mai 1933 den Neutralitäts- und Freundschaftsvertrag von 1926 und damit die Rapallopolitik so seelenruhig verlängerte, als sei nichts gewesen. Über die einsetzenden antijüdischen Ausschreitungen in Deutschland verlor die „Prawda“ kein einziges Wort, Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 hatte sie auf ihrer sechsten und letzten Seite in ein paar dürren Zeilen vermeldet. Fast auf den Tag ein Jahr später, als Hitler seinen zehnjährigen Nichtangriffspakt mit Polen abschloss, fiel Stalin aus allen Wolken. Jetzt erst begannen sich ihm langsam die Augen zu öffnen, und er verstand, wohin die Reise des expansionslüsternen „Führers“ gehen würde. Die geheime Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee wurde beendet. Vollends auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt sah er sich, als Hitler im Sommer 1934 die Morde an dem SA-Chef Röhm und dem Reichskanzler a. D. von Schleicher eiskalt inszenierte, um Störenfriede, Machtrivalen und Mitwisser auszuschalten. Schlagartig wurde ihm klar, dass ihm hier ein in seiner kriminellen Energie Ebenbürtiger erwachsen war, von dem man vielleicht sogar ja noch etwas lernen konnte. Die Zielscheibe des Terrors und der Vernichtung in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurden in immer neuen und immer schneller aufeinander folgenden Wellen die Funktionäre in Partei, Wirtschaft und Verwaltung, die mittlere und höhere Führungsschicht der Armee bis hinauf zur Generalität und schließlich, als Exekution der Exekuteure, das Personal des Geheimdienstes selbst. Der Begriff der „Säuberung feindlichen Gesellschaftsguts“ entfaltete eine totalitäre, alle und alles umfassende Gewalt. Den überall gegenwärtigen, für jede Fehlentwicklung verantwortlichen altbösen Feind verkörperte jene Person, die sich schon längst nicht mehr im Land befand: Leo Trotzki. Wie der Teufel im Kinderbuch verursachte er die manichäische Zweiteilung der Welt in hell und dunkel, in gut und schlecht. Der Trotzkismus wurde völlig beliebig als Menschewismus, Kapitalismus, Imperialismus oder Faschismus deklariert und diente Stalins Chefanklägern in den endlosen Schauprozessen als Kronjuwel ihrer Argumentation. Besonders gefährdet waren außerdem Menschen mit einer „schlechten“ sozialen Vergangenheit, ehemalige Kriegsgefangene aus dem Ersten Weltkrieg (!) sowie Personen, die in Grenznähe wohnten, Verwandte im Ausland oder sonst irgendwelchen Kontakt nach draußen hatten. Jeder Amateurfunker, Briefmarkensammler oder Esperantist galt als potentieller Kollaborateur mit dem Feind. Hochgradig verdächtig war 3 Vorwort zu Thomas Weingartner, Stalin und der Aufstieg Hitlers. Die Deutschlandpolitik der Sowjetunion und der Kommunistischen Internationale 1929–1934, Berlin 1970, S. IX; Klaus Kellmann, Die UdSSR und Hitlers Aufstieg zur Macht, in: GWU, Nr. 1/1983, S. 50–65.
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auch das Personal aller Vertretungen und Missionen, die die Sowjetunion im Ausland besaß. Die Moskauer Botschafter in Berlin, London, Peking, Tokio, Bukarest und Madrid wurden alle verhaftet und die meisten von ihnen hingerichtet, denn sie hatten eine gefährliche Verbindung mit der „anderen Welt“ gehabt. Die große, fast schon mythenumwobene Gestalt der Roten Armee war Marschall Tuchatschewski. Um ihn in den Augen der Bevölkerung diskreditieren zu können, musste schon einiges geschehen. Stalin entsandte seinen Handelsattaché David Kandelaki mit dem Auftrag nach Berlin, dort Geheimkontakte mit der NS-Regierung anzubahnen, die dann Tuchatschewski in die Schuhe geschoben wurden. Am 11. Juni 1937 sieht dieser sich ohne jede Vorwarnung zusammen mit neun Generalen verhaftet, und schon am nächsten Tag werden alle erschossen. Was jetzt als „Säuberung in der Armee“ losgetreten und entfesselt wurde, entwickelte sich zum buchstäblichen Overkill in den eigenen Reihen: Drei von fünf Marschällen, dreizehn von fünfzehn Armeekommandeuren, acht von neun Flottenadmirälen, fünfzig von siebenundfünfzig Korpskommandeuren, 154 von 186 Divisionskommandeuren, alle sechzehn Politkommissare, alle elf Stellvertreter des Volkskommissars für Verteidigung und 98 von 108 Mitgliedern des Obersten Militärrats sind gewaltsam vom Leben zum Tode befördert worden. Im Zeitraum von 1937 bis 1941 wurden 43.000 Bataillons- und Kompanieoffiziere verhaftet, erschossen, deportiert oder endgültig vom Dienst suspendiert. Das Militär enthauptete sich praktisch selbst. Die Rote Armee hat im Frieden mehr Offiziere verloren als im Krieg. Der in die Sowjetunion emigrierte Herbert Wehner unterschreibt am 4. April 1937 eine Verpflichtungserklärung, dass er die „trotzkistischen Agenten des Faschismus“ entlarven wird. Seiner besonderen Verachtung fallen die „Führer der deutschen Sozialdemokratie“ anheim. Er hat das grausame Spiel erfundener und herbeikonstruierter Vorwürfe und Anklagen mitgespielt. Außenpolitisch kam es Stalin darauf an, für sein nach allen „Säuberungen“ praktisch verteidigungsunfähiges Land Zeit zu gewinnen. Nur so ist der Weg zum Pakt mit Hitler erklär- und nachvollziehbar. Als die Maschine Ribbentrops am Vorabend des 23. August 1939 über der Moskauer Landebahn einschwebt, winken ihm ganze Schulklassen, die Kinder Lenins und Stalins, mit kleinen Hakenkreuzfähnchen in der Hand zu. In dem Abkommen, das auf der ganzen Welt wie eine Bombe einschlägt, sichern sich beide Seiten die unbedingte Neutralität zu und bekunden, sich während der nächsten zehn Jahre nicht anzugreifen. Es ist nicht deutsche, sondern sowjetische Initiative, dass dem Vertragswerk „für den Fall einer politisch-territorialen Umgestaltung“ in Europa ein geheimes Zusatzprotokoll beigefügt ist, dessen Existenz vom Kreml fünfzig lange Jahre, bis zum 24. Dezember 1989, geleugnet wird. Nachdem Stalin auf der beigefügten Karte seinen berühmten Rotstrich quer durch Polen gezogen hat, lässt er Champagner kommen und ruft aus: „Ich weiß, wie sehr das deutsche Volk seinen Führer liebt; ich möchte darum auf seine Gesundheit trinken.“ Ribbentrop berichtet anschießend in Berlin, er habe sich ganz zu Hause wie „unter alten Parteigenossen“ gefühlt, und Hitler stellt das Bündnis in eine direkte Linie
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mit den Befreiungskriegen gegen Napoleon, Bismarcks heißem Draht nach St. Petersburg und dem Vertrag von Rapallo. Stalin hatte das nationalsozialistische Aggressionspotential erfolgreich nach Westen abgedrängt. Sein Kalkül und seine Langzeitstrategie bestanden darin, dass sich die deutsche Militärmaschinerie wie weiland vor Verdun in einem endlosen Stellungs- und Abnutzungskrieg aufreiben und er irgendwann Ende der 1940er Jahre über das ausgeblutete Deutschland herfallen könnte. Entsprechend gequält klangen dann auch seine Glückwünsche an den „Bündnispartner“ in der Reichskanzlei, als die siegreiche Wehrmacht Mitte Juni 1940 nach sage und schreibe fünf Wochen Kampf unter dem Pariser Arc de Triomphe hindurchmarschierte. Schon am 23. Mai hatte Ernst Freiherr von Weizsäcker, der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und Vater Richard von Weizsäckers, die anmaßende Notiz verfertigt, dass im Osten, wo „Raum“ und „flüssige Grenzen“ seien, wohl noch eine „weitere Abrechnung“ durchzuführen sei. Am 18. Dezember 1940 unterzeichnet Hitler die folgenschwerste aller jemals von ihm erteilten Weisungen. Sie trägt die Nr. 21 und heißt in Anlehnung an die heidenbekehrenden Kreuzzugsunternehmungen mittelalterlicher deutscher Kaiser „Fall Barbarossa“. In ihr wird verlangt, „Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen“. Die in nur neun Exemplaren verbreitete, nicht einmal Ribbentrop offenbarte Weisung ist bereits elf Tage später an Stalin verraten worden, der unter sichtlichem Schock sofort das Oberkommando der Roten Armee einberuft. Achtzig Prozent seiner Offiziere und siebzig Prozent der Politoffiziere waren weniger als ein Jahr im Dienst, im Grunde also Anfänger. Da die Große Säuberung alle Führungsebenen leergefegt hatte, wurden sie im Vierteljahrestakt nach oben befördert. Die meisten Panzerfahrer konnten auf nicht einmal eine Übungsstunde auf ihrem Panzer verweisen. Angesichts derartiger Kalamitäten klammerte Stalin sich mit zunehmender Wahrnehmungseintrübung an seinen Bündnispartner in Berlin, der seine Verbände großräumig von der Westfront an die im Pakt vom 23. August 1939 festgelegte, mitten durch Polen führende Demarkationslinie umdirigierte. Im November 1940 ging es in Verhandlungen, die Außenminister Molotow für seinen Herrn und Meister in der Reichshauptstadt führte, um nicht mehr und weniger als den Beitritt der Sowjetunion zum Dreierbündnis aus Deutschland, Italien und Japan. Konkret: Das Mutterland der Komintern wäre fast zum Mitglied des Antikominternpakts geworden. Noch im April 1941 äußerte Stalin gegenüber dem deutschen Botschafter in Moskau, Graf von der Schulenburg: „Wir müssen Freunde bleiben, und dafür müssen Sie jetzt alles tun!“ Als Görings Luftwaffe vom Januar bis zum Juni 1941 zweihundert Aufklärungsflüge tief in sowjetisches Gebiet hinein unternahm und dabei alle wichtigen militärischen Stützpunkte gestochen scharf fotografierte, durften die Bodentruppen das Feuer nicht eröffnen. Der rote Biedermann wollte die braunen Brandstifter nicht sehen. In perfektem Selbstbetrug glaubte er an die noch mögliche friedlich-schiedliche Lösung mit „seinem Berliner Diktatorkollegen“, wie er ihn selbst nannte. Als er sich im Mai 1941, viel zu spät, von den Militärs doch noch Operationspläne vorlegen lässt, kommentiert er diese mit den Worten: „Seid ihr denn
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verrückt, wollt ihr etwa die Deutschen provozieren?“ Er kannte die Lageeinschätzung seines Generalstabs, wonach die Rote Armee ganze acht Tage Widerstand leisten und die Wehrmacht binnen 25 Tagen den Ural erreichen würde. Das durfte nicht passieren, und deshalb nahm die Katastrophe ihren Lauf. Noch am Morgen des 22. Juni 1941, als schon schwerer deutscher Beschuss entlang der gesamten Grenzlinie herrscht, fantasiert der Mann im Kreml: „Hitler weiß sicher nichts davon.“4 Erst als Molotow mittags um zwölf Uhr in einer landesweit verbreiteten Rede das Wort wieder in den Mund nimmt, dessen Verwendung zwei Jahre unter schärfster Strafandrohung gestanden hatte, war jedem klar, was die Stunde geschlagen hatte. Molotow spricht von der Aggression des „Hitlerfaschismus“ und proklamiert den „Großen Vaterländischen Krieg“ der Sowjetunion. Stalin selbst wusste am besten, dass die wenigsten von denen, die er unter Waffen nahm, in der Sowjetunion ihr Vaterland sahen. Den später von ihm so gepriesenen kollektiven Verteidigungszustand hat es nicht gegeben. Der Verdacht und der Vorwurf der Unzuverlässigkeit, der Kollaboration und des Verrats prägten deshalb seine gesamte Kriegsführung. Wer zurückwich oder sich ergab, war von dem Moment an praktisch ein verlorener Mann, und zwar für den Rest seines Lebens. In einer sofort erlassenen Instruktion hieß es, dass „jeder, der sich gefangen nehmen lässt, (als) Verräter an seiner Heimat“ zu betrachten und entsprechend zu behandeln sei. Unmissverständlich wird zum Ausdruck gebracht, dass es für diese Menschen besser gewesen wäre, sich selbst umzubringen, als dem Feind in die Hände zu fallen. Im Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941 bezeichnet Stalin sie „als bösartige Deserteure, deren Familien (…) zu verhaften“ und an deren nächste Angehörige keinerlei Lebensmittelrationen mehr auszugeben seien, womit praktisch alle dem Tod geweiht waren. Stalins eigener Sohn Jakow, der früh in Gefangenschaft und dann in das KZ Sachsenhausen gerät, bittet den diensthabenden Wachposten: „Erschießen Sie mich!“5 Die aus dem Landesinnern nachrückenden Truppen hatten Anweisung, „die Verräter, die dem Feind die Front geöffnet haben, zu erschießen“, wodurch in den ersten Kriegsmonaten weniger gegen die Deutschen als vielmehr gegen die eigenen Leute Krieg geführt wurde. Piloten, die ihr Flugzeug verloren, Panzerkommandeure, die sich aus ihrem brennenden Panzer gerettet, und Artilleristen, die ihre Stellung geräumt hatten, sahen sich ohne jedes Verfahren an die Wand gestellt. Ganze Divisionen, denen es gelungen war, aus einem der zahlreichen Kessel auszubrechen, galten als Kollaborateure. Der Geheimdienstchef Berija ließ in aller Eile fünfzehn Sonderlager errichten, um diese merkwürdigen Menschen, die es gewagt hatten, ihr Leben zu retten, eingehend überprüfen zu lassen. Stalin selbst kümmerte sich um die Verurteilung des „pflichtvergessenen“ Generalleutnants Katschalow, der sich 4 Vgl. für alle Zitate: Kellmann, Stalin, S. 153–189. 5 Vgl. Christian Neef, „Erschießen Sie mich!“, in: Der Spiegel“, Nr. 7/2013, S. 86–89 und Dietmar Neutatz, Träume und Alpträume. Eine Geschichte Rußlands im 20. Jahrhundert, München 2013, S. 284 ff.
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ergeben und wegen Kollaboration in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde. Seine Familie, Angehörigen und Verwandten galten noch bis 1956 als „Volksfeinde“. Im Grunde genommen gab es für jeden, der mit den Deutschen auch nur irgendwie in Berührung gekommen war, keinen Ausweg. Von den insgesamt 5,2 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen haben die Deutschen 3,2 Millionen brutal verhungern lassen. Die überlebenden 2 Millionen mussten sich nach 1945 peinlichsten Verhören unterziehen, nach denen sie zumeist in Arbeitslager abgeschoben wurden. Irgendwelche Versuche, die eigenen Gefangenen durch das Rote Kreuz registrieren oder gar schützen zu lassen, hat es vonseiten der Sowjetunion nicht gegeben. Kaum anders erging es den Millionen nach Deutschland deportieren Zwangsarbeitern, die auch nach 1945 weiter Zwangsarbeit leisten mussten, und zwar im eigenen Land. Statt alle Kräfte auf die Verteidigung zu konzentrieren, erreichte die Welle der Verfolgung ganzer Völkerschaften nach dem Überfall vom 22. Juni 1941 einen neuen Höhepunkt. Schon im August des Jahres springen NKWD-Männer in deutschen Uniformen über den deutsch bewohnten Gebieten an der Unteren Wolga ab. Wo sie willkommen geheißen werden, brennen die Russen die Dörfer ab. Die 1924 konstituierte Autonome Sozialistische Republik der Wolgadeutschen wird aufgelöst. 1,2 Millionen Menschen verschleppt man in Viehwaggons nach Kasachstan und Sibirien, wo sie in der Taiga ausgesetzt werden. Die meisten kommen um. Erst seit 1964 gibt es für sie den Vorwurf des Landesverrats nicht mehr, da aber war ihre jahrhundertealte Kultur praktisch ausgelöscht. Ab 1943 begann die systematische, generalstabsmäßig geplante Umsiedlung der Tschetschenen, Inguschen und Krimtataren, allesamt turk-muslimische „Verrätervölker“, die sich seit den 1920er Jahren vom Bolschewismus unterjocht fühlten und die mit dem Einmarsch der Deutschen tatsächlich eine nationalemanzipatorische Hoffnung verbanden. Streng genommen ging es den georgischen, aserbeidschanischen, armenischen, kaukasischen, turkestanischen und tatarischen „Ostlegionen“, die ab 1942 von der Wehrmacht aufgestellt wurden, deshalb um einen nationalen Befreiungskampf, für den Kollaboration das Vehikel darstellte.6 Stalin verbot den Tataren nach dem Krieg die Rückkehr auf die Krim, „weil sie als Quelle feindlicher Spione dienten“, und
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Sebastian Cwiklinski, Wolgatataren im Deutschland des Zweiten Weltkriegs. Deutsche Ostpolitik und tatarischer Nationalismus, Berlin 2002; Iskander Gilyazow, Die Kollaboration der türk-muslimischen Völker der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs als Erscheinungsform des Nationalismus in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 406–413; Norman M. Naimark, Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008, S. 111–137; Rab Bennett, Under the Shadow of Swastika. The Moral Dilemmas of Resistance and Collaboration in Hitler’s Europe, Basingstoke 2002; Christian Hartmann, Unternehmen Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941–1945, München 2011; Bernhard Chiari, Grenzen deutscher Herrschaft. Voraussetzungen und Folgen der Besatzung in der Sowjetunion, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/2, München 2005, S. 877–912.
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Chruschtschow erwähnte sie in seiner Geheimrede 1956 mit keinem einzigen Wort. Erst im Zuge der Perestroika wagten sie es wieder, auf der Halbinsel zu siedeln. Hitler ernannte am 17. Juli 1941 Alfred Rosenberg zum Minister für die besetzen Ostgebiete, dem die Reichskommissare Lohse (Ostland) und Koch (Ukraine) unterstanden. Die von Rosenberg befürwortete „weiche“ Besatzung, um Kräfte für den „gemeinsamen Kampf gegen den jüdischen Bolschewismus“ zu gewinnen, lehnte er kategorisch ab. Trotzdem sind bis 1945 weit über eine Million Bürger der Sowjetunion, vom „Hilfswilligen“ bis zum General, auf die Seite und in die Dienste der Deutschen getreten – das mit Abstand größte Kollaborationsheer in Europa. Noch im Januar 1943 arbeiteten allein bei der Osteisenbahn 634.000 Russen mit 112.0000 Deutschen zusammen. Das heißt: 85 Prozent der Hauptnachschubader, die Truppen, Waffen, Munition und Ersatzteile an die Front brachte, wurde von Ortskundigen am Fließen gehalten. Wenn russische Partisanen in der Nacht die Gleise gesprengt hatten, wurden sie am anderen Tag von russischen Hilfskräften wieder geflickt. Fast jeder zweite Einheimische betrieb mit den Wehrmachtssoldaten Handel. Die Kollaboration zwischen „Untermenschen“ und „Herrenmenschen“ war zweifelsohne not- und angstgeleitet, aber sie funktionierte wie geschmiert. Ohne sie wäre die Kontrolle und Beherrschung des riesigen Raums bis vor die Tore von Moskau und Leningrad undenkbar gewesen, sie war ein Schlüsselfaktor in der gesamten Kriegsführung, sie garantierte die Sicherheit hinter den Linien. Auf jeden deutschen Polizisten kamen mindestens zehn nichtdeutsche Hilfspolizisten. Kaum eine Rolle spielte die politisch und ideologisch motivierte Kollaboration. Die rechtsextremen Untergrundbewegungen, die es in der Sowjetunion im Sommer 1941 sehr wohl gab, kamen praktisch nirgendwo zum Zuge. Vor allem die Deutschen kümmerten sich nicht um sie. Gern hingegen diente man sich der Wehrmacht an, um so der Zwangsarbeit im Reich zu entkommen. Die Zusammenarbeit hatte viele Gesichter. Auf die Gesamtzahl der Bevölkerung bezogen, auch dies ist klar zu sehen, bleiben diejenigen, die sich durch Kollaboration oder durch Flucht in die Wälder zu den Partisanen klar für eine der beiden Seiten entschieden, in der Minderheit. Die meisten warteten ab. Schlimmer als unter dem vorangegangenen Stalinterror konnte es eh nicht werden, und einige hofften auf die Restitution vorrevolutionärer Agrarordnungen und Besitzverhältnisse bzw. auf Religionsfreiheit. Niemand in Berlin dachte auch nur im Traum daran, irgendetwas von diesen Erwartungen zu erfüllen. Einer besonderen Sensibilität unterliegt die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem deutschen Mann und der sowjetischen Frau. In der genderorientierten Geschichtsforschung hat sich das Bild vom rücksichtslos und brutal vergewaltigend vorgehenden Landser lange gehalten. Den Arbeiten von Regina Mühlhäuser, Birgit Beck, Jürgen Kilian, Maren Röger und Dieter Pohl ist es deshalb zu danken, dass wir auf wirklichkeitsnähere Befunde zurückgreifen können, wobei Zwangsprostitution bis hin zur sexuellen Folter nicht verschwiegen wird. Doch das war weder der Alltag noch die Norm. Vielerorts bildete sich ein regelrechtes „Vertrauensverhältnis zwischen den deutschen Truppen und der Zivilbevölkerung“, in dem die deutschen Soldaten „auf die
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erwachsenen Weiblichen wie ein Magnet“ wirkten, wie das Einsatzkommando 1a in Narwa am 25. März 1942 feststellte. Insgesamt ist, wie Maren Röger überzeugend dargelegt hat, zwischen „kommerziellen, konsensualen und erzwungenen Kontakten“ zu differenzieren. Eindeutig dominierend waren einvernehmliche Beziehungen, in denen es um Geld und Brot und andere Tauschgeschäfte ging, und schließlich und letztlich haben sich nicht wenige Paare aufrichtig geliebt, auch wenn „die Übergänge zwischen Liebesverhältnissen und Armutsprostitution fließend waren.“ Bis Ende 1943 registrierte die Zivilverwaltung 12.000 deutsch-russische Kinder, die beim Rückzug als „rassisch wertvoll“ mit oder ohne Mütter ins Reich deportiert werden sollten. Die Frauen taten gut daran, dieses „Angebot“ anzunehmen, denn von der wieder vorrückenden Roten Armee wurden sie anstandslos erschossen. Wie viele Beziehungen welcher Natur tatsächlich existiert haben, wird man wohl nie erfahren. Die Dunkelziffern sind gerade hier unendlich groß, da „der Kontakt mit einheimischen Mädchen gang und gäbe war.“7 Als man das Scheitern des „Blitzkrieges“ im Winter 1941/42 nicht mehr wegdiskutieren konnte, artikulierten sich in Rosenbergs Ministerium, bei der Wehrmacht, der SS und in der Wirtschaft Stimmen, „den russischen Menschen zur positiven Mitarbeit im deutschen Interesse heranzuziehen“.8 Am 8. Januar 1942 schlägt Generalquartiermeister Wagner vor, „abhängige Scheinregierungen (für) Restrussland“ zu bilden, aber für Hitler gab es in seinem Unterwerfungs- und Vernichtungsfeldzug für den Sowjetmenschen außer als Arbeitssklave keinen Platz. Nur in Weißrussland, das zwar nicht vollständig, aber doch überwiegend als „Generalkommissariat Weißruthenien“ zum RK Ostland gehörte, hatten Wehrmacht, Polizei und SS gleich nach dem Einmarsch bewaffnete einheimische Verbände bilden und das eiserne Gesetz „Der Russe trägt kei7 Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2008, S. 133; Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion, Hamburg 2010, S. 258 ff. Birgit Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt, Paderborn u. a. 2004, hat zudem die These widerlegt, dass die Wehrmachtsführung sexuelle Gewalt als Mittel der Kriegsführung „akzeptiert oder bewusst als Strategie angewendet (habe), um die gegnerische Zivilbevölkerung zu demütigen und zu demoralisieren“ (S. 335). Vgl. auch Jürgen Kilian, Wehrmacht und Besatzungsherrschaft im russischen Nordwesten 1941–1944. Praxis und Alltag im Militärverwaltungsgebiet der Heeresgruppe Nord, Paderborn u. a. 2012, S. 200, 206 und 211; Maren Röger, Kriegsbeziehungen. Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945, Frankfurt am Main 2015, S. 218. Regina Mühlhäuser differenziert 2014 erneut zwischen „sexuellem Tauschhandel, professioneller Prostitution, einvernehmlichen Verhältnissen und romantischen Beziehungen“: Mühlhäuser, Verleugnung und Geschichtsschreibung. Sexuelle Gewalt gegen jüdische Frauen während des Vernichtungskrieges 1941–1945, in: Quinkert und Morré (Hg.), Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941–1944, a. a. O., S. 133–151, hier: S. 134. 8 Schreiben der Heeresgruppe Mitte, zit. nach Gerhart Hass, Deutsche Okkupationsziele und die Kollaboration in den besetzten Gebieten der Russischen Föderativen Sowjetrepublik 1941–1944, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 273–291, hier: S. 279.
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ne Waffe“ durchbrechen dürfen. Sie waren für die Front, die „landeseigene Sicherung“ als „Schutzmannschaften“ und für die Partisanenbekämpfung gedacht. Am 24. November 1942 erfährt der Generalquartiermeister von dem Führerbefehl, die 800.000 „Fehlstellen des Ostheeres“ mit Landeskindern nicht nur aus Weißruthenien aufzufüllen. Allerdings sollten nicht alle bewaffnet werden. Dass die Russen bei den Werbeaktionen auf den Dörfern als „gleichberechtigte Partner der europäischen Völkergemeinschaft“ angesprochen wurden, war revolutionär und neu, aber zu keinem Zeitpunkt ehrlich. Die „Hilfswilligen-(Dobrovolez-)Aktion“ lief an. In Dabendorf bei Berlin nahm ein „Schulungslager für russische Freiwillige“ seine Arbeit auf. Im Juli 1943 hatte die Wehrmacht 1,2 Millionen zusätzlich Kräfte gewonnen. Nicht nur die Weißrussen unter ihnen glaubten, auf diesem Weg die Eigenstaatlichkeit erreichen zu können. In der 1944 konstituierten „Weißruthenischen Heimatwehr“ und der 30. (weißruthenischen) Waffen-Grenadier-Division der SS sahen sie eine Vorstufe hierzu, jedoch „deutsche Versprechen auf ‚nationale Selbstständigkeit‘ waren schon angesichts künstlicher Grenzen und der ethnischen Gemengelage absurd.“9 Schon in der Weißrussischen Sowjetrepublik hatte es vier Staatssprachen gegeben. Unter der NS-Okkupation verliefen die Frontlinien oft quer durch Dörfer, Familien und Betriebe. Es gibt Kriegsbiographien, die im „Weißruthenischen Jugendwerk“, dem Pendant zur Hitlerjugend, beginnen, sich in der einheimischen Schutzmannschaft, dann aber in der polnischen Heimatarmee oder im litauischen Unabhängigkeitskampf fortsetzen, auf einmal bei sowjetischen Partisanen weitergehen, um nach deren Liquidierung durch die SS und nach der Anerkennung als „Volksdeutscher“ als Hilfswilliger bei der Wehrmacht zu enden. Wo, wann und wie hier Anpassung, Opportunismus, Überlebenswille, Kollaboration, Widerstand und nationale Identität gegeneinander abzugrenzen bzw. gegeneinander abgrenzbar sind, diese Fragestellung galt weiß Gott nicht nur für Weißrussen. Ohne Russen konnte in dem riesigen besetzten Raum keine Aussaat und Ernte gedeihen, keine Kuh gemolken und kein Schwein geschlachtet werden. Wer als Starost (Dorfältester) diese Dienste verweigerte, wurde erschossen. Kann man deshalb den Starosten im Nachbardorf, der sich nicht verweigerte, als Kollaborateur oder, in stalinistischer Nomenklatur, als „Verräter“ bezeichnen? Wohl kaum. Trotzdem fanden die ab 1944 tagenden sowjetischen Sondergerichte auch für ihn keine Gnade. Auf der einen wie auf der anderen Seite handelte es sich hier um Ausgeliefertsein, um Zwänge und um Determinismen, aber nicht um gezielte und gewollte Kollaboration. Dennoch hat es auch dies in der Sowjetunion gegeben, und zwar gerade in Form der Auflehnung gegen die Diktatur Stalins. Einen markanten, wenn auch nur regional begrenzten Aus9
Bernhard Chiari, Deutsche Herrschaft in Weißrußland. Überlegungen zum lokalen und historischen Umfeld, in: Kaiser (Hg.), Täter im Vernichtungskrieg, a. a. O., S. 137–159, hier: S. 149; Leonid Rein, Local Collaboration in the Execution of the „Final Solution“ in Nazi-Occupied Belorussia, in: „Holocaust and Genocide Studies“, Nr. 3/2006, S. 381–409; ders., The Kings and the Pawns. Collaboration in Belorussia during World War II, New York und Oxford 2011.
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druck fand sie in der Gründung der „Russischen Volksbefreiungsarmee“ (RONA) und der „Russischen Nationalsozialistischen Partei“ durch Bronislaw Kaminski (1899– 1944). Kaminski war in der Nähe von Witebsk geboren, hatte eine „volksdeutsche“ Mutter und war als Anhänger Bucharins zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Er wurde von der Wehrmacht befreit und stellte sich ihr sofort zur Verfügung. Mit deren ausdrücklicher Billigung und Förderung baute er in Lokot in der Region Brjansk einen Selbstverwaltungsbezirk mit 1,7 Millionen Einwohnern auf, der von seiner Größenordnung also durchaus einem baltischen Staat vergleichbar war. Da er das verhasste Kolchossystem abschaffte, mit seinen „Wehrbauern“ sogar Überschüsse erwirtschaftete und alle verlangten tierischen Produkte und Feldfrüchte pünktlich bei den Deutschen ablieferte, rekrutierten sie in seinem Beritt keinen einzigen Zwangsarbeiter. Auch die SS funkte ihm nicht hinein. Zwar schallte der Appell seiner russischen NSDAP, „die Auferstehung Russlands mit Hilfe ihres Führers Adolf Hitler“ in die Wege zu leiten, nicht weit über Brjansk hinaus, die RONA hingegen konnte Ende 1943 auf 10.000 Kämpfer mit russischen Uniformen und Dienstgradabzeichen zurückgreifen. Im Gegensatz zu der großen Zahl sowjetischer Freiwilliger, die bis Ende 1944 keine Waffe tragen durften, verfügten seine 15 Bataillone über scharfe Munition in scharfem Gerät. Bei der Bekämpfung weißrussischer Partisanen und der Niederwerfung des Warschauer Aufstands machten sie, plündernd, marodierend und vergewaltigend, hiervon einen derartigen Gebrauch, dass Himmler die bereits fertigen Pläne der Überführung der RONA in die 29. Waffen-Grenadier-Division der SS (russische Nr. 1) wieder verwarf und die Truppe auflöste. Kaminski wurde von einem SS-Gericht formell zum Tode verurteilt und am 20. August 1944 erschossen. Eine im Vergleich zu Kaminskis RONA kaum geringere, aufgrund uralter, seit Jahrhunderten gepflegter Klischees erneuerte und bestätigte Ausnahmestellung besaßen die Kosaken. Als das 436. Infanterieregiment unter Iwan Konosow am 22. August 1941 geschlossen zur Wehrmacht überläuft, empfängt es die Heeresgruppe Mitte als „Kosaken-Abteilung 600“ mit weit geöffneten Armen. Hier kamen keine „Untermenschen“, und entsprechend ihrer althergebrachten Führung wurde ihnen eine Ataman-Regierung in Aussicht gestellt. 1942 befanden sich schon zwanzig Kosakenbataillone über die gesamte Ostfront verteilt im Kampf, Anfang 1943 waren es drei vollwertige Regimenter, und im Mai sollte eine geschlossene Kavalleriedivision gebildet werden. Aus der Abteilung 600 war da längst das Donkosaken-Regiment 5 unter dem Draufgänger Helmut von Pannwitz geworden. Im September 1943 war der Aufbau der Division aus sibirischen, Terek-Don- und Kuban-Kosaken abgeschlossen. Ihr gemeinsamer Nenner blieb der Hass auf alles Sowjetische, ihre angeblichen „Blutsbande zur deutschen Ursprungsheimat“ sollten mit einem „Großkosakien“ von Hitlers Gnaden gekrönt werden. Die gesamte Kampfstärke umfasste zu dem Zeitpunkt über 25.000 Mann. Unter ihnen war eine der geringsten Desertationsraten aller an der Ostfront eingesetzten Verbände zu verzeichnen, man war dem „Führer“ treu bis in den Tod. Im Sommer 1944
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wird der Großteil der Kosaken zur Partisanenbekämpfung nach Norditalien evakuiert, wo sie am 25. März 1945 von Pannwitz zu ihrem Obersten Feldataman wählen. Kurz darauf von den Briten an die Rote Armee ausgeliefert, stirbt er in der UdSSR durch den Strang. Im Dezember 1941 bittet Rosenberg Hitler um Erlaubnis, „türkische Legionen“ aufzustellen. Es ist der relativ späte Beginn, das kaukasische und fernöstliche Potential der Roten Armee für die eigenen Zwecke zu gewinnen. Bezeichnenderweise unter der Kontrolle des Amtes Abwehr der Wehrmacht erhält der „Sonderverband Bergmann“ die Aufgabe, 700 kriegsgefangene Kaukasier beim Vormarsch für Diversions- und Anwerbezwecke einzusetzen. Kommandeur dieses Verbandes ist der Oberleutnant der Reserve Prof. Dr. Theodor Oberländer (1905–1998), der ab 1933 das Institut für Osteuropäische Wirtschaft in Königsberg geleitet hatte, 1937 in das Abwehramt übergewechselt war und von 1953 bis 1960 in mehreren Kabinetten Adenauers als Minister amtierte.10 Am 22. Dezember 1941 genehmigt der „Führer“ die Bildung einer turkestanischen, georgischen und kaukasisch-mohammedanischen, wenig später auch einer wolga- und turktatarischen Legion. Damit begann die Formierung der Ostlegionen, in denen ausschließlich nichtrussische Völkerschaften versammelt waren. Von ihnen zu unterscheiden sind die Osttruppen (ab 1943: „Verbände der Freiwilligen“), in denen auch Russen dienten, sowie die „Hilfswilligen“, russische Kollaborateure und Überläufer ohne Truppenstatus, die im Sommer 1943 bereits über 600.000 Mann ausmachten. Eine besondere Situation entstand auf der Halbinsel Krim, wo die dortige tatarische Bevölkerung die Deutschen mit Dankesbriefen an Hitler und Dankesgebeten für die Befreiung vom kommunistischen „System der Ungläubigen“ begrüßte. Die Krimtataren wurden den Wehrmachtssoldaten in Verpflegung und Sold, teilweise auch im Rang gleichgestellt und verrichteten weiter ihre Gebete im islamischen Ritus; insgesamt handelte es sich um ein Kontingent von 20.000 Freiwilligen. Im März 1944 erwog man, der Krim eine eigene halbautonome Regierung zu gewähren. Stalin hat deshalb später alle Tataren von der Halbinsel deportiert und die in der Wehrmacht aktiven erschießen lassen. Nachdem der formelle Befehl zur Bildung der Ostlegionen am 13. Januar 1942 erteilt worden war, stellte sich schnell heraus, dass der Zulauf bei den tatarischen, muslimischen, kaukasischen und kalmykischen Einwohnern der UdSSR am größten war, weil sie die Zwangseinberufung zur Roten Armee zu keinem Zeitpunkt akzeptiert hatten. Für sie besaß der „Große Vaterländische Krieg“ nichts Vaterländisches. Schnell folgten ihnen die Armenier, Aserbeidschaner, Karatschaier, Balkaren und Karbadinen in dieser Einstellung. Bei allen war die Desertionsrate schon vor der Ankunft der Wehrmacht beträchtlich. Der Mann, der an der Aufstellung aller Osttruppen einen treibenden und entscheidenden Anteil hatte, war der Major im Generalstab Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Inspiriert von der Vision einer Partnerschaft zwischen 10 Hierzu umfassend: Philipp-Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998). Ein Lehrstück deutscher Geschichte, Frankfurt am Main 2000.
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Deutschland und einem postbolschewistischen Russland wollte er mit diesen „gleichberechtigten Kämpfern“ die Kriegswende schaffen. Noch bis kurz vor dem Attentat behielt er die Initiative auf diesem Feld, sodass die SS erst im Sommer 1944 eine „Freiwilligen-Leitstelle Ost“ einrichten konnte, als die Niederlage schon längst nicht mehr zu verhindern war. Die exakte Gesamtzahl aller auf deutscher Seite Aktiven aus den Ostvölkern der Sowjetunion ist nicht bekannt, man weiß nur, dass über 100.000 von ihnen gefallen sind. Ende 1942, bei der von Hitler befohlenen Doppeloffensive auf Rostow am Don und Stalingrad an der Wolga, hatten die durch eigene Leute nicht mehr ersetzbaren Fehlstellen bereits beträchtliche Lücken in die Reihen des Ostheeres gerissen, was Stauffenberg in die Hände arbeitete. Er setzte durch, dass in deutschen Divisionen bis zu 10 Prozent „Hiwis“ dienen durften. Bei der Ausnutzung dieses Spielraums hätte das eine Kapazität von 25 Divisionen bzw. einer Armee ausgemacht. Rechnet man die Ostlegionen und andere Formationen ehemaliger Sowjetbürger hinzu, kommt man auf ein Heer von einer Million Mann, die effektiv erreichte Zahl liegt hingegen bei 250.000. Tatsächlich verfügte die 6. Armee beim Marsch auf Stalingrad über 10 Prozent russischer Kräfte, knapp 20.000 Soldaten. General Reinhard Gehlen, der Chef der Abteilung Fremde Heere Ost, mahnte in einer Denkschrift vom 25. November 1942, dass man sie nicht wie Landsknechte um ein Stück Brot kämpfen lassen, sondern auch wirklich wie Soldaten behandeln sollte. Trotzdem hat der deutsche Herrenmensch im Russen wohl erst den Kameraden entdeckt, als der Kessel geschlossen und es zu spät war. Bis dahin hatte er eine Art Less-than-slaves-Status. Während der erbarmungslosen Abnutzungsschlacht sind nochmals 50.000 „Hilfswillige“ auf die feindliche Seite übergelaufen, aber auch mit ihnen war das Blatt nicht mehr zu wenden. Was nach der Kapitulation aus ihnen geworden ist, weiß bis heute kein Mensch. Nach offizieller sowjetischer Lesart durfte es sie nie gegeben haben. Der Moskauer Historiker Isaak Minz hatte 1941 eine „Kommission zur Geschichte des Vaterländischen Krieges“ initiiert, in der vom einfachen Rotarmisten bis zum General alle Beteiligten unverfälscht über ihre Wahrnehmung des Alltages an der Front berichten sollten. Zur Schlacht von Stalingrad sind, zum Teil noch während des Kampfgeschehens, 215 Männer befragt worden. Immer wieder geht es dabei um die auch in der westlichen Forschung lange und gern wiederholte These, dass die sowjetischen Soldaten nur deshalb so aufopferungsvoll und verbissen durchgehalten haben, weil hinter jedem ein Geheimpolizist saß, bereit, potentielle Feiglinge, Deserteure und Überläufer zu erschießen. Ganz falsch ist dies nicht, wenn auch die von Anthony Beevor genannte Zahl von 13.000 Hinrichtungen zu hoch gegriffen ist.11 Allerdings ist das von Minz erarbeitete originäre Material derart brisant, dass er es nach 1945 nur in ausgewählten Bruchstücken veröffentlichen darf. 5000 Protokolle verschwinden dagegen im Archiv des Instituts für Geschichte der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, wo sie der deutsche Historiker Jochen Hellbeck 2008 11 Anthony Beevor, Stalingrad, München 1999, S. 153.
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sichern und 2012 veröffentlichen kann.12 Sie zeigen, dass der Sieg in Stalingrad beileibe nicht nur auf Repression und Todesdrohungen „aus der zweiten Reihe“ zurückzuführen ist. Stalin hatte lange erwogen, einen General zum Befehlshaber in Stalingrad zu machen, der im Dezember 1941 erfolgreich Moskau verteidigt hatte, den er dann aber doch in einen der Kessel nahe Leningrad fliegen ließ, um die völlig eingeschlossene Stadt zu befreien. Der Name des Mannes ist Andrej Andrejewitsch Wlassow. 1900 bei Nischnij-Nowgorod geboren, sollte er nach dem Willen seiner Eltern Priester werden, brach das Studium jedoch ab, was Stalin irgendwie bekannt vorgekommen sein muss. 1919 trat er in die Rote Garde ein und zog gegen die reaktionären Gutsbesitzer zu Felde, 1930 wurde er Mitglied der kommunistischen Partei. Rasch steigt er in der militärischen Hierarchie nach oben, im Alter von 38 Jahren ist er Generalmajor. Er erhält Geheimberichte über den deutschen Besatzungsterror und drängt darauf, es den Deutschen „heimzuzahlen“. Im März 1942 erfolgt der Einsatz als Oberbefehlshaber im Wolchow-Kessel, wo er in deutsche Kriegsgefangenschaft gerät und ins Gefangenenlager Winniza überstellt wird. „Völlig erschöpft und angewidert von Stalins Fehlern“13 läuft er zum Feind über und erklärt, an der Niederwerfung des sowjetischen Systems mitzuwirken. In der Wehrmacht hatte zu dem Zeitpunkt bereits die Suche nach hochrangigen militärischen Kollaborateuren begonnen. Otto Bräutigam, der engste Berater Rosenbergs, hatte im Januar 1942 vorgeschlagen, eine „russische Gegenregierung“ unter einer „de Gaulle“-Figur einzusetzen, am besten mit einem General der Roten Armee. Je mehr sich die Lage in Stalingrad verschlechterte, umso intensiver forderte Gehlen „die fiktive Bildung einer nationalrussischen Scheinregierung“, aus der ein „Nationalkomitee zur Befreiung der Heimat“ hervorgehen sollte. Ein Mann wie Wlassow kam da genau wie gerufen, für Hitler allerdings „war dies die bitterste Pille, die er schlucken musste.“14 Bei jeder sich ergebenden Gelegenheit blockierte er jeden Schritt, der in Richtung einer „Russischen Befreiungsarmee“ ging, während Stauffenberg, der mit der entstehenden Wlassow-Bewegung eine grundsätzliche Neuorientierung der deutschen Politik herbeisehnte, sich so wie die anderen Vertreter der geheimen Militäropposition bedeckt halten musste. 12 Jochen Hellbeck, Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht, Frankfurt am Main 2012; vgl. auch: Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär (Hg.), Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt am Main 2012; Michael Kumpfmüller, Die Schlacht von Stalingrad. Metamorphosen eines deutschen Mythos, München 1995; Jörg Echternkamp, Die Schlacht als Metapher. Zum Stellenwert von „Stalingrad“ in Deutschland 1943–2013, in: Andreas Wirsching et al. (Hg.), Erinnerung an Diktatur und Krieg. Brennpunkte des kulturellen Gedächtnisses zwischen Russland und Deutschland seit 1945, Berlin und Boston 2015, S. 91– 105; Boris Kovalev, Alltag im besetzten Gebiet der RSFSR, in: ebd., S. 153–161. 13 Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des Roten Zaren, Frankfurt am Main 2005, S. 467; Oleg Chlewnjuk, Stalin. Eine Biographie, München 2015. 14 Mark Mazower, Hitlers Imperium, a. a. O., S. 423.
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Wlassows erster Aufruf, das sogenannte „Winniza-Flugblatt“, das in der zweiten Septemberhälfte an der Front verbreitet wurde, war ein voller Erfolg, weshalb in den „Propagandaplan Winter 42/43“ eine größere Aktion „von Russen zu Russen“ hineingenommen wurde. Sichtbarster Ausdruck war das „Smolensker Manifest“ vom 27. Dezember 1942, in dem es hieß: Deutschland erhebt keinen Anspruch auf den Lebensraum des russischen Volkes oder seine nationale und politische Freiheit. Das nationale Deutschland Adolf Hitlers hat sich die Neuordnung Europas ohne Bolschewisten und Kapitalisten zur Aufgabe gestellt, und in diesem neuen Europa wird jedem Volk sein ihm zukommender Platz angewiesen. Die Stellung des russischen Volkes in der europäischen Völkergemeinschaft wird von dem Maß seiner Mitarbeit im Kampf gegen den Bolschewismus abhängen, denn die Vernichtung Stalins und seiner Verbrecherclique ist vor allen Dingen eine Sache des russischen Volkes (…), das als gleichberechtigtes Mitglied der Völkerfamilie des neuen Europa lebe!15
Nachdem Rosenberg seine Zustimmung gegeben hatte, wurde es als Flugblatt in 40 Millionen Exemplaren über der Front und im sowjetischen Hinterland abgeworfen, doch der Erfolg war mäßig. Selbst der seit Jahrzehnten vom Ausland vollständig abgeschnittene und vom eigenen Regime zutiefst terrorisierte Sowjetmensch fiel auf den deutschen Propagandatrick nicht herein. Die zentralen Stellen in Berlin organisierten deshalb im Frühjahr 1943 Rundreisen Wlassows durch die besetzten Ostgebiete, um durch sein persönliches Auftreten die Existenz eines russischen Komitees zu belegen. Er wurde fast überall begeistert empfangen, während Hitler am 8. Juni 1943 erneut bekräftigte: „Wir bauen nie eine russische Armee auf, das ist ein Phantom ersten Ranges.“ Rosenberg hingegen flankiert und unterstützt Wlassows Werbefeldzug, indem er in einem „Merkblatt für die Truppe – zehn Gebote für den Umgang mit Einheimischen“ die Verwendung des Wortes „Untermensch“ verbietet und verlangt, „die Großrussen, Ukrainer und Weißruthenen (…) zur Völkerfamilie der Arier“ zu zählen (!). Natürlich war dies keine offene und ehrliche Überzeugung, es war aber, zumal nach der Katstrophe von Stalingrad, die Umsetzung der eigentlichen Erkenntnis und Botschaft von Wlassow: „Russland kann nur von Russen besiegt werden.“ Die Zahl der bewaffneten Russen beim deutschen Ordnungsdienst im Bereich der Heeresgruppe Mitte betrug zu dem Zeitpunkt bereits 100.000 Mann, alles andere als eine quantitée négligeable. Ihre Zusammenfassung oberhalb der Bataillonsebene blieb aber zunächst noch strikt untersagt. Stauffenberg konnte im Frühjahr 1943 in Dabendorf 1200 Russen, unter ihnen acht Generale, in einem „Schulungslager für Freiwillige“ mit der offiziellen Be15 Zit. nach Dieckmann, Quinkert und Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen, a. a. O., S. 281; vgl. als breite Einordnung: Michael Salewski, Kriegswenden: 1941, 1942, 1944, in: Horst Möller und Aleksandr Tschubarjan (Hg.), Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, Bd. 2, München 2005, S. 94–105, bes. S. 102 f.
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zeichnung „Ostpropagandaabteilung z. B. V.“ zusammenziehen. Die meisten waren aus Kriegsgefangenenlagern entlassen worden, um in eben diesen wieder tätig zu werden, zum Beispiel mit der in Dabendorf redigierten Zeitung „Dobrowolez“ („Der Freiwillige“). Das Problem, das in der gesamten Wlassow-Bewegung bis zum Schluss nicht gelöst wurde, war das Spannungsverhältnis zu den nichtrussischen Ostlegionen, deren Herauslösung aus den deutschen Heeresverbänden Wlassow (zusammen mit den russischen Hilfswilligen) verlangte, um aus all diesen Verbänden eine eigene Armee zu formieren. Als er auf einer weiteren Reise, diesmal bei der Heeresgruppe Nord, insbesondere von den „Hiwis“ triumphal gefeiert wurde, befahl Hitler, ihn wieder gefangen zu setzen und an der Front nur noch seinen Namen, nicht aber die Person zu verwenden. In Dabendorf, wo man nach wie vor an die Idee einer gegen Stalin zusammenwachsenden europäischen Vielvölkerfamilie glaubte, sprachen die Russen entmutigt von der uneinsichtigen „Selbstmörderrunde“ in der Wehrmachtsführung. Aber auch Wlassows Verhältnis zur SS war problematisch. Während die deutschbaltische Fraktion in der SS mit ihm eine eigene „Ostpolitik“ mit dem Fernziel eines deutschfreundlichen russischen Staates aufbauen wollte16, lehnte der Großteil der SS die rassische Aufwertung der Slawen ab. Himmler bezeichnete Wlassow am 6. Oktober 1943 als „russisches Schwein“, und da Hitler die Mehrzahl der Ostlegionen nach Frankreich verlegen ließ, sah Wlassow seine ganze Sache verraten. Das Einzige, was ihm entgegenarbeitete, war die Entwicklung der Kriegslage. Weil nach den schweren Verlusten vom Herbst 1943 nochmals 560.000 Mann an die Front geworfen wurden, mussten allein 260.000 von ihnen durch russische „Hiwis“ ersetzt werden. Wlassow, der General, der als Erster eine deutsche Armee geschlagen hatte, galt auf einmal als „rettender Strohhalm“, ja als „Wunderwaffe“, auf jeden Fall als „letzte Chance, die Initiative im Osten zurück zu gewinnen“17. Zum Wendepunkt wurde die Einrichtung der „Freiwilligen-Leitstelle Ost“, ein untergeordnetes Amt des RSHA. Sie war von deutschbaltischen SS-Leuten durchsetzt. Zwar trugen die Dabendorfer schon seit 1943 an ihren deutschen Uniformen das Abzeichen ROA für „Russische Befreiungsarmee“, ins Leben gerufen sah sie sich aber erst (ohne Rücksprache mit Hitler) nach einem Treffen zwischen Wlassow und Himmler am 18. September 1944 im Führerhauptquartier bei Rastenburg. Die Heeresgruppe Mitte war gerade vollständig zusammengebrochen, und Himmler hatte nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli den Oberbefehl über das Ersatzheer übernommen. Zwei Mo16 Matthias Schröder, Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlasov 1942–1945. „Rußland kann nur von Russen besiegt werden“: Erhard Kroeger, Friedrich Buchardt und die „Russische Befreiungsarmee“, Paderborn [u. a.] 2003. 17 Matthias Schröder, „Denkmal Vlasov“ – Zur politischen Instrumentalisierung des russischen Kollaborateurs General Vlasov im Zweiten Weltkrieg und zur Rezeptionsgeschichte nach 1945, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 434–442, hier: S. 435.
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nate später verkündete Wlassow das „Prager Manifest“ zum „Sturz der Tyrannei Stalins“, nachdem er in einer großen Festveranstaltung auf dem Hradschin zum Vorsitzenden des „Komitees zur Befreiung der Völker Russlands“ ernannt worden war. In die ROA sollten ursprünglich nur Russen und Weißrussen eintreten dürfen, doch diktierte der Kriegsverlauf auch hier schnell neue Kriterien. Das Führungspersonal der nichtrussischen Nationalverbände hat gleichwohl bis zum Schluss jedwede Zusammenarbeit mit Wlassow abgelehnt, weil es in ihm nichts anderes als die Verkörperung nationalistischen Großrussentums wie unter den weißen und roten Zaren sah.18 Seinen im „Prager Manifest“ (das im Übrigen Hitler und den Nationalsozialismus mit keinem einzigen Wort erwähnte) geäußerten Versicherungen einer gerechten Politik gegenüber allen Völkern der Sowjetunion schenkte man keinen Glauben. Trotzdem befanden sich in der 100.000-Mann-Armee, deren Oberbefehl Wlassow am 28. Januar 1945 von Hitler übertragen wurde, auch Kalmyken, Tataren und bald auch Pannwitz’ Kosaken. Wlassows konkretes Tun und damit sein Bild in der Geschichte schwanken erheblich. Die Urteile reichen vom „feigen Verräter“ und „Quisling von Russland“ bis zum „Märtyrer“ und „russischen de Gaulle“. Erfolgreich hat er, der mit der Witwe eines hohen deutschen SS-Offiziers verheiratet war, sich allen Versuchen Himmlers widersetzt, seine Verbände in die SS eingliedern zu lassen. In seiner Truppenaufstellung, die den Status der Armee eines verbündeten Staates (!) bekam, sehen einige nur ein „quichotteskes Unternehmen“19, wofür die Tatsache spricht, dass seine Soldaten in keine effektive Kampfhandlung des Zweiten Weltkriegs eingegriffen haben. Den einzigen echten Einsatz hat seine Erste Division gegen die Deutschen ausgeführt, indem sie tschechischen Aufständischen half, die SS von der Prager Burg zu vertreiben. War das ein Wink an die Westalliierten, so wie schon die 14 Punkte des „Manifests“ von vielen als klares Signal an Washington und als Andeutung mit Blick auf Woodrow Wilsons Punkte von 1918 verstanden worden waren? Wlassow fand bei den Amerikanern keine Gnade, rätselhaft bleibt aber auch hier, warum er die mehrfach offerierten Möglichkeiten zur Flucht ausschlug. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es die U.S. Army, die seinen Konvoi am 12. Mai 1945 in die Hände der Sowjets dirigiert und damit einen Mann ausgeliefert hat, der möglicherweise nie daran dachte, Hitler, die Wehrmacht und die Ostfront zu retten, sondern der im Dritten Reich mit eigener militärischer Basis überwintern und dann den Befreiungskampf mit neuen Partnern fortsetzen wollte. In toto und mit Blick auf das gesamte Kriegsgeschehen fallen die Aktivitäten Wlassows, der von der Militärkammer des Obersten Gerichts der UdSSR in Moskau zum Tode verurteilt und am 2. August 1946 zusammen mit neun seiner Generale aufgehängt wurde, 18 So auch Hass, Deutsche Okkupationsziele, a. a. O., S. 282. 19 Mazower, Hitlers Imperium, a. a. O., S. 426; vgl. auch: Jürgen Thorwald, Die Illusion. Rotarmisten in Hitlers Heeren, München 1976 und Valentin Bojzow, Aspekte der militärischen Kollaboration in der UdSSR von 1941–1944, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 293–317.
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weit weniger ins Gewicht als das, was die endlosen Karawanen aus russischen Freiwilligen, Überläufern und „Hiwis“ in und für Hitlers Rassen- und Vernichtungskrieg getan haben. Ihre Zahl wird in seriösen Forschungen inzwischen auf 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen geschätzt.20 Ohne sie wäre das „Unternehmen Barbarossa“ spätestens nach dem Unternehmen Stalingrad zusammengebrochen. Am Beginn des 20. Jahrhunderts lebte im russischen Zarenreich die Hälfte aller Juden der Welt. Mit 7,25 Millionen Menschen bildeten sie die viertgrößte Ethnie in dem Vielvölkerstaat. Versteckten, offenen und sich bis zu Pogromen steigernden Antisemitismus hatte es in Russland seit Hunderten von Jahren gegeben. Auch die Oktoberrevolution und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken hatten hier keine nennenswerte Änderung gebracht. Stalins Große Säuberung der 1930er Jahre besaß eine unverhohlen antijüdische Stoßrichtung. Zu Recht wird hier als cause célèbre immer wieder die Entlassung des jüdischen Außenministers Maxim Litwinow im Mai 1939 genannt. Vor dem Zweiten Weltkrieg beherbergte die Sowjetunion noch 5,2 Millionen Juden, von denen 10 Prozent unmittelbar nach dem deutschen Überfall fliehen konnten. In den besetzten Gebieten waren 3,65 Millionen dem Zugriff von Wehrmacht und SS ausgesetzt, den 3 Millionen nicht überlebt haben. In diesen gigantischen Mord ist die nichtjüdische Bevölkerung der Sowjetunion in einem ungeheuren Ausmaß verwickelt. Überlebende Juden galten nach dem Krieg per se als Kollaborateure der Deutschen, weil jeder davon ausging, dass sie nur so ihr Leben retten konnten.21 Anfangs waren die Bauern mit ihren Karren den Einsatzgruppen der SS nur gefolgt, um das Ende der Tötungen teilnahmslos abzuwarten und dann das ganze Schtetl auszuplündern, aber schnell entfaltete sich eine ganze andere Dynamik. Die Radikalisierung des Mordens ging mit einer Partizipation und Enthemmung der Nachbarn und Anwohner einher, von denen nur die wenigsten zu ihren Handlangerdiensten gezwungen werden 20 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 2, a. a. O., S. 42, Anm. 22. 21 Anika Walke, „Wir haben über dieses Thema nie gesprochen“. Jüdischer Überlebenskampf und sowjetische Kriegserinnerung, in: Brumlik und Sauerland (Hg.), Umdeuten, verschweigen, erinnern, a. a. O., S. 13–29, hier: S. 28; hierzu umfassend: Frank Grüner, Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941–1953, Köln und Weimar 2007; zu Kollaboration, Gleichgültigkeit und Hilfe: Joshua Rubenstein und Ilya Altmann (Hg.), The Unknown Black Book. The Holocaust in the German-Occupied Soviet Territories, Bloomington 2008. Sergej Kudryashov und Matthias Uhl betonen, dass „zu kollaborieren immer eine bewusst getroffene Entscheidung war“, auch wenn die Handlungsspielräume äußerst eingeschränkt waren. „Eine ‚unschuldige‘ oder gar ‚unbeabsichtigte‘ Kollaboration existierte demnach nicht“; dies., Die russische Kollaboration während des Krieges 1941–1945, in: Quinkert und Morré (Hg.), Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941–1944, a. a. O., S. 219–228, hier: S. 220. Nach Auswertung örtlicher Archive in Pskov, Smolensk, Brjansk und Kursk stellen Kudryashov und Uhl klipp und klar fest, dass die russische Polizei den Deutschen überall bei der Suche nach den Juden geholfen und gezielt Personen denunziert hat, um sich des Besitzes der Juden zu bemächtigen (S. 221). So auch Snyder, Black Earth, a. a. O., S. 212 f.
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mussten. Im weißrussischen Trostenez, zwölf Kilometer südöstlich von Minsk, dem größten Vernichtungslager auf sowjetischem Boden, leisteten pro Tagesschicht 1000 Häftlinge unter der Kontrolle von 200 einheimischen Kollaborateuren Zwangsarbeit. Die Todesrate wird in der westlichen Historiografie auf insgesamt 60.000 Menschen geschätzt, in der östlichen auf 206.000. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Es waren Juden aus dem Minsker Ghetto, aus Berlin, Hamburg, Bremen und Düsseldorf, aber auch sowjetische Kriegsgefangene und weißrussische Partisanen befanden sich unter den Opfern. Überlebende Juden verschwanden später wegen „Spionage“ im Gulag. Stalin verordnete mit Blick auf Trostenez absolutes Schweigen, soll es doch dank der Roten Armee auf dem Boden der Sowjetunion kein einziges Vernichtungslager gegeben haben, wie er schon während der Nürnberger Prozesse verkündete. Der erste Grundstein für eine Gedenkstätte wird am 8. Juni 2014 (!) auf dem Lagergelände durch Präsident Lukaschenko gelegt. In allen Marschplanungen der Roten Armee 1944/45 hat es nicht einen einzigen Befehl zur Einnahme und Befreiung der deutschen Vernichtungslager gegeben, die alle in bequemer Reichweite der sowjetischen Bomberflotte lagen. Im Gegenteil, Stalin enthielt seiner Generalität die umfassenden Informationen, die er über das Lagersystem besaß, vor. Was die berühmte Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 betraf, die heute in Deutschland mit einem jährlichen Gedenktag begangen wird, so achtete er persönlich darauf, dass in der Presse hierzu kein einziges Wort veröffentlicht wurde. Der Holocaust hatte in der offiziellen Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ keinen Platz. Wer es trotzdem wagte, von ihm zu sprechen oder gar zu schreiben, musste mit empfindlichen Strafen rechnen. Die Staatskommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen legte schon 1944 fest, dass in Zusammenhang mit den Massakern die (erheblichen) jüdischen Opferanteile nicht erwähnt werden durften, um „das Ausmaß an lokaler antisemitischer Kollaboration mit den deutschen Mördern herunterzuspielen.“22 Als die Westalliierten in ihren Zeitungen mit immer neuen Bildern und Belegen über die unvorstellbaren Dimensionen industrieller Massentötungen durch Deutsche berichteten, entfesselte Stalin eine systematische Judenverfolgung im eigenen Land. Den Auftakt bildete der als Verkehrsunfall getarnte Mord an dem Vorsitzenden des „Jüdischen Antifaschistischen Komitees“ (JAFK) der Sowjetunion, Solomon Michoëls, am 13. Januar 1948. Über die Motive, Wurzeln und Gründe für die hiermit begonnene Eliminierungskampagne ist lange gerätselt worden, zumal der Beweis, dass der Mordbefehl direkt und persönlich von Stalin kam, erst 1992 erbracht wer-
22 Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 2, a. a. O., S. 53; Larissa Lissjutkina, Ewige Juden, ewiges Rußland? Das Janusgesicht des russischen Antisemitismus, in: „Kommune“, Nr. 5/2006, S. 92–97; Il’ja Al’tman, Der Stellenwert des Holocaust im historischen Gedächtnis Russlands, in: Wirsching et al. (Hg.), Erinnerung an Diktatur und Krieg, a. a. O., S. 213–225.
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den konnte.23 Die Wahrheit spricht jeder Spekulation und Befürchtung Hohn. Stalin war durch den Überfall Hitlers in das Bündnis mit Churchill und Roosevelt getrieben worden und hatte nach außen so tun müssen, als würde er die Juden seines Landes schützen. Das mochte im Krieg noch ganz nützlich sein, im Kalten Krieg sah sich der Kremlherr aber an nichts mehr gebunden. Eine symbolträchtige, eindeutige Aktion musste her, und da bot sich die hochangesehene Person von Michoëls, Vorsitzender des 1942 gegründeten JAFK, geradezu an. Mit seinen vielfältigen internationalen Kontakten wurde er zum Anführer der „fünften Kolonne“ in Moskau deklariert. Jüdische Verlage, Zeitungen und Theater mussten schließen. Von 1949 bis 1958 durfte in der Sowjetunion kein einziges jüdisches Buch erscheinen. Als größtes Projekt hatte das JAFK ein Schwarzbuch über die Judenverfolgung durch die Deutschen in russischer, englischer und jiddischer Sprache herausgebracht. Es ist in der Sowjetunion nie erschienen. Seine Druckplatten wurden restlos zertrümmert. Zur Begründung hieß es, „der Leitgedanke des ganzen Buches (sei) die Vorstellung, dass die Deutschen nur mit dem Ziel gegen die UdSSR Krieg geführt haben, um die Juden auszurotten“24 – genau das war es, was in Hitlers Kriegszielplanung die absolute ideologische Priorität besaß. Nach dem Krieg war für Stalin die Zeit gekommen, endlich die „Lösung“ der „jüdischen Frage“ in Angriff zu nehmen. Noch kurz vor seinem Tod am 5. März 1953 lässt er von den Moskauer Hausverwaltungen Listen aufstellen, um alle Juden aus der Stadt zu deportieren. Sie sollten auf Todesmärschen in den Osten geschickt werden. In den Güterbahnhöfen rund um die Hauptstadt konzentrierte man bereits Viehwaggons für den Abtransport, zunächst der „reinrassigen“ und dann der „Halbjuden“. Der zaristische und der kommunistische Antisemitismus sind durch den Holocaust unterbrochen worden; einen grundsätzlichen Einstellungswandel, wie im Westen, hat er nicht bewirkt. Seit der Zeitenwende 1990/91 gibt es in Russland zwar keine staatlich gesteuerte Judendiskriminierung mehr, der Antisemitismus von unten ist in der Gesellschaft aber fest verankert. Für den Rubelsturz 1998 werden „jüdische Oligarchen“ verantwortlich gemacht. 2005 fordern Duma-Abgeordnete in ihrem „Brief der 19“ die Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation dazu auf, alle jüdischen Einrichtungen zu verbieten. Russische Übersetzungen des Auschwitz-Leugners David Irving finden reißenden Absatz. Der russische Sektor des Live Journals mit einer halben Million Blogs dürfte das weltweit größte virtuelle antisemitische Dialogforum sein. Von 1967, seitdem eine Ausreise wieder möglich ist, 23 Alexander Borschtschagowski, Orden für einen Mord. Die Judenverfolgung unter Stalin, Berlin 1997, S. 85 ff. 24 Nicolas Werth, Ein Staat gegen sein Volk, in: Stéphane Courtois et al. (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998, S. 51–299, hier: S. 270; Wassili Grossman, Ilja Ehrenburg und Arno Lustiger (Hg.), Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, Reinbek bei Hamburg 1994; Norman M. Naimark, Stalin und der Genozid, Berlin 2015.
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bis heute haben anderthalb Millionen Juden die Sowjetunion bzw. Russland verlassen, wo inzwischen nur noch 700.000 Menschen ihres Glaubens leben. Fachleute urteilen, dass für sie die Gefahr eines „blutigen Kataklysmus“25 immer noch nicht gebannt ist. Millionen von Menschen hatten nach dem Zweiten Weltkrieg gehofft, dass die unsäglichen Opfer, die ihnen abverlangt worden waren, sich in einem normaleren, freieren und besseren Leben auszahlen würden, aber sie sollten sich täuschen. Schon die Anrede, mit der Stalin – der eigentliche Versager des Krieges – seine „Wahlrede“ vom 9. Februar 1946 begann, ließ aufhorchen. Hatte er im November 1941, als die Deutschen noch unmittelbar vor Moskau standen, mit „Brüder und Schwestern“ begonnen, so heißt es jetzt lediglich „Genossen“. Gesiegt hatte auch nicht der Sowjetbürger, sondern das „System“, das dadurch aber keineswegs gefestigt, sondern nach wie vor bedroht war. An die Stelle des realen äußeren Feindes trat jetzt wieder, wie in den 1930er Jahren, der unsichtbare innere, der mit dem auswärtigen nach wie vor kollaborierte. Der Krieg war zu Ende, aber der Belagerungszustand ging weiter. Die wohl größte Ernüchterung und Enttäuschung kam dorther, wo das Volk am ehesten Liberalisierung und Freiheit erwartet hatte, aus dem System der Lager, dem Gulag, der nach 1945 eine grausame Renaissance erfuhr. Er galt als die Lösung aller politischen, gesellschaftlichen und strafrechtlichen Probleme, als moralische und soziale Besserungsanstalt. Besonders hart traf es die Insassen der sogenannten katorga-Lager. Zur katorga, einem Begriff aus der zaristischen Zeit, sah sich verurteilt, wer Vaterlandsverrat begangen hatte. Dazu zählten insbesondere die Kollaboration mit den Besatzern, Verhältnisse von Frauen mit Deutschen sowie die Weigerung, sich während des Vormarsches der Wehrmacht evakuieren zu lassen. Ab 1948 werden die Paragraphen derartig verschärft, dass fast alle Neuankömmlinge entweder zu 25 Jahren Haft oder gleich zu lebenslänglich verdammt sind. Vom Januar 1944 bis zum Januar 1946 betrug die Zuwachsrate in den Lagern 45 Prozent. Verantwortlich für diese Entwicklung ist nicht zuletzt die bereits 1941 begonnene Einrichtung von „Kontroll- und Filtrationslagern“, in die alle Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter kamen, die vom Feind entlassen worden waren, zusammen über fünf Millionen Menschen. Sie galten als potentielle Spione und als „verseucht“. Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 war der Sowjetunion konzediert worden, alle Menschen außerhalb ihrer Grenzen zurückzuholen, zwangsrepatriiert sollten jedoch nur jene werden, die kollaboriert oder sogar eine deutsche Uniform getragen hatten. Schon in einer am 11. November 1944 verbreiteten Erklärung hieß es: Die Sowjetmacht sorgt sich vor allem um das Schicksal seiner in die nationalsozialistische Sklaverei geratenen Kinder. Sie werden als Kinder des Vaterlandes ehrenvoll zu Hause empfangen werden. Die Sowjetregierung ist der Meinung, dass selbst jene Sowjetbürger, die vom nazistischen Terror bedroht gegen die Interessen der UdSSR gehandelt haben, wegen ihrer
25 Lissjutkina, Ewige Juden, ewiges Rußland?, a. a. O., S. 97.
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Taten nicht zur Rechenschaft gezogen werden, sofern sie nach der Rückkehr in ihr Vaterland bereit sind, ihre Bürgerpflicht ehrenhaft zu erfüllen.26
Die Wirklichkeit sah so aus, dass am 11. Mai 1945, drei Tage nach Kriegsende, 100 weitere Kontroll- und Filtrationslager für je 10.000 Personen aus dem Boden gestampft werden, die alle „Rückkehrer“ durchlaufen müssen – zweieinhalb Millionen Zivilisten, Zwangsarbeiter und Westflüchtlinge sowie anderthalb der ursprünglich über fünf Millionen Kriegsgefangenen, die den Hungerterror in den deutschen Lagern überlebt hatten. Von diesen zusammengerechnet vier Millionen „Repatrianten“ sind exakt 43 Prozent, die meisten wegen „Landesverrats“, in entlegenen Sondersiedlungen, Strafbataillonen, „besonderen Zuchtlagern“ und im Gulag gelandet. Es waren maßgeblich jene Menschen, denen die Sowjetunion ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg zu verdanken hatte. 700.000 von ihnen, die „Repatriierungsverweigerer“, wussten um ihr Schicksal und baten darum, statt der Rückführung in ihre Heimat im feindlichen, aber sicheren Deutschland bzw. in anderen westeuropäischen Ländern bleiben zu dürfen. 1945, das Jahr, in dem Stalin sich dem Westen als Lichtgestalt zu präsentieren beginnt, sitzen fünfeinhalb Millionen Gefangene in den unterschiedlichsten Kategorien seiner Lager. Dies war und blieb der traurige Rekord in dem Zeitalter, das seinen Namen trägt. Von 1941 bis 1945 waren bereits über 150.000 Todesurteile wegen vermeintlicher Desertion, „Panikmache“ oder „Verrat“ ergangen. Am 19. April 1943 hatte Stalin eine neue Sicherheitsbehörde mit dem martialischen Namen „Smersch – Tod den Spionen“ geschaffen, die sich nicht nur um die „Komplizen der faschistischen Eindringlinge“ kümmern sollte, sondern mit der faktisch ein Generalverdacht gegen die gesamte eigene Bevölkerung erhoben wurde, dem eine lange Lebensdauer beschieden war. Noch 1967 betonte der KGB-Chef Jurij Andropow das hohe Gefährdungspotential, das von den Kriegsheimkehrern für den Bestand der Sowjetunion ausgehe, und bis weit in die 1980er Jahre hinein wurden sie in der Gesellschaft als misstrauisch beäugte Außenstehende und Auszugrenzende betrachtet, die gut daran taten, über das, was sie erlebt
26 Zit. nach Werth, Ein Staat gegen sein Volk, a. a. O., S. 255; hierzu: Ulrike Goeken-Haidl, Der Weg zurück. Die Repatriierung sowjetischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Essen 2006. „In den Lagern für Displaced Persons konnten die Internierten nur durch Zwang dazu veranlasst werden, in ihre Heimat zurückzukehren. Die sowjetischen Repatriierungsoffiziere drohten ihnen mit der Verhaftung ihrer Verwandten, sollten sie sich weigern, in ihre Heimat zurückzukehren“; Jörg Baberowski, Verwüstetes Land: Die Sowjetunion nach Holocaust und Krieg, in: „Deutschland Archiv 2015“, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016, S. 123–132, hier: S. 128. Natascha Wodin schildert eindrucksvoll die Angst ihrer Eltern vor der Zwangsrepatriierung in: dies., Sie kam aus Mariupol, Reinbek bei Hamburg 2017; Pavel Polian, „Das unbekannte Denkmal des namenlosen Repatriierten“: Repatriierte aus Deutschland im gesellschaftlichen Gedächtnis der Sowjetunion und Russlands, in: Wirsching et al. (Hg.), Erinnerung an Diktatur und Krieg, a. a. O., S. 179–190.
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hatten, zu schweigen.27 Am 24. Januar 1995 setzt Boris Jelzin sie in einem PräsidentenUkas wieder in ihre gesetzlichen Rechte ein, als es für die meisten längst zu spät ist. „Es ist deswegen gerechtfertigt, von einer stalinistischen Strukturkontinuität bis in die Zeit der Perestroika hinein zu sprechen.“28 Lilia Shevtsova stellt sogar 2006 in Russland eine „um sich greifende ‚Spionomanie‘“ fest, wenn es darum geht, mit dem Westen zusammenarbeitende Einrichtungen zu diskreditieren und zu kriminalisieren.29 Natürlich bleibt in diesem historisch äußerst langfristig wirksamen Konstrukt, jeden mit dem Ausland, speziell mit den Deutschen Kontaminierten zum Verräter zu stempeln, die Frage, wie die Behandlung und Bestrafung der tatsächlichen Kollaborateure aussah, jenes 1,2 Millionen Menschen starken Heeres aus Domestiken, Fahrern, Helfern, Köchinnen, Wachen, Dienern, Kalfaktoren, Dolmetschern sowie Wehrmachts- und SSSoldaten, das sich dem Aggressor schon seit den Junitagen 1941 zur Verfügung gestellt hatte. Die „Staatliche Sonderkommission zur Feststellung und Untersuchung von Verbrechen der deutschen faschistischen Invasoren und ihrer Helfershelfer“ nahm 1941 ihre Arbeit auf. Schon im Folgejahr werden gegen 16.000 Sowjetbürger Verfahren eröffnet. Nach dem Sieg in Stalingrad und um von den Leichenfunden in Katyn abzulenken, lässt Stalin am 19. April 1943 den Ukas „Über Maßnahmen zur Bestrafung der deutschen faschistischen Übeltäter, schuldig der Tötung und Misshandlung der sowjetischen Zivilbevölkerung und der gefangenen Rotarmisten, der Spione, der Verräter der Heimat unter den sowjetischen Bürgern und deren Mithelfern“ folgen. Dieser „Ukas 43“, in dem die Verbrechen an den Juden nicht erwähnt werden, galt rückwirkend. Er schrieb in der Regel Schauprozesse und bei verhängter Todesstrafe öffentliche Hinrichtungen vor. Bis 1953 wurden nach ihm 56.571 Sowjetbürger verurteilt, 1400 von ihnen zum Tode. Auch wenn 1955 immer noch mehrere Zehntausend Verfahren anhängig waren, so ändert dies nichts daran, dass nur ein Bruchteil der Kollaborateure auch tatsächlich belangt worden ist. Die Kriegsgefangenen, Eingekesselten und Invaliden, unschuldige Menschen, kamen nicht so gut davon. 27 Orlando Figes, The Whisperers. Private Life in Stalin’s Russia, London 2007; Andreas Hilger, Besiegte Sieger. Ehemalige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter des Zweiten Weltkriegs in der UdSSR und in Rußland, in: Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 92– 111; Jutta Scherrer, Sowjetunion/Rußland. Siegesmythos versus Vergangenheitsaufarbeitung, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 2, S. 619–657. 28 Stefan Plaggenborg, Sowjetische Geschichte nach Stalin, in: APuZ, Nr. 1–2/2005, S. 26–32, hier: S. 28; ders. (Hg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 5 (2 Teilbde.): 1945–1991. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, Stuttgart 2002–2003; Susanne Schattenberg, Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins, Wien, Köln und Weimar 2017; Karl und Poljanski (Hg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Rußland, a. a. O. 29 Lilia Shevtsova, Bürokratischer Autoritarismus. Fallen und Herausforderungen, in: APuZ, Nr. 11/2006, S. 6–13, hier: S. 7.
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Im Übrigen wurde und wird das Wort „Kollaborateur“ in der offiziellen sowjetischen Erinnerungspolitik vermieden, wo immer dies möglich ist. Das waren „Außenseiter“, „Volksfeinde“ und „Fremdkörper“, um die kein großes Aufheben gemacht werden sollte. Auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ von 1941 bis 1945, dessen schüchterne „Entsakralisierung“ (Jutta Scherrer) gerade erst begonnen hat, darf kein Schatten fallen. Die offizielle Zahl der gefallenen Rotarmisten, 9.164.400 Menschen, liegt erst seit 1998 vor. Bis heute ist das Wort „Weltkrieg“ für staatliche Organe praktisch tabu, denn mit seiner Verwendung müsste man sich auch den Jahren von 1939 bis 1941 und damit dem Angriffskrieg gegen Polen, Finnland, Rumänien und die baltischen Staaten stellen. Nicht wenige Stimmen argumentieren, dass diese selektive, verhüllende und unreflektiert patriotische Gedächtnispolitik „maßgeblich zum Zerfall der Sowjetunion beigetragen hat.“30 Doch auch danach war der Umgang mit dem Vergangenen den Herrschenden eigentlich nur dann willkommen, wenn er der Entlastung, Kompensation oder Heroisierung der Gegenwart diente, und der Kristallisationspunkt in diesem Prozess war und ist die Politik und Person Stalins. Chruschtschows berühmter, drei Jahre nach Stalins Tod auf dem XX. Parteitag der KPdSU vorgetragener Rapport „Über den Personenkult und seine Folgen“ hatte im Wesentlichen eine innergesellschaftliche Funktion gehabt, denn die Millionen Kriegsgefangenen und Zwangsdeportierten, die auf direkte Weisung Stalins aus deutschen in sibirische Lager überstellt worden waren, kamen verschüchtert und ängstlich zurück. Das Russland, das inhaftiert gewesen war, und das Russland, das inhaftiert hatte, sahen sich in die Augen. Dieser potentielle, gefährliche Sprengstoff musste entschärft werden – mit Aufarbeitung der Geschichte hatte dies wenig zu tun. Stalins vollständiges Versagen in den ersten Kriegswochen wird allerdings erstmals schonungslos dargelegt. Der Gesellschaftstyp, der sich von nun an herausbildete, war poststalinistisch, aber nicht posttotalitär. Der Staat blieb der alles Reglementierende und alles bestimmende Monolith, der immer weniger regeln konnte, dem die Kontrolle immer mehr entglitt und der unter Breschnjew zum bequemen Großen Vaterländischen Narrativ zurückkehrte. Eine tatsächliche, aber früh und abrupt wieder abgebrochene Entstalinisierung gab es erst unter Gorbatschow, der dazu aufforderte, „die weißen Flecken“ in der sowjetischen Geschichte zu tilgen und die „Wahrheit der Vergangenheit“ zu erforschen. Geblieben ist davon nicht viel. Schon die Putschisten, die Gorbatschow im August 1991 für drei Tage von der Macht entfernten, antworteten in aller Offenheit auf die Frage, was sie eigentlich wollten: das Erbe Stalins retten. 30 Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, a. a. O., S. 255; Zägel, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 2, a. a. O., S. 35, Anm. 15; Immo Rebitschek, Feindbilder auf dem Prüfstand – Sowjetische Kollaborateure im Fokus der Revisionskommissionen, 1954 und 1955, in: „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas“, Nr. 2/2017, S. 262–281; Martin Malek und Anna Schor-Tschudnowskaja (Hg.), Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen – Hintergründe, Baden-Baden 2012.
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1988 gründete sich unter maßgeblicher Beteiligung Andrej Sacharows die „Memorial-Gesellschaft“, die vergleichbar zu den Nürnberger Prozessen ein öffentliches Tribunal über den Stalin-Terror einfordert. Worum es geht, ist die Frage der historischen Kontinuität, des Wann und Wohin des „In-die-Geschichte-Zurückkehrens“. Übergreifendes (Lern-)Ziel ist die „russische Idee“, die – als bewusste Antwort auf den Westen – einen eigenen Zivilisationstyp und eine eigene Tradition beinhaltet und die in „Russlands Wiedergeburt“ als machtvolles Reich einmünden soll. Über dessen vage, diffuse und mythische Konturen weiß man bislang wenig, bis auf die Tatsache, dass es ohne den starken Mann mit der eisernen Hand nicht auskommen und bestehen wird. Wir sind bei Putin, den Boris Jelzin in quasi monarchischer Investitur und Inthronisation mit dem Silvestergeläut zur Jahrtausendwende als seinen Nachfolger empfahl. Seine Aufgabe ist nicht leicht und sein Anspruch nicht klein. Fast niemand war überrascht, als er gleich in seiner ersten Rede den Weg zum „Großen Russland“ (Welikaja Rossija) im erneut verklärenden Blick auf die eigene Geschichte suchte, das auf dem imperialen Fundament der Zaren- und der Sowjetzeit gegründet werden soll. „Der Zerfall der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, so verkündet er es 2005 in seiner Jahresbotschaft, die man mit Fug und Recht als Beginn des Putinismus in Russland und eines aus der Geschichte irgendwie bekannten Personenkults bezeichnen kann. Er verlangt eine „angemessenere“ Darstellung des Zweiten Weltkriegs in den Geschichtsbüchern, eine „militärisch-patriotische“ Erziehung der Jugend und „Stolz auf das eigene Land“. In den Massenmedien muss die „Entstellung und Fälschung der Geschichte“ verhindert, das heißt, sie darf nur „vaterländisch“ interpretiert werden. Die Nationalhymne hatte schon zum 1. Januar 2001 eine neue und zugleich altbekannte Änderung erfahren. Mit der überwältigenden Mehrheit von 381 gegen 51 Stimmen liberaler Abgeordneter beschloss die Duma, dass in Zukunft „ein ewiges Bündnis von Volksrepubliken, in Freiheit aus unserem Großrussland entstanden“ gesungen wird. Der Text stammt von Sergej Michalkow, der schon die Hymne auf Stalin schrieb, und das Lied folgt der Weise, nach der es schon von 1944 bis 1991 gesungen worden war. Aus dem Häuflein der Gegenstimmen hieß es resigniert, dass die Zeile „Stalin erzog uns zur Treue am Volk“, die Chruschtschow gestrichen hatte, am besten auch gleich wieder hätte übernommen werden können. Was sie damals selbst kaum glaubten, sollte 2010 Wirklichkeit werden. Wenn auch nicht in der Nationalhymne, so prangt der Spruch frisch restauriert auf einem Fries der Moskauer U-Bahn-Station „Kurskaja“. Ein unterschwelliger Stalin-Kult ist wahrscheinlich nie ganz aus Russland verschwunden. Anfang 1985, noch wenige Wochen vor der Machtübernahme Gorbatschows, wurde in KPdSU-Zirkeln der Beschluss vorbereitet, einen Moskauer Stadtteil in „Stalingrad-Bezirk“ umzubenennen und für Wolgograd wieder die alte Bezeichnung einzuführen. Was damals noch an Glasnost und Perestroika scheiterte, kam sechzehn Jahre später erneut auf die Tagesordnung. Der zuständige Gouverneur schlug, wohl auch unter dem Druck von Veteranen, 2001 abermals die Rückbenennung der Wolga-
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metropole nach dem georgischen Diktator vor, weil über seinen „Fehlern“ und „Gesetzesverletzungen“ auch die „großen Siege“ nicht vergessen werden dürften. Die Tatsache, dass das „militärische Universalgenie“ Stalin gerade in der Schlacht um Stalingrad, genauso wie im Juni 1941, schwere und schwerste Fehlentscheidungen getroffen hat und dass alle Truppenverlegungen in die Wolgametropole gegen sein Wissen und seinen Willen erfolgt sind, das trauten sich russische Historiker erst 2010 zu formulieren.31 Noch im Frühjahr 1945, beim Marsch auf Berlin, versagt das „Genie“ erneut. Erst ganz langsam wagt man es, in Moskau die Frage aufzuwerfen, ob der Zweite Weltkrieg nicht wegen, sondern trotz Stalin gewonnen wurde. Dem Meisternarrativ hat dies bislang noch nichts anhaben können. 2004 wird der Gedenkstein „Wolgograd“ an der Kremlmauer in „Stalingrad“ umbenannt, 2013 erfolgen in der Stadt selbst erneute Umbenennungsinitiativen. Zwar ist der 2005 eingeführte „Tag der nationalen Einheit“ von der Bevölkerung kaum angenommen worden, aber der Verharmlosung und Verherrlichung des großen Diktators hat das keinen Abbruch getan. Ein russischer Historiker urteilt: „Stalin ist bei all seiner konkreten Historizität eine mythische Gestalt, deren Wurzeln tief in das alttestamentarische Stratum unserer Kultur reichen, in der die Mission des Volkes jegliche Härte des Zaren zur Verwirklichung dieser Mission legitimierte.“32 Der finale Denkmalsturz dürfte deshalb noch auf sich warten lassen. Das in Gori, seiner Heimatstadt, ließ man 2010 in einer nächtlichen Geheimaktion demontieren, nachdem sich viele Georgier dagegen ausgesprochen hatten, während in Russland zusätzlich zu den (be-)stehenden zweihundert etliche Dutzend neu installiert wurden. Im gleichen Jahr wird ein Geschichtsprofessor in Archangelsk festgenommen, weil er ein Forschungsprojekt über die Massendeportationen unter Stalin initiiert hat. Der Aufschrei der Öffentlichkeit bleibt aus. Stattdessen tobte vor und hinter dem Ural ein Bilderstreit, ob zu den Siegesfeiern am 9. Mai 2010 (wieder) Stalin-Plakate präsen31 Aleksandr Boroznjak, Stalingrad: Evolution der historischen Erinnerung, in: Horst Möller und Aleksandr Tschubarjan (Hg.), Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, Bd. 4, München 2010, S. 39–48; Bernd Bonwetsch, Erinnerungskultur in Deutschland und Rußland: Der Zweite Weltkrieg im nationalen Gedächtnis, in: ebd., S. 24–38. 32 Aleksandr Schubin, 1939–1941: Der Kampf der historischen Mythen im heutigen Rußland, in: Möller und Tschubarjan (Hg.), Mitteilungen der gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, Bd. 2, a. a. O., S. 15–23, hier: S. 15; weiterführend: Kerstin Holm, Macht und Geheimnis. Rußlands Sturz in die Vergangenheit, Frankfurt am Main 2011; mit anderem Akzent: Andreas Langenohl, Patrioten, Verräter, genetisches Gedächtnis. Der Große Vaterländische Krieg in der politischen Deutungskultur Rußlands, in: Marina Ritter und Barbara Wattendorf (Hg.), Sprünge, Brüche, Brücken. Debatten zur politischen Kultur in Rußland aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, Kultursoziologie und Politikwissenschaft, Berlin 2002, S. 121–140 sowie Isabelle de Keghel, Die Staatssymbolik des neuen Rußland im Wandel. Vom antisowjetischen Impetus zur rußländisch-sowjetischen Mischidentität, Bremen 2004; Philipp Bürger, Geschichte im Dienst für das Vaterland. Traditionen und Ziele der rußländischen Geschichtspolitik seit 2000, Göttingen 2018
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tiert werden sollten. Die Stadtväter von Woronesch, Krasnojarsk und Wladiwostok bejahten dies, in Wolgograd wurde Limonade mit Stalin-Etikett ausgeschenkt. Einzig der Moskauer Bürgermeister Luschkow drehte und wendete sich und beließ es schließlich bei ein paar versteckten Konterfeis, aber da hatte US-Präsident Obama seine Teilnahme bereits abgesagt. Seit 2016 wird die „Memorial-Gesellschaft“ von der russischen Regierung offiziell als „ausländischer Agent“ deklariert. Wladimir Melikhow, der es wagte, in Podolsk südlich von Moskau ein privates Museum aufzubauen, in dem er zeigt, warum Kosaken und andere verfolgte Minderheiten die Wehrmacht 1941 begeistert begrüßten, wird im staatlichen Fernsehen als „Verräter“ beschimpft. Anfang 2017 machte Verteidigungsminister Sergej Schoigu seinen Plan bekannt, in dem MilitärFreizeitpark Kubinka westlich von Moskau ein verkleinertes Modell des Berliner Reichstags nachzubauen, den militärbegeisterte Jugendliche dort dann wieder erstürmen können wie weiland ihre Vorväter 1945. Russland ist heute ein krankes, aber auch ein gekränktes und vor allem zutiefst verunsichertes Land. Als die liberale Oppositionspartei Jabloko am 28. Februar 2009 einen Antrag in die Staats-Duma einbrachte, in dem sie die „Überwindung von Stalinismus und Bolschewismus als Voraussetzung für die Modernisierung Russlands im 21. Jahrhundert“ verlangte, ließ die regierungsoffizielle Antwort nicht lange auf sich warten. Mit dem Ukas Nr. 549 vom 15. Mai 2009 wird die gesetzliche Grundlage zur Bildung einer „Kommission beim Präsidenten der Russischen Föderation zur Verhinderung von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands“ geschaffen. Das Gremium, dem im Wesentlichen Vertreter der Geheimdienste und der Armee angehören, soll einschlägige Ermittlungen durchführen und effektive Abwehrstrategien entwickeln. Hier wird der Stalin-Renaissance Flankenschutz von ganz oben gewährt. Vorarbeit leistete die 2007 erschienene, von Putin ausdrücklich empfohlene Publikation „Eine moderne Geschichte Russlands: 1945–2006“, ein Handbuch für Lehrer, in dem Stalin sich in „bedenklicher Geschichtsklitterung“33 fast schon auf Augenhöhe mit Peter dem Großen wiederfindet. In der Zeitenwende 1989/90 hatte es weltweit Erstaunen erregt, wie schnell der Kreml sich vom Mythos der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ befreite. Ob und wann er sich jemals vom Mythos des „Großen Vaterländischen Krieges“ befreit, steht dahin. 2008 gewährte er dem Staatsfernsehen Rossija eine umfassende, sechs Monate währende Medienaktion, in der alle Russinnen und Russen darüber abstimmen durften, wer der größte Held ihrer Geschichte sei. Schon die inoffiziell durchsickernden Zwischenergebnisse waren verblüffend. Kein einziger Zar, Dichter oder Denker hatte es auf einen der vorderen Plätze schaffen können, weshalb bis heute auch kein Mensch an das im Dezember 2008 verkündete formelle Endergebnis glaubt. Alexander Newski, der Gewinner, und mehr noch Pjotr Stolypin, der Zweitplatzierte, sind der jüngeren Bevölkerung, die sich über 33 Stefan Creuzberger, Stalinismus und Erinnerungskultur, in: APuZ, Nr. 49–50/2011, S. 42–47, hier: S. 46; ders., Stalin. Machtpolitiker und Ideologe, Stuttgart 2009, S. 11 f.
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das Internet zigmillionenfach beteiligte, kaum bekannt. Der wahre Sachverhalt war ein anderer. Bis kurz vor Schluss lag Stalin klar in Führung, und als die höchsten Stellen hiervon erfuhren, wurde die Abstimmung manipuliert, um der Blamage im Ausland zu entgehen. Dabei war sogar das letztlich bekannt gegebene Ergebnis immer noch blamabel genug, denn Stalin landete mit ganzen 5504 Stimmen weniger als Newski auf Platz drei. Gennadij Sjuganow, der Vorsitzende der kommunistischen Partei, forderte daraufhin flugs dessen Heiligsprechung wegen seines Sieges über Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Die Geister, die man mit allen regierungsoffiziellen Kampagnen gerufen hatte, wurde man jetzt nicht wieder los. Natürlich hütet man sich, Stalin im jüngsten staatlichen Programm zur „patriotischen Erziehung der Bürger Russlands von 2011 bis 2015“ auftauchen zu lassen, gleichwohl ist dort von „nationaler Sicherheit“, geschlossener Einheit und „Wiedergeburt“ die Rede. Jewgenij Jewtuschenko hatte bereits 1963, zwei Jahre nach der Umbettung des Diktators vom Mausoleum an die Kremlmauer, in seinem Gedicht „Stalins Erben“ die Forderung aufgestellt, die Wachen an seinem Grab zu verdoppeln und zu verdreifachen, „damit er nicht wieder aufsteht“, doch wenn man sich das (unverfälschte) Votum aus dem Jahr 2008 anschaut, fragt man sich, „ob er wirklich jemals gestorben ist.“34 2016 und 2017 wurde Stalin in Umfragen des unabhängigen Moskauer Lewada-Instituts zur „herausragendsten Person der eigenen Geschichte“ gewählt.
34 Klaus Kellmann, Stalins langer Tod, in: Thomas Großbölting und Rüdiger Schmidt (Hg.), Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2011, S. 95–114, hier: S. 113; Boris Chavkin, Eine neue Popularität Stalins? – Der Platz Stalins in der Erinnerungskultur des heutigen Rußland, in: „Forum für osteuropäische Ideen – und Zeitgeschichte“, Nr. 1/2014, S. 65–94; Antonina Zykowa, Rußland und das totalitäre Erbe: Zwischen nationalen Traumata und „falsifizierter“ Geschichte, in: ebd., S. 95–112. Anna Becker, Mythos Stalin. Stalinismus und staatliche Geschichtspolitik im postsowjetischen Russland der Ära Putin, Berlin 2016, analysiert die seit 2013 eingeleitete Arbeit an einem einheitlichen Schulbuchkonzept für die gesamte Russische Föderation, in der die Sowjetunion ausschließlich „in ihrer vermeintlichen Rolle als Retterin Europas gewürdigt (wird)“ (S. 127). Wenn man, so Becker, die russische Geschichtspolitik der Jahre 2000 bis 2014 auf einen Nenner bringen wolle, so laute dieser „Stolz statt Wahrheit“ (S. 128). Dazu: Ulrich Schmid, Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur, Berlin 2016.
Ukraine Seit dem 10. Jahrhundert entstand am mittleren Dnjepr die Kiewer Rus, die 1239 unter die Herrschaft der Goldenen Horde geriet. Rus war im Mittelalter die Bezeichnung für alle Ostslawen, also für die Russen, die Ukrainer und die Weißrussen, die Kiewer Rus ist damit der Gründungsmythos für alle drei Staaten. Im Russischen Reich wurden die Ukrainer Kleinrussen und im Habsburgerreich Ruthenen genannt. Der Name Ukraine bedeutet Grenzland, womit die Grenze zur Steppe gemeint war, dem Lebensraum der Kosaken. Während die Russen unter der Herrschaft der Goldenen Horde, also der Mongolen, blieben, wurden die Ukrainer und Weißrussen Untertanen Litauens und Polens, die seit 1386 in einer Personal- und seit 1569 in einer Realunion verbunden waren. Der ukrainische Adel wurde sukzessive polonisiert, während die Kosaken, ursprünglich entlaufene Bauern, sich diesem Prozess entzogen. Sie bildeten einen egalitären militärischen Kampfverband und wählten einen Hetman an ihre Spitze. Bohdan Chmelnitzki, einer der berühmtesten, führt 1648 einen Volksaufstand gegen die Realunion an, in dem fast alle Polen und Juden getötet oder vertrieben und die leibeigenen Bauern freigelassen werden. 1654 stellt er sich unter den Schutz des Moskauer Zaren. Was von ihm nur als temporär-taktisches Manöver gemeint war, wird von den Russen als Unterwerfung verstanden, und zwar bis heute. Für Kiew hingegen gilt Chmelnitzkis Hetmanat als erster ukrainischer Nationalstaat. Tatsächlich garantierte der Zar die kosakische Selbstverwaltung, stationierte aber eine Garnison und griff in die auswärtigen Beziehungen ein. 1667, im Waffenstillstand von Andrussowo, wird die Ukraine zwischen Russland und Polen-Litauen mit dem Dnjepr als Grenze geteilt. Der Hetman Iwan Masepa betreibt im Bündnis mit dem schwedischen König Karl XII. die Wiedervereinigung, wird 1709 bei Poltawa aber von Peter dem Großen besiegt. Masepa gilt den Russen fortan als Verräter und den Ukrainern als Held – der Kosakenmythos spielte noch auf dem Kiewer Maidan eine große Rolle. Die Russifizierungspolitik, die 1775 auch die Aufhebung der Autonomie der Saporoger Kosaken einschloss, wurde – insbesondere mit dem Verbot des offiziellen Gebrauchs der ukrainischen Sprache – bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fortgeführt. Bei der ersten Volkszählung 1897 im Zarenreich bekannten sich zwei Drittel der Menschen in dem Gebiet zur ukrainischen Sprache, die anderen sprachen Russisch, Polnisch, Jiddisch oder Deutsch. Im September 1914 fahren ukrainische Flüchtlinge aus Russland nach Berlin und erklären den Diplomaten im Auswärtigen Amt, was die Ukraine ist und dass es sie gibt. Schon damals dämmerte es den Deutschen, dass man sie im Kampf gegen Russland gut gebrauchen könnte. Am 4. März 1917 bildet sich in Kiew ein Parlament, die Zentralrada, die am 22. Januar 1918 die Unabhängigkeit der Ukraine proklamiert und einen Sonderfrieden mit den Mittelmächten schließt. Eine von ihnen abhängige Marionettenregierung unter dem „Hetman“ Skoropadski stürzt Ende des Jahres nach dem Einmarsch
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der Bolschewiki. Nicht nur unter ihnen geisterte seitdem die Vorstellung, Ukrainer seien eine Erfindung, eine fünfte Kolonne der Deutschen, um den russischen Staat zu zerschlagen. Die westliche Bevölkerung, die seit der ersten Teilung Polens 1772 unter der Herrschaft des österreichischen Kaisers gestanden hatte, durfte das Ukrainische als Amts- und Schulsprache verwenden und galt als eigene Nationalität, und zwar in Galizien, der Bukowina und in Transkarpatien, der späteren Karpato-Ukraine. In der Dichtung von Taras Schewtschenko (1814–1891) fand sie zum ersten Mal eine alle einigende Stimme. Sie konnte ihre eigenen Abgeordneten in den Wiener Reichsrat wählen. In den östlichen Gebieten war es unter Strafe verboten, das Wort „Ukraine“ zu verwenden. Während des gesamten 19. Jahrhunderts war die Ukraine keine Nation, sondern ein durch Sprache und Religion geopolitisch gespaltenes Gebilde. Ab 1867 dominierte die polnische Elite dank einer gewährten Autonomie das gesellschaftliche Leben in Galizien, was ein stetig anwachsendes Protestpotential nährte. Die ukrainischen Nationalisten gewannen 1917 nur deshalb die Oberhand, weil sie die Forderungen nach Landreform, gemeinsamer Muttersprache und Bürgerrechten kombinierten. Angesichts des russischen Widerstands waren diese nur mit deutscher und österreichischer Unterstützung zu realisieren. Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde das Land praktisch von allen Seiten überrannt. Gleichwohl hat der kurzlebige Nationalstaat von 1918 bis 1920 in der ukrainischen Erinnerungskultur eine zentrale Funktion: Seine blaugelbe Flagge, seine Nationalhymne und seine Hrywnja-Währung sind von der heutigen Präsidialrepublik übernommen worden. Im Dezember 1922 wird die Ukrainische SSR mit ihren 30 Millionen Einwohnern Teil der neu gegründeten Sowjetunion. Weitere sechs Millionen Ukrainer lebten in Polen (Galizien und Wolhynien), 500.000 in der Tschechoslowakei (Karpato-Ukraine) und einige wenige Tausend in Rumänien (Bukowina). Gegen die UdSSR regte sich von Anfang an nationaler Widerstand innerhalb und außerhalb des Landes, dem grundsätzlich jeder Helfer willkommen war. In einem geradezu dichotomischen Raster sah man die Polen, Russen und Juden hier als Feinde und die Deutschen und Österreicher als Freunde, weil sie im Ersten Weltkrieg die Bildung eigener ukrainischer Verbände zugelassen hatten. Der Hass auf Polen erreichte 1923 einen ersten Höhepunkt, weil Warschau sich Ostgalizien mit der Auflage von Autonomieversprechen einverleiben konnte, diese aber nie einlöste. Seither galt der Satz „Selbst mit dem Teufel, wenn nur gegen Polen“. Der Hass auf die Russen und ihre „jüdischen Handlanger“ stand dem zwar kaum nach, da die Rus aber zur ukrainischen Geschichte gehörte, sprach man nur von „Moskau“. Die Exilorganisationen und Exilregierungen der Zwischenkriegszeit, insbesondere die aus demobilisierten Soldaten formierte Ukrainische Militärorganisation (UVO), gelangten samt und sonders unter deutschen Einfluss, vor allem in finanzieller Hinsicht. Die Reichswehr nutzte die UVO schon ab 1921 für ihre Wühlarbeit gegen den „Saisonstaat“ Polen. Deutschland, die Veränderung der europäischen Landkarte durch Krieg und die Konstituierung eines ukrainischen Nationalstaates, das waren quasi die logischen Endpunkte einer gemein-
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samen Linie. Deshalb bedeutete es auch alles andere als einen Zufall, dass die 1929 in Wien aus der UVO und rechten Studentengruppen in direkter Stoßrichtung gegen Polen und eine (angeblich oder tatsächlich) drohende Polonisierung gebildete Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) ihre radikale politische Zentrale in Berlin besaß. Die nunmehr einsetzende Terrorwelle in Ostgalizien, der polnische Politiker, Großgrundbesitzer und Geldbriefträger reihenweise zum Opfer fielen, kann sicherlich nicht zur Gänze auf das Konto der OUN geschrieben werden, dennoch ließ die polnische Rache nicht lange auf sich warten, und so sind die ersten ukrainischen Dörfer dann auch nicht von der Wehrmacht, sondern von den Parteigängern Piłsudskis niedergebrannt worden. Das Selbstverständnis der OUN war durch Führerkult, nationale Mythologie, (para-)militärische Hierarchie und Konspiration gekennzeichnet. Spätestens 1935 war der Entfremdungsprozess so weit fortgeschritten, dass keine der beiden Seiten noch an einen friedlichen Ausgleich glaubte. In Berlin spielte man da schon seit zehn Jahren die ukrainische Karte, was sich insbesondere in der Gründung des dortigen Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts, einer Bastion des Hetman-Lagers in Deutschland, niederschlug. Facettenreich und problematisch blieb das Verhältnis zu „Moskau“, das nach der bolschewistischen Oktoberrevolution zunächst eine Politik der „Einwurzelung“ aller ukrainischer Territorien versucht hatte. Schon Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre hatte die Sowjetunion aber „ihren Nimbus als nationalukrainisches Arkadien unter Hammer und Sichel“1 eingebüßt, denn das, was unter dem Stichwort „KulakenVerfolgung“ in die Geschichte eingegangen ist, richtete sich im Wesentlichen gegen die ukrainischen Bauern. Ihr Ergebnis, der Holodomor, die große Hungersnot 1932/33, raffte – in Friedenszeiten – mindestens sechs Millionen Menschen dahin. Es ist in der Forschung umstritten, ob sie als Verkettung „unglücklicher“, zum Beispiel klimatischer Umstände, als eine (auch von den Kulaken) selbst erzeugte Notlage oder als staatlich bewusst herbeigeführte Massenausrottung des ukrainischen Volkes bewertet werden muss, sicher ist aber, dass die Regie im Hintergrund nicht von irgendeinem Wettergott, sondern von Stalin geführt wurde.2 Seine „Ukrainophobie“, wie Andrej Sacharow sie später nannte, hat ihn bis zum letzten Atemzug nicht verlassen. Er ließ die Dörfer, die das vorgeschriebene Getreidesoll nicht ablieferten, umstellen, die Dorflehrer und Dorfpriester verjagen und sorgte dafür, dass schließlich alles angezündet wurde. Wer wirklich Kulak war und wer nicht, das wusste eigentlich keiner so genau, denn eine offizielle Definition dieser „Klasse“ war durch die KPdSU verboten. Und wer sich übergabebereit als ein solcher bezeichnete, der bekam für seine Kuh 15 und für sein Holz1 Kerstin S. Jobst, Geschichte der Ukraine, Stuttgart 2010, S. 186; Andreas Kappeler (Hg.), Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung, Köln, Weimar und Wien 2011; ders., Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer – Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2017; Ernst Lüdemann, Ukraine, München 2006. 2 Kellmann, Stalin, a. a. O., S. 93 ff.
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haus 60 Kopeken als Entschädigung, was einem Hundertstel bzw. Tausendstel des realen Wertes entsprach. Anschließend wurde er im Viehwaggon abtransportiert. Die von Stalin für 1932 verfügte Anhebung der Abgabesätze auf 73,5 Prozent der Ernteerträge bedeutete die gezielte und geplante Existenzvernichtung der ukrainischen Bauern. Fälle von Kannibalismus sind massenhaft belegt. Letztlich sollte mit der Kulaken-Verfolgung der Widerstand der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung gebrochen werden. Angesichts dessen war es kaum verwunderlich, als die Überlebenden der „schnellsten gegen eine einzelne Volksgruppe gerichteten Massentötung des 20. Jahrhunderts und womöglich der Geschichte“3 ab 1941 der Wehrmacht bereitwillig in die Arme liefen. Wie viele Ukrainer sich durch die OUN vertreten fühlten, weiß man nicht. Die in Polen lebenden besaßen mit der Ukrainischen National-Demokratischen Organisation (UNDO) ihre eigene Partei, die zeitweise sogar den Vizemarschall im Warschauer Sejm stellte. Die Ostukrainer hatten sich anfangs sogar gegenüber den Versprechungen der Bolschewiki offen gezeigt. Der Dekalog der OUN „Du wirst den ukrainischen Staat erkämpfen oder im Kampf um ihn fallen“, zu dem sich jedes Mitglied bekennen musste, stieß bei ihnen lange auf taube Ohren. Die Ostukraine, das waren alle jene Gebiete, die bis 1917 zum Zarenreich gehört hatten, unter der Westukraine verstand man das bis 1918 österreichische Ostgalizien, das danach durch das bis 1939 zu Polen gehörende Wolhynien erweitert wurde. 1938 ermordet ein sowjetischer Agent den OUN-Vorsitzenden Konovaleć in Rotterdam. Von da an bestimmen drei Männer die Geschichte der Organisation, die nur eines gemeinsam hatten: den unbändigen Willen zur Errichtung eines unabhängigen ukrainischen Nationalstaats, die sich in der Umsetzung dieses Willens aber fundamental unterschieden: Andrij Melnik (1890–1964), Jaroslaw Stetzko (1912–1959) und Stepan Bandera (1909–1959). Der in Ostgalizien geborene Melnik war im Ersten Weltkrieg Offizier der k. u. k. Armee. Während seiner Tätigkeit in der UVO strebte er die Errichtung einer Militärdiktatur an, die ukrainische Frage selbst hat er jedoch immer auf diplomatischem Weg lösen wollen. Der Metropolit der griechisch-katholischen Kirche in Lemberg, Erzbischof Graf Andrij Scheptynzkyj, unterstützte nach der Ermordung Konovalećs die Wahl Melniks zum OUN-Vorsitzenden, da dieser die Jugendbewegung der Kirche in Polen leitete. Die ukrainische griechisch-katholische Kirche gehörte seit dem 17. Jahrhundert zu den Ostkirchen, die unter Beibehaltung des byzantinischen Ritus mit der römisch-katholischen uniert waren und die Herrschaft des Pontifikats anerkannten. Aus ihr rekrutierten sich schon im 19. Jahrhundert jene Intellektuellen und Eliten, die den Prozess der Herausbildung eines ukrainischen Nationalbewusstseins forcierten. Dementsprechend galt sie der Sowjetunion als auszuschaltender Träger des ukraini3
Gunnar Heinsohn (Hg.), Lexikon der Völkermorde, Reinbek bei Hamburg 1998, s. v. „KulakenVerfolgung“; auch: Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933, Hamburg 2012; ders., Historische Hintergründe ukrainisch-russischer Konflikte, in: APuZ, Nr. 47–48/2014, S. 10–17.
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schen Nationalgefühls.4 Jaroslaw Stetzko war der Sohn eines Priesters eben dieser Kirche und schon früh in der ukrainischen Untergrundbewegung tätig. Ab 1932 figurierte er als Mitglied der polnischen Landesexekutive der OUN und kämpfte an zwei Fronten: gegen Polonisierung und gegen Bolschewismus. Auf dem 2. OUN-Kongress Anfang August 1939 in Rom bekräftigte er nochmals seine Haltung, die Unabhängigkeit ähnlich wie Melnik auf friedlichem Wege zu erreichen, am liebsten mit deutscher Hilfe. Als Hitler in seinem Pakt mit Stalin vom 23. August 1939 aber die ukrainischen Gebiete Ostpolens mitsamt Lemberg an die Sowjetunion abtrat, schloss er sich dem radikalen OUN-Flügel unter Stepan Bandera an. Auch Banderas Vater war Priester der Ukrainischen griechisch-katholischen Kirche. Stepan ging schon als Schüler der 4. Klasse seines Gymnasiums in eine paramilitärische Jugendgruppe im Schatten der UVO in Galizien, der er später beitrat. Als er 1928 die Erlaubnis zum Studium in Lemberg bekam, saßen 250.000 Ukrainer in polnischen Gefängnissen und Internierungslagern. Bandera konspiriert, auch mit Stetzko. 1933 übernimmt er die Leitung der OUN-Landesexekutive für Galizien und Wolhynien. Er organisiert am 15. April 1934 das Attentat auf den polnischen Innenminister Pieracki, der mehrere Massaker an der ukrainischen Bevölkerung angeordnet hatte, wird verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Strafe wird in lebenslange Haft umgewandelt, die Bandera im polnischen KZ Beresa Kartuska absitzen soll. Erst mit der Niederlage Polens im September 1939 kommt er frei. Er erhält die Erlaubnis, in den deutschen Kriegsgefangenenlagern westukrainische Soldaten zu werben, er selbst will das Einsatzgebiet der OUN aber auch auf den sowjetisch besetzten Teil der Ukraine ausdehnen. Seinen Sitz nimmt er in Krakau im Generalgouvernement. Ab 1938 setzen innerhalb der OUN erste Spannungen ein, die insbesondere der Rivalität zwischen Melnik und Bandera geschuldet sind. Beiden ist klar, wer „das Steuer für die Zusammenarbeit mit den Deutschen“5 in die Hand bekommt, der hält gleich4
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Svitlana Hurkina, Der Prozess der Legalisierung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche und die Unabhängigkeit der Ukraine, in: Bernd Florath (Hg.), Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur, Göttingen 2011, S. 165–186. Frank Golczewski betont, dass in diesem Prozess für die ukrainischen Kirchen schon „scheinbare Zugeständnisse“ der Deutschen ausreichten, „um Kollaborationsverhalten zu begründen“; ders., Die deutsch geförderte Ukrainisierung der polnischen Orthodoxie 1939–1941, in: Martina Thomsen (Hg.), Religionsgeschichtliche Studien zum östlichen Europa. Festschrift für Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2017, S. 281–306, hier. S. 306. Zit. nach Ryszard Torzecki, Die Rolle der Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht in der Ukraine für deren Okkupationspolitik 1941 bis 1944, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 239–272, hier: S. 243; umfassend hierzu: Franziska Bruder, „Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben!“ Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) von 1929–1948, Berlin 2007; Frank Golczewski, Deutsche und Ukrainer 1914–1939, Paderborn [u. a.] 2010; zur breiteren Einordnung: Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, München 2015; konkret zur Rolle der UPA: Per A. Rudling, The OUN, the UPA and the Holocaust: A
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zeitig auch das Steuer zur Leitung der OUN. Die auf dem 2. außerordentlichen Kongress am 10. Februar 1940 in Krakau erfolgte Spaltung in OUN-M (für Melnik) und OUN-B (für Bandera) war deshalb auch weniger das Resultat ideologischer Unterschiede nach dem Raster gemäßigt oder radikal, sondern sie gipfelte in der Frage, „in welchem Maße man taktische Kompromisse auf dem Weg zur staatlichen Unabhängigkeit in Kauf nehmen (…) und wie weitgehend (nicht etwa: ob) man sich in die Verfügung der Deutschen begeben durfte.“6 Allerdings war Bandera die zur Trennung treibende Kraft, Stetzko stützte ihn. Die OUN-M gründete im Generalgouvernement legale Organisationszellen, die OUN-B arbeitete im Untergrund und bereitete den bewaffneten Aufstand vor. Ihre Verbände wurden offiziell als Einheiten des Reichsarbeitsdienstes geführt. In und von Berlin unternommene Versuche, Melnik und Bandera wieder miteinander zu versöhnen, scheiterten. Sowohl im Sommer 1939 vor dem Überfall auf Polen wie auch knapp zwei Jahre später vor dem „Unternehmen Barbarossa“ ist der OUN bzw. ihren beiden Flügeln eine militärische Partizipation angeboten worden. Am Einmarsch in Polen hat sogar ein kleiner ukrainischer Verband unter dem Decknamen „Bergbauernhilfe“ teilgenommen. Er musste sich aber wieder auflösen, als die Rote Armee gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt in Ostpolen einrückte und damit Teile der Ukraine besetzte. Die Ukrainer im okkupierten Westpolen spielten eine Doppelrolle: Im Warschauer Sejm erklärte die UNDO ihre Loyalität mit Polen, hielt gleichzeitig Kontakt mit den Deutschen und freute sich über jeden Ukrainer, der im Generalgouvernement Verwaltungs- und Verantwortungspositionen bekam, und das waren nicht wenige: als Bürgermeister, Vögte und Dorfschulzen. 30.000 Ukrainer fliehen daraufhin vom sowjetischen in den deutsch besetzten Teil. Am 2. Oktober 1939 versucht die UNDO sogar, eine „ukrainische nationale Vertretung“ in Polen zu bilden, aber die NSMachthaber winken ab. Es entstehen jedoch ukrainische Schulen, Zeitungen, Verlage, Genossenschaften, Hilfskomitees und sogar als „Werkschutz“ getarnte paramilitärische Wachmannschaften. Auf den Dörfern rücken immer mehr Ukrainer anstelle von Polen in das Amt des Dorfschulzen ein. Die Zahl der ukrainischen Schulen schwillt bis zum März 1941 von 18 auf 929 an, mit dem „Ukrainischen Hauptausschuss“ bildet sich ein zentrales Selbstverwaltungsorgan. Nicht umsonst empfanden die Ukrainer die Zeit von 1939 bis 1941 in ihrem lang ersehnten nation-building process als Aufschwungsphase und als ausgleichende Gerechtigkeit zu dem in ihren Augen immer und überall bevorzugten „Polentum“, das von 1918 bis 1939 (wieder) seinen eigenen Staat besessen hatte. Study in the Manufacturing of the Historical Myths, Pittsburgh 2011 und Ludmilla Lutz Auras, Zwischen Stolz und Missbilligung. Der Zweite Weltkrieg in der Erinnerungspolitik der Russländischen Föderation und der Ukraine, in: Bizeul (Hg.), Rekonstruktion des Nationalmythos?, a. a. O., S. 193–226; außerdem: Claudia Dathe und Andreas Rostek (Hg.), Majdan! Ukraine, Europa, Bonn 2014 und Młynarczek, Zwischen Kooperation und Verrat, a. a. O., S. 345–383. 6 Frank Golczewski, Die Kollaboration in der Ukraine, in: Dieckmann, Quinkert und Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen, a. a. O., S. 151–182, hier: S. 158.
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Diese Chance schien mit dem deutschen Vormarsch auf die Sowjetunion jetzt endlich auch für die Ukraine zum Greifen nahe. Seit dem Mai 1940 sind Melnik und Bandera, der im April 1941 in Krakau offiziell zum Providnyk, zum „Führer“ der OUN-B gekürt worden war, in die Kriegsvorbereitungen einbezogen, weit früher als jeder andere mitmarschierende Kollaborateur in Europa, und sie besaßen im Reich einen Kontaktmann und eine Vertrauensperson, die bereit war, ihre Interessen auch gegen die Deutschen durchzusetzen: Professor Dr. Theodor Oberländer (1905–1998). Oberländer, der am 9. November 1923 als 18-Jähriger bereits bei Hitlers Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle in Reih und Glied war, galt als Nationalsozialist der ersten Stunde. Am 1. März 1933, im Alter von 27 Jahren, übernimmt er die Leitung des „Instituts für Osteuropäische Wirtschaft“ an der Universität Königsberg, eines der maßgeblichen deutschen Ostforschungsinstitute. Die Jungordinarien Hans Rothfels und Theodor Schieder, später führende deutsche Nachkriegshistoriker, werden dort auf ihn aufmerksam und schließen ihn in ihre „deutsch-baltische Gemeinschaftsmission“ zur Gewinnung der „politisch unreifen Völker“ des Ostens ein.7 Erich Koch, der Gauleiter und Oberpräsident Ostpreußens, erkennt das vorwärtsdrängende Talent, aber der schnell doppelt promovierte Jungakademiker kann mit dem Eisenbahner aus Wuppertal wenig anfangen. Man überwirft sich. 1934 soeben zum „sonderplanmäßigen außerordentlichen Professor“ ernannt, nimmt Oberländer eine Einladung nach Moskau an, wo er mit Bucharin und Radek über Strukturfragen der sowjetischen Landwirtschaft konferiert. Folgt man seinen eigenen Angaben, hat er dort auf die sieben (!) Millionen Hungertoten in der Ukraine hingewiesen. Oberländer spricht fließend Russisch, Polnisch, Litauisch und Ukrainisch. Obwohl die „Volksdeutsche Mittelstelle“ sich ausdrücklich für ihn einsetzt, verfügt Bormann am 12. November 1937, dass er für die „Bearbeitung der Deutschtumsfragen des Ostens nicht mehr in Betracht kommt“. Oberländer muss sich neue Protegés suchen und stößt auf den Abwehrchef Wilhelm Canaris. In dessen Abteilung für „Sabotage und Propaganda“ soll er die Kontakte zu den deutschen Minderheiten in Ostund Südosteuropa herstellen, um alle, auch die nichtdeutschen Kräfte, die sich gegen Stalin aktivieren lassen, mit Waffen und Personal zu versorgen, damit sie am Tag X zusammen mit der Wehrmacht einmarschieren können. Als bevorzugte Projektionsfläche deutscher Visionen diente hier die Ukraine, Kornkammer, natürliches Bollwerk gegen Polen und die Sowjetunion und Schlüssel zur Beherrschung Osteuropas. „Polen hinter den San“, dieser Schlachtruf der OUN klang auch in deutschen Ohren gut, und 1935 erreichte er Canaris, für den die Ukraine von da an „eine Art politischer Meistbegünstigung“8 7
Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998), a. a. O., S. 36 f.; vgl. dazu: Klaus Wiegrefe, Der seltsame Professor, in: „Der Spiegel“, Nr. 27/2000, S. 62–66. 8 Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998), a. a. O., S. 55; vgl. hierzu als authentischen, aber mit der Brille eines Bandera-Mannes geschriebenen Bericht: Roman Ilnytzkyj, Deutschland und die Ukraine 1934–1945. Tatsachen europäischer Ostpolitik. Ein Vorbericht, 2 Bde., 2. Aufl., München 1958.
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genoss. Ab 1937 übten OUN-Kommandos in den Lagern der Abwehr, eine „freie Großukraine“ vor Augen. Joseph Roth feierte den ukrainischen Nationalstaat in seinem Pariser Exil bereits als „deutsches Patent“. Aber die Abwehr war nicht die Reichskanzlei, für die die Ukraine lediglich eine Manövriermasse im Mächteparallelogramm Osteuropas darstellte; das geheime Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 sprach hier eine unmissverständliche Sprache. Auf der anderen Seite war es nicht besser: Stalin ließ bis zum Juni 1941 mindestens 125.000 Ukrainer nach Sibirien deportieren. Der starke Mann in Canaris’ Krakauer Dependance war ab 1939 Oberländer, unter dessen Fittichen die Kämpfer der OUN-B ausgebildet wurden. Doch auch die OUN-M blieb nicht untätig. Anfang Juni 1941 übersandte sie Hitler eine Denkschrift, in der die Bedeutung der Ukraine für die Neuordnung Europas und als „Gegengewicht gegen moskowitische und jüdische Aspirationen“ hervorgehoben wurde. Zu dem Zeitpunkt hatte die OUN-B bereits die beiden ukrainischen Einheiten „Roland“ und „Nachtigall“ aufgestellt, die teils Wehrmachtsuniformen, teils Schulterstücke mit blau-gelber Paspelierung trugen. Zumindest „Nachtigall“ war für Bandera der Versuch, die Keimzelle einer eigenen ukrainischen Nationalarmee zu bilden. Er durfte hierfür, wie erwähnt, in deutschen Kriegsgefangenenlagern werben, Oberländer sorgte für den nötigen Rückhalt aus Berlin. Die Offiziere der OUN-B formierten den Kern des Regiments „Brandenburg“, Canaris’ „Haustruppe“ im Generalgouvernement. Am 8. Mai 1941 tritt Oberländer seinen Dienst beim Bataillon „Nachtigall“ im schlesischen Neuhammer an. Es besteht aus 100 Deutschen und 300 Ukrainern, die sich weigern, den Eid auf Hitler zu leisten. Ihre Begeisterung beim (gemeinsamen) Überfall auf die Sowjetunion mindert das nicht. Für Bandera war die Kollaboration mit den Deutschen ein reines Instrument zum Erlangen der Unabhängigkeit, die ihm von Canaris’ Abwehr, Rosenbergs Ostministerium und Oberländers Dependance in Aussicht gestellt worden war. Am 22. Juni 1941, dem Tag von „Barbarossa“, gründete er in Krakau ein „Ukrainisches Nationalkomitee“ und übersandte Hitler eine Denkschrift, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ. Stalin, seinem Geheimdienstchef Berija und dessen NKWD war die prodeutsche Haltung der ukrainischen Nationalisten nicht verborgen geblieben. Derer sie in ihrem Machtbereich habhaft werden konnten, an denen tobten sie ihre Mordgier bis zum Einrücken der Wehrmacht mit grausamen, bestialischen Folterungen, Verstümmelungen und Hinrichtungen in mindestens 22 Orten Ostgaliziens aus. Allein in Lemberg wurden 5300 Inhaftierte erschossen. Bandera versuchte dies durch lokale Aufstände zu verhindern, die in die Selbstbefreiung einmünden sollten. Am 28. Juni, unmittelbar nachdem der NKWD Lemberg verlassen hatte, wehte die ukrainische Flagge über der Stadt. Banderas Emissäre beknieten die Deutschen, endlich einzumarschieren. Als das Bataillon „Nachtigall“ dies mit Oberleutnant Oberländer an der Spitze in den frühen Morgenstunden des 30. Juni tat, ertrank es in einem Meer von Blumen, mit denen die Befreier begrüßt wurden. Überall stank es von dem Verwesungsgeruch der Leichen, die der NKWD bei seinem Abzug in Brand gesetzt hatte. Nur kurz darauf traf aber auch
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eine Abordnung des „Ukrainischen Nationalkomitees“ unter Führung von Banderas Stellvertreter Stetzko ein, besetzte das Rathaus und den Rundfunk und tat das, was Oberländer um jeden Preis hatte verhindern wollen: Abends um acht Uhr proklamierte Stetzko die Wiederherstellung einer selbstständigen, unabhängigen Ukraine. Umgehend informierte er Benito Mussolini, Francisco Franco und Ante Pavelić brieflich über die Regierungsbildung, womit die letzten Zweifel über den Staatscharakter ausgeräumt waren. Im Brief an Mussolini hieß es sogar, dass „die Ukraine im neuen gerechten, faschistischen Herrschaftssystem, das die Versailler Ordnung ersetzen muss, den ihr gebührenden Platz finden (soll).“ Die Anwesenheit der Deutschen sollte im Kalkül der OUN-B hierfür als Flankenschutz und Absicherung dienen. Metropolit Scheptynzkyj, die für die Stadt- und Landbevölkerung eigentliche Autorität, erkannte Stetzko in einer am nächsten Morgen im Rundfunk verlesenen Erklärung „als Premier der Staatsregierung“ ausdrücklich an, was „im fernen Berlin ein regelrechtes politisches Beben“9 auslöste, denn eben dieser Klerikale hatte die Deutschen als „Befreier“ begrüßt. Oberländer, Canaris und Rosenberg standen mit ihrer „Nebenaußenpolitik“ gegen Hitler, und es war keine Frage, wer sich durchsetzte. Immerhin zwangen sie den „Führer“ zur Auflösung des verlogenen deutschen Dualismus hinsichtlich der Ukraine: Hitler erteilte den Befehl, die verantwortlichen Köpfe der OUN-B zu verhaften. Stetzko wurde am 12. Juli zum Verhör in die Berliner Prinz-Albrecht-Straße transportiert, Bandera kam ins KZ Sachsenhausen. Als ob das an Klarheit nicht schon ausgereicht hätte, glaubte Melnik jetzt an seine Chance und bot dem Führerhauptquartier die Beteiligung „an dem Kreuzzug gegen das bolschewistische Barbarentum“ mit der eigenen „Nationalukrainischen Revolutionsarmee“ an. Am 14. August wandte sich der Metropolit im Namen eines „Ukrainischen Nationalrats“ mit dem Gesuch an die Deutschen, „als politische Vertreter des ukrainischen Volkes in Galizien“ zu figurieren. Die „Bereitschaft zur loyalen Zusammenarbeit mit der Regierung Großdeutschlands“ basierte in der Erwartung, dafür „als volles Rechtssubjekt und als autochthone Nation Galiziens anerkannt zu werden“ und „an allen Organen der Staatsmacht“ teilzuhaben. Im Unterschied zur Ausrufung vom 30. Juni 1941 wurde hier kein eigener Staat proklamiert, sondern, wie es weiter hieß, „Galizien (als) (…) staatsrechtliche Einheit unter einer vom Führer bevollmächtigten Regierung und Führung“ mit den Amtssprachen Ukrainisch und Deutsch (nicht jedoch Polnisch) erbeten. Ein subtileres und diffizileres Kollaborationsangebot haben die Nazis in ganz Europa nicht erhalten: Sie sollten helfen, einen eigenen Staat und eine eigene Nation aufzubauen, ohne dass ihre (dauerhafte) Präsenz auch nur ansatzweise in Frage gestellt wurde. 9 Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998), a. a. O., S. 89; Grzegorz Motyka, Höllische Alternative. Die ukrainische und die litauische Untergrundbewegung zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus, in: Böhler und Lehnstaedt (Hg.), Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939–1945, a. a. O., S. 477–495.
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Nun wurde Hitler ungeschminkt deutlich und verkündete, die nationalsozialistische These des „gesamteuropäischen Freiheitskrieges“ dürfe nicht so verstanden werden, dass Deutschland einen Krieg für Europa führe, sondern dieser solle „allein den Deutschen“ dienen. Sein Staatssekretär von Weizsäcker notierte, niemand habe „den Plan, in dem zu erobernden Gebiet frühere Zustände wiederherzustellen“, vielmehr heiße das Ziel „erstens beherrschen, zweitens verwalten, drittens ausbeuten“.10 Konkret sah das so aus, dass Ostgalizien bereits am 1. August in das mehrheitlich polnische Generalgouvernement eingegliedert und einem OUN-Staat damit die entscheidende territoriale Basis genommen wurde. „Aus privilegierten Separatisten waren quasi über Nacht verfolgte Parias geworden.“11 Der mit der Abwicklung des Bataillons „Nachtigall“ beauftragte Offizier schrieb in einem Privatbrief: „Was wir als Soldaten und als Menschen an Ansehen bei den Männern dieses ukrainischen Freikorps, das sich allermeist aus der hohen Intelligenz dieses 42-Millionen-Volkes zusammensetzt, in diesen letzten Wochen verloren haben, ist kaum vorstellbar.“12 Und Oberländer selbst teilte der Heeresgruppe Süd im Oktober 1941, als der Terror hinter der Front in vollem Ausmaß eingesetzt hatte, mit, wer durch „Misshandlung der Bevölkerung das deutsche Ansehen“ so schädige, der müsse „streng bestraft“ werden. Oberländer wurde de facto in den Kaukasus strafversetzt, wo er mit dem „Sonderverband Bergmann“ erneut die einheimische Bevölkerung zum Kampf gegen die Rote Armee anstacheln sollte. Auch hier beklagt er die Gräueltaten der Einsatzgruppen von SS und SD, mit denen die Menschen von „bolschewistischer Tyrannei in deutsche Versklavung“ geführt würden. Am 11. November 1943 wird er wegen „politischer Betätigung“ aus der Wehrmacht entlassen und bis zum Kriegsende permanent beobachtet. Danach dient er sich genauso wie Klaus Barbie den US-Geheimdiensten an, für die er bis 1949 Nachrichten aus Osteuropa auswertet. Adenauer macht den mächtigen BHEFunktionär 1953 zum Bundesvertriebenenminister, doch schon bald setzen die ersten Kampagnen aus der DDR gegen ihn ein. In einer Politbürovorlage der SED Ende der 1950er Jahre heißt es, mit Oberländer solle die „Wesensgleichheit des Bonner Systems mit dem Hitlerfaschismus“ bewiesen werden. Das Oberste Gericht der DDR verhängte am 29. April 1960 gegen ihn das Urteil der lebenslänglichen Zuchthausstrafe wegen während der Pogrome im Lemberg Ende Juni/Anfang Juli 1941 persönlich begangener bzw. angezettelter Verbrechen. Diese Anschuldigungen entbehrten jeder objektiven 10 Alle Zitate in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, bearb. von Horst Boog et al., Stuttgart 1983, S. 908 ff und 1071. 11 Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998), a. a. O., S. 92; Kai Struve, Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine, Berlin und Boston 2015. 12 Brief Oberleutnant Herzners an seinen Bruder vom 3. September 1941, zit. nach Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998), a. a. O., S. 94.
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historischen Sachlage. Vier Tage später ließ Adenauer ihn als Minister fallen. Genauso unbeugsam wie uneinsichtig hat er bis an sein Lebensende um seine juristische Rehabilitation und Reputation gestritten. In den blutrünstigen Lemberger Tagen hätte er um ein Haar einem anderen späteren Kabinettskollegen begegnen können, der dort als 25-jähriger Wehrmachtsoffizier die Exhumierungen der vom NKWD ermordeten Leichen zu überwachen hatte. Der nachmalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß schreibt in seinen Erinnerungen: „Immer wieder tritt aus den Wolken eines bestialischen Gestanks eine Polin, eine Ukrainerin auf mich zu, packt mich, weint und schreit, zeigt Fotografien von Mann und Sohn.“13 Am 1. September 1941 wird das „Reichskommissariat Ukraine“ (RKU)“ unter der Leitung von Erich Koch gebildet. Es gliederte sich in sechs „Generalbezirke“ und grenzte im Süden an die Krim, im Westen ans Generalgouvernement, im Südwesten an Transnistrien und im Norden an die Bahnlinie Pinsk-Gomel. In dem Maße, in dem sich die Front nach Osten verlagerte, erweiterte sich das RKU und reichte im Herbst 1942 mit dem Generalbezirk Dnjepropetrowsk bis einhundert Kilometer östlich des Dnjepr. Mit einer Einwohnerzahl von 34 Millionen Menschen gehörte es zu den größten nationalsozialistisch besetzten Terrains in Europa. Hatte die Militärverwaltung auf örtlicher Ebene bis dahin eng mit beiden Flügeln der OUN zusammengearbeitet, deren Vertreter beispielsweise in Kiew, Winniza und Dnjepropetrowsk das Polizeikommando innehatten, so wehte unter Koch ein anderer Wind. 1000 OUN-Funktionäre wurden schon in den ersten Wochen seiner Amtszeit verhaftet. Melnik, seines inhaftierten Konkurrenten ledig, kontrollierte mit seinen Leuten jedoch weiterhin große Teile des RKU und bot Hitler erneut die Zusammenarbeit an. In einem gemeinsam mit dem Metropoliten am 17. Januar 1942 verfassten Brief wird der Wille bekräftigt, an der Gestaltung des „Neuen Europa“ teilhaben zu wollen, unter der Voraussetzung, dass die Unabhängigkeit der Ukraine garantiert sei. Eine Antwort haben sie nie bekommen. Stattdessen erhalten die Anhänger der OUN-M in der Ostukraine ein Betätigungs- und alle ukrainischen Zeitungen ein Erscheinungsverbot. Der Gang in den Untergrund war die quasi logische Konsequenz, und der Kampf an drei Fronten begann. Punktuell, lokal und regional arbeitete man sogar wieder mit der OUN-B zusammen, denn der Feind stand jetzt im Osten, im Westen und im eigenen Land. Gleichwohl hinterließ das abermalige Scheitern der Nationalbewegung tiefe Spuren. Während der Auflösung des Bataillons „Nachtigall“ kam es zur offenen Meuterei, und auch die Umwandlung des Bataillons „Roland“ in eine Schutzpolizeieinheit in Weißrussland verlief keineswegs reibungslos.14 Bis zum Februar 1942 hatte Koch, der die Ukrainer ein „dreckiges und 13 Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1998, S. 51 f. 14 Vgl. Alexander Brakel, Unter Rotem Stern und Hakenkreuz: Baranowicze 1939 bis 1944. Das westliche Weißrussland unter sowjetischer und deutscher Besatzung, Paderborn [u. a.] 2009; Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941– 1944, Düsseldorf 1998; Martin Dean, Microcosm: Collaboration and Resistance during the Ho-
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faules Negervolk“ nannte, sie mit der Hundepeitsche traktieren wollte und seinem Stab den Umgang mit der Bevölkerung verbot, die bescheidenen Anfänge einer Selbstverwaltung zerstört. Auch der Aufbau einer eigenen Miliz wurde untersagt, man musste sich der Hilfspolizei und den Schutzmannschaften anschließen. Trotz der misslungenen Staatsgründung in Lemberg sowie fortgesetzter Demütigungen und Enttäuschungen waren und blieben die Deutschen für die ukrainischen Nationalisten der „naturgegebene“ Partner. Schon auf das Überschreiten der Demarkationslinie am 22. Juni 1941 hatten sie sich „von langer Hand“15 vorbereitet. Sogenannte „Marschgruppen“, die sich an die Fersen der Wehrmacht hefteten, sorgten in dem bis zum „Unternehmen Barbarossa“ sowjetisch besetzten Teil schnell wieder für „alte“ Strukturen, zum Beispiel mit einem eigenen „ukrainischen Staatssicherheitsdienst“.16 Andere sprangen mit Fallschirmen hinter den Linien der Roten Armee ab und beschossen die zurückweichenden sowjetischen Einheiten. Sowohl OUN-M als auch OUN-B standen hinter ihnen. Vor der Bevölkerung sollte so der Eindruck entstehen, dass hier die „eigene“ Armee eines „selbstständigen“ Staates tätig sei. Insbesondere die Bandera-Leute setzten darauf, sich durch ihre Ortskenntnis und als lokale Sympathieträger für die Einheimischen wie auch für die Wehrmacht unverzichtbar zu machen. Bei der Einnahme Kiews am 19. September 1941 kamen die Deutschen, die „Marschgruppen“ und die Soldaten Melniks praktisch gleichzeitig in der Stadt an, und die Vertreter der OUN-M besetzten umgehend den Presse- und Polizeiapparat. Ungehindert, ja sogar halbwegs von der Wehrmacht gefördert, bildeten sie sogar den Stadtrat und versuchten, in Kiew eine Zentralinstanz für das ganze Land zu schaffen, mithin das, womit die OUN-B kurz zuvor in Lemberg gescheitert war. Am 5. Oktober erging im Namen eines „Ukrainischen Nationalrats“ eine Ergebenheitsadresse an den „Führer“ Andrij Melnik. Als Koch hiervon erfährt, ist Kiew binnen Kurzem Teil des RKU, der Rat wird aufgelöst und die OUN-M verfolgt. Dennoch gab es in dem riesigen besetzten Terrain auf Dauer keine Alternative zur Zusammenarbeit mit den Ukrainern, auch mit den radikalen banderivci. Ukrainer, gleich ob ortsansässig oder mit den Deutschen einmarschiert, gingen, zunächst noch ohne Uniform, sondern mit blau-gelber Armbinde, in die Schutzmannschaften und damit in den Polizeivollzugsdienst. Auf dem Land übten sie sogar die eigentliche Kontrolle aus, dort hatten sie die Macht und waren von Anfang an in die Terrormaßnahmen von Wehrmacht und SS eingebunden. Das gesamte ukrainische Territorium war inzwischen in vier Besatzungsgebiete aufgeteilt: Ostgalizien kam, wie erwähnt, zum Generalgouvernement, Transnistrien, also das Gebiet jenseits des Dnjestr, zu Rumänien, die restliche Ukraine bis zum Dnjepr zum RKU und locaust in the Mir Rayon of Belarus, 1941–1944, in: Gaunt, Levine und Palosuo (Hg.), Collaboration and Resistance during the Holocaust, a. a. O., S. 223–260; Evgenij Rozenblat, Belarus: Specific Features of the Region’s Jewish Collaboration and Resistance, in: ebd., S. 261–282. 15 Golczewski, Die Kollaboration in der Ukraine, a. a. O., S. 167. 16 Vgl. Bojzow, Aspekte der militärischen Kollaboration in der UdSSR 1941–1944, a. a. O., S. 298.
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die weiter östlich gelegenen Regionen wurden vom Militär verwaltet, das sich sofort an die Rekrutierung von Personal machte: Hilfspolizisten, die später Ordnungsdienst genannt, und Milizen, aus denen die Schutzmannschaften gebildet wurden. Im Frühjahr 1942 standen die ersten geschlossenen ukrainischen Schuma-Bataillone, zumeist entlassene Kriegsgefangene. Auch die Einsatzgruppen von SS und SD nahmen Einheimische auf, vor allem Ukrainedeutsche, weil diese als „rassisch wertvoll“ galten. In der Ostukraine, wo Hitlers Truppen bis ins tiefste Donezbecken hinein17 nicht weniger willkommen waren als im Westen, standen im Frühjahr 1942 über 100.000 „Hilfswillige“ an der Seite der Wehrmacht, zumeist in der Schutzpolizei und in der örtlichen Gendarmerie. Als Hitler dies am 18. August 1942 genehmigte, sanktionierte er also lediglich einen längst bestehenden Zustand. Die Deutschen verstanden es aber, durch die zögerliche Auflösung der verhassten Kolchosen und durch regelrechte Sklavenjagden auf Ukrainer, die in Heerscharen zum Arbeitseinsatz im Reich verschleppt wurden, die positive Stimmung binnen weniger Wochen kippen zu lassen, sodass beide Fraktionen der OUN bald vor der Frage standen, ob sie die eigene Bevölkerung mit einer Partisanenarmee gegen Kochs Willkür schützen sollten, der jeden Ukrainer mit „auch nur einem Anzeichen von Intelligenz“ sofort erschießen lassen wollte. Dennoch ist die am 14. Oktober 1942 entstandene „Ukrainische Aufständische Armee“ (UPA) ein Werk der Banderisten. Sie hat, solange sie bestand, gegen die Rote Armee, sowjetische Partisanen, pro- und antideutsch gesonnene Teile der Bevölkerung, die OUN-M, Polen, die polnische Heimatarmee und die Wehrmacht gekämpft und war damit ein echtes Spiegelbild der komplexen, verworrenen und tragischen ukrainischen Geschichte. Im April 1945 hat sie noch an der Verteidigung Berlins teilgenommen. Ihre Mitglieder wurden nicht selten gegen Armeen eingesetzt, in denen diese selbst vorher gedient hatten. Sie war ein Produkt und eine Reaktion auf deutsche Hochmütigkeit, Ablehnung und Ausbeutung. Ihr Ziel war eine von Berlin und Moskau unabhängige, ethnisch homogene, „reine“ Ukraine, als deren unverzichtbare Vorbedingung eigenes Militär gesehen wurde. Beim Abbrennen polnischer Dörfer in Wolhynien ging sie grausamer vor als Wehrmacht und SS, die dort vielerorts sogar den polnischen Selbstschutz unterstützten. Als Kommandeur stand ihr mit Roman Schuchewytsch jener Mann vor, der bis zu dessen Auflösung der höchste ukrainische Offizier im Bataillon „Nachtigall“ ge17 Tanja Penter, Die lokale Gesellschaft im Donbass unter deutscher Okkupation 1941–1943, in: Dieckmann, Quinkert und Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen, a. a. O., S. 183–223, hier: S. 192. Ruth Bettina Birn urteilt: „Hier kann nicht mehr vom Verheizen von ‚Fremdvölkischen‘ als Kanonenfutter oder deren Beschäftigung in untergeordneten und strikt überwachten Tätigkeiten gesprochen werden. Die Ermittlungstätigkeit selbst, die Überwachung und Abwehr von politischen Feinden der deutschen Ordnung, lag in den Händen von Menschen, die in anderen Zusammenhängen als ‚slawische Untermenschen‘ bezeichnet wurden“; dies., Kollaboration und Mittäterschaft. Die Inkorporierung von einheimischem Personal in die Sicherheitspolizei in den besetzten Ostgebieten, in: Michael Wildt (Hg.), Nachrichtendienst, politische Elite, Mordeinheit. Der Reichssicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg 2003, S. 303–323, hier: S. 316.
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wesen war. Mit einer Stärke von zuletzt 100.000 Soldaten avancierte sie in den Wirren der Ostfront und des gesamten Zweiten Weltkriegs zum Machtfaktor, und ihre erklärte Strategie war es, sich durch die Ausschaltung der „Restgegner“ als stärkste ukrainische Kraft zu positionieren. Sie begann mit dem Zerstören der deutschen Nachschubwege. Jetzt endlich verstand man sogar in der SS, dass an ukrainischen waffentragenden Verbänden kein Weg vorbeiführte. Das Scheitern vor Moskau und die Katastrophe in Stalingrad taten ein Übriges. Auch die am 28. April 1943 als Konkurrenz zur UPA gebildete SS-Division „Galizien“, formell die 14. Waffengrenadierdivision der SS, sah sich von Anfang an als Keimzelle einer ukrainischen Nationalarmee, wenngleich in ihrer endgültigen Namensgebung auf Himmlers Weisung das slawische Nationalitätenattribut umgangen wurde. Tatsächlich fand sie im galizischen Teil des Generalgouvernements ihren größten Zulauf. Insgesamt meldeten sich trotz Kochs jahrelanger Brutalitäten 84.000 Bewerber, von denen aber nur ein Viertel genommen wurde. Die griechisch-katholische Kirche zelebrierte anlässlich ihrer Aufstellung einen Feldgottesdienst. Die SS-Division „Galizien“ stand der OUN-M und der ukrainischen Intelligenz nahe, aus der sich ihr politischer Beirat zusammensetzte, banderivci stießen erst 1944 zu ihr. Männer, die bereits in der österreichisch-ungarischen Armee gedient hatten, wurden bevorzugt aufgenommen, denn für sie galt immer noch die alte Kameradschaft aus den k. u. k. Zeiten. Ihre Begeisterung und ihr Einsatzwille waren verblüffend. Langsam dämmerte es einigen an der Spree, welches Potential hier spätestens seit dem 22. Juni 1941 vergeudet worden war, und immer noch hielt man die OUN-M in halblegalem und die OUN-B in verbotenem Zustand. Ebenso wurde den Ukrainern bis in den hintersten Winkel des Landes hinein allmählich klar, dass die Deutschen nicht als Freunde, Partner oder Befreier gekommen waren, sondern dazu, ihre Heimat mit üblen Rassisten wie Erich Koch „in eine koloniale Stammesgesellschaft“18 zu verwandeln. Doch der offene, sich zum Krieg im Krieg steigernde Konflikt wurde einstweilen noch durch eine große, bis ins Mittelalter zurückreichende Gemeinsamkeit überdeckt: den sich in immer neuen Pogromen entladenden und nunmehr mit den Deutschen gemeinsam und genozidal in die Tat umgesetzten Antisemitismus. Zwar betraf er territorial nicht allein, aber doch zu großen Teilen Galizien, sodass ein kurzer historischer Blick auf diese europäische Region und Kulturlandschaft vonnöten ist. Galizien erstreckt sich nördlich der Karpaten bis zum San, der natürlichen Grenze zu Westgalizien und dem Lubliner Hügelland bis nach Wolhynien. Ostgalizien („Rotreußen“) wird Ende des 10. Jahrhunderts durch das Kiewer Reich erobert und ist seit dem 14. Jahrhundert in polnischer Hand. Nach der ersten polnischen Teilung 1772 wird es mit dem südlichen Kleinpolen zum neu formierten österreichischen „Königreich Galizien und Lodomerien“ mit der Hauptstadt Lemberg verbunden, erhält ab 18 Frank Grelka, Die ukrainische Nationalbewegung unter deutscher Besatzungsherrschaft 1918 und 1941/42, Wiesbaden 2005, S. 437.
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1786 die Bukowina und bleibt bis 1918 im Habsburgerreich. Das ukrainische Nationalbewusstsein ist hier immer stärker gewesen als in der übrigen Ukraine. Ab 1795, nach der dritten polnischen Teilung, weitet es sich um Neu-Galizien, den Nordteil Kleinpolens mit Krakau und dem Gebiet zwischen Weichsel und Bug, aus. 1867 erhält Galizien die umfassende Autonomie, einen eigenen Landtag und die polnische Amtssprache. 1918 wird es vom wiedererstandenen Polen annektiert, 1939 ist Ostgalizien von sowjetischen, 1941 von deutschen Truppen besetzt. Zu dem Zeitpunkt lebten in Ost- und Westgalizien neun Millionen Menschen, davon 900.000 Juden, ein Drittel derjenigen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine beheimatet waren. Mit seiner Vielzahl kleiner Landstädte, den sogenannten Schtetln, war Galizien das Zentrum des osteuropäischen Judentums. Simon Wiesenthal (1908–2005), in Buczacz im tiefsten Galizien geboren, sagt von seiner Familie: „Wir waren glühende habsburgisch-österreichische Patrioten“19, denn Kaiser Franz Joseph hatte den Juden die vollen Bürgerrechte verliehen. Um mit den Kindern auf der Straße spielen zu können, sprach er schon früh Russisch, Ukrainisch, Polnisch und Jiddisch, zu Hause wurde aber nur eine einzige Sprache verwendet: Deutsch. Den ersten Hebräisch-Unterricht hat er bei Abraham Silberschein aus Lemberg erhalten. Der Vater fiel 1915 in Belgien, in derselben Armee und nur wenige hundert Meter entfernt von der Einheit, in der Adolf Hitler seinen Dienst tat. Die Mutter flieht in ständiger Pogromangst nach Wien, wo Simon die jüdische Schule besucht. Im November 1916 bekommen alle Kinder einen Tag frei, um dem Katafalk mit dem toten Kaiser Franz Joseph die letzte Ehre zu erweisen. Der sechsjährige jüdische Knabe Bruno Kreisky steht mit ihm im Spalier. Zurück in Buczacz lernt Wiesenthal 1918 die „blindwütige Grausamkeit“ der Polen kennen, geht auf das säkulare Gymnasium im nahe gelegenen Lemberg und besteht das Abitur im zweiten Anlauf. Als die Deutschen im Juli 1941 in die Stadt einmarschierten, drängten sich in ihr 370.000 Menschen, von denen 170.000 Juden waren. Als sie wieder abzogen, waren noch 3400 Jüdinnen und Juden übrig. Einer davon ist Simon Wiesenthal. Pogrome waren in Galizien nichts Seltenes. Die grausamsten hatte es von 1648 bis 1854 während des Aufstands der ukrainischen Christen und Kosaken gegen die polnische Adelsrepublik gegeben. Weitere, allerdings auf das Zarenreich beschränkte, folgten 1871 und 1881, doch noch drei Jahre vor Wiesenthals Geburt überzog eine schlimme Welle das ganze Land. In der Regel setzten sie nach den großen Prozessionen anlässlich christlicher Feste ein, nach denen die Juden im Ort meistens verprügelt wurden. Viele verließen daher mit Pferd und Wagen samt Hab und Gut für einige Tage ihr Haus. Überhaupt war die Einstellung fest verankert, dass der gesamte jüdische Besitz über die Jahrhunderte unrechtmäßig erworben und zurück in ukrainische Hände ge19 Zit. nach Segev, Simon Wiesenthal, a. a. O., S. 45; vgl. Klemens Kaps, Ungleiche Entwicklung in Zentraleuropa. Galizien zwischen überregionaler Verflechtung und imperialer Politik (1772– 1914), Wien, Köln und Weimar 2015.
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höre, ein später nicht unwesentliches Kollaborationsmotiv. Zu den wenigen Ausnahmen, in denen die Juden mit Deutschen, Ukrainern, Polen, Ungarn und Rumänen friedlich und weitgehend konfliktfrei miteinander lebten, zählte Czernowitz, die Hauptstadt des österreichisch-ungarischen Kronlandes Bukowina. Ansonsten aber wuchsen Polen-, Russen- und Judenhass auf einem Holz. Der Nationalist und Ideologe Dmytro Doncow hatte schon 1926 geschrieben: „Der russische Imperialismus ist an allem schuld. Erst, wenn Rußland in der Ukraine fallen wird, werden wir auch bei uns die jüdische Frage so in Ordnung bringen können, wie dies im Interesse des ukrainischen Volkes liegen wird.“20 Von da war es nur ein Schritt bis zur Gleichsetzung von Judentum und Bolschewismus, lange vor der sowjetischen Annexion der Ostukraine 1939, in der man diese dann nur noch bestätigt sah. Die ersten „wilden“ Verfolgungen und Erschießungen dieser „Kollaborateure“ begannen 1941 dann auch vor dem Eintreffen der Wehrmacht, die „entscheidende Rolle“ (Dieter Pohl)21 spielten hier die OUN und die lokale Bevölkerung. Auch danach bedurfte es nicht besonders häufig deutscher Inspiration und Beihilfe, um die aktive Mordbereitschaft einer ganzen Heerschar ukrainischer Helfershelfer freizusetzen. Viele freuten sich sogar über die Anwesenheit der neuen Herren, unter und mit denen sie jetzt endlich das tun konnten, was sie schon längst tun wollten. Die Einnahme Lembergs durch das Bataillon „Nachtigall“ ist das „beste“ Beispiel für dieses Synergieverständnis. Da viele der „Nachtigall“-Soldaten aus Galizien stammten, gewährte man ihnen am ersten Abend Heimgang. Etliche gingen aber nicht zu ihren Familien, sondern beteiligten sich an den von ukrainischer Seite begonnenen antijüdischen Aktionen. Der Metropolit erwähnte diese in seiner Rundfunkansprache vom 1. Juli 1941 mit keinem einzigen Wort. An den Litfaßsäulen der Stadt hingen Plakate des „Ukrainischen Nationalen Komitees“, mit denen die Deutschen in ukrainischer und deutscher Sprache begrüßt und Vergeltung für die „Gräueltaten jüdischer Bolschewisten“ gefordert wurde. Darunter stand: „Es leben Adolf Hitler und Stepan Bandera. Tod den Juden und Kommunisten!“ Das Auffinden der Leichen in Gefängnissen tat ein Übriges. Ukrainische Milizen, die sich völlig unabhängig von den Deutschen gebildet hatten, zogen mordend durch die Straßen, mit blau-gelber Armbinde und die nationalukrainische Kopfbedeckung Mazepinka auf dem Kopf. Wehrmachtssoldaten machten kaum bei den Ausschreitungen mit, „die meisten standen dem Geschehen passiv und teilnahmslos ge20 Zit. nach Golczewski, Die Kollaboration in der Ukraine, a. a. O., S. 156. 21 Dieter Pohl, Schlachtfeld zweier totalitärer Diktaturen. Die Ukraine im Zweiten Weltkrieg, in: Peter Jordan et al. (Hg.), Ukraine. Geographie – Ethnische Struktur – Geschichte – Sprache und Literatur – Kultur – Politik – Bildung – Wirtschaft – Recht, Wien 2000, S. 339–362, hier: S. 348; Jobst, Geschichte der Ukraine, a. a. O., S. 194; Golczewski, Die Kollaboration in der Ukraine, a. a. O., S. 162 ff.; Dieter Pohl, Ukrainische Hilfskräfte beim Mord an den Juden, in: Gerhard Paul (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 205–234, hier: S. 205.
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genüber und schossen sogar Fotos davon.“22 Die Tatsache, dass die Wehrmachtsführung damit begann, Ausweise für neutrale ausländische Journalisten zu erstellen und Schweden die Leichenfunde besichtigen ließ, zeigt, dass man sich (noch) aus den Pogromen heraushalten wollte, aber SS und SD standen schon ante portas. Gemeinsam mit den Milizen durchkämmten sie die Stadt, zerrten alle jüdischen Männer aus den Wohnungen und erschossen sie. Was bleibt, ist die Frage nach dem Verhalten Oberländers und des Bataillons „Nachtigall“. Die klare Antwort sieht so aus, dass es an keinem Mord beteiligt war, seine Angehörigen aber schon. SS und SD wussten nicht einmal, dass sich die Einheit in der Stadt befand. Am 7. Juli verließ das Bataillon Lemberg, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Auch der weitere Weg nach Osten ist von mit Girlanden verzierten Willkommensgrüßen am Dorfeingang begleitet, aber bei der Einnahme von Kiew gehen durch „Sabotagesprengungen“ Teile des Stadtzentrums in die Luft. Die Wehrmachtsführung verlangt eine Vergeltungsaktion. In allen Straße sind im Nu Plakate ausgehängt, mit denen die ansässigen Juden aufgefordert werden, sich „zwecks Umsiedlung“ an einem Sammelplatz einzufinden, von dem aus sie in die Schlucht Babij Jar („Hexengrund“) nördlich der Stadt getrieben werden, wo sich alle ausziehen und mit dem Gesicht auf die Erde legen müssen. Über Babij Jar haben die Deutschen in raffiniert-durchtriebenem Kalkül ein riesiges Transparent gehängt, auf dem in ukrainischer Sprache „Wir erfüllen den Willen des ukrainischen Volkes“ stand. Dann wird das Feuer eröffnet. Von Roschha-Schana, der jüdischen Jahreswende in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1941, bis zum Jom Kippur, dem Versöhnungsfest zehn Tage später, erschießen zwei Bataillone ukrainischer Polizisten, eine Militäreinheit der OUN-B unter dem berüchtigten Antisemiten Petro Wojnowskyj sowie Wehrmacht und SD in endlosen Salven 33.771 Menschen. Es ist die größte Massentötung vor den Giftgasmorden in den Vernichtungslagern. Die ständig nachrückenden, noch lebenden Juden müssen sich in immer höher auftürmenden Schichten auf die Toten legen. Von den insgesamt 1500 Exekutoren waren 1200 Ukrainer und 300 Deutsche. Weil Stalin fürchtete, dass das gemeinsame Vorgehen von Deutschen und Ukrainern im ganzen Land unverhohlen begrüßt würde, durfte in der Presse und im öffentlichen Leben der Sowjetunion kein einziges Wort zu dem Massaker fallen. Ins nationalsozialistische Deutschland sickerten durch die privaten Berichte erschütterter Wehrmachtssoldaten aber schon bald Informationen durch. So notiert der in Dresden lehrende Romanistikprofessor Victor Klem22 Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998), a. a. O., S. 80; s. auch: Anatoly Podolsky, Collaboration in Ukraine during the Holocaust. Aspects of historiography and research, in: Roni Stauber (Hg.), Collaboration with the Nazis. Public discourse after the Holocaust, New York 2011, S. 44–52; Ray Brandon und Wendy Lower (Hg.), The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memorialization, Bloomington und Indianapolis 2010; Alexander Kruglow, Jewish losses in Ukraine, 1941–1944, in: ebd., S. 272–290; Boris Zabarko (Hg.), Holocaust in the Ukraine, London und Portland 2005.
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perer in seinem Tagebuch, das später unter dem Titel „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ weltberühmt werden sollte: „Grauenhafte Massenmorde an Juden in Kiew. Kleine Kinder mit dem Kopf an die Wand gehauen. Männer, Frauen, Halbwüchsige zu Tausenden auf einem Haufen zusammengeschossen (…).“23 In der Sowjetunion nach 1945 ist alles Erdenkliche zur Vertuschung des Verbrechens unternommen worden. Niemand hat davon zu sprechen, dass dort Juden umgebracht worden sind. Chruschtschow lässt direkt über den Massengräbern Auffangbecken für die Abflüsse der Kiewer Fabriken errichten, deren Mauern 1961 brechen. Die sich über den anliegenden Stadtteil ergießende Giftjauche tötet Tausende von Menschen. Auch hierzu muss eisern geschwiegen werden. Als Dmitrij Schostakowitsch, dem Gedicht Jewgenij Jewtuschenkos „Es steht kein Denkmal über Babij Jar“ folgend, 1962 in seine 13. Symphonie einen Chorsatz über die Todesschlucht einfügt, bleibt die Regierungsloge bei der Uraufführung in Moskau zum ersten Mal leer. 1976 lässt Breschnjew als Konzession gegenüber dem Ausland am Ort des Verbrechens ein kaltes und liebloses Mahnmal hochbetonieren, auf dem vom Martyrium der Juden kein einziges Wort steht, ebenso wenig wie auf einer in den 1980er Jahren errichteten Stele mit hebräischer (!) Inschrift. Nach wie vor hatte man Angst vor den Fragen nach der ukrainischen Komplizenschaft. Selbst in der Ära Gorbatschow durfte über die Beteiligung der Kiewer Polizeieinheiten kein Wort verloren werden. Erst am 50. Jahrestag des Massakers im September 1991 erkannte die unabhängige ukrainische Regierung den Ort als „Symbol jüdischen Märtyrertums“ an, aber mit der eigenen Kollaboration tut man sich bis heute schwer. Ukrainerinnen und Ukrainern sind in einem Ausmaß in den Holocaust involviert, dessen Dimensionen immer noch nicht vollständig bekannt sind, weder quantitativ noch hinsichtlich des konkreten Vorgehens. Das Mittun reicht von der „einfachen“ nachbarschaftlichen Denunziation bis zum systematischen Terror der (vom Metropoliten geförderten) SS-Division „Galizien“, in der Ukrainer zusammen mit Volksdeutschen mordeten. Nur die wenigsten mussten von den Nazis motiviert und aufgehetzt werden, die meisten waren Antisemiten, lange bevor die Deutschen kamen. Nicht zufällig entwickelten die Hilfspolizisten bei der Suche nach versteckten Juden „noch erheblich mehr Eigeninitiative“ (Pohl) als bei den Massenerschießungen. Stetzko sprach sich ausdrücklich dafür aus, die „deutschen Methoden der Vernichtung der Juden in die Ukraine zu bringen.“ Die Juden galten als Wucherer, Kommunisten und als Verantwortliche für die große Hungersnot wenige Jahre zuvor. Wer sie umbrachte, nahm damit nicht nur Rache an Stalin, sondern wusch sich vor der SS auch noch von dem 23 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945, hg. von Walter Nowojski et al., Bd. 2: Tagebücher 1942–1945, Berlin 1995, S. 68; dazu: Kellmann, Stalin, a. a. O., S. 202 f.; Viktor Timtschenko, Ukraine. Einblicke in den neuen Osten Europas, Berlin 2012, S. 46; Anatolij Kusnjetzow, Babij Jar. Die Schlucht des Leids, München 2001; erste Auflage: Kiew 1966
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Vorwurf rein, mit ihm und dem Sowjetsystem kollaboriert zu haben, was oft genug der Fall war. So blieben die Juden doppelt ausgeliefert. In Ostgalizien fand das Gros der Mordexzesse in der Frühphase der Wehrmachtsbesatzung „ohne erkennbare deutsche Beteiligung“ (Saul Friedländer)24 statt. Anders als die westeuropäischen wurden die ukrainischen Juden nicht verschleppt, deportiert, in KZ gesperrt und vergast, sondern bei Massenerschießungen auf dem freien Feld oder gleich neben ihrer eigenen Haustür ermordet, oft von Menschen, die sie ihr Leben lang gekannt hatten. In Berditschew südwestlich von Kiew, wo vor dem Krieg von den 65.000 Einwohnern über ein Drittel Juden waren, gab es im Oktober 1941 nur noch wenige Hundert. Binnen nicht einmal vier Monaten wurde dort jeder Nichtjude „unweigerlich zum Akteur im Mordgeschehen. (…) Obwohl mit völlig unterschiedlicher Intention ausgeführt, griffen die Verhaltensweisen von jüdischen Verfolgten, nicht-jüdischen Zuarbeiter/innen und Helfer/ innen sowie deutschen Tätern wie das Räderwerk einer Uhr ineinander.“25 In Lemberg fordert die Hilfspolizei im März 1942: „Unsere Polizisten warten auf die Pistolen, damit sie besser ihre Pflicht ausführen können.“ Mit der Waffe in der Hand fällt dann jede Hemmung. Hilfs-, Schutz- und Sicherheitspolizei, ja sogar Angehörige der Zivilverwaltung, Deutsche und Ukrainer töten zusammen. Anderthalb Millionen der ermordeten Juden stammen aus ukrainischen Gebieten, mithin jedes vierte Opfer der sogenannten Endlösung. Die Zahl der Ukrainer, die dabei mitgeholfen hat, wird auf 40.000 geschätzt. Iwan Demjanjuk war einer von ihnen. Iwan Nikolajewitsch Demjanjuk wird am 3. April 1920 in dem gottverlassenen ukrainischen Dorf Dubowije Makarensy in bitterster Armut geboren. In der Schule ge24 Friedländer, Die Juden und das Dritte Reich, Bd. 2, S. 243; Patrick Desbois, Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden – Eine Spurensuche, Berlin 2009; Bert Hoppe und Hildrun Glass (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I. Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Verwaltung, Baltikum und Transnistrien, München 2011; Patrick Desbois und Edouard Husson, Neue Ergebnisse zur Geschichte des Holocaust in der Ukraine, in: Hürter und Zarusky (Hg.), Besatzung, Kollaboration, Holocaust, a. a. O., S. 177– 187; Wendy Lower, Axis Collaboration, Operation Barbarossa, and the Holocaust in Ukraine, in: Alex J. Kay, Jeff Rutherford and David Stahel (Hg.), Nazi Policy on the Eastern Front. Total War, Genocide and Radicalization, Rochester 2012, S. 186–219; Wendy Lower, Nazi Empire-Building and the Holocaust in Ukraine, Chapel Hill 2005; Eric Steinhart, The Holocaust and the Germanization of Ukraine, New York 2015. Steinhart untersucht den Judenmord in Transnistrien und zeigt, dass sich die lokale Bevölkerung zusammen mit Volksdeutschen und SS bereitwillig hieran beteiligte. Hierzu: Dmytro Myeshkov, Die Deutschen in der Ukraine während der Besatzung 1941–1944, in: Burkhard Olschowsky und Ingo Loose (Hg.), Nationalsozialismus und Regionalbewusstsein im östlichen Europa, München 2016, S. 401–422. 25 Michaela Christ, Die Dynamik des Tötens. Die Ermordung der Juden von Berditschew/Ukraine 1941–1944, Frankfurt am Main 2011, S. 268 f.; Martin Dean, The “Local Police” in Nazi-occupied Belarus and Ukraine as the “Ideal Type” of Collaboration: in Practice, in the Recollections of its Members and in the Verdicts of the Courts, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 414–433.
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hört er zu den schlechtesten. Nach einigen Jahren erreicht er in ihr nur den Abschluss der vierten Klasse. Während der großen Hungersnot sieht er, wie Menschen Gras und Zweige essen und sterben. Er selbst isst Ratten und Mäuse und überlebt. Er lernt Traktorist, weil er mit Maschinen umgehen kann. Mit 21 ruft Stalin ihn zu den Waffen. Im Mai 1942 gerät er auf der Halbinsel Krim in deutsche Kriegsgefangenschaft. Er wird ins Lager Chelm im Generalgouvernement gebracht, wo ihm erneut der Hungertod droht, den dreieinhalb Millionen Rotarmisten erleiden. Als im Sommer 1942 Offiziere der SS ins Lager kommen, um Wachmänner anzuwerben, steht er unmittelbar vor dem Zusammenbruch. Er unterschreibt. Die SS nimmt ihn zur weiteren Ausbildung mit in ein Lager, das der am schwierigsten zu fassenden Kollaborationsspezies in Europa den Namen gegeben hat: Trawniki. Es liegt in der Nähe von Lublin. Dort lernen 5000 „Hilfswillige“, in der Regel Ukrainer, Polen, Litauer, Esten, Letten und Volksdeutsche, den Nazis bei ihrer Mordarbeit zur Hand zu gehen, genauer: sie von dieser zu entlasten. Es geht vor allem darum, Personal für die bevorstehende „Aktion Reinhardt“, die Auslöschung der Juden im GG, zu rekrutieren. Demjanjuk darf sich schon bald die schwarze Uniform der Trawniki überstreifen und wird zunächst im KZ Majdanek eingesetzt. Andere waren im Objektschutz, in der Partisanenbekämpfung oder bei der Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstandes tätig, die meisten dienten in Auschwitz. Ob sie wirklich in dem Glauben gelassen wurden, zu einer sich im Aufbau befindlichen ukrainischen Armee zu gehören, und ob es aus der Verpflichtungserklärung wirklich „kein Entkommen mehr gab“, wie Frank Golczewski sagt26, ist umstritten. In dem 2009 gegen Demjanjuk eröffneten Verfahren spielt diese Frage die entscheidende Rolle bei der Urteilsfindung. Am 27. März 1943 wird er in das Vernichtungslager Sobibor in Südostpolen verlegt. Die dortige Besatzung besteht aus zwanzig deutschen SS-Leuten und 130 ukrainischen Trawniki. Demjanjuks Aufgabe ist es, die an der Eisenbahnrampe ankommenden Juden in die Entkleidungsbaracke zu führen und sie dann die „Himmelfahrtsstraße“ hinauf am Magazin für Frauenhaare vorbei in die Gaskammer zu treiben. Das hat er 26 Golczewski, Die Kollaboration in der Ukraine, a. a. O., S. 180; s. auch: Klaus Wiegrefe et al., Der dunkle Kontinent, in: „Der Spiegel“, Nr. 21/2009, S. 82–92; Georg Bönisch et al., Ein ganz gewöhnlicher Handlanger, in: „Der Spiegel“, Nr. 26/2009, S. 46–48; Alice Bota, Kerstin Kohlenberg und Heinrich Wefing, Ivan, der Anpasser, in: „Die Zeit“, Nr. 28 vom 2.7.2009, S. 13–15; Heinrich Wefing, Ivan, der Armselige, in: „Die Zeit“ vom 28.4.2011, S. 8; Stefan Kühl, Die Fußvölker der Endlösung, in: „Die Zeit“, Nr. 18 vom 23.4.2009, S. 46; Peter Black, Foot Soldiers of the Final Solution. The Trawniki Training Camp and Operation Reinhard, in: „Holocaust and Genocide Studies“, Nr. 1/2011, S. 1–99; Jacek Andrzej Mlynarczyk, An der Seite der Deutschen. Der Einsatz von Trawniki-Männern in den Augen jüdischer und polnischer Zeitzeugen, in: ZfG, Nr. 7–8/2017, S. 642–656; Lukas Hammerstein, Stumm vor Schuld, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 12.5.2011, S. 3; Klaus Wiegrefe et al., Mord nach Vorschrift, in: „Der Spiegel“, Nr. 12/2009, S. 150–155. Entflohene Trawniki-Männer, die in die Hände der polnischen Heimatarmee gerieten, wurden als Kollaborateure von dieser anstandslos liquidiert.
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sechs Monate lang getan und dadurch Beihilfe zum Mord an 28.000 Menschen geleistet. Sein Dienstausweis lässt keinen Zweifel daran aufkommen. Insgesamt hat die 150-köpfige Mannschaft in Sobibor 250.000 Menschen umgebracht, in einem Zeitraum von anderthalb Jahren. Die Hamburger Oberstaatsanwältin Helge Grabitz, die später Verfahren gegen die SS vorbereitete, stieß hierbei auf erschütternde Grausamkeiten der Trawniki, die „nicht auch nur andeutungsweise“ befohlen waren. Ab Oktober 1943 ist Demjanjuk Wachmann im KZ Flossenbürg in der Oberpfalz, zum Schluss sieht man ihn sogar noch für einige Wochen in der Wlassow-Armee. Nach dem Krieg meldet er sich bei der amerikanischen Militärverwaltung als Displaced Person. Die U.S. Army beschäftigt ihn als Mechaniker in Regensburg. Dort heiratet er 1947 Vera Kowalewa, eine der eine Million ukrainischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die nach Deutschland verschleppt worden waren. Er hatte sie in der Warteschlange vor der Lebensmittelausgabe eines Flüchtlingslagers kennengelernt. 1952 schifft sich das Ehepaar von Bremerhaven aus nach Cleveland in Ohio ein, wo Iwan und Vera schnell heimisch werden, denn sie sind von einer verschwiegenen ukrainischen Gesellschaft umgeben. Man spricht, isst und lebt ukrainisch, am Sonntag geht es in die orthodoxe St. Wladimir Church. Iwan schuftet bei Ford am Fließband, 1958 erhält er die US-Staatsbürgerschaft und nennt sich fortan John. Auf den slawischen Allerweltsvornamen folgt der amerikanische und endlich eine Existenz in geordneten, ruhigen Bahnen. 1975 kehrt ein US-Journalist von einer Reise in die UdSSR mit einer Liste ukrainischer Kriegsverbrecher zurück. Der KGB hat bei der Aufstellung geholfen, um antisowjetische Exilukrainer zu diskreditieren. Auf ihr findet sich der Name „Demjanjuk“. Die Washingtoner Immigrationsbehörde schickt sein Passfoto nach Israel, wo es Überlebenden des Holocaust gezeigt wird. Allein sechs Zeugen behaupten, ihn zu kennen. Einer ruft aus: „Das ist Iwan der Schreckliche“, der eiskalte Maschinist der Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka. 1977 wird Klage gegen ihn erhoben, 1981 wird ihm die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt, und 1986 verlässt er das Bundesgefängnis in Missouri Richtung Israel. Unter den Zwiebeltürmen der St. Wladimir Church betet die ganze Gemeinde für ihn, der inzwischen im gleichen Gefängnis wie einst Adolf Eichmann sitzt. Er betont, nie in Treblinka gewesen zu sein, aber am 25. April 1986 wird er zum Tod durch Erhängen verurteilt. Doch das Berufungsverfahren verzögert sich, Demjanjuk wartet fünf Jahre in der Todeszelle auf die Vollstreckung. 1990 kollabiert die Sowjetunion und viele Archivtüren öffnen sich, auch für seine Verteidiger. Sie finden 21 Aussagen von KZ-Wächtern in Treblinka, dass „Iwan der Schreckliche“ mit Nachnamen Marchenko hieß. Der Staat Israel, die Opfernation schlechthin, besitzt die Größe, den Justizirrtum zu korrigieren. Demjanjuk verlässt das Land 1993 als freier Mann und erhält die amerikanische Staatsbürgerschaft zurück. Das hatte es in der Geschichte der USA noch nie gegeben. Der Ruheständler schickt sich an, die wiedergewonnene Normalität in Ruhe zu genießen, doch es gibt keine Ruhe. Das Office of Special Investigations, eine Behörde des US-Justizministeriums zum Aufspüren NS-belasteter Einwanderer, die im ersten Verfahren eine dubiose Rolle ge-
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spielt hatte, will seine Scharte auswetzen. Es bringt eine Zeugenaussage bei, dass Demjanjuk in Sobibor bei der „täglichen Arbeit ein erfahrener und effizienter Wachmann“ gewesen ist. 2001 verliert er die Staatsbürgerschaft erneut. Die Amerikaner wollen ihn abschieben, aber Polen, Israel und die Ukraine winken ab. Bleibt nur die Bundesrepublik Deutschland. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg hat inzwischen alle Verdachtsmomente gegen Demjanjuk zusammengetragen, die sie der Staatsanwaltschaft München übermittelt. Das dortige Amtsgericht erlässt einen Haftbefehl. Am 12. Mai 2009 sitzt er wieder im Flugzeug, in einem Lazarettstuhl. Was nun beginnt und auf den Tag zwei Jahre später mit der Urteilsverkündung des Landgerichts München II endet, ist der letzte große Kriegsverbrecherprozess in Deutschland, der sich durch ein ganzes Bündel von Besonderheiten auszeichnet. Jeder weiß, dass es um einen ganz kleinen Fisch, um den „Kleinsten der Kleinen“, geht. Seine (deutschen) Vorgesetzten in Sobibor waren in den Prozessen der 1960er Jahre praktisch ungeschoren davongekommen. Jeder wusste aber auch, dass es sich um einen Fall mit „neuer Qualität“ handelt, denn bis dahin hatte es die deutsche Justiz stets vermieden, über NS-Kollaborateure zu richten, die nicht einmal in ihren Heimatländern angeklagt worden waren. Demjanjuk gehörte zweifellos zum „Fußvolk der Endlösung“ (Klaus-Michael Mallmann), ein einfach strukturierter Mann, der von der SS nie befördert, geschweige denn ausgezeichnet worden war, der immer Wachmann, also auf dem niedrigsten Dienstrang, blieb und nach fünfzig Jahren Aufenthalt in den USA nicht einmal richtig Englisch sprach. Er gehörte nicht zu den Meistern des Todes, sondern zu den Handlangern des Holocaust. So ging es in der Urteilsfindung gegen den „fremdvölkischen Hilfswilligen“ denn auch zentral um die Frage des „putativen Befehlsnotstands“, darum, ob der Angeklagte sich der Situation, in der er massen- und dauerhaft Beihilfe zum Mord leistete, hätte entziehen können oder müssen. Die geladenen (letzten) Zeugen bejahten dies. Demjanjuk hat, so wie die SS-Leute auch, die Bordelle in den umliegenden Dörfern von Sobibor besucht, in denen überall ukrainisch gesprochen wurde. Die Grenze zur Ukraine war nur acht Kilometer entfernt, er hätte problemlos fliehen und desertieren können, so wie jeder Dritte von 5000 Trawniki. Der Staatsanwalt machte sich diese Argumente in seinem Schlussplädoyer zu eigen. Er ergänzte sogar, dass wieder eingefangene Trawniki, die sich in die Wälder davongemacht hatten, nicht hingerichtet wurden, sondern mit ein paar Stockschlägen (in der Regel 25 auf die Sohlen) davonkamen. So war es Demjanjuk in Majdanek selbst einmal ergangen. Die Richter sahen laut dem am 12. Mai 2011 verkündeten Urteil in dem Angeklagten dann auch „keinen dressierten Diensthund der SS, der bloß seinem Überlebensinstinkt folgte“, wie Gisela Friedrichsen es anschließend kommentierte27, sondern einen 27 Gisela Friedrichsen, „Allen war klar, was geschah“. Das Demjanjuk-Urteil klärt die Schuld der NS-Helfer, in: „Der Spiegel“, Nr. 20/2011, S. 44; dazu: Heinrich Wefing, Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess, München 2011; Angelika Benz, Der Henkersknecht. Der Prozess gegen
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Menschen, der sehr wohl zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte und Handlungsspielräume besaß, so wie die anderen Trawniki auch, von der brutalen Behandlung der KZ-Insassen bis zur Möglichkeit, ihnen zur Flucht zu verhelfen. Die Richter vermieden es aber, sich grundsätzlich zu den Fluchtmöglichkeiten des Trawniki aus Sobibor zu äußern. John (Iwan) Demjanjuk wird wegen Beihilfe zum Mord in 28.000 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt, gleichzeitig jedoch auf freien Fuß gesetzt, weil bei dem Staatenlosen bis zur Revision durch den Bundesgerichtshof keine Fluchtgefahr bestehe. Der Haftbefehl war damit aufgehoben. Der Angeklagte, als „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ bezeichnet, schwieg während des gesamten Verfahrens wie ein Grab. In dieses sank er am 18. März 2012, nachdem er fast 92-jährig in einem Pflegeheim in Südostbayern gestorben war. Die Revision hat er nicht mehr erlebt, die Akten wurden geschlossen. Mit Demjanjuk saß der Prototyp des Trawniki auf der Anklagebank, und mit ihm die gesamte Problematik der Kollaborationsdiskussion und -definition seit Beginn des Zweiten Weltkriegs. „Selbstverständlich handelten die(se) (…) Männer im deutschen Interesse, und ihre Verwendung wurde von den an der lokalen Verwaltung beteiligten Ukrainern begrüßt. Sie selber aber wurden nur selten gefragt (…). Der Schritt von einem Kollaborateur zu einem Zwangsverpflichteten war sehr klein.“28 Im März 1943 beginnt die Rückeroberung der Ukraine durch die Rote Armee. Das Blatt wendet sich und mit ihm alle Parameter der Kollaboration. Der UPA gelang es, zahlreiche Hilfspolizisten, die bis dahin in „krimineller Energie ihren deutschen Kollegen an Grausamkeit bei den Verbrechen in nichts nachstanden“29, zur Desertion zu bewegen und in den Untergrund zu locken. Bis zur Verteilung der ersten OUN-Flugblätter, in denen appelliert wird, sich nicht weiter an den „Pogromen“ zu beteiligen, dauert es allerdings bis Anfang 1944. Da aber war kaum noch ein ukrainischer Jude am Leben. Selbst innerhalb der UPA sind alle Juden beim Herannahen der sowjetischen Front liquidiert worden. Überhaupt blieb beiden Flügeln der OUN in der Zielsetzung einer homogenen, ethnisch „reinen“ Ukraine das systematische Töten, sozusagen der „deutsche Weg“, nicht fremd, auch wenn die Ukraine frei von jedweder deutschen Fremdherrschaft sein sollte. „So konnte sich eine antideutsche Einstellung (…) durchaus mit
John (Iwan) Demjanjuk in München, Berlin 2011; dies., Handlanger der SS. Die Rolle der Trawniki-Männer im Holocaust, Berlin 2015; Matthias Janson, Hitlers Hiwis. Iwan Demjanjuk und die Trawniki-Männer, Hamburg 2010; Rainer Volk, Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München, in: „Einsichten und Perspektiven“, Nr. 2/2011, S. 134–147. 28 Golczewski, Die Kollaboration in der Ukraine, a. a. O., S. 180. 29 Pohl, Ukrainische Hilfskräfte beim Mord an den Juden, a. a. O., S. 224; Dieter Pohl, Schauplatz Ukraine. Der Massenmord an den Juden im Militärverwaltungsgebiet und im Reichskommissariat 1941–1943; in: Christian Hartmann, Johannes Hürter, Peter Lieb und Dieter Pohl, Der deutsche Krieg im Osten 1941–1944. Facetten einer Grenzüberschreitung, München 2009, S. 155– 198.
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der Teilnahme am antijüdischen Massenmord vertragen.“30 Als sich sowohl die Wehrmacht als auch die UPA zur Zusammenarbeit bereitfinden, ist der Zeitpunkt für eine Erfolg versprechende Kooperation längst verpasst. In großer Eile werden Melnik, Stetzko und Bandera im Frühherbst 1944 aus der Haft bzw. aus dem KZ entlassen, um mit ihnen noch zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Der berüchtigte „SS-Jagdverband Ost“ darf auf einmal Kontakt mit der UPA aufnehmen, um das sowjetische Vordringen gemeinsam abzuwehren, und das RSHA fördert die Bildung eines „Ukrainischen Nationalkomitees“ (UNK) unter Leitung von Pawlo Shandruk, der im Unabhängigkeitskampf nach dem Ersten Weltkrieg gegen die Rote Armee gefochten hatte. Im März 1945 erhält er die offizielle Anerkennung durch die Berliner Reichskanzlei, die SS-Division „Galizien“, die sich fortan „1. Ukrainische Division der Ukrainischen Nationalarmee“ nennen darf, steht ihm zur Verfügung. Es war just der Moment, in dem es im bereits völlig verschanzten Führungsbunker zum surrealsten und gespenstischsten, das gesamte Versagen des Nationalsozialismus gegenüber der europäischen Kollaborationsbereitschaft enthüllenden Dialog kommt. Ein SS-Verbindungsoffizier namens Göhler hat Hitler soeben über Waffen tragende nationale ukrainische Verbände informiert. Dazu Hitler: „Man weiß ja nicht, was alles herumflaniert. Ich höre jetzt zum ersten Mal zu meinem Erstaunen, dass eine ukrainische SS-Division plötzlich aufkreuzt. Von dieser ukrainischen SS-Division habe ich überhaupt nichts gewusst.“ Göhler: „Die besteht schon sehr lange.“ Hitler: „Aber bei unseren Besprechungen wurde sie nie angeführt. Oder erinnern Sie sich?“ Göhler: „Nein, ich erinnere mich nicht.“ Hitler: „Es ist ja alles ein Selbstbetrug … Ich will nicht behaupten, dass man mit diesen Fremdländischen nichts machen kann. (…) Aber man braucht Zeit dazu. Wenn man sie sechs oder zehn Jahre hat …, dann werden das natürlich gute Soldaten.“31 Zehn Tage später erreichten Stalins Soldaten die Berliner Stadtgrenze. Das UNK musste seinen Sitz in Weimar nehmen, das RKU war schon seit dem 1. Dezember 1944 aufgelöst. Die deutsche Herrschaft in der Ukraine war beendet. 400.000 Ukrainer hatten an ihr mitgewirkt, davon 250.000 in der Wehrmacht und 150.000 in der Regel nicht Uniformierte in einer Vielzahl anderer Funktionen bis hin zum Fahrer, zur Sekretärin oder Reinmachefrau. Nur die wenigsten taten dies aus ideologischer Überzeugung, fast alle hingegen in dem Glauben und der Hoffnung, hiermit ihren Beitrag für einen unabhängigen (National-)Staat zu leisten. Was die NS-Größen davon hielten, das 30 Pohl, Ukrainische Hilfskräfte beim Mord an den Juden, a. a. O., S. 220; ders., The Murder of Ukraine’s Jews under German Military Administration and the Reich Commissariat Ukraine, in: Brandon und Lower (Hg.), The Shoah in Ukraine, a. a. O., S. 23–76; Grzegorz Motyka, Die Kollaboration in den Ostgebieten der Zweiten Polnischen Republik 1941–1944, in: Młynarczyk (Hg.), Polen unter deutscher und sowjetischer Besatzung 1939–1945, a. a. O., S. 385–404, hier: S. 403 (Liquidation der Juden innerhalb der UPA). 31 Helmut Heiber (Hg.), Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942–1945, Stuttgart 1962, S. 638 f. vom 23. März 1945.
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hatte der Generalgouverneur Hans Frank am 12. Januar 1944 in bestialisch-menschenverachtender Ehrlichkeit gesagt: „Wenn wir den Krieg einmal gewonnen haben, dann kann meinetwegen aus den Polen und aus den Ukrainern und dem, was sich hier rumtreibt, Hackfleisch gemacht werden.“32 Der OUN-M und OUN-B hat nicht einmal die bedingungslose Kapitulation Hitlerdeutschlands zur Einigkeit verholfen. Melnik und Bandera haben sich bis zum letzten Atemzug gehasst. Ende 1944 beginnen sie – gegeneinander – den Untergrundkrieg gegen die Sowjetunion, indem sie sich beide der UPA bedienen, deren im Juli 1944 gebildeter „Oberster ukrainischer Befreiungsrat“ durchaus demokratische Zielsetzungen hatte und deren letzte Verbände erst 1955 vernichtet werden. Stetzko flieht nach Luxemburg, während Melnik und Bandera schließlich in München landen, wo die OUN im Frühjahr 1945 als Exilorganisation mit Bandera als Vorsitzendem neu gegründet wird; Stetzko gehört zum Führungsteam. An der Neukonstituierung der „Rada“ als dem ukrainischen Exilparlament 1948 nimmt die OUN-B nicht teil, weil Bandera strikt auf dem Führerprinzip besteht und demokratische Verfahren ablehnt. Der Kreml wirft ihm vor, die UPA von München aus zu steuern. Dort wird 1952 ein sowjetischer Agent verhaftet, der den Auftrag hat, Bandera zu ermorden, 1958 ein zweiter. Im März 1959 kann in letzter Minute der Versuch vereitelt werden, Banderas drei Kinder zu entführen, doch am 15. Oktober 1959 wird er ermordet vor seiner Wohnung in der Kreittmayrstraße 7 aufgefunden. Der Täter, ein Auftragskiller des KGB, stellt sich 1961 den amerikanischen Behörden in West-Berlin und gesteht 1962 bei dem Prozess vor dem Bundesgerichtshof, dass er auch den in der Münchner Ohmstraße lebenden Stetzko hatte umbringen sollen. Dem US-amerikanischen Versuch, den Mord an Bandera und das anschließende Verfahren propagandistisch auszunutzen, stellt sich Adenauer entgegen, weil er es nicht wagt, die Sowjetunion zu reizen. Der Vorsitz der Exil-OUN geht 1968 an Stetzko, der am 15. Oktober 1979 zum 20. Jahrestag der Ermordung Banderas eine Presseerklärung veröffentlicht, in der für die OUN bei den Vereinten Nationen der gleiche völkerrechtliche Status gefordert wird wie für die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO. Stetzko stirbt 1986 in München, Melnik war schon 1964 in Luxemburg zu Grabe getragen worden; Banderas Mörder hatte in seinem Prozess ganz offen bekannt, dass der KGB ihn wegen seines hohen Alters für politisch ungefährlich hielt und deshalb am Leben gelassen habe. Der Anteil der Ukrainerinnen und Ukrainer, der wieder unter sowjetische Herrschaft fallen wollte, war verschwindend gering. Im Teufelskreis der Gewalt begann ab 1943 vielmehr ein neuerlicher, unbarmherzig blutiger Guerilla- und Partisanenkrieg, dem bis 1952 über 150.000 Menschen zum Opfer fielen. Besonders in der Westukraine widersetzte man sich dem Mythos vom „Sieg im Volkskrieg“. Auch die Tatsache, dass die Moskauer Staatskommission zur Ermittlung deutscher Kriegsverbrechen allein im 32 Zit. nach Torzecki, Die Rolle der Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht in der Ukraine für deren Okkupationspolitik 1941 bis 1944, a. a. O., S. 266.
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Donez-Becken Massengräber mit 323.000 Menschen entdeckte, die von Wehrmacht und SS erschossen, erhängt, im Gas erstickt oder die Förderschächte lebendig hinabgestoßen worden waren33, änderte hieran wenig. Überdies war der Ukraine im kommunistisch dominierten Polen des „Lubliner Komitees“ ein neuer und zugleich uralter Gegner im Westen erwachsen, mit dem man sich sogleich kriegerische Auseinandersetzungen lieferte. Sie besaßen ihre Ursache darin, dass die polnische Exilregierung in London schon 1943 erklärt hatte, dass Galizien und Wolhynien auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu Polen gehören sollten. Daraufhin hatte die OUN umgehend mit der rücksichtslosen „Entpolonisierung“ dieser Gebiete begonnen, was die UPA und die Armija Krajowa schon bald gegeneinander ins Feld führte und im „Wolhynischen Gemetzel“ wie auch in der „Aktion Weichsel“ gipfelte. Erklärtes Ziel war eine unabhängige, nichtsozialistische Ukraine, dem 100.000 in den Jahren 1943 und 1944 von der UPA grausam ermordete polnische Siedler im Weg standen. Das kommunistische und das nichtkommunistische Polen waren sich einig, dass jetzt auch die Ukrainer in Südostpolen „umgesiedelt“ werden müssten. Das Ergebnis, die in den frühen Morgenstunden des 28. April 1947 begonnene „Aktion Weichsel“, war in Warschau schon lange generalstabsmäßig vorbereitet worden. „Polen sollte ein ethnisch homogenes Land werden.“34 Die von Haus und Hof brutal vertriebenen 140.575 Ukrainer kamen deshalb auch nicht zu ihren Landsleuten, sondern nach Schlesien, Pommern und Ostpreußen, wo sie als Minderheit absorbiert wurden und kein Konfliktpotential mehr darstellten. Die „ukrainische Frage“ galt fortan als gelöst und wurde in der offiziellen polnischen Geschichtsschreibung totgeschwiegen. Dass die sobornist, der uralte Traum der Vereinigung aller ukrainischen Länder unter einer Herrschaft, nach dem Zweiten Weltkrieg ausgerechnet von der mehrheitlich bekämpften Sowjetunion verwirklicht worden ist, „mutet fast wie eine Ironie des Schicksals an.“35 Und mit der Sowjetunion musste man die Formen wie auch den Wesensgehalt der Erinnerung an diese Zeit übernehmen, nämlich dass man Opfer des Faschismus geworden sei, und sonst nichts. Schließlich waren im Krieg sechs Millionen der eigenen Leute umgekommen. Die Tatsache, dass die Westukraine bis 1939 niemals Teil Russlands oder des sowjetischen Imperiums gewesen war, interessierte in Moskau niemanden, und deshalb hatte sie auch in Kiew und Lemberg niemanden zu interessieren. Doch was aus gewaltsam unterdrückter Erinnerung wird, ist seit Thukydides hinreichend bekannt. Es war in der Tat die Westukraine, die im Implosionsprozess der UdSSR die Loslösung aus dem sowjetischen Machtverband 33 Vgl. Penter, Die lokale Gesellschaft im Donbass unter deutscher Okkupation 1941–1943, a. a. O., S. 196. 34 Helga Hirsch, Eine gnadenlose Zeit, in: „Die Welt“ vom 28.4.2007, S. 17; dies., Entwurzelt. Vom Verlust der Heimat zwischen Oder und Bug, Hamburg 2007; Bohdan Hud, Das ukrainisch-polnische Verhältnis, in: APuZ, Nr. 8–9/2007, S. 31–38. 35 Jobst, Geschichte der Ukraine, a. a. O., S. 207.
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forderte. Auf dem Gründungskongress der „Volksbewegung der Ukraine für die Perestroika“ (ukrainisch: Ruch) im September 1989 waren OUN und UPA als „gesamtukrainisches nationales Pantheon“ (Kappeler) in aller Munde, und in der Gründungspräambel ihres Programms stehen der „künstliche Hunger 1933 mit Millionen von Opfern“ ebenso wie die „Verbrechen der stalinschen und neostalinschen Führer“. 1993 wird das 50-jährige Jubiläum der SS-Division „Galizien“ in Lemberg völlig offen und ohne östlichen bzw. westlichen Protest begangen, 2002 und 2017 – unter dem Schutz von 5000 Polizisten – in Kiew der 60. bzw. der 75. Jahrestag der UPA, der in einigen Regionen sogar zum Staatsfeiertag erhoben wird. Es war einfach unvergessen, dass diese Armee, inzwischen vor dem NKWD in den Wäldern versteckt, noch bis in die 1950er Jahre hinein Widerstand gegen die neuen Machthaber geleistet und dass 153.000 ihrer Kämpfer von den sowjetischen Streitkräften getötet worden waren. Die Mitglieder der OUN erhalten 1998 den Kombattantenstatus, unter scharfem Protest Boris Jelzins. Stepan Bandera, für die einen die „undurchschaubarste Figur“ (Ludmilla Lutz Auras) der ukrainischen Geschichte und Bandit, Vaterlandsverräter, Mörder, Faschist und Nazi-Scherge in einem, für die anderen der „herausragende Sohn des ukrainischen Volkes und Stratege des nationalen Befreiungskampfes“, sah sich 2007 in Lemberg am Ende der Bandera-Straße vor der einst polnisch-katholischen Elisabethkirche auf einem drei Meter hohen Granitsockel in Bronze gegossen als Denkmal enthüllt. Der Streit zwischen den Veteranen der UPA, der SS-Division „Galizien“ und der Bataillone „Roland“ und „Nachtigall“ mit den Ukrainern, die in der Roten Armee gedient hatten, war längst in vollem Gang, nicht nur, was die Gleichbehandlung bei Rente und Pension anging, sondern mehr noch, was den Stellenwert im Erinnerungshaushalt der eigenen Nation betraf. In der Bevölkerung des russophonen Ostens und der Halbinsel Krim gilt Bandera nach wie vor als Kollaborateur und Terrorist. Staatspräsident Juschtschenko erklärte ihn hingegen 2010 zum „Helden der Ukraine“. Das Europäische Parlament artikulierte hierzu postwendend sein Missfallen wie auch die Hoffnung, dass die Kiewer Regierung „ihr Bekenntnis zu europäischen Werten aufrechterhält.“ Daraufhin annullierte das Oberste Ukrainische Verwaltungsgericht im Juni 2010 das Vorgehen Juschtschenkos, wohinter das neu gewählte Staatsoberhaupt Janukowitsch stand. Die Fronten für den kommenden blutigen Konflikt waren historisch positioniert. Auf dem Chreschtschatyk, einer der meistfrequentierten Straßen Kiews, kam es deshalb alljährlich zu brutalen Schlägereien zwischen allen beteiligten Gruppen. Das schon 2000 hierzu verhandelte Gesetzesprojekt hieß „Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit“, die ukrainische Diaspora in aller Welt spricht vom „Gegengedächtnis“. Ob auch das Schicksal der Juden in ihm Platz hat, ist eine offene Frage. Eine regierungsoffizielle Erinnerung an die Shoah gibt es bislang nicht, was „eng mit dem schmerzhaften Prozess der Herausbildung einer nationalen Identität“ zu tun hat. „Es bildet sich ein nationales Narrativ heraus, in dem der Holocaust nicht vorkommt.“ Stattdessen wird der Holodomor 1932/33 immer häufiger als „ukrainischer
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Holocaust“ bezeichnet.36 Der Judenmord gilt nicht als Teil der eigenen, sondern der „anderen“ Vergangenheit, der deutschen und der israelischen, die „selbst für die Erinnerung daran verantwortlich (ist).“37 Nicht selten wird die Zahl der Holodomor-Toten 36 Alle Zitate: Anatolij Podolskij, Der widerwillige Blick zurück. Judentum und Holocaust in der ukrainischen Erinnerung, in: „Osteuropa“, Nr. 8–10/2008, S. 445–454, hier: S. 452, 447 und 450; auch: Jutta Scherrer, Ukraine. Konkurrierende Erinnerungen, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 2. S. 719–741, hier: S. 728 f.; Jobst, Geschichte der Ukraine, a. a. O., S. 236 f.; Grzegorz Rossolinski-Liebe, Erinnerungslücke Holocaust. Die ukrainische Diaspora und der Genozid an den Juden, in: VfZ, Nr. 3/2014, S. 397–430; ders., Der polnisch-ukrainische Konflikt im Historikerdiskurs. Perspektiven, Interpretationen und Aufarbeitung, Wien 2017; ders., Die antijüdische Massengewalt ukrainischer Nationalisten in der antikommunistischen, deutschen, jüdischen, polnischen, ukrainischen und sowjetischen Historiografie, in: Kerstin Schoor und Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Gedächtnis und Gewalt. Nationale und transnationale Erinnerungsräume im östlichen Europa, Göttingen 2016, S. 206–226. 37 Podolskij, Der widerwillige Blick zurück, a. a. O., S. 453; Brandon und Lower (Hg.), The Shoah in Ukraine, a. a. O.; Wilfried Jilge, Nationalukrainischer Befreiungskampf. Die Umwertung des Zweiten Weltkrieges in der Ukraine, in: „Osteuropa“, Nr. 6/2008, S. 167–186; Andrij Portnov, Pluralität der Erinnerung. Denkmäler und Geschichtspolitik in der Ukraine, in: „Osteuropa“, Nr. 6/2008, S. 197–201; Peter Rogers, Nation, Region and History in Post-Communist Transitions. Identity Politics in Ukraine 1991–2006; Stuttgart 2008; Frank Golczewski, Die Dilemmata der ukrainischen Erinnerung, in: Quinkert und Morré (Hg.), Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941–1944, a. a. O., S. 364–382, folgendes Zitat: S. 378; Tomasz Stryjek, Opfer und Helden – vergangenheitspolitische Strategien der ukrainischen Eliten, in: Etienne François, Kornelia Konczal, Robert Traba und Stefan Troebst (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im Vergleich, Göttingen 2013, S. 264–297; vgl. auch: Omer Bartov, Erased. Vanishing Traces of Jewish Galicia in Present-Day Ukraine, Princeton 2007; Konrad Schuller, Ukraine. Chronik einer Revolution, Berlin 2014; Simon Geissbühler (Hg.), Kiew – Revolution 3.0. Der Euromaidan 2013/14 und die Zukunftsperspektiven der Ukraine, Stuttgart 2014; Christine Schubert und Wolfgang Templin, Dreizack und Roter Stern. Geschichtspolitik und historisches Gedächtnis in der Ukraine, Berlin 2015; Peter Hoffmann, Gespalten seit Jahrhunderten – die Ukraine. Ein historischer Rückblick auf aktuelle Probleme, in: ZfG, Nr. 2/2018, S. 107–125; Reinhard Lauterbach, Bürgerkrieg in der Ukraine. Geschichte, Hintergründe, Beteiligte, Berlin 2014; Herwig Roggemann, Ukraine-Konflikt und Rußlandpolitik, Berlin 2015; Manfred Schünemann, Zerbricht die Ukraine? Krisen, Konflikte und Krieg seit der Unabhängigkeit 1991, Berlin 2017; Delphine Bechtel, Gedenken und Gewalt im heutigen L’viv. Selektive Erinnerung, Revisionismus, Alltagsfaschismus, in: Schoor und Schüler-Springorum (Hg.), Gedächtnis und Gewalt, a. a. O., S. 227–244. Bechtel beschreibt die radikale Ukrainisierung der Vergangenheit und die „Erfindung eines neuen westukrainischen Märtyrertums“ (S. 228) sowie „einer rein ukrainischen nationalen Kontinuität“ (S. 234) – in einer Stadt, in der Ukrainer bis zum Zweiten Weltkrieg eine Minderheit (15 Prozent der Einwohner) bildeten. Der Holodomor, von dem das seinerzeit zu Polen gehörige Lemberg nur marginal betroffen war, wird zum „allukrainischen Ereignis“ (S. 240) hochstilisiert. „Es entsteht eine Art Alltagsfaschismus, in dem Nazi-Symbole und -Gedankengut ahnungslos als Requisiten der Lokalidentität herangezogen werden“ (S. 244).
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gegen die Zahl der Holocaust-Toten aufgewogen. Gerade im internationalen Maßstab war dies problematisch, „weil diese Gleichsetzung nicht zu Unrecht den Eindruck erweckte, die ukrainische Führung wolle jede Partizipation an den nationalsozialistischen Judenvernichtungen beiseiteschieben und stattdessen die Ukrainer zu den Opfern einer der Shoah gleichzusetzenden Völkermordhandlung stilisieren“ (Frank Golczewski). Doch schon seit Mitte der 1990er Jahre kamen aus dem nichtstaatlichen Bildungssektor der Ukraine mit dem Komitee Babij Jar, dem Ukrainischen Zentrum zur Erforschung des Holocaust und dem Geschichtslehrerverband Nova Doba andere Signale. Gleichwohl blieb die Gedächtnispolitik des von der Orangen Revolution 2005 bis 2010 amtierenden Präsidenten Juschtschenko widersprüchlich. Er glorifizierte den Widerstand der OUN und der UPA gegen die Sowjetunion, verschwieg aber deren Beteiligung am Judenmord. Als der Kreisrat von Brody 2008 ein Denkmal für die SSDivision „Galizien“ als „Symbol des heldenhaften Aufbruchs einer unbesiegbaren Nation“ errichten lässt, unternimmt er nichts. Der Konstituierung des Instituts des Nationalen Gedächtnisses 2006 setzt er keine Hindernisse entgegen, die Resolution der Rada, mit der die Hungersnot als „Genozid“ verurteilt wird, findet seine ausdrückliche Unterstützung. Der 2010 ins Amt gewählte und 2014 aus ihm vertriebene russophile Präsident Viktor Janukowitsch versuchte alles, um dies wieder rückgängig zu machen und den „Großen Vaterländischen Krieg“ der Roten Armee erneut als einzig verbindliches Narrativ in Schule, Staat und Gesellschaft zu etablieren. Die Ost- und die Westukraine sind in dieser Hinsicht heute genauso gespalten wie 1945. Der Lemberger Arzt Oleg Tjagnibok, der 2012 die ersten Gesetzesentwürfe seiner 2004 gegründeten, sich später als politische Interessenvertretung des „Rechten Sektors“ verstehenden „Freiheitspartei“ präsentiert, stellt sich ausdrücklich in die Tradition der OUN. Bei den von Janukowitsch auf dem Kiewer Maidan 2014 blutig niederkartätschten Kundgebungen trugen etliche Demonstranten des im November 2013 entstandenen, kurz darauf sich als eigene, parlamentarisch erfolglose Partei konstituierenden „Rechten Sektors“ die schwarzrote Streifenflagge Stepan Banderas, weshalb der Aufstand vielen prorussischen Ukrainern als „Putsch“ der banderivci und NS-Kollaborateure galt und gilt. Die landesweite Suche nach nationaler Identität dauert an. Janukowitsch warf Juschtschenko vor, den Holodomor als „einziges gesamtukrainisches Erinnerungsnarrativ“38 von oben herab verordnet zu haben – und weihte im südukrainischen 38 Vgl. Leggewie und Lang, Der Kampf um die europäische Erinnerung, a. a. O., S. 135. Andreas Kappeler, Vom Kosakenlager zum Euromaidan. Ukrainische Widerstandstraditionen, in: Katharina Raabe und Manfred Sapper (Hg.), Testfall Ukraine. Europa und seine Werte, Berlin 2015, S. 33–45; ders., Die Kosaken. Geschichte und Legenden, München 2013. Am 27. Januar 2015 bildet sich die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission. Die Rolle der OUN, der UPA und der ukrainischen Kollaboration soll umfassend analysiert werden. Vgl. Martin Schulze Wessel, Die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission, in: Cornelißen und Pezzino (Hg.), Historikerkommissionen und historische Konfliktbewältigung, a. a. O., S. 95–107, bes. S. 102.
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Saporoschje das erste Stalindenkmal seit der Unabhängigkeit 1991 ein. Es wird in der Silvesternacht 2010 gesprengt. Janukowitschs Nachfolger Poroschenko wiederum berief 2014 mit dem Historiker Wjatrowitsch einen Mann zum Leiter des „Instituts des Nationalen Gedenkens“, für den die OUN weder antisemitisch noch in den Judenmord involviert war. Bis 2017 lässt er im gesamten Land 2389 Denkmäler aus sowjetischer Zeit schleifen, darunter allein 1320 Lenin-Statuen. Maßgeblich unter seiner Federführung ergeht am 9. April 2015 ein vom ukrainischen Parlament einmütig angenommenes Gesetz, mit dem jedwede Beleidigung der UPA unter Strafe gestellt wird. Ihre Symbole werden von den 33 Freiwilligenbataillonen, die 2015 gegen die sezessionistischen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk zogen, in aller Offenheit demonstriert. Der „Rechte Sektor“ kämpft dort gegen die Abtrünnigen, zu Hause in Kiew aber gegen Poroschenko. Auch wenn dieser „Faschismus im Donbass“ nicht überbewertet werden darf, so ist er doch eine schwere Hypothek des Landes auf dem Weg in die EU. Ein nicht unterzeichnetes Assoziierungsabkommen mit ihr ist schließlich ja auch der ursprüngliche Auslöser der Maidan-Revolution gewesen. In der Präambel des Abkommens hieß es, „dass die Ukraine als europäisches Land durch eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Werte mit den Mitgliedsstaaten der EU verbunden ist (…) in Anbetracht der Bedeutung, die die Ukraine ihrer europäischen Identität beimisst.“ Dieses von Janukowitsch ausgehandelte und bereits paraphierte Abkommen, dessen für den November 2013 anstehende Ratifikation durch eine Blockade Russlands nicht vorgenommen wurde, war der eigentliche Startschuss für den „Euro-Maidan“. Am 22. Februar 2014 wurde Janukowitsch, der sich dem Druck Putins gebeugt hatte, vom ukrainischen Parlament seines Amtes enthoben. Der Kreml gewährte ihm politisches Asyl, und von Stund an regte sich der russische Irredentismus im Donezk-Becken. Die andere große, auf dem Kiewer Maidan reaktivierte Traditionslinie zielte auf die Kosaken. Überall dort sah man bewaffnete Männer in Kosakenuniformen mit kosakischen Fahnen und kosakischer Haartracht. An vielen Zelten und Barrikaden hingen die Symbole der Saporoger Kosaken, die für die egalitären, antirussischen Traditionen und die Ideale von Freiheit und Gleichheit stehen, als ukrainisch-kosakischer Nationalmythos. Es ist der zentrale Baustein des historischen Narrativs, er trägt wie kaum ein anderer zum Zusammenwachsen der Nation, zu einer Art zweiter nachholender Staatsgründung bei, die von hochgradiger, ja explosiver Ambivalenz und Heterogenität gekennzeichnet ist. Kein Geringerer als Helmut Schmidt hat es ja bezweifelt, „ob es überhaupt eine ukrainische Nation gibt“, und ihr das Recht abgesprochen, ein Nationalstaat zu sein.39 Auch wenn dies natürlich nicht als Steilvorlage für Putin gedacht war, so wird er sich doch darüber gefreut haben. Nichts zeigt deutlicher, dass in dem 45-Millionen-Staat, in dem über 130 verschiedene Nationalitäten leben, von denen sich 78 Prozent als ukrainisch und 18 Prozent als russisch empfinden, in dem aber nur noch 39 Vgl. „Die Zeit“ vom 27.3.2014, S. 9.
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260.000 Jüdinnen und Juden ihre Heimstatt haben, was einem halben Prozent der Bevölkerung entspricht, die Aufarbeitung der eigenen Kollaborationsvergangenheit und der Beteiligung am Holocaust keinen Platz und deshalb noch gar nicht richtig begonnen hat.
Tschechoslowakei Die am 28. Oktober 1918 als einer der Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie ausgerufene tschechoslowakische Republik war ein FünfVölker-Konstrukt, in dem sieben Millionen Tschechen, über drei Millionen Deutsche, zweieinhalb Millionen Slowaken, 700.000 Ungarn und 100.000 ukrainische Polen lebten. 1928 wird sie in die vier administrativen Einheiten Böhmen, Mähren-Schlesien, Slowakei und Karpato-Ukraine aufgeteilt. Vom ersten Tag ihres Bestehens an litt die Republik unter zwei Geburtsfehlern: Die Deutschen, auch Deutschböhmen bzw. zumeist Sudetendeutsche genannt, wollten nicht zu ihr, sondern zu Österreich gehören, und den Slowaken, die in der Provinz „Oberungarn“ seit über tausend Jahren Teil des Magyarenreichs gewesen waren, hatte Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937), der Vorsitzende des tschechisch-slowakischen Nationalrats und erste Präsident des neuen Staates, im „Pittsburger Abkommen“ vom 30. Mai 1918 Autonomierechte zugestanden, die nie verwirklicht wurden. Er fürchtete, den Sudetendeutschen dann Gleiches einräumen zu müssen. So stand vom Beginn an jeder zweite Bürger des neuen Staates gegen ihn. Am 4. März 1919 werden – zielgerichtet, nicht in einem Pogrom – 54 Deutsche erschossen. Vom 16. November bis zum 2. Dezember 1919 regiert in Prag der tschechische Mob. Vor allem deutsch-jüdische Kaufmannsläden werden geplündert. Das „Galanteriewarengeschäft“ der Familie Franz Kafkas kommt nur mit Müh und Not davon. Hatten vor 1918 die Österreicher die Tschechen drangsaliert, so lassen diese ihre Wut jetzt an den (Sudeten-)Deutschen aus. Deren rechtsgerichtete Parteien sind zunächst noch schwach. Die „Deutsche Nationalpartei“ (DNP) kommt 1919 auf 7,4 Prozent, die „Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei“ (DNSAP), als deren Ableger sich ein Jahr später in München die NSDAP bildet, gar nur auf 2,9 Prozent. Stärkste Partei mit über 40 Prozent sind die sudetendeutschen Sozialdemokraten. Auch sie lehnen Masaryks Staat ab. Am 19. Dezember 1918 gründet der katholische Prälat Andrej Hlinka (1864–1938) die „Slowakische Volkspartei“ (SVP), die ab 1925 in der Abkürzung HSL’S nach ihm benannt wird. Über ein Drittel der Slowaken wählt und unterstützt sie, aus ihren Reihen werden der Prager Zentralregierung 1922, 1930 und 1938 drei – samt und sonders abgelehnte – Autonomieentwürfe vorgelegt. Sie ist christlich, nationalistisch, ständisch und autoritär, aber nicht faschistisch oder nationalsozialistisch orientiert. Hlinka wird als „Vater des slowakischen Volkes“ bezeichnet und verehrt, ihm steht aber eine Schar enger und engster NS-affiner Getreuer zur Seite, aus der Voijtech Tuka (1880–1946), Alexander Mach (1902–1980), Ferdinand Durčanský (1906–1974), vor allem aber Jozef Gašpar Tiso (1887–1947) herausragen. Durčanský ist der Erste, der die Ausrichtung auf Hitlerdeutschland verlangt, Mach ist Pressechef der SVP und Tuka ab 1922 ihr
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Generalsekretär und Exponent des rechten Flügels, der über die Autonomie hinaus einen unabhängigen slowakischen Nationalstaat errichten will. Schon 1923 bildet er innerhalb der Volkspartei die halblegale, schwarze Hemden tragende, auf militärischer Hierarchie und dem Führerprinzip aufgebaute Rodobrana („Heimatverteidigung“), die sich offen zum Faschismus bekennt. Zwar löst sie sich 1929 auf, nachdem Tuka in einem Hochverratsprozess wegen Spionage für Ungarn zu fünfzehn Jahren Kerkerhaft verurteilt worden ist, aber ihre Mitglieder überleben in einer Vielzahl von (Tarn-)Organisationen. Zu Tukas eigentlichem Gegenspieler erwächst von Anfang an der „gemäßigte“ Tiso. Jozef Tiso, als zweites von sieben Kindern eines Kleinbauern in ärmlichsten Verhältnissen in der Nordwestslowakei geboren, studiert Theologie am Wiener Pázmaneum, der Prestigeschule für Pastoraltalente aus Ungarn, promoviert, wird Gemeindeseelsorger, Feldkaplan in der k. u. k. Armee, Monsignore und Professor für Moraltheologie. Er bleibt bei allem, was er tut, ein Kind der katholischen Kirche, auch als Abgeordneter der SVP/HSL’S ab 1925 und als Minister für Gesundheit und Sport in der Prager Regierung von 1926 bis 1929. Als Hlinka im August 1938 stirbt, steht er als neuer „Vater des slowakischen Volkes“ bereit, der sich auf dessen inzwischen mächtigsten paramilitärischen Verband in der Tschechoslowakei, die über 100.000-köpfige, bereits im Oktober 1930 entstandene „Hlinka-Garde“ (HG), stützen kann. Nicht zuletzt in ihrer Grußformel „Auf Wache!“ kommt die permanente Einsatzbereitschaft zum Ausdruck. Die Bilder Tisos und Hlinkas hängen da bereits in allen slowakischen Ämtern und Schulen einträchtig nebeneinander. In Tschechien gehörten die faschistischen Gruppierungen und Bewegungen zu den schwächsten in ganz Europa. Wenn Tschechen vom „nationalen Sozialismus“ oder ihrer „nationalen sozialistischen Partei“ sprachen, dann meinten sie damit eine etablierte demokratische Kraft, der mit Eduard Beneš (1884–1948), der 1935 die Nachfolge des zurückgetretenen Masaryk antrat, auch der eigentliche Gegenspieler Hitlers angehörte. Ein 1926 vom faschistischen Flügel der Partei unternommener Versuch, in ihr die Macht zu übernehmen, war kläglich gescheitert. Für die Untauglichkeit und Erfolglosigkeit aller entsprechenden Lehren in Böhmen und Mähren stehen die Namen von Radola Gajda (eigentlich Rudolf Geidl, 1892–1949), Emanuel Moravec (1992–1945) und Jan Rys-Rozsévac (1901–1946). Letzterer hatte 1930 die nationalfaschistische Weltanschauungsorganisation Vlajka („Fahne“) begründet, Moravec, Generalstabsoffizier im Landesmilitärkommando Prag, unterrichtete Kriegsgeschichte und Kriegstheorie an der dortigen Technischen Hochschule, und Gajda, im Ersten Weltkrieg Generalmajor in der Tschechischen Legion, war 1926 degradiert und unehrenhaft aus der Armee entlassen worden, nachdem seine Pläne für einen Militärputsch bekannt geworden waren. 1925 formierte er die konsequent gegen Deutschland gerichtete „Nationale Faschistengemeinde“, die auch zehn Jahre später nur auf 2 Prozent der Stimmen kam und mit sechs Abgeordneten im Prager Parlament saß. „Die Tschechen konnten sich für schwarze oder braune Uniformen, für Stechschritt und Rassenideologie nie so
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recht begeistern. Ihr einziger Nationalheld in Uniform war und bleibt die Romanfigur des braven Soldaten Schwejk.“1 Die einzigen „naturgegebenen“ Kollaborateure der Deutschen, auf die ganz Europa mit zunehmender Sorge schaute, waren die Sudetendeutschen. „Der Nationale Sozialismus. Sein Werdegang und seine Zukunft“, so hieß die Programmschrift, die Rudolf Jung 1919 in Aussig publizierte und die Adolf Hitler ein Jahr später fast wortgleich übernahm. Die Beziehungen zwischen Bayern und Böhmen blieben intensiv, vor allem Konrad Henlein, ein Bankangestellter aus Asch, pflegte sie mit sudetendeutschen Tarnverbänden wie dem „Kameradschaftsbund“, dem „Turnverein“ und dem „Volkssport“. Als Hitler an die Macht kommt, sind sie wegen nachgewiesener landesverräterischer Kontakte alle verboten, und mit ihnen die DNP und die DNSAP. Das war die Stunde Henleins. Als angeblich über allen Parteien stehende und alle Differenzen zwischen den Sudetendeutschen einebnende, in Wirklichkeit aber die Sozialdemokraten und Juden ausschließende Dachorganisation bildet er die „Sudetendeutsche Heimatfront“, die zu den Wahlen von 1935 bereits als „Sudetendeutsche Partei“ (SdP) antritt und mit 44 von 300 Sitzen einen rauschenden Wahlerfolg erringt. Die Sozialdemokraten unter Wenzel Jaksch, die sich nach einer radikalen Kehrtwendung längst zur Tschechoslowakischen Republik bekannten, sanken auf elf und die Christlichsozialen auf sechs Mandate. Henleins SdP hatte damit, bezogen auf die sudetendeutsche Wählerschaft, doppelt so viele Sitze wie die demokratischen Parteien zusammen und in toto sogar mehr als die stärkste tschechische Partei. Die NS-Führung in Berlin witterte Morgenluft. Sogar die Westmächte mussten Hitlers Kampfruf, „alle Deutschen einer Zunge in einem Reich“ zusammenführen zu wollen, Tribut zollen, indem sie nach dem frenetisch bejubelten Anschluss Österreichs eine Kommission unter englischer Leitung in die sudetendeutschen Gebiete entsandte, die zu einem für Berlin verblüffend positiven Ergebnis kam. Der Initiative Mussolinis folgend trat daraufhin Ende September 1938 in München eine Konferenz zusammen, auf der Beneš durch die Westmächte praktisch keine andere Chance als die Abtretung dieser Gebiete gelassen wurde. Er selbst erklärte seinen Rücktritt und emigrierte nach London, sein Nachfolger Emil Hácha amtierte jetzt von Hitlers Gnaden, die einzige nach dem Ersten Weltkrieg etablierte Demokratie war zerbrochen. Tiso hatte vor dem Münchner Abkommen zwar stets die slowakische Autonomie gefordert, sie aber nie zum Sprengsatz für den Zusammenhalt des Gesamtstaates gemacht. Noch am 18. August 1938, dem Todestag Hlinkas, hatte er die ČSSR als „vitale
1 Gregor Mayer und Bernhard Odenahl, Aufmarsch. Die rechte Gefahr aus Osteuropa, St. Pölten 2010, S. 153; Hans Lemberg, Michaela Marek, Zdeněk Beneš und Dušan Kováč, Suche nach Sicherheit in stürmischer Zeit. Tschechen, Slowaken und Deutsche im System der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Essen 2009; Wolfgang Wippermann, Europäischer Faschismus im Vergleich (1922–1982), Frankfurt am Main 1983, S. 172 ff.
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Angelegenheit“2 der Slowaken bezeichnet. Doch nach München war alles anders. Jetzt rächte sich auch, dass Prag schon seit den 1920er Jahren die wichtigsten Posten in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung der Slowakei mit Tschechen besetzt, also sehr wohl eine Tschechisierungspolitik betrieben hatte. Tiso, Mach und Durčanský stießen nach der Okkupation des Sudetenlandes durch die Wehrmacht mit ultimativen Forderungen in das Machtvakuum an der Moldau, sie erzwangen nicht nur die Freilassung Tukas, sondern die Föderalisierung des gesamten Staates. Mach hatte dem Prager Abgeordnetenhaus schon einen Tag nach Hlinkas Tod im Namen der SVP einen neuerlichen Autonomieentwurf zugesandt. Im Silleiner Abkommen vom 6. Oktober 1938 forderten alle slowakischen Parteien einen eigenen Landtag, eine eigene Regierung, eigene Gerichte und die slowakische Amtssprache, was auch zugesagt und realisiert wurde. Zusammen mit Durčanský arbeitete Mach schon zu dem Zeitpunkt auf eine Trennung von den Tschechen hin und staunte deshalb nicht schlecht, als das Deutsche Reich, mit dem man sich längst im Bunde wähnte, im Ersten Wiener Schiedsspruch vom 29. Oktober 1938 die Abtretung der Südslowakei mit fast einer Million Einwohnern an Ungarn verfügte, das im März 1939 auch noch grünes Licht für den Einmarsch in die Karpato-Ukraine bekam. Vertreter der autonomen Pressburger Regierung waren bei den Verhandlungen bereits zugegen, so auch Tuka. Bei den ersten slowakischen Landtagswahlen sechs Wochen später, in denen nur eine von der Volkspartei aufgestellte Kandidatenliste zugelassen war, gewann die SVP, man muss es wohl so sagen, nur 48 von 63 Mandaten. Tiso, schon vorher zum Ministerpräsidenten ernannt, suchte immer noch den Ausgleich mit Prag, aber die Parole der Scharfmacher „Ein Gott, ein Volk, eine Partei, ein Führer“, die ursprünglich Hlinka gegolten hatte, wurde jetzt immer mehr auf ihn übertragen. Hitler nutzte den Dualismus zwischen Prag und Pressburg, um den Auflösungsprozess der Tschechoslowakei zu forcieren, und setzte deshalb zunächst auf Tuka, der die sich wie eine Nationalarmee gerierende „Hlinka-Garde“, Rodobrana-Einheiten und das städtische Lumpenproletariat hinter sich hatte. Tiso stand den Radikalen in seiner Partei machtlos gegenüber und forderte devot am 21. Februar 1939 erstmals einen unabhängigen Staat. Die Prager Regierung verlangt daraufhin ihrerseits eine Loyalitätserklärung von Pressburg. Als dies abgelehnt wird, enthebt Hácha alle slowakischen Minister ihres Amtes und proklamiert den Ausnahmezustand. Am 12. März wird Tiso nach Berlin zitiert, wo man ihm in äußerst frostiger Atmosphäre bedeutet, entweder „blitzschnell“ einen eigenen Staat auszurufen oder die Slowakei „ihrem Schicksal“ zu überlassen. Was damit gemeint war, durften die Tschechen zwei Tage später am eigenen Leibe erfahren. Nur wenige Stunden, nachdem der slowakische Landtag die Souveränität verkündet, marschiert die Wehrmacht in Prag ein. 2 Zit. nach Dusan Kováč, Die Frage der Loyalität der Slowaken zur Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Martin Schulze Wessel (Hg.), Loyalitäten in der Tschechoslowakischen Republik 1918–1938. Politische, nationale und kulturelle Zugehörigkeiten, München 2004, S. 61–68, hier: S. 67.
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Die Mehrheit in der SVP/HSL’S hat die „Slowakische Republik“, zumindest zu diesem Zeitpunkt, nicht gewollt. Sie war vielmehr ein Instrument in der Hand Hitlers zur „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ und zur Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“. Dies zeigte sich schon am Morgen des 15. März 1939: Darüber verärgert, dass sich der neue Staat nicht unter den „Schutz“ der NS-Führungsmacht stellen wollte, ließ Hitler zwei Stoßkeile der Wehrmacht als Drohkulisse auch auf slowakisches Gebiet vordringen, und erst jetzt erfolgte das „Schutzersuchen“ mit dem entsprechenden Vertrag. In ihm erhielt die Pressburger Regierung einen eigenen diplomatischen Dienst, eine eigene Nationalhymne, Flagge, Währung und Armee, musste sich aber verpflichten, diese „im engen Einvernehmen mit der deutschen Wehrmacht“ aufzubauen. Ferner wurden „die historischen Grenzen der Slowakei (als) für immer unabänderlich“ erklärt. Formell war der „Schutzstaat“ damit ein selbstständiges Völkerrechtssubjekt, da die Außen- und Verteidigungspolitik aber vollständig am Berliner Draht hingen, bestand zum Protektorat nebenan, das faktisch auf den Status einer sich teilweise selbst verwaltenden Kolonie herabgesunken war, kaum ein Unterschied. Hitler sprach nur vom „Wurmfortsatz“. In seiner Strategie hatte das „Hinhalten der Visitenkarte“ mit der Aufschrift „Slowakei“ für die gesamten südosteuropäischen Staaten die Funktion, diese zur quasi freiwilligen Akzeptanz des deutschen Führungsanspruchs zu veranlassen und ihnen zu zeigen, wie „selbstständig“ ein Land leben könne, das „sich unter den Schutz des Großdeutschen Reiches begibt“.3 Immerhin wurde dem deutschen Gesandten mit auf den Weg gegeben, sich nicht in die „innerstaatliche Struktur“ der Slowakei einzumischen, und tatsächlich ist bis zum Mai 1940 auch kein Versuch unternommen worden, dort nationalsozialistisches Gedankengut zu implantieren. Auch der organisatorische Aufbau des neuen Staates vollzog sich weitestgehend autonom. Die am 21. Juli 1939 vom slowakischen Landtag verabschiedete Verfassung enthält bürgerlich-demokratische und autoritär-faschistische Ordnungsvorstellungen. Sie schreibt die Einheitspartei HSL’S, ein exzessives Notverordnungsrecht, das Streikverbot und eine christlich-soziale Weltanschauung vor. Als versucht wird, ständestaatliche Elemente nach österreichischem Vorbild zu integrieren, meldet sich die „Schutzmacht“ erstmals zu Wort. Das Statut der HSL’S vom 28. September ist an dasjenige der NSDAP angelehnt: Die Einheitspartei ist „totalitär“, „alleinige Willensträgerin der Nation, (…) der politischen Macht und Repräsentantin des in ihr geeinten Volkes“. Die „HlinkaGarde“ ist ihr als paramilitärisches Ausführungsorgan unterstellt. Bei den Wahlen zum Parteivorstand erleidet der germanophile NS-orientierte Flügel um Mach eine schwere Niederlage. Tiso steigt am 26. Oktober dagegen zum Staatspräsidenten auf, der bereits schwer kranke Tuka wird Ministerpräsident. Einflussreichster Mann hinter Tiso ist 3
Jörg K. Hoensch, Grundzüge und Phasen der deutschen Slowakei-Politik im Zweiten Weltkrieg, in: ders. und Hans Lemberg (Hg.), Begegnung und Konflikt. Schlaglichter auf das Verhältnis von Tschechen, Slowaken und Deutschen 1815–1989, Essen 2001, S. 147–172, hier: S. 150.
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Durčanský als gleichzeitiger Außen- und Innenminister. Der faschistoide slowakische Nationalismus und Tisos christlicher Autoritarismus ringen und rivalisieren miteinander. Als Tiso die HG am 21. Dezember entmachten lässt, entwickelt Mach Putschpläne, indem er ultimativ das Innenressort für sich und die konsequente Anlehnung an Deutschland verlangt. Durčanský hingegen, der die Slowakei zur „Drehscheibe Europas“ machen will, pflegt eifrig Kontakte zu allen 27 Staaten, die die neue Republik anerkannt haben; zu diesen gehören bis auf die USA auch alle West- und Großmächte sowie der Vatikan. In Berlin sucht man deshalb längst nach einem Vorwand für seine Entlassung, ist zugleich aber bemüht, den Schein der Nichteinmischung zu wahren. Das Ergebnis dieses Prozesses ist die Entsendung von „Beratern“ in alle Wirtschaftsund Verwaltungszweige des Landes. Der Sturz Machs am 21. Mai 1940 wird deshalb zum Wendepunkt der deutsch-slowakischen Beziehungen, die „Schutzfreundschaft“4, wie der Legationsrat im Auswärtigen Amt und spätere Adenauer-Vertraute Wilhelm Grewe sie schon im April 1939 genannt hatte, war von nun an eine andere. In Prag hatte Hácha zusammen mit seinem Ministerpräsidenten Beran und dessen Nachfolger Eliáš nach dem Abtreten von Beneš einen verzweifelten Annäherungskurs an das Dritte Reich verfolgt. Sie suspendierten die Verfassung, erließen ein Ermächtigungsgesetz und errichteten ein KZ für politische Gefangene. Diesen „Kollaborateuren aus Vernunft“ standen die „Kollaborateure aus Überzeugung“ gegenüber, die kleine tschechische Faschistengemeinde um Gajda, Rys-Rozsévač und Moravec, der aus den Tschechen sogar „tschechisch sprechende Germanen“ machen wollte. Die Deutschen haben sich um beide Gruppierungen nicht gekümmert. Als Gajda während des Wehrmachtseinmarsches am 15. März 1939 glaubte, seine Stunde sei gekommen, Staatsstreichpläne schmiedete und hoffte, mit dem neu gegründeten „Tschechischen Nationalausschuss“ unter deutscher Aufsicht regieren zu können, zeigte ihm der erste Reichsprotektor Konstantin von Neurath schnell die kalte Schulter. Zwar wird er vom Zusammenschluss aller nationalfaschistischen Gruppen noch zum Vorsitzenden gewählt, aber sein Ansinnen, als Innenminister in das Kabinett Eliáš einzutreten, scheitert. Daraufhin zerfällt die tschechische extremistische Rechte in immer kleinere Splittergruppen. Protestdemonstrationen gegen Eliáš erweisen sich als unwirksam, Rys-Rozsévač, der die Einführung der Nürnberger Gesetze in Böhmen und Mähren fordert, läuft Gajda den Rang ab. An der Spitze der Vlajka initiiert er im Oktober 1939 das „Tschechische Nationalsozialistische Lager“, ein Konglomerat und Sammelbecken Gleichgesinnter, aber nicht einmal um dieses haben sich die Deutschen gekümmert. Von Neuraths Stellvertreter Karl Hermann Frank, der bereits Stellvertreter Henleins in der SdP gewesen war und von Himmler zum „Höheren SS-und Polizeiführer“ und damit zum de facto mächtigsten Mann im Protektorat gemacht wird, begrüßt das „Lager“ zwar förmlich, achtet aber darauf, dass es keinen großen Einfluss im Land ge4
Vgl. Lubomir Lipták, Das politische System der slowakischen Republik 1939–1945, in: Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime, a. a. O., S. 299–333, hier: S. 311, Anm. 32.
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winnt. Es dient ihm höchstens dazu, Druck auf die „Kollaborateure aus Vernunft“ auszuüben und Hácha, dem Hitler bei einem reibungslosen Einmarsch „Autonomie, eine gewisse nationale Freiheit und ein großzügiges Eigenleben“ versprochen hat, den letzten Rest an Handlungsspielraum zu nehmen. So kritisiert er, dass Hácha keinen einzigen Nationalsozialisten in die Regierung berufen hat. Die tschechischen Faschisten waren und blieben „Offiziere ohne Mannschaften“. Hácha hatte da schon mehr zu bieten. Seine nach dem Verbot aller Parteien gebildete, extrem konservative und nach dem Führerprinzip strukturierte „Nationale Gemeinschaft“ erhielt bei einem Plebiszit im Mai 1939 über 99 Prozent der Stimmen, so wie bei den Referenden in dem Reich, dessen minderberechtigter Teil man nun war. Er musste sich jede seiner Reden vom Reichsprotektor genehmigen lassen. Bei der Werbung für den Beitritt zur „Gemeinschaft“ war allerdings nirgendwo von Zusammenarbeit mit den Deutschen, sondern ausschließlich vom Bekenntnis zum Tschechentum die Rede. 137 ihrer Funktionäre sind dann auch von der Gestapo verhaftet und 41 erschossen worden, ihr Prager Sekretariat wird schon im Sommer 1940 wegen der Beteiligung an Widerstandshandlungen geschlossen. Auch die Vlajka war ihr ein Dorn im Auge. Die Prager Regierung zensierte ihre Presse, erließ für ihre 14.000 Anhänger ein Uniformverbot und untersagte ihnen das Zeigen der Hakenkreuzfahne. Nach der Schließung des Sekretariats hielt die Vlajka ihre Sunde für gekommen und überfiel mit Unterstützung der SS den Hauptsitz der „Gemeinschaft“, aber die tschechische Polizei schlug den Angriff zurück und ging von nun an massiv gegen sie vor. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Widerstand im Land an der Moldau insgesamt marginal und wirkungslos gewesen ist, weil ihm „der Rückhalt im Volk und damit jede Breitenwirkung fehlte.“5 Hácha selbst fuhr einen doppelten Kurs. Er spricht von „unserem eigenen Staat, allerdings ohne Armee und Außenminister“, vom „uns rassisch (!) fremden marxistischen Bolschewismus“, regt die Schaffung eines „Tschechischen Verbandes für die Zusammenarbeit mit den Deutschen“ an, gratuliert Hitler zu dessen „genialer Führung“ im Frankreichfeldzug und kommentiert die Aufhebung der Zollgrenze zwischen dem Reich und dem Protektorat im September 1940 als „freiwillige und aufrichtige Teilnahme (des tschechischen Volkes) am Aufbau einer neuen europäischen Ordnung“, lehnt es andererseits aber konsequent ab, Hitler in einem Treuegelöbnis als „Schutzherrn“ des Protektorats anzuerkennen. Im Dezember 1939 teilt er Beneš vertraulich mit, dass seine gesamte Regierung hinter dem „ausländischen Widerstand“ stehe und Beneš „als ihren Kopf “ betrachte, fordert gleichzeitig aber dessen Zustimmung zu der „opportunistischen Politik, mit der nationale und wirtschaftliche Schäden verhindert würden“.6 Nach außen hin 5 Besier, Das Europa der Diktaturen, a. a. O., S. 347. 6 Zit. nach Detlef Brandes, Politische Kollaboration im „Protektorat Böhmen und Mähren“, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 453–462, hier: S. 461; vgl. auch: ders., Attentismus, Aktivismus, Verrat. Das Bild der Kollaboration im „Protektorat Böhmen und Mähren“ in der tschechischen Historiographie seit 1989, in: Cornelißen, Holec und Peṡek (Hg.), Diktatur – Krieg –
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kam es im November 1941 zum Bruch, weil Hácha die Exilregierung und ihre Rundfunksendungen immer schärfer angegriffen hatte. Auch Eliáš distanzierte sich öffentlich von Beneš und verlangte die tschechische Beteiligung an den „Arisierungen“, während sich gleichzeitig die Nachrichten über seine guten Verbindungen nach London häuften. Zwar drängte von Neurath nicht auf Eliáš’ Entlassung, Frank hingegen forderte schon am 3. Dezember 1939 dazu auf, „jedes Doppelspiel und jede Doppelzüngigkeit“ aufzugeben, und warnte ein Jahr später nochmals davor, „zwei Eisen im Feuer zu haben“. Hitler beließ Eliáš jedoch im Amt. Der eigentliche Wendepunkt der deutschen Besatzungspolitik ereignet sich am 27. September 1941 mit der Entsendung Reinhard Heydrichs, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, als Stellvertretender Protektor von Böhmen und Mähren. An diesem Tag beginnt die „blutigste Zeit in der neuzeitlichen Geschichte des tschechischen Volkes.“7 Hácha droht mit Rücktritt und erwägt mehrfach, sich umzubringen, Eliáš wird verhaftet und binnen Kurzem hingerichtet. Es herrscht der tägliche Terror. Auch in der Slowakei hatten sich die Parameter der Macht verschoben. Hitler und Ribbentrop erzwangen im „Diktat“ von Salzburg am 28. Juli 1940 die „Steuerung aller Vorgänge des slowakischen staatlichen, politischen und völkischen Lebens im Reichsinteresse“. Bis 1941 arbeiteten über 100.000 Slowaken in Deutschland. Tuka wurde Außen-, Mach Innenminister, Durčanský blieb stellvertretender Ministerpräsident. Hatte sich Pressburg bis dahin noch oft über „unangemessene deutsche Einmischung in slowakische Angelegenheiten“ beschwert, so stieß dies in Berlin jetzt auf taube Ohren. Trotzdem war auch das neue Kabinett keines der reinen Willfährigkeit, was sich insbesondere bei den Bemühungen der „Berater“ in Sachen Ideologietransfer zeigte. Keiner aus ihren Reihen ist so grundsätzlich gescheitert wie Hans Pehm, der „Berater“ der HSL’S, der dort überall auf Beton biss, wenn er vom Vorbild der NSDAP sprach, und schließlich auf Weisung Tisos sogar wieder abberufen wurde. Dies belegt, dass die slowakischen Akteure auch nach „Salzburg“ im politischen Alltag „nicht unbeträchtliche Handlungsspielräume“8 besaßen, nicht zuletzt, wenn es um die Vorstellung und StrukVertreibung, a. a. O., S. 101–148; Detlef Brandes, Nationalsozialistische Tschechenpolitik im Protektorat Böhmen und Mähren, in: Hoensch und Lemberg, Begegnungen und Konflikt, S. 119– 136; Volker Mohn, NS-Kulturpolitik im Protektorat Böhmen und Mähren. Konzepte, Praktiken, Reaktionen, Essen 2014. 7 Miroslav Kárný, Die Rolle der Kollaboration in der deutschen Okkupationspolitik im Protektorat Böhmen und Mähren, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 149–163, hier: S. 160; vgl. auch: Robert Gerwarth, Reinhard Heydrich. Biographie, München 2013. 8 Tatjana Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei 1939–1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Paderborn [u. a.] 2003, S. 334; dies., Kollaboration als handlungsleitendes Motiv? Die slowakische Elite und das NS-Regime, in: Dieckmann, Quinkert und Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen, a. a. O., S. 25–54. Sabine Witt, Nationalistische Intellektuelle in der Slowakei 1818–1945. Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung und Säkularisie-
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turen der eigenen Nation ging. Um diese Freiräume zu wahren, mussten Zugeständnisse in den Bereichen Wirtschaft, Rüstung und Militär gemacht werden, was insbesondere in der Beteiligung der slowakischen Nationalarmee am Überfall auf Polen und die Sowjetunion zum Ausdruck kam. Doch selbst hier wahrte man Züge von Souveränität. Zwar billigte Tiso am 27. September 1940 den Beitritt seines Staates zum Dreimächtepakt, aber neun Monate später, am Tag von „Barbarossa“, hieß es im Tagesbefehl für die Truppe, dass die eigene Armee nicht gegen „das große russische Volk oder gegen das Slawentum“ kämpfe. Trotzdem rückte im Oktober das 50.000 Mann starke slowakische Armeekorps in die Ukraine ein. Spätestens jetzt, eigentlich aber bereits durch den Einmarsch in Polen, dem Tiso trotz starker polonophiler Strömungen in den eignen Reihen nachgab, hatte sich der „Schutzstaat“ vor aller Welt als Komplize Hitlers entlarvt. Die treibende Kraft bei alledem war nicht Tiso, sondern Tuka, der den „romhörigen Katholiken“ vor sich herschob. Der Antagonismus zwischen beiden blieb bestehen und verhärtete sich in der Folgezeit sogar noch, auch und gerade in parteipolitischer Hinsicht. Während Tiso in der SVP/HSL’S, die Ende 1941 mit 350.000 Mitgliedern ihre breiteste Verankerung in der Slowakei fand, lediglich „Öl für den Motor“ sah, wollte Tuka sie so wie die NSDAP zur Massenpartei machen und damit einen „slowakischen Nationalsozialismus nach den Grundsätzen des deutschen“ schaffen. Das ist ihm sogar mithilfe der deutschen „Berater“ nicht gelungen. Daraufhin versuchten die Scharfmacher, sich der inzwischen 100.000-köpfigen „Hlinka-Garde“ zu bemächtigen und sie zum Eliteorden der Partei zu machen. Die SS übernahm die Ausbildung ihrer Kader. Tiso sollte auf ein Bistum abgeschoben werden, um den „Germanophilen“ den Weg zu bahnen. Aber Tuka und die Seinen hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Tiso konnte auf einer Fülle von regionalen Priesterkonferenzen seine Verankerung an der Basis stärken, die Armee ad personam auf sich verpflichten und die von den „Beratern“ unterstützte Übernahme des Verteidigungsressorts durch Tuka unterbinden. Auch das Auswärtige Amt in Berlin hatte an einem von Tuka, Mach und der HG inszenierten Putsch und an einer nationalsozialistischen „Revolution“ mitten im Krieg kein Interesse, zumal man an der Spree nur zu genau wusste, dass diese in der Mehrheit der Bevölkerung keinen Resonanzboden fand. So blieb der autoritäre Pfarrer Herr im Haus, und die „Berater“ in der HSL’S, dem Schulwesen und der Jugenderziehung wurden ab Mai 1942 sogar wieder abgezogen, mit dem Ergebnis, dass die Slowaken ihren kriegswirtschaftlichen Leistungen und Ablieferungspflichten an das Reich „viel williger“ nachkamen. Das sahen Hitler und Ribbentrop gern. Tiso konnte im Oktober 1942 unangefochten das Führerprinzip in der eigenen Partei installieren, in der die HG kaum noch eine Rolle spielte. Während 1939 bis 1942 rung, Berlin, München und Boston 2015, arbeitet den Mythos von der unterdrückten und geknechteten Slowakei heraus, der ihr das „Recht“ zur historischen Existenz einer „ethnischen Nation“ (S. 393), zur Slowakizität verleihen soll. Dieser Mythos wird von ihren Intellektuellen bis in die Gegenwart fortgeschrieben
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bei Feierlichkeiten in Pressburg noch 5000 Gardisten angetreten waren, so versammelten sich 1942 dort nur noch 180. Anfang 1943 wurde die HG wegen Tukas fortschreitender Krankheit und Machs Hinüberwechseln in das Lager Tisos sogar fast vollständig eliminiert. Selbst beim letzten Empfang slowakischer Politiker durch Hitler auf Schloss Kleßheim im Mai 1944 hat man über eine Veränderung von politischen Strukturen im „Schutzstaat“ kein einziges Wort verloren. Nicht Tukas „slowakischer Nationalsozialismus“, sondern Tisos „Volksslowakei“ hatte sich durchgesetzt. In ihr rangierte die Religion vor der Ideologie. Reinhard Heydrich verhängt unmittelbar nach seiner Ankunft den Ausnahmezustand und 400 Todesurteile binnen zweier Monate, bittet Hácha aber „um loyale Mitarbeit“. In der neu gebildeten Regierung von Januar 1942 übernimmt Moravec, der konsequenteste Verfechter des Reichsanschlusses, das Schulministerium und das „Amt für Volksaufklärung“. Heydrich verlangt, dass sich die Prager Administration von einer „Landesbehörde für Beschwerden gegen das Reich“ in einen „verlängerten Arm des Reichsprotektors“ verwandelt. In der von ihm diktierten Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Jaroslav Krejčí, der an die Stelle des hingerichteten Eliáš getreten war, wird dem tschechischen Volk über kurz oder lang die Evakuierung angedroht, falls es seiner Arbeitsdienstpflicht gegenüber Deutschland nicht nachkommt. Die Vlajka und andere „völkische Splittergruppen“ lässt Heydrich verbieten, weil er sich vom Verschwinden dieser kollaborationistischen Organisationen eine Erhöhung der tschechischen Arbeitsmoral verspricht. Zu dem Zeitpunkt waren 350.000 tschechische Verwaltungsbeamte unter der Aufsicht von 738 Deutschen tätig. Nimmt man Polizei, Post und Eisenbahnen hinzu, befehligten im gesamten Protektorat 12.000 Deutsche über eine halbe Million Tschechen. Ende 1940 lebten dort 250.000 Deutsche, davon etwa 50.000 Sudetendeutsche, die schon bei Heydrichs Ankunft auf „schärfste Maßnahmen gegen die Tschechen“ gehofft hatten. Die Exilregierung in London nimmt diese Maßnahmen zum Anlass, die Westmächte um verstärkte Unterstützung zu bitten, woraufhin Churchill fragt, welche Widerstandsaktivitäten sie eigentlich vorzuweisen habe. Das Ergebnis ist der Anschlag auf Heydrich am 27. Mai 1942 in Prag durch zwei Fallschirmjäger aus der tschechischen Exilarmee, die Beneš über ihrer Heimat hat abspringen lassen, obwohl sich die im Land verbliebenen, kaum sichtbaren oder wirksamen Widerstandsgruppen gegen die Intervention ausgesprochen hatten. Heydrich erliegt dem Attentat wenige Tage später, nachdem er sich geweigert hat, sich von tschechischen Ärzten behandeln zu lasen. Als „Vergeltung“ werden alle Männer des Dorfes Lidice erschossen und bis zum 1. September 1942 „wegen Gutheißung des Attentats“ 1357 Todesurteile verhängt. Hitler ernennt nach der blutbefleckten „Heydrichiade“ zunächst Kurt Daluege, den Chef der Ordnungspolizei, und im August 1943 den ehemaligen Reichsinnenminister Wilhelm Frick zu dessen Nachfolgern, starker Mann im Protektorat ist und bleibt aber Karl Hermann Frank, der zeitgleich mit der Berufung von Frick zum „Deutschen Staatsminister für Böhmen und Mähren“ avanciert.
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Wie weit Háchas Kollaborationsbereitschaft ging und wie diese in ihrer gesamten Ambivalenz und Koinzidenz von Mittun und Sich-Verweigern zu beurteilen und einzuordnen ist, darüber gehen die Meinungen bis heute auseinander. Am augenfälligsten wird diese Schizophrenie bei Háchas Angebot, die 6500 Mann starke tschechische Regierungstruppe (im Austausch für Inhaftierte) an der Seite der Wehrmacht im „Unternehmen Barbarossa“ einzusetzen. Die erste Anfrage aus dem Hradschin ergeht schon am 3. Juli 1941, aber Hitler, der die Tschechen hasste und sie „Mongolen“ nannte, lehnt ab. Die Kameraden Schwejks waren nicht „wehrwürdig“. Als Hácha im Januar 1943 seine Soldaten erneut „im Kampf für das neue Europa“ anbietet, fragt Frank, ob er das auch „vor dem tschechischen Volk und vor der Weltöffentlichkeit“ vertreten könne. Damit war – durch einen Nazi der übelsten Sorte – klipp und klar das Dilemma benannt, dem Hácha zu keinem Zeitpunkt ausweichen konnte. Nach dem Attentat auf Heydrich hatte er Beneš in einer Rundfunkansprache als „Pseudo-Präsidenten“, „Söldner der Feindmächte“ und „Feind Nr. 1“ bezeichnet – unter dem Druck Franks, aber auch Moravecs. Hácha selbst hat als Grundmotiv für seinen kollaborativen Schlingerkurs immer wieder das Bestreben apostrophiert, „Schlimmeres zu verhüten“: Hunger, Verhaftung, Germanisierung und „schreckliches Blutvergießen“, Beneš hingegen bezeichnet Hácha als Hitlers Gefangenen. Letztlich kann man den tschechischen Attentismus und Opportunismus der französischen, dänischen und norwegischen „Staatskollaboration“ nicht an die Seite stellen. Beneš’ Sekretär entgegnete diesem dann auch auf sein Verdikt hin: „Hácha ist und war nie ein Quisling.“9 Was den „Schutzstaat“ Slowakei anging, so verlangte der „Herrschaftsstaat“ nur auf einem einzigen Gebiet aktive Mitwirkung und Mitarbeit: beim Holocaust. Von den 2,65 Millionen Menschen, die 1940 in der Slowakei leben, sind 90.000 Jüdinnen und Juden. Der Hass gegen sie muss nicht von außen geschürt werden. Er speist sich aus einem uralten christlich-katholischen Antijudaismus. Gleichwohl war die Tatsache, dass sich ein Land mit einem katholischen Staatspräsidenten von sich aus an der „Endlösung“ beteiligte, für die NS-Propaganda in ganz Europa „von unschätzbarem Wert“10. Da die nationalsozialistische Gleichschaltungs- und Unterwerfungspolitik in der Slowakei spätestens seit der Jahreswende 1941/42 gescheitert war, wurde dieser Kollaborationsprozess sogar zum entscheidenden ideologischen Integrationsfaktor. Antisemitismus war in der SVP vom Tag ihrer Gründung an und insbesondere in der Zwischenkriegszeit fest verankert. Die Juden galten als Handlanger der Tschechen und Ungarn, des Kapitalismus wie auch des Kommunismus, und das Ziel, „diese Blutsauger vom Körper der Nation zu entfernen“, gehörte zum programmatischen Selbstverständ 9 So Jaromir Smutný 1943, zit. nach Brandes, Politische Kollaboration im „Protektorat Böhmen und Mähren“, a. a. O., S. 461. 10 Hoensch, Grundzüge und Phasen der deutschen Slowakei-Politik im Zweiten Weltkrieg, a. a. O., S. 165; Miloslav Szabó, „Von Worten zu Taten“. Die slowakische Nationalbewegung und der Antisemitismus 1875–1922, Berlin 2014.
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nis der Volkspartei. Die „Hlinka-Garde“ fordert schon früh ihre Kennzeichnung. Für jüdische Flüchtlinge aus ganz Europa wurden die Grenzen 1938 geschlossen und keinerlei Visa mehr erteilt.11 Die Pressburger Regierung verabschiedete am 10. September 1941 einen „Judenkodex“, der den Vergleich mit den Nürnberger Gesetzen nicht zu scheuen brauchte. Alle Schritte zur Diskriminierung, „Absonderung“, Deportation und Vernichtung der Minderheit werden hier eingeleitet, insgesamt umfasste das Gesetzeswerk 270 Paragraphen. Die Slowakei war nach dem Deutschen Reich der erste europäische Staat, der mit Judentransporten begann. Die bereits kaltgestellte und hochgradig frustrierte HG erwachte auf einmal zu neuem Leben. Ihre Rollkommandos trieben die Juden mit äußerster Brutalität aus den Häusern und übergaben sie der SS. Eichmann und sein Freund Mach arbeiteten reibungslos zusammen. Tiso musste sich in einem bilateralen Vertrag verpflichten, für jeden „ausgesiedelten“ Juden 500 Reichsmark „für die Ansiedlung“ (in Auschwitz) und für den Transport zu bezahlen. Einen kurz zuvor erhaltenen Brief der slowakischen Rabbiner „Hören Sie auf Gottes Stimme und helfen Sie uns in unserem tiefsten Unglück“ hat er nie beantwortet, stattdessen überwies er summa summarum 3,6 Millionen Reichsmark nach Berlin. Ein diplomatischer Vertreter des Vatikans in Pressburg schreibt nach Rom: „Ich habe bei ihm keinerlei Verständnis und nicht ein einziges Wort des Mitgefühls mit den Verfolgten gefunden.“ Und auch Tuka erklärte gegenüber dem vatikanischen Geschäftsträger: „Ich versichere Ihnen bei meiner christlichen Ehre, dass die Deportationen unserem Willen entspringen und auf unsere Initiative hin durchgeführt werden.“12 Der erste Zug geht am 25. März 1942. Bis zum 15. Mai, dem Tag, an dem der slowakische Landtag das Deportationsgesetz unisono verabschiedet und die Transporte gleichzeitig auf massive Proteste des Vatikans hin stoppen lässt, sind schon weitere 27 Züge gefolgt. Wie immer in solchen Situationen ist Staatssekretär Ernst von Weizsäcker im Berliner Auswärtigen Amt zur Stelle, der Tiso über den deutschen Gesandten in Pressburg vortragen lässt, das Einstellen der „Aussiedlung“ würde in Deutschland „überraschen [ursprünglich: „einen sehr schlechten Eindruck hinterlassen“], umso mehr, als bisherige Mitwirkung (der) Slowakei in der Judenfrage hier sehr gewürdigt worden sei.“13 Trotzdem werden die Viehwaggons erst nach einer dreimonati11 Kateřina Čapková und Michal Frankl, Unsichere Zuflucht. Die Tschechoslowakei und ihre Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich 1933–1938, Wien, Köln und Weimar 2012, S. 295. 12 Zit. nach Eva Gruberová, Hitlers Hirte, Der katholische Priester Jozef Tiso, in: „Die Zeit“ vom 27.9.2007, S. 112; Eduard Nižňanský, Die Vorstellungen Jozef Tisos über Religion, Volk und Staat und ihre Folgen für seine Politik während des Zweiten Weltkriegs, in: ders., Kristina Kaiserová und Martin Schulze Wessel (Hg.), Religion und Nation: Tschechen, Deutsche und Slowaken im 20. Jahrhundert, Essen 2015, S. 39–83, hier: S. 78; James Mace Ward, Priest, Politician, Collaborator. Jozef Tiso and the Making of Fascist Slovakia, Ithaka and London 2013. 13 Zit. nach Conze et al., Das Amt und die Vergangenheit, a. a. O., S. 275 und Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, a. a. O., S. 401.
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gen Unterbrechung wieder gefüllt, und bis zum 20. Oktober 1942 haben 57.628 Jüdinnen und Juden das Land verlassen. Die daraufhin einsetzende Pause resultierte aus Protesten der Geistlichkeit wie auch der Bevölkerung, die inzwischen erfahren hatte, dass die Juden nicht zur „Umschulung“ weggeschickt worden waren, aber auch aus dem profanen Umstand, dass die Regierung in Pressburg die hohen Entschädigungszahlungen einfach nicht mehr leisten konnte. Am 21. März 1943 wird in fast allen slowakischen Kirchen ein Hirtenbrief verlesen, in dem weitere Deportationen scharf verdammt werden. Auch bei seinem persönlichen Treffen mit Hitler einen Monat später macht Tiso keinerlei Zusagen oder Versprechungen. Er droht Mach sogar mit dem Entzug von Polizei und Gendarmerie aus dessen Kompetenzbereich, falls die Verschleppungen der Juden nicht aufhören, und nimmt ihm das Machtinstrument der „Hlinka-Garde“, indem deren Mitglieder ins slowakische Heer einberufen werden, das gleichwohl die höchste Desertionsquote von allen deutschen Verbündeten zu verzeichnen hatte. Vom Herbst 1943 an gibt es aus dem engsten Umfeld Tisos erste, vorsichtige Überlegungen hinsichtlich eines Wechsels ins Lager der Alliierten. Vollzogen worden ist er nicht. Irgendwelche Vereinbarungen mit der Exilregierung in London wurden nicht getroffen, eine subalterne slowakische Mission kehrte am 4. August 1944 aus Moskau mit leeren Händen zurück. Der am 29. August 1944 nach Ausschreitungen an der karpatendeutschen Minderheit begonnene, im Nachhinein wieder und wieder glorifizierte Nationalaufstand kam damit zur Unzeit, viel zu früh und ohne jede Rückendeckung. Bis dahin hatten die Deutschen sich gehütet, in die internen Machtkämpfe und Binnenstrukturen des „Schutzstaates“ einzugreifen, was sie jetzt manu militari taten. War das Land bislang von Kriegshandlungen verschont geblieben, so überzogen Wehrmacht, SS, Reste der „Hlinka-Garde“ und die „Freiwillige Schutzstaffel“ der 135.000-köpfigen deutschen Minderheit es jetzt mit einem nie gekannten Terror. Hundert Ortschaften wurden niedergebrannt.14 Die Aufständischen, die 60.000 Soldaten der regulären slowakischen Armee und 18.000 kommunistische Partisanen auf die Beine 14 Lenka Šindelářová, Finale der Vernichtung. Die Einsatzgruppe H in der Slowakei 1944/1945, Darmstadt 2013, beschreibt akribisch das enge Zusammenspiel zwischen Wehrmacht, slowakischer Armee, SS, „Hlinka-Garde“, „Deutschem Heimatschutz“ (seit September 1944) und ortskundigen einheimischen „Helfershelfern“. Die Deutschen begrüßten diese Konstellation und Kollaboration, da sie den Slowaken dadurch „einen Teil der politischen Verantwortung aufbürden (konnten)“ (S. 318). Vgl. auch Tomas Sniegon, Vanished History. The Holocaust in Czech and Slovak Historical Culture, London 2014; Ivan Kamenec, On the Trail of Tragedy: The Holocaust in Slovakia, Bratislava 2007; Barbara Hutzelmann, Die deutsche Minderheit und die Enteignungen der Juden in der Slowakei 1939–1945, in: Olschowsky und Loose (Hg.), Nationalsozialismus und Regionalbewusstsein im östlichen Europa, a. a. O., S. 229–248; Susanne Heim et al. (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 13: Slowakei, Rumänien und Bulgarien, bearb. von Mariana Hausleitner, Souzana Hazan und Barbara Hutzelmann, Berlin und Boston 2018.
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stellen konnten, proklamierten die Tschechoslowakische Republik, erließen Gesetze und Verordnungen und verboten die HSL’S; die Tschechen nebenan rührten im Übrigen keine Hand für sie. Im Prinzip herrschten von nun an bis zum Kriegsende, auch nach der Niederwerfung des Aufstands am 27. Oktober 1944, zwei Regierungen und zwei Systeme. Tiso zelebriert aus Dank an die Deutschen, die er gerufen hatte, ein Tedeum, entlässt Tuka aus dem Amt des Ministerpräsidenten und sandte noch am 1. Mai 1945 als eine seiner letzten Amtshandlungen ein Grußtelegramm an Hitlers Nachfolger Dönitz nach Flensburg, war da aber tatsächlich schon zur willenlosen Marionette herabgesunken, die nur noch aus Tarnungsgründen eine Scheinsouveränität demonstrierte. Die Volkspartei sprach nicht mehr für das Volk. Der katholische Prälat muss der Wiederaufnahme der nunmehr in deutscher Regie vorgenommenen Judendeportationen ohnmächtig zusehen und rechtfertigt diese auch noch in einem Brief an Papst Pius XII., der den slowakischen Seelenhirten zwar mehrfach tadelt, aber nicht exkommuniziert. Nochmals 13.000 Juden verlassen ihre Heimat Richtung Theresienstadt, Sachsenhausen und Auschwitz. Am 8. Mai 1945 sind es nicht mehr als 8000 slowakische Juden, die das Morden überlebt haben, und heute wohnen dort nur noch 3000 ihrer Glaubensbrüder.14 Um den Typus und den Charakter von Tisos Herrschaft wird bis heute gestritten und gerungen. Natürlich hat er sich an das nationalsozialistische Deutschland angepasst, aber er hat sich nicht mit ihm identifiziert. Hitlers Neuheidentum hat er qua officio abgelehnt. Worum es ihm ging, war ein Modus Vivendi und eine Kosten-NutzenKalkulation, die seinem Staat ein Mindestmaß an Autonomie sicherte. Er selbst bezeichnete sich als „stets getreuer Dolmetsch des Willens und der Gesinnung seiner Nation“15. Für die Anhänger der SVP/HSL’S verkörperte er im tausendjährigen Kampf um Unabhängigkeit „den Höhepunkt der gesamten slowakischen Geschichte“. Er war ihr „Führer mit christlichem Antlitz“, Mythos und Heiliger, auch, gerade und weil er mit dem Teufel paktiert hatte, um als Erster die Unabhängigkeit zu verwirklichen. Im weniger verklärten Bild der Forschung tat und tut man sich mit der Einordnung und Klassifizierung Tisos schwerer. Das lange Zeit von ihm vermittelte Bild eines Mustersatelliten der Deutschen an der Spitze einer Marionettenregierung kann dank der Arbeiten von Tatjana Tönsmeyer als korrigiert gelten. Immer noch findet sich hingegen der Terminus vom „christlichen Totalitarismus“ und von der „klerikalfaschistischen Diktatur“, gegen die Wolfgang Wippermann aber schon in den 1980er Jahren überzeugen-
15 Zit. nach Seidler, Die Kollaboration 1939–1945, a. a. O., S. 528; vgl. auch Stanislava Kolková, Das Bild von Jozef Tiso als „Führer mit christlichem Antlitz“ und „Symbol der slowakischen Unabhängigkeit“ in Vergangenheit und Gegenwart – Versuch einer Annäherung, in: Ennker und Hein-Kircher (Hg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, a. a. O., S. 253–275 und Jozef Pavol, Widerstand oder Kollaboration? Vergleichende Analyse der kontroversen slowakischen, exilslowakischen und deutschen Literatur über Dr. Jozef Tiso, Hamburg 2008.
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de Einwände vorgebracht hat.16 Tatsächlich hat Tisos klerikal geprägtes autoritäres Regime die Entwicklung zum Nationalsozialismus wie auch zur Demokratie gleichermaßen blockiert und blockieren wollen. Die Intoleranz, Radikalität und Gewalt seines Einparteiensystems sprechen hier eine eindeutige Sprache, was sich insbesondere in der „Erledigung der Judenfrage“ zeigte. In Böhmen und Mähren lebten zum Zeitpunkt des Münchner Abkommens 118.000 Jüdinnen und Juden. Die „Altneuschul“ in Prag, in der heute noch Gottesdienste stattfinden, war und ist die älteste Synagoge Europas. 26.000 Juden konnten rechtzeitig fliehen, so auch Josef Körbel, der Diplomat in der Londoner Exilregierung wird. Gegenüber seiner 1937 geborenen Tochter Madlenka verheimlicht er sogar sein Judentum. Diese erfuhr davon, erst kurz bevor sie als Madeleine Albright 1997 amerikanische Außenministerin wurde, wie auch von der Tatsache, dass zwei Dutzend ihrer Verwandten in Auschwitz umgekommen waren.17 Von den 73.000 Juden, die ins KZ Theresienstadt kamen, sind die meisten in die Vernichtungslager im Osten deportiert worden. Nur 7000 haben überlebt. Entgegen bisherigen Annahmen und Einschätzungen waren Tschechen lokal, regional und auf allen anderen Ebenen in dieses Verbrechen involviert. Wolf Gruner hat nachgewiesen, dass die Regierung Hácha im direkten Benehmen mit den Stadtverwaltungen, Oberlandräten und den Kommunen mit den Separierungen begann, und zwar aus eigener Initiative, nicht als bloßer Befehlsempfänger.18 Genauso wenig ruhmreich ist, dass die Tschechen erst am 5. Mai 1945, als längst alles entschieden war, die Erhebung gegen den Besatzer wagten. Die Amerikaner standen da bereits in Sichtweite; man hatte leichtes Spiel. Eine aus hundert missbrauchten tschechischen Jugendlichen bestehende „Freiwillige St.-Wenzels-Rotte“, die auf Moravecs Wunsch der Waffen-SS unterstellt wurde, bestand da gerade einmal vier Wochen. Es war die erste (und letzte) soldatische NS-Formation der Tschechen. Sie bildet sich, als die Handvoll tschechischer Nazis und die stattliche Schar nationalistischer Slowaken fluchtartig das sinkende Schiff verlässt.
16 Wippermann, Europäischer Faschismus im Vergleich (1922–1982), a. a. O., S. 174 f.; Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei 1939–1945, a. a. O., S. 346 ff.; auch: Lipták, Das politische System der slowakischen Republik 1939–1945, a. a. O., S. 331 ff. 17 Madeleine Albright, Winter in Prag. Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg, München 2013. 18 Wolf Gruner, Die Judenverfolgung im Protektorat Böhmen und Mähren. Lokale Initiativen, zentrale Entscheidungen, jüdische Antworten 1939–1945, Göttingen 2016; weitere Beispiele: Michal Frankl, „Prag ist nunmehr antisemitisch“. Tschechischer Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin 2011. Peter Hallama, Nationale Helden und jüdische Opfer. Tschechische Repräsentationen des Holocaust, Göttingen 2015, zeigt die bis in die 1990er Jahre vom tschechischen Nationalismus geprägten antisemitischen Stereotypen deutlich auf. Auch was die Gegenwart angeht, zeichnet er in seinem abschließenden Urteil nicht gerade ein positives Bild, denn „die traditionelle Wahrnehmung, die den Holocaust aus der tschechischen Geschichte exkludiert, (…) ist auch in der heutigen tschechischen Gesellschaft noch präsent“ (S. 322).
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Moravec nimmt sich – nicht zufällig – am 5. Mai das Leben. Krejčí erklärt am selben Tag das Wiedererstehen der tschechoslowakischen Republik, wird verhaftet, verurteilt und stirbt 1956 im Gefängnis. Gajdas letzte Stunde schlägt nach seiner Verurteilung 1948 in Prag. Rys-Rozsévac erlebt das Kriegsende im KZ Dachau, wird an die Tschechen ausgeliefert und im Oktober 1945 zum Tode verurteilt, ebenso wie Tuka. Mach flieht nach Wien, wird gefasst und zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt. Die Revolutionäre des Prager Frühlings heben die Strafe auf, stellen ihn aber weiter unter Hausarrest. Durčanský flieht nach Argentinien, wird in absentia zum Tode verurteilt, kehrt 1952 nach Europa zurück und steuert von München aus die US-finanzierte Propaganda gegen den „Ostblock“. Der Fall und das Verfahren aber, auf das alle wie gebannt starren, ist die Causa Tiso, denn mit ihm sitzt die gesamte Slowakei auf der Anklagebank. Tiso, der die Wiedervereinigung der Tschechen und Slowaken in einem Staat nicht weniger fürchtet als die sowjetische Invasion, verlässt Pressburg am 5. April 1945. Über das österreichische Benediktinerkloster Kremsmünster flieht er ins oberbayerische Kapuzinerkloster in Altötting, wo er mit Wissen und Billigung des Münchner Kardinals Faulhaber versteckt wird. Bei dem Versuch, persönlich zu Faulhaber zu gelangen, nimmt ihn die amerikanische Militärpolizei fest. Der aus dem Exil zurückgekehrte Beneš fordert mit der Parole „Tiso muss hängen“ dessen Auslieferung, der die Amerikaner am 25. Oktober 1945 nachkommen. In dem am 2. Dezember 1946 beginnenden Verfahren steht er wegen Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland, Zerstörung des tschechoslowakischen Staates und der Judendeportationen vor Gericht. In allen slowakischen Kirchen werden von diesem Tag an Messen für Tiso gelesen und Litaneien für ihn gebetet. Er selbst bekennt sich als unschuldig und sieht sich als „Märtyrer der natürlichen Rechte der slowakischen Nation, des Christentums vor dem Bolschewismus und des Gesetzes Gottes“19 und bleibt bis zum letzten Moment hochfahrend, herablassend und arrogant. Das Todesurteil wurde am 15. April 1947 verkündet. Beneš machte von seinem präsidialen Recht auf Begnadigung keinen Gebrauch, auch Pius XII. intervenierte nur zurückhaltend und schwach für seinen Bruder in Christo. Als Tiso drei Tage später zum Strang geführt wird, läuten in Pressburg alle Kirchenglocken, sein Grab wird bis heute mit Kränzen und frischen Blumen geschmückt. Hácha sieht sich nach der „sogenannten Befreiung“20 in ein Gefängnis überführt, wo er am 27. Juni 1945 als völlig gebrochener Mann im Krankenhaus stirbt. 30.000 Tschechen und 6000 Roma waren dem deutschen Terror zum Opfer gefallen, eine erschreckende Zahl, und doch ein im europäischen Vergleich nicht hoher Blutzoll. Verschiedene Exilgruppen einigen sich in Kaschau in der schon sowjetisch besetzten Ost19 Aus der letzten Rede vor seiner Hinrichtung, zit. nach Kolková, Das Bild von Jozef Tiso, a. a. O., S. 271. 20 So Wilma Iggers, Tschechoslowakei/Tschechien. Das verlorene Paradies, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 2, S. 773–793, hier: S. 773.
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slowakei auf eine Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten, Bürgerlichen und Kommunisten und bestimmen Beneš am 4. Mai erneut zum Staatspräsidenten der wiedervereinigten Tschechoslowakei, die allerdings die Karpato-Ukraine an die Sowjetunion abtreten muss. Bis zum Oktober 1945 nimmt er die Regierungsgeschäfte mithilfe von Dekreten wahr, die später Gesetzescharakter erhalten. Bei den ersten Parlamentswahlen im Mai 1946 setzt sich die bürgerlich orientierte Demokratische Partei mit 62 Prozent durch. Als die Waffen schwiegen, war jedem klar, wem es jetzt gegebenenfalls auch mit Waffengewalt an den Kragen gehen würde: den Deutschen. Als die Wehrmacht im Oktober 1938 die Sudetengebiete besetzt hatte, hatten die Deutschen sie gefeiert und freudig johlend begrüßt. Die dort lebenden Tschechen, etwa eine halbe Million Menschen, wurden verhöhnt und drangsaliert, 200.000 flohen ins Landesinnere, die verbliebenen mussten täglich neue Schikanen erdulden. Es überrascht deshalb nicht, dass das wenige Monate später entstandene Protektoratsregime in der tschechischen Bevölkerung oft als Werk der Sudetendeutschen gesehen wurde, und es überrascht deshalb vielleicht noch weniger, was nach Kriegsende 1945 geschah: In der Aktion „Odsun“ („Abschiebung“) werden die drei Millionen Sudetendeutschen brutal aus dem Land getrieben. Beneš hatte schon am 16. Dezember 1943 bei seinem Treffen mit Stalin erklärt: „Die Niederlage Deutschlands gibt uns die einzigartige historische Möglichkeit, das deutsche Element radikal aus unserem Staat zu entfernen.“21 München, Heydrich und Lidice hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Was nunmehr begann, war eine in der Geschichte beispiellose Hetzjagd auf Schuldige und Unschuldige, die dort zum Teil seit tausend Jahren gesiedelt hatten und jetzt auf Todesmärsche geschickt wurden. Deutsche wurden wahllos an den Füßen aufgehängt, mit Benzin übergossen und angezündet. Ihnen wurden Hakenkreuze auf den Rücken gemalt und sie mussten weiße Armbinden mit der Aufschrift „N“ für Nemec (Deutscher) tragen. Das schlimmste und verheerendste Verbrechen, das Massaker von Aussig am 31. Juli 1945, ist zudem „von staatlicher Seite nicht nur gedeckt, sondern auch vorbereitet und benutzt worden“22, um die „Umsiedlungsdiskussionen“ auf der laufenden Potsdamer Konferenz zu beeinflussen. Nach Bombendetonationen und Brandschatzungen in dem Ort, die terroristischen NS-Gruppierungen in die Schuhe geschoben wurden, eröffnete 21 Zit. nach Naimark, Flammender Haß, a. a. O., S. 146; vgl. auch: R. M. Douglas, Ordnungsgemäße Überführung, München 2012; Lukas Novotny, Vergangenheitsdiskurse zwischen Deutschen und Tschechen. Untersuchung zur Perzeption der Geschichte nach 1945, Baden-Baden 2009 und Jan M. Piskorski, Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, München 2013; Ota Konrád und René Küpper (Hg.), Edvard Beneš: Vorbild und Feindbild. Politische, historiographische und mediale Deutungen, Göttingen 2013 und Michal Kopeček, The Czech Republic: From Democracy Legitimization to the Politics of Memory, in: „Journal of Modern European History“, Nr. 2/2010, S. 145–148. 22 Karl-Peter Schwarz, Auf der Brücke von Schreckenstein. Vor 60 Jahren: Das Massaker an Deutschen in Aussig ist immer noch nicht aufgeklärt, in: „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ vom 31.7.2005, S. 10.
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man das Feuer auf jeden Deutschen, der vor die Flinte kam. Insgesamt fallen allein 30.000 Zivilisten Racheaktionen zum Opfer. Unter den Mördern sind auch tschechische Kollaborateure, „die sich nun durch besondere Grausamkeit von ihrer Schuld reinwaschen wollten.“23 Ganze Familien versammeln sich, bevor sie umgebracht werden sollen, im Sonntagsstaat, umgeben von Blumen, Kreuzen und Familienalben, um sich zu erhängen oder zu vergiften. Beneš’ Londoner Wort vom Oktober 1943, „den Deutschen wird mitleidlos und vervielfacht all das heimgezahlt werden, was sie in unseren Ländern seit 1938 begangen haben“, bewahrheitete sich; selbst erfahrene sowjetische Politoffiziere waren von dem Gewalttaumel schockiert. Nicht selten flehten die Deutschen sie um Schutz vor den Tschechen an und bekamen ihn gewährt. An die Stelle der in Potsdam beschlossenen „ordnungsgemäßen und humanen Überführungen“ trat die wilde, viehische Vertreibung von drei Millionen Sudetendeutschen. Wie viele sie nicht überlebt haben, weiß man bis heute nicht. Die Zahlen schwanken je nach politischem Standort zwischen 30.000 und 300.000. Die juristische Aufarbeitung und Bestrafung der Kriegsverbrechen in der Nachkriegstschechoslowakei wurde von den zuständigen Behörden offiziell als „Retribution“ bezeichnet. Sie richtete sich sowohl gegen die ehemaligen Besatzer, die deutsche und ungarische Minderheit wie auch gegen tschechische und slowakische Kollaborateure. Die Exilregierung hatte die Verfahren bereits seit 1943 vorbereitet, Revision war nicht zugelassen. Am 19. Juni 1945 erließ Beneš hierfür das Dekret Nr. 16, das aber nicht für die Slowakei galt, wo ein eigenes Retributionsgesetz erlassen worden war, das bis 1948 wirksam blieb. Mit dem Dekret installierte er 24 außerordentliche Volksgerichte, die oft standrechtlich agierten. Die Verhandlungen dauerten oft nur 15 Minuten, gegen das Urteil gab es keine Rechtsmittel. Eines der häufigsten als Kollaboration eingestuften Delikte war die Denunziation von Nachbarn und Verwandten. Erst mit dem Dekret Nr. 33 vom 25. März 1948 wurden die Volkstribunale aufgelöst und zivile Gerichte übernahmen ihre Aufgabe. Bis dahin waren 713 Todesurteile, 741-mal lebenslänglich und 19.888 kürzere Haftstrafen für „Verräter, Kollaborateure und faschistische Elemente“ verhängt worden. Jedes Todesurteil musste innerhalb von zwei Stunden vollzogen sein. Ein Gnadengesuch war möglich, aber dem Staatspräsidenten blieb hierfür nur eine Frist von drei Stunden eingeräumt. Allein schon deshalb wurden 94,2 Prozent aller Todesurteile vollstreckt, davon über 400 gegen Deutsche. Verbrechen, die sich gegen Juden gerichtet hatten, waren zu nicht einmal 5 Prozent Gegenstand der Verfahren. Die „Retribution“ war von Anfang als Legitimation der Vertreibung angelegt. Emil Hácha, der Mann, in dem die historische Dimension dieser juristischen „Aufarbeitung“ inkarniert war, starb, bevor der Prozess gegen ihn eröffnet wurde. Die Tribunale in der Slowakei sahen sich mit 110.000 Strafanzeigen konfrontiert, von denen aber nur 8000 zu einem Urteil führten, davon 65 zum Tode; tatsächlich wurden 29 Menschen hingerichtet. 60 Prozent aller Verfahren richteten sich gegen Un23 Jan Puhl, Grausame Sieger, in: Der Spiegel“, Nr. 22/2010, S. 90.
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garn, 29 Prozent gegen Slowaken und nur 10 Prozent gegen Deutsche. Natürlich war die politische Zielsetzung dem juristischen Procedere in beiden Landesteilen übergeordnet, aber der eigentliche Missbrauch der „Retribution“ als politisches Machtinstrument begann erst mit der kommunistischen Alleinherrschaft 1948. In dieser sogenannten zweiten Phase sind nur noch 3300 Personen verurteilt worden. Schließlich hatte man die Vertreibung abgeschlossen, und die war allemal wichtiger als die Verurteilung. Der Theresienstadter KZ-Aufseher Anton Malloth, der 1948 in Leitmeritz unter großem Presserummel in Abwesenheit zum Tode verurteilt und erst 2001 in München gefasst werden konnte, war der letzte Delinquent. Im Mai 1950 befanden sich in den Strafanstalten noch 10.000 Retributionsgefangene, 6000 von ihnen Deutsche. Im April 1956 betrug das Zahlenverhältnis nur noch 222 zu 62, und 1968 wurde der letzte Deutsche entlassen.24 Die juristische Aufarbeitung war de facto und vor allem für die Verantwortlichen beendet. Hat es auch noch eine andere gegeben? Tomáš Garrigue Masaryk blieb in der Bevölkerung nach wie vor so verehrt, dass 1945 die bereits 1937 begonnenen Pläne für ein Denkmal in Prag wiederaufgenommen wurden. 1947 stand der Sockel, aber mehr ist nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 nicht hinzugekommen. Im Gegenteil, in einer Hasskampagne und in einem im Jahr 1953 kulminierenden Bildersturm sah Masaryk sich von den Sockeln aller bestehenden Denkmäler im Land in den Staub gestürzt. Nichts sollte mehr an ihn, die Erste Republik und das demokratische System erinnern. In einem Geschichtslehrbuch des Jahres 1970 wird er nur noch mit einem einzigen Satz erwähnt. Auch zur Kollaboration findet sich kaum ein Wort. Nicht dass sie völlig verschwiegen wird, aber sie erscheint hier als die einzige Überlebensform. Zwischen ihr und dem Widerstand gab es allenfalls noch die Grauzone aus Passivität und Gleichgültigkeit, womit das Verhalten der Tschechinnen und Tschechen gar nicht einmal so unzutreffend beschrieben ist. In der Slowakei hingegen wurde von oben als großes, alles andere dominierendes Narrativ die Heldenerzählung vom Nationalaufstand verordnet, durch den man sich mit „brüderlicher Hilfe“ der Sowjetunion vom „faschistischen Joch“ befreit habe. Andere Erinnerungsstränge blieben bis 1989 unterdrückt, Tiso und sein „Schutzstaat“ wurden totgeschwiegen, vor allem dessen Mittun und Mitschuld beim Holocaust. Der Kommunist Gottwald hatte in der Hoch-Zeit des Stalin’schen Antisemitismus nicht das geringste Interesse, an die Ermordung der europäischen Juden zu erinnern. Obwohl das KZ Theresienstadt schon 1947 Gedenkstätte wurde, schenkte man seinen Hauptinsassen, den Juden, kaum Aufmerksamkeit. Mehr noch: Nicht einmal die Tatsache, dass dort neben den kommunistischen auch andere Widerstandsgruppen inhaftiert waren, fand Er24 Vgl. für den Gesamtkomplex: Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, a. a. O., S. 89 ff. und 174 ff.; Kateřina Lozoviuková, Nationale Neudefinition durch Vertreibung. Die Abrechnung mit NS-Verbrechern und Kollaborateuren in den böhmischen Ländern, in: Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 298–313; Benjamin Frommer, National Cleansing. Retribution against Nazi Collaborateurs in Postwar Czechoslovakia, Cambridge 2005.
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wähnung. Der Genozid galt als ausschließlich jüdisches oder deutsches „Problem“, denn die Deportationen seien ja auf Befehl des Reiches erfolgt, dem sich keiner bei Gefahr an Leib und Leben hätte widersetzen können. Die slowakischen Juden seien schlicht und einfach das Opfer gewesen, das für die Existenz des eigenen Staates habe gebracht werden müssen.25 Die erhalten gebliebene Synagoge von Pressburg, das nunmehr Bratislava hieß, fiel in den 1950er Jahren einem gigantomanisch-realsozialistischen Brückenbauprojekt zum Opfer. Noch in den ersten slowakischen Lehrbüchern nach 1989 tauchen die Juden nur am Rande auf, in den tschechischen ist hier immerhin ein Wandel zu verzeichnen.26 Nach der „samtenen Revolution“, also unter gänzlich anderen historischen Bedingungen, fällt die Tschechoslowakei zum zweiten Mal auseinander. Am 20. April 1990 erfolgt die Umbenennung in „Tschechische und Slowakische Föderative Republik“, am 23. Juli 1992 vereinbaren Václav Klaus und Vladimir Mečiar, die Ministerpräsidenten der beiden Länder, die Auflösung der Föderation, die am 1. Januar 1993 wirksam wird. Beide Staaten sind in ihrer Erinnerungskultur und Vergangenheitsaufarbeitung bis heute tief gespalten, der Dissens hat bereits zum Trennungsprozess das Seinige beigetragen. Für die Slowaken besitzt der Nationalaufstand von 1944 nach wie vor die herausragende Bedeutung, weil hier – so der Tenor – ein ganzes Volk im Widerstand war, gleich ob bürgerlich, sozialistisch oder kommunistisch orientiert. Ausgeschlossen aus dieser Gemeinschaft blieben bis 1989 allerdings die Anhänger Tisos, weil für diesen der Aufstand ja nationaler Verrat gewesen war. Aus den Reihen dieser „Outcasts“ stammten nicht wenige Anhänger des Rechtspopulisten Mečiar, der für sie sogar eine wie auch immer geartete Fortsetzung des Prälatenpräsidenten darstellte. Zwar hatte es in den stalinistischen, poststalinistischen, reformkommunistischen und realsozialistischen Zeiten von 1948 bis 1990 auch immer wieder einen aufkeimenden Tiso-Kult gegeben, aber die Prager Machthaber hatten ihm mit massiv verbreitetem Bildmaterial, auf dem der „Klerikalfaschist“ deutsche Soldaten auszeichnet, die den Aufstand blutig niederschlugen, geschickt entgegengearbeitet, damit andererseits und wider Willen je25 Tatjana Tönsmeyer, Slowakei. Der Zweite Weltkrieg: Erfahrung und Erinnerung, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 2, S. 799–815, hier: S. 810 f.; ähnlich: Gila Fatran, Holocaust and collaboration in Slovakia in the postwar discourse, in: Stauber (Hg.), Collaboration with the Nazis, a. a. O., S. 186–211. 26 Vgl. Iggers, Tschechoslowakei/Tschechien, a. a. O., S. 785 und Marlis Sewering-Wollanek, Die Wiederentdeckung der Juden. Tschechische Geschichtsbücher nach 1989, in: „Osteuropa“, Nr. 8–10/2008, S. 469–479; dagegen: Peter Hallama, „Vergangenheitsbewältigung“ auf Tschechisch. Der Holocaust im tschechischen Samizdat, in: ders. und Stephan Stach (Hg.), Gegengeschichte. Zweiter Weltkrieg und Holocaust im ostmitteleuropäischen Dissens, Leipzig 2015, S. 237–260 und Michal Frankl, Die „Endlösung der Judenfrage“ und die Narrative der tschechischen Geschichte 1945–1989, in: Christiane Brenner et al. (Hg.), Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Wissenschaftstraditionen – Institutionen – Diskurse, München 2006, S. 255–275.
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doch gleichzeitig eine innerslowakische Opposition am Leben gehalten. „Es ist nicht zuletzt diese Schwarzweißmalerei, die die überbordende Tiso-Begeisterung seit den 1990er Jahren erklärt.“27 Für die einen gab es keine Nutznießer, Sympathisanten und Kollaborateure seines Regimes, da ja die ganze Nation im Widerstand war, und für die anderen bedeuteten gerade sie die eigentlichen slowakischen Patrioten, da sie den Aufstand als dies ater, „Verschwörung“ und „nationalen Verrat“ bekämpften – ein verzwickter, in vielem nach wie vor unaufgelöster Kontrast, der dem tatsächlichen Alltag von Pressburg bis Kaschau im Zweiten Weltkrieg nicht gerecht wird. Der Kult um Tiso erreichte nach der großen Zeitenwende 1990/91 einen ersten Höhepunkt. Sein Grab wurde zur Pilgerstätte, und die Matica Slovenská, das altehrwürdige Kulturinstitut in Bratislava, betrieb seine Rehabilitierung. Im Einklang mit rechtsextremen Gruppen forderte sie, den 14. März zum Nationalfeiertag zu machen, weil 1939 an dem Tag der „erste eigenständige slowakische Staat“ gegründet worden war. Als Präsident Václav Havel 1991 just am 14. März Bratislava besuchte, musste er sich wütende Parolen wie „Tschechen, Juden und Ungarn raus“ anhören. Die katholische Kirche verlangte Tisos Heilig- und Seligsprechung, allerdings ohne Erfolg. Papst Benedikt XVI. entließ den slowakischen Erzbischof Jan Sokol, der sich zum Fürsprecher dieses Ansinnens gemacht hatte, 2009 in den Ruhestand. Kontinuierlich schossen ultranationalistische Gruppierungen wie die „Slowakische Bewegung der Wiedergeburt“ und die „Kameradschaft von Menschen gleichen Blutes“ in die Höhe, die sich ab 2005 zwar abgeschwächt „Slowakische Gemeinschaft“ nannte und 2008 verboten wurde, die in der Illegalität aber mit dem Führerprinzip weiterarbeitet. Legal ist und bleibt die stramm konservative, partiell völkische „Slowakische Nationalpartei“ unter Ján Slota, die der Sozialdemokrat Robert Fico 2005 sogar in die Regierung holte. Eine gemeinsame tschechoslowakische Erinnerung an die Jahre von 1939 bis 1945 gibt es nicht, und es wird sie auf absehbare Zeit auch nicht geben. Schon in kommunistischer Zeit hatten beide Landesteile durchweg eigene Schulbücher. Gleichwohl sind die Bemühungen um eine objektive Aufarbeitung im selbstständigen Tschechien weiter fortgeschritten. Václav Havel hat sich unmittelbar nach seiner Amtsübernahme für die Vertreibung der Sudetendeutschen entschuldigt, die die Mehrheit seiner Landsleute nach wie vor für richtig hält. 2002 lehnten es alle vier großen tschechischen Parteien ab, sich von den Beneš-Dekreten zu distanzieren, 2007 wird Havel auf rechtsextremistischen Demonstrationen in Prag höhnisch als „Kollaborateur der Deutschen“ gebrandmarkt. Andererseits verlangt die sudetendeutsche Landsmannschaft immer noch Restitution, unterstützt von Strauß bis Stoiber, die nie müde wurden zu bekräftigen, dass sie die Sudetendeutschen als „vierten bayerischen Stamm“ unter ihre Fittiche genommen hatten. Wie sensibel und aufgeladen die Problematik aber auch in Tschechien selbst ist, zeigte der Präsidentschaftswahlkampf 2013, in dem der amtierende Außenminister Karel Schwarzenberg kandidierte. Auf die Dekrete angesprochen sagte er, 27 Tönsmeyer, Slowakei. Der Zweite Weltkrieg, a. a. O., S. 808.
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nach heutigen Maßstäben seien sie „grobe Menschenrechtsverletzungen“ und Beneš, ihr Unterzeichner, müsste sich für sie in Den Haag verantworten, wenn er noch lebte. Sofort scholl ihm der Vorwurf des „Landesverrats“ von (fast) allen Seiten entgegen, und die Wahl war verloren. Tschechien mit seinen zehneinhalb und die Slowakei mit ihren fünfeinhalb Millionen Einwohnern sind inzwischen fast schon homogene Nationalstaaten, in denen kaum noch jemand an die Zeiten unter einem gemeinsamen staatlichen Dach zurückdenkt. In der Prager Republik leben 94 Prozent Tschechen und 2 Prozent Slowaken, von Bratislava aus werden 81 Prozent Slowaken, 8,5 Prozent Ungarn, 2 Prozent Roma und nur noch 0,6 Prozent Tschechen regiert. Und langsam verblasst auch die Erinnerung an den Kollaborateur Tiso. Ján Slota, einer seiner letzten Bewunderer, scheiterte bei den Wahlen von 2012 an der Fünf-Prozent-Hürde und flog mit der „Nationalpartei“ aus dem Parlament. Seit 2007 hat in Bratislava ein „Institut zum Studium totalitärer Regime“ mit dem Aufarbeiten der Vergangenheit von 1938 bis 1945 und von 1948 bis 1989 begonnen.
Ungarn 896 führt Árpád die schamanengläubigen Magyaren unter der rot-weißen Fahne aus den Gebieten zwischen Wolga, Don und Ural in das Pannonische Becken. Ihre Christianisierung unter dem im Jahr 1000 von Papst Sylvester gekrönten heiligen Stephan ist der erste „Verwestlichungsschub“ in Europa. Das unabhängige Königreich Ungarn entsteht. Zur Kolonialisierung, vor allem von Siebenbürgen, werden Deutsche, „Donauschwaben“, ins Land geholt, die dort bald zahlreicher sind als die Magyaren und 1224 die Selbstverwaltung erhalten. Mit der Unterwerfung durch die Osmanen nach der verlorenen Schlacht von Mohács 1526, dem „Sinnbild der nationalen Selbstzerstörung und Maß für alle späteren Katastrophen“1, beginnt der ungarische Opferdiskurs: die Unterdrückung durch die „Fremdmächte“ von den Türken über die Habsburger bis zu den Nationalsozialisten und Sowjetkommunisten. 1687 wird das Erbrecht der Habsburger auf die ungarische Krone anerkannt, 1722 die Unteilbarkeit des Habsburgerreiches gesetzlich festgelegt. Die Reformen Maria Theresias im Schulwesen und hinsichtlich der Freizügigkeit der Leibeigenen finden Anerkennung, diejenigen Josephs II., der die Leibeigenschaft aufheben und die Religionsfreiheit sowie Deutsch als Unterrichts- und Verwaltungssprache einführen will, stoßen auf unbeugsamen Widerstand. 1848 flammt auch in Ungarn die Revolution auf, Lajos Kossuth (1802–1894) wird ihr Anführer. Er ruft die Unabhängigkeit aus und macht sich zum Reichsverweser (Staatspräsidenten), aber Kaiser Franz Joseph I. schlägt den Aufstand mit russischer Hilfe schnell nieder. 1867 bekommt das Land als Teil der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie eine parlamentarische Verfassung und Franz Joseph lässt sich zum König von Ungarn krönen. Doch Kossuths Impetus und Impulse waren keineswegs verpufft. Am Beginn des 20. Jahrhunderts konnte die Ordnung in dem von Parteienhader und Autonomiebestrebungen zerrissenen Karpatenbecken, in dem mehr Rumänen als Ungarn lebten, nur noch mit Gewalt aufrechterhalten werden. Ungarn besaß zu dem Zeitpunkt mit Fiume (Rijeka) nach wie vor einen Mittelmeerhafen, aber es hatte 1886 im Osten und im Süden zwei neue Nachbarn erhalten: das Königreich Rumänien und das Königreich Serbien, dessen Hauptstadt Belgrad nur wenige Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt lag. In der Astern-Revolution vom 30. auf den 31. Oktober 1918 werden die 400 Jahre währenden staatsrechtlichen Verbindungen mit der moribunden Habsburgermonarchie gekappt. Graf Károlyi tritt wenig später an die Spitze einer unabhängigen bürgerlich-demokratischen Republik. Am 21. März 1919 errichtet Béla Kun für 133 Tage eine Räterepublik. Rumänische Truppen rücken bis nach Budapest vor. Einen Tag nach ihrem Ab1 György Dalos, Ungarn. Mythen – Lehren – Lehrbücher, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 2, S. 528–556; hier: S. 544; Adam Markus, Die Geschichte des ungarischen Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2013.
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zug, am 16. November 1919, marschiert Admiral Miklós von Horthy, der letzte Oberbefehlshaber der k. u. k. Kriegsmarine, mit der neu entstandenen ungarischen Nationalarmee in die Hauptstadt ein. Er wird die Macht in den folgenden 25 Jahren nicht wieder abgeben. Als Verkörperung der Konterrevolution wird er am 1. März 1920 in dem von Truppen umstellten Parlament zum „Reichsverweser“ gewählt, weil der Fortbestand der Monarchie durch ein Gesetz ausdrücklich proklamiert worden war. Am 4. Juli 1920 muss er in seiner ersten größeren Amtshandlung die – mit Abstand – größte Schmach der ungarischen Geschichte akzeptieren: den Vertrag von Trianon. In dem Versailler Lustschloss „Grand Trianon“ zwang Frankreich zusammen mit Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Rumänien, den Signatarmächten der „Kleinen Entente“, die Verlierernation des Ersten Weltkriegs, das Königreich ohne König, repräsentiert von einem Admiral ohne Flotte, zu Gebiets- und Bevölkerungsabtretungen in schier endlosem Maßstab. Das Burgenland im Westen ging an Österreich, die Slowakei („Oberungarn“) und die Karpato-Ukraine im Norden an die Tschechoslowakei, Siebenbürgen und das Banat im Osten an Rumänien und schließlich die Vojvodina („Unterungarn“), Slawonien und Kroatien im Süden an Jugoslawien. Ungarn verlor 71 Prozent seines Gebietes und 63 Prozent seiner Bevölkerung. Zwar ist es richtig, dass diese Territorien mehrheitlich nicht von Ungarn besiedelt waren, andererseits lebten von nun an aber 3,5 Millionen Ungarn unter einer Fremdherrschaft, davon allein 1,7 Millionen in Rumänien. Der verbliebene, noch 8,6 Millionen Einwohner zählende Staat, in dem jetzt nicht mehr 45, sondern nur noch 12 Prozent Nichtungarn beherbergt waren, avancierte zum größten Weltkriegsverlierer. Die Revision von Trianon, des nationalen Traumas schlechthin, und die Rückgewinnung von „Großungarn“ werden zur unumstrittenen Doktrin aller Administrationen der Zwischenkriegszeit. „Ungar ist, wen Trianon schmerzt“, dieser Ausruf des Dichters Gyula Illyés (1902–1983), der für jeden „aufrechten“ Staatsbürger gelten sollte, gehört heute zum festen Baustein in den ideologischen Konstrukten aller Rechtspopulisten des Landes. Im Zentrum des Geschehens, aber auch der großen revisionistischen Zielprojektion, stand Miklós von Horthy, 1868 als fünftes von neun Kindern eines Gutsbesitzers in Kenderes geboren. Auf dem Gymnasium in Sopron lernt er die deutsche Sprache. Mit 14 tritt er in die Seekadettenschule in Fiume ein, mit 30 kommandiert er ein Schulschiff. 1909 wird er im Rang eines Korvettenkapitäns persönlicher Flügeladjutant des Kaisers Franz Joseph I., der sein lebenslanges Vorbild bleibt. Nach dem Sieg der Kleinlandwirtepartei bei den Parlamentswahlen von 1920 annullierte die Nationalversammlung den republikanischen Status des Landes und verfügte, dass bis zu dem Zeitpunkt, an dem man sich auf einen neuen König geeinigt habe, ein „Reichsverweser“ den Staat leiten sollte. Horthy wehrte in dieser Funktion zweimal die Rückkehr der Habsburger auf den Thron ab, behielt aber die Institution des „Kronrates“ bei. Dem Wunsch aristokratischer Kreise, sich selbst zum König von Ungarn krönen zu lassen, kam er nicht nach. Aber seine Herrschaft trug autoritäre, faschistische Züge. Das Parlament war entmachtet, das 1926 eingerichtete Oberhaus eine Adelsversammlung. Im Mittelpunkt des Regierungshandelns stand die Pflege eines stark antisemitisch geprägten ungarischen
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Nationalismus. Für die 473.000 Juden wurde schon 1920 ein Numerus clausus erlassen, der den Zugang ihrer Kinder zum höheren Bildungswesen stark einschränkte. Das Budapest der 1920er Jahre wurde zum regelrechten Tummelplatz einer „rechten Internationalen“. An allen innen- und gesellschaftspolitischen Fehlentwicklungen war „Trianon“ schuld. Die konservativen und liberalen Gruppierungen vereinigten sich zur Regierungspartei, die alle Wahlen gewann, die Kleinlandwirte und die sehr schwachen Sozialdemokraten blieben in der Opposition. Die faschistischen Parteien fanden keine Aufnahme in die Regierung, sie waren so bedeutungslos, dass sie noch bei den Parlamentswahlen 1935 zusammen ganze zwei Mandate errangen. Aus ihrem Umfeld kam Gyula Gömbös, der 1886 als Sohn eines ungarischen Landschullehrers und einer deutschen Mutter geboren worden war, den Ersten Weltkrieg als Hauptmann im Generalstab der k. u. k. Armee erlebte und als Vorsitzender der „Partei der rassischen Verteidigung“ 1925 in Budapest den „Antisemitischen Weltkongress“ veranstaltete. Da hatte er bereits Kontakte zum „Führer“ der NSDAP in Bayern, Adolf Hitler. 1932 wird er mit Unterstützung der Großgrundbesitzer und der Militärs Ministerpräsident; Ungarn ist weiterhin eine halbfeudale Monarchie mit vakantem Thron. Gömbös beteiligt sich aktiv an den Vorbereitungen des Attentats auf den jugoslawischen König Alexander und den französischen Außenminister Barthou im Oktober 1934 in Marseille, löst mit Horthys Zustimmung das Parlament auf und verpflichtet sich bei einem Geheimtreffen 1935 mit Göring in Berlin, Ungarn binnen zwei Jahren in ein autoritäres Regime zu verwandeln. Als er 1936 in einem deutschen Sanatorium stirbt, ist der Entfremdungsprozess von dem Admiral bereits so weit fortgeschritten, dass seine Entmachtung als Ministerpräsident längst beschlossene Sache war. Gömbös’ Nachfolger Darányi und Imrédy suchten die Anlehnung an das Dritte Reich, aber auch, als Gegengewicht, an Polen. Hitler lud Imrédy und Horthy deshalb in einem ausgeklügelten Lockvogelangebot am 20. August 1938 nach Kiel. Dort konnte der „Admiral ohne Flotte“ endlich einmal wieder dampfende Schiffe sehen, und dort wurde ihm eine Beteiligung an der längst feststehenden „Zerschlagung der Rest-Tschechoslowakei“ schmackhaft gemacht, für die Ungarn die Slowakei und die Karpato-Ukraine (zurück-)erhalten sollte. Horthy lehnte ab und warnte vor dem Weltkrieg, der daraus entstehen könne. Als er im Ersten Wiener Schiedsspruch die Südslowakei zugesprochen bekommt, reitet er dennoch am 2. November 1938 wie angeblich einst Árpád ins Donaubecken auf einem weißen Pferd in das abgetretene Kaschau ein. Der unabsetzbare Regent Horthy, der fünf Ministerpräsidenten ernannte und entließ, immer in Übereinstimmung mit dem Parlament, gegen dessen Entscheidungen er kein einziges Veto einlegte, demonstrierte hier, woran ihm am meisten lag, nämlich „oberster Kriegsherr“ des Landes zu sein. Unter der neuen, von ihm abgesegneten Regierung des konservativen, aber verfassungstreuen Pál Teleki tritt Ungarn im Frühjahr 1939 dem Antikominternpakt bei und aus dem Völkerbund aus. Mit der zweigleisigen Politik, Hitlers Vorherrschaft in Ostmitteleuropa anzuerkennen und sich gleichzeitig mit den Westmächten auf guten Fuß zu stellen, war es nun definitiv vorbei.
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In den 1930er Jahren schossen in Ungarn rechtsradikale und rechtsextremistische Organisationen wie Pilze aus dem Boden. Sie alle trugen das grüne Hemd und als Emblem ein Pfeilkreuz, das an das Hakenkreuz angelehnt war. Ihre Vision bestand darin, neben dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien ein karpato-danubisches Großreich als dritte, gleichberechtigte europäische Diktatur zu etablieren. Die größte, einflussreichste und brutalste dieser Gruppierungen waren die hungaristischen Pfeilkreuzler unter Ferenc Szálasi. 1897 in Kaschau geboren und von armenischer Herkunft, trat Szálasi 1921 in das ungarische Heer ein. 1930 gründete er nach dem Vorbild der SA die Pfeilkreuzlerbewegung. Als 1933 seine Pläne zur Auflösung des parlamentarischen Systems bekannt wurden, schloss man ihn aus dem Generalstab aus. Zwei Jahre später gründete er die „Partei des Nationalen Willens“. Ihr schlossen sich die Sensenkreuzler an, nachdem deren Marsch auf Budapest am 1. Mai 1936 kläglich gescheitert war. Szálasi unternahm im selben Jahr zwei Studienreisen nach Deutschland. Tief beeindruckt wollte er Horthy vorschlagen, eine Militärdiktatur zu errichten, aber der Reichsverweser empfing ihn nicht einmal. Ausgestreute, aber nie belegte Gerüchte, er beabsichtige einen Putsch, reichten im April 1937 für Szálasis Verhaftung. Im Gefängnis entwickelte er sein messianisches, ja märtyrerhaftes Sendungsbewusstsein. Unter seinem Anhänger Kálmán Hubay bildete sich währenddessen nach mehreren Fusionen im August 1938 die „Ungarische Nationalsozialistische Partei – Hungaristische Bewegung“, die schnell 250.000 Mitglieder zählte. Aus ihren Kreisen heraus, aber ohne Szálasis Wissen und Willen, wird Horthy zum König ausgerufen. Gleichwohl vermutet der Admiral ihn hinter dieser Aktion. Seine lebenslange Abneigung gegen Szálasi hatte hier ihren Ursprung. Die „hungaristische Revolution“ regierte derweil die Straße, weshalb Ministerpräsident Teleki deren Partei am 24. Februar 1939 auflösen lässt. Keine vierzehn Tage danach konstituieren vier pensionierte Offiziere die „Pfeilkreuzlerpartei“ (NYKP), die sich nach außen hin zwar moderat gibt, den „Schutz des ungarischen Blutes“ aber fest in ihrem Programm verankert hat. Bei den Parlamentswahlen vom 28. Mai 1939 wird die NYKP durch schwere Einbrüche bei den Sozialdemokraten und den Kleinlandwirten mit 18 Prozent der Stimmen und 49 Mandaten zur zweitstärksten politischen Kraft, aber sie wird nicht in die Regierung aufgenommen. Telekis „Lebenspartei“ erzielt 70 Prozent bzw. 183 Mandate. Allerdings muss Szálasi Anfang 1940 auf deutschen Druck aus der Haft entlassen werden. Seine Bewegung spaltet sich in einen radikalen und einen gemäßigten Flügel, die „Ungarische Nationalsozialistische Partei“ kehrt ihr bereits 1941 wieder den Rücken. Durch eine Vielzahl von Austritten, konkurrierende Neugründungen wie die der „Partei der ungarischen Wiedergeburt“, innere Erosionsprozesse, den damit verbundenen Verlust der Massenbasis und die von Berlin kritisch beäugten groß-hungarischen Visionen setzt ein Niedergang der NYKP ein, der Szálasi bis Ende 1943 fast zur Randfigur macht.2 2
Margit Szöllösi-Janze, Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn. Historischer Kontext, Entwicklung und Herrschaft, München 1989; s. auch: Jerzy Kochanowski, Horthy und Piłsudski – Vergleich
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Am 1. September 1939 überfällt die Wehrmacht Polen. Ungarn verweigert den Deutschen das Durchmarschrecht, besteht auf seiner „bewaffneten Neutralität“, führt eine Teilmobilmachung durch und beansprucht ganz Siebenbürgen. Im Zweiten Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 erhält es aber nur die Hälfte des Terrains, die Horthy an der Spitze seiner Truppen okkupiert. Trotzdem sah man dies als Schritt vorwärts, oder genauer: zurück zu einem Großungarn, und glaubte, bei Hitler eine Vorzugsstellung auf dem Balkan zu besitzen. Der Beitritt zum Dreimächtepakt hatte somit eine gewisse Konsequenz, allerdings schloss Teleki auch mit Jugoslawien einen „ewigen Freundschaftsvertrag“ ab. Als die NS-Führung Ungarn im Frühjahr 1941 aufforderte, am Angriff auf Jugoslawien teilzunehmen, geriet er deshalb auch persönlich in ein schweres Dilemma. Die Westalliierten erklärten klipp und klar, dass dies die Kriegserklärung an Budapest bedeuten würde. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung, der Militärs, der Pfeilkreuzler und Horthys sowie für das Linsengericht Batschka, die man zurückerhält, marschiert eine ganze ungarische Armee Seit an Seit mit den Deutschen in Jugoslawien ein. Teleki schreibt in einem Brief an den Reichsverweser: „Wir sind eine verachtenswerte Nation geworden“, und nimmt sich am 3. April 1941 das Leben. Horthy bringt das nicht aus dem Konzept. Am Tag des „Unternehmens Barbarossa“ schreibt auch er einen Brief, und zwar an Hitler, in dem es heißt: „Seit 25 Jahren habe ich auf diesen Tag gewartet.“ Als sowjetische Flugzeuge am 26. Juni 1941 Kaschau bombardieren, tritt Ungarn in den Krieg gegen die UdSSR ein, jedoch nur mit zwei Brigaden. Das ist dem „Führer“ zu wenig. Er verlangt die Totalmobilmachung. Im Sommer 1942 steht Ungarn mit 17 Divisionen und 250.000 Mann an der Ostfront. Gleichzeitig versucht der neue Ministerpräsident Miklós Kállay aber, das Land in Geheimverhandlungen mit den Westmächten aus dem Zweiten Weltkrieg herauszuführen – er war wohl auch nur deshalb von Horthy ernannt worden. Das Doppelspiel setzte sich also fort, und es blieb den Deutschen keineswegs verborgen. Kállays Aktivitäten hatten schon bald einen mehr als triftigen Grund: Die 2. Ungarische Armee war im Januar 1943 in der Schlacht am Don mit fast 300.000 Mann nicht nur geschlagen, sondern fast vollständig ausgelöscht worden. Das „ungarische Stalingrad“ grub sich so tief ins Gedächtnis ein, dass es der Tragödie von Mohács 1526 direkt an die Seite gestellt wurde und somit dazu beitrug, die eigene Täter- und Mitläuferrolle zu überdecken. In der letzten Begegnung zwischen Hitler und Horthy am 18. März 1944 wird der Admiral unverblümt des Verrats bezichtigt. Er soll weitere 300.000 Soldaten ins Feld führen und sofort eine rechtsextreme Regierung installieren, sonst droht die (längst vorbereitete) militärische Besetzung des Landes. Die nunmehr ins Amt gehievten, deutschorientierten Ministerpräsidenten Sztójay und Lakatos sind Horthys letzter Verder autoritären Regime in Ungarn und Polen, in: Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime, a. a. O., S. 20–76; Istvan Szabó, An der Grenze von Demokratie und autoritärem Regime. Charakteristische Merkmale der ungarischen Staatsorganisation in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2014.
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such, Szálasi zu verhindern. Nur deshalb dankt er selbst auch nicht ab. Unmittelbar nach seiner Rückkehr marschiert die Wehrmacht ein. Hitler rechnet mit einer großen Kollaborationsbereitschaft, doch zunächst herrscht nichts als Ratlosigkeit. Ein General des 3. Ungarischen Korps funkt in die Zentrale: „(V)or uns der Russe, hinter uns der Deutsche, über uns der Engländer, ich bitte um Befehle.“3 Tatsächlich sind die deutschen Soldaten am 19. März 1944 nicht als Feinde begrüßt und behandelt worden, dazu war das Streben nach der Revision von Trianon mithilfe Berlins viel zu sehr in der gesamten Gesellschaft verankert. Deshalb entwickelte sich auch keine nennenswerte Widerstandsbewegung gegen die neuen Herren, die im Land nun schalteten und walteten, wie sie wollten. SS-Standartenführer Edmund Veesenmayer, Leiter der deutschen Gesandtschaft in Budapest und Reichsbevollmächtigter, ist der eigentlich starke Mann. Horthy hält selbst in dieser Situation an seinem Lavieren zwischen den Fronten fest. Er erklärt Rumänien den Krieg, erbittet hierfür fünf deutsche Divisionen, die er erhält, nimmt gleichzeitig aber Verhandlungen mit der von ihm zutiefst verabscheuten Sowjetunion auf, die am 1. Oktober 1944 in ein vorläufiges Waffenstillstandsabkommen einmünden, in dem Ungarn sich verpflichtet, dem Deutschen Reich den Krieg zu erklären. Das soll am 15. Oktober in einer Radioansprache Horthys verkündet werden. Hitler ist über alles informiert, Szálasi wittert Morgenluft. Horthy erlässt einen Haftbefehl gegen ihn und die gesamte Pfeilkreuzlerbewegung, die Deutschen wiederum wissen, dass ein Frontwechsel der Ungarn jetzt nur noch durch die Inthronisierung Szálasis zu verhindern ist. Die Ereignisse überschlagen sich. Ganz im Stil einer Räuberpistole nimmt die Gestapo nur wenige Stunden vor Horthys beabsichtigter Rundfunkrede dessen Sohn Miklós gefangen, fesselt ihn, rollt ihn in einen Teppich ein und bringt ihn ins KZ Mauthausen. Um 13.00 Uhr verkündet Horthy dem ganzen Land die historische Proklamation und erfährt erst jetzt, dass sein Sohn entführt ist und als Geisel dient. Aber auch zu diesem Zeitpunkt widerruft er seine Ansprache nicht, nicht einmal, als die Generalität ihm mitteilt, dass sie sich weiter an die Waffenbrüderschaft mit den Deutschen hält und auch keine Bedenken gegen eine Machtübernahme Szálasis hegt. Dieser verliest im Radio in aller Ruhe eine Gegenerklärung, seine Leute erobern die Straßen. Die SS zwingt Horthy unter Androhung der Exekution seines Sohnes, Szálasi zum Ministerpräsidenten zu ernennen, man braucht vor dem Volk den Schein der Legalität. Horthy, der Gefangene der Deutschen, dankt ab. Sie bringen ihn in ein Schloss in Oberbayern. Nach der Invasion der Amerikaner wird er nicht unter Anklage gestellt, auch die ungarische Nachkriegsregierung verzichtet auf einen Prozess. Beim Nürnberger Kriegsverbrechertribunal tritt er als Zeuge der Anklage auf. 1948 zieht er mit seinem Sohn, der das KZ überlebt hat, nach Portugal, wo er 1957 stirbt. Ungarn hat er nie wiedergesehen, in seinen Geburtsort Kenderes kehrt er erst 1993 als Leichnam zurück.
3
Zit. nach Müller, An der Seite der Wehrmacht, a. a. O., S. 49.
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Szálasi ist vom 16. Oktober 1944 an das, was er immer sein wollte: der oberste Magyare. Am 4. November setzt er sich unter den Augen Veesenmayers, Eichmanns, Guderians und der versammelten Grafen der ungarischen Habsburgerlinien die Stephanskrone aufs Haupt und erhält den Titel „Führer der Nation“. Wer das erste Ziel seiner bestialisch-besessenen Vernichtungswut war, daran bestand nie der geringste Zweifel. Dass er die Jüdinnen und Juden Ungarns bis ins hinterste Pusztadorf ausrotten wollte, hat ihm jedenfalls kein Deutscher eingeflüstert. Um die Dimensionen dieses autochthon ungarischen Rassenhasses zu verstehen, muss man sich zunächst mit den Daseinsbedingungen der Juden in dem Land befassen. Das Judentum gehörte zu den eigentlichen Nutznießern der 1867 entstandenen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Ihre juristische Gleichberechtigung und Emanzipation bewirkte im Wirtschafts- und Finanzbetrieb Ungarns weit mehr als Assimilierung, sie führte zu herausgehobenen Positionen. Dieses „Goldene Zeitalter“, wie Randolph Braham es genannt hat, ging 1918 zu Ende.4 Begeistert und als leidenschaftliche Patrioten hatten die Ungarn jüdischen Glaubens am Ersten Weltkrieg teilgenommen. Sie wähnten sich voll integriert, doch die sich nach der „Schande von Trianon“ schnell entwickelnde antisemitische Hetze muss schon vorher einen Nährboden gehabt haben. Auf jeden Fall waren sie schuld an all dem, was in dem Pariser Vorort beschlossen worden war, obwohl die „Ungarn mosaischen Glaubens“ zu dem Zeitpunkt gerade einmal 5 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Das erste „Judengesetz“ wurde 1921 noch vor den Nürnberger Rassegesetzen verabschiedet. Die ungarischen Juden wurden von nun an entrechtet und in der Straßenbahn verprügelt, während die Umstehenden zusahen. Ihre Missachtung und Misshandlung besaß einen offiziell gebilligten Charakter, die Zeiten der Symbiose waren vorbei. Dass der 133-Tage-Herrscher Béla Kun jüdischer Abstammung war, tat ein Übriges. Die 1924 in der Budapester Páva-Straße erbaute Synagoge wurde wieder und wieder mit antisemitischen Sprüchen beschmiert. Horthy ließ den Mob gewähren, er förderte und forcierte judenfeindliche Verordnungen und Maßnahmen sogar noch, und zwar aus einem Grund: Um Szálasi den Wind aus den Segeln zu nehmen. In einem Brief an Teleki schreibt er: Was die Judenfrage angelangt, war ich mein Leben lang Antisemit und verkehrte nie mit Juden. (…) Da ich aber als eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung die Erhöhung des Lebensstandards betrachte, (…) ist es unmöglich, die Juden, die alles in der Hand haben, in ein, zwei Jahren auszuschalten. (…) Dazu braucht man ein Menschenalter. (…) Ich kann nicht Unmenschlichkeit, sadistischen, sinnlosen Demütigungen zusehen, jetzt, wo wir sie noch brauchen. Außerdem halte ich z. B. die Pfeilkreuzler für viel gefährlicher für meine
4 Randolph L. Braham, The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary, 2 Bde., New York 1981.
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Heimat als die Juden, (weil sie) mit ihrem verwirrten Sinn unser Land in die Hände der Deutschen spielen wollen.5
1938, 1939 und 1941 entstanden unter der Federführung von Balint Homan drei vom Parlament mit überwältigender Mehrheit gebilligte „Judengesetze“, die der Diskriminierung, dem „übermäßigen Einfluss des Judentums auf die geistige Führung“ und schließlich der „Rasseneinheit der Nation“ galten. „Mischehen“ waren von da an kategorisch verboten. Doch das alles war der Pfeilkreuzlerbewegung viel zu wenig. Da in ihr sowohl die Intelligenz als auch der Adel, die Offiziersschaft, die Kleinbauern und das Proletariat vertreten waren, verfügte sie nicht nur über eine erstaunliche gesellschaftliche Heterogenität, sondern auch über ein enormes Druckpotential und verlangte zunächst erst einmal die vollständige Enteignung des „Judentums“. Horthy agierte mit seiner „präventiv verstandenen Hungarisierung“ des jüdischen Besitzes auch hier hinhaltend. Weil die konkrete Umsetzung aber den subalternen Behörden und Dienststellen überlassen blieb, entwickelte sich schnell eine Klima der Habgier und Bereicherung, in dem bereits „die untergründige Zustimmung zur Deportation der Juden“ zu erkennen war und, mehr noch, der Vorsatz, sie nicht mehr zurückkehren zu lassen, denn was man hatte, wollte man behalten.6 Die 1940 gegründete Partei der Ungarischen Erneuerung forderte außerdem, „die Lösung der Judenfrage in einen gesamteuropäischen Kontext zu stellen“, und Szálasi verlangte schon 1935 die vollständige „Judenlosigkeit“ seines Staates. Bei allem autochthonen Antisemitismus hatte die Gesetzgebung von 1938 bis 1941 auch einen opportunistischen, revisionistischen Charakter. Die Anpassung an das nationalsozialistische Deutschland sollte dazu dienen, möglichst viel des in Trianon verlorenen Terrains mit dem mächtigen Partner ohne Kriegshändel zurückzugewinnen. Das gelang. Zwar konnte das Ungarn von vor 1920 nicht wiederhergestellt werden, aber die mit Berliner Hilfe realisierten Arrondierungen alt-neuer Gebiete waren beträchtlich. Allerdings resultierte daraus auch die Tatsache, dass 1941 statt wie bisher 400.000 nunmehr 750.000 Jüdinnen und Juden im ungarischen Staat lebten. Das originär Ungarische im Holocaust kündigte sich an, als im August 1941 die einheimische Polizei im nordöstlichen Grenzgebiet 23.000 Juden zusammentreiben ließ, von denen die meisten aus Polen geflüchtet waren. Zusammen mit der SS wurden sie gnadenlos niedergemäht. Als Horthy und Kállay hiervon erfuhren, ließen sie die „Aktion“ sofort beenden. Der Admiral musste sich bei seinen Treffen mit Hitler in Kelheim dann auch permanent vorhalten lassen, dass er nicht genug gegen die Juden unternehme, woraufhin er zu antworten pflegte, er „könne sie nicht alle eigenhändig erschlagen“. In einer 5
Brief vom Oktober 1940, zit. nach György Dalos, Ungarn in der Nussschale. Ein Jahrtausend und zwanzig Jahre – Geschichte meines Landes, München 2012, S. 139. 6 Christian Gerlach und Götz Aly, Das letzte Kapitel. Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden 1944/1945, Stuttgart und München 2002, S. 423 und 436 f.
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Rede vom Mai 1943 äußerte er, „Ungarn wird nie vom Weg seiner Humanität abweichen, die es im Laufe seiner Geschichte auf rassischem und konfessionellem Gebiet stets geübt hat.“7 Die Realität war längst eine andere. Am 23. Januar 1942 führt die Gendarmerie unter Sándor Képiró in dem erst seit Kurzem wieder ungarischen Novi Sad brutale „Vergeltungsmaßnahmen“ gegen Partisanen durch. Schuld sind die Juden, 1100 von ihnen werden umgebracht. Képiró sieht sich schon 1944 als „Beteiligter“ verurteilt, kann aber nach Argentinien fliehen und kehrt 1996 nach Budapest zurück, wo er von da an unbehelligt lebt. Auf der Liste der meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher des Simon-Wiesenthal-Centers in Jerusalem steht er aber längst ganz oben. Dessen Leiter Efraim Zuroff gelingt es, den inzwischen 97-Jährigen ausfindig zu machen und Klage gegen ihn zu erheben, doch das Verfahren nimmt eine unerwartete Wendung: Képiró wird am 20. Juli 2011 unter dem Gejohle der ungarischen Rechtsextremisten, die seinen Anwalt bezahlt haben, freigesprochen. Es könnten ihm keine konkreten Mordtaten nachgewiesen werden.8 Képiró verklagte daraufhin Zuroff wegen übler Nachrede. Bevor über seinen Antrag entschieden werden kann, stirbt er am 4. September 2011. Hitler verlangte im März 1944 nach dem Einmarsch der Wehrmacht 100.000 „Arbeitsjuden“ für das Reich, und Horthy fügte sich. Die ungarische Gendarmerie, die kleinen Képirós, wirken bei den Verhaftungsaktionen in der Provinz begeistert mit. Auch der Budapester Judenrat ist gut informiert; Versuche, die örtlichen Rabbiner zu benachrichtigen, unterbleiben. Wenig später geht es nicht mehr um „Arbeitsjuden“, sondern um die Deportation ins KZ. Vom 14. Mai bis zum 9. Juli 1944 verschleppen Deutsche und Ungarn „mit alles übertreffender Raserei“9 exakt 437.402 Menschen nach Auschwitz, vor den Augen der Welt. US-Präsident Roosevelt und der schwedische König Gustav Adolf intervenieren brieflich bei Horthy, ebenso Papst Pius XII. in einer äußerst schwammigen Botschaft, in der nicht einmal die Worte „Jude“ oder „Vernichtung“ auftauchen. Daraufhin lässt Justinian Serédi, der Kardinalsprimas von Ungarn, am 29. Juni 1944 den folgenden Hirtenbrief verlesen: „Wir protestieren nicht gegen die Beseitigung des schädlichen Einflusses der Juden. Im Gegenteil, wir wünschen, dass er verschwindet. (…) Deshalb lehnen wir feierlich jede Verantwortung für die Folgen (der Verschleppungen) ab.“10 Das war kein Ruhmesblatt der katholischen Kirche. Horthy war da konsequenter. Am 9. Juli ordnete er die Einstellung der Deportationen an und befahl, einen Zug mit 7 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, a. a. O., S. 512. 8 Ingo Way, Keine Sühne für Novi Sad, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 21.7.2011, S. 2 und Erich Follath, Die letzte Instanz, in: „Der Spiegel“, Nr. 4/2011, S. 90–94. 9 Christian Schmidt-Häuer, Budapester Tragödien, in: „Die Zeit“ vom 2.5.2013, S. 18. 10 Zit. nach Saul Friedländer, Pius XII. und das Dritte Reich, München 2011, S. 194; s. auch: Péter Sipos, Politik und Antisemitismus in Ungarn vor 1945, in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 189–205.
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1700 Juden, der sich schon unmittelbar vor der Landesgrenze befand, zurückzuholen. Trotzdem würde es fehlgehen, ihn als Wohltäter oder sogar als Retter zu bezeichnen, denn für die galizischen Juden auf dem Land rührte er keinen Finger, möglicherweise sah er ihre „Entfernung“ sogar gern. Ihm ging es einzig und allein um die Rettung der assimilierten Juden in der Hauptstadt, gegen die Szálasis Mordbrenner schon wenige Stunden nach ihrer Machtübernahme am 17. Oktober vorgingen. Zum Erstaunen der Deutschen regte sich gegen den neuen starken Mann, dem sie wegen seiner Vision der „eigenen nationalsozialistischen Entwicklung aus eigener Kraft“ nicht trauten und den sie so lange wie möglich zu verhindern trachteten, in der Bevölkerung kaum Widerstand. Horthys Abgang wurde nicht stärker betrauert als der des letzten Habsburgers. Szálasi verlangte sogar eine diplomatische Vertretung in Berlin, erhielt von Hitler aber nicht einmal eine Antwort. In Budapest lebten zu dem Zeitpunkt noch 200.000 Juden, 165.000 in zwei Ghettos und 35.000 in Arbeitsbataillonen, die einen Verteidigungsring rund um die Stadt gegen die anrückende Rote Armee bauen sollen. Dass sich das erste Gemetzel der Pfeilkreuzler gegen sie richtete, lag deshalb keineswegs im Interesse von Wehrmacht und SS, die „spezielle Polizeieinheiten“ anforderten, um die Juden zu schützen. Was sich in den drei Monaten der Szálasi-Herrschaft an der Donau abspielte, gehört zu den blutigsten Kapiteln der Weltgeschichte, und „es sieht nicht so aus, als hätten die Ungarn eines deutschen Drängens bedurft“11 (Friedländer). Der katholische Pater Andras Kun gibt zu, eigenhändig 500 Juden ermordet zu haben. Frauen gaffen nicht nur, sondern legen selbst mit Hand an. 32.000 Juden leben im „gewöhnlichen Ghetto“ und 133.000 im „internationalen“, das unter dem Schutz Schwedens und der Schweiz steht. 150.000 Schutzbriefe sind im Umlauf, 50.000 echte und 100.000 gefälschte. Die Pfeilkreuzler erkennen 35.000 an, die meisten anderen zerreißen sie. Beide Ghettos werden regelmäßig überfallen, vor allem, um immer mehr Juden vom „internationalen“ ins „gewöhnliche“ zu zerren, was dem Ausland nicht verborgen bleibt. Das Besondere an der Tragödie der ungarischen Juden besteht darin, dass in dem formell auch 1944 noch souveränen Staat mit ausländischen Akkreditierungen nichts geheim blieb, sodass die Welt schnell intervenierte. Der Delegierte des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes Friedrich Born, der italienische „Geschäftsträger“ Giorgio Perlasca und der Erste Sekretär der Schwedischen Gesandtschaft Raoul Wallenberg waren unter Einsatz ihres Lebens vor Ort, um Leben zu retten, aber die Pfeilkreuzler ließen sich nicht beirren. Sie hetzten die Juden auf die Brücken, banden sie aneinander und erschossen den ersten, der alle anderen mit sich in die Donau riss. Szálasi vermerkte jede Exekution penibel in seinem Tagebuch. Seine Henker trugen grüne Hemden, schwarze Uniformen und rotweiße Armbinden, wie angeblich einst Árpád. Der spätere Literaturnobelpreisträger Imre Kertész erlebt das Massaker als 14-Jähriger, gekennzeichnet mit dem gelben Stern. Die Wehrmachtssoldaten fragen ihn nach seinem 11 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, a. a. O., S. 671.
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Alter und schicken ihn nach Hause. „Sie waren eher im Hintergrund, unsere eigenen Leute machten die Drecksarbeit.“12 Im November 1944 treiben sie von Eichmann gedeckt noch 25.000 Juden in Todesmärschen zu den letzten Zugwaggons Richtung Auschwitz. Wallenberg fotografiert die Geschehnisse und droht die Aufnahmen der Weltpresse zuzuspielen. Erst da lenkt Szálasi ein. Für diejenigen aber, die bereits die Rampe des Bahnhofs von Kaschau erreicht haben, kommt jede Hilfe zu spät. Dort wütet der Polizeikommandant László Csatári mit Hundepeitsche und Schlagstock. Mit sadistischen Quälereien zwingt er 15.700 Menschen in die Waggons. 1948 bereits in Abwesenheit zum Tode verurteilt, flieht er nach Kanada, wo seine Vergangenheit erst 1997 bekannt wird. Schutz findet er – in Ungarn, wohin er zurückkehrt und 2011 vom Wiesenthal-Zentrum ausfindig gemacht wird. Im Juli 2012 wird der 97-Jährige (nach langer Untätigkeit der Behörden) in Budapest verhaftet und unter Hausarrest gestellt, in dem er ein Jahr später stirbt. Noch am 11. Januar 1945 verübten die Pfeilkreuzler eine Gräueltat, „die sich Dante in seiner infernalischsten Phantasie nicht hätte ausmalen können.“13 Sie überfielen das Maros-Krankenhaus in Budapest, rissen die Schwerverletzten aus den Betten, trieben Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern zusammen und trampelten alle tot. Ihre einzige Schuld bestand darin, dass sie Juden waren. Zu diesem Zeitpunkt war Ungarn schon teilweise unter sowjetischer Kontrollgewalt und verfügte seit dem 22. Dezember 1944 in Debrecen über eine provisorische Regierung, die Deutschland den Krieg erklärt hatte, aber die Pfeilkreuzler störte das nicht. Szálasi konnte fast ungehindert 14 ungarische SS-Divisionen aufstellen, an Freiwilligen mangelte es nicht. Viele liefen aus der 220.000 Mann starken Armee über, zum Einsatz sind sie nicht mehr gekommen. Formell bleibt Szálasi bis zum 4. April 1945 im Amt, aber schon am 27. Dezember 1944 ist Budapest von der Roten Armee vollständig eingeschlossen. 50.000 Opfer hat seine Herrschaft gekostet, nochmals 150.000 Menschen sterben während der 102-tägigen Belagerung durch die Sowjets, dem „Stalingrad an der Donau“. Natürlich gab es auch in Ungarn Judenräte. Sie spielten dort eine vielleicht größere und schicksalhaftere Rolle als im übrigen Europa. Schon Anfang 1943 war in dem noch unbesetzten Land die Vaadah, ein Hilfs- und Rettungskomitee für die nach Ungarn geflüchteten Juden aus Polen und der Slowakei, gegründet worden. Am 19. März 1944, nur wenige Stunden nach dem Einmarsch der Deutschen, erschienen zwei Offiziere aus Eichmanns Stab im Verwaltungsgebäude der jüdischen Gemeinschaft in Budapest und beorderten die Leiter aller jüdischen Organisationen für den nächsten Tag zu ei12 Imre Kertész, Weltordnung des Hasses, in: „Der Spiegel“ Nr. 5/2004, S. 19; s. auch: Theo Tschuy, Carl Lutz und die Juden von Budapest, Zürich 1995 und Arieh Ben-Tov, Das Rote Kreuz kam zu spät, Zürich 1990. 13 Ros, Schakale des Dritten Reiches, a. a. O., S. 279; auch: Regina Fritz, Gewalterfahrungen verarbeiten. Kontextbezogene Berichte von Budapester Juden über Massaker der Pfeilkreuzler, in: Mattl et al. (Hg.), Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft, a. a. O., S. 323–341.
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nem Treffen. Wie vorgeschrieben kamen 500 Personen, etliche sogar mit Gepäck, weil sie glaubten, dass sie verhaftet und abgeführt werden sollten. Eichmanns Leute versicherten ihnen mit Unschuldsmiene, dass es kein Grund zur Besorgnis gebe, Rechtsverletzungen oder gar Deportationen stünden nicht bevor. Der einzige Befehl bestand darin, bis zum nächsten Tag einen Judenrat zu ernennen, der alle Mitglieder mosaischen Glaubens in Ungarn offiziell repräsentieren sollte, was auch geschah. Von nun an stellte der „Zentralrat der ungarischen Juden“ die Listen für die Ghettoisierung und Deportationen zusammen und genoss dafür verschiedene Privilegien wie das Recht, den gelben Stern nicht zu tragen, sowie eine erhebliche Bewegungsfreiheit. Wie viel die einzelnen Räte vom Holocaust wussten, ist umstritten. Das Protokoll der beiden am 7. April 1944 aus Auschwitz geflohenen slowakischen Juden Rudolf Vrba und Alfred Wetzler, in dem die Vernichtungen seit 1942 und die Vorbereitungen für die „Aufnahme“ der ungarischen Juden detailliert dargestellt sind, war ins Ungarische übersetzt worden und zirkulierte in vielen, aber nicht in allen Kreisen. Horthy hat es in seiner Entscheidung zum Stopp der Deportationen kategorisch beeinflusst. In der ungarischen Judenheit hat es bei denjenigen, die es kannten, den Riss zwischen den Budapester Assimilierten und den Galizisch-Orthodoxen eher noch vertieft. Hinzu kam, dass Judenräte, die sich weigerten, die geforderten Listen zu erstellen, samt und sonders erschossen wurden. Was also tun? „Die Ungarn halfen nicht, die Deutschen befahlen und die Judenräte gehorchten.“14 Hannah Arendts Kritik an den Judenräten, dass sie ihr Wissen über Auschwitz nicht öffentlich gemacht, nicht zur Flucht geraten, keinen Widerstand geleistet, ihren Verwaltungsapparat in den Dienst der „Endlösung“ gestellt und sich durch diese „willfährige Kollaboration“15 mitschuldig am millionenfachen Mord gemacht hätten, ist in vielem heute nicht mehr haltbar. Das wird an Rezső Kasztner, eine der schillerndsten und tragischsten Gestalten der europäischen Kollaboration mit dem Dritten Reich, überaus deutlich, obwohl er nie Mitglied eines Judenrates war. Rezső (Rudolf bzw. Israel) Kasztner wird 1906 in Klausenburg im damals ungarischen Siebenbürgen geboren, wo er das jüdische Gymnasium besucht. Schon mit 16 engagiert er sich in der zionistischen Jugend- und Gewerkschaftsbewegung und knüpft Kontakte zur Mapai, der sozialdemokratischen Partei in Palästina. 1940 geht er nach Budapest und wird als stellvertretender Vorsitzender die eigentlich treibende Kraft der Vaadah. Er ist über die viehischen Morde in Polen im Bilde und verbreitet die Informationen, aber man glaubt ihm nicht. Während der Wehrmachtseinmarsch bevorsteht, trifft er – als nachweislich einziger Ungar – Vorbereitungen für einen bewaffneten Widerstand, der aber am antisemitischen Umfeld der deutschfreundlichen Bevölkerung scheitert. Es gelingt ihm, zu Eichmann vorgelassen zu werden, und es beginnt das Ge14 Ladislaus Löb, Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezső Kasztner – Bericht eines Überlebenden, Köln, Weimar und Wien 2010, S. 39. 15 Arendt, Eichmann in Jerusalem, a. a. O., S. 153; hierzu kritisch: Ulrike Schläger, Und wann wir? Die Vernichtung der ungarischen Juden und der Budapester Judenrat 1944, Köln 1996, S. 122 ff.
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feilsche „Blut gegen Ware“, Menschenleben gegen Lastwagen, Schmuck und Geld. Kasztner bietet dem Organisator des Massenmords mit Wagemut, Durchtriebenheit und Chuzpe die Stirn. Mehrfach darf er zur „Beschaffung“ in die Schweiz ausreisen und kehrt immer wieder zurück. Sein größter Erfolg, der den Seinen nicht groß genug sein wird, datiert auf den 30. Juni 1944. An diesem Tag darf ein Zug mit 1684 Juden Budapest verlassen, für jeden müssen tausend Dollar bezahlt werden. In ihm sitzen vornehmlich Wohlhabende, Vertreter aller politischen und religiösen Organisationen sowie Kasztners Familie und Freunde aus Klausenburg. Obwohl der Zug nicht, wie versprochen, nach Spanien, sondern nach Bergen-Belsen geht, werden alle gerettet. Bei den Nürnberger Prozessen sagt der „merkwürdige Herr Kasztner“ (Hannah Arendt) zwar nicht zugunsten von Eichmann, wohl aber anderer SS-Leute aus, mit denen er verhandelt hatte. Auch das wird ihm später zur Last gelegt. Als er 1948 nach Israel geht, glaubt er, wie ein Held empfangen zu werden, aber die ersten Presseartikel mit Überschriften wie „Kasztner ist der Hauptschuldige an der Vernichtung von Millionen Juden in Europa“16 sind dort bereits erschienen. Malkiel Grünwald, der alle Angehörigen in der Shoah verloren hatte, den orthodoxen Mizrachi-Zionisten angehörte und Begins Herut-Partei nahestand, bezichtigte Kasztner 1954 der Bereicherung an jüdischem Vermögen, des Nepotismus, der Kollaboration mit der SS und des Verrats. Kasztner, der zum Sprecher des Wirtschaftsministeriums und damit zum Regierungsbeamten aufgestiegen war, erhob bei der israelischen Staatsanwaltschaft Klage gegen Grünwald, doch das Verfahren kehrte sich immer mehr um. Am 22. Juni 1955 wird Kasztner schuldig gesprochen, „indirekt zur Ausrottung von 600.000 ungarischen Juden beigetragen zu haben, (…) weil er seine Seele dem Satan verkauft hat.“17 Der Verurteilte geht sofort in die Revision, und tatsächlich kassiert der Oberste Gerichtshof zweieinhalb Jahre später den Schuldspruch fast vollständig. Nur Kasztner selbst hat nichts mehr davon. Am 15. März 1957 wird er von drei jüdischen Extremisten vor seinem Haus in Tel Aviv erschossen. Was in dem Problemkomplex „Ungarn und der Holocaust“ bis heute am meisten auf dem Land lastet, ist ein „simples“ Zahlenverhältnis. Vor der deutschen Besetzung im März 1944 lebten dort 750.000 Jüdinnen und Juden, von denen 564.000 umgebracht worden sind, 437.402 vor der Herrschaft der Pfeilkreuzler und die anderen danach und ganz überwiegend durch sie. Natürlich wird sich die Zahl der ungarischen Mithelfer und Mittäter, von der „einfachen“ denunzierenden Hausfrau über die – äußerst kollaborationswillige – Königlich Ungarische Gendarmerie18 bis hin zu Szálasis Mordbren16 Zit. nach Segev, Simon Wiesenthal, a. a. O., S. 24; vgl. auch Gaylen Ross, Killing Kasztner, Dokumentarfilm, USA 2008. 17 Zit. nach Schläger, Und wann wir?, a. a. O., S. 119; auch: Gutman (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust, a. a. O., Bd. 2, Eintrag „Kasztner“, S. 741–744. 18 Judit Molnár, Die Königlich Ungarische Gendarmerie und der Holocaust, in: Brigitte Mihok (Hg.), Ungarn und der Holocaust. Kollaboration, Rettung, Trauma, Berlin 2005, S. 89–102.
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nern nie exakt ermitteln lassen, mehr als 100.000 Personen waren es aber in jedem Fall. Dem steht der allmächtige Stab Eichmanns gegenüber, der in Ungarn über 150 bis 200 Mann verfügte, nach anderen, seriösen Angaben sogar nur über 60 bis 80 SS-Offiziere.19 Konkret: 100 Deutsche haben zusammen mit über 100.000 Ungarn 564.000 Juden umgebracht. „Obwohl nazideutsche Funktionäre bei der Implementierung von Maßnahmen gegen die Juden nach der Besetzung beteiligt waren, bedeutete ihre begrenzte Zahl, dass die Komplizenrolle der ungarischen Verwaltung (…) und des einheimischen Staatsapparats entscheidend war, um eine erfolgreiche Ingangsetzung und schnelle Durchführung des ‚Vernichtungsprozesses‘ sicherzustellen.“20 Ungarn duldeten, nutzten die neu gebotenen Gelegenheiten aus, bereicherten sich, ergriffen die Initiative und wurden von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Ohne ihre „Willigkeit“ hätte es die Shoah in Ungarn nicht gegeben, und Szálasis Täter brauchten von niemandem zur Tat angestiftet zu werden. Das alles macht es schwer, von einem deutsch-ungarischen oder ungarisch-deutschen Verbrechen zu reden. Die Erfassung, Ghettoisierung, Einwaggonierung, Deportation und Vernichtung der Juden im Land erfolgte weitestgehend in eigener Regie und Verantwortung. Eine besondere Betrachtung erfordern die Rolle und das Verhalten der mehrheitlich „Donauschwaben“ genannten Ungarndeutschen. Nachdem ihre Zahl Ende des 19. Jahrhunderts über zwei Millionen betragen hatte, waren im Trianon-Ungarn noch 500.000 Deutsche verblieben. Zusammen mit allen anderen Minderheiten wurden sie für die nationale Tragödie des Landes verantwortlich gemacht. Transdanubien, ihr traditionelles Siedlungsgebiet in der Großen Tiefebene östlich der Donau, fiel der systematischen und politisch gewollten Verarmung anheim. In dem viel gelesenen Buch „Das fortgeschwemmte Dorf “ von Dezső Szabós aus dem Jahr 1919 ist der reiche Jude, der das ganze Land aufkaufen will, ein Agent der Deutschen. Szabós’ Schrift versteht sich als Warnung vor „fremden Elementen“ und „inneren Feinden“, die der „ungarischen Rasse“ schaden und den Aufbau „des neuen Ungarns der siegreichen Magyaren“ verhindern wollen.21 Der Schriftsteller Gyula Illyés verlangt 1932, das angeblich „judeo-germanische Budapest“ vor Augen, die vollständige Entfernung der Deutschen aus Ungarn. Er führt die alte Feindschaft gegen Habsburg, das alle Freiheitsbewegungen niederwarf, bruchlos in eine Feindschaft gegen alles Deutsche über, mit dem Ergebnis, dass die Minderheit in einer Zeit, in der sich die offizielle ungarische Politik den neuen 19 So Gerlach und Aly, Das letzte Kapitel, a. a. O., S. 127 f. 20 Tim Cole, Ebenen der „Kollaboration“. Ungarn 1944, in: Dieckmann, Quinkert und Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen, a. a. O., S. 55–77, hier: S. 61. 21 Zit. nach Norbert Spannenberger, Assimilation oder Ausweisung: Optionen für eine nationale Sozialreform in Ungarn nach 1945, in: Beer, Beyrau und Rauh (Hg.), Deutschsein als Grenzerfahrung, a. a. O., S. 305–322, hier: S. 311; Réka Marchut, Assimilation und Dissimilation der Ungarndeutschen in der Zwischenkriegszeit (1920–1941), in: Olschowsky und Loose (Hg.), Nationalsozialismus und Regionalbewusstsein im östlichen Europa, a. a. O., S. 47–61.
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Machthabern in Berlin geradezu an den Hals warf, für den Mann auf der Straße zur „fünften Kolonne des bedrohlichen Deutschen Reiches“ wurde. Diese Stigmatisierung erhielt mit der Gründung des direkt vom Reich aus gelenkten „Volksbundes der Deutschen in Ungarn“ im Jahr 1938 ihren quasi institutionellen Rahmen. Der Bund sah sich von Anfang an dem Vorwurf und dem Verdacht ausgesetzt, eine Filiale des Nationalsozialismus auf dem Balkan zu sein. Tatsächlich agierte er wie ein Staat im Staate, aber diese scheinbare Autonomie ging einher mit einer totalen Unterwerfung unter deutsche Kriegsbedürfnisse und Interessen. Der Moment ihrer vermeintlich größten Freiheit und Rechtssicherheit war für die Deutschen in Ungarn ergo gleichbedeutend mit ihrer Herabstufung zu bloßen Befehlsempfängern, und auch die ungarische Regierung kam ihnen nur dann entgegen, wenn sie von Berlin dazu gezwungen wurde. Am 11. November 1942 forderte das Mitglied der Kleinlandwirtepartei, der katholische Priester Béla Varga, im Budapester Parlament, dass alle Deutschen, die sich „nicht zum Ungarntum bekennen“, das Land mit einem Bündel verlassen sollen.22 Die Anzahl der hiermit Angesprochenen war nicht klein, denn durch die Ungarn im Ersten und Zweiten Wiener Schiedsspruch übergebenen Gebiete war die deutsche Minderheit auf 720.000 Personen angewachsen. Sie übernahmen 1945 die Rolle, die sie 1918/1920 noch mit allen anderen Minderheiten hatten teilen können. Sie waren kollektiv verantwortlich für Kriegsverbrechen und „Vaterlandsverrat“, sie waren die eigentliche Zielscheibe der „Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration“, sie wurden benutzt, um das Kainsmal des „letzten Verbündeten Hitlers“ und Weltkriegsverlierers zu kaschieren, und sie waren das Opfer einer gigantischen Bodenreform, die vom Anfang bis zum Schluss auf Enteignung und Vertreibung ausgerichtet blieb. Mit dem Gesetz vom 17. März 1945 wurde der Grundbesitz der 200.000 Mitglieder des Volksbundes „ohne Rücksicht auf die Größe und zur Gänze konfisziert“. In Kommentaren hierzu hieß es unverhohlen, dass dies der „Aussiedlung der heimischen Schwaben“ dienen sollte. In der offiziellen ungarischen Geschichtsschreibung wird bis heute so getan, als wäre die Vertreibung von den Alliierten angeordnet worden und aus heiterem Himmel gekommen, dabei ist sie nicht erst auf der Potsdamer Konferenz festgeschrieben, sondern vorher von der Budapester Regierung erbeten worden. Imre Kovács, der Vorsitzende der Nationalen Bauernpartei, hob den Konflikt schon im April 1945 auf die Ebene eines „deutsch-ungarischen Überlebenskampfes“, weil die Ungarndeutschen schon immer „Vorposten“ und „fünfte Kolonne“ des deutschen Imperialismus gewesen seien. Die Minderheit, und zwar nur sie ganz allein, trage die Verantwortung für den ungarischen Kriegseintritt wie auch für den ungarischen Holocaust,
22 Zit. nach Spannenberger, Assimilation oder Ausweisung, a. a. O., S. 315; ders., Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938–1944 unter Horthy und Hitler, München 2005, S. 268–282; ders., (Selbst-)Reflexion der Kriegsschuld. Rumänien und Ungarn 1945–1948, in: Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 332–349.
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während „das Ungartum“ dabei „verschämt und gedemütigt“ habe zusehen müssen.23 Deshalb sei die Entfernung dieser Menschen auch unabdingbar für den Demokratisierungsprozess des Landes. Bereits dreizehn Tage nachdem die deutschen Truppen das Land verlassen haben, finden sich die dort lebenden Deutschen unterschiedslos in der Rolle des Sündenbocks. Mehr noch: Der „Dolchstoß des Schwabentums“ muss gerächt werden. Es ist Imre Nagy, der Held des Budapester Aufstands, der als erster kommunistischer Innenminister das Kollektivschuldprinzip durchsetzt, gegen seinen eigenen Außenminister. Hier ging es nicht um Aufarbeitung bzw. um Abrechnung mit Kollaborateuren, sondern um Landnahme. Gerade die Bauern größerer Höfe, die dem Volksbund skeptisch, ablehnend und feindlich gegenübergestanden hatten, werden ausgewiesen. István Bibó formuliert am 14. Mai 1945, „dahinter stehen jene Ungarn, die (…) der Mythos der Rasse unwiderruflich infiziert hat. (…) Hinter der Parole ‚Lösung der Schwabenfrage‘ steht so viel Wahrheitsgehalt, wie hinter den Parolen der Pfeilkreuzler bezüglich der Judenfrage.“24 Er wird für diese Äußerungen als Abteilungsleiter im Innenministerium heruntergestuft und strafversetzt. Am 1. Juli ergeht eine Verordnung zur Überprüfung der „nationalen Treue“, nach der alle Deutschen in vier Kategorien eingeteilt, interniert, enteignet und umgesiedelt werden. Vom August 1945 an werden die Deutschen, regierungsoffiziell angeordnet, wie eine Kuhherde abgetrieben, auch diejenigen, die bei der Volkszählung von 1941 nur Deutsch als ihre Muttersprache angegeben hatten und sich mit dieser Differenzierung vom Volksbund abgrenzen wollten. 220.000 Ungarndeutsche sind aus ihrer jahrhundertealten Heimat ausgewiesen worden, ebenso viele sind geblieben, weil die Amerikaner vom November 1946 an jeglichen Transfer untersagten. Trotzdem wurden bis 1948 noch 40.000 Personen in die Sowjetische Besatzungszone geschickt. 100.000 Ungarndeutsche haben der SS angehört, eine nicht gerade kleine Zahl, unter der die Kollaborateure zu suchen sind, sofern sie nicht zwangsrekrutiert waren. Der Begriff der Vertreibung ist in Ungarn tabu. Bis heute wird sie mit der „Potsdam-Legende“ begründet. Zehn Jahre, bis zur Gründung des Demokratischen Verbandes Ungarländischer Deutscher 1955, lebte man in vollständiger Diskriminierung. Vor der Zeitenwende von 1989/90 gab es zur Vertreibung keine Bilder, Denkmäler oder Erinnerungsorte. Immerhin bezeichnete die kommunistische Regierung sie 1983 als ungerechtfertigt und nahm den Vorwurf der Kollektivschuld zurück, womit der Weg für eine Rehabilitierung frei war. Erst 1996, unter Árpad Gőncz und Gyula Horn, erfolgt die formelle Bitte um Entschuldigung. Wie viele Ungarndeutsche heute in dem Land leben, weiß man nicht, weil sie sich bei Volkszählungen weigern, ihre Identität preiszugeben, so auch bei der letzten von 2011. Hier wirken die traumatischen Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit fort. Offiziell ist von 200.000 Menschen die Rede, aber nur 60.000 geben an, zur deutschen Minderheit zu 23 Spannenberger, Assimilation oder Ausweisung, a. a. O., S. 317. 24 Zit. nach ebd., S. 321 f.; vgl. Gerhard Seewann, Geschichte der Deutschen in Ungarn, Bd. 1: Vom Frühmittelalter bis 1860, Bd. 2: 1860 bis 2006, Marburg 2012.
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gehören. Ende 2012 beschließt das ungarische Parlament einmütig, einen Gedenktag für die Zwangsaussiedlung der Deutschen einzuführen. Jedes Jahr am 19. Januar soll künftig daran erinnert werden, dass die deutsche Volksgruppe in Ungarn auf ungerechtfertigte Weise kollektiv abgestempelt und ihrer Rechte beraubt wurde. Am 22. Dezember 1944 ruft die „Ungarische Nationale Unabhängigkeitsfront“ in Debrecen eine provisorische Regierung aus, der alle Oppositionsparteien aus der Horthy-Ära angehören: die Kleinlandwirte, die Nationale Bauernpartei, die Sozialdemokraten, die Kommunisten und die Bürgerlich-Demokratische Partei. Die Nationale Bauernpartei galt vielen als Ableger der Kommunisten, um die populären Kleinlandwirte zu schwächen. Am 13. Februar 1945 nimmt die Rote Armee Budapest ein. Sie kommt weniger als Befreier, sondern raubt, plündert und vergewaltigt. Szálasi flieht über die Dörfer nach Wien. Im Gesinde und im Lumpenproletariat, das von Anfang an zu seinen Anhängern gehört hatte, findet er überall Unterschlupf. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Sowjets bilden sich auf lokaler Ebene „Volkskomitees“, die sich an die Spitze von „wilden“ Säuberungen stellen. 1945 sind es bereits über 3000, deren „Volksurteile“ in persönliche Racheakte, Internierungen, Morde, öffentliche Hinrichtungen und regelrechte Pogrome einmünden. Vielerorts wird eine neu geschaffene politische Polizei zum eigentlichen Vollstrecker der „Strafen“. Außerdem hatten die Kommunisten in der Unabhängigkeitsfront die Bildung von „Volksgerichten“ durchgesetzt. Ihnen oblag die Aburteilung der Kollaborateure. Wer das war, das sollte eine Verordnung vom 16. August 1945 über den „Volksfeind“ festlegen, aber durch sie wurde der Willkür nur weiter Tür und Tor geöffnet. Mitglieder des Volksbundes, der Wehrmacht und der SS zählten per se zu dieser Gruppierung, sodass sich in den ersten Nachkriegsjahren fast 400.000 Ungarn Volksgerichtsprozessen stellen mussten. Ebenso wie in vielen anderen Ländern Europas zielte die politische Säuberung in Ungarn nicht nur auf die Bestrafung von Faschisten, Deutschen und Kollaborateuren, sondern sie „sollte auch die Herrschaft der neuen Machthaber legitimieren“.25 Bei den Anfang November 1945 stattfindenden Parlamentswahlen erhielten die Kommunisten mit 17 Prozent eine herbe Abfuhr, die Partei der Kleinlandwirte hingegen, hinter der auch das Bürgertum, die Intellektuellen und der Klerus standen, errang 57 Prozent. Die von ihr angeführte Koalitionsregierung forcierte im Herbst 1945 die mit Todesurteilen endenden Verfahren gegen die ehemaligen Ministerpräsidenten Bárdossy und Imrédy, aber der Mann, um den es eigentlich ging, befand sich noch immer außer Landes. Schon am 26. Februar 1945 konstituierte sich unter dem Vorsitz 25 Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, a. a. O., S. 179; Szabolcs Szita, Die Volksgerichtsbarkeit als Teil der politischen Säuberung in Ungarn 1945–1946, in: Kuretsidis-Haider und Garscha (Hg.), Keine „Abrechnung“, a. a. O., S. 207–216; Regina Fritz, Eine frühe Dokumentation des Holocaust in Ungarn. Die „Untersuchungskommission zur Erforschung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen“ (1945), in: „Zeithistorische Forschungen“ / „Studies in Contemporary History“, Nr. 2/2017, S. 352–368.
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von Béla Varga die „Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen“. Wie der Name besagt, blieben die „anderen“ Ungarn hier draußen vor, die Verbrechen wurden quasi externalisiert. Der Großteil der ungarischen Gesellschaft sollte vom Vorwurf der Kollaboration und Mitverantwortung freigesprochen werden. Der „Landesverräter“ Szálasi, der armenischer Herkunft war, wurde als „fremdrassig“ klassifiziert und hatte nie dazugehört. Die „anderen“ Ungarn sollten von den am 4. Januar 1945 entstandenen „Rechtfertigungsausschüssen“ unter die Lupe genommen werden, die nicht zuletzt auch die Funktionärsschicht des Horthy-Regimes in den Fokus nahmen. Die fünf Parteien der Unabhängigkeitsfront entsandten je einen Vertreter in die Ausschüsse, ein Jurist trat hinzu. Um zu prüfen, wer „die Interessen des ungarischen Volkes verletzt“ hatte, mussten alle Beamten schriftlich über ihre Tätigkeit seit dem 1. September 1939 berichten. Nachdem die Kommission ihre Unterlagen den „Volksgerichten“ übergeben und die Ausschüsse Berge von Material gesammelt hatten, begannen die ersten Entlassungen aus dem Staatsdienst. Dieser „Reinigungsprozess“ erhielt durch die fatale Niederlage der Kommunisten bei den Herbstwahlen 1945 aber eine radikale Wendung. Mátyás Rákosi, der Erste Sekretär der kommunistischen Partei, verlangte die Anfertigung von „B-Listen“, um „Reaktionäre“ auszusondern. Mit Unterstützung der Sozialdemokraten, aber im scharfen Widerspruch zu den Kleinlandwirten mussten daraufhin 60.000 Beamte bis zum Oktober 1946 den öffentlichen Dienst verlassen, jeder dritte. Die „Rechtfertigungsausschüsse“ entwickelten sich jedoch in einem Maße zu einem Instrument uferloser Diffamierung und Denunziation, dass die Kommunisten selbst sie Ende 1948 aufhoben; die „Volksgerichte“ existierten noch bis 1952. Inzwischen hatten die Amerikaner seit dem Oktober 1945 von Wien aus nicht nur Szálasi und sein Gefolge an Ungarn ausgeliefert. Umgehend begannen die Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher. Binnen weniger Wochen und Monate wurden fünf ehemalige Ministerpräsidenten, zehn Minister, zwei Staatssekretäre und natürlich Szálasi selbst zum Tode verurteilt. Seine letzten, am 12. März 1946 nur noch hingehauchten Worte lauteten: „Mit mir stirbt Ungarn.“ Auch Franz Basch, der Volksgruppenführer der Deutschen in Ungarn, wurde aufgehängt. Es war János Kádár, der schon im September 1945 dafür eintrat, die Berufungsmöglichkeiten vor den „Volksgerichten“ aufzuheben, wofür er Zeitgründe anführte. Insgesamt mussten sich bis zum 31. März 1948 fast 90.000 Personen als Kriegsverbrecher vor Gericht verantworten, über 18.000 wurden verurteilt, davon 322 zum Tode, diese Strafe wurde aber nur 189mal vollstreckt. 6000 Verfahren waren zu diesem Zeitpunkt noch anhängig. Den „wilden“ Säuberungen sind 7000 Menschen zum Opfer gefallen. Nicht nur die Führungsschicht der Pfeilkreuzler, sondern auch diejenige des Horthy-Systems war spätestens 1948 vom Erdboden verschwunden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass niemand in Ungarn es gewagt oder erwogen hat, die Auslieferung des Admirals zu verlangen, denn jeder, auch und gerade bei den Kommunisten, wusste, wie beliebt er im Land immer noch war. Sein eigentliches Ziel und Lebenswerk wird mit dem am
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10. Februar 1947 in Paris unterzeichneten Friedensvertrag endgültig zu Grabe getragen. Das dort in seinen heutigen Grenzen festgelegte Ungarn entspricht praktisch dem 1920 in Trianon geschaffenen Rumpfstaat. Die Hoffnung, durch die rigorose Entnazifizierung vor den Siegermächten ein Zeichen zu setzen und wenigstens einen Teil der im Zweiten Weltkrieg wiedergewonnenen Gebiete behalten zu können, hatte getrogen. Mit der Geschichte und Vision des Groß-Magyarenreiches war es jetzt definitiv vorbei. Auf Veranlassung Rákosis war am 26. März 1946 ein Gesetz erlassen worden, mit dem Straftatbestände auf alle Gegner der sozialistischen Umgestaltung ausgeweitet werden konnten. Aus der Aufarbeitung der Vergangenheit wurde die Gestaltung der Zukunft im eigenen Sinne. Adressat war die Partei der Kleinlandwirte, die sich mit Tolerierung der Westalliierten regelrecht zerstückelt sah. Am 5. März 1946 verweigerte der Linksblock aus Kommunisten, Sozialdemokraten und Nationaler Bauernpartei ihr jede weitere Zusammenarbeit. Der gemäßigte Imre Nagy wurde durch den radikalen Lásló Rajk als Innenminister ersetzt, der Polizei, Presse und Verwaltung mit seinen Leuten bestückte. Aber damit nicht genug: Die Kommunisten, die während der Horthy-Ära in der Illegalität keine tausend Mitglieder gezählt hatten, griffen jetzt hemmungslos auch auf ehemalige Pfeilkreuzler zurück, sodass im Februar 1945 erst 30.000 und acht Monate später über 500.000 Menschen das Parteibuch der KP besaßen, mit einer schreckenerregenden, wenngleich vorhersehbaren Nebenwirkung: Mitten in der Phase einer vermeintlichen und tatsächlichen Entnazifizierung wurde ein neuer Antisemitismus in die Gesellschaft hineingetragen. Schon Anfang 1946 kommt es unter der Parole „Es lebe Auschwitz“ zu Übergriffen und Pogromen gegen die wenigen Juden, die überlebt hatten. Rajk sieht sich im Juli 1946 gezwungen, 1500 Vereine und Jugendorganisationen zu verbieten, um einer neuerlichen faschistischen Entwicklung vorzubeugen. Gleichzeitig schaltete Rákosi, dessen jüdische Herkunft peinlich verschwiegen wird, in stalinistischer Manier nacheinander Kleinlandwirte, die Sozialdemokraten und schließlich auch Rajk selbst aus, der inzwischen zum Außenminister aufgestiegen war. Mit der nach dem Vorbild der SED geschaffenen „Partei der Ungarischen Werktätigen“ und der am 20. August 1949 verabschiedeten neuen Verfassung ist er am Ziel. Rajk sitzt zu diesem Zeitpunkt schon in Haft. Ihm wird die Planung „desselben amerikanischen Imperialismus (vorgeworfen), der in seinen deutschen und österreichischen Besatzungszonen bereits seine Kettenhunde gesammelt hat. Jene ehemaligen Pfeilkreuzler, faschistischen Horthy-Offiziere und Gendarmen, die damit rechnen, dass sie wieder wie im Jahre 1944 bis zu den Knien im Blut des arbeitenden ungarischen Volkes waten und (…) Ungarn feilbieten können, um damit alle Erfolge der Befreiung und des Wiederaufbaus zunichte zu machen.“26 In einem Schauprozess, den Stalin nicht besser hätte inszenieren können, wird Rajk von demselben Richter, der 1946 Szálasi zum Tod 26 Zit. nach Margit Szöllösi-Janze, „Pfeilkreuzler, Landesverräter und andere Volksfeinde“. Generalabrechnung in Ungarn, in: Henke und Woller (Hg.), Politische Säuberung in Europa, a. a. O., S. 311–357, hier: S. 311.
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durch den Strang verurteilt hatte, der Höchststrafe zugeführt und am 15. Oktober 1949 gehängt. Fortan lebten die Ungarn mit einer doppelten Tabuisierung und einem staatlich verordneten dreifachen Selbstbetrug. Sie mussten in den Sowjets Befreier sehen, was nur ein Bruchteil so empfand, und sie mussten die Deutschen, an deren Seite sie gegen die Sowjets gekämpft hatten, hassen. Aber der „erwünschte Deutschenhass (…) blieb stets das, was er immer war, nämlich aufgesetzte Propaganda.“27 Und sie mussten in der Kollaboration nach der Kollaboration den Völkermord verschweigen und jedwede Artikulation jüdischen Bewusstseins brutal brandmarken und unterdrücken. Im 1953 erschienenen, von der Regierung herausgegebenen ersten Universitätslehrbuch für Geschichte tauchen die Worte Jude und Völkermord nicht einmal auf. Dieser Prozess dauerte bis weit in die 1970er Jahre hinein und sah sich nur kurz unterbrochen, als Imre Nagy 1953 anstelle Rákosis Ministerpräsident wurde. Schon nach zwei Jahren blockte die Partei seinen Liberalisierungskurs ab, enthob ihn seines Amtes und schloss ihn aus ihren Reihen aus. Bezeichnenderweise rufen die am 23. Oktober 1956 auf das Budapester Parlament zumarschierenden, seine Wiedereinsetzung verlangenden Demonstranten vorweg: „Wir sind keine Faschisten“, um den von kommunistischer Seite schnell ausgestreuten Gerüchten, hier handle es sich um eine neuerliche Erhebung der Pfeilkreuzler, von vornherein entgegenzutreten. Nagy nimmt am folgenden Tag die Regierungsgeschäfte auf, seine Wendung zum Mehrparteiensystem und zum bürgerlichen Rechtsstaat sowie seine Neutralitätserklärung und der Austritt aus dem Warschauer Pakt erfolgen jedoch nur unter dem zunehmenden Druck der Straße. Vom 4. November an schlägt die Rote Armee den Aufstand blutig nieder. Szálasis Leute haben in ihm keine Rollte gespielt, aber trotzdem war er von antisemitischen Parolen nicht frei. Gyula Horn hat in ihm als Mitglied der moskautreuen „Steppjacken-Brigade“ die Panzer gegen sein eigenes Volk geführt. Was beginnt, ist die 32 Jahre währende Ära János Kádárs; Nagy wird 1958 in einem Geheimprozess als „Konterrevolutionär“ zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das „System Kádár“ mit seinen kleinen Nischen, Vergünstigungen und Verlogenheiten funktionierte. 1962 werden alle Verurteilten des Budapester Aufstandes amnestiert, seit 1981 sind kleine private Wirtschaftsbetriebe zugelassen. Ein Jahr später ist das Land Mitglied des Internationalen Währungsfonds, 1987 erhalten alle Ungarn einen weltweit gültigen Reisepass. Gleichzeitig beginnen mit der Wahl von Károly Grósz zum Ministerpräsidenten die finalen Reformen aus der kommunistischen Partei heraus. Kádár muss am 22. Mai 1988 als ihr Vorsitzender zurücktreten, Grósz wird sein Nachfolger. Mit dem konservativen Demokratischen Forum (UDF) und dem Bund Junger Demokraten (Fidesz) bilden sich die ersten Oppositionsparteien. Auch die Partei der Kleinlandwirte gründet sich erneut. Anfang 1989 verzichtet die KP auf ihre Monopol27 Eva Kovács und Gerhard Seewann, Ungarn. Der Kampf um das Gedächtnis, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 2, S. 817–845, hier: S. 823 f.
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stellung, und das Politbüromitglied Imre Pozsgay bezeichnet die Ereignisse von 1956 in einer Radioansprache als Revolution und Volksaufstand. In einer großen, feierlichen Zeremonie vor 300.000 Menschen auf dem Budapester Heldenplatz wird Imre Nagy am 16. Juni 1989 wiederbestattet. Der 26-jährige Fidesz-Vorsitzende Viktor Orbán hält aus diesem Anlass eine Rede, in der er als erster osteuropäischer Politiker den Abzug der sowjetischen Truppen fordert. Seit dem 2. Mai lief bereits der Abbau des Eisernen Vorhangs zwischen Ungarn und Österreich, der am 1. August abgeschlossen ist. Am 23. Oktober 1989 wird Ungarn in Anwesenheit des Ehrengastes Otto von Habsburg als Republik ausgerufen. Bei den ersten freien Wahlen seit 1945 im Frühjahr 1990 dominiert die UDF. Ihr Vorsitzender József Antall bildet die Regierung und lässt Horthy 1993 in seinen Heimatort Kenderes umbetten. Es ist der staatlich sanktionierte Auftakt zu einem neuen Kult um den Admiral, der hinter den Kulissen nie erloschen war. Noch im selben Jahr formiert sich mit István Csurkas Partei für ungarische Gerechtigkeit und Leben die erste rechtsextreme und scharf antisemitische politische Gruppierung, die zweiten Wahlen nach dem Systemwechsel entscheiden die postkommunistischen Sozialisten aber deutlich für sich. Gyula Horn steht der Regierung bis 1998 vor, Staatspräsident von 1990 bis 2000 ist Árpád Göncz vom linksliberalen Bund Freier Demokraten. Beim dritten Urnengang kommt Viktor Orbán erstmals an die Macht. Der Sieg seiner Fidesz ist mit 38 Prozent nicht gerade überwältigend, was ihn aber nicht daran hindert, vom ersten Moment an eine national-exklusive magyarische Erinnerungspolitik zu entfalten. Die heilige Stephanskrone wird im Jahr 2000 vom Nationalmuseum ins Parlament überführt. Sie steht für Groß-Ungarn. Die rot-weiß gestreifte, auch von den Pfeilkreuzlern benutzte Árpád-Fahne wird bei öffentlichen Anlässen immer häufiger ausgehängt. In amtlich verfügter Dichotomie wird das Schicksal der Ungarn unter dem Kommunismus dem der Juden im Zweiten Weltkrieg gleichgestellt, „mit dem erklärten Ziel, die Singularität des Holocaust zu leugnen“.28 Orbán kann die knappe Niederlage bei den Wahlen von 2002 nicht verwinden und hetzt in „Bürgerkomitees“ landesweit gegen die sozialistischen Nachfolgeregierungen. Auf seinen Kundgebungen ruft er aus: „Die Heimat kann nicht in der Opposition sein!“, damit jeder weiß, was er für sich monopolisiert hat. Er profitiert von den Ungeschicklichkeiten des sozialistischen Ministerpräsidenten Ferencz Gyurcsány, insbesondere von dessen interner „Lügenrede“, in der er nur sein rigoroses Sparprogramm hat verteidigen wollen. Bereits Ende Mai 2006 gehalten, wird sie vier Monate später ausgerechnet am Vorabend der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Budapester Aufstands bekannt. Gyurcsány sagt: „Kein Land in Europa hat solche Blödheiten begangen wie wir. (…) Ich bin fast daran verreckt, dass wir die letzten eineinhalb Jahre so tun mussten, als ob wir regierten. Stattdessen logen wir morgens, nachts und abends. So will ich nicht mehr
28 Kovács und Seewann, Ungarn. Der Kampf um das Gedächtnis, a. a. O., S. 833; s. auch Árpád von Klimó, Ungarn seit 1945, Göttingen 2006.
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weitermachen.“29 Noch am selben Abend, dem 17. September 2006, versammelten sich nicht nur Orbáns Leute vor dem Budapester Parlament, um Gyurcsánys Rücktritt zu fordern. Rechtsextremisten mit der rot-weiß-gestreiften Flagge waren zur Stelle, „eine pseudorevolutionäre Stimmung griff um sich“30 und wochenlange Demonstrationen erschütterten ganz Ungarn. Eigentlich war es von da an nur noch eine Frage der Zeit, bis Orbán wieder zur Stelle war, um seine Vergangenheitspolitik zu exekutieren. In einem hatte er es leicht: In der Mehrheit der Bevölkerung wurde der 4. April 1945 nicht als Tag der Befreiung, sondern einer neuen Besetzung angesehen. In einem anderen hatte er es jedoch schwer: Im Gegensatz zu Österreich wurde Ungarn von den Siegermächten nicht als Opfer, sondern als Täter angesehen, insbesondere was den Holocaust anging. István Bibó hatte dies bereits 1948 in seinem berühmten Essay „Zur Judenfrage: Am Beispiel Ungarns nach 1944“ konzediert, den „moralischen Verfall“ einer ganzen Gesellschaft schonungslos analysiert und verlangt, staatlicherseits die Verantwortung für die begangenen Verbrechen zu übernehmen.31 Das Rákosi-Regime verbot Bibós Schrift unmittelbar nach ihrem Erscheinen, das kommunistisch verordnete Schweigen begann, und „nach 1956 gab es keine Geschichte mehr: (…) Das Erinnerungs- und zum Teil auch Forschungsverbot bezüglich des Zweiten Weltkriegs (…) wurde um die Revolution von 1956 erweitert.“32 Die Abwehrmechanismen gegenüber dem von Bibó bereits klar benannten „Gefühl der Schuld und Mitverantwortung“ für den Holocaust wirkten fort. Die Pfeilkreuzler wurden in der offiziellen nationalen Entlastungshistoriographie nicht zur Sache der Ungarn, sondern der Deutschen, die sie erfunden und auf den Weg gebracht hatten. „Dieser verinnerlichte historische Code erklärt auch, warum das Wort ‚Kollaboration‘ keine Aufnahme in die Erinnerungszeremonien gefunden hat und weiterhin vermieden wird.“33 Mittäter waren und sind nicht vorgesehen, und die ermordeten Juden waren keine Ungarn, sondern „Fremde“.
29 Zit. nach Mayer und Odenahl, Aufmarsch, a. a. O., S. 47. 30 Ebd., S. 48. 31 István Bibó, The Jewish Question in Hungary after 1944, in: ders., Democracy, Revolution, SelfDetermination. Selected Writings, New York 1991, S. 164. Bibós 1948 in einer Budapester Zeitschrift erschienener Aufsatz thematisiert den ungarischen Anteil an der Verantwortung für den Holocaust, und zwar durch die Mithilfe oder die Passivität der Kirchen, der Administration, der Intelligenz und der politischen Elite. Dabei argumentiert er nicht moralisch, sondern historisch, auf Horthy zurückgreifend. 32 Béla Rásky, Ungarns Kriege, Ungarns Erinnerung. Vom Märtyrer zum Opfer bzw. vom Erinnerungsgebot über das Erinnerungsverbot zur Erinnerungsverweigerung, in: Mattl et al. (Hg.), Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft, a. a. O., S. 153–170, hier: S. 162; Raphael Vago, Hungary: Continuing Trials of War and Memory, in: Stauber (Hg.), Collaboration with the Nazis, a. a. O., S. 229–244. 33 Brigitte Mihok, Erinnerungsüberlagerungen oder der lange Schatten der Geschichtsverzerrung, in: dies. (Hg.), Ungarn und der Holocaust, a. a. O., S. 157–168, hier: S. 161.
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Bibós verbotenes Buch blieb für über dreißig Jahre die einzige Publikation, die sich der Tabuisierung und kollektiven Amnesie widersetzte. 1988, also noch vor der historischen Zeitenwende, kam Randolph L. Brahams 1981 in den Vereinigten Staaten erschienenes Standardwerk „The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary“ in ungarischer Übersetzung auf den Markt. Noch 1985 war ein von Róbert Simon verfasster Band zur „Judenfrage in Ostmitteleuropa“ von der Regierung sofort wieder aus dem Verkehr gezogen worden. Nach wie vor wurde die „Schuld“ an ihrem Schicksal in Richtung Deutschland externalisiert. Erst mit dem 1993 verabschiedeten Minderheitengesetz begann eine Diskussion über die Identität der zu dem Zeitpunkt noch 100.000 in Ungarn lebenden Jüdinnen und Juden, so über die Frage, ob sie als religiöse oder als ethnische Gemeinschaft anzusehen seien. 1992 und 1996 leitete das Parlament Verfahren zum Ausgleich des von 1939 bis 1946 geraubten jüdischen Vermögens sowie hinsichtlich eines Rentenbeitrages für die Überlebenden der Shoah ein, „freilich nur in symbolischer Höhe“.34 Und am 5. April 1994, anlässlich der internationalen Konferenz „Fünfzig Jahre nach dem Holocaust in Ungarn“, platzte in Budapest die Bombe. Während Gyula Horn sich entschuldigte, (erstmals) die Kollaboration nicht verleugnete und sogar die innerungarische Vorgeschichte erwähnte, bediente sich Außenminister Géza Jeszenszky jener Formel, die durch Viktor Orbán im Grunde genommen bis heute offiziellen Charakter hat: der Gleichsetzung der Holocaust-Opfer mit den ungarischen Opfern des Zweiten Weltkriegs und der kommunistischen Ära. Immerhin brach ein solcher Proteststurm los, dass Jeszensky, über dessen Schreibtisch die Karte des Ungarns vor Trianon hing, seine Rede abbrechen musste, und viele fragten sich, was aus dem pathetischen, am 16. Juni 1989 anlässlich der Wiederbestattung von Imre Nagy auf dem Budapester Heldenplatz proklamierten Ausruf „Erinnern wir uns!“ geworden war. Schon unter Antall trat die Aufrechnung an die Stelle der Aufarbeitung. Der Status des Opfers gewann in der ungarischen Erinnerungskultur eine „mehr und mehr hegemoniale Position“. Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde jetzt erneut ideologisch gerechtfertigt, und diejenigen, die nach 1945 als Kollaborateure des Deutschen Reiches verurteilt worden waren, galten „jetzt nicht mehr unbedingt und keinesfalls pauschal als Schuldige“. Historiker suchten in der ungarischen Gesellschaft nach Scham für das, was geschehen war, „allein, es gab sie nicht.“ Von da bedeutete es nur einen Schritt bis zur „absichtlich blockierten Erinnerung (…) in einer ahistorischen Gesellschaft“35, zumindest aber zur „Unmöglichkeit eines einzigen Gedächtnisses in der ungarischen Geschichte“ (Lászlo Földényi)36. Anstatt, wie von Bibó 1948 gefordert, sich den eigenen 34 Kovács und Seewann, Ungarn. Der Kampf um das Gedächtnis, a. a. O., S. 830. 35 Alle Zitate: Rásky, Ungarns Kriege, Ungarns Erinnerung, a. a. O., S. 167 ff. 36 Lászlo F. Földényi, Das geläufige Vergessen. Von der Unmöglichkeit eines einzigen Gedächtnisses in der ungarischen Geschichte, in: „Neue Zürcher Zeitung“ vom 7.1.2006, S. 23. Eine interessante These unterbreitet Richard S. Esbenshade, indem er überzeugend darlegt, dass die permanente
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Verbrechen zu stellen, wählte man den „Weg des Nicht-einmal-mehr-wissen-Wollens (…) als Heil- und Überlebensmittel“ (Béla Rásky)37. Imre Kertész (1929–2016), dem man die Verleihung des Literaturnobelpreises 2002 wegen seines jüdischen Glaubens in Ungarn zum Teil offen neidete, fand 2000 in seiner Vorlesung über die verbannte Sprache des Holocaust im Berliner Renaissance-Theater zu dem folgenden Urteil: „In Ungarn sieht man den Holocaust gar nicht als zivilisatorisches Trauma – man könnte sagen, dass es gar keinen Holocaust im historischen und moralischen Selbstbewusstsein dieses Landes gibt.“38 Eine der ersten Auslandsreisen führt den neu gewählten Ministerpräsidenten Orbán 1998 nach Auschwitz. Er ist mit der ungarischen Abteilung in der dortigen Gedenkstätte unzufrieden und beauftragt eine Expertengruppe mit einem neuen Ausstellungkonzept. Die Kontroversen hierüber führen zu einem ungarischen Historikerstreit, weitgehend mit den alten Frontstellungen: Gegenüber- und Gleichstellung der „eigenen“ Opfer mit denjenigen der Juden bis hin zur Leugnung der Shoah. Wortführerin ist Mária Schmidt, die Regierungsbeauftragte für Zeitgeschichte und enge Vertraute Orbáns. Sie ist die zentrale Figur bei der Planung und Errichtung des „Hauses des Terrors“, seines großen politischen Prestigeprojekts, „das einen langen Schatten der Geschichtsverzerrung wirft.“39 Das Haus wird mit Mária Schmidt als Direktorin am 24. Februar 2002 eingeweiht. Es steht in der Andrássy-Straße Nr. 60 in Budapest und ist im Gedächtnis der Nation geradezu ein Synonym für Schrecken. Hier hatten von 1937 bis 1945 die Pfeilkreuzler ihre Parteizentrale, hier residierte bis 1950 Rákosis stalinistische Polizei. Am Eingang stehen – heute – zwei gleich große schwarze und rote Marmortafeln als Wegmarken und Symbole der Totalitarismustheorie, die hier eine fragwürdige Heimstätte gefunden hat. Schon im Logo des Museums, in dem ein Pfeilkreuz und ein roter Stern direkt nebeneinandergestellt sind, wird eine Gleichsetzung beider Herrschaftssysteme vorgenommen und der doppelte Opfermythos ikonographisiert. Vergegenwärtigung der Ereignisse von 1956 im nicht staatlich gesteuerten ungarischen Bewusstsein durchaus auch – im Freud’schen Sinne – die Funktion einer Kompensation und einer Ersatzrolle für die 1944 begangenen Verbrechen eingenommen habe, und zwar noch bis in die 1990er Jahre: Richard S. Esbenshade, Verdrängung oder Integration der Erinnerung? Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust im ungarischen Samisdat in: Peter Hallama und Stephan Stach (Hg.), Gegengeschichte, a. a. O., S. 284. 37 Rásky, Ungarns Kriege, Ungarns Erinnerung, a. a. O., S. 170. 38 Zit. nach Eva Kovács, „Die nicht in Anspruch genommene Erfahrung“. Zwei fehlende Sätze über die ungarische Shoah, in: Heidemarie Uhl (Hg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts, Innsbruck 2003, S. 209–221, hier: S. 209; Gerhard Seewann und Eva Kovács, Halbherzige Vergangenheitsbewältigung, konkurrenzfähige Erinnerungspolitik – die Shoah in der ungarischen Erinnerungskultur, in: Faulenbach und Jelich (Hg.), „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, a. a. O., S. 189–200. 39 Mihok, Erinnerungsüberlagerungen, a. a. O., S. 165; Krisztián Ungváry, Belastete Orte der Erinnerung, in: APuZ, Nr. 29–30/2009, S. 26–33.
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Andererseits sind Szálasis Partei nur zwei, der kommunistischen Herrschaft zwanzig und dem Horthy-Regime kein einziger Raum gewidmet. Das pädagogische Ziel besteht darin, die Ungarn von der Konfrontation mit der Vergangenheit zu befreien, indem sich jeder als Opfer, ja Märtyrer zweier fremder Mächte sehen kann. Der Rundgang beginnt mit der Machtübernahme der Pfeilkreuzler am 15. Oktober 1944, womit suggeriert wird, dass vorher nichts war. Die vorhergehenden Deportationen werden nur kurz gestreift, jedwede Kollaboration ist ausgeblendet.40 Im Zentrum des „Beratungsraumes“ steht Ferenc Szálasi als lebensgroße menschliche Gestalt. Eine Lichtquelle hinter seinem Kopf taucht ihn in ein gespenstisch-bläuliches Licht. Die Message dieser „überzeichneten Authentizitätsinszenierung“41 in dem ansonsten völlig menschenleeren Raum ist klar: Schuld wird personalisiert und damit externalisiert. Direkter Kontrast ist im Innenhof des Museums die „Wand der Täter“ und die „Wand der Opfer“, die mit ihren 3600 Fotografien kommunistisch verfolgter Ungarn stark an die „Hall of Names“ in Yad Vashem erinnert. Irgendwelche Erläuterungen, um welche Täter und Opfer es sich handelt, gibt es nicht. Insgesamt wird die „Tragödie eines kleinen Landes (dar)gestellt, das sich manchmal sogar heldenhaft gegen die Übermacht des nationalsozialistischen Deutschland (…) zu behaupten suchte“42, womit Ungarn allen Ernstes in den Rang einer Widerstandsnation gehoben wird. Gyula Kádár, der ehemalige Chef des militärischen Geheimdienstes, bemerkt zu diesem Sachverhalt in seinen Memoiren: „Wenn es (in Ungarn) so viele ‚Widerstandskämpfer‘ vor dem 19. März 1944 gegeben hätte wie im Mai 1945 und danach, dann hätte Hitler niemals die Okkupation des Landes gewagt“.43 2002 muss Orbán (vorerst) von der Macht lassen. Seine Nachfolger hatten längst auf den Bau einer eigenen Mahnstätte zur Ermordung der eigenen Juden gesonnen, und vor allem: Der Beitritt Ungarns zur Europäischen Nation rückte näher, da musste etwas passieren. Zwei Wochen vor diesem Datum, am 15. April 2004, wird das Holocaust-Gedenkzentrum in der 1924 errichteten Synagoge in der Budapester Páva-Straße feierlich eröffnet. Es war die Administration Orbán, die den Weg hierhin auf einer ihrer letzten Sitzungen finanziell geebnet hatte, denn auch sie wollte in die EU. Die Zeremonie war ein Quantensprung in der ungarischen Erinnerungskultur und -geschichte, aber es ist die Frage, inwieweit er in ihr einen fest verankerten Platz gefunden hat. Der Budapester Oberbürgermeister Gábor Demszky tat das, wozu sich bis heute weder Re40 Zur Korrektur dieses Zerrbildes: Krisztián Ungváry, Der Getriebene und der Treiber. Das Verhältnis zwischen ungarischer Politik und deutschen Deportationsplänen, in: Mihok (Hg.), Ungarn und der Holocaust, a. a. O., S. 41–54. 41 Köhr, Die vielen Gesichter des Holocaust, a. a. O., S. 72; Ljiljana Radonic, Postsozialistische Gedenkmuseen und die „Europäisierung des Gedenkens“, in: „Journal für politische Bildung“, Nr. 3/2015, S. 26–34, bes. S. 29 f. 42 Kovács und Seewann, Ungarn. Der Kampf um das Gedächtnis, a. a. O., S. 835. 43 Zit. nach Randolph L. Braham, Rettungsaktionen: Mythos und Realität, in: Mihok (Hg.), Ungarn und der Holocaust, a. a. O., S. 15–40, hier: S. 15.
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gierung noch Parlament bereitgefunden haben, er entschuldigte sich „für das Verbrechen, das die ungarische politische Gemeinschaft zwischen 1938 und 1944 gegen das ungarische Judentum verübt hat“, und Staatspräsident Ferenc Mádl sagte: Auch, wenn die finale Entfaltung der Tragödie woanders stattfand, ändert das nichts daran, dass sich die Möglichkeit dazu hier eröffnete, die schuldigen Mitwirkenden lebten hier, die schuldige Gleichgültigkeit der Schuldlosen herrschte hier. Es ist keine Entschuldigung, dass auch die Welt schwieg. All das geschah hier. Unsere Widerstandskraft war gering. Unsere helfende Hand war hier schwach.44
Das Zentrum war das erste seiner Art in Osteuropa, aber es liegt in einer versteckten Seitenstraße außerhalb des Stadtkerns, wo sich das Haus des Terrors befindet. Diese Trennung ist wohl mehr als symbolisch, sie ist politisch gewollt und versinnbildlicht die polarisierte Erinnerung in dem Land, die in zwei entgegengesetzte, ja sich zum Teil ausschließende Geschichtsnarrative und „Meistererzählungen“ zerfällt. Der Holocaust ist auch weiterhin an den Rand gedrängt. Die Dauerausstellung des Memorial Centers in der Pávastraße erfolgte erst 2006. In ihr wird die Rolle der ungarischen Polizei und Gendarmerie und die materielle Bereicherung schonungslos präsentiert. Vier jüdische und eine Romafamilie begleiten die Besucher vom ersten bis zum letzten Raum. Wer das Haus verlässt und seine Message versteht, hat es mit Selbstviktimisierungen fortan schwer, denn überall, bis in den gewaltsamen Tod, legen christliche Ungarn Hand an. Auf etlichen Fotos wird sogar die ungarische Bevölkerung beim Plündern der Ghettos 44 Zit. nach Regina Fritz, Der Umgang mit dem Holocaust in Ungarn zwischen internationalen Erwartungen und nationalen Diskursen. Das Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest, in: Hofmann et al. (Hg.), Diktaturüberwindung in Europa, a. a. O., S. 167–179, hier: S. 167; vgl. auch Regina Fritz und Imke Hansen, Zwischen nationalem Opfermythos und europäischen Standards. Der Holocaust im ungarischen Erinnerungsdiskurs, in: Eckel und Moisel (Hg.), Universalisierung des Holocaust?, a. a. O., S. 59–85; dies. und Wezel, Konkurrenz der Erinnerungen?, a. a. O., S. 233–247; dies., Gespaltene Erinnerung – museale Darstellung des Holocaust in Ungarn, in: dies., Carola Sachse und Edgar Wolfrum (Hg.), Nationen und ihre Selbstbilder – postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008, S. 129–149; dies., Nach Krieg und Judenmord. Ungarns Geschichtspolitik seit 1944, Göttingen 2012; dies., Ungarn nach dem Krieg. Geschichtspolitik als Instrument der Demokratisierung (1944/45), in: Claudia Fröhlich und Harald Schmid (Hg.), Jahrbuch für Politik und Geschichte, Bd. 3, Stuttgart 2013, S. 77–93; dies., Ungarische Holocaust-Ausstellungen im innen- und außenpolitischen Spannungsfeld: Das Holocaust-Gedenkzentrum Budapest und der ungarische Pavillon im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, in: Makhotina et al. (Hg.), Krieg im Museum, a. a. O., S. 203–225. Regina Fritz spricht in ihrem Resümee von dem unumwundenen Versuch, „die nationale Verantwortung für die Mittäterschaft am Holocaust zu externalisieren“ (S. 223). Vgl. auch: Brigitte Mihok, Wenn sich Geschichte dem politischen Erinnerungsinteresse beugen muss. Das „Haus des Terrors“ in Budapest, in: Wolfgang Benz und Andrew H. Beattie (Hg.), Ein Kampf um die Deutungshoheit, Berlin 2013, S. 264–277; vgl. auch: Ferenc Laczó, Ungarn und der Holocaust. Geschichtspolitik und historische Verantwortung, in: „Osteuropa“, Nr. 12/2011, S. 315–333.
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gezeigt. Damit waren wichtige Bausteine für eine „nationale Gesamtopfererzählung“ (Regina Fritz) und für ein Ende der Erinnerungsspaltung auszementiert, und man durfte gespannt sein, ob die ungarische Zivilgesellschaft aus den verbliebenen ein ganzes Fundament würde bauen können. Ferenc Gyurcsány formulierte 2006: Es gab kein anderes Land in Europa, welches innerhalb von weniger als einem Jahr so viele seiner Menschen ausgeliefert und daran mitgewirkt hatte, dass das Leben von Kindern, Frauen, Männern und Großeltern im sinnlosen Tod endet. Sie brachten den Befehl, lenkten die Waggons (…), Opfer und Täter waren beide Ungarn. Ihr geteiltes Ungarntum bewahrte sie nicht vor der Schuld und behütete sie nicht vor dem grundlosen Tod.45
Die Umsetzung bzw. Nicht-Umsetzung dieses Eingeständnisses lag seit den Frühjahrswahlen 2010 wieder bei Viktor Orbán. Seine inzwischen in „Bürgerallianz“ umbenannte Fidesz errang in ihnen 53 Prozent der Stimmen bzw. 262 der 386 Mandate im Budapester Parlament, eine erdrückende Mehrheit, die für eine Alleinregierung vollständig ausgereicht hätte. Er koaliert aber in beiden Wahlgängen mit den Christdemokraten, obwohl er mit der Fidesz 2014 erneut die Zweidrittelmehrheit der Mandate erringt. Zum Ministerpräsidenten gewählt, führt er die doppelte Staatsbürgerschaft für alle Auslandsungarn ein, schafft ein neues Grundgesetz, das er selbst „nationales Glaubensbekenntnis“ nennt, weil es einen Bezug zum großungarischen Reich des Mittelalters herstellt, und spricht nicht von der Opposition, sondern von den „Fremdherzigen“. Mochte das alles noch irgendwie durchgehen, so rief die Verfasstheit einer weiteren, rechts von Orbán angesiedelten Gruppierung weltweites Entsetzen hervor. 2003 bildet der 25-jährige Geschichtslehrer Gábor Vona die „Bewegung für ein besseres Ungarn“, in der Landessprache mit Jobbik abgekürzt. Innenpolitisch ist die radikal antisemitische und antiziganistische Partei gegen die beiden Minderheiten der Juden und Roma ausgerichtet, einziges außenpolitisches Ziel ist die Auslöschung der Verträge von Trianon. 2007 gründet Vona die „Nationale Garde“ zur Befreiung des Landes von Sozialisten, Juden und „Zigeunern“. Die Vereidigungszeremonie neuer Mitglieder ist direkt an diejenige der Pfeilkreuzler angelehnt. Die Garde wird daraufhin gerichtlich verboten, sie entsteht aber in kaum verändertem Gewand neu. Vona will, so wie Orbán auch, die Wiederherstellung eines „völkisch reinen Magyarentums“. Beide propagieren den offenen Geschichtsrevisionismus. Für ein Bekenntnis zu Kollaboration und Völkermord ist da kein Platz. Die Árpád-Fahne weht auf allen Veranstaltungen. „Rechtsextreme und Antisemiten haben das Sagen. Die alten Laster der Ungarn, ihre Verlogenheit und ihr Hang zum Verdrängen, gedeihen wie eh und je“46, so urteilte Imre Kertész schon Ende 2009. Vona spricht vom „nationalen Erwachen“, sein Land sei 45 Rede Gyurcsánys im Budapester Parlament am 27. Januar 2006, zit. nach Fritz, Der Umgang mit dem Holocaust in Ungarn zwischen internationalen Erwartungen und nationalen Diskursen, a. a. O., S. 178. 46 Zit. nach Mayer und Odenahl, Aufmarsch, a. a. O., S. 32.
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„auserwählt“. Am 15. März 2009 erklärt er: „In den letzten hundert Jahren hat hier nur ein System funktioniert. Das des Reichsverwesers Miklós Horthy. (…) In moderner und aktueller Form müssen wir dazu zurückkehren.“47 Mit diesem Mann geht Orbán zwar keine Koalition, aber eine politische Partnerschaft ein. Vonas „Bewegung“ hatte 2014 über 20 Prozent der Stimmen gewonnen, so viel wie keine andere rechtsextremistische Partei Europas. Fidesz und Jobbik, Rechtspopulisten und Rechtsextremisten, bilden zusammen eine rechtsnationale „Volksfront“ und Dominanzkultur. Zusammen verfügen sie über vier Fünftel aller Parlamentssitze und damit über die verfassungsändernde Mehrheit. Vona trägt im Parlament unter seinem Jackett deutlich sichtbar das schwarze Wams der Pfeilkreuzler. Nota bene: Wir befinden uns im Ungarn des 21. Jahrhundert. Angesichts derartiger Szenen fragt man sich, ob es wirklich nur, wie György Dalos gesagt hat, „die geographische Lage“ war, derentwegen „Ungarn der staatlichen Kollaboration mit Hitler nicht entgehen konnte.“48 Die neue, am 1. Januar 2012 in Kraft getretene Verfassung hebt in ihrer Präambel mit dem Satz an: „Wir datieren die Wiederherstellung der am 19. März 1944 verlorenen staatlichen Selbstbestimmung unserer Heimat auf den 2. Mai 1990“, was nichts anderes heißt, als dass Ungarn für die in den 46 Jahren dazwischen verübten „unmenschlichen Verbrechen“ keinerlei Verantwortung übernimmt – so als ob es die Pfeilkreuzler niemals gegeben hätte. Im Streit um das 2014 im 5. Budapester Stadtbezirk geplante nationale Denkmal setzte sich dies fort. Das von dem Bildhauer Peter Parkany entworfene Objekt zeigt einen Reichsadler, der den Erzengel Gabriel als Sinnbild eines unschuldigen Ungarns im Sturzflug angreift; der Reichsadler steht für Deutschland. Von einer Symbolisierung ungarischen Unrechts findet sich keine Spur. Die Einweihung fand im Juli 2014 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Orbáns statt. Im Juni 2015 beginnt man in Szekesfehervar, einer Stadt siebzig Kilometer südwestlich von Budapest, mit den Planungen eines Denkmals für Balint Homan (1885–1951), den Architekten der ungarischen Judengesetze. Quo vadis, Ungarn?
47 Ebd., S. 65. 48 Dalos, Ungarn in der Nussschale, S. 141; auch: Andreas Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns von 1985 bis 2002. Von der liberalisierten Einparteienherrschaft zur Demokratie in der Konsolidierungsphase, München 2007.
Rumänien Die Trajansäule in Rom zeugt von Kampfszenen, die sich im heutigen Rumänien abgespielt haben. 106 nach Christus besiegt Kaiser Trajan das Reich der Daker, das sich vom Banat über Siebenbürgen bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Die Rumänen legen bis heute enormen Wert darauf, keine slawischen Wurzeln zu haben, sondern aus einer Verschmelzung der Daker mit den Römern hervorgegangen zu sein. Doch die Römer zogen schon nach 64 Jahren wieder ab. Was dann geschah, ist umstritten. Eine Version besagt, dass die rumänisierte Bevölkerung weiter in dem Gebiet lebte, nach der anderen drang sie dort erst wieder gegen Ende des ersten Jahrtausends ein und nannte sich Walachen. Das zweite Jahrtausend ist vom Kampf gegen die Ungarn- und die Osmanenherrschaft gekennzeichnet, und von 1688 an kam das Vielvölkerterrain, in dem sich mit den Bojaren inzwischen eine eigene Adelsschicht gebildet hatte, für über zweihundert Jahre an das Haus Habsburg. Der wiederholte Griff des russischen Zarenreiches nach Moldau und in die Walachei blieb angesichts derart säkularer Zeiträume fast nur eine Episode. Aus beiden Fürstentümern geht 1858 das Königreich Rumänien hervor, das erst zwanzig Jahre später seine Unabhängigkeit von der Türkei erlangt. Es gehörte – ohne gegen Deutschland oder Österreich-Ungarn auch nur eine einzige erfolgreiche Schlacht geschlagen zu haben – nicht nur zu den Siegern, sondern auch zu den großen Gewinnern des Ersten Weltkriegs, der nicht nur sein Territorium, sondern auch seine Bevölkerungszahl von einem Tag auf den anderen mehr als verdoppelte. Wohnten vor Trianon 7,2 Millionen Menschen auf 137.000 Quadratkilometern, so waren es jetzt 15,5 Millionen auf 295.000 Quadratkilometern, von denen über 30 Prozent keine Rumänen waren, sondern Ungarn, Deutsche, Ukrainer, Russen, Serben, Bulgaren, Juden und andere. Nicht zuletzt hieraus resultierte die Tatsache, dass bis auf Polen kein einziger der Nachbarstaaten die Grenzen des neuen Großreiches aus Siebenbürgen, der Walachei, dem Banat, der Dobrudscha, Bessarabien, Moldau und der Südbukowina anerkannte. Freilich war der Staat als Mitglied der Kleinen Entente und Bündnispartner Frankreichs und Polens im Konzept und Kalkül des demokratischen Europa ein wichtiges Bollwerk gegen die Sowjetunion. Durch die am 23. März 1923 verkündete Verfassungsreform wurde Rumänien eine parlamentarische Monarchie, in der jedes Gesetz der Zustimmung des Königs bedurfte. Er konnte Regierungen entlassen, neue berufen und Neuwahlen anberaumen. Da die Sozialdemokraten schwach und die Kommunisten seit 1924 verboten waren, beherrschten mit den Nationalliberalen und der Nationalen Bauernpartei zwei Gruppierungen die politische Szenerie, die sich praktisch jährlich in der Regierung abwechselten. Der 1930 aus dem Exil zurückgekehrte König Carol II. ernannte nach den Wahlen vom 20. Dezember 1937 nur noch Regierungschefs, die vollständig von ihm abhängig waren, setzte im Februar 1938 die Verfassung außer Kraft und löste kurz darauf alle
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politischen Parteien auf. Diese als Königsdiktatur bezeichnete Errichtung der absoluten Monarchie richtete sich nicht gegen linke oder liberale Kräfte, sondern einzig und allein gegen den Aufstieg der rechtsradikalen, nationalistischen und antisemitischen „Eisernen Garde“ Corneliu Zelea Codreanus.1 Codreanu war 1899 in einem deutschstämmigen Elternhaus in der Bukowina geboren worden, hatte Jura in Iaşi, Berlin und Jena studiert und in Grenoble promoviert. Sein Vater hatte den eigentlichen Familiennamen Zielinski in Zelea rumänisiert und sich den zusätzlichen Beinamen Codreanu gegeben. Die von Corneliu 1923 zusammen mit dem Rechtsprofessor Alexandru Cuza gegründete „Liga zur nationalen Christlichen Verteidigung“ verübte Attentate gegen die Nationalliberalen wegen ihrer toleranten Judenpolitik. In der Untersuchungshaft soll Codreanu der Erzengel Michael erschienen sein und in einer Vision zur „Erlösung des rumänischen Volkes“ aufgefordert haben, weshalb er vier Jahre später die „Legion des Erzengels Michael“ konstituiert und deren „Kapitän“ wird. Die sich auch „Kreuzfahrer“ nennenden Legionäre firmieren von 1930 an als „Eiserne Garde“, weil jedes Mitglied immer eine eiserne Stange bei sich führen muss. Sowohl die Garde wie auch die Legion werden im Januar 1933 verboten, aber schon zwei Monate später entsteht die Partei „Alles für das Land“ als politisches Organ der Legion. Die Terror- und Mordaktionen, die von der Justiz kaum geahndet wurden, haben Codreanu mehr genutzt als geschadet. Viele wollten bei ihm mitmachen. Er teilte das Land in „Nester“ ein, Stützpunkte der Judenmisshandlungen und künftigen Machtübernahme, und ritt nachts mit seinen Nicadori („Engeln“) übers Land, um Dörfer zu überfallen. Da Carol II. seine jüdische Maitresse Helene Lupescu an den Staatsgeschäften beteiligte, brauchte Codreanu für Propaganda kaum etwas zu tun. Seine Bewegung wuchs auf eine halbe Million Mitglieder an. Die Schriftsteller Mircea Eliade und der junge Cioran schwärmten für sie.2 Codreanu galt nicht nur ihnen als Reinkarnation des Erzengels. So wie Michael den Drachen erschlagen hatte, so würde auch sein Nachfolger Rumänien von allem Bösen reinigen und den „neuen Menschen“ schaffen. Der quasi religiöse Orden mit den grünen Hemden und dem aufgenähten weißen Kreuz verlangte unbedingte Opferbereitschaft bis in den Tod und ordnete sich weder nach innen noch nach außen unter. Codreanus Stellvertreter Ion Mota warnte die Rumäniendeutschen schon 1936 davor, eine „Filiale der hitleristischen Partei in Rumänien“ zu werden. Bei aller ausgeübten Gewalt war die tagsüber in „Ehrenmannschaften“ und „Lager“ strukturierte Garde dazu verpflichtet, dem einfachen Mann zu helfen: dem Arbeiter beim Hausbau und dem Bauern bei der Ernte. 1 Hans-Christian Maner, Voraussetzungen der autoritären Monarchie in Rumänien, in: Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime, a. a. O., S. 431–498; Florin Müller, Autoritäre Regime in Rumänien 1938–1944, in: ebd., S. 471–497; Mihai Sebastian, „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“. Tagebücher 1935–1944, Berlin 2005. 2 Patrice Bollon, Cioran. Der Ketzer, Frankfurt am Main 2006; Emil M. Cioran, Über Deutschland. Aufsätze aus den Jahren 1931–1937, Berlin 2011.
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Agrarromantik, Antikapitalismus, Antisemitismus, Faschismus, Führerkult und religiöses Sendungsbewusstsein formten eine hochexplosive Bewusstseinsmelange. In der Inszenierung von Gewalt werden „Feinde“ des eigenen gesellschaftlichen Erneuerungsanspruches mit spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Strafen wie der Folter am „Schandpfahl“ mitten im Dorf traktiert. 1937, in dem Jahr der letzten freien Parlamentswahlen, bevor vier aufeinanderfolgende totalitäre Regime bis 1990 an der Macht sind, verfügt die Garde über 34.000 „Nester“ im Land. Sie strebt aus diesen „Nestern“, aus der Illegalität, in die Regierung. Die Nationalliberalen werden bei dem Urnengang vom Dezember 1937 mit 36 Prozent der Stimmen stärkste Kraft, gefolgt von der Nationalen Bauernpartei mit 20 Prozent und Codreanus verlängertem politischen Arm „Alles für das Land“ mit 15,6 Prozent. Carol bildet eine schwache Übergangsregierung, um seine Königsdiktatur vorbereiten zu können. Im Februar 1938 setzt er an der Spitze seiner neuen Staatspartei, der „Front der Nationalen Wiedergeburt“, die Verfassung außer Kraft, verbietet zum fünften Mal die „Eiserne Garde“ und lässt Codreanu wegen „bewiesener terroristischer und verräterischer Aktivitäten“ verhaften und vor Gericht stellen. Zu den von der Verteidigung aufgebotenen Entlastungszeugen zählt der spätere Militärdiktator und Marschall Ion Antonescu, der es ablehnt, die Garde als konspirativ und staatsgefährdend einzustufen. Codreanu wird gleichwohl am 27. Mai 1938 zu zehn Jahren Zwangsarbeit und der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. In den Augen zahlreicher Beobachter macht ihn dies zum Nationalheiligen und Märtyrer. Horia Sima, der anstelle des Inhaftierten die Leitung der Garde übernimmt, propagiert die Strategie des „Widerstands bis in den Tod“, ungeachtet der dadurch für Codreanu drohenden Gefahren. In ungezügeltem Aktionismus und in unstillbarer Revolutionssehnsucht begeht der 32-jährige Sima, von Haus aus Gymnasiallehrer, eine Terrortat nach der anderen. Am 20. Oktober 1938 wird ein für den 6. Januar 1939 geplanter Staatsstreich der Anhänger Simas aufgedeckt. Daraufhin lässt Carol Codreanu in der Nacht vom 29. auf den 30. November 1938 ermorden. Sima setzt sich nach Deutschland ab, 252 in Gefängnissen einsitzende Legionäre werden hingerichtet. Carols diktatorischer Kurs, mit dem er den Wahlerfolg der Gardepartei neutralisieren wollte, hat ein blutiges Ende genommen. Seine Armee hält zu dem Zeitpunkt schon gemeinsame Truppenübungen mit der Wehrmacht ab. Rumänien erklärt am 24. August 1939, einen Tag nach dem Abschluss des HitlerStalin-Pakts, seine strikte Neutralität, doch die Angst vor der sowjetischen Expansion, der ungarischen Revisionspolitik und dem Zerfall der Kleinen Entente führt schließlich zum Eintritt in den Krieg auf deutscher Seite. Mit dem sogenannten Waffen-ÖlPakt vom März 1940 wird Rumänien zur „Benzintankstelle“ der Deutschen. Unter dem Druck Hitlers ernennt Carol Antonescu zum Ministerpräsidenten mit unbegrenzten Vollmachten und dankt am 6. September 1940 zugunsten seines Sohnes Mihai I. ab. Sima darf aus Deutschland zurückkehren und tritt in die Regierung ein. Am 22. November 1940 wird Rumänien Mitglied des Drei-Mächte-Pakts.
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Antonescu, 1882 in eine alte rumänische Offiziersfamilie hineingeboren, ist in Frankreich erzogen worden. 1933 Chef des Generalstabs in Bukarest, tritt er 1937 als Kriegsminister in die Übergangsregierung ein. Als Sympathisant Codreanus wird er im Juni 1939 verhaftet und verschleppt, aber Hermann Neubacher, der Leiter des deutschen Wirtschaftsamtes in Rumänien, lässt den Bukarester Oberbürgermeister wissen, dass ein „Unfall“ Antonescus in Berlin einen sehr schlechten Eindruck machen würde, woraufhin am 11. Juli 1940 die Freilassung erfolgt. Antonescu weiß, dass er den Deutschen sein Leben und sein neues Amt verdankt. Am 4. September 1940 wird er zum Ministerpräsidenten mit unbeschränkten Vollmachten, zum Conducatorul, ernannt. Sein erklärtes Ziel ist es, Deutschland zu beweisen, dass Rumänien ein besserer Bündnispartner ist als Ungarn, um so die im Zweiten Wiener Schiedsspruch abgetretenen Gebiete, insbesondere Siebenbürgen, zurückzubekommen. Keine zehn Tage an der Regierungsspitze, proklamiert er den „Nationallegionären Staat“ und macht Sima zum Vizepräsidenten des Ministerrats. Die Garde darf sich frank und frei zur Massenpartei entwickeln, aber der Konservative Antonescu teilt nicht deren immer aggressivere revolutionäre Visionen. Am 20. Januar 1941 entfesselt sie den lange erwarteten nationalen und sozialistischen Aufstand, den Antonescu mit der Rückendeckung Hitlers binnen weniger Tage niederschlagen lässt. Der „Nationallegionäre Staat“ wird abgeschafft, Rumänien ist vom 15. Februar 1941 an eine reine Militärdiktatur unter der Herrschaft Antonescus. Am 30. November 1940, bei dem feierlichen Staatsakt zu Ehren von Codreanu, hatte er den Trauerzug in Bukarest noch im grünen Hemd der Garde angeführt. Er zieht es nicht zuletzt auch deshalb aus, weil Hitler kein Interesse an einem nationalen faschistischen Rumänien hat. Sima flieht erneut nach Deutschland und wird in ein Konzentrationslager gesteckt; dabei hat er dort Bündnispartner erwartet. Im Urteil der Geschichte behielt die „Eiserne Garde“ ein ambivalentes Gesicht. Ihre „Romanisierungskommissionen“ standen in Wirklichkeit für Erpressung, Raub und Plünderungen, weshalb sie auch mit ihren Hilfsaktionen in der Bevölkerung mehr Angst und Schrecken als Zuversicht oder gar ideologische Nähe stiftete. Deshalb geriet auch ihr einziges Positivum, sich gegen den Ausverkauf der rumänischen Wirtschaft an Deutschland zu stemmen, schnell in ein schlechtes Licht. Auf jeden Fall war Rumänien spätestens vom Frühjahr 1941 an politisch, militärisch und wirtschaftlich ein deutscher Satellit.3 Antonescu wollte Bundesgenosse des „Führers“ sein. 3 Armin Heinen, Die Legion „Erzengel Michael“ in Rumänien. Soziale Bewegung und politische Organisation – Ein Beitrag zum Problem des internationalen Faschismus, München 1986, S. 38; dagegen: Andreas Hillgruber, Hitler, König Carol und Marschall Antonescu. Die deutsch-rumänischen Beziehungen 1938–1944, Wiesbaden 1954, S. 232; auch: Michael Shafir, Romania’s tortuous road to facing collaboration, in: Stauber (Hg.), Collaboration with the Nazis, a. a. O., S. 245–278; Constantin Iordachi, Faschismus, Charisma und Politik: Die Legion „Erzengel Michael“ im Zwischenkriegsrumänien 1927–1941; in: Armin Heinen und Oliver Jens Schmitt (Hg.), Inszenierte Gegenmacht von rechts. Die „Legion Erzengel Michael“ in Rumänien 1918–1938, München 2013, S. 20–68; Oliver Jens Schmitt, Cápitan Codreanu. Aufstieg und Fall des rumäni-
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Rumänien hat zum und im Unternehmen Barbarossa mehr Soldaten beigesteuert und verloren als jeder andere europäische Staat an der Seite Hitlers. Dreißig Divisionen standen der Wehrmacht zur Verfügung, von einer gleichwertigen Partnerschaft konnte trotzdem nicht die Rede sein. Anfang 1940 zählte das Land 20 Millionen Einwohner, Ende des Jahres, nach den von Deutschland erzwungenen Gebietsverlusten, nur noch 13,5 Millionen. Beide Staaten führten einen Parallelkrieg, Rumänien sogar einen „heiligen Krieg“ zur Befreiung Bessarabiens und der Nordbukowina, die an die Sowjetunion gefallen waren. Hitler weihte Antonescu am 12. Juni 1941 als ersten Verbündeten in den geplanten Überfall auf die Sowjetunion ein, lehnte es aber bis zuletzt ab, sich in die innenpolitischen Angelegenheiten Rumäniens einzumischen. Die von Antonescu mobilisierten 700.000 Mann befanden sich ausrüstungsmäßig auf dem Stand des Ersten Weltkriegs. Die Hälfte von ihnen überschritt am 22. Juni 1941 ohne Kriegserklärung die Demarkationslinie. Brutus Coste, der rumänische Geschäftsträger in Washington, erklärte dem amerikanischen Außenminister, der Kriegseintritt diene lediglich dazu, sich die von Stalin okkupierten Gebiete zurückzuholen. Da hatte die rumänische Armee zwischen Dnjestr und Bug schon eine neue Provinz mit dem Namen „Transnistrien“ und der Hauptstadt Odessa erobert und unterworfen. Das eigentliche Ziel war und blieb aber die Wiedergewinnung Siebenbürgens, und in Bukarest wuchsen die Zweifel, ob man Hitler hier auf seiner Seite wusste. Vom September 1942 an wurden die 3. und die 4. Rumänische Armee in den Raum Stalingrad verlegt, wo sie mit der Sicherung der Brückenköpfe und Flanken die schwierigsten Aufgaben übernehmen mussten. Stalin frohlockte, weil ihm genug Zeugnisse vorlagen, dass die Soldaten ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren. Beide Armeen wurden regelrecht zertrümmert, 150.000 Menschen starben, 135.000 Soldaten konnten in die Heimat zurückgeführt werden. Antonescu sprach in einer Denkschrift für Hitler auch jetzt noch von einem „eigenen Krieg gegen den Bolschewismus“, aber sein Generalstab ging längst andere Wege. Tatsächlich gelang es bis zum Herbst 1943, 24 voll ausgerüstete Divisionen auf die Beine zu stellen, was den Deutschen gegenüber aber verschleiert wurde, damit niemand sie an die Ostfront beorderte. Sie bildeten längst das Faustpfand für Geheimverhandlungen mit den Westmächten, um ihnen eine Invasion auf dem Balkan zusammen mit mächtigen einheimischen Truppen schmackhaft zu machen. Das hätte sich gegen Hitler und Stalin gerichtet. Churchill war nicht abgeneigt, aber die unbegrenzte Naivität Roosevelts, der auf das Einvernehmen mit „Uncle Joe“ in Moskau und auf eine Invasion im Westen setzte, lieferte Hunderte Millionen Menschen dem Bolschewismus aus. Initiator der Gespräche mit den Westmächten war Außenminister Mihai Antonescu, der mit Ion Antonescu entfernt verwandt war. Mihais Verhandlungen scheiterten aber daran, dass er die rumänischen Eroberungen schen Faschistenführers, Wien 2016; Harald Dinu Radu, Faschismus, Religion und Gewalt in Südosteuropa. Die Legion Erzengel Michael und die Ustascha im historischen Vergleich, Wiesbaden 2013.
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nicht preisgeben wollte und die Westalliierten nicht bereit waren, hinter dem Rücken Stalins eine Separatvereinbarung zu treffen. Churchill ließ Bukarest sogar bombardieren, um es zu direkten Verhandlungen mit den Sowjets zu zwingen. Hitler hingegen verlangte im April 1943 von Antonescu die Entlassung seines „verräterischen“ Außenministers, was aber unterblieb. Wenig später demonstrieren die Amerikaner mit massiven Luftangriffen auf die Ölfelder der deutschen „Benzintankstelle“, dass sie nicht gewillt sind, Rumänien zu schonen. Vice versa setzt Antonescu durch, dass die Deutschen für eine Tonne Öl drei- bis viermal so viele Waren liefern müssen wie zu Kriegsbeginn. Die Situation spitzt sich zu. Im Frühsommer 1944 bildet sich der Nationale Demokratische Block, in dem die Nationalliberalen und die Nationale Bauernpartei wieder den Ton angeben. Antonescu fliegt am 5. August 1944 zum letzten Mal in die Wolfsschanze nach Ostpreußen und lässt sich von Hitler einschüchtern. Längst geht es nicht nur um Siebenbürgen, die „Wiege des Rumänentums“, sondern darum, auf wessen Seite das Land steht. Am 20. August durchbricht die Rote Armee die Front am Pruth, rumänische Einheiten fliehen Hals über Kopf. Der 23. August 1944 wird der Tag des fliegenden Wechsels. Antonescu begibt sich wie beordert zur Audienz bei König Mihai I., wird von der Palastwache festgenommen und entlassen. Die Wehrmacht, so gibt Mihai zu verstehen, hat das Land zu verlassen. Hitler befiehlt Luftangriffe auf Bukarest, woraufhin am 25. August die Kriegserklärung an Deutschland erfolgt. Antonescu sieht sich an Stalin ausgeliefert, der gleichzeitig seinem Außenminister Mihai Antonescu die höchste sowjetische Auszeichnung, den Siegesorden, verleiht. Fünfzehn rumänische Divisionen marschieren ab sofort mit der Roten Armee. Die sozialdemokratische und die seit zwanzig Jahren verbotene kommunistische Partei sind im Nationalen Demokratischen Block Teil der Regierung. Trotzdem heißt es, man kämpft mit den Armeen der „Vereinten Nationen“, um der Bevölkerung die Angst vor den sowjetischen Truppen zu nehmen, deren Einmarsch nicht als Befreiung, sondern als Besatzung empfunden wird. In der offiziellen Historiographie werden die folgenden acht Monate an der Seite der Alliierten schnell glorifiziert und die 38 Monate im Bündnis mit Deutschland geraten genauso schnell in Vergessenheit. Die Koalitionsregierung unter Constantin Sanatescu führt die 1938 außer Kraft gesetzte Verfassung von 1923 wieder ein. Rumänien gehörte mit seinen am Beginn des Zweiten Weltkriegs fast 800.000 Jüdinnen und Juden zu den europäischen Staaten mit dem höchsten Bevölkerungsanteil dieser Religion und Nationalität. Ihre Diskriminierung und Verfolgung reicht bis weit in die Habsburger- und Türkenzeit zurück. 1866, als auf dem Kontinent manchenorts Gesetze zur Judenemanzipation erlassen werden, kommt es in Bukarest zu lauten Demonstrationen. Judenfeindliche Artikel finden sich erst nach dem Berliner Kongress 1878 und dann auch nur pro forma aus der Verfassung gestrichen, weil dem Land sonst keine Souveränität zuerkannt worden wäre. Hinter den Kulissen ging die Entrechtung weiter. Von den 1912 in Rumänien beheimateten 240.000 Juden besitzen nur 4000 die rumänische Staatsbürgerschaft, trotzdem wird im Ersten Weltkrieg aber unterschieds-
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los eingezogen. Auf den Pariser Friedenskonferenzen stimmten die rumänischen Vertreter der Verankerung von Bürger- und Minderheitenrechten in der Verfassung nur unter dem Druck der Siegermächte zu, die direkte Gegenreaktion war das Entstehen einer unverhohlen antisemitischen Bewegung. 1922 gründete Alexandru Cuza, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Jaşi, die „National-Christliche Union“, aus der die „Liga zur Christlich-Nationalen Verteidigung“ und die „Legion Erzengel Michael“ hervorgingen. Jenseits des Altreiches lebten größere jüdische Bevölkerungsgruppen vor allem in der Bukowina mit der durch eine reiche jüdische Kultur geprägten Hauptstadt Czernowitz und in Bessarabien, in dessen Metropole Chisinău es schon 1903 zu einem blutigen Pogrom gekommen war, das in der ganzen Welt Aufsehen erregt hatte. In beiden Gebieten siedelten zusammen 275.000 Juden. Im Kampf um diese Grenzprovinzen, die als historisch rechtmäßiger Teil Großrumäniens angesehen wurden, und unter dem maßgeblichen Einfluss Codreanus transformierte sich der bisherige, auf die Andersartigkeit, die wirtschaftliche Stellung und die angeblich große Zahl der Juden ausgerichtete Antisemitismus modern gesprochen zu einem catch-all term für eine hässliche, böse und dreckige Gegenwelt, für „die Höllenbrut“, wie Codreanu selbst es nannte. 1928 schreibt ein rumänischer Soziologe: „Unsere jungen Leute verlangen die Erledigung der Judenfrage selbst mit gewalttätigen Mitteln“.4 Das Hauptziel der Garde war eine Ethnokratie, ein von allem Fremden „gereinigtes“ Rumänien. Die Übergangsregierung vom 29. Dezember 1937 bis zum 10. Februar 1938, in der Cuza eine erhebliche Rolle spielte, nahm sich dieses Auftrages an. Der Antisemitismus war „kein Import aus dem Deutschen Reich, sondern seit 1937 die zentrale Staatsideologie.“5 Im Frühherbst 1940, also zeitgleich zu Antonescus Machtübernahme, werden die Juden mit mehreren Rechtsakten aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen, ihres Besitzes enteignet und mit dem Verbot belegt, die Ehe mit „Blutsrumänen“ zu schließen. Diese antijüdische Gesetzgebung war die radikalste in Europa, Deutschland eingeschlossen. Im Zuge der Legionärsherrschaft im Januar 1941 kommt es zu den ersten autonomen Inszenierungen von Gewalt. Der Tempel der sephardischen Juden in Bukarest geht in Flammen auf. Die Brandstifter stellen sich im großen Kreis um das Feuer, entkleiden drei Jüdinnen und treiben sie mit Fußtritten in die Mitte, damit sie wie Hexen verbrennen. In anderen Synagogen der Stadt werden Juden 4
Andrei Petre, zit. nach Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, a. a. O., S. 193; Mariana Hausleitner, Antisemitismus in Rumänien vor 1945, in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 169–178, Susanne Heim et al. (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 13: Slowakei, Rumänien und Bulgarien, bearb. von Mariana Hausleitner, Souzana Hazan und Barbara Hutzelmann, Berlin und Boston 2018, S. 46–74. 5 Mariana Hausleitner, Auf dem Weg zur „Ethnokratie“. Rumänien in den Jahren des Zweiten Weltkrieges, in: Dieckmann, Quinkert und Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen, a. a. O., S. 78–112, hier: S. 81.
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mit Metzgermessern hingerichtet. Ihre Leichen hängt man wie Vieh an Schlachterhaken, versehen mit einem Zettel „Koscheres Fleisch zu verkaufen!“ Das erklärte Ziel der rumänischen Beteiligung am deutschen Überfall auf die Sowjetunion war die Wiedergewinnung der verlorengegangenen Gebiete Nord-Bukowina und Bessarabien, was binnen weniger Tage gelang. Die dortigen Juden saßen in der Falle: Sie wurden ausgeplündert und Opfer von Massakern, in ihrer Mehrzahl aber nach „Transnistrien“ deportiert, jenes ukrainische Gebiet zwischen dem Dnjestr und dem südlichen Bug, das von 1941 bis 1944 unter rumänischer Kontrolle stand. Man warf ihnen vor, im „Russenjahr“ 1940 mit den Sowjets paktiert, kollaboriert und spioniert zu haben. Sie waren „Verräter“. Antonescu persönlich befahl ihre Vertreibung und wies seine Minister an: „Holt so viel wie möglich aus Transnistrien heraus, aber hinterlasst nichts Schriftliches.“ Er sah das Terrain, das niemals rumänisch gewesen war, als Faustpfand für die Rückgabe Siebenbürgens an, das Schicksal der dort lebenden 3,4 Millionen Menschen kümmerte ihn nicht. Ende 1941 war ihre Zahl auf 2,2 Millionen gesunken. „Sogar die Deutschen waren von der sinnlosen Zerstörung, den Plünderungen, Vergewaltigungen und Morden der Rumänen schockiert.“6 Allein die Bevölkerung von Odessa sank von 620.000 auf 300.000 Einwohner. Antonescus eigentliches, übergreifendes Ziel bestand in der Beseitigung aller 275.000 Juden außerhalb Altrumäniens. Schon wenige Tage nach dem Beginn des Unternehmens Barbarossa waren alle Straßen, Bahngleise und Brücken über den Dnjestr mit Leichen bepflastert. Dieses viel diskutierte, in seinen Ursachen und Dimensionen bis heute nicht endgültig geklärte Massaker von Jaşi war eine Station auf dem Weg in diese Hölle. Jaşi lag unmittelbar an der Grenze, im alten Fürstentum Moldau. Am 26. Juni 1941 fallen Bomben aus sowjetischen Flugzeugen auf die Stadt, die angeblich von Juden Signale bekommen haben. In der Nacht vom 28. auf den 29. Juni marschieren die Deutschen und Rumänen ein. Aus jüdischen Häusern soll auf sie geschossen worden sein. Es handelt sich um eine fingierte Aktion von Mitgliedern der „Eisernen Garde“ und des rumänischen Sicherheitsdienstes, der Ohlendorfs Einsatzgruppe D nachgebildet ist. 5000 Juden finden sich sofort im Innenhof der Polizeizentrale kaserniert und unter Beschuss genommen. Antonescu kabelt aus Bukarest: „Alle kommunistischen Juden sind zu erschießen“, woraufhin alle Juden aus Jaşi kommunistisch sind. Es ist mit über 13.000 Toten das erste Großpogrom des Zweiten Weltkriegs und der Auftakt zu einem „öffentlichen Schlachtfest, zur karnevalesken, rituellen Austreibung und Reinigung (von allem Fremden…) mit den Mitteln des Blutrauschs“7. Schnell zieht die mordende 6 Mazower, Hitlers Imperium, a. a. O., S. 310; Herwig Baum, Varianten des Terrors. Ein Vergleich zwischen der deutschen und rumänischen Besatzungsverwaltung in der Sowjetunion 1941–1944, Berlin 2011. 7 Armin Heinen, Rumänien, der Holocaust und die Logik der Gewalt, München 2007, S. 182; Henry L. Eaton, The Origins and Onsets of the Romanian Holocaust, Detroit 2013; Jean Ancel, Der Pogrom von Iaşi am 29. Juni 1941, in: Wolfgang Benz und Brigitte Mihok (Hg.), Holocaust an der
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Soldateska weiter. Im Oktober steht sie vor Odessa, und die Inszenierung wiederholt sich: Juden sollen es gewagt haben, die Festung der Stadt zu verteidigen, das Hauptquartier der Besatzer wird von sowjetischen Partisanen in die Luft gesprengt. Antonescu reagiert wie zuvor. Die Massenerschießungen der zusammengetriebenen Juden beginnen am 23. Oktober und dauern mehrere Tage und Nächte. Deutsche und Rumänen arbeiten Hand in Hand. Mit fast 50.000 Opfern übertrifft das Massaker von Odessa dasjenige von Babij Jar. Mitten in der Terroraktion wird Odessa zur Hauptstadt von Transnistrien gemacht, einer rechtlosen Provinz, genauer: einer Kolonie mit unsicherem Status und unsicheren Grenzen. Sie unterstand seit dem 19. August der rumänischen Zivil- und faktisch auch Militärverwaltung, aber sie war kein rumänisches Hoheitsgebiet, sondern besetztes Land, an dessen Dnjestr-Grenze auch weiterhin Pass- und Zollkontrollen durchgeführt wurden. In diesem Terrain errichtete man nunmehr einhundert Ghettos und Arbeitslager, die zur Todeszelle für die Juden aus der Bukowina und aus Bessarabien wurden. Als Wilhelm Filderman, der Präsident der Föderation Jüdischer Gemeinden in Rumänien, und der Oberrabbiner Alexander Safran am 19. Oktober 1941 bei Antonescu vorstellig werden und ihn um die Einstellung der Deportationen nach Transnistrien bitten, wirft er ihnen Verrat am Vaterland vor und löst die Föderation zwei Monate später auf. Nach der Einnahme von Odessa ging er von einem unweigerlichen Sieg der Achsenmächte aus, das Schicksal der Juden hatte sich dem unterzuordnen. „In keinem anderen europäischen Land radikalisierten einheimische Kräfte aus eigenem Antrieb die Judenverfolgung auch ohne die deutschen Einsatzkommandos so sehr wie in Rumänien.“8 Hinter alledem stand Antonescu – bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Der Holocaust in Rumänien ist im September 1942 abgeschlossen, genaue Opferzahlen hierzu gibt es bis heute nicht. Schriftliches statistisches Material wurde oft – bewusst – nicht erstellt, der Exzesscharakter der Taten – vielerorts erfolgte das Morden auf alleinige lokale Initiative – bedeutete, dass hinterher niemand darüber Rechenschaft ablegen wollte, und schließlich hat man die Zahlen – meist nach unten – gefälscht. Nach den jüngsten Forschungsergebnissen gilt die folgende Schreckensbilanz: Bis zu 60.000 Juden sind schon 1941 in der Bukowina und in Bessarabien getötet worden. Von den 150.000 nach Transnistrien Deportierten haben zwei Drittel nicht überlebt. Gleichzeitig wurden dort 175.000 autochthone ukrainische Juden von Rumänen, der deutschen Heeresgruppe Süd sowie von volksdeutschen und ukrainischen Milizen ermordet. Den „Selbstschutzeinheiten“ der Transnistriendeutschen fielen 30.000 Jüdischgläubige zum Opfer, und von den 120.000 aus dem rumäni-
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Peripherie. Judenpolitik und Judenmord in Rumänien und Transnistrien 1940–1944, Berlin 2009, S. 31–44; Simon Geissbühler, Blutiger Juli. Rumäniens Vernichtungskrieg und der vergessene Massenmord an den Juden 1941, Paderborn 2013; Diana Dumitru, The State, Antisemitism, and Collaboration in the Holocaust. The Borderlands of Romania and the Soviet Union, New York und Cambridge 2016. Sven F. Kellerhoff, Der vergessene Holocaust, in: „Die Welt“ vom 30.8.2006, S. 23.
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schen Hoheitsgebiet, dem „Altreich“, vertriebenen Juden ist nach dem Krieg höchstens ein Drittel wieder zurückgekehrt. Aus dem Kreis der 25.000 nach Transnistrien verschleppten Roma sind höchstens 10.000 nicht getötet worden. Insgesamt bedeutet dies, dass etwa 380.000 rumänische Juden „unter militärischer und ziviler Verantwortung Rumäniens“9 (Wolfgang Benz) umgebracht worden und die gleiche Zahl, 380.000, am Leben geblieben sind, ein nirgendwo in Europa erreichter Anteil. Das ist immer wieder als Verdienst und Großtat Antonescus herausgestellt worden, und doch zeigt sich gerade hier die Schäbigkeit und Skrupellosigkeit eines Mannes, der über eine Handlungsfreiheit verfügte, von der andere europäische Machthaber nur träumen konnten. Solange Deutschland noch auf der Siegerstraße war, verwies Außenminister Mihai Antonescu mit Stolz darauf, dass Rumänien „zu den Nationen gezählt wird, die zur entschiedenen Zusammenarbeit bei der Endlösung der Judenfrage bereit sind, nicht nur der regionalen, sondern auch der europäischen“.10 Eichmann ging noch im Sommer 1942 davon aus, dass die Zusage Marschall Antonescus, die Deportation der Juden aus dem rumänischen „Altreich“ beginne mit dem 10. September 1942, auch weiterhin gültig sei. Doch einen Monat später befahl er die Verschiebung der „Aktion“ auf das Frühjahr, und als dieses anbrach, waren die rumänischen Truppen vor Stalingrad restlos vernichtet. Der opportunistische Antisemit, der Juden „in aller Öffentlichkeit hatte abschlachten lassen, als die Nazis noch vorsichtig ausprobierten, wie weit man gehen könne“ (Hannah Arendt), fing an umzudenken. Das fiel ihm umso leichter, als zwischenzeitlich zwei Großindustrielle jüdischer Herkunft, Baron Franz von Neumann und Max Auschnitt, 50 Millionen Schweizer Franken an die Organisation Consiliu de Patronaj gezahlt hatten, die von Antonescus Frau Maria geleitet wurde. Anfang 1943 schrieb Himmler resigniert an Kaltenbrunner, den Chef des Reichssicherheitshauptamtes, dass in Sachen „Judenlösungsfragen in Rumänien“ nichts zu machen sei. Die Verfolgung und Ermordung der Juden in Rumänien von 1940 bis 1944 war wahrlich nicht das alleinige Werk Antonescus, aber „ihm lastet die Hauptschuld an“11, denn er hätte sie eindämmen, ja phasenweise sogar verhindern können. Stattdessen stachelte er den Hass der eigenen Leute noch an und verordnete Pogrome. Die seit dem Herbst 9 Wolfgang Benz, Rumänien und der Holocaust, in: ders. und Mihok (Hg.), Holocaust an der Peripherie, a. a. O., S. 11–30, hier: S. 30. 10 Zit. nach Mazower, Hitlers Imperium, a. a. O., S. 317. 11 Heinen, Rumänien, der Holocaust und die Logik der Gewalt, a. a. O., S. 181; Sebastian Balta, Rumänien und die Großmächte in der Ära Antonescu (1940–1944), Stuttgart 2005; Hildrun Glass, Zerbrochene Nachbarschaft. Das deutsch-jüdische Verhältnis in Rumänien (1918–1938), München 1996; dies., Minderheit zwischen zwei Diktaturen. Zur Geschichte der Juden in Rumänien 1944–1949, München 2002; dies., Deutschland und die Verfolgung der Juden im rumänischen Machtbereich 1940–1944, München 2014; Randolph L. Braham (Hg.), The Destruction of Romanian and Ukrainian Jews during the Antonescu Era, New York 1997; Paul Shapiro, The Jews of Chisinâu (Khisinev): Romanian Reoccupation, Ghettoization, Deportation, in: ebd., S. 135– 193.
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1942 verfolgte und durchschaubare Strategie, in den Geheimverhandlungen mit den Westmächten nicht mit blutigen Händen dazustehen, war nichts anderes als das umgedrehte Spiegelbild jenes unbarmherzigen „Antisemitismus der Tat“, mit dem Antonescu ab 1940 die Unterstützung des Reiches in Bessarabien und in der Bukowina erreichte. Rumänien ist dadurch zum autonomen, aus eigenem Antrieb agierenden Mittäter des Holocaust geworden. Am 10. Dezember 1940 notiert der deutsche Konsul im siebenbürgischen Kronstadt: „Im Geheimen wird die Ansicht propagiert, dass nach der Erledigung der Judenfrage, die nach Meinung der Legionäre von diesen allein gelöst wird (sic!), die Zeit käme, wo man auch die Volksdeutschen hinauswerfen müsse (…). “ Die Siebenbürger Sachsen waren seit der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung im Land, während die Banater Schwaben und die Bessarabien-, Bukowina- und Dobrudscha-Deutschen erst im Gefolge der Zurückdrängung der Türken vor Wien, also ab 1683, gekommen waren. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte man die jahrhundertealten Privilegien eingebüßt und war zum rumänischen Staatsbürger geworden. 1930 gab es allein zwölf deutsche Siedlergruppen mit zusammen 750.000 Menschen, 1921 hatten sie in Czernowitz den „Verband der Deutschen in Rumänien“ gegründet, der zunehmend nicht mehr auf Konsens und Ausgleich mit der Bukarester Regierung setzte, sondern auf „Selbsthilfe“ und ab 1933 auf Fremdhilfe. Unter dem neuen Namen „Nationalsozialistische Erneuerungsbewegung der Deutschen in Rumänien“ übernahmen die radikalen Kräfte die Führung im „Verband“, aus dem mithilfe der „Volkdeutschen Mittelstelle“ die „Volksgemeinschaft der Deutschen in Rumänien“ gebildet wurde. Im November 1940, unmittelbar nach der Gründung der „NSDAP der deutschen Volksgruppe in Rumänien“, erfolgt die Gleichstellung mit „den Angehörigen des rumänischen Volkstums“. Am Überfall auf die Sowjetunion waren 40.000 Volksdeutsche in rumänischer Uniform beteiligt, 63.000 meldeten sich bis 1943 freiwillig zur Waffen-SS. Sie wurden gemäß „Führererlass“ damit automatisch deutsche Staatsbürger. Da die Anwerbung durch ein Abkommen zwischen Berlin und Bukarest rechtlich geregelt sowie von allen rumänischen Staatsbehörden gefördert wurde und Deutschland zusammen mit Rumänien als Kriegsalliiertem gegen denselben Feind kämpfte, hatte keiner der Rekrutierten ein Problem mit etwaigen Staatsloyalitäten. Man wähnte sich in einem Präventivkrieg für die gute, gemeinsame Sache: für ein Großrumänien an der Seite Großdeutschlands. Gerade die Siebenbürger Sachsen hatten sich von jeher „als Bollwerk gegen die östliche Welt“ empfunden. Deshalb flohen auch nur wenige von ihnen, als Antonescu zur völligen Überraschung der Volksgruppe im August 1944 die Fronten wechselte und sie jetzt innerhalb der rumänischen Bevölkerung mit der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik identifiziert wurden. Dabei hatte dieser Vorgang einerseits schon 1933 eingesetzt und war andererseits ab 1940 von Regierung, Volk und Staat Rumäniens in erheblichem Maße mitgetragen worden. Was der vergleichsweise massenhafte rumäniendeutsche Eintritt in die Waffen-SS und deren Scheitern an der Ostfront langfristig, in historischer Perspektive, bedeutet haben, ist umstritten. Klar war, dass damit jedwede
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Deutschland-Vision und -Utopie ad acta gelegt und „eine verspätete, aber authentische Identifizierung mit Rumänien“ eingeleitet wurde. Ob dies aber auch die „Grundsteinlegung einer vollkommen neuen Periode der deutschen Kultur in Rumänien“12 bewirkte, steht dahin. Bei Kriegsende wurde die „Deutsche Volksgruppe in Rumänien“ zunächst einmal aufgelöst und ihre Leitung interniert. Die „Epuratie“, das Hinaussäubern aller Kompromittierten, auch derjenigen von vor 1940, stand auf der Tagesordnung, doch nach welchen Maßstäben sollte man hier vorgehen? Nach dem Volksgruppengesetz von 1940 hatte jeder Rumäniendeutsche der Minderheit angehört, seine „Rassenüberlegenheit“ gegenüber den Rumänen zum Ausdruck gebracht und galt als belastet. In der Presse ist im September 1944 erstmals von der „fünften Kolonne“ die Rede, von den Wahlen 1946 wird die Minderheit ausgeschlossen. Eine Hetzjagd durch die Besatzungstruppen beginnt, die Rumänen selbst halten sich zurück. Am 10. Januar 1945 gibt die Bukarester Regierung dem massiven sowjetischen Druck nach und stimmt der Deportation von 80.000 Deutschen in Viehwaggons in die Arbeitslager des Donezbeckens, von Krivoi-Rog und Dnjepropetrowsk zu. Die Mutter der Banatdeutschen Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller gehört zu ihnen, was sie in ihrem Roman „Atemschaukel“ ebenso schonungslos dargestellt hat wie die SS-Vergangenheit ihres Vaters.13 Die Westalliierten stellen sich der Sowjetunion im Rahmen ihrer Bestimmungen über die „Nutzung deutscher Arbeit“ an die Seite. Die letzten Deportierten kommen erst 1955 zurück, 12.000 sterben. Frühe, bis in das Jahr 1945 zurückgehende Proteste der Bukarester Administration in Moskau gegen die Zwangsverschleppung belegen, dass man keineswegs auf eine Auslöschung der deutschen 12 Paul Milata, Zwischen Hitler, Stalin und Antonescu. Rumäniendeutsche in der Waffen-SS, Köln, Weimar und Wien 2009, S. 299; Mariana Hausleitner, Die Donauschwaben 1868–1948. Ihre Rolle im rumänischen und serbischen Banat, Stuttgart 2014; dies.,, Die Radikalisierung von Deutschen in Rumänien vor ihrer Gleichschaltung 1932–1940, in: Olschowsky und Loose (Hg.), Nationalsozialismus und Regionalbewusstsein im östlichen Europa, a. a. O., S. 189–208; Elisabeth Weber und Florian Danecke, „Arisierung“ statt „Rumänisierung“ – Die Beteiligung der Deutschen Volksgruppe an der Beraubung der jüdischen Bevölkerung Rumäniens, in: Olschowsky und Loose (Hg.), Nationalsozialismus und Regionalbewusstsein, a. a. O., S. 209–228; Otto Traşcă, Rumäniendeutsche in Wehrmacht und Waffen-SS 1940–1944, in: Kochanowski und Sach (Hg.), Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei, a. a. O., S. 273– 316; ders., Die Deutsche Volksgruppe und die Tätigkeit des Amtes VI des Reichssicherheitshauptamtes (SD-Ausland) in Rumänien 1940–1944, in: Olschowsky und Loose (Hg.), Nationalsozialismus und Regionalbewusstsein, a. a. O., S. 269–289; Harald Roth, Kleine Geschichte Siebenbürgens, Wien, Köln und Weimar 2012. Ursula Ackrill, Zeiden, im Januar, Berlin 2015, legt in ihrem belletristischen Werk dar, dass die Siebenbürger Sachsen dem Dienst in der Waffen-SS gern folgten, weil sie im eigenen Land hinter den Rumänen und Ungarn fast schon wie die Juden und die Zigeuner behandelt wurden. 13 Michael Braun, Die Erfindung der Erinnerung: Herta Müllers Atemschaukel, in: ders., Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskulturen in Literatur und Film, Münster 2012, S. 141–151.
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Bevölkerung als ethnische Gruppe aus war, allerdings werden im eigenen Land gleichzeitig Arbeitslager eingerichtet, in denen Angehörige deutscher Nationalität interniert werden, die sich der Deportation in die Sowjetunion hatten entziehen können. Das Dekretgesetz vom 23. März 1945 verfügt die Enteignung von 90 Prozent des von Deutschen beackerten Bodens und landwirtschaftlichen Besitzes, ausgenommen waren nur jene Deutschen, die nach dem 23. August 1944 in der rumänischen Armee gekämpft hatten. Die kommunistische Partei Rumäniens bezeichnet die Minderheit im August 1946 nicht als Nationalität bzw. als ethnische Gruppe, sondern unterschiedslos als „Kollaborateure“, bereut zwei Jahre später aber, alle Deutschen „in einen Topf “ geworfen zu haben.14 1949 ruft sie das „Deutsche Antifaschistische Komitee in Rumänien“ ins Leben, und in der Verfassung vom 24. September 1952 sind allen „nationalen Minderheiten“ die gleichen Rechte garantiert, die dem rumänischen Volk zugestanden werden. Trotzdem bleiben Diskriminierungen und Schikanen an der Tagesordnung. Eine erste Ausreisewelle setzt ein. 1956 hat von den ursprünglich 750.000 Rumäniendeutschen die Hälfte das Land verlassen. 1967, nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, nimmt die Auswanderung nach Westdeutschland erneut zu. Der Weltklassehandballer Hansi Schmidt und der Sänger Peter Maffay sind dabei. Schmidt hat vor dem Geheimdienst Securitate eine derartige Angst, dass er es noch auf Jahre hinaus nicht wagt, an den Auswärtsspielen der deutschen Nationalmannschaft in Rumänien teilzunehmen. 1978 vereinbaren Helmut Schmidt und Nicolae Ceauşescu eine jährliche Ausreisequote von 12.000 bis 16.000 Personen, für die anfangs je 5000 und zum Schluss je 7800 DM bezahlt werden müssen. Ceauşescu hatte zuvor 7000 rumäniendeutsche und rumänienungarische Dörfer einebnen lassen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs setzen sich binnen sechs Monaten 111.000 Rumäniendeutsche für immer aus ihrer angestammten Heimat ab. Heute zählt die Minderheit dort nur noch 36.000 Menschen. Klaus Johannis, der langjährige Bürgermeister von Hermannstadt (Sibiu), ist einer von ihnen. 2012 wurde er mit 78 Prozent der Stimmen zum vierten Mal wiedergewählt und 2014 gewinnt er mit einer Mehrheit von 55 Prozent die Wahl zum Staatspräsidenten Rumäniens. Nach der Kriegserklärung Rumäniens an Deutschland entsannen die Nationalsozialisten sich Horia Simas, entließen ihn aus dem KZ und brachten ihn nach Wien, wo er am 10. Dezember 1944 sein spöttisch „Regierung ohne Land“ genanntes Exilkabinett vorstellen durfte. Fünf der acht Minister waren Mitglied der „Eisernen Garde“. Tatsächlich bringt Sima noch eine 7000-köpfige „Nationalrumänische Armee“ zustande, die gegen die anrückenden Sowjettruppen zum Einsatz kommt, aber dann muss er in Kärnten untertauchen. 1946 wird er in Bukarest zum zweiten Mal zum Tode verurteilt, diesmal von den Kommunisten, aber er entkommt nach Spanien, wo er in den 1960er 14 Vgl. Mathias Beer, Rumänien: Regionale Spezifika des Umgangs mit deutschen Minderheiten am Ende des Zweiten Weltkriegs in Südosteuropa, in: Beer, Beyrau und Rauh (Hg.), Deutschsein als Grenzerfahrung, a. a. O., S. 279–303, hier: S. 300.
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Jahren eine „Rumänische Legionäre Bewegung“ aufbaut. Von dort geht er nach Brasilien, eine „Geschichte der Eisernen Garde“ ist sein letztes Lebenszeichen. Deren Mitglieder sind in Rumänien selbst noch bis 1956 im Untergrund tätig. Am 6. März 1945 übernimmt die aus Kommunisten und Sozialisten gebildete „Nationale Demokratische Front“ in Bukarest die Macht. Sechs Wochen später ergeht ein Gesetz zur Säuberung des Landes von „Faschisten“. Es unterscheidet ausdrücklich zwischen aktiven Politikern mit Entscheidungsgewalt, die für die „Zerstörung des Landes verantwortlich“ waren, und „Kriegsverbrechern“, die in Terrorakte, Zwangsarbeit und Deportationen verwickelt waren. Zwei „Volksgerichte“, eins in Bukarest und eins in Klausenburg, entstanden, in denen summa summarum 2700 Fälle schwerer Verbrechen untersucht wurden. Da Rumänien sich als Staat sah, der auf der richtigen Seite gegen das Dritte Reich gekämpft und gesiegt hatte, sollten möglichst wenige „Kriegsverbrecher“ abgeurteilt werden, sodass viele davonkamen, die rechtzeitig die Front gewechselt hatten. Von den 2700 Fällen führten 668 zu einem Urteil, das aber oft den Zusatz „in absentia“ enthielt. Real verurteilt wurden 481 Personen, von denen aber nur 26 Rumänen waren, 370 hingegen Ungarn, 83 Deutsche und zwei Juden, was einiges über die Gerichtsbarkeit aussagt. In Klausenburg wurden 100 Todes- und 163 lebenslängliche Gefängnisstrafen verhängt. Höhepunkt aller Verfahren war selbstverständlich der vom Mai 1946 an geführte Prozess gegen 24 Hauptbeschuldigte, unter ihnen die beiden von der Sowjetunion ausgelieferten Antonescus. Dreizehn Angeklagte sahen sich zum Tode verurteilt, aber nur vier ereilte dieses Schicksal. Ion und Michai Antonescu wurden am 1. Juni 1946 erschossen, noch im selben Monat löst man die „Volksgerichte“ nach nur einjähriger Tätigkeit wieder auf. Dass alles so schnell abgelaufen und auf einen vergleichsweise kleinen Personenkreis beschränkt war, gab der Vorstellung Raum, jetzt seine Pflicht und Schuldigkeit getan zu haben. Nur einige wenige Verfahren werden noch bis 1951 vor ordentlichen Gerichten weitergeführt. Die Kriegsverbrecherprozesse haben damit nicht wenig zur Verfestigung des nationalen Unschuldsmythos beigetragen. Die Nationale Bauernpartei, die Nationalliberalen und die Kommunisten arbeiteten hier (noch) Hand in Hand. Durch die manipulierten Wahlen von 1946 und die Fusion der kommunistischen mit der sozialistischen Partei zur Rumänischen Arbeiterpartei im November 1947 wird der stalinistischen Einheitsparteiendiktatur unter Georghe Georghiu-Dej der Weg bereitet. König Mihai I. muss am 30. Dezember 1947 abdanken und emigrieren. Die neue Administration gab den Juden zwar die rumänische Staatsbürgerschaft zurück, tat aber nichts gegen den nach wie vor verbreiteten Antisemitismus. Der erst schüchtern begonnene Entnazifizierungsprozess wurde abgebrochen. Ab 1948 ist die Veröffentlichung von Büchern, in denen die rumänische Verantwortung für den Holocaust dargelegt war, verboten. 1954 inszenierte die Securitate einen Schauprozess gegen dreizehn Mitglieder der Jüdischen Gemeinde. Die Massenmorde in Transnistrien waren und blieben ein Tabu. Wenn sie hier und da einmal erwähnt wurden, galten sie als ausschließlich deutsche Verbrechen. Auf das rumänische Konto gingen lediglich „ein paar
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Rempeleien und eingeschlagene Fenster“15. Auch der Tod Georghiu-Dejs und die Amtsübernahme Ceauşescus 1965 haben an dieser Sichtweise kaum etwas geändert. In der Folge verließen immer mehr Juden das Land. Während 1956 noch 146.000 in ihm lebten, schmolz ihre Zahl bis 1977 auf 25.000, und seit 1992 sind weniger als 10.000 von ihnen in Rumänien beheimatet. Nicht einmal die große Zeitenwende 1989/1990 hat etwas daran geändert, dass die rumänische Geschichtsschreibung die eigenen grausamen Taten „weder aufgegriffen noch wissenschaftlich aufgearbeitet hat. Sie wurden schlicht verschwiegen.“ Am „Mythos von der grundsätzlichen und permanenten nationalen Unschuld“16 durfte nicht gerüttelt werden. Der Holocaust kam und kommt im Schulgeschichtsunterricht nicht vor, „und wer etwas weiß, schweigt aus Gewohnheit auch heute.“17 Dreh- und Angelpunkt der rumänischen Vergangenheitsaufarbeitung war und blieb die Person Antonescus und die Ambivalenz seines Vermächtnisses. Der Parallelkrieg gegen die Sowjetunion 1941 bis 1944 scheint vielen inzwischen als gerechtfertigt, weil er der Rückeroberung Bessarabiens und der Bukowina gedient habe. Die Republik Moldawien, die zu großen Teilen mit dem historischen Bessarabien territorial deckungsgleich ist, wird von Rumänien 1991 allerdings völkerrechtlich anerkannt. Überhaupt habe Antonescu im Zweiten Weltkrieg zu jedem Zeitpunkt richtig gehandelt, sowohl an der Seite Deutschlands wie auch an der Seite der Sowjetunion. Darüber hinaus habe der Patriot, Hingerichtete eines kommunistischen Schauprozesses und Märtyrer mehr Juden gerettet als in den Tod geschickt. 1991 findet auf Betreiben der regierenden „Front der nationalen Rettung“ im Bukarester Senat ihm zu Ehren sogar eine Gedenkfeier statt, der lediglich die Abgeordneten der ungarischen Minderheit fernbleiben. Die wiederbegründete Nationale Bauernpartei fordert 1999 an gleicher Stelle seine vollständige Rehabilitierung. Seit 1993 stehen wieder Denkmäler des Marschalls im Land. Statt einer kritischen Auseinandersetzung begann ein neuer Mythenkult um den Helden und „Heiligen Krieger“. Schuld am Schicksal Rumäniens waren immer nur die anderen, die Feinde und die „Fremden“: Deutsche, Russen, Ungarn, Juden oder Roma. Sabin Manuilă, der als leitender Statistiker unter Antonescu die Vertreibung von 35 Millionen Nichtrumänen geplant hatte, galt auf einmal als patriotischer, seriöser Wissenschaftler. Er hatte mit der Volkszählung vom April 1941 in enger Zusammenarbeit mit deutschen Bevölkerungsplanern die Voraussetzungen für die ethnische Ho15 Hildrun Glass, Die Rezeption des Holocaust in Rumänien (1944–1947), in: Mariana Hausleitner, Brigitte Mihok und Juliane Wetzel (Hg.), Rumänien und der Holocaust. Zu den Massenverbrechen in Transnistrien 1941–1944, Berlin 2001, S. 153–166, hier: S. 158; Brigitte Mihok, Die Deportationen nach Transnistrien und ihre Verdrängung in der rumänischen Geschichtsschreibung, in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 179–191. 16 Mihok, Die Deportationen nach Transnistrien und ihre Verdrängung in der rumänischen Geschichtsschreibung, a. a. O., S. 179 f. 17 Hilke Gerdes, Rumänien. Ein Länderporträt, Berlin 2012, S. 135.
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mogenisierung Rumäniens geschaffen. Spätestens jetzt war klar, dass der Untergang von Ceauşescus nationalkommunistischer Ideologie nicht nur das Bedürfnis nach Demokratie, sondern mehr noch nach einer „makellosen nationalen Identifikationsfigur“18 hervorgerufen hatte. Antonescus Absetzung 1944 galt als Beginn der sowjetischen Herrschaft über Rumänien. In der Bukarester Presse hieß es bereits 1991, dass „Rumänien keinesfalls zu den faschistischen Mächten“ gezählt habe19, und statt eines Demokratisierungsprozesses war der Alltag von „dumpfer Xenophobie“ und einer „völkisch angehauchten Sündenbockmentalität“20 beherrscht. Bis ins akademische Milieu hinein wurden Gedenkfeiern für die „Legion Erzengel Michael“, die „Eiserne Garde“ und Corneliu Codreanu zelebriert. In diesem Klima gedieh die „Großrumänien-Partei“ von Corneliu Vadim Tudor, in der viele Mitglieder versammelt sind, die bereits Ceauşescu gehuldigt haben. Antisemitismus, Leugnung der in Transnistrien begangenen Verbrechen, der begehrliche Blick hinüber zur Republik Moldawien und die Forderung nach Amnestie aller in den Nachkriegsprozessen Verurteilten gehören zu ihren programmatischen Schwerpunkten. Zwar erreichte sie bei den Wahlen 1992 nur 4 Prozent, aber der seit 1990 amtierende Staatspräsident Ion Iliescu, dessen „Front zur nationalen Rettung“ 1993 zur „Partei der Sozialen Demokratie“ transformiert war, ging 1995 eine Allianz mit ihr ein. Bei den Wahlen im Jahr 2000 wurde die „Großrumänien-Partei“ mit 20 Prozent zweitstärkste politische Kraft hinter der „Sozialen Demokratie“, die 37 Prozent einfuhr, aber diesmal wandte sich der an die Macht zurückgekehrte Iliescu von ihr ab. Erneut ging es, wie kaum anders zu erwarten, um Antonescu. Hatte das Parlament noch 1999 die Novelle eines neun Jahre zuvor verabschiedeten Dekret-Gesetzes verworfen, nach der Personen, die von 1940 bis 1944 „aus ethnischen oder rassischen Gründen verfolgt oder deportiert wurden“, eine Entschädigung erhalten sollten, so wehte in der Gedächtnispolitik jetzt ein anderer Wind. 2001, während Tudor seine Heiligsprechung fordert, beginnen die Planungen für ein Gesetz gegen Ehrungen Antonescus, die ersten Statuen werden abgebaut und nach ihm benannte Straßen umbenannt. 2002 ergeht ein Gesetz, das die Leugnung des Holocaust unter Androhung von Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren verbietet. Die „Großrumänien-Partei“ schreit auf, und ihr Chefhistoriker 18 William Totok, Antonescu-Kult und die Rehabilitierung der Kriegsverbrecher, in: Benz und Mihok (Hg.), Holocaust an der Peripherie, a. a. O., S. 197–212, hier: S. 197; Ruxandra Ivan, Der Stellenwert totalitärer Erfahrungen im aktuellen politischen Diskurs Rumäniens, in: Thomas Großbölting und Dirk Hofmann (Hg.), Vergangenheit in der Gegenwart. Vom Umgang mit Diktaturerfahrungen in Ost- und Westeuropa, Göttingen 2008, S. 75–82; Rudolf Gräf, Ein Ende ohne Neuanfang. Der Sturz von Nicolae Ceauşescu im Jahre 1989, in: Großbölting und Schmidt (Hg.), Der Tod des Diktators, a. a. O., S. 223–238. 19 „Expres magazin“ vom 25.6.1991. 20 Totok, Antonescu-Kult und die Rehabilitierung der Kriegsverbrecher, a. a. O., S. 204 und 203; Lucian Boia, Rumänien: Unterschiedliche Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 2, S. 541–568.
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Gheorghe Buzatu setzt in einer Parlamentskommission eine Zusatzerläuterung durch, mit der die Massenmorde in Transnistrien hiervon ausgenommen sind. Als sogar Iliescu selbst Ende 2002 verlautbaren lässt, dass es in Rumänien keinen Holocaust gegeben habe, wird ihm aus Washington, Brüssel und Berlin unmissverständlich bedeutet, dass der Weg seines Landes so weder in die Nato noch in die EU führen werde. Der im Oktober 2003 von ihm mit großem Brimborium eingesetzten „Internationalen Expertenkommission zur Erforschung des rumänischen Holocaust“ haftete deshalb von Anfang an etwas Opportunistisches an und schien weder eine tatsächliche Erkenntnis noch die Bereitschaft, sich begangenem Unrecht zu stellen, zu entsprechen. Den Vorsitz der Kommission hat der Auschwitz-Überlebende, Friedensnobelpreisträger und in Rumänien gebürtige Elie Wiesel. Ihr gehören zur Hälfte Historiker aus Rumänien, Israel, Deutschland und den USA und zur anderen Hälfte Vertreter jüdischer Organisationen an. Aus dem nach einjähriger Arbeit veröffentlichten Kommissionsbericht geht zweifelsfrei die massive Beteiligung von Rumänen an der Ermordung von 380.000 Juden hervor, ja es heißt sogar noch deutlicher, dass außer Deutschland „nur noch Rumänien in einem vergleichbaren Ausmaß an Massakern an Juden involviert gewesen (ist).“21 Die Resonanz dieses Ergebnisses wurde allerdings dadurch auf das Merkwürdigste konterkariert, dass Iliescu im Dezember 2004, noch kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, Tudor und Buzatu mit dem „Stern Rumäniens“, dem größten Verdienstorden des Landes, auszeichnete, den auch Elie Wiesel und Randolph Braham für ihre Arbeit in der Kommission erhalten hatten. Tudor und Buzatu bekamen Flankenschutz von der „Liga zur Bekämpfung des Antirumänismus“ des Bukarester Universitätsprofessors Ion Coja, von dem Wiesel und Braham sich auf das Übelste beschimpft sahen. Eine zumindest im Ansatz selbstkritische Erinnerungskultur bildete sich erst nach der Wahl des liberalkonservativen Staatspräsidenten Traian Băsescu heraus. Er berief 2006 die „Nationale Kommission zur Erforschung der Kommunistischen Diktatur in Rumänien“ und ließ den Grundstein für ein Holocaust-Denkmal in Bukarest legen, aber der Schatten Antonescus verfolgte auch ihn. Anfang Mai 2008, nach einem zehnjährigen quälenden Verfahren, in dem alle Gerichte ihre Zuständigkeit bestritten hatten und man den Eindruck gewinnen musste, dass keines sich mit dieser Schicksalsfrage der Nation befassen wollte, hob das Oberste Kassationsgericht die (Teil-)Rehabilitation Antonescus durch das Bukarester Appellationsgericht aus dem Jahr 2006 wieder auf. Seitdem ist Antonescu auch formaljuristisch der Hauptver21 Totok, Antonescu-Kult und die Rehabilitierung der Kriegsverbrecher, a. a. O., S. 208; Original: www.inshr-ew.ro; Hannelore Baier, Die Wahrnehmung der Judenverfolgung in Rumänien und der Holocaust, in: Hausleitner, Mihok und Wetzel (Hg.), Rumänien und der Holocaust, a. a. O., S. 167–177; Mariana Hausleitner, Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Rumänien, in: Brumlik und Sauerland (Hg.), Umdeuten, verschweigen, erinnern, a. a. O., S. 71–90; Julie Trappe, Holocaust und Gulag. Totalitarismusdebatten im postkommunistischen Rumänien, in: Hofmann et al. (Hg.), Diktaturüberwindung in Europa, a. a. O., S. 295–307.
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antwortliche für den Mord an 380.000 Juden. Was das für die Bevölkerung heißt, steht dahin. 2006 beurteilten noch 62 Prozent seine Lebensleistung als positiv, andererseits sackte die „Großrumänien-Partei“, die sich als Sachwalterin seines Vermächtnisses versteht, bei den Wahlen von 2004 auf 13 Prozent und flog vier Jahre später vollständig aus dem Parlament. So sehr dies Ausdruck einer Abkehr von liebgewonnenen Verdrängungsmustern und Großmachtvisionen sein kann, so wenig hat das Land aus den Chancen zu einer wirklich tief gehenden, intellektuellen Konfrontation mit seiner eigenen Vergangenheit gemacht, die es sehr wohl hatte und die es reihenweise (bewusst und politisch gewollt?) ausließ. Zwei Beispiele seien in diesem Zusammenhang abschließend genannt. „Die Veröffentlichung von Mihai Sebastians Tagebuch (1996) hätte die Gelegenheit einer Katharsis in der rumänischen Öffentlichkeit und Kultur zu den Themen Antisemitismus und Judenverfolgung bieten können.“22 Doch statt einer Auseinandersetzung über die Kollaboration mit den Deutschen, die der Schriftsteller Sebastian aus eigenem Erleben für die Zeitspanne von 1935 bis 1941 beschreibt, reagiert die Öffentlichkeit mit Rechtfertigungsversuchen und persönlichen Angriffen auf den Autor. Als Alexandra Laignel-Lavastin 2002 in Paris ihr Buch „Cioran, Eliade, Ionescu: L’oubli du fascisme. Trois intellectuels roumains dans la tourmente du siècle“23 veröffentlicht, in dem sie die Affinitäten Emil Ciorans und Mircea Eliades zu Codreanu und Antonescu darlegt, trifft der Schwall der Empörung nicht die beiden Dichter, sondern die Autorin. Rumänien, der 19,7-Millionen-Staat, in dem anderthalb Millionen Ungarn und 500.000 Roma leben, ist trotz seines EU-Beitritts 2007 immer noch nicht in Europa angekommen. Vielleicht ist es nach wie vor sein „schwierigster Fall“24 (Tony Judt), und die Sorge, dass es „als Wrack am Rande der Geschichte in einer balkanisierten Demokratie endet“, die Mircea Eliade schon in den 1970er Jahren formulierte, mag geringer geworden sein, aber verschwunden ist sie nicht.
22 Baier, Die Wahrnehmung der Judenverfolgung in Rumänien und der Holocaust, a. a. O., S. 176; Original: Mihai Sebastian, Jurnal, Bukarest 1996. 23 Alexandra Laignel-Lavastin, Cioran, Eliade, Ionescu: L’oubli du fascism. Trois intellectuels roumains dans la tourmente du siècle, Paris 2002. 24 Tony Judt, Rumänien zwischen Geschichte und Europa, in: ders., Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, Bonn 2010, S. 250–265, hier: S. 264.
Bulgarien Das erste auf dem Gebiet des heutigen Bulgarien siedelnde Volk waren die Thraker. Im 2. Jahrhundert nach Christus formieren sich die römischen Provinzen Thracien und Moesien, in die im 6. Jahrhundert turktatarische, protobulgarische Stämme einwandern. 681 entsteht das Erste Bulgarische Reich, 864 nimmt Boris I. das orthodoxe Christentum an. Unter Simeon dem Großen erstreckt sich das Reich vom Schwarzen Meer bis an die Adria. Das Zweite Bulgarische Reich steigt ab 1185 zeitweise zur führenden Balkanmacht auf, gerät 1393 aber unter osmanische Herrschaft. Der Kampf gegen diese Fremdbestimmung währt ein halbes Jahrtausend und findet nur mit russischer Hilfe ein Ende. Auch auf dem Berliner Kongress 1878 wird nur ein tributäres Fürstentum Bulgarien zugestanden, Ostrumelien verbleibt als autonome Provinz beim Osmanischen Reich. Erst 1908 gelingt es Ferdinand von Sachsen-Coburg-Gotha, sich zum Zaren krönen zu lassen und die formelle Unabhängigkeit durchzusetzen. Im Ersten Weltkrieg schließt Bulgarien sich, auf Gebietsgewinne hoffend, den Mittelmächten an, muss im Frieden von Neuilly 1919 aber Südthrakien an Griechenland abtreten und ist vom Ägäischen Meer abgeschnitten. Zar Boris III., ein Sohn Ferdinands, ist da seit einem Jahr im Amt. Drei politische Strömungen ringen fortan miteinander um die Macht im Staat: der Kommunismus unter seiner Führungsfigur Georgi Dimitrov, der Bauernbund unter dem Ministerpräsidenten Stambolijski und der Faschismus. Alle drei verstanden sich selbstredend als einzige Alternative zum bürgerlich-demokratischen System. Der 1919 rechtmäßig gewählte Stambolijski wird am 9. Juni 1923 durch einen Offiziersputsch gestürzt und getötet. Die meisten dieser Offiziere traten 1924 in den „Bulgarischen Rasseschutzverband“ ein. Rechte Gruppierungen schießen wie Pilze aus dem Boden: der Bulgarische Volksverband „Kubrat“, die „Bulgarische Heimatverteidigung“, der Verband der Bulgarischen Faschisten, der Verband der nationalen Jugendlegionen, die „Bulgarische Sippengemeinschaft“, die „Bulgarische Nationalsozialistische Arbeiterpartei“ und schließlich 1932 Alexander Cankovs „Nationale Soziale Volksbewegung“. Cankow, Jahrgang 1879, war Ordinarius für politische Ökonomie an der Universität Sofia. Zusammen mit der rechtskonservativen Sammlungsbewegung „Volkseintracht“ hatte er am Putsch von 1923 teilgenommen und war selbst Ministerpräsident geworden, aber Boris III. drängte ihn schon 1926 wieder zur Amtsaufgabe. Mit seiner Volksbewegung errang er bei den Kommunalwahlen 1934 über 11 Prozent der Stimmen. Er wollte den erneuten Putsch, der ihm am 19. Mai 1934 aber nur mithilfe des Militärs gelang. Die Parteien werden aufgelöst, nicht jedoch die monarchische Regierungsform. Boris hebt schon ein Jahr später die ihm von der Verfassung auferlegten Einschränkungen auf, neutralisiert den Einfluss der Armee in der Regierung und errichtet eine autoritäre Herrschaft unter Beibehaltung parlamentarischer Formen. Die ihm unterstehenden Beamtenkabinette sind derart weisungsgebunden, dass von einer
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Königsdiktatur gesprochen werden muss. Als Cankov 1936 seinen dritten, letzten und vergeblichen Putschversuch unternimmt, ist seine Machtbasis schnell dahin. Boris lässt alle rechtsradikalen Organisationen seines Landes auflösen, da sie – wie von Cankov unter Beweis gestellt – antimonarchisches Gedankengut vertreten. Trotzdem richten sich alle Hoffnungen und Sehnsüchte auf Deutschland. Als das Kadettenschulschiff „Kreuzer Emden“ im Oktober 1936 in den Hafen von Varna einläuft, wird es von einer gewaltigen Menschenmenge begrüßt. Eine „Kraft durch Freude“-Organisation nach deutschem Vorbild entsteht, ein Prachtboulevard in Sofia wird im Oktober 1940 auf einstimmigen Beschluss des Stadtrates nach Adolf Hitler benannt. Boris hatte kurz zuvor Bogdan Dimitrov Filov, den Vertreter der germanophilen Kreise in der Hauptstadt, der in Freiburg im Breisgau und in Bonn klassische Philologie studiert hatte, zum Ministerpräsidenten ernannt. Allerdings war der Versuch des Zaren, sich die Herrschaft so wie beim „Führer“ durch eine Einheitspartei abzusichern, schon im Anfangsstadium gescheitert. Da Boris für sein Land das gleiche Schicksal befürchtete, das Österreich und die Tschechoslowakei mit ihrer Angliederung bzw. Zerschlagung erfahren hatten, gab er die eigene, im September 1939 ausgesprochene Neutralität auf und dem deutschen Drängen nach: Am 1. März 1941 unterzeichnete er die Beitrittserklärung zum Dreimächtepakt. Sie war ihm dadurch schmackhaft gemacht worden, dass Rumänien die Süddobrudscha hatte abtreten müssen. Bulgarien diente der Wehrmacht als Aufmarschgebiet für die Angriffe auf Jugoslawien und Griechenland, am Unternehmen Barbarossa beteiligte sich Boris strictu sensu aber nicht. Russland war und blieb für ihn der „Befreier vom türkischen Joch“. Er erklärte Moskau nicht den Krieg, ja er brach nicht einmal die diplomatischen Beziehungen dorthin ab, doch er ging mit Hitlerdeutschland „ein überaus unappetitliches Geschäft“1 ein. Um sich im Schlagschatten der Wehrmacht die begehrten Provinzen Thrakien und Makedonien einverleiben zu können, war quasi als Gegenleistung schon im Dezember 1940 ein „Rassegesetz“ verabschiedet worden, das die rechtlichen Grundlagen zur Verfolgung der 48.000 bulgarischen Juden bot, obwohl die Türken und Griechen im eigenen Land weit unbeliebter waren. In diesem „Gesetz zum Schutz der Nation“ wurden alle „Personen jüdischer Abstammung“ zum Tragen eines gelben Sterns verpflichtet, gingen ihres Wahlrechts verlustig, wurden aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen, durften keine „ethnischen Bulgaren“ heiraten und konnten keinen höheren Schulabschluss machen sowie keinen Grundbesitz erwerben. Die Männer mussten militärisch organisierte Zwangsarbeit in Lagern leisten. Bulgarien wurde durch Boris’ taktierende Politik zum eigentlichen Kriegsgewinner auf dem Balkan. Praktisch ohne einen Schuss abgeben zu müssen, verdoppelte es sein 1 Stefan Appelius, Bulgarien. Europas Ferner Osten, Bonn 2006, S. 72; auch: Nikolaj Poppetrov, Flucht aus der Demokratie: Autoritarismus und autoritäres Regime in Bulgarien 1919–1944, in: Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime, a. a. O., S. 379–401.
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Territorium und hatte wieder Zugang zur Ägäis. Aus dem Krieg im Osten hielt man sich heraus, und wer versuchte, auch nur eine Legion zum „Kampf gegen den Bolschewismus“ aufzustellen, stieß auf taube Ohren. So erging es vor allem Cankovs „Sozialer Bewegung“, den „Legionären“ des 1943 ermordeten Generals Lukov und den seit 1936 trotz aller Verbote weiter agierenden Ratniki („Kämpfer“) des Professors Assen Kantardziev, einem Sammelbecken aus Rassisten, Großbulgaren und Nationalsozialisten, die überall jüdische Verschwörungen witterten und in regelrechten Straßenschlachten gegen Juden vorgingen. Jedoch löste Boris’ Ruf nach einer Bulgarisierung der neuen Provinzen, verstanden als „Wiedervereinigung in den ethnischen Grenzen“, nicht nur bei ihnen frenetischen Beifall aus. 122.000 Bulgaren wanderten binnen zwei Jahren nach Makedonien und Thrakien ein, wo ihnen Saloniki allerdings von den Deutschen versperrt blieb. Aber ansonsten war alles, was in großbulgarischen Träumen jemals eine Rolle gespielt hatte, „in den Schoß der Mutternation zurückgekehrt“, und selbst Kritiker der Königsdiktatur konstatierten, dass „im Grunde genommen doch alle, von den extremsten Nationalisten bis zu den Kommunisten, befriedigt über die Erfolge waren, die Hitlers ‚Neue Ordnung‘ auf dem Balkan gebracht hatte.“2 Als Boris nach dem Debakel von Stalingrad und Mussolinis Sturz den Austritt aus dem Dreimächtepakt erwog, bestellte Hitler ihn nach Berlin ein und verlangte die Aufstellung von zwei bulgarischen Divisionen. Da der Zar unmittelbar nach seiner Rückkehr am 28. August 1943 in Sofia starb, entstand schnell das auch von Hannah Arendt noch konsequent aufrechterhaltene Gerücht, er sei im Auftrag Hitlers ermordet worden. Für den minderjährigen Thronfolger Simeon II. wird ein Regentschaftsrat, bestehend aus Prinz Kyrill, Bogdan Filov und General Michov, eingerichtet, doch die tatsächliche Macht übt die faschistoide Regierung unter Dobri Moshilov aus. Im November 1943 fallen zum ersten Mal alliierte Bomben auf das Land, das bis dahin von Krieg und Bürgerkrieg verschont geblieben war, da die Kommunisten nicht auch nur ansatzweise irgendeinen Widerstand zu entfachen in der Lage gewesen waren. Sofia wird so schwer getroffen, dass im Januar 1944 über 300.000 Menschen die Stadt verlassen müssen. Trotzdem gestalten sich die Absetzbewegungen von der Achse zögerlich, weil niemand die „neu erworbenen Gebiete“ wieder verlieren will und noch weniger ein Interesse daran hat, von der Wehrmacht besetzt zu werden. Während Ribbentrop einen Ministerpräsidenten Cankov ins Auge fasst, bereitet die extreme Rechte einen coup d’état gegen den angeblich kommunistenfreundlichen Regentschaftsrat vor, aber das Unternehmen des Ratniki-Führers Kantardziev scheitert, weil der in Makedonien stationierte General Stojanoff wieder abspringt. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Am 1. September 1944 zieht die bulgarische Besatzungsarmee sich aus Makedonien und Thrakien zurück. Das war ein Signal der neuen, prowestlichen Regierung unter Konstantin Muraviev, um mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien 2
Claudia Weber, Auf der Suche nach der Nation. Erinnerungskultur in Bulgarien 1878–1944, Berlin 2006, S. 371 f.
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Frieden zu schließen, von der Sowjetunion ist nicht die Rede. Stalin spricht daraufhin von einem Komplott und lässt Bulgarien am 5. September den Krieg erklären. Deshalb bricht das Land tags darauf die diplomatischen Beziehungen mit Deutschland ab, bietet der UdSSR einen Waffenstillstand an, bildet die Regierung um und gibt die Kriegserklärung an Deutschland heraus. Doch alle Taktierereien und atemberaubenden Frontenwechsel waren vergeblich. Stalin dachte nicht daran, sich um das Waffenstillstandsangebot zu kümmern. Am 9. September marschiert die Rote Armee in Sofia ein, ohne dass sich ihr nennenswerter Widerstand entgegensetzt; Filov hatte sogar jede Gegenwehr verboten. Der Regentschaftsrat wird durch einen Staatsstreich entmachtet, und die neue Regierung des bereits zwei Jahre zuvor installierten, völlig bedeutungslosen „Nationalkomitees der Vaterländischen Front“ unter Kimon Georgiev beginnt mit der kommunistischen Umgestaltung, obwohl zunächst nur das Innenund das Justizministerium von KP-Männern geleitet werden. Zu dem Zeitpunkt gibt es bereits seit vier Tagen eine zweite bulgarische (Exil-)Regierung in Wien, für die Alexander Cankow verantwortlich zeichnet. Er erklärt sich bereit, alle erreichbaren Bulgaren in einem Waffen-SS-Verband zu sammeln und gegen die Rote Armee zu führen. Einer äußerst weit verbreiteten, geradezu mythischen Selbstcharakterisierung zufolge war Bulgarien ein vorbildliches und quasi immerwährendes „Land ohne Antisemitismus“3. Damit nicht genug: Während Rumänen, Polen und Ukrainer per se judenfeindlich gewesen seien, habe es in Bulgarien keine Pogrome gegeben, weder zu Zeiten des Osmanischen Reiches noch in Fürstentum, Königreich oder Volksdemokratie, ja nicht einmal in der bulgarischen Sprache habe jemals ein Schimpfwort für Juden existiert. Georgi Dimitrov, der ehemalige Vorsitzende der Kommunistischen Internationale und KP-Chef des Landes, verstieg sich sogar zu dem Urteil:
3 So noch äußerst blauäugig: Wolf Oschlies, Bulgarien – Land ohne Antisemitismus, Erlangen 1976; differenzierter: Jens Hoppe, Bulgarien, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1: Länder und Regionen, München 2008, S. 64–70; Susanne Heim et al. (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 13: Slowakei, Rumänien und Bulgarien, bearb. von Mariana Hausleitner, Souzana Hazan und Barbara Hutzelmann, a. a. O., S. 74–92; Nikolaj Poppetrov, Bulgaria. A Country Devoid of Antisemitism? Historical Perspectives, in: Nadege Ragaru (Hg.), La Shoah en Europe Du Sud-Est: les Juifs en Bulgarie et dans les terres sous administration bulgare (1941–1944), Paris 2014, S. 52–63; Nadia Danova, Das Schicksal der Juden im bulgarischen Machtbereich der Jahre 1941–1944. Ein Forschungsbericht, in: Chryssoula Kambas und Marilisa Mitsou (Hg.), Die Okkupation Griechenlands im Zweiten Weltkrieg. Griechische und deutsche Erinnerungskultur, Köln, Wien und Weimar 2015, S. 129– 142, insbes. S. 138: „Die bulgarische Gemeinschaft hat – sei es als Mittäter, d. h. als Henker, sei es infolge ihrer Teilnahmslosigkeit – das Böse (i. e.: die Judenverfolgung, K. K.) unterstützt.“
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Wie allgemein anerkannt wird, war Bulgarien das einzige Land unter faschistischer Herrschaft, wo das Leben der Juden aus den bestialischen Klauen der hitlerfaschistischen Henker gerettet wurde.4
Noch 1964 schreibt Hanna Arendt in ihrem berühmten Eichmann-Buch, dass „nicht ein einziger bulgarischer Jude deportiert worden oder eines unnatürlichen Todes gestorben war, als im August 1944 bei Heranrücken der Roten Armee die antijüdischen Gesetzte annulliert wurden.“5 Die Wirklichkeit freilich sah anders aus. Die ersten Pogrome in Bulgarien sind für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nachgewiesen, so wie auch versteckter und offener Antisemitismus für die Folgezeit. Im Juni 1942 hatte das bulgarische Parlament die Regierung bevollmächtigt, „eine Lösung des Judenproblems in die Wege zu leiten“. Sie errichtete ein dem Innenministerium zugeordnetes „Kommissariat für jüdische Angelegenheiten“ unter dem notorischen Antisemiten und Ratniki-Mann Alexander Belev, der bereits das „Gesetz zum Schutz der Nation“ maßgeblich ausgearbeitet hatte. Zunächst ging es darum, „die Juden aus den neubefreiten Gebieten mit deutscher Unterstützung“ (!) abzuschieben, was dazu führte, dass 11.400 in bulgarischer Alleinregie aus Thrakien und Makedonien deportierte Juden in Treblinka umkamen. Es blieben aber noch 48.000 Juden im Altreich. Im Januar 1943 war der SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker aus dem Berliner Reichssicherheitshauptamt, der zuvor bereits die Deportationen aus Frankreich dirigiert hatte, in Sofia eingetroffen. In dem am 22. Februar 1943 abgeschlossenen Belev-Dannecker-Abkommen „über die Aussiedlung von zunächst 20.000 Juden in die deutschen Ostgebiete“ sollten umfassende Deportationen vorbereitet und gesetzlich abgesichert werden. Mit der Unversehrtheit und Rettung aller 48.000 „eigenen“ Juden hat Bulgarien sich – zum Teil bis heute – einen Heiligenschein umgelegt, der näheren Überprüfungen nicht standhält. Obwohl die bulgarische Regierung längst dabei war, „vom Opportunisten zum Komplizen der nationalsozialistischen Pläne zu werden“6, reicht die kollektive Selbsttäuschung vom angeglichen Widerstand und der angeblichen Immunität gegenüber jedwedem Antisemitismus bis in die Ursprungstage dieser Legende zurück. Der Mann, um den es in diesem Zusam4
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Zit. nach Stefan Troebst, Rettung, Überleben oder Vernichtung? Geschichtspolitische Kontroversen über Bulgarien und den Holocaust, in: ders., Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa, Stuttgart 2013, S. 157–182, hier: S. 167; ders., Antisemitismus im „Land ohne Antisemitismus“: Staat, Titularnation und jüdische Minderheit in Bulgarien 1887–1993, in: Hausleitner und Katz (Hg.), Juden und Antisemitismus im östlichen Europa, Wiesbaden 1995, S. 109–125, s. auch: Rossitza Ivkova, Rettung und Mord in genozidalen Entscheidungsprozessen. Bulgarien 1941–1943, Bielefeld 2004. Arendt, Eichmann in Jerusalem, a. a. O., S. 293. Gabriele Nissim, Der Mann, der Hitler stoppte. Dimitar Pechev und die Rettung der bulgarischen Juden, Berlin 2000, S. 112; auch Raul Hilberg, Die opportunistischen Satelliten: Bulgarien, in: ders., Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt am Main 1990, S. 794–811.
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menhang geht, ist der stellvertretende bulgarische Parlamentspräsident Dimitӑr Peschev, der als Abgeordneter der Regierungskoalition alle antisemitischen Maßnahmen mitgetragen hatte. Er verfasst, nachdem am 10. März 1943 fast 9000 Juden in altbulgarischen Städten verhaftet worden sind, einen von 42 seiner konservativen Mitabgeordneten unterzeichneten Protestbrief, der eine Woche später dem Ministerpräsidenten Filov vorgelegt wird. Das Schreiben ist schnell bekannt und löst eine landesweite Protestwelle aus. Die Metropoliten Stefan und Kirill stellen sich hinter Peschev. Wohl nur aufgrund dieses Drucks und des sich wendenden deutschen Kriegserfolgs nach Stalingrad schiebt der später als Retter gefeierte Zar Boris III. jegliche Verantwortung und Entscheidungskompetenz auf das Parlament und die Regierung ab, die am 21. März 1943 beschließt, die 25.000 Sofioter Juden zu internieren und sie damit vor den Deportationen zu schützen, die allerdings nur vorläufig ausgesetzt sind. Gegen Boris’ Behauptung, dass die Verfolgten im Straßenbau benötigt würden, waren Belev, Eichmann und Hitler machtlos. Alle Juden im Altreich haben überlebt. Das im November 1944 in Wien aufgestellte bulgarische Waffen-Grenadier-Regiment der SS hat nur noch Bataillonsstärke erreicht. Zum Einsatz gekommen ist es nicht mehr. 130.000 Bulgaren kämpften da schon mit der Roten Armee gegen Ungarn und Deutschland, 30.000 von ihnen sind gefallen. Am 12. September 1944, gerade drei Tage im Amt, lässt die „Vaterländische Front“ das gesamte Personal verhaften, auf das sich das Königreich von 1941 bis 1944 gestützt hatte. Erst dann, am 6. Oktober, wird das „Anordnungs-Gesetz zum Volkstribunalprozess gegen die Schuldigen an der Verwicklung Bulgariens in den Weltkrieg (…)“ erlassen. Bis zum April 1945 verkünden „Volksgerichte“ in 135 Verfahren 9155 Urteile, davon 2730 Todesurteile gegen Parlamentarier, Militärs, Beamte und „sonstige Kollaborateure“, die ohne Begnadigung „unverzüglich“ vollstreckt werden. Allein am 2. Februar 1945 lassen die neuen Machthaber die drei Regenten, zwei ehemalige Ministerpräsidenten, über zwanzig ehemalige Minister und 68 Parlamentsabgeordnete erschießen. Cankow wird in Abwesenheit zum Tode verurteilt, aber da die Amerikaner ihn nicht ausliefern, entkommt er nach Argentinien, wo er 1959 stirbt. Derjenige, der bei dem gesamten Volkstribunal die Fäden zieht, ist gar nicht vor Ort: Georgi Dimitrov kehrt erst im November 1945 aus dem Moskauer Exil zurück, wird ein Jahr später Ministerpräsident und zur großen Gegenfigur gegenüber dem „Faschisten“ Boris III. aufgebaut. Vom Herbst 1944 an verschwinden lautlos und leise, ohne jedes Verfahren, fast 30.000 Menschen. Einen Teil findet man noch in den 1960er Jahren in Arbeitslagern, viele werden kaltblütig umgebracht. Das Volkstribunal und seine Begleitumstände gehörten vor und nach 1989 zu den „Hauptbruchlinien der bulgarischen Gesellschaft“7. Vor der großen Wende gab es dazu in den Schulgeschichtsbüchern kaum ein Bild oder Wort, danach wurde es zur „grau-
7 Tzvetan Tzvetanov, Bulgarien. Meilensteine einer kontroversen Selbstfindung, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 1, S. 95–122, hier: S. 99.
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samen Ausrottungsaktion“. 1996 hebt der Oberste Gerichtshof die Urteile gegen 124 der seinerzeit 126 verurteilten Abgeordneten auf, aber das Konfliktpotential bleibt. Noch bis in die 1980er Jahre hinein ist Boris in allen historischen Darstellungen „deutscher Agent“ und Kollaborateur Nr. 1. Er sei unfähig gewesen, die Neutralität zu wahren, sei „politisch kurzsichtig“ dem Dreimächtepakt beigetreten, allen Angeboten Moskaus zur Zusammenarbeit aus dem Weg gegangen und damit zum Landesverräter geworden. Der enorme, praktisch unausweichliche Druck aus Berlin wird lange Zeit weder gesehen noch diskutiert. Der Zar war schuld an den Bombenangriffen auf Sofia, weil er Großbritannien und den Vereinigten Staaten am 12. Dezember 1941 den Krieg erklärt hatte. Zum Leitmotiv seiner Neubewertung nach dem Abtreten des von 1954 bis 1989 amtierenden moskauhörigen Partei- und Staatschefs Todor Schivkov wird der Begriff „unblutig“, weil es Boris gelungen war, sein Land aus den direkten Kriegshandlungen herauszuhalten. Von da war es nicht mehr weit bis zum „Retter der Nation“, der durch seine „profunde Situationsanalyse“8 Zeit gewonnen und Schlimmeres verhindert habe. Das bisherige offizielle Narrativ wurde einfach umgedreht. Aus der Befreiung durch die Rote Armee wurde die Unterjochung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft durch die kommunistische Ideologie. Das ist ursprünglich die Lesart der konservativen Partei, die Bulgarien seit 1990 abwechselnd mit den Sozialisten regiert, es ist inzwischen aber zum regelrechten, auch parteiübergreifenden „Gemeinplatz“ mutiert. In der Ära Schivkov ist mehrfach versucht worden, das finstere Bild des „farb- und willenlosen Musterschülers der Sowjetunion“9 dadurch aufzubessern, dass die Rettung der eigenen Juden der „bulgarischen Arbeiterklasse“, ja Schivkov selbst zugeschrieben wurde, der angeblich Hauptinitiator der landesweiten Proteste vom März 1943 gewesen war. Die Inszenierung ging so weit, dass er maßgeblich unter eigenem Einfluss von jüdischen Organisationen in Bulgarien zur Nominierung für den Friedensnobelpreis 1989 vorgeschlagen werden sollte. Aber dazu kam es nicht mehr. Allerdings eröffnete der Staat Israel als Dank für die Rettung 1986 in Tel Aviv den „Bulgarischen Park“ – die Sofioter Selbstdarstellung hatte sogar den großen Erdrutsch von 1989 überdauert. Schivkovs Nachfolger setzten den Rettungsmythos und die Legende vom „Land ohne Antisemitismus“ geschickt ein, um die Europäizität Bulgariens nach außen zu demonstrieren und einen möglichst frühen EU-Beitritt zu bewirken – durchaus mit Erfolg. In dem Grundlagenwerk des renommierten deutschen Holocaust-Forschers Wolfang Benz „Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“ von 1991 heißt es: „Die bulgarische Bilanz bleibt positiv, das heißt, es sind keine Verluste an jüdischer Bevölkerung zu beklagen, wenn man nur das Kernland Bulgarien betrachtet und die aus Makedonien und Thrakien (…) deportierten Juden
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Ebd., S. 97. Troebst, Rettung, Überleben oder Vernichtung?, a. a. O., S. 157.
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nicht zählt.“10 Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin erstellte daraufhin unter Verweis auf Benz eine Karte von „Europa in den Grenzen von 1937 mit den Opferzahlen für die einzelnen betroffenen Länder“, die für Bulgarien eine 0 aufweist. Das Gebäude aus Legenden, Lügen und Geschichtsklitterung stand und warf schwere Schatten. Auch einige frische Winde um die Jahrtausendwende konnten ihm nur wenig anhaben, so als 1999 in der Nähe des Parlaments zu Ehren der getöteten thrakischen und makedonischen Juden eine Stele mit der Aufschrift „Das bulgarische Volk neigt sein Haupt im Gedenken an diese unschuldigen Opfer“ eingeweiht und als 2001 der sephardische Jude Solomon Pasi zum bulgarischen Außenminister ernannt wurde. 2004 überreichte er auf einer internationalen Konferenz seinem zu Tränen gerührten deutschen Amtskollegen Joschka Fischer jenen gelben Stern, den sein Großvater einst hatte tragen müssen. Fischer revanchierte sich, wieder ganz im alten Tenor, mit einer Rede, die er ein Jahr später in Sofia zur Eröffnung einer Ausstellung mit Fotografien jüdischer Familien in Bulgarien hielt: „The brave Bulgarians who took them in and protected their Jewish fellow countrymen deserve our highest respect, admiration and thanks today.“11 Das lag auf der bekannten Linie und kam dem bulgarischen Außenministerium entgegen, das 2008 eine Ausstellung „The Force of Civil Society: The Fate of the Jews of Bulgaria“ um die ganze Welt kreisen ließ, in der das Überleben der Juden Alt-Bulgariens auf das Engagement der „bulgarischen Zivilgesellschaft“ zurückgeht, die Massenmorde an Thrakern und Makedoniern hingegen allein auf dem Schuldkonto des Dritten Reiches stehen. An den Mechanismen dieser Selbsttäuschung hat sich bis in die jüngste Gegenwart hinein nichts geändert, auch wenn in der staatlichen Geschichtspolitik eine Mitverantwortung für die Massaker hinsichtlich der „neuen Territorien“ prinzipiell zugestanden wird. Unwillkürlich denkt man hier an das Schicksal der Juden in den „alten Territorien“, und zwar nach ihrer heldenhaften Rettung durch Bulgaren. Bis 1951 haben 40.000 von ihnen das Land verlassen, weil die Retter den Geretteten ihr Hab und Gut nahmen, sie verbannten oder zur Zwangsarbeit nötigten. Die wenigen, die bleiben durften, waren linientreue Kommunisten. Sie bekamen den Status einer privilegierten Vorzeigeminderheit, die im Gegensatz zu den Tür10 Wolfgang Benz, Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, S. 12. 11 Zit. nach Troebst, Überleben oder Vernichtung?, a. a. O., S. 180; Michael Martens, Romantische Lüge oder Heldentat? Bulgarien debattiert über seine Rolle während des Holocaust, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 28.4.2005, S. 7; Iskra Baeva und Evgenia Kalinova, Bulgarien von Ost nach West. Zeitgeschichte ab 1939, Wien 2009; Wolfgang Höpken, „Revolution“ auf Raten. Bulgariens schwieriger Weg in die Demokratie, in: Holm Sundhaussen (Hg.), Südosteuropa zu Beginn der neunziger Jahre. Reformen, Krisen und Konflikte in den vormals sozialistischen Ländern, Berlin 1993, S. 9–33; Ana Luleva, Das Nationale versus das Europäische in der bulgarischen Gedächtniskultur. Zeitschichten konfliktreicher Erinnerungspraktiken, in: Irene Götz, Klaus Roth und Marketa Spiritova (Hg.), Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Kulturwissenschaftkiche Perspektiven, Bielefeld 2017, S. 101–118.
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ken, Pomaken und Makedoniern von den immer wieder inszenierten Zwangsassimilationen ausgenommen blieb. Dimitӑr Peschev, der Mann, der tatsächlich das Wort Retter für sich in Anspruch nehmen darf, wurde am 1. Februar 1945 vom Volkstribunal als Mitglied eines „faschistischen“ Parlaments zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt und starb 1973 völlig verarmt und vergessen in Sofia. Das Bulgarien von heute ist trotz der von offizieller Seite proklamierten Selbsteinschätzung kein ethnisch homogenes Land. Etwa ein Drittel seiner 7,13 Millionen Einwohner versteht sich selbst nicht als Bulgaren. Dies gilt insbesondere für die 700.000 Türken und 400.000 Roma, aber auch für die kleineren, oft nicht einmal tausend Angehörige zählenden Minderheiten der Rumänen, Russen, Deutschen und Albaner sowie für die 20.000 Armenier. Weil sie unter Schivkov besondere und bevorzugte Existenzbedingungen genossen hatten, sahen sich die 6000 verbliebenen Juden nach der Wende nationalistischen und antisemitischen Hetzjagden ausgesetzt. 2001 gründet der 29-jährige, in Deutschland aufgewachsene Bojan Rasate den „Bulgarischen Nationalbund“, der sich strikt gegen die Türken, Roma und Juden sowie gegen die Nato und die EU ausspricht, 2005 folgt der ehemalige Journalist Volen Siderov mit seiner rechtsextremen Partei „Ataka“, die bei den Parlamentswahlen 2009 über 9 Prozent der Stimmen und damit 21 Sitze erreicht. Allerdings wird sie von den „Bürgern für eine europäische Entwicklung Bulgariens“, die hinter dem EU-Beitritt des Landes 2007 standen und 116 von insgesamt 240 Mandaten erreichten, deutlich in den Schatten gestellt. Die „Koalition für Bulgarien“, der auch die Sozialistische Partei angehört, brachte es auf 40 Sitze. Das anfänglich enge Verhältnis zwischen Siderov und Rasate kühlte merklich ab, nachdem Letzterer eine „Bulgarische Nationale Garde“ schuf, die am 7. Februar 2009 mit schwarzen Hosen, braunen Hemden, schwarzen Baretten und dem Ruf „Bulgaren, erwacht!“ durch Sofia marschierte. Bulgarien ist ein instabiles, ökonomisch nicht gerade erfolgreiches Land. Die EU-Kommission hat wieder und wieder organisierte Kriminalität und grassierende Korruption nachgewiesen, die angemahnten Gegenmaßnahmen ließen und lassen zu wünschen übrig. Ende Juli 2013 blockierten Hunderte von Demonstranten fast neun Stunden das Sofioter Parlament, weil sie den abwechselnd regierenden Sozialisten und konservativen „Bürgern für eine europäische Entwicklung“ vorwarfen, untereinander Vetternwirtschaft zu betreiben und in ihren Entscheidungen von Multimilliardären und Oligarchen innerhalb und außerhalb des Landes abhängig zu sein.
Jugoslawien Der am 29. Oktober 1918 proklamierte „Staat der Slowenen, Kroaten und Serben“ beherbergte drei Völkerschaften mit einer stolzen, reichen und vor allem gegensätzlichen Geschichte und Tradition. Die Slowenen waren im 6. Jahrhundert vom oberen Dnjepr an die untere Donau gezogen und hatten sich dort ausgebreitet. Die ältesten slowenischen Sprachdenkmale gehen auf das Jahr 1000 zurück, eine eigene Schriftsprache entwickelte sich jedoch erst im Zug der Reformation. Schon früh in die Habsburgermonarchie inkorporiert, erstreckte sich das slowenische Siedlungsgebiet auf Teile der österreichischen Kronländer Krain, Kärnten, Unterdrauburg und Steiermark sowie auf Cilli (Celje) und Pettau (Ptuj) mit dem ungarischen Übermurgebiet. Dieses Terrain forderte 1848 erstmals die Verwaltungseinheit und -autonomie, die vollständig aber erst mit der Proklamation von 1918 verwirklicht wurde. Die Serben wurden, nachdem sie vom fünften bis zum 7. Jahrhundert auf die Balkanhalbinsel eingewandert waren, im 9. Jahrhundert christianisiert und blieben unter byzantinischem bzw. bulgarischem Einfluss. Erst Großfürst Stephan Nemanja konnte um 1180 die Unabhängigkeit erkämpfen, sein Sohn erhielt die Königswürde. Das Reich zerfiel nach dessen Tod aber in ein Restfürstentum, das am 28. Juni 1389 unter Fürst Lazar in der Schlacht auf dem Amselfeld, dem Kosovo Polje, der osmanischen Übermacht erliegt, in deren Vasallität gerät und schließlich ganz von ihr vereinnahmt wird. Dieses Ereignis, das als St.-Veits-Tag bzw. als Vidovdan später von der Niederlage in einen Sieg ummythologisiert wurde, ist bis auf den heutigen Tag das zentrale und alles entscheidende Datum im nationalen Narrativ und Selbstverständnis der Serben, es ist ihre ungedruckte Geburtsurkunde, obwohl mit dem Tod Lazars nur das kurzlebige, seit 1331 existierende serbische Großreich endgültig zu Grabe getragen wurde. „Altserbien“, „Urserbien“ und „heiliges serbisches Land“, so wurde das Kosovo fortan genannt. Serbien war seit 1459 osmanische Provinz, seine Oberschicht wurde ausgerottet, islamisiert oder vertrieben. Erst am Ende des 17. Jahrhunderts entsteht in Südungarn wieder ein eigenständiger serbischer Siedlungsraum. Die im Osmanenreich verbliebenen erheben sich 1804 unter Karadjordje und 1815 unter dessen Rivalen Milos Obrenović und erreichen 1830 die Anerkennung als autonomes Erbfürstentum. Die Frage, ob dieses sich auf die Seite Österreich-Ungarns oder Russlands stellen soll, führt zum permanenten Streit der beiden sich abwechselnden Herrscherdynastien Karadjordjević und Obrenović. 1878 erfolgt die Anerkennung als unabhängiger Staat, der 1882 zum Königreich wird. Nach der Ermordung Alexanders I. Obrenović und der Königsernennung Peters I. Karadjordjević beginnt 1903 der Weg Serbiens in das parlamentarische Regierungssystem, maßgeblich forciert von der „Radikalen Volkspartei“ Nikola Pasićs, der von 1904 bis 1918 als Ministerpräsident amtiert und in enger Anlehnung an Russ-
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land die spätmittelalterliche Vision eines Großserbien wiederbelebt. Am 28. Juni 1914, dem St.-Veits-Tag, wird der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand von Mitgliedern eines serbischen Geheimbundes in Sarajevo ermordet, die Doppelmonarchie erklärt Serbien einen Monat später den Krieg, der sich schnell zum Ersten Weltkrieg ausweitet. 1918 bricht das Habsburgerreich zusammen und die Serben bilden mit den Slowenen und Kroaten einen gemeinsamen Staat. Das gesamte Ausdehnungsgebiet des heutigen Kroatien befand sich seit dem 1. Jahrhundert innerhalb der Grenzen des Römischen Reiches. Die Christianisierung beginnt im 3. Jahrhundert an der Adriaküste. Istrien kommt um 788 zum Reich Karls des Großen. Zur gleichen Zeit entsteht Kroatien im Hinterland Dalmatiens als breiter Streifen von Ostistrien bis Split. Nach dem Tod des kroatischen Königs Zvonimir 1089 beginnt die Erschließung Slawoniens, des „Slawenlandes“, durch den ungarischen König Ladislaus. Er gründet 1094 das Bistum Zagreb. Die istrische und dalmatinische Küste gelangen vom 13. Jahrhundert an unter venezianische Herrschaft, die mit nur kurzen Unterbrechungen bis 1797 währt. In ihr erhält das Handelszentrum Dubrovnik die Rechte einer eigenen Stadtrepublik, die erst 1808 von Napoleon aufgehoben werden. Nach der Schlacht von Mohács 1526 in Westungarn blieb von Kroatien und Slawonien nur noch ein schmaler Streifen im Westen, den die Habsburger übernehmen und mit Zagreb als Zentrum zum „engeren Kroatien“ zusammenwachsen ließen. Es entsteht eine Militärgrenze, das „Bollwerk der Christenheit“, für das „Wehrbauern“ angeworben werden. Sie kommen nicht nur aus den habsburgischen, sondern auch aus den osmanischen Territorien, von denen viele orthodoxgläubig sind und sich bald zum Serbentum bekennen. Nach dem Scheitern der Belagerung von Wien 1683 gelingt es den Habsburgern, auch Slawonien in die Militärgrenze einzubeziehen. Mit dem Wiener Kongress 1815 fallen alle venezianischen Besitzungen an Österreich. Parallel zum Vormärz in Deutschland entsteht auch in Kroatien eine Nationalbewegung, der sogenannte Illyrismus, durch dessen Lieder und Texte aber auch die im Reich der Habsburger lebenden Serben angesprochen werden. Am 25. März 1848 formiert sich in Zagreb eine Landesversammlung, die einen Landtag und einen Stadthalter (Ban) wählt, aber erst 1868 erhält Kroatien die Autonomie im Schulwesen und in der Justiz. Die Militärgrenze wird 1881 aufgeboben. In der kroatischen Nationalbewegung sucht der eine Teil als Ausdruck des Ausgleichs zwischen allen Südslawen die Zusammenarbeit mit den Serben, der andere, vertreten durch Ante Starčević, die Abgrenzung von ihnen. Die in Kroatien lebenden Serben gehörten für ihn zum „kroatischen Staatsvolk“. Der Konflikt verschärfte sich, als 1878 Bosnien-Herzegowina mit seinem kroatischen, serbischen und bosniakisch-muslimischen Bevölkerungsanteil unter österreich-ungarische Verwaltung gestellt wurde. Im Ersten Weltkrieg jedoch forderte der „Jugoslawische Ausschuss“ in London gemeinsam mit der serbischen Exilregierung auf Korfu einen Staat, der, wie es ein in Zagreb tagender Nationalrat am 29. Oktober 1918 konkretisierte, alle Südslawen der untergehenden Doppelmonarchie umfassen sollte. Am 24. November bot der Rat dem serbischen Prinzregenten Alexander Karadjordjević die Herrschaft an.
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Eine Woche später rief er das „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ aus, dessen endgültige Grenzen erst 1924 festlagen, als Italien sich ganz Istrien einschließlich Rijeka und das dalmatinische Zadar unter den Nagel gerissen hatte. Der serbokroatische Antagonismus war in dem neuen Staat vom ersten Moment an präsent, und das nicht von ungefähr. In dem Vielvölkergebilde lebten 5,3 Millionen Serben, 2,8 Millionen Kroaten, 1 Million Slowenen, 1,3 Millionen Moslems in Bosnien, Herzegowina, Montenegro und Makedonien, die sich nicht als „Südslawen“ empfanden, sowie 500.000 Deutsche, 470.000 Ungarn, 440.000 Albaner und 230.000 Rumänen. In das Offizierskorps der entstehenden Armee kam ein Serbe nach dem anderen, ehemalige k. u. k. Offiziere, unter ihnen ein gewisser Josip Broz, waren klar benachteiligt, und noch 1938 betrug der kroatische Offiziersanteil gerade einmal 10 Prozent. Aus den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung Ende 1920 gingen die demokratische und die radikale Partei mit 92 bzw. 90 von 419 Sitzen hervor, die Kommunisten erhielten 58 und die „Kroatische Republikanische Bauernpartei“ von Stjepan Radić 50 Mandate. Nikola Pašić wurde Ministerpräsident. Schon die Abstimmung über die jugoslawische Verfassung, die Vidovdan-Konstitution vom 28. Juni 1921, zeigte die Zerrissenheit des Landes: 161 Abgeordnete boykottierten sie, 35 stimmten gegen das Dokument und nur 223 nahmen es an. Radić, der seinen Abgeordneten den geforderten Eid auf den König untersagte, begann mit einer strikten Opposition gegen die serbische Hegemonial- und Zentralisierungspolitik. In Wien und London wurde er mit seinem Staatsgründungsprojekt abgewiesen. Als Radić daraufhin 1924 mit seiner Partei der kommunistischen Bauerninternationale beitrat, wurde er verhaftet und in den Kerker geworfen. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) war bereits 1921 verboten worden. Der Konflikt schwelte weiter, bis Radić am 20. Juni 1928 von einem montenegrinischen Abgeordneten der Pasić-Partei im Belgrader Parlament niedergeschossen wurde und kurz darauf starb. Er ist seitdem der eigentliche kroatische Volksheld. Der König löste am 6. Januar 1929 mit den Worten „Ich kenne nur noch Jugoslawien“ das Parlament auf, verbot alle ethnisch und konfessionell orientierten Parteien, erklärte die Verfassung für ungültig, hob die Gewaltenteilung und die Pressefreiheit auf und errichtete die Königsdiktatur, die bis dahin radikalste Serbenherrschaft auf dem Balkan.1 Als er am 9. Oktober 1934 zu einem Staatsbesuch in Frankreich weilt, wird er auf offener Straße in Marseille ermordet. Zu den Exilgruppen, die hinter dem Anschlag steckten, zählten von Bulgarien aus gesteuerte makedonische Revolutionäre sowie eine Untergrundorganisation, die sich einen Tag nach der Ausrufung der Königsdiktatur gebildet hatte und wenige Jahre später das dunkelste Kapitel in der kroatischen Geschichte einläutete: die Ustascha, was so viel heißt wie „Der Aufständische“. Ursprüng1
Predrag Marković, Die „Legitimierung“ der Königsdiktatur in Jugoslawien und die öffentliche Meinung 1929–1939, in: Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime, a. a. O., S. 577–632; Tihomir Cipek, Die kroatischen Eliten und die Königsdiktatur, in: ebd., S. 539–576; Laslo Sekelj, Diktatur und die jugoslawische politische Gemeinschaft – von König Alexander bis Tito, in: ebd., S. 499–538.
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lich hatte sie sich Domobran (Heimwehr) genannt. Ante Pavelić, ihr „Oberhaupt“ (Poglavnik), sah sich in der direkten Nachfolge der Bewegung von Ante Starčević; auch er wollte die Vereinigung mit Bosnien-Herzegowina in einem „national reinen“ Kroatien. Pavelić war 1889 in Bradina in der tiefsten Herzegowina als Sohn eines Eisenbahnbeamten geboren worden. Nach dem Abitur studierte er Jura in Zagreb, wurde Wortführer der Studentenorganisation „Junges Kroatien“, promovierte und eröffnete ein Anwaltsbüro. Als Sekretär der separatistischen „Kroatischen Staatsrechtspartei“ wurde er 1928 in das Belgrader Parlament gewählt. Nach der Ausrufung des „Königreichs Jugoslawien“ 1929 bildete er eine Verschwörer-Gruppe, die erste Attentate verübte. Er musste ins Ausland fliehen und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Von Mussolini unterstützt, gründete er die „Aufständische Kroatische Revolutionäre Organisation“, kurz Ustascha, die Kroatien mit „Messer, Revolver, Bombe und Höllenmaschine vom fremden Joch“ befreien und einen „völlig selbstständigen Staat“ schaffen wollte. Der Königsmord 1934, hinter dem er steckte, machte ihn schlagartig europaweit bekannt und führte zum zweiten Todesurteil in absentia. Mussolini ließ ihn in Siena unter Hausarrest stellen und Hitler verbot der Ustascha jedwede Betätigung in Deutschland. Das Berliner „Kroatische Presse-Büro“ wurde geschlossen, doch Pavelić setzte seine Wühlarbeit und seine Mission fort. Die Kroaten waren für ihn nicht slawischer, sondern gotischer Abstammung, die Idee des Jugoslawismus werde nur „von einem kleinen, zumeist blutsfremden Teil der Intelligenz“ verfolgt, „was nicht ganz unrichtig war“ (Sundhaussen).2 Sich selbst sah er als den von der „Vorsehung bestimmten Führer“, so wie Hitler, bei dem er sich seit Mitte der 1930er Jahre immer mehr anbiederte. Die Resonanz im eigenen Land ließ zu wünschen übrig. Bis 1941 haben sich in den militärischen Ausbildungslagern in Italien und Ungarn nie mehr als 600 Personen befunden, die Zahl der in der Illegalität auf Pavelić vereidigten Ustaschen lag bei 4000 – eine Massenbewegung sieht anders aus. Die Ustascha war und blieb ein terroristischer Geheimbund, der schon früh und offen von der katholischen Geistlichkeit unterstützt wurde und als Pendant die 1935 in Serbien von Dimitrije Ljotić gebildete „Jugoslawische Volksbewegung“ Zbor besaß, die eine serbische Hegemonie in Südosteuropa unter Einverleibung Bulgariens errichten wollte. Auch sie war christlich (orthodox) geprägt, auch sie hatte mit 5000 Mitgliedern nur einen geringen Zulauf, und auch sie suchte die Anlehnung an Deutschland, insbesondere an das Außenpolitische Amt der NSDAP unter Alfred Rosenberg, von dem sie finanzielle Unterstützung bekam, während Mussolini der Ustascha noch bis 1934 monatlich 200.000 Lire überwies. Faschistische und nationalsozialistische Gruppierungen sind im „Königreich Jugoslawien“ nicht gerade erfolgreich gewesen, Zbor erreichte erst während der NS-Besatzung als ideologischer Kern der kollaborierenden einheimischen Administration eine gewisse Bedeutung. 2 Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen, Wien, Köln und Weimar 2012, S. 44.
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Als König Alexander II. Karadjordjević sich am 9. Oktober 1934 zu dem Staatsbesuch in Frankreich nach Marseille einschiffte, tat er dies in dem vollen Bewusstsein, dass seine Politik des „integralen Jugoslawismus“ gescheitert war. Sein Versuch, mit der „Jugoslawischen Nationalpartei“ ein Sammelbecken regierungsnaher Politiker zu schaffen, setzte sich nur zögerlich durch, Vereine und Verbände auf nationaler und konfessioneller Basis blieben verboten. „Die gesellschaftliche Praxis hatte das gemeinsame jugoslawische Haus als großserbische Attrappe entlarvt“3, die das Unzufriedenheitspotential von Tag zu Tag anwachsen ließ. Prinzregent Paul, der nach Alexanders Tod an die Stelle des noch minderjährigen Thronfolgers Peter getreten war, musste das autoritäre System zugunsten eines begrenzten Parteienpluralismus auflockern. Schon zu den Wahlen vom Mai 1935 trat als „Vereinigte Opposition“ eine gemeinsame serbisch-kroatisch-slowenisch-muslimische Liste an, die drei Jahre später 45 Prozent der Stimmen gewann und damit nur noch 9 Prozent von der Regierungspartei entfernt war. Insbesondere in Kroatien war deutlich geworden, dass Vladko Maček, der Nachfolger Radićs, mit seiner Bauernpartei nach wie vor die eigentliche Verankerung im Volk besaß. Es musste etwas geschehen, zumal Mussolini beharrlich daran arbeitete, die Ustascha und die Bauernpartei zu einem Aufstand anzustacheln, dadurch Jugoslawien zu zerstören und den Einmarsch Italiens herbeizuführen. Mit dem Abkommen (Sporazum) vom 26. August 1939 wird Maček als stellvertretender Ministerpräsident in die Belgrader Regierungsmannschaft berufen und erstmals die autonome „Banschaft Kroatien“ mit eigenem Gouverneur, Landtag und Verwaltungsapparat geschaffen. Tatsächlich hat das Sporazum aber nur wenige Tage Bestand gehabt. Obwohl Jugoslawien als Mitglied der Kleinen Entente faktisch mit Frankreich verbündet war, blieb es beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs neutral. Truppentransporte der Achse über das eigene Gebiet wurden nicht zugelassen, um keine Kriegserklärung der Westmächte zu riskieren. Auch Hitler wollte Ruhe an der jugoslawischen Front. Nachdem er Mussolini noch im August 1939 aufgefordert hatte, dem Land „so schnell wie möglich den Gnadenstoß zu versetzen“, ließ er das Unternehmen wieder abblasen, um nicht das Eingreifen Englands oder gar Stalins zu provozieren. Für einen Moment, der immerhin anderthalb Jahre währte, schien es so, als ob sich der Vielvölkerstaat aus den großen Kriegshändeln heraushalten könnte. Doch Hitler hatte seinen Plan, auf dem Balkan einen kroatischen Separat- und Marionettenstaat zu etablieren, nicht aufgegeben. Als dessen Führungsfigur hatte er keineswegs Pavelić mit dessen terroristischer Ustascha vorgesehen, sondern den allseits beliebten Maček, den er von seinem Sonderbeauftragten Veesenmayer umwerben ließ. Doch Maček blieb der eigenen Regierung gegenüber loyal, bis ins Frühjahr 1941 hinein, als Prinz Paul unter massivem deutschen Druck dem ungarischen, rumänischen und bulgarischen Beispiel folgt und dem Dreimächtepakt beitritt. Noch am selben Abend, dem 25. März 1941, kommt es in ganz Jugoslawien zu heftigen Demonstrationen. Eingefädelt, zumindest aber gefördert vom britischen Geheimdienst 3
Marie-Janine Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 123.
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putschen zwei Tage später serbische Offiziere in Belgrad und hieven den minderjährigen König Peter II. auf den Thron. Er betont den Fortbestand des Sporazums und kann Maček für das neue Kabinett gewinnen. Die neue Regierung weigert sich, den Beitrittsvertrag in Kraft zu setzen. Auf den Straßen feiert man die Rückkehr zur Neutralität. In den frühen Morgenstunden des 6. April 1941 lässt Hitler ohne jede Vorankündigung 611 Bomber auf Belgrad fliegen, die dort mehr Menschen töten als in Warschau, Coventry und Rotterdam zusammen. König Peter verlässt das Land und geht mit einer serbisch dominierten Exilregierung nach London. Die Armee ergibt sich der einmarschierenden Wehrmacht nach elf Tagen, auch weil viele in ihr kämpften, die sich mit ihrem Staat nicht identifizierten. Schon am 10. April ist Pavelić am Ziel, obwohl er noch gar nicht im Land weilt. Sein Vertrauter Slavko Kvaternik verkündet den „Staat Kroatien“, wovon der Poglavnik erst im Nachhinein erfährt. Unmittelbar vor dem Osterfest 1941 verlautbart Radio Zagreb: „Gottes Vorsehung und der Wille unseres Verbündeten sowie der mühevolle jahrhundertelange Kampf des kroatischen Volkes und die große Opferbereitschaft unseres Führers Ante Pavelić und der Ustascha-Bewegung in der Heimat und im Ausland haben es gefügt, dass heute, vor der Auferstehung des Gottessohnes, auch unser unabhängiger Staat Kroatien aufersteht (…).“4 Tatsächlich reiht sich Zagreb in die nicht gerade kleine Gruppe europäischer Städte ein, in denen die deutschen Truppen mit frenetischem Jubel begrüßt worden sind. Maček ruft „zur Unterwerfung unter die neue Staatsgewalt“ auf, Pavelić kehrt am 15. April aus Italien zurück. Hitler und Mussolini setzen sich kurz darauf an einen Tisch, um das „Königreich Jugoslawien“ zu zerstückeln. Der Norden Sloweniens geht an das Großdeutsche Reich, der Süden einschließlich Ljubljana an Italien. Ungarn erhält die Batschka und die Baranja, Bulgarien den größten Teil Makedoniens. Italien annektiert bzw. behält die Küstengebiete Istriens, Dalmatiens und die Bucht von Kotor, Montenegro wird einem italienischen Gouverneur unterstellt. Das Kosovo wird an Albanien angeschlossen, das in einer Personalunion mit Italien stand. Dem deutsch besetzten Restjugoslawien, sprich Serbien, wurde eine gewisse Autonomie gewährt, so auch der serbisch-orthodoxen Kirche. In der von Berlin abhängigen Belgrader Regierung saßen auch zwei Zbor-Mitglieder. Was blieb, war der neue „Unabhängige Staat Kroatien“ (NDH), der weder unabhängig noch national, sondern ein sich bis nach Slawonien, Dalmatien und Syrmien erstreckender Vielvölkerstaat war. Von seinen 6,3 Millionen Einwohnern waren 3,3 Millionen Kroaten, 1,9 Millionen Serben und 0,9 Millionen Muslime, insbesondere in Bosnien und der Herzegowina. Die „Kroatische Partei des Rechts“ hatte in ihm eine Monopolstellung, alle Institutionen fanden sich gleichgeschaltet. Die Serben im NDH wurden „Prawoslawen“, also Orthodoxe kroatischer Nationalität, genannt, damit man sich an ihre Vereinnahmung, sprich Rekatholisierung und Rekroatisierung, machen konnte. Zuständig hierfür war eine „Direktion der Erneuerung“. Administrativ wurde der neue Staat in 22 regionale Herrschaftsgebiete, die Großgespanschaften, gegliedert, 4
Zit. nach Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011, a. a. O., S. 44.
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deren Leiter selbstverständlich aus der Ustascha kamen, die dort mit Miliz und paramilitärischen Verbänden aber oft ein persönliches Regiment errichteten. Insgesamt verfügte die Bewegung auch jetzt nie über mehr als 40.000 Mitglieder, also nicht einmal 0,6 Prozent der Bevölkerung. Sie war, blieb und verstand sich auch weiterhin als Geheimbund, der nun freilich die Macht im Staate hatte. Somit figurierte vom April 1941 an der bis dahin kaum bekannte Ante Pavelić als „Führer“ eines konspirativen Zirkels, einer „Bewegung“ und einer Marionettenregierung, die vom ersten Moment an eine völlig autonome rassistisch-eliminatorische Vernichtungspolitik inszenierte, die in der Geschichte der zivilisierten Menschheit ihresgleichen sucht. Niemand in Berlin zog da irgendwelche Fäden. Im Juni wurden die ersten Konzentrationslager errichtet. Unangetastet blieben lediglich die slawischen Bewohner Bosnien-Herzegowinas, weil sie in vorosmanischer Zeit angeblich durchweg katholisch gewesen waren, unter der Türkenherrschaft zum Islam hatten konvertieren müssen, tatsächlich aber, so hieß es, zu den „ethnisch reinsten“ Kroaten gehörten. Für die Serben, Juden und Roma hingegen gab es keine Gnade. Pavelić, in Wirklichkeit ja nur eine Verlegenheitslösung, schlug anfangs die offene Begeisterung der Kroaten entgegen, weil sie sich über den schnellen Sieg der Deutschen und die vermeintliche Unabhängigkeit freuten. Dass es dem Poglavnik nicht gelungen ist, diese positive Grundstimmung in dauerhafte Zustimmung umzusetzen, sagt bereits genug über seine plebiszitären Qualitäten und sein Charisma. Schon im Herbst 1941 gingen die ersten besorgten Berichte über die „schmale Basis“ der Ustascha an die Spree, und der einsetzende Massenterror tat ein Übriges. Gleichwohl ist mit allen Mitteln versucht worden, einen Führerkult um Pavelić zu realisieren. Sein Konterfei, das U-Symbol mit der entflammten Bombe und dem kroatischen Schachbrettwappen, und die Parole „Za dom spremni – Für die Heimat bereit“, das kroatische „Heil Hitler“, konnte man auf unzähligen Plakaten, Postkarten und Bierdeckeln finden. Der kroatische sollte so wie der deutsche Führer allgegenwärtig sein. Da es in vielen Dörfern nicht mal ein Radio gab, war die Visualisierung das wichtigste Medium, das flexibel gehandhabt wurde. Wenn Pavelić die bosnischen Muslime, also die „reinsten Kroaten“ besuchte, setzte er sich einen Fes auf den Kopf, beim katholischen Klerus trat er schwarz und hochgeschlossen gewandet vor den Altar. So etwas wie eine „Ustascha-Identität“ ist bei alledem nicht entstanden. Ausschlaggebend hierfür war die letztlich doch jedermann bekannte Tatsache, dass es sich bei der Zagreber Regierung um ein Kollaborationsregime handelte. „Der Unabhängige Staat Kroatien war weder unabhängig noch kroatisch.“5 Die Aufteilung seines Terrains in eine deutsche und italienische Besatzungszone sprach hier nur eine zu deutliche Sprache. Gerade auf dem Land blieben die Ustaschen, die das Bauern5
Stefan Dietrich, Ante Pavelić – Hitlers Statthalter. Personenkult im „Unabhängigen Staat Kroatien“ 1941–1945, in: Ennker und Hein-Kircher (Hg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, a. a. O., S. 276–296, hier: S. 293; Ladislaus Hory und Martin Broszat, Der kroatische UstaschaStaat 1941–1945, Stuttgart 1964, S. 39 ff.
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tum „als Fundament und Quelle allen und jeden Lebens“ verherrlichten, so unbeliebt, dass sie sich außerhalb befestigter Ortschaften ihres Lebens nicht sicher sein konnten. Von dem großen historischen Anspruch, „nur“ den Zustand wiederherstellen zu wollen, der vor der türkischen, österreichischen und serbischen Fremdherrschaft bestanden hatte, ist im Alltag und beim Mann auf der Straße letztlich wenig angekommen. Pavelić war ein Mensch von ausgesuchter, primitiver Brutalität. Verhängte Todesstrafen durften bereits drei Stunden später vollstreckt werden. Berühmt ist der Korb auf seinem Schreibtisch, in dem Besucher schalenlose Austern wähnten. In Wirklichkeit handelte es sich um ausgestochene Menschenaugen, die seine sengend und mordend durchs Land ziehenden Ustaschen ihm überbracht hatten. Kaum weniger berühmt war die „Lösung des Serbenproblems“, die ihm für den NDH vorschwebte. Sie hieß: „Ein Drittel muss katholisch werden, ein Drittel muss das Land verlassen, ein Drittel muss sterben.“ Die Rache für die seit 1918 betriebene Serbifizierungspolitik spielte hier eine große, aber längst nicht die einzige Rolle. Der Wert eines Menschenlebens wurde nach der Nationalität beurteilt, die Religionszugehörigkeit konnte, wie im Dreißigjährigen Krieg, den Tod bedeuten, und die Blutrache galt wieder als legitimes Vergeltungsprinzip. Man agierte nach dem Wahlspruch „Gott und die Kroaten“, der auf Starčević zurückging. Gleich nach der Machtübernahme geht es Schlag auf Schlag. Ab 17. April 1941 gilt das Gesetz zum „Schutz von Volk und Staat“, gleichzeitig werden alle kyrillischen Aufschriften verboten, ab 23. April sind alle nicht in Bosnien geborenen Serben ausgewiesen, am 25. April werden gemischte Ehen annulliert, am 4. Mai beginnen die ersten Plünderungen und Geiselnahmen, vom 27. Mai an dürfen Serben und Juden keine öffentlichen Verkehrsmittel und Bäder mehr benutzen, ab 5. Juni finden sich alle arbeitsfähigen männlichen Serben in Lagern konzentriert, am 10. Juni folgen die ersten Ausweisungen ganzer Familien nach Serbien, am 23. Juli müssen sich alle noch verbliebenen Serben registrieren lassen, zu einem Zeitpunkt, als dies vielerorts bereits überflüssig ist, weil sie mit dem Messer, der Axt und dem Beil regelrecht abgeschlachtet worden sind. Die Leichen werden vielfach in Flüsse und Karsthöhlen geworfen; sie störten bei der Errichtung des ethnisch reinen großkroatischen Nationalstaats, auf dessen Straßen kein einziges slawisches Wort mehr fallen durfte. Die Zugehörigkeit zum Katholizismus war weit mehr als ein Glaubensbekenntnis, sie war Ideologie, Programm und Herrschaftsinstrument. Im Mai 1941 erscheint der Franziskanerpater Velimir Šimić im dalmatinischen Knin und erklärt dem entsetzten italienischen Besatzungskommandeur, dass „alle Serben in kürzester Zeit zu töten (sind).“ Nicht nur, dass Männern die Kehle durchgeschnitten wird, Schlachtopfer werden wie sakrale Handlungen inszeniert, ganze „heidnische Dörfer“ in der Herzegowina verschwinden vom Erdboden. Die Ustasche brennen gezielt orthodoxe Kirchen und Klöster nieder, Priester, Mönche, Bischöfe und Metropoliten sind ihnen alles andere als heilig, oft massakrieren sie wild und auf eigene Faust, das Abschneiden von Ohren und das Herausreißen von Herzen ist belegt, ebenso Pfählungen und Kreuzigungen. Peter Simonić, der achtzigjährige Metropolit von Sarajewo, wird erwürgt. „Jagd heute ergiebig“, so heißt es
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in einer Ustascha-Meldung nach Zagreb. Etliche Serben konvertieren freiwillig, um ihr Leben zu retten; ihre genaue Zahl ist nicht bekannt. 240.000 werden in Massentaufen, wie in den Kreuzzügen des Mittelalters, zwangschristianisiert, 180.000 vertrieben, damit Platz für die hereindrängenden katholischen Slowenen entsteht. Als schon im Frühsommer 1941 alle Gefängnisse überfüllt sind, lässt Pavelić am Zusammenfluss von Una und Save, hundert Kilometer südöstlich von Zagreb, aus einem Komplex von fünf „Speziallagern“ das berühmt-berüchtigte KZ Jasenovac bauen, das später die „größte serbische Stadt unter der Erde“, das „verborgene Kapitel des Holocaust“ und die „größte Folterkammer in der Geschichte der Menschheit“6 genannt wurde. Es wird zeitweilig von dem Franziskanerpater Filipović geleitet, der allerdings vorher vom Priesteramt suspendiert worden war. Die genaue Zahl der Opfer in Jasenovac ist bis heute genauso umstritten und heftigen erinnerungspolitischen Kontroversen ausgesetzt wie die Zahl der ermordeten Serben im Ustascha-Staat insgesamt, die nicht unter 300.000 gelegen haben dürfte. In Jasenovac selbst sind neuesten Forschungen zufolge 85.000 Menschen umgekommen, von denen 50.000 Serben, 12.000 antifaschistische bzw. muslimische Kroaten, 10.000 Roma und 12.000 Juden waren.7 Die 34.000 auf dem Territorium des NDH lebenden Juden waren vom Mai 1941 an gezwungen, den Buchstaben „Z“ für Zidor („Jude“) zu tragen. Das Staatsbürgerschaftsgesetz vom 30. April 1941 hatte die „arische Rasse“ zur Voraussetzung gemacht, Mitglied der kroatischen Nation zu sein, sodass die Juden von Anfang an diskriminiert, entrechtet und gequält wurden. Immerhin gelang 7000 die Flucht in die italienische Zone, wo sie bis zur Kapitulation Roms 1943 relativ sicher waren, 1500 erkauften sich für viel Geld eine sogenannte Ehren-Arierschaft, die auch für Pavelićs jüdische Frau gegolten haben muss. 19.000 Juden sind von der Ustascha ermordet und 7000 in deutsche Lager und damit in den Tod deportiert worden. Auch hier ging die Verursachung, der erste Schritt, von der kroatischen Regierung aus, weil sie es war, die beim Reichssicherheitshauptamt um die Verschleppung nachsuchte. Fast genauso umstritten wie die Opferzahlen ist die Haltung der katholischen Kirche zu den Verbrechen, und hier insbesondere die Rolle von Alojzije Stepinac (1898–1960), dem Erzbischof von Zagreb. Anlässlich der Machtübernahme des Poglavnik hatte er in allen kroatischen Kirchen ein Tedeum lesen lassen, und der Papst machte ihn zum obersten Militärvikar seines Landes. Pius XII. empfing ihn noch 1943 im Vatikan und wünschte ihm viel Glück für die „weitere Arbeit“. Stepinac’ Haltung „schwankte zwischen Apotheose und halbher6 Zit. nach Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachbarstaaten. Konstruktion, Dekonstruktion und Neukonstruktion von „Erinnerungen“ und Mythen, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 1, S. 373–416, hier: S. 401. 7 Vgl. Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachbarstaaten, a. a. O., S. 400; umfassend: Alexander Korb, Im Schatten des Weltkrieges. Massengewalt der Ustascha gegen Serben, Juden und Roma in Kroatien 1941–1945, Hamburg 2013; Slavko Goldstein, 1941 – Das Jahr, das nicht vergeht. Die Saat des Hasses auf dem Balkan, Frankfurt am Main 2018.
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ziger Distanz.“8 Während er den Ustascha-Staat uneingeschränkt begrüßte, verurteilte er die Zwangstaufen und die Verfolgungen der Serben, Juden und Roma, aber nie mit der erforderlichen Konsequenz, was ihm in der Autorität seines Amtes sehr wohl möglich gewesen wäre. So kam paradoxerweise der eigentlich scharfe Protest aus den Reihen der deutschen und italienischen Besatzung. Der „Bevollmächtigte Deutsche General in Agram“, der 1886 in Braunau am Inn geborene ehemalige k. u. k. Offizier Edmund von Glaise Horstenau, urteilte im Februar 1942: „Der Hass gegen sie (die Ustascha) ist kaum mehr zu überbieten. (…) Keine Woche vergeht, in der nicht eine ‚Säuberungsaktion‘ durchgeführt wird, bei der ganze Dörfer samt Frauen und Kindern dran glauben müssen.“9 In einem Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an den Reichsführer-SS vom 17. Februar 1942 heißt es: „Als wichtigste Ursache für das Aufflammen der Bandentätigkeit müssen die Gräueltaten bezeichnet werden, die von den Ustascha-Verbänden gegenüber den Pravoslaven verübt werden. (…) Die niedergemetzelten und mit den sadistischsten Methoden zu Tode gequälten Pravoslaven müssen schätzungsweise auf 300.000 Menschen beziffert werden.“ Ein SS-Gruppenführer ergänzt: „Diese Menschen, die in ungezählten Fällen selbst Zeuge der bestialischen Hinmordung ihrer Angehörigen waren, hatten nichts mehr zu verlieren (…). Diese Ermordungen (…) werden letztlich den Deutschen zur Last gelegt.“ Mit anderen Worten: Ein SS-Mann beklagt sich darüber, faktisch als Gehilfe der Ustascha dazustehen, oder, anders formuliert, die Kollaboration des NDH-Staates wurde zusehends als Belastung, wenn nicht als Bedrohung empfunden. Das ging so weit, dass von etlichen Militärdienststellen wiederholt die Beseitigung des Ustascha-Regimes verlangt wurde. Die Italiener sagten: „Wir sind nur hier, um dieses abstoßende Regime und seine Exzesse zu fördern“, und einer ihrer Offiziere formulierte unverblümt: „Die Kroaten sind unsere Feinde.“ Schon im Sommer 1941, also nur drei Monate nach der Besatzung, warnte ein deutscher Informant, dass die überall sichtbare „Indifferenz breiter Bevölkerungsschichten in einen aktiven Widerstand“ umschlagen könne.10 Pavelić hatte aber einen Verbündeten, der ihm bis zum Schluss die Stange hielt, nämlich Hitler. Der deutsche „Führer“ erlaubte dem kroatischen „Führer“, sich „auszutoben“, falls erforderlich auch „mit Blutrache“; er empfing ihn am 7. Juni 1941 auf dem Obersalzberg und ermutigte ihn, seine „national intolerante Politik“ noch fünfzig Jahre fortzusetzen. Als im November 1942 ein profa 8 Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachbarstaaten, a. a. O., S. 396; Wieland Köbsch, Die Juden im Vielvölkerstaat Jugoslawien 1918–1941. Zwischen mosaischer Konfession und jüdischem Nationalismus im Spannungsfeld des jugoslawischen Nationalitätenkonflikts, Berlin und Münster 2013. 9 Zit. nach Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 139. 10 Alle Zitate: Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 139; Mazower, Hitlers Imperium, a. a. O., S. 324 und Holm Sundhaussen, Okkupation, Kollaboration und Widerstand in den Ländern Jugoslawiens 1941–1945, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938– 1945), a. a. O., S. 349–365, hier: S. 358 ff.
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schistisches „Komitee der nationalen Rettung“ aus Sarajevo mit der Bitte an Hitler herantrat, für Bosnien-Herzegowina den Autonomiestatus unter der direkten Patronage des Deutschen Reiches zu verfügen, erging nicht einmal eine Antwort. Trotzdem war der Poglavnik schon zu dem Zeitpunkt in der eigenen Bevölkerung so diskreditiert, dass die Wehrmacht und die SS, wie immer in scharfer Konkurrenz zueinander, Schritt für Schritt die gesamte vollziehende Gewalt im „Unabhängigen Staat Kroatien“ übernahmen und der Ustascha Einhalt bei ihrem Abschlachtungsfeldzug geboten. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion eröffnete Pavelić die willkommene Chance zur Stabilisierung und Aufwertung der eigenen Person und Position, vor allem gegenüber Mussolini und dessen Besatzungstruppen. Schon am 23. Juni 1941 ging ein Brief nach Berlin, in dem der Wunsch ausgesprochen wird, ein kroatisches Freiwilligenkontingent für das Unternehmen Barbarossa abzustellen. Anfang Juli kommt die positive Antwort. Die NDH-Streitkräfte litten unter dem Strukturmangel, dass sie zweigleisig aus den Ustascha-Milizen und der Heimwehr, den Domobranen, zusammengesetzt waren. Bei den Ersteren handelte es sich um Freiwillige, bei den Letzteren um Wehrpflichtige, die äußerst schlecht ausgebildet, ausgerüstet und bezahlt dastanden. Sie mussten mit umgerechnet fünf Pfennigen Tagessold auskommen, was in der Landeswährung einer Kuna entsprach. Während die Verbände der Ustascha in die Wehrmacht integriert waren und somit dem direkten deutschen Kommando unterstanden, bildete die Domobranstvo die reguläre Armee des (schein-)souveränen Staates. Ende 1941 befehligte Slavko Kvaternik, nunmehr Verteidigungsminister Kroatiens, eine Truppe von 55.000 Soldaten, deren Offizierskorps weitestgehend aus der k. u. k. Armee stammte. Viele von ihnen hatten im Ersten Weltkrieg gegen Italien gekämpft, als Waffenbrüder des deutschen Kaiserreichs. Nachdem das „verstärkte kroatische Infanterieregiment 369“ auf Hitler vereidigt worden war, begann am 21. August 1941 die Verladung für die Ostfront. Die 5000 Mann beteiligten sich an der Eroberung und der Kesselschlacht von Charkow 1941 bzw. 1942, bevor sie in Stalingrad zum Einsatz kamen, wo zwei Drittel der Kräfte verlorengingen und tausend Seelen in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten. Bedenkt man, dass Pavelić im Dezember 1944 noch über 70.000 Domobranen, 76.000 Ustaschen und 32.000 Polizeigendarmen verfügte, so ist der kroatische Kriegsbeitrag und damit die kroatische militärische Kollaboration doch recht geringfügig geblieben. Bedeutender ist da die SS-Freiwilligengebirgsdivision „Kroatien“ gewesen, die später den Namen Handžar, die Bezeichnung für einen bosnischen Krummsäbel, bekam, weil sie sich aus muslimischen Bosniaken gebildet hatte und ihre eigentliche Aufgabe darin sah, die Ustascha aus Bosnien zu vertreiben. Sie bildete sich im Frühjahr 1943. Zu ihr meldeten sich fast 25.000 Mann. Das entsprach in etwa der Größenordnung, in der sich die in Kroatien lebenden Volksdeutschen an Hitlers Rassen- und Vernichtungskrieg beteiligt haben. Sie stellten in der Waffen-SS und den deutschen Polizeieinheiten 16.000, in der Wehrmacht 3000 und in der Organisation Todt sowie in anderen Arbeitsdiensten 7000 Personen. Ihre zentrale Organisation, die „Deutsche Volksgruppe
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in Kroatien“ unter dem „Volksgruppenführer“ Branimir Altgayer, war eindeutig nationalsozialistisch ausgerichtet und strukturiert. Im deutsch besetzten Serbien, Rest-Jugoslawien, gab es 3,8 Millionen Einwohner, die zu weit über 90 Prozent auch ethnische Serben waren. Die oberste vollziehende Gewalt besaß der „Militärbefehlshaber Serbien“ bzw. der „Bevollmächtigte Kommandierende General“ mit Sitz in Belgrad, eigentlicher Machthaber war aber auch hier der SS-Mann Veesenmayer, der im August 1941 die „Regierung der nationalen Rettung“ installierte, ein Kollaborationsregime unter dem General Milan Nedić. 1877 in Grocka an der Donau geboren, hat Nedić nach dem Eintritt in die Belgrader Militärakademie 1895 sein gesamtes Leben in Uniform verbracht. Seit 1908 fungierte er als k. u. k. Generalstabsoffizier und kämpfte im Ersten Weltkrieg an der Saloniki-Front. Seine Familie war weitläufig mit der Karadjordjević-Dynastie verwandt. 1939 wurde er Kriegsminister. Nach dem Scheitern einer ersten „Kommissarischen Regierung“ unter Milan Aćimović, die sich in der Bevölkerung durch das Mittragen deutscher „Strafexpeditionen“ schnell diskreditierte, gelangte er an die Spitze der „regulären serbischen Regierung“. Nedić verstand sein Amt vom ersten Moment an als Selbstaufopferung, weil die Deutschen ihn vor die Alternative gestellt hatten, entweder zu kollaborieren oder der faktischen Auslöschung seines Volkes zusehen zu müssen. Wie ernst dies gemeint war, zeigte sich, als die Wehrmacht den beginnenden serbischen Widerstand im November 1941 in Kragujevac mit der Erschießung von 4000 Geiseln beantwortete. Um der Londoner Exilregierung die Legitimation zu bestreiten, erhielt Nedić den Titel „Serbischer Ministerpräsident“. In seiner Schicksalsrolle stellte er sich mit dem mittelalterlichen Fürsten Lazar gleich. Auf jeden Fall war seine Kollaboration nicht genuin oder gewollt, wie bei Pavelić, sondern erpresst. Er war bereit, diesen hohen Preis zu zahlen, wenn sein Land dafür in relativer Stabilität und Selbstständigkeit weiterexistieren konnte. Diese Rechnung ist letztlich nicht aufgegangen. Ideologisch stützte Nedić sich auf die Zbor-Bewegung von Dimitrije Ljotić, die seit 1940 zwar formell verboten war, andererseits aber mehrere Mitglieder in der Marionettenregierung stellte. Nedić selbst war eher Nationalist als Faschist und hing der überkommenen Vorstellung einer urserbisch-patriarchalischen Familien- und Dorfgemeinschaft an. In seinem Scheinstaat, der nicht einmal über Symbole verfügte, schalteten und walteten die Deutschen, wie sie wollten. Sie waren es, von denen die Kollaborationstruppen der Serbischen Staatswache und das Serbische Freiwilligenkorps ihre Befehle bekamen. Je kleiner sein Territorium zum Beispiel durch die Abtretungen an Bulgarien wurde, umso häufiger artikulierte er seine Vision von „Großserbien“, einem Bauern(stände)staat als Teil des „Neuen Europa“. Immer wieder und mit immer neuen Unterwerfungsbekundungen versuchte er, dem „Führer“ dieses soziale und europäische Modell schmackhaft zu machen, aber „er war nicht Kollaborateur genug, um Hitlers Vertrauen gewinnen zu können, und hatte sich andererseits durch die Zusammenarbeit mit den Deutschen viel zu sehr kompromittiert, um die Bevölke-
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rung Serbiens hinter sich zu vereinen.“11 Als ihm klar wurde, dass Berlin seinem Regime nie den Status der Legalität oder gar Unabhängigkeit verleihen würde, häuften sich seine Drohungen, das Amt niederzulegen oder sich sogar das Leben zu nehmen. Spätestens ab 1943 befand er sich „im Zustand der permanenten Demission“12. Nedić, der in Wirklichkeit dem Londoner Exilkönig Peter II., auf den seine Staatswache vereidigt war, bis zum Schluss treu ergeben blieb, litt zutiefst unter der Ohnmacht, mit ansehen zu müssen, wie Bulgaren im „Herzen Serbiens“ die Hoheit übernahmen, wie die 400.000 von der Ustascha aus Kroatien vertriebenen serbischen Flüchtlinge verarmten und verelendeten, wie Wehrmacht und SS das Land aussaugten und ausplünderten und die serbische Gendarmerie im Rahmen der „Gegenterrormaßnahmen“ mit vorgehaltener Pistole dazu zwangen, die eigenen Leute zu erschießen. Bei der Verfolgung der 16.700 Juden auf seinem Terrain, von denen 15.000 insbesondere in dem berüchtigten KZ Sajmište vor den Toren Belgrads (aber noch auf dem Gebiet des NDH) ermordet wurden, verweigerte er sich konsequent. Von bewusster, gewollter und autonomer Kollaboration kann hier wohl keine Rede sein. Der eigentliche serbische Kollaborateur hieß deshalb auch nicht Nedić, sondern Ljotić, der Schöpfer des „Freiwilligenkorps“. Allerdings überreichte auch er den Deutschen 1943 ein 26-seitiges Memorandum, in dem er die deutsche Herrenrassenpolitik und das Fehlen einer konstruktiven Europakonzeption scharf verurteilte. Im Januar 1942 tritt der 48-jährige Dragoslav („Draža“) Mihailović als Kriegsminister in die Exilregierung ein. Er ist gleichzeitig Kommandant der „Jugoslawischen Armee in der Heimat“, hatte die bedingungslose Kapitulation vom 17. April 1941 nicht anerkannt und deshalb die Tschetnik-Bewegung gegründet, deren Bezeichnung sich von ćeta („Schar“) ableitet. Ihren bereits im 19. Jahrhundert gebräuchlichen Namen und ihre Embleme bezog sie von den Freiheitskämpfern aus dem Ersten Weltkrieg. Diese paramilitärischen Verbände operierten aus den Wäldern und Bergen heraus. Ihr Ziel war die Restauration der Monarchie in einem vergrößerten Jugoslawien mit einem vergrößerten Serbien als Mittelpunkt, das von allen Kroaten, bosnischen Muslimen, Ungarn, Deutschen und Albanern ethnisch zu „reinigen“ war. Auf der großen, unendlich viele Zwischenstufen beinhaltenden, von der Kollaboration bis zum Widerstand reichenden Skala sind die Tschetniks nur schwer einzuordnen. Mihailović selbst war jedenfalls Monarchist, Rassist, Nationalist und Antikommunist. Seine Exzesse gegen die Muslime, die allein bis Ende 1941 über 150.000 Opfer kosteten, wurden nur noch 11 Holm Sundhaussen, Geschichte Serbiens. 19.–21. Jahrhundert, Wien, Köln und Weimar 2007, S. 334; Milan Ristović, General M. Nedić – Diktatur, Kollaboration und die patriarchaische Gesellschaft Serbiens 1941–1944, in: Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime, a. a. O., S. 633–687; Sabrina P. Ramet und Sladjana Lazić, The Collaborationist Regime of Milan Nedić, in: Sabrina P. Ramet and Ola Listhaug (Hg.), Serbia and the Serbs in World War Two, Basingstoke and New York 2011, S. 17–43. 12 Neulen, An deutscher Seite, a. a. O., S. 226.
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von der Ustascha übertroffen. Nachdem bereits im Frühsommer 1941 ein Aufstand gegen die Besatzer gescheitert war, gingen viel Tschetniks zu Nedić oder gleich zu den Deutschen über, wo sie wie Marsmenschen kritisch beäugt wurden. Bis zum Dezember 1942 sahen sich von den 13.400 in deutschen Diensten stehenden Tschetniks sieben Einheiten wegen „Unzuverlässigkeit“ entwaffnet, was der überwiegenden Mehrheit entsprach. Mihailović spielte von Anfang an ein riskantes, von Täuschungen, Verlogenheiten und Bluff gekennzeichnetes Spiel an mehreren Fronten, das einzig und allein der Strategie diente, bis zur erhofften Landung der Alliierten im Donauraum Zeit zu gewinnen und zu überwintern. Um dieses Ziel zu erreichen, diente er sich den Deutschen und Italienern an, meldete erfundene militärische Erfolge seiner Guerillatruppen nach London und ließ sich von den Briten wie auch von Nedić finanzieren. Man fand ihn auf allen Kanälen und in allen Gassen. Über wie viel Mann er verfügte, weiß keiner. Die Deutschen sprachen von 30.000, er selbst von 180.000 Kämpfern. Wie groß ihre Zahl auch immer war, über ein geschlossenes ideologisches Programm verfügten die Tschetniks nicht. Ihre Heterogenität war ihre Stärke und Schwäche zugleich. Die Umsetzung ihrer ethnischen Vorstellungen hätte die „Umsiedlung“ von 2,7 Millionen Menschen aus „Großserbien“ bedeutet. Auf dem Weg zu diesem neuen nationalen Staat ließ Mihailović seinen Unterführern freie Hand für temporäre Bündnisse und Stillhalteabkommen mit allen möglichen Partnern, auch mit Besatzern, während er sich dezent im Hintergrund hielt, um eine weiße Weste zu behalten. Hitler bewahrte ihm gegenüber Abstand, solange er die Errichtung einer zweiten alliierten Front auf dem Balkan befürchtete, und Nedić sah in ihm den gefährlichsten Feind im Kampf um das „nationalistische Potential“, war gleichzeitig aber in einem anderen großen Kampf auf ihn als Bündnispartner angewiesen. Am 25. Mai 1892 wird im kroatischen Kumrovec Josip Broz geboren. Die Mutter ist Slowenin, der Vater Kroate. Josip geht in die Mechaniker-Lehre und bringt es bis zum Offizier in der k. u. k. Armee, deren Untergang er fördert und begrüßt. In der seit 1921 verbotenen Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) engagiert er sich früh, vor allem, weil ihm klar ist, dass sie als einzige politische Gruppierung des Vielvölkerstaates supranational ausgerichtet und damit in der Lage ist, dass zersetzende und selbstmörderische Gezänk aller anderen nationalistischen und separatistischen Parteien, Bünde und paramilitärischen Organisationen zu überwinden. In der Illegalität beginnt er sich Tito zu nennen, was er ein Leben lang beibehält. Die KPJ ist in der Zwischenkriegszeit wirkungslos und schwach, in Bosnien-Herzegowina hat sie nicht einmal 900 Mitglieder. 1937 wird Tito ihr Generalsekretär. Am 22. Juni 1941, dem Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, formiert eine kleine Gruppe von Kroaten in einem Dorf bei Sisak eine Partisaneneinheit und bombardiert eine Eisenbahnstrecke. Es ist der erste Schritt auf dem Weg zu einem Widerstand, wie es ihn in vergleichbaren Dimensionen praktisch nirgendwo in Europa gegeben hat. Tito befehligt schnell 14.000 Kämpfer. Am 4. Juli 1941 ergeht in Belgrad der offizielle Aufruf zum bewaffneten Aufstand. Während man anfangs noch gemeinsam mit den Tschetniks gegen die Wehrmacht und
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die Ustascha vorgeht, kommt es im September 1941 zum Bruch, Bürgerkrieg und ideologischen Vernichtungsfeldzug. Tito hatte in der serbischen Stadt Užice sein Hauptquartier aufgeschlagen und eine (Mini-)Republik ausgerufen, um Mihailović von dort aus die Führungsposition in der Widerstandsbewegung zu nehmen. Mihailovićs Angriff auf das Quartier endet in der Katastrophe, und erst jetzt dient er sich den Deutschen an. „Es war der Beginn einer immer tieferen Verstrickung in vielgestaltige Formen der Kooperation und der Kollaboration mit dem erklärten Feind“.13 Hitler ließ Mihailović abblitzen, aber der fand einen anderen Verbündeten, nämlich Stalin, und hier liegt der eigentliche Kern des Zerwürfnisses zwischen Tito und dem Kreml. Da für Stalin die erhoffte zweite Front der Alliierten absolute Priorität besaß, sandte er Tito keine Waffen, sondern endlose Briefe mit der Belehrung, vom kommunistischen Umsturz abzulassen, während der Moskauer Radiosender „Freies Jugoslawien“ gleichzeitig und pausenlos Tschetnik-Propaganda über den Äther laufen ließ. Užice wurde im November 1941 von der Wehrmacht erobert, Tito entkam in letzter Minute und ging nach Kroatien. Ein Jahr später erobert er das westbosnische Bihać und proklamiert dort, inmitten des „Unabhängigen Staates Kroatien“, eine zwei Millionen Einwohner zählende Republik und den „Antifaschistischen Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens“(AVNOJ). Es war eine Regierung im Wartestand. Fern von Donau, Drau und Drina, im tiefsten Sibirien, bildeten ausgerechnet jene tausend Kroaten, die in Stalingrad an der Seite der Deutschen in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren, die „Erste königliche Brigade“ der jugoslawischen Armee, die sich, zurück in der Heimat, Tito unterstellte. Mihailović war mit dem Kampf an drei Fronten überfordert und wurde zusehends ein Opfer seiner eigenen Verzögerungstaktik. Er stand mit Nedić in ständigem Kontakt, erhielt Geld von ihm, und Deserteure wechselten permanent zwischen seinem und Nedić’ Lager. Beide verband das Ziel, Tito auszuschalten und Serbien zur Führungsnation eines Nachkriegsjugoslawiens zu machen, und beide scheiterten. Mihailović’ versuchtes Doppelspiel, die Partisanen mit Waffen von den Briten und Soldaten von den Deutschen niederzuringen, wurde weder in London noch in Berlin mitgespielt, das Wehrmachtskommando verlangte von ihm vielmehr „Waffenabgabe und bedingungslose Kapitulation“. Er wollte sich, indem er mit dem Besatzer kollaborierte, zum alleinigen Widerstandsführer machen und landete als Ergebnis dieses Verrats zwischen allen Stühlen. Spätestens seit Ende 1941 entwickelte sich ein Volks- und Bürgerkrieg aller gegen alle, in dem Tschetniks, Ustaschen, Partisanen, Nedić’ „reguläre Armee“, Deutsche und Italiener in immer neuen Konstellationen und Konfigurationen mit- und gegeneinander kämpften und aus dem nur einer als gesamtjugoslawische Integrationsfigur hervorging: Tito. In der Nacht vom 29. auf den 30. November 1943 erklären sich 142 Delegierte des AVNOJ im mittelbosnischen Jajce zur obersten gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt aller Völker des Landes. Die „verräterische“ Exilregierung in London wird als null und nichtig bezeichnet und König Peter II. das 13 Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 149.
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Recht verwehrt, in seine Heimat zurückzukehren. Praktisch gleichzeitig lassen die Westalliierten Michailović auf der Konferenz von Teheran fallen und setzen auf den Kommunisten Tito. Der Kommunist Stalin musste sich diesem Entschluss widerwillig beugen. Nur kurzfristig hatte der Tschetnikführer durch Hitlers verzweifelten Versuch, sein Scheitern auf dem Balkan abzuwenden, noch eine gewisse Aufwertung erfahren. Ende August 1943 war der Wiener Hermann Neubacher zum „Sonderbevollmächtigten des Auswärtigen Amtes für den Südosten“ ernannt worden. Er wollte alle Kräfte im Kampf gegen den Kommunismus bündeln und stieß somit zwangsläufig auf Nedić und Mihailović, die er zu einem brüchigen Bündnis bewegte. Währenddessen haben die Deutschen die alleinige Kommandogewalt über alle, auch die serbischen und kroatischen Militärverbände übernommen und beginnen die „Bandenbekämpfung“ mit Einheiten der Waffen-SS, die aus Einheimischen der besetzten Länder formiert werden: der berüchtigten volksdeutschen Division „Prinz Eugen“, der muslimischen Handžar und der kosovo-albanischen Skanderbeg. Je mehr ihr Kampf versagt und aus den „Banden“ Titos eine schnell anwachsende Volksbefreiungsarmee wird, um so unausweichlicher gerät Mihailović auf beiden Seiten zur Unperson: Im Mai 1944, als Hitler bereits 100.000 Goldmark auf seinen Kopf ausgesetzt hat, erhält er seine Entlassung als Kriegsminister der Exilregierung. Auch Pavelić erfuhr durch die Kapitulation Italiens im September 1943 eine kurze, trügerische Aufwertung. Denn sein Anspruch, einem homogenen und geschlossenen Nationalstaat vorzustehen, war dadurch getrübt, ja unglaubwürdig, dass in dem von Italien annektierten adriatischen Küstenstreifen mehrheitlich „ethnisch reine“ Kroaten wohnten. Dieses Terrain fiel jetzt an den NDH zurück, der für Mussolini lediglich ein italienischer Satellit war. Um ihn schwach und in Abhängigkeit zu halten, hatte er sich nicht gescheut, auch gegen Hitlers strikte Weisung mit den Tschetniks zusammenzuarbeiten – das Verwirrspiel in den Schluchten des Balkan kannte keine Grenzen. Istrien beispielsweise wurde 1943 von den Nationalsozialisten okkupiert und blieb damit ein Desiderat (und Makel) in Pavelićs Bilanz. In den anderen „wiedergewonnenen Gebieten“ begann eine grausame Abrechnung mit den Italienern, angeführt von Titos Partisanen, die inzwischen 300.000 Kämpfer auf sich vereinigten. Die Wehrmacht, die einmal mit 30.000 Soldaten eingerückt war, musste mittlerweile 250.000 Soldaten gegen sie aufbieten. Eine gesonderte Betrachtung erfordern die Entwicklung und die Verhältnisse in Slowenien, wo bei Kriegsbeginn 1,2 Millionen Menschen lebten. Sie waren ab 1941 einer brutalen Germanisierung- und Italianisierungspolitik ausgesetzt. Die Slowenen in den vom Reich annektierten Gebieten der Untersteiermark, Südkärntens und Oberkrains galten „grundsätzlich als Staatsfeinde“. Schon zwei Tage bevor dort die deutsche Zivilverwaltung tätig wurde, richtete Heydrich einen „Umsiedlungsstab des RSHA“ ein, der sofort mit Deportationen beginnen konnte. Von den 800.000 Einwohnern dieses Terrains sollten 260.000 abgeschoben und auf ihren Höfen 58.000 Volksdeutsche aus ganz Südosteuropa angesiedelt werden. Dass weder die eine noch die andere Größen-
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ordnung erreicht worden ist, liegt nicht zuletzt an der Rivalität zwischen Heydrich und Himmler, der im großen Stil „Eignungsprüfer“ seines „Rasse- und Siedlungsamtes der SS“ zu Musterungen entsandte, in denen die „rassisch wertvollen“ und „eindeutschungsfähigen“ Personen untersucht werden sollten. Insgesamt 550.000 sind dieser demütigenden Prozedur zum Opfer gefallen, aber die Bilanz der „sinnlosen Völkerverschiebung“ blieb hinter allen Erwartungen zurück: 68.000 Slowenen wurden deportiert, davon 16.800 nach Kroatien und Serbien sowie 36.000 zur Zwangsarbeit bzw. 16.000 zur „Wiedereindeutschung“ ins Reich. Überdies hatte das entwürdigende Vorgehen, das letztlich auf die Eliminierung alles Slowenischen aus Sprache, Schule und Öffentlichkeit abzielte, zur Folge, dass die ursprüngliche Sympathie für die Besatzer schnell ins Gegenteil umkippte. Dem Schriftsteller Peter Handke, der 1942 als Sohn einer Slowenin und eines Wehrmachtssoldaten in dem Südkärntner Dorf Griffen mitten in diesen Umbruchsprozess hineingeboren wird, hat die gespaltene, ja gebrochene nationale und familiäre Genese, Biographie und Existenz den eigentlichen Impuls für sein gesamtes Lebenswerk gegeben. Der jugoslawische Kampf gegen Nazideutschland ist „eine Art Gründungsmythos für Handkes Seelenheimat“.14 Durch die Friedenskonferenzen von St. Germain und Trianon waren nach dem Ersten Weltkrieg 300.000 Slowenen und 140.000 Kroaten unter italienische Herrschaft geraten. Schritt für Schritt wurde ihnen verboten, in Schulen, Bibliotheken, Zeitungen, Kirchen und Gerichten ihre Sprache zu gebrauchen. Diese Politik war von Hitlers Anweisung, Slowenien „wieder deutsch zu machen“, nicht weit entfernt. Unter- und Innerkrain mit Ljubljana, die 1941 von Mussolinis Truppen besetzt wurden, blieben die einzigen Gebiete, in denen sich das Slowenentum noch relativ unbehelligt entfalten konnte. Hier entwickelten sich die ersten oppositionellen Gruppierungen, hier zeigte sich aber auch die erste Kollaborationsbereitschaft, vor allem getragen von der konservativ-klerikalen Slowenischen Volkspartei (SLS). Die vom passiven Dulden bis zum aktiven Mittun reichende Eskalation resultierte nicht zuletzt aus der Entstehung der kommunistisch dominierten Befreiungsfront OF im Juli 1941, die sich nicht nur als Fortsetzung der illegalen Kommunistischen Partei Sloweniens (KPS) der Zwischenkriegszeit verstand, wie diese aber den alleinigen Führungsanspruch in der Gesellschaft erhob und sich Ende 1942 mit Titos Partisanenbewegung zusammenschloss. Das slowenische Bürgertum wurde dadurch geradezu in die Hände der Besatzer getrieben. 150.000, also 13 Prozent der Bevölkerung, haben in der Wehrmacht und in paramilitä14 Malte Herwig, Meister der Dämmerung. Peter Handke – Eine Biographie, München 2010, S. 17; Alexa Stiller, Grenzen des „Deutschen“: Nationalsozialistische Volkstumspolitik in Polen, Frankreich und Slowenien während des Zweiten Weltkrieges, in: Beer, Beyrau und Rauh (Hg.), Deutschsein als Grenzerfahrung, a. a. O., S. 61–84; Günter Schödl, Ideologische und außenpolitische Vorgeschichte der NS-Slowenienpolitik, in: Helmut Rumpler und Arnold Suppan (Hg.), Geschichte der Deutschen im Bereich des heutigen Slowenien 1848–1941, Wien und München 1988, S. 287–309.
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rischen Formationen gedient, viele von ihnen allerdings zwangsverpflichtet, während die OF es auf 40.000 Kämpfer brachte. Damit war das Feld für einen blutigen Bürgerkrieg bereitet, denn für die OF galten sogar die Widerstandsträger als „Volksverräter“, die sich außerhalb ihrer Befreiungsfront befanden, nicht zu reden von den NS- Kollaborateuren im Steirischen Heimatbund und im Kärntner Volksbund. Dieser innerslowenische Krieg hat 80.000 Menschen das Leben gekostet. Das breit gefächerte antikommunistische Lager reichte von der „Katholischen Aktion“, der Geistlichkeit des Bistums Ljubljana unter Bischof Rožman und den „Dorfwachen“ bis zur offen kollaborationistischen Milizia volontaria anticomunista (MVAC), die Ende 1942 schon 6000 bewaffnete Kräfte zählte und eng mit den italienischen Besatzern zusammenarbeitete. Ihre Offiziere wurden von Rožman ernannt, der auch die Gründung der aus 15.000 Freiwilligen gebildeten „Heimwehr“ (Domobranen) nach Kräften förderte und Priester für ihre Propagandaarbeit zur Verfügung stellte. Die Waffen erhielt sie von der SS, da die italienische Besatzungsmacht seit dem September 1943 nicht mehr präsent war. Der neu entstandenen Operationszone „Adriatisches Küstenland“ unter dem Kärntner Gauleiter und Reichsstatthalter Friedrich Rainer wurden auch jene slowenischen Gebiete zugeschlagen, die früher zu Italien gehört hatten. Neben die formell seit dem 24. September 1943 existierende „Heimwehr“, die schließlich fast die gesamte MVAC absorbierte, traten mit dem „Slowenischen Nationalen Schutzkorps“ in Julisch Venetien und dem „Oberkrainer Selbstschutz“ weitere den Deutschen bedingungslos ergebene bewaffnete Formationen. Als die Londoner Exilregierung die „Heimwehr“ Mitte 1944 zum Frontenwechsel aufforderte, erhielt sie ein kategorisches Nein zur Antwort. Vielmehr bereitete ein slowenischer Nationalausschuss in Ljubljana die Errichtung einer eigenen Nationalarmee vor, die im Februar 1945 unter dem Kommando des ehemaligen jugoslawischen Generals Leon Rupnik tatsächlich noch Gestalt angenommen hat. Rupnik war zuvor Generalinspekteur der „Heimwehr“ mit dem Dienstgrad eines deutschen Divisionsgenerals gewesen. Widerstand und Kollaboration standen sich da in dem zerstückelten Land bereits im erbarmungslosen Endkampf gegenüber, der schnell auf das gesamte Terrain übergriff, das bis 1941 unter dem Namen Jugoslawien firmiert hatte.15 15 Tone Ferenc, Die Kollaboration in Slowenien, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 337–348; Gregor J. Kranjc, To Walk with the Devil. Slovene Collaboration and Axis Occupation 1941–1945, Toronto 2013; Rolf Wörsdörfer, Krisenherd Adria 1915–1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum, Paderborn und München 2004; Elena Aga Rossi und Maria Teresa Giusti, Una Guerra a Parte. I militari italiani nei Balcani 1940–1945, Bologna 2011; Amedeo Osti Guerrazzi, „Schonungsloses Handeln gegen den bösartigen Feind“. Italienische Kriegsführung und Besatzungspraxis in Slowenien 1941/42, in: VfZ, Nr. 4/2014, S. 537–567; Aram Mattioli, Unter Italiens Stiefel, in: „Die Zeit“ vom 19.10.2006, S. 92; Filippo Focardi, Italien als Besatzungsmacht auf dem Balkan: Der Umgang mit Kriegserinnerung und Kriegsverbrechen nach 1945, in: Echternkamp und Martens (Hg.), Der Zweite Weltkrieg in Europa, a. a. O., S. 163.
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Positionen und Gegenposition, Freund und Feind waren in dem verwirrenden Geflecht rivalisierender Herrschaften oft kaum noch zu identifizieren. Im ostbosnischen Foča, welches in den viereinhalb Kriegsjahren 27 Machtwechsel erlebt hatte, deponierte der Besitzer eines kleinen Ladens eine deutsche, eine italienische, ein Ustascha- und eine jugoslawische Flagge mit dem Partisanenstern unter seinem Ladentisch. Nachts lauschte er den hin- und herwogenden Kämpfen, um am nächsten Tag die passende Fahne unter dem Ladentisch hervorzuholen. Genutzt hat es ihm nichts, er ist als Kommunist von den Italienern erschossen worden. Pavelić, Nedić, Ljotić und Mihailović glaubten nicht, dass sie erschossen werden, sondern immer noch an ihre Mission und Chance. Mihailović, von den Alliierten fallen gelassen, verfügte zum Schluss über 20.000 schlecht ausgerüstete Soldaten und suchte die Fusion mit den slowenischen Domobranen. Noch am 27. März 1945 formiert er zusammen mit ihnen eine Heimatarmee, unterstellt sie dem jugoslawischen König und hofft, seinem Schicksal zu entgehen. Auch nach dem Kriegsende ist das Niederringen des Kommunismus sein einziges Ziel, weshalb es fraglich ist, ob er als „Kollaborateur und Verräter“ bezeichnet werden kann. Mit diesem Verdikt haben ihn seine Todfeinde am 17. Juli 1946 hingerichtet. Nedić hatte sich im Oktober 1944 mit seiner „Regierung der nationalen Rettung“ nach Wien und Kitzbühl begeben und verlangte für sie auch weiterhin die „öffentliche Anerkennung“ vonseiten Hitlers. Die Amerikaner lieferten ihn am 5. Juni 1945 an die neue jugoslawische Regierung aus, die ihn in Untersuchungshaft steckte. Dort ist er unter mysteriösen Umständen bei einem als Selbstmord deklarierten Fenstersturz ums Leben gekommen. Ljotić starb durch einen Verkehrsunfall im April 1945 in Slowenien. Einzig der gerissene Pavelić ist 1959 im Deutschen Krankenhaus in Madrid still und friedlich eingeschlafen. Allerdings litt er an den Folgen eines Attentats, das zwei Jahre zuvor auf ihn verübt worden war. Noch am 4. Mai 1945, in allerletzter Minute, hatte er in einem Memorandum an die Westalliierten appelliert, den NDH zu erhalten, weil dies kein faschistischer Staat sei. Als er keine Antwort erhielt, floh er aus Zagreb und versteckte sich in mehreren Franziskanerklöstern in Österreich und Italien, auch der Vatikan bot ihm Unterschlupf. Von dort gelangte er mit dem Wissen westlicher Geheimdienste über die sogenannte „Rattenlinie“ nach Argentinien und wurde nach dem Sturz Peróns Berater der Geheimpolizei von Paraguay. Bis zu seinem letzten Atemzug in Spanien hat er nicht von seinem Anspruch abgelassen, legitimer Chef der kroatischen Exilregierung zu sein. Im Mai 1944 versuchte die Wehrmacht mit ihrer siebten und letzten Offensive „Rösselsprung“, Tito zu ergreifen, tot oder lebendig. 654 Fallschirmjäger springen über dem bosnischen Bergstädtchen Drvar ab, wo sich der Partisanenchef in einer Felsenhöhle verborgen hält. Aber das Einzige, was sie finden, ist eine frisch geschneiderte Marschalluniform, Tito hat sich in die Wälder davongemacht und bereitet den Gegenstoß vor. Simultan zum Vorrücken der Roten Armee auf Serbien und das Banat gelingt ihm der Angriff von der kroatischen Seite; am 20. Oktober 1944 muss die Wehrmacht Belgrad verlassen. Der Zulauf zu seiner Volksbefreiungsarmee kennt jetzt keine Gren-
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zen mehr, am Ende hat er 800.000 Mann unter Waffen. Es ist die größte Widerstandsarmee in Europa. Sie hat den Weg zur Staatsnation geebnet, die sich nicht ethnisch, sondern als Staatsbürgergemeinschaft definierte, die aber einen unendlich hohen Blutzoll forderte. Jugoslawien war von 1941 bis 1945 das Schlachthaus Europas. Über die Opferzahlen wird bis heute gestritten, vielleicht werden sie nie exakt zu ermitteln sein. Wenn man national, ideologisch oder parteipolitisch bedingte Über- bzw. Untertreibungen berücksichtigt, ergibt sich das folgende Bild. Durch die Hand von Titos Volksbefreiungsarmee sind 200.000 antikommunistisch eingestellte Jugoslawen ums Leben gekommen. 200.000 Ustaschen und eine halbe Millionen Zivilisten flohen vor ihr nach Kärnten, das von den Briten besetzt war. Die Menschenopfer auf dem Territorium von Pavelićs „Unabhängigem Staat Kroatien“ beziffern sich auf 613.000 Personen, 322.000 von ihnen Serben, 255.000 Kroaten und bosnische Muslime, 20.000 Juden und 16.000 Roma. „Die Darstellung von Kollaboration, Kooperation und Widerstand in Jugoslawien gleicht einer ‚unendlichen Geschichte‘ von Verstrickung, Schuld und Hass, von Aktion und Reaktion, Gewalt und Gegengewalt.“16 Von den ursprünglich 72.000 Juden im gesamtjugoslawischen Raum sind 60.000 ermordet worden, die eine Hälfte durch Deutsche, die andere durch Jugoslawen. Das sich in immer neuen Spiralen entladende Pandämonium kollektiver Gewalt kannte keine Grenzen. Der italienische Terror in Jugoslawien forderte 250.000 Opfer, er stand demjenigen der Wehrmacht und der SS also nur wenig nach. Andererseits haben „Jugoslawen“ ab 1943 mindestens die gleiche Zahl an Italienern umgebracht. Es war die Rache für die brutale rassische Unterdrückung, die der Mussolini-Faschismus gegenüber den Südslawen ausgeübt hatte. Die Deutschen haben in Jugoslawien 80.000 unschuldige Geiseln erschossen, es ist – auch und gerade in dieser Größenordnung – von allen Wehrmachtsverbrechen das ungeheuerlichste. Vor allem aber durch einen Sachverhalt, der sich in keiner Zahl ausdrücken lässt, blieb der Zweite Weltkrieg im zweiten Jugoslawien als negativer Gründungsmythos präsent: Von 1941 bis 1945 sind mehr Jugoslawen von Jugoslawen ermordet worden als von Deutschen, Italienern, Ungarn, Bulgaren oder Russen. Bleiburg, ein kleines Städtchen östlich von Klagenfurt, wurde zum Schauplatz einer der größten Tragödien. 200.000 Ustaschen, Domobranen, Tschetniks und Zivilisten hatten sich im Mai 1945 dorthin zurückgezogen und boten den Briten die Kapitulation an. Doch General Patrick Scott lehnte im Einvernehmen mit Churchill ab und lieferte über 100.000 an die Volksbefreiungsarmee und damit dem sicheren Tod aus. „Hätte es damals bereits ein Haager Kriegsverbrechertribunal gegeben, hätte es Tito und seine Kommandeure für diese Taten zur Verantwortung ziehen müssen.“17 Josip Broz hatte 16 Sundhaussen, Okkupation, Kollaboration und Widerstand in den Ländern Jugoslawiens 1941– 1945, a. a. O., S. 358. 17 Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011, a. a. O., S. 335; Stefan Dietrich, Der Bleiburger Opfermythos, in: Ingrid Böhler und Lisa Rettl (Hg.), Geschichtspolitik in Kroatien, Innsbruck 2008, S. 298–317.
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schon ein Jahr zuvor die „Abteilung zum Schutz des Volkes“ bilden lassen, aus der 1946 die „Verwaltung für Staatssicherheit“ (UDBA), die jugoslawische Stasi, wird. Sie liquidierte ohne Gerichtsverhandlungen, aber mit Folter. Von den „Bleiburgern“ hat etwa die Hälfte fliehen können, aber 100.000, davon 70.000 Ustascha-Kollaborateure, hat ihr Schicksal ereilt. Tito sprach am 26. Mai 1945 auf dem Kongressplatz in Ljubljana vor einer großen Menschenmenge. Er sagte, wen die „Rachehand unseres Volkes“ noch nicht erreicht habe, der werde die Berge und Felder des Landes nicht mehr erblicken. Noch 2007 werden in Slowenien 540 Massengräber mit über 100.000 Ustascha-Kroaten, Domobranen und Volksdeutschen entdeckt, die alle auf Geheiß des Kommunistenführers ermordet worden waren. Sie zählten „zu den bestgehüteten Tabuthemen in Europa“18, deren Aufdeckung im Nachkriegsjugoslawien vierzig Jahre lang verhindert worden war. Die Gesamtzahl der jugoslawischen Opfer des Zweiten Weltkriegs ist bis heute ein Politikum. An die von Tito benannten 1,7 Millionen hat nie ein Mensch geglaubt. Fortan geisterten Hunderttausende „tote Seelen“ durch unzählige Forschungsarbeiten, bis hin zur „Enzyklopädie des Holocaust“. Bei den Wiedergutmachungsverhandlungen mit der Adenauer-Regierung lösten sich bereits 750.000 Tote im Nichts auf. Tatsächlich dürfte sich die Zahl der Weltkriegsopfer in Jugoslawien auf eine Million Männer, Frauen und Kinder belaufen haben, davon die Hälfte Serben. Sie wurden oft in Panzergräben und Karstspalten (foibe) regelrecht hineingeschossen. In einer 1990 westlich von Zagreb geöffneten Spalte waren die Knochen und Schädel derart miteinander verwuchert, dass man keine genauen Zahlenangaben machen konnte, genau so wenig wie über die italienischen infoibiamenti nach 1943 in den Höhlen Istriens.19 „Was über weitere derartige Hinrichtungsstätten sporadisch an Details bekannt wurde, ist so schauderhaft, dass es sich nicht empfiehlt, sie hier wiederzugeben.“20 Interessant war, dass sich die Abrechnungsformen vor und nach 1945 kaum unterschieden. Betrug die Zahl der jugoslawischen Kriegstoten eine Million Menschen, so ging eine weitere Million durch Geburtenausfall, Emigration, Verschleppung und Vertreibung verloren. Jeder vierte Jugoslawe hatte die Folgen des Krieges also am eigenen Leib erfahren. Doch auch den seit Jahrhunderten im Land lebenden Deutschen ist es nicht anders ergangen. Durch ihre autonome Rechtsstellung waren die 500.000 „Donauschwaben“ den Deutschen im Reich hundertprozentig gleichgeschaltet und damit nach 1945 per se alle Kollaborateure. Das Präsidium des AVNOJ konfrontierte sie am 21. November 1944 mit dem Vorwurf der Kollektivschuld, enteignete sie und begann ihre Verfolgung. 130.000 fanden sich interniert, 45.000 starben nach Misshandlungen 18 „Der Spiegel“, Nr. 34/2007, S. 97. 19 Piotr Chmiel, Wohin zurückkehren? Das Nationalitätenproblem in Istrien im kollektiven Gedächtnis in Literatur und Historiographie, in: Olschowsky (Hg.), Geteilte Regionen – Geteilte Geschichtskulturen, a. a. O., S. 379–397, hier: S. 382. 20 Ekkehard Völkl, Abrechnungsfuror in Kroatien, in: Henke und Woller (Hg.), Politische Säuberung in Europa, a. a. O., S. 358–394, hier: S. 370.
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und der Rest wurde vertrieben. Am 29. November 1945 schaffte Tito die Monarchie ab und rief die „Föderative Volksrepublik Jugoslawien“ aus, in der ethnische und nationale Schuldzuweisungen bewusst vermieden wurden, ausgenommen jene, die sich an die „Donaudeutschen“ richteten. Der Vernichtungsterror gegen sie sah oft so aus, dass man sie einfach in den Fluss warf, der ihnen den Namen gegeben hatte. Titos Abrechnung mit den Volksdeutschen, Ustaschen, Tschetniks und Domobranen war von Anfang an integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Umwälzung. Im Gesetz „Über die Wählerlisten“ vom 10. August 1945 wurde ihnen allen das aktive und passive Wahlrecht genommen. Zwar zog sich der Prozess gegen Branimir Altgayer, den deutschen „Volksgruppenführer“, immer länger hin, aber am 15. Mai 1950 hing er dann doch am Galgen. „Wohl nirgendwo hat der Abrechnungsfuror im Nachkriegseuropa fürchterlicher gewütet als in Jugoslawien.“21 Dass die katholische Kirche in Kroatien im Prozess der Machtinstallation Titos in dem Vielvölker- und Vielreligionenstaat ein besonderes Hindernis darstellte, brauchte ihm niemand zu erzählen. Er ging mit einer massiven Kirchenverfolgung gegen diese Bastion an. Als Erzbischof Stepinac es wagte, sich im September 1945 hiergegen mit einem Hirtenbrief zu wehren, ließ er ihn verhaften und am 11. Oktober 1946 aufgrund des „Gesetzes betreffend Verbrechen gegen Volk und Staat“ als Kollaborateur vor Gericht stellen. Dem Verfahren kam eine besondere Bedeutung zu, da mit dem evangelischen Bischof Popp, dem orthodoxen Metropoliten Maksimović und dem Mufti von Zagreb die Vertreter der anderen Religionen zuvor hingerichtet worden waren. Selbiges traute man sich mit Stepinac nicht, aber er wurde zu 16 Jahren Haft und Zwangsarbeit verurteilt, die man 1951 in Hausarrest umwandelte. Titos Angebot, Jugoslawien zu verlassen, lehnte er ab. Als der Vatikan am 29. November 1952 die Ernennung Stepinac’ zum Kardinal ankündigte, brach Belgrad die diplomatischen Beziehungen zum Heiligen Stuhl ab. Nachdem Stepinac am 10. Februar 1960 gestorben war, veranstaltete sein Nachfolger an seinem Todestag in der Kathedrale von Zagreb regelmäßig „nationale Eucharistiekongresse“, die von Hunderttausenden besucht und – mit klarer Stoßrichtung gegen Tito – zu „Manifestationen eines kroatischen Volkskatholizismus“22 wurden. Binnen Kurzem galt Stepinac als Märtyrer, während er für die Serben immer ein „Kriegsverbrecher“ blieb, für den der NDH ein „Geschenk Gottes“ gewesen war. Seine Seligsprechung durch Papst Johannes Paul II. im Oktober 1998 fand bereits wieder in der unabhängigen Republik Kroatien statt, aber der Streit um seine Person ging weiter. Im Juli 2016 hob ein Zagreber Bezirksgericht das Urteil von 1946 auf und sprach Stepinac vollständig von Kollaboration und Hochverrat frei. Daraufhin erklärte der serbische Ministerpräsident Vučić, Stepinac sei einer der „wichtigsten Ideologen des schlimmsten Regimes im Stil der Nazis auf europäischem Boden“ gewesen. Unmittelbar danach setzte Papst Franziskus eine kroatisch-serbische Kirchenkommission ein, 21 Ebd., S. 394. 22 Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachbarstaaten, a. a. O., S. 397.
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die die Tätigkeit des Kardinals unter ökumenischen Gesichtspunkten untersuchen und bewerten soll. Ihre Arbeit dauert an. Fundament, Basis und Legitimation seiner Herrschaft konstruierte Tito entlang einer genauso simplen wie manichäischen Trennlinie: Im Krieg hatte es nur Gut und Böse, Freund und Feind, Partisan und Kollaborateur gegeben. Diese Zweiteilung erstreckte sich je nach dem Anteil an der Gesamtbevölkerung gleichrangig und gleichermaßen auf alle jugoslawischen Nationen und Nationalitäten, weshalb zwischen ihnen auch kein Bürgerkrieg ausgebrochen sei. Diese eine grandiose Zwangsidentität schaffende Geschichtsfälschung (die sich noch bitter rächen sollte) kannte also keine „Zwischenformen“ wie abwarten, überleben wollen, sich arrangieren oder taktischen Widerstand leisten, sie enthielt aber eine Wahrheit: dass Jugoslawien abgesehen von der Sowjetunion als einziges Land in Europa das faschistische und nationalsozialistische Joch allein und von sich aus abgeschüttelt hatte. Im Glanz dieser Alleinstellungsposition hat Tito sich lange gesonnt, doch je mehr die Bindekraft des großen Sieges nachließ, um so gnadenloser offenbarte sich, dass mit dem offiziell verordneten Gedächtnis alle anderen historischen Abläufe des Zweiten Weltkriegs schlichtweg auf den Kopf gestellt worden waren. Dazu gehört auch der streng tabuisierte Sachverhalt, dass die Partisanen der Zivilbevölkerung durch ihr Verhalten keineswegs als „Volksbefreier“ in Erinnerung geblieben waren. Vielmehr sahen sich diejenigen als „Volksfeinde“ an den Pranger gestellt, die es wagten, hiervon offen zu sprechen. Als das schrittweise Scheitern des Selbstverwaltungssozialismus, die Erfolglosigkeit der von Tito initiierten Blockfreien-Bewegung und das ökonomische Nord-Süd-Gefälle im eigenen Land immer deutlicher zutage traten, begann auch die aus der Dichotomie von Kollaboration und Widerstand betonierte Denk- und Erinnerungsblockade langsam abzubröckeln. Hinzu kam, dass sich im Führungspersonal der jugoslawischen Gesellschaft längst eine Schieflage herausgebildet hatte, die bereits maßgeblich zum Scheitern des „Königreichs Jugoslawien“ beigetragen hatte. Schon 1961 stellten die Serben, die zusammen mit den Montenegrinern 45 Prozent der Bevölkerung ausmachten, 84 Prozent aller Minister, 70 Prozent aller Offiziere und 60 Prozent der in der öffentlichen Verwaltung Tätigen. Vor allem ein Gebilde aber war fest in serbischer Hand: die UDBA mit ihrem Geheimdienstchef Alexander Ranković. Tito hat gegen diese zweite Serbifizierung Jugoslawiens nichts unternommen, im Gegenteil. Der Weg in den sich über mehrere Jahre hinziehenden „kroatischen Frühling“ war hierdurch vorgezeichnet. Die nach einem kurzen politischen Tauwetter 1971 durch Zagreb rollenden Panzer sollten zwar den hochexplosiven Sprengstoff nationaler „Gegenerinnerungen“ niederwalzen, der Mythos der Integrationsfigur Tito war aber schon lange vor seinem Tod am 4. Mai 1980 verblasst, auch wenn das zweite Jugoslawien seinen Schöpfer noch um zehn finstere, trostlose Jahre überdauert hat.23 Letztlich ist mit ihm eben doch der Jugoslawismus ge23 Ebd., S. 385; Wolfgang Höpken, Vergangenheitspolitik im sozialistischen Vielvölkerstaat 1944– 1991, in: Petra Bock und Edgar Wolfrum (Hg.), Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder,
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storben und der Nationalismus der Serben, Kroaten, Slowenen, Bosnier, Herzegowiner, Montenegriner, Makedonier und Kosovo-Albaner langsam, aber sicher wieder auferstanden. Die doppelte historische Entlegitimierung und der doppelte historische Bruch, nämlich des Tito-Sozialismus wie auch der jugoslawischen Staatlichkeit, sie waren längst in vollem Gange. Schon im Serbien der frühen 1980er Jahre wurde für alle Weltkriegsfolgen, die wirtschaftliche Misere und vor allem für die „Dreiteilung Serbiens“ im jugoslawischen Gesamtstaatsverbund in eine Republik und die beiden autonomen Provinzen Vojvodina und das Kosovo nicht das sozialistische System, sondern der „Kroate“ Tito verantwortlich gemacht. Man inszeniert seinen Denkmalsturz und setzt auf den leer gewordenen Sockel Mihailović und die Tschetniks, zunächst noch im Geiste, bald aber real. An die Stelle der mehr als notwendigen, von Tito unterdrückten bzw. verfälschten Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg trat dessen schrittweise Rückkehr. Der symbolische Akt dieses Prozesses bestand in einer simplen Namenskürzung, indem das westserbische Titovo Užice, wo die Volksbefreiungsbewegung 1941 ihre kurzzeitige Republik hatte ausrufen können, auf seine alte Bezeichnung reduziert wurde. Die „Umkodierung der Vergangenheit“ (Holm Sundhaussen) war in vollem Gange. Die Tschetniks hatten nicht mit den nationalsozialistischen Besatzern kollaboriert, sondern aus „nationalem Realismus“ und „serbischer Selbstverteidigungsdialektik“ einen Modus Vivendi mit ihnen gesucht. Deshalb seien sie auch keine Kriegsverbrecher oder Verräter, sondern „Märtyrer und Helden“.24 Als Wortführer und Deutungszentrale dieser Exkulpation und Neo-Legitimierung agierte die Serbische Akademie der Wissenschaften, die 1986 ein ausführliches Memorandum zur „Lage Serbiens und des serbischen VolErinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999, S. 210– 243; Jože Pirjevec, Tito. Die Biografie, München 2016; Marc Zivojinović, Der jugoslawische TitoKult. Mythologisierte Motive und ritualisierte Kulthandlungen, in: Ennker und Hein-Kircher (Hg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, a. a. O., S. 181–199; Ljiljana Reinkowski, Es lebe Tito, es starb Tito. Das Bild Titos im kommunistischen Jugoslawien und in den jugoslawischen Nachfolgestaaten, in: Großbölting und Schmidt (Hg.), Der Tod des Diktators, a. a. O., S. 199–221; Tanja Zimmermann (Hg.), Balkan Memories. Media Constructions of National and Transnational History, Bielefeld 2012; Andrej Ivanji, Täuschung und Selbsttäuschung im ehemaligen Jugoslawien, in: Knigge und Frei (Hg.), Verbrechen erinnern, a. a. O., S. 132–151. 24 Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachbarstaaten, a. a. O., S. 386 f.; Florian Bieber, Nationalismus in Serbien vom Tode Titos bis zum Ende der Ära Milošević, Wien 2005; Jozo Tomasevič, War and Revolution in Yugoslavia 1941–1945. Occupation and Collaboration, Stanford 2001; Marc Halder, Der Titokult. Charismatische Herrschaft im sozialistischen Jugoslawien, München 2013; Todor Kuljić, Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum, Bonn 2010; Roland Zschächner, Kein Ende der Geschichte. Diskurse, Gedenken und Formen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Serbien, Berlin 2015. Auch ein Blick in den Roman von Drago Jančar, Die Nacht, als ich sie sah, Wien und Bozen 2015, empfiehlt sich. Hier wird eine zu Unrecht der Kollaboration Beschuldigte reihum vergewaltigt und schließlich als „Deutschenhure“ von Partisanen ermordet.
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kes“ herausgab. Dreh- und Angelpunkt des Papiers waren die Existenzbedingungen der Serben im Kosovo, an denen in einem „offenen und totalen Krieg (ein) physischer, politischer, rechtlicher und kultureller Genozid“ verübt werde. Das war Kriegs- und Aufhetzungsrhetorik und bestätigte darüber hinaus, dass „die Dekonstruktion der jugoslawischen Identität und Loyalität ebenso von oben induziert und gewollt wurde, wie ihre Konstruktion nach 1945 (…).“25 Höhe- und Umschlagspunkt dieser Entwicklung war eine Rede, die Slobodan Milošević am St.-Veits-Tag 1989 zur 600-jährigen Wiederkehr der Schlacht auf dem Amselfeld, dem heiligen serbischen Kosovo Polje, an historischer Stätte hielt. 1981 hatten Albaner an gleicher Stelle in einem blutigen Aufstand ultimativ ihre eigene Republik gefordert. Milošević, 1941 im serbischen Požarevac nahe der rumänischen Grenze geboren, wächst unter schwierigen Bedingungen auf. Die Mutter ist Lehrerin und überzeugte Kommunistin, der Vater, ein orthodoxer Priester, hasst den Kommunismus, verlässt die Familie und erschießt sich 1962. Zwölf Jahre später nimmt sich auch die vereinsamte und verbitterte Mutter das Leben. Immerhin haben beider Kindheitserzählungen für den Jungen eines gemeinsam: Die Serben sind in den vergangenen tausend Jahren nie und nimmer an irgendetwas schuld, sondern immer nur Opfer gewesen. Der Zweite Weltkrieg wird ihm in einer merkwürdigen Melange aus befreiendem Sozialismus und die Nation verteidigenden Tschetniks dargestellt, eine Synkrise, die er möglicherweise nie abgelegt hat. Er studiert Jura, tritt mit siebzehn in die kommunistische Partei ein, wird 1984 Leiter ihrer Belgrader Sektion und 1986 Vertreter Serbiens im jugoslawischen Staatspräsidium. „Slobo“ ist beliebt, weil er der Vojvodina 1988 ihren Autonomiestatus nimmt. Ein Jahr später ist er Präsident von Serbien-Montenegro, mit einer seiner ersten Amtshandlungen verliert auch das Kosovo, die „Wiege Serbiens“, am 23. März 1989 ihre Eigenständigkeit und hört nur noch auf sein Kommando. Die komplizierte Tektonik des titoistischen Jugoslawien ist irreparabel zerstört. Der Vidovdan rückt näher und Milošević holt zu seinem größten Schlag aus. Eine Million Menschen strömen auf das „serbische Golgatha“, als Milošević mit einem Helikopter wie aus dem Himmel über dem Amselfeld einschwebt; man schreibt den 28. Juni 1989. Das Fernsehen ist natürlich vor Ort, die Dramaturgie steht, die Inszenierung ist bombastisch. Der Mann, der zur Schlüsselfigur für den Zerfall Jugoslawiens wird, leitet die ersten Schritte hierfür ein. Er ruft zwar nicht zum direkten Kampf auf, er schließt ihn aber auch nicht aus. Über Gegner sagt er nichts, aber jeder weiß, dass diesmal nicht das Osmanische Reich gemeint ist, wie zu Zeiten des Fürsten Lazar. Ganz Jugoslawien wird von Unruhe erfasst. Die serbische Minderheit in Kroatien fordert die Errichtung einer autonomen Provinz. Das slowenische Parlament beschließt eine Verfassungsänderung, in der das Recht fixiert ist, den Bund der Kommunisten Jugoslawiens zu verlassen. Dies vollzieht Ljubljana am 20. Januar 1990. Zur Sitzung des Bundes am Folgetag erscheinen nur noch die serbischen Abgeordneten, die in einem 25 Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachbarstaaten, a. a. O., S. 374.
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Aufruf an alle „gesunden Elemente“ appellieren, die Einheit zu wahren; ein Abendblatt in Zagreb druckt ihn zwischen den Todesanzeigen ab. Bei den ersten freien Wahlen seit 1927 setzen sich überall konservative, liberale und sozialdemokratische Parteien durch, nur in Serbien und Montenegro gewinnen die Kommunisten. Am 2. Juli 1990 rufen albanische Abgeordnete die Republik Kosovo innerhalb der jugoslawischen Föderation aus. Volksabstimmungen in Slowenien und Kroatien ergeben eine überwältigende Mehrheit für die Unabhängigkeit, die Parlamente beider Staaten erklären am 25. Juni 1991 ihre Souveränität, die Slowenien in einem Zehn-Tage-Krieg gegen die serbisch dominierte Bundesarmee verteidigt. Daraufhin gibt Milošević die Parole „Srbija može sama“ („Serbien kann’s auch allein“) aus. Als das Zagreber Parlament Kroatisch als Amtssprache einführt und Serbisch nur noch in Gemeinden zulässt, in denen diese die Mehrheit stellen, konstituiert sich in dem kroatischen Dorf Srb („der Serbe“) ein Gegenparlament und erklärt in dreizehn Dörfern rund um Knin die „Souveränität und Autonomie des serbischen Volkes“. Das war die Keimzelle der „Serbischen Republik Krajina“, die Ende des Jahres bereits ein Viertel Kroatiens umfasste. In Bosnien-Herzegowina existierten zu dem Zeitpunkt allein sechs autonome serbische Gebiete. Am 17. Augst 1991 hatten Hunderte von Serben die Polizeistation in Knin gestürmt und sich bewaffnet. Der Krieg, der für viele nichts anderes als eine Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs war, hatte begonnen. Dass sich diese Wahrnehmung in dem moribunden Vielvölkerstaat Titos so schnell und nachhaltig festsetzte, dafür war nicht nur der Serbe Slobodan Milošević verantwortlich, sondern fast mehr noch der Kroate Franjo Tudjman. Tudjman (1922–1999) hatte alle Gesichter Jugoslawiens gesehen. Mit 19 wird er Partisan Titos, nach dem Krieg Berufsoffizier und mit 38 jüngster General der Volksarmee. Völlig überraschend nimmt er seinen Abschied, um im Fach Geschichte zu promovieren und das „Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung“, das heutige „Institut für Zeitgeschichte“, aufzubauen. Der „kroatische Frühling“ lässt in dem Kommunisten erste Zweifel aufkommen, er wird von seinen Funktionen entbunden und 1972 sowie 1981 verhaftet. 1989 gründet er die konservative „Kroatische Demokratische Gemeinschaft“ (HDZ), gewinnt mit ihr die Wahlen von 1990 und 1992 und wird erster Präsident der unabhängigen Republik Kroatien. Der vom Widerstandskämpfer und Dissidenten zum Bürgerlichen Gewandelte hat nur ein Ziel: Er will „als großer Versöhner der kroatischen Gesellschaft, als großkroatischer Übervater und postkommunistischer Tito in die Geschichtsschreibung eingehen.“26 Er zieht sich die gleiche Uniform an, die Tito trug. Die pomirba, sein großes Programm der nationalen Versöhnung, basiert auf dem angeblichen Fluch König Zvonimirs aus dem Jahr 1089, dem zufolge die innerkroatische Zwietracht der Grund dafür sei, dass die eigene Staatsbildung missglückte. Die Spaltung der Gesellschaft und ihrer Erinnerungskulturen könne nur überwunden werden, indem man die Gräben zwischen kroatischen Faschisten und Kommunisten, zwischen Ustaschen und Partisanen, zuschütte. Sichtbarer 26 Ebd., S. 403.
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Ausdruck der pomirba sollte die Sammlung kroatischer Gebeine in kroatischer Erde sein, konkret: Titos Leichnam sollte aus dem Belgrader Mausoleum in seinen Geburtsort Kumrovec und Pavelićs Knochen sollten von Madrid ins herzegowinische Bradina überführt werden. Es ist Tudjman nie um die Aussöhnung zwischen Serben und Kroaten gegangen, sondern ausschließlich um diejenige zwischen kroatischen Tätern und Opfern. Schon in der Verfassung seines Staates werden die Serben von einer gleichberechtigten Nation zu einer Minderheit herabgestuft, die immerhin noch 581.000 Mitglieder zählte, 12 Prozent der Bevölkerung. Er lässt 3000 „antifaschistische“ Denkmäler zerstören. Er nimmt das Schachbrettmuster in das Staatswappen auf, das allerdings nicht nur der Ustascha, sondern auch Tito und Zvonimir als nationales Symbol gedient hatte. Er unternimmt nichts gegen die um sich greifende Ustascha-Nostalgie, die mit Postkarten, Heldenbildern und Anstecknadeln bis in das Dorfleben reicht. Während die Tschetniks in Serbien erst 2004 rechtlich und ideologisch rehabilitiert und den Partisanen gleichgestellt werden, erfahren die „Unabhängigkeitskämpfer“ der Ustascha diese Aufwertung vom ersten Tag der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens 1991 an.27 Statt sich der kommunistischen Verbrechen im Tito-Jugoslawien zuzuwenden – was naheliegend genug gewesen wäre –, setzt Tudjman 1991 die „Kommission für die Erforschung der Kriegs- und Nachkriegsopfer“ des Zweiten Weltkriegs ein, die „zum wichtigsten Ort des institutionalisierten Revisionismus“28 wird, der oft nicht weit von der „Neuerfindung“ der eigenen Geschichte entfernt ist. Tudjman, der von 1990 bis 1999 mit absoluter Mehrheit amtiert, hatte bereits ein Jahr vor seinem Machtantritt den Ustascha-Staat in einem Buch als der Form nach faschistisch, dem Inhalt nach aber als „volksbefreiend und rein“ beschrieben. Auf dem ersten Kongress der HDZ im Februar 1990 nannte er den NDH „nicht nur ein ‚Quisling‘Gebilde“, sondern auch Ausdruck historischer Bestrebungen des kroatischen Volkes nach einem unabhängigen Staat. Der pomirba entsprechend fanden in seiner Adminis27 Natalija Bašić, Wen interessiert heute noch der Zweite Weltkrieg? Tradierung von Geschichtsbewusstsein in Familiengeschichten aus Serbien und Kroatien, in: Welzer (Hg.), Der Krieg der Erinnerung, a. a. O., S. 150–185, hier: S. 153. 28 Ljiljana Radonic, Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Nationalismus und Demokratisierung, in: Hofmann et al. (Hg.), Diktaturüberwindung in Europa, a. a. O., S. 151–164, hier: S. 151; dies.; Vergangenheitspolitik in Kroatien zwischen Revisionismus und europäischen Standards, in: Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität, a. a. O., S. 409–424; dies., Erinnerungskultur und -politik in Kroatien, in: APuZ, Nr. 17/2013, S. 29–35. Viel Wirbel erregte in Kroatien der über tausendseitige Roman „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ von Miljenko Jergovic (deutsch: Frankfurt am Main 2017), in dem der Autor schildert, wie seine Großmutter ihren Sohn zur Waffen-SS, und nicht zu den Partisanen schickt, weil sie seine Überlebenschancen bei den Deutschen als besser einschätzt. Sie irrte sich. Jergovic gilt in Kroatien noch heute als „Nestbeschmutzer“, auch weil er den Ustascha-Terror noch bis kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs darlegt. Vgl.: Iskra Iveljić, Cum ira et studio. Geschichte und Gesellschaft Kroatiens in den 1990er Jahren, in: Altrichter (Hg.), GegenErinnerung, a. a. O., S. 191–204.
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tration sowohl die eigenen Leute als auch Vertreter der alten kommunistischen Eliten sowie zurückkehrende Exilanten Platz, auch wenn sie eine einschlägige Ustascha-Vergangenheit besaßen. Tudjman selbst verstand sich im Übrigen nicht nur als Präsident Kroatiens, sondern aller Kroaten in der Welt. Der Effekt dieses nivellierenden Umgangs mit der eigenen Vergangenheit, der bis zum Wiederbeleben des Stereotyps vom Bollwerk der Christenheit reichte, war klar und gewollt: Die Untaten von 1941 bis 1945 sollten als unumgängliche „Anpassungsleistung“ erscheinen. „Aus Kollaborateuren wurden Patrioten, aus Helden Verbrecher, aus Schwarz wurde Weiß.“29 Im Zentrum des großen Tudjman’schen Revisionsprojekts standen die Orte Bleiburg und Jasenovac, das von 1991 bis 1995 unter der Kontrolle der „Serbischen Republik Krajina“ stand. Obwohl Jasenovac nur eines von 27 KZ des NDH-Staats war (darunter dreizehn kroatische, acht italienische und sechs deutsche), diente es Pavelić mehr als alle anderen zur „Reinigung des kroatischen Volkskörpers“. Warum nicht unmittelbar nach Kriegsende mit dem Registrieren der Opfer begonnen wurde, sondern erst 1964 (!), weiß bis heute kein Mensch, und auch danach wurden die ermittelten Zahlen wie ein Staatsgeheimnis gehütet und erst 1989 publiziert. Unabhängig von den Zahlen lasteten die an dieser Stelle verübten Verbrechen so sehr auf der Nachkriegsgeschichte, dass Milan Bulajić, der Direktor des Belgrader Museums für die Genozidopfer, 1998 vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag erklärte, dass der Aufstand der Serben in Kroatien und Bosnien-Herzegowina 1991/92 eine Folge der in Jasenovac begangenen Verbrechen gewesen sei – mithin eine Rückkehr des Zweiten Weltkriegs auch hier. Tudjman, der pomirba verhaftet, entwickelte den Plan einer gemeinsamen „nationalen Gedenkstätte“ Jasenovac, in der auch die Opfer von Bleiburg bestattet werden sollten, aber der Aufschrei der nationalen und internationalen Öffentlichkeit machte dies zunichte. Trotzdem hielt er in seinem Propagandafeldzug für die „wahre nationale Erinnerung“ daran fest, dass die Opferzahlen in beiden Orten gleich hoch seien. Außerdem habe es sich in Jasenovac um ein bloßes „Arbeitslager“ gehandelt, in dem überdies die Verwaltung „den Juden oblag, die auch Machthaber im Lager waren (und) bei der Ermordung mitwirkten“30. In Bleiburg fanden gleichzeitig unter der Schirmherrschaft des kroatischen Parlaments alljährlich Gedenkveranstaltungen statt, auf denen der „Kreuzweg“ der in den Tod zurückgewiesenen Ustascha-Kollaborateure nachgegangen wurde. Viele trugen ihre schwarze Uniform, Pavelić-Bilder und Transparente mit dem großen U. Die katholische Kirche war präsent 29 Holm Sundhaussen, Das Konzentrationslager Jasenovac (1941–1945): Konstruktion und Dekonstruktion eines Kriegsverbrechens und Weltkriegsmythos, in: Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär (Hg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 370–381, hier: S. 370. 30 Zit. nach Radonic, Vergangenheitspolitik in Kroatien zwischen Revisionismus und europäischen Standards, a. a. O., S. 416; vgl. auch Mirjana Kasapović, Die politische Entwicklung Kroatiens von 1990–2005, in: Dunja Mélčić (Hg.), Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Wiesbaden 2007, S. 449–472; Norbert Mappes-Niediek, Kroatien. Ein Länderporträt, Berlin 2013.
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und das Zagreber Fernsehen übertrug live, sodass die Plakate mit der Aufschrift „Hier vollzog sich der kroatische Holocaust“ im ganzen Land zu lesen waren. Tudjman selbst ist allerdings nie nach Bleiburg gefahren. Am 21. März 1991, also noch vor Beginn der Kampfhandlungen, hatten sich Tudjman und Milošević in Karadjordjevo getroffen, um im Sinne des Sporazums von 1939 die Aufteilung von Bosnien-Herzegowina in eine kroatische und in eine serbische Interessensphäre auszuhandeln, aber der Deal scheitert und die Eskalation der Gewalt beginnt. Auf dem Terrain bilden sich eine kroatische, eine serbische und eine muslimische Republik. Keine von ihnen erkennt die Ausrufung der Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas unter ihrem Präsidenten Alija Izetbegović am 3. März 1992 an. Die noch intakte jugoslawische (serbische) Armee überfällt brutal das Land, der Beschuss und das Aushungern Sarajevos, des multiethnischen und multireligiösen „Jerusalems des Balkans“, dauern 1425 Tage bis zum 29. Februar 1996. Es ist die längste Belagerung des 20. Jahrhunderts. Von der anderen Seite attackieren die von dem Zagreber Rechtsanwalt Dobroslav Paraga geführten paramilitärischen „Kroatischen Verteidigungskräfte“ (HOS). Sie pflegen einen offenen Ustascha-Kult, betreiben in der Herzegowina ein eigenes Gefangenenlager, in dem an bosnischen Serben schwerste Misshandlungen verübt werden, und sehen so wie einst Pavelić in den bosnischen Muslimen „slawische Arier“, die als Freiwillige gewonnen werden. Die HOS bekennt sich uneingeschränkt zur Integrität Bosniens, weil es entsprechend den Grenzziehungen des NDH Teil eines späteren „Großkroatiens“ werden soll, und ist in der Frühphase des Krieges schlagkräftiger als die von Tudjman aufgebaute bosnisch-kroatische Streitmacht, in die sie aber sukzessive integriert wird, ohne auch nur einen Deut von ihren faschistischen Vorstellungen abzulassen. Gleichzeitig duldet Milošević, dass Freischärler-Truppen wie die „Serbische Garde“, „Weiße Adler“ und „Arkans Tiger“ unter dem Vorwand, Serben zu schützen, mordend und plündernd durch Bosnien und Kroatien ziehen und mit Lastwagen voller Fernseher und Kühlschränke zurückkehren. Sie werden als Helden gefeiert. Miloševićs Kriegsführung hatte das übergreifende Ziel, durch den Gewinn von Bihać die „Serbische Republik Krajina“ und die „Republik des serbischen Volkes in Bosnien und Herzegowina“ miteinander zu verbinden, an das „Mutterland“ anzuschließen und die kroatische Ostgrenze dadurch wieder mit der osmanischen Westgrenze aus dem 17. Jahrhundert deckungsgleich zu machen. Das ist durch die kroatischen Militäraktionen Blijesak („Blitz“) und Oluja („Gewittersturm“) zunichtegemacht worden. Schon vorher war es den serbischen Verbänden nicht gelungen, Slawonien und Dalmatien vollkommen von Kroatien abzutrennen bzw. die Verbindungen zwischen Zagreb und Rijeka langfristig zu unterbrechen. Am 12. April 1993 beginnt die Nato mit dem ersten Kampfeinsatz ihrer Geschichte. Sarajevo, Bihać, Srebrenica und andere Gebiete werden zu UN-Schutzzonen erklärt, die „ethnischen Säuberungen“ gehen aber weiter. Zwischen den bosnischen Kroaten und den bosnischen Muslimen kommt es zu fortgesetzten Spannungen und kriegerischen Auseinandersetzungen, insbesondere um die geteilte Stadt Mostar. Trotzdem verständigt man sich im
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Frühjahr 1994 auf eine gemeinsame muslimisch-kroatische Föderation innerhalb Bosnien-Herzegowinas, die ein Jahr später unter ein gemeinsames militärisches Oberkommando gestellt wird, das de facto auch die Armee der Zagreber „Republik Kroatien“ einschließt. Die bosnischen Serben geraten immer mehr in die Defensive und ermorden am 11. Juli 1995 unter den Augen der Vereinten Nationen 7000 muslimische Männer und Jugendliche. Ende des Jahres sind von den 4,5 Millionen Einwohnern BosnienHerzegowinas zwei Millionen auf der Flucht und 150.000 tot. Es ist immer wieder versucht worden, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher schuldhaft mit dem Auslösungsprozess des jugoslawischen Erbfolgekrieges in Verbindung zu bringen31, weil sie durch ihre angeblich oder tatsächlich verfrühte Anerkennung der Unabhängigkeit Kroatiens am 23. Dezember 1991 irreversible Fakten geschaffen haben sollen, die den kriegerischen Zerfallsprozess erst in Gang gesetzt hätten. Genscher ist, als diese Vorwürfe nicht abflauten, nach achtzehn Jahren im Amt des Außenministers zurückgetreten, Kohl saß sie aus. Richtig ist, dass beide über die Geheimgespräche zwischen Tudjman und Milošević und deren „Sporazum-Pläne“ informiert waren, genauso richtig ist aber auch, dass die „Serbische Republik Krajina“ zum Zeitpunkt der Bonner Anerkennung bereits bestand. „Die Nicht-Anerkennung Kroatiens nach einem halben Jahr Krieg wäre einer Legitimation der serbischen Politik gleichgekommen.“32 In der Wahrnehmung Belgrads freilich wurde Deutschland als „Viertes Reich“ bezeichnet, das sich zusammen mit dem „neo-faschistischen“ Kroatien wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg auf Serbien stürze.33 Der weitere Verlauf des Krieges ließ diese Verschwörungsrhetorik noch anschwellen. So wurde das Nato-Bombardement vom Frühjahr 1999 mit den als „Vergeltungsmaßnahmen“ deklarierten Geiselerschießungen der Wehrmacht in Kragujewac 1941 gleichgesetzt. Die Unternehmen Blijesak und Oluja vom Mai und August 1995, durch die 200.000 Serben vertrieben wurden und die „Serbische Republik Krajina“ aufgelöst wurde, sind nicht mit dem Einverständnis oder gar der logistischen Hilfe der Vereinigten Staaten erfolgt. Tudjman rief die Serben über den Rundfunk sogar zum Bleiben auf, aber wohl wissend, was sie 1991 getan hatten, suchten sie ihr Heil in der Flucht. Zagreb spielte ein gewagtes Spiel und gewann, die eine „ethnische Säuberung“ folgte der anderen. Merkwürdig war allerdings schon, dass die ansonsten so sensationslüsternen Westmedien verblüffend wenige Bilder von dem Massenexodus zeigten. Tudjman schrieb, kaum überraschend, sofort Neuwahlen aus, die er auch gewann, doch mit nur wenig mehr 31 Besonders scharf: Ulrich Schiller, Deutschland und „seine“ Kroaten. Vom Ustascha-Faschismus zu Tudjmans Nationalismus, Bremen 2009; auch: Olaf Ihlau, Minenfeld Balkan. Der unruhige Hinterhof Europas, München 2009: dagegen: Ludwig Steindorff, Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2007, S. 216. 32 Steindorff, Kroatien, a. a. O., S. 216. 33 So das Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften Zoran Konstantinović, zit. nach Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachbarstaaten, a. a. O., S. 405.
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Stimmen als 1992. Am 21. November 1995 segneten Milošević, Izetbegović und Tudjman in Dayton im amerikanischen Bundesstaat Ohio ein Friedensabkommen ab, durch das 51 Prozent des Territoriums von Bosnien-Herzegowina der muslimischkroatischen Föderation und 49 Prozent den bosnischen Serben unter Beibehaltung eines losen Staatsverbandes Bosnien-Herzegowina zugesprochen wurden. Die Waffen schwiegen, aber der Antagonismus zweier Staaten in einem blieb. Er wird faktisch auch heute noch von einem Hohen Repräsentanten mit einem Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, also von der internationalen Gemeinschaft, regiert. Die Umsetzung der den drei konstituierenden Volksgruppen, nämlich den bosnischen Serben, den bosnischen Kroaten und den Bosniaken, zugesagten Ämter und Posten entsprechend dem Bevölkerungsanteil entwickelte sich zu einem permanenten Geschachere und endete in der Selbstblockade. Statt der Gemeinsamkeit wuchsen die Konflikte. Der Präsident der Republika Srpska forderte und fordert die Auflösung des Gesamtstaates. Von Befriedung und Demokratisierung kann keine Rede sein, wohl aber von Stillstand und Unregierbarkeit. Die Kosovo-Frage war in Dayton hingegen ausgeklammert worden, und so endete der Jugoslawien-Krieg 1999 dort, wo er zehn Jahre vorher mit einer Hetzrede begonnen hatte. Ibrahim Rugova, der 1992 zum Präsidenten der Republik Kosovo gewählt worden war, hatte parallel zur, genauer gesagt gegen die serbische Verwaltung einen albanischen Schattenstaat errichtet, aber gegen seine Strategie der Gewaltfreiheit bildete sich 1996 die albanische Untergrundarmee UÇK. Die Waffengänge zwischen ihr und serbischen Verbänden führten zur Flucht von 300.000 Albanern aus dem Kosovo und am 24. März 1999 zum zweiten Einsatz der Nato. Am 27. Mai erhob das UN-Sondertribunal in Den Haag Anklage gegen Milošević wegen Kriegsverbrechen, das Kosovo wurde einer UN-Interimsadministration unterstellt. Nach dem Tod Franjo Tudjmans Ende 1999 und der Abwahl Slobodan Miloševićs im Herbst 2000 traten das „andere“ Kroatien und das „andere“ Serbien auf die Bühne. Das zeigte sich sowohl in der aktuellen Politik wie auch im Erinnerungsdiskurs. Zwar war die „neue Zeit“ mit jeweils drei Jahren nur kurz, aber sie war nachhaltig. In Zagreb kehrte die HDZ nach einem sozialdemokratischen Intermezzo 2003 an die Macht zurück, und in Belgrad wurde Zoran Djindjić, der „serbische Kennedy“ und charismatische, sozialliberale, westlich orientierte Hoffnungsträger, so wie der amerikanische Kennedy nach nur tausend Tagen im Amt ermordet. Die Spuren führten in Miloševićs Geheimdienst. Vojislav Koštunica, der neue Mann, war zwar kein zweiter kommunistischer Despot, aber nicht frei von großserbischen Anwandlungen, so wie schon Milošević in Serbien kaum vorgeworfen worden war, die Kriege angezettelt, sondern vielmehr, sie verloren zu haben. Am 11. März 2006 findet man Milošević tot in seiner Zelle in Den Haag. Er hatte für sein Land alles verspielt, was aufs Spiel zu setzen war, und aus dem Spiel grausame Wirklichkeit gemacht.34 34 Caroline Fetscher, Der postmoderne Despot, in: Großbölting und Schmidt (Hg.), Der Tod des Diktators, a. a. O., S. 251–276.
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Im Kroatien nach Tudjman durfte langsam artikuliert werden, dass der NDH weniger ein Meilenstein auf dem Weg zur kroatischen Unabhängigkeit war, sondern das einzige Kollaborationsregime in Europa, das selbstständig Todeslager betrieb. Der Fall Šakić zeigte zunächst aber noch die Wirksamkeit der alten Strukturen. Dinko Šakić, der ehemalige Kommandant des Lagerkomplexes von Jasenovac, war 1998 von Argentinien ausgeliefert, in Zagreb vor Gericht gestellt und zur Höchststrafe von zwanzig Jahren Haft verurteilt worden, was durchaus als harte justizielle Aufarbeitung der Vergangenheit eingeordnet werden muss. Interessant blieb allerdings, dass der gesamte Prozess strictu sensu auf die Person Šakić ausgerichtet war und der verbrecherische Charakter des Ustascha-Staates während des gesamten, bis Ende 1999 dauernden Verfahrens nicht zur Sprache kam. Die eigentliche Wende setzte deshalb erst mit Stipe Mesić, dem Präsidenten Kroatiens von 2000 bis 2010, ein, der sofort die Rückbenennung des Zagreber „Platzes der kroatischen Größen“ in „Platz der Opfer des Faschismus“ verfügte, wie er vor 1990 geheißen hatte. Das bedeutete mehr als eine Symbolhandlung, das wirkte als Auftaktsignal für einen langfristigen Wandel, wie er auch an der Person Mesićs selbst ablesbar war. Mesić, seit 1965 Abgeordneter im Zagreber Parlament und nach dem „kroatischen Frühling“ verhaftet, wird im Sommer 1991 der letzte Präsident des zerfallenden Jugoslawiens. Ursprünglich Parteigänger Tudjmans, verließ er die HDZ und trat 1997 der kroatischen Volkspartei bei. 2003 nahm er als erstes Staatsoberhaupt an der jährlichen Gedenkveranstaltung in Jasenovac teil. In einer bahnbrechenden Rede betonte er, das heutige Kroatien sei in keinerlei Weise ein Nachfolgestaat „jenes staatlichen Gebildes aus dem Zweiten Weltkrieg, das leider den kroatischen Namen trug. In Jasenovac, aber nicht nur dort und nicht nur dann, wurde im Namen der Idee des kroatischen Staates gemordet.“35 Mesić, der bis 1994 noch revisionistische Reden gehalten hatte, verurteilte die Idee der Pomirba, der „gesamtkroatischen Versöhnung“, als Geschichtsfälschung und fand deshalb auch eindeutige Worte zu Bleiburg: „Wir vergleichen Bleiburg und Jasenovac nicht. Kein Opfer aus Jasenovac ist schuld an einem Toten in den Gräben und in Bleiburg, aber viele in Bleiburg waren für jemandes Tod verantwortlich. Sie sind Opfer, aber wir können nicht sagen, dass sie unschuldig sind. Man hätte sie nicht töten und quälen dürfen, aber man hätte sie vor Gericht stellen sollen.“36 Seit 2003 finden beide Gedenkveranstaltungen am gleichen Tag statt und werden im Fernsehen übertragen. Der im selben Jahr an die Macht zurückgelangten HDZ war klar, dass auf dem angestrebten Weg nach Europa weder die Berufung auf einen angeblichen Opferstatus im Zweiten Weltkrieg von 1941 bis 1945 noch im „heimatländischen Krieg“ von 1991 bis 1995 dienlich sein dürfte, und sie wandelte ihr Selbstverständnis hin zu einer christde35 Zit. nach Ljiljana Radonic, Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards, Frankfurt am Main 2010, S. 273. 36 Zit. nach Radonic, Vergangenheitspolitik in Kroatien zwischen Revisionismus und europäischen Standards, a. a. O., S. 420.
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mokratischen Volkspartei, die Tudjmans ethnischem Nationalismus abschwor. Für Mesić hingegen waren die Kroaten im zweiten Krieg Opfer eines „neuen Faschismus“ in der uralten „kroatischen Tragödie“ geworden. Der Weg in die europäische Gemeinschaft und Erinnerungsgemeinschaft war steinig und schwer, auch die HDZ fiel auf ihm immer wieder zurück in die Relativierung der Ustascha-Verbrechen und die Glorifizierung des „heimatländischen Krieges“. Da die eine Gemeinschaft ohne die andere aber nicht zu haben war37, avancierte der Umgang mit den eigenen Kriegsverbrechern schnell zum Lackmustest für die EU-Reife. 2005 trat Kroatien der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research bei, ein Jahr später wird aber auch das „Kroatische Zentrum zur Erinnerung und Dokumentation an den Vaterländischen Krieg“ geschaffen, in dem die „Befreiung“ der Krajina 1995 als legal und legitim dargestellt ist. Ein führender General bei dieser Rückeroberung war Ante Gotovina, der 2005 festgenommen, an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag überstellt und 2011 in erster Instanz zu einer Haftstrafe von 24 Jahren verurteilt wird. Alle Parteien von rechts bis links artikulieren daraufhin die Rechtmäßigkeit der Kriegshandlungen von Gotovina, dem Volkshelden. Den Schuldspruch empfindet man als Demütigung der gesamten kroatischen Nation, auf den Straßen kommt es zu offenen Demonstrationen, der Zerfallskrieg ist noch längst nicht überwunden. Immerhin hatten kroatische Gerichte bis 2005 in Strafprozessen 1675 Personen zur Rechenschaft gezogen. Aber Aufarbeitung und Erinnerung blieben ambivalent. Die 2006 zum zweiten Mal eröffnete KZ-Gedenkstätte Jasenovac fokussierte sich (geschickt) auf den Holocaust als negativen europäischen Gründungsmythos, marginalisierte gleichzeitig aber die quantitativ erheblich größere Ermordung der Serben und Roma. Wieder fanden sich die bestialischen Taten der Ustascha relativiert, wenn nicht verharmlost und versteckt. Die Konzerte des Sängers Marko Perković, der sich nach einer legendären Schnellfeuerwaffe „Thompson“ nennt, sind in Zagreb bis auf den letzten Platz ausverkauft. Er beginnt sie mit dem Ustascha-Gruß Za dom spremni – „Für die Heimat bereit“. Bei Auftritten der kroatischen Fußballnationalmannschaft singt man seine Lieder, einige erheben die Hand zum Hitlergruß. Der Freispruch Gotovinas durch das UNKriegsverbrechertribunal im November 2012 wird, weil es sich um die „legitime Selbstverteidigung“ eines Staates gehandelt habe, in ganz Kroatien frenetisch gefeiert. Mesićs Nachfolger, der Sozialdemokrat Josipović, lässt ihn mit seinem Dienstflugzeug von Den Haag nach Hause holen. Die HDZ war im Jahr zuvor zum zweiten Mal abgewählt 37 Vgl. Siegfried Gehrmann, Erinnerte Zukunft. Aspekte nationaler Erinnerungsarbeit in einer postnationalen Konstellation – Das Beispiel Kroatien, in: Alfons Kenkmann und Hasko Zimmer (Hg.), Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem – Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Essen 2005, S. 193–203; Wolfgang Höpken, Innere Befriedung durch Aufarbeitung von Diktatur und Bürgerkriegen? Probleme und Perspektiven im ehemaligen Jugoslawien, in: ebd., S. 153–192; Tanja Vukovic, Der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 in perspektivischen Kriegsgeschichten, Marburg 2013.
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worden. Ob die Folgen des „heimatländischen“ und des Zweiten Weltkriegs auf dem Terrain des blutig untergegangenen Jugoslawien überwunden sind, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden. 2011 ist der Versuch von 1600 Menschenrechtsorganisationen, mit einer Million Unterschriften regionale Geschichtskommissionen einzurichten, die „ohne Schuldzuweisung historische Fakten“ über die 1990er Jahre erarbeiten sollten, kläglich und erbärmlich gescheitert. Nicht einmal die Hälfte der Unterschriften kam zusammen, die Bevölkerung hatte kein Interesse. Slowenien war schon 2004 Mitglied der EU geworden, Serbien stellte 2009 den Antrag, Montenegro, seit 2006 unabhängig, hatte sein Gesuch schon ein Jahr vorher nach Brüssel gesandt. Slowenien behalf sich mit der äußerst gewagten Version, dass ihre Domobranen nicht kollaboriert, sondern die Interessen der Nation verteidigt hätten. Das war von Sprachregelungen in Belgrad und Zagreb nicht weit entfernt. Die Zusammenarbeit mit den Deutschen wurde als „funktionale Kollaboration“ deklariert, der kommunistische Widerstand als „Rassismus und Terror“ zum Zweck der Revolution. So wurden aus Kollaborateuren „nationalbewusste Kämpfer“38, ihnen zu Ehren entstanden auf Friedhöfen und in Kirchen zahllose Denkmäler und Gedenktafeln. Die Vernichtung der Juden ist in Slowenien nicht Teil der eigenen Geschichte, sondern etwas Externes, Landfremdes, obwohl viele Domobranen daran beteiligt waren. In Belgrad hat man Gotovinas Freispruch als Schlag ins Gesicht empfunden. Das schwer gedemütigte Land hatte die Krajina, die serbischen Siedlungsgebiete Bosniens, Montenegro mit der Adriaküste und zum Schluss auch noch das Kosovo, das 2009 unabhängig wurde, und somit die „Wiege Serbiens“ verloren. 2012 gewinnt Tomislav Nicolić die Präsidentschaftswahlen in Belgrad. Er vertritt einen moderat rechten Kurs, schwadroniert aber immer noch von einem Großserbien. Jasenovac gilt als Ort des jüdischen und serbischen Holocaust, während die Ermordung der serbischen Juden nur zögerlich aufgearbeitet wird. Es gibt kein Land der Welt, es gibt kein anderes Beispiel in der Weltgeschichte, in dem die Auseinandersetzung mit Kollaboration oder Nicht-Kollaboration, die Zusammenarbeit oder Nicht-Zusammenarbeit mit dem Besatzer und Feind, wenn sie denn als solche empfunden wurde, vierzig Jahre später einen zweiten, kaum weniger grausamen Krieg heraufbeschworen hat. In der direkten Folge ist das, was sich einmal Jugoslawien nannte, in sieben Staaten zerfallen. In Kroatien mit seinen 4,2 Millionen Einwohnern, die am 1. Juli 2013 Mitglied der EU wurden, leben immer noch 200.000 Serben, vor allem Rückkehrer in die Krajina, in Serbien mit seinen 38 Joachim Hösler, Sloweniens historische Bürde, in: APuZ, Nr. 46/2006, S. 37; Siniša Kušić, Kroatiens Weg in die EU, in: APuZ, Nr. 17/2013, S. 8–15; Ludwig Steindorff, Ein kurzer Gang durch die Geschichte, in: APuZ, Nr. 17/2013, S. 15–22; Marie-Janine Calic, Kroatien und seine Nachbarn, in: APuZ; Nr. 17/2013, S. 22–29; Christian Braun, Der schwierige Umgang mit der Geschichte, in: APuZ, Nr. 17/2013, S. 35–41; Holm Sundhaussen, Ambiguities of “Natural” and “Artificial” Nations: Introductory Remarks, in: Ulf Brunnbauer und Hannes Grandits (Hg.), The Ambiguous Nation. Case Studies from Southeastern Europe in the 20th Century, München 2013, S. 43–54.
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7,1 Millionen Einwohnern leben immer noch 300.000 Ungarn, vor allem in der Vojvodina. Von den 3,5 Millionen Einwohnern Bosnien-Herzegowinas sind knapp die Hälfte Bosniaken, 37 Prozent Serben und 14 Prozent Kroaten. Slowenien mit seinen zwei Millionen Einwohnern ist der einzige homogene jugoslawische Nachfolgestaat. In Makedonien mit seinen gleichfalls zwei Millionen Einwohnern leben 25 Prozent Albaner, 4 Prozent Türken und 3 Prozent Roma, Montenegro mit 632.000 Einwohnern beherbergt 30 Prozent Serben und 9 Prozent Bosniaken. Im Kosovo mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern leben 92 Prozent Albaner und 5,3 Prozent Serben. Das einstige ideologische Patchwork aus sechs Republiken, fünf Nationen, vier Sprachen, drei Religionen, zwei Alphabeten und einer Partei, es ist nicht mehr. Die vielen Völker in Titos einstigem Vielvölkerstaat wohnen heute in vielen Staaten und streiten sich über ihre Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.
Albanien Im 11. Jahrhundert nach Christus kam für die dort siedelnden Illyrer der Name Albaner in Gebrauch. Am Beginn des 15. Jahrhunderts gerieten sie unter osmanische Herrschaft, die bis ins 20. Jahrhundert dauerte. Schon der Befreiungskampf ihres Nationalhelden Skanderbeg (1403–1468) war vergeblich gewesen. Die Anfänge der albanischen Nationalbewegung liegen im Kosovo. Drei Tage vor dem Berliner Kongress 1878 bildete sich die Liga von Prizren mit der Forderung, alle albanischen Gebiete zu einer Provinz unter türkischer Oberhoheit zu vereinigen, von Unabhängigkeit war noch nicht die Rede. Das geschah erst am 28. November 1912, als eine Nationalversammlung beschloss, „das sinkende ottomanische Schiff “ zu verlassen.“1 Der Geburtsfehler des neuen Staates bestand darin, dass die Großmächte sich gegen den erklärten Willen der provisorischen Regierung für die Schaffung eines Rumpfalbaniens entschieden, in dem nur die Hälfte der Bevölkerung lebte. Die anderen 50 Prozent der Albaner kamen unter die Oberhoheit Serbiens, das den Löwenanteil des Kosovo erhielt. Die daraus resultierenden Probleme währen bis heute. Zu den am meisten enttäuschten gehörte der Muslimgläubige Ahmed Zogu (1895– 1961), der schon in der Nationalversammlung eine führende Rolle gespielt und in der k. u. k. Armee den Rang eines Obersten bekleidet hatte, ein Spring-ins-Feld in einem europäischen Land, das noch von postfeudalen Strukturen mit Stammesführern und Stammesfehden bis hin zur Blutrache gekennzeichnet war. Zogu, der aus den zentralalbanischen Bergen kam, hatte ein Gymnasium in Istanbul und eine Offiziersschule in Makedonien besucht. Er wurde Truppenkommandant und Innenminister des jungen, äußerst fragilen Staates, der sowohl seine Regierung wie auch seine 1920 eingeführte Verfassung mit dem Zusatz „provisorisch“ versah. Die eigentliche Macht übten ein National- und ein Regentschaftsrat aus, die aber Zogus unaufhaltsamem Aufstieg zum Alleinherrscher nichts entgegensetzen konnten. 1922 wird er Ministerpräsident, 1923 gewinnt er mit seiner Partei die Wahlen, 1924 putscht er mithilfe der jugoslawischen Armee, 1925 wird er Staatspräsident und löst den Regentschaftsrat auf, 1926 schließt er mit dem Ersten Tirana-Pakt ein Sicherheitsabkommen mit Mussolini und errichtet damit ein De-facto-Protektorat Italiens über Albanien, am 16. Juni 1928 schreibt er mit italienischem Geld manipulierte Wahlen für eine neue Verfassunggebende Versammlung aus mit dem Ziel, durch sie die Monarchie wieder auszurufen und sich von ihr zum „König der Albaner“ proklamieren zu lassen, was am 1. September 1928 geschieht. Da ist er 33 Jahre alt. Das faschistische Italien und die kemalistische Türkei sind seine 1 Jens Reuter, Die Entstehung des Kosovo-Problems, in: APuZ, Nr. 34/1999, Nr. 3–10, hier: S. 7; Hanns Christian Löhr, Die Gründung Albaniens. Wilhelm zu Wied und die Balkan-Diplomatie der Großmächte 1912–1914, Frankfurt am Main 2010.
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Vorbilder. Er beginnt eine Boden- und eine Bildungsreform, immerhin besucht in den 1930er Jahren ein Drittel aller schulpflichtigen Kinder die Schule, aber trotzdem bleibt seine Herrschaft „ungeachtet ihrer modernisierenden Patina ein balkanisches Regime im Stil des 19. Jahrhunderts: eine Patrimonialherrschaft mit westlichen Kulissen.“2 Die 1935 unter dem Ministerpräsidenten Mehdi Bey Frashëri gebildete Regierung soll den Orientalismus übertünchen, aber schon ein Jahr später entlässt Zogu ihn wieder, weil Frashëri tatsächlich mit einer liberalen Politik beginnt. Der „König der Albaner“ ist daran gescheitert, dass er ein Knecht der Italiener war, insbesondere in militärischer und finanzieller Hinsicht. Als er versuchte, sich von ihnen zu emanzipieren, drehten sie ihm den Kredithahn ab und besetzten sein Land. Mussolini beschließt schon im April 1938, Albanien zu annektieren. Die am 7. April 1939 in Durrës landenden Truppen stoßen kaum auf Widerstand. Zogu flieht und wird seine Heimat nicht wiedersehen, er stirbt 1961 bei Paris. Ein Marionettenkabinett in Tirana vollzieht die italienisch-albanische Einheit und trägt Viktor Emanuel III. in Personalunion die Krone Albaniens an, am 23. April wird die „Albanische Faschistische Partei“ gegründet. Die neuen Partner Roms waren die alten Herrschaftsschichten, Großgrundbesitzer, Beys und Stammesführer, die ihr Handeln kaum als Verrat empfanden, da sich in der gesamten albanischen Gesellschaft noch kein Nationalbewusstsein entwickelt hatte. Ihnen ging es um persönliche Bereicherung, von ideologischen Affinitäten wie in Kroatien oder Rumänien konnte nicht die Rede sein. Shefquet Vërlaci, der neue Ministerpräsident, war Zogus Todfeind, und als Erstes bat er um die Erlaubnis, diesen ermorden zu dürfen. Der italienische Außenminister Graf Ciano notierte in seinem Tagesbuch: „Die Operation zur Kastration Albaniens, ohne dass der Patient schreit – also die Annexion – ist nun praktisch vollzogen.“3 Tatsächlich war er es, der Albanien regierte, denn neben jedem Minister stand ein ständiger italienischer Berater, der von einem Generalleutnant begleitet war, der seinerseits einem „Untersekretär für Albanische Angelegenheiten“ im italienischen Außenministerium Rechenschaft abzulegen hatte. 2 Anila Habili, Das autoritäre Regime Ahmed Zogus und die Gesellschaft Albaniens 1925–1939, in: Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime, a. a. O., S. 349–378, hier: S. 358; Michael Schmidt, Entstehung und Ausbau der Königsdiktatur in Albanien (1912–1939). Regierungsbildung, Herrschaftsweisen und Machteliten in einem jungen Balkanstaat, München 1987. 3 Zit. nach Bernd J. Fischer, Kollaborationsregimes in Albanien 1939–1944, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 367–376, hier: S. 369; Hubert Neuwirth, Widerstand und Kollaboration in Albanien 1939–1944, Wiesbaden 2008; Franziska Zaugg, „Unter Skipetaren“ – Die deutsche Besatzungszeit in Albanien, in: „Südosteuropa Mitteilungen“, Nr. 3–4/2015, S. 103–117; dies., Albanische Muslime in der Waffen-SS. Von „Großalbanien“ zur Division „Skanderbeg“, Paderborn 2016; dies., Zwischen Tradition und Moderne: Albanische und bosnische Muslime in der Waffen-SS, in: ZfG, Nr. 7–8/2017, S. 673–687; Owen Pearson, Albania in Occupation and War: From Fascism to Communism, 1940–1945, London und New York 2005.
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Das Installieren der neuen Machtstrukturen bedeutete das eine, das Gewinnen der albanischen Köpfe und Herzen das andere, und hier sind die Italiener gescheitert. Sie versuchten es durch Befriedung des albanischen Irredentismus und Nationalismus – das Kosovo sowie Teile Makedoniens und Montenegros kamen nach der Zerschlagung Jugoslawiens 1941 zum Staatsgebiet und ließen ein Großalbanien entstehen, von dem Zogu und Skanderbeg geträumt hatten – und mussten feststellen, dass nationalistisches Gedankengut in einem national entmündigten und unterworfenen Land fast keine Rolle spielte. Sie ersetzten die serbokroatische Amts- und Unterrichtssprache durch die albanische. Sie entließen Vërlaci und beriefen Mustafa Merlika-Kruja, der auch kollaborationsbereit, aber mehr auf Eigenständigkeit bedacht war. Das Statuto Fondamentale, die neue Verfassung, garantierte die konstitutionelle Monarchie, aber jeder wusste, dass der König in Rom saß. Im Oktober 1942 entstand die demokratische und antiitalienische Widerstandsbewegung Balli Kombëtar („Nationale Front“). Sie war zunächst noch klein, aber der Zusammenbruch und die Kapitulation Italiens im Juli 1943 wurden in der gesamten albanischen Bevölkerung offen begrüßt. Alle Besitzansprüche und Rechte gingen an Deutschland über, zu dessen eigentlichem Gegner die Ende 1942 konstituierte, maßgeblich von den jugoslawischen Kommunisten unterstützte „Nationale Befreiungsbewegung“ LNC wurde. Die einrückenden Deutschen gaben sich überall als Freunde des albanischen Volkes, das in seiner Unabhängigkeit zu respektieren sei. Hatten die Italiener zur Herrschaftsausübung noch acht Divisionen benötigt, so genügten den Deutschen zweieinhalb. Auch diese stießen kaum auf Gegenwehr. Sie überschütteten das Land mit Flugblättern, in denen der Schutz vor dem Kommunismus und der Hass auf die Italiener betont wurde, die „euch ausgeraubt und uns betrogen haben“. Auf der Suche nach Kollaborationswilligen wurde man zuerst bei den Kosovoalbanern fündig, aber auch Führungspersonen des „alten Albanien“ boten den Deutschen ihre Dienste an. Lef Nosi, der sich schon in der Unabhängigkeitsbewegung 1912 hervorgetan hatte, und vor allem Mehdi Bey Frashëri waren hier die einflussreichsten. Frashëri konnte in der Presse sogar auch weiterhin seine Verurteilung jedweder Diktatur und sein konsequentes Plädoyer für die Demokratie bekunden und besaß damit in dem heterogenen Heer europäischer Kollaborateure eine wohl einzigartige Stellung. Neubacher, seit August 1943 deutscher „Sonderbevollmächtigter des Auswärtigen Amtes für den Südosten“, stand hinter ihm. Beide entwickelten eine scheindemokratische Regierungsstruktur, zunächst mit einem Nationalkomitee und einer sechsköpfigen Übergangsregierung, und am 18. Oktober 1943 trat eine Nationalversammlung mit 150 Abgeordneten, vorwiegend aus dem Kosovo und aus Nordalbanien, zusammen. Sie löste die Personalunion mit der italienischen Krone auf, führte die albanische Monarchie von 1928 wieder ein und verkündete, dass für die Dauer des Krieges ein von Frashëri geleiteter Regentschaftsrat an der Spitze des Staates stand. Dieser und die Nationalversammlung beriefen eine Regierung mit Rexhep Mitrovica als Amtschef, der gleichfalls aus dem Unabhängigkeitskampf von 1912 kam. Das alles sollte in der Bevölkerung Vertrauen
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erwecken, denn Neubachers übergreifendes Ziel bestand darin, sich die Besatzung „demokratisch“ absegnen zu lassen. Deshalb redet er Himmler auch das Aufstellen einer albanischen Waffen-SS-Division aus, sorgte für beachtliche Pressefreiheit, verhinderte den Aufbau faschistischer Organisationen und lehnte die Aufnahme von MussoliniKollaborateuren in die (Marionetten-)Regierung ab. Diese war dadurch diskreditiert, dass sie zusammen mit den Italienern die Armee und die Polizei zerstört, die Staatsflagge geändert, den persönlichen Gruß verfremdet sowie Städte-, Straßen- und Familiennamen umgewandelt hatte. Der neue Besatzer gab sich das Image eines Befreiers von nationaler Entmündigung und Willkürherrschaft und war anfangs durchaus populär, insbesondere im Kosovo, wo die Entstehung der Zweiten Liga von Prizren nach Kräften gefördert wurde. Dadurch vermittelten die Deutschen den Anschein, nach dem Abschütteln des römischen Kolonialjochs zur Einheit des albanischen Volkes beizutragen. Sogar die Balli Kombëtar begannen sich auf ihre Seite zu stellen und entsandten drei Minister in die Tiraner Administration. Neubacher und Frashëri einigten sich, was den völkerrechtlichen Zustand von Albanien betraf, auf eine geradezu exotischverlogene Formel: Das Land befand sich demnach in „relativer Neutralität“ und beherbergte die Wehrmacht „als befreundeten Gast“. Außer Hitlers Reichskanzlei erkannte kein anderer Staat der Welt die im Sommer 1944 ausgerufene albanische Neutralität an. Als die Nationalversammlung am 18. Oktober 1943 im alten Königspalast von Tirana tagte, musste sie für Stunden fluchtartig das Gebäude verlassen, weil es mit Artilleriefeuer belegt wurde. Kurze Zeit später kursierten Flugblätter in der Stadt, auf denen es hieß: „Wie beantwortet das albanische Volk die Verräter-Versammlung? Mit Kanonen!“4 Das war die LNC, der kommunistische Widerstand, der entgegen seinen eigenen Bekundungen aber nur in Teilen der Bevölkerung nationale Selbstbehauptung und Selbstständigkeit verkörperte und vertrat. Unzufriedenheit mit der Scheinsouveränität äußerte sich auch anderenorts, bis in die Regierungsspitze hinein. Frashëri, der den Aufbau einer eigenen Verteidigungsarmee gegen die Partisanen förderte, warf den Deutschen in aller Schärfe vor, sich nicht an ihre Versprechungen zu halten. Balli Kombëtar kämpfte mit ihren 12.000 Freischärlern nur deshalb mit der Wehrmacht gegen die „Nationale Befreiungsbewegung“, weil sie gegen beide war und für den Tag nach der deutschen (und kommunistischen) Niederlage zur Stelle sein wollte, genuine Kollaboration oder gar ideologische Überzeugung leitete ihr Verhalten nicht. Als alle Versuche gescheitert waren, effektive albanische Militär- und Polizeiverbände zu schaffen, befahl der „Reichsführer SS“ im Frühjahr 1944 doch noch, aus „freiwilligen“ Albanern eine eigenständige SS-Division aus dem Boden zu zaubern. Das Desaster dieser 21. Waffen-Gebirgs-Division der SS „Skanderbeg“, wie sie später nach dem antiosmanischen Nationalhelden Fürst Georg Kastriota bzw. Iskander Beg genannt wurde, zeigt, wie wenig die Menschen aus dem Gebirgsvolk, aus Stämmen und Clans, denen sogar erlaubt war, den Fez zusam4 Thomas Kacza, Zwischen Feudalismus und Stalinismus. Albanische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 2007, S. 122.
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men mit ihrer SS-Uniform zu tragen, mit Begriffen wie Nation und Ideologie anzufangen wussten. Wenn der Bajraktar, ihr Clan-Chef, der Meinung war, die Zusammenarbeit mit den Deutschen sei nutzlos, nahmen sie die Uniform und die Waffen und machten sich nach der Einkleidung wieder davon, insgesamt 4000 Mann. Auch in der Bevölkerung wurde die Aufstellung der Division komplett ignoriert. Selbst im August 1944 hatte man immer noch nicht genug Leute beisammen. Desertionen waren an der Tagesordnung. Das Versagen der Deutschen bestand darin, sich nicht auch nur im Ansatz mit dem gesellschaftlichen Gefüge des Landes auseinandergesetzt zu haben und seine Menschen als „rassisch minderwertig“ zu verachten. Von „Waffenbrüderschaft“ konnte keine Rede sein. „Skanderbeg“ musste schließlich sang- und klanglos wieder abgeblasen werden. Das Feld gehörte längst den Partisanen, zu denen sich nicht nur Kommunisten zählten, sondern auch Zogu verpflichtete Royalisten und zuletzt auch die Nationalisten von Balli Kombëtar. Antideutsch war von allen dreien nur der LNC, der auf dem „Ersten Antifaschistischen Kongress der Nationalen Befreiung“ im Mai 1944 in Përmeti Enver Hoxha zum Chef einer provisorischen Regierung ernannt hatte. Er konnte zu dem Zeitpunkt bereits auf 35.000 einsatzfähige Soldaten zurückgreifen, denen sich nach dem Abzug der Wehrmacht am 17. November 1944 kein ernsthafter Widerstand mehr entgegenstellte. Kommunistische Volksgerichte begannen sofort mit ihrer Tätigkeit, wobei mit den Sachverhalten „Kollaboration“ und/oder „Antikommunismus“ äußerst fahrlässig umgegangen wurde. Allein sechzehn ehemalige Minister, Abgeordnete und Regierungsbeamte ließ man erschießen; Frashëri floh und starb 1963 in Rom. Unter der 40-jährigen Herrschaft Enver Hoxhas wurde Albanien so etwas wie das Nordkorea Europas, strikt abgekapselt nach Ost und West. Der Personenkult in der Erziehungsdiktatur war wichtiger als der Aufbau des völlig zerstörten Landes mit seinen vormodernen Strukturen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, in dem bei Kriegsende noch eine Millionen Menschen lebten. Hoxha brach nacheinander mit Jugoslawien (1950), der Sowjetunion (1960) und China (1978), und zwar immer aus einem einzigen ideologischen Grund: wegen seiner Verehrung Stalins und des Festhaltens am Stalinismus bis zum letzten Atemzug am 11. April 1985. Als das kommunistische Regime der Nachfolger Hoxhas Anfang der 1990er Jahre zusammenbrach und sich die Grenzen öffneten, blickte man in ein Gemeinwesen und Sozialsystem, in dem der Alltag nach wie vor von Clans, Klientelismus, Kriminalität, fast sklavenartigen Abhängigkeitsverhältnissen und dem Vollzug der Blutrache gekennzeichnet war. Seit 1991 hat es 208 Blutrachemorde gegeben. Noch im Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 wird wegen der infrastrukturellen Rückständigkeit und der grassierenden Korruption dringend von der Aufnahme des 2,9-Millionen-Staates in die Europäische Union abgeraten. Die Sitzungen des Tiraner Parlaments, in dem Konservative und Sozialisten etwa gleich stark vertreten sind, wurden von 2009 bis 2011, also während zweier Jahre, von den Sozialisten vollständig boykottiert. Nicht selten trat an die Stelle der parlamentarischen Diskussion die offene, gewaltsame Auseinandersetzung auf der Straße.
Griechenland Das antike Griechenland, seit 27 vor Christus die römische Provinz Achaia, kam nach der Teilung des Römerreiches 395 nach Christus an das oströmische Byzanz. Das Griechentum hielt sich in dem von der Völkerwanderung überfluteten Land vor allem durch die orthodoxe Kirche, die 731 dem Patriarchen von Konstantinopel unterstellt wurde. Nachdem die Stadt 1453 von den Osmanen erobert worden war, geriet Griechenland für Jahrhunderte unter deren Herrschaft. Der Befreiungskampf begann 1821 auf der Peloponnes. Er war insofern ein Menetekel, als es nicht nur um das Abschütteln der Fremdherrschaft ging, sondern gleichzeitig auch ein Bürgerkrieg zwischen Reformern und Großgrundbesitzern entstand, die an ihren Privilegien festhalten wollten. Erst eine vereinigte britisch-russisch-französische Flotte entschied den Kampf in der Seeschlacht von Navarino 1827 gegen die Osmanen. Der 1830 gegründete unabhängige Staat umfasste mit einer Bevölkerung von einer Million Einwohnern ein Drittel des heutigen Griechenlands. Er wollte eine Demokratie sein und bekam von außen immer wieder Monarchen aufgezwungen, die immer wieder unter Zwang das Land verlassen mussten: 1833 den erst 17-jährigen Otto I. von Wittelsbach; 1863 den ebenso gerade einmal 17 Jahre zählenden Georg I. aus dem Hause Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg, das mit Unterbrechungen bis 1974 im Land herrschen sollte; 1913 Konstantin I., der als Schwager Wilhelms II. im Ersten Weltkrieg zwar prodeutsch orientiert war, jedoch neutral blieb, nach dem Frontwechsel Griechenlands 1917 aber vorübergehend abdanken musste; 1922 Georg II., der schon zwei Jahre später die Abschaffung der Monarchie hinnahm, 1935 durch ein manipuliertes Referendum aber zurückgerufen wurde und von 1941 bis 1944 erneut ins Exil ging; 1947 Paul I., der mit Friederike von Hannover-Braunschweig verheiratet war; 1964 schließlich Konstantin II., der 1974 die endgültige, durch eine Zweidrittelmehrheit in einer Volksabstimmung herbeigeführte Auflösung der Monarchie in Griechenland zu akzeptieren hatte. Während dieses gesamten Zeitraums vollzog sich in dem Ägäis-Staat ein schmerzlicher und blutiger, von immer neuen Rückschlägen getroffener Demokratisierungsprozess. Otto I. hatte schon 1843 eine erste Verfassung respektieren müssen, unter Georg I. wird das Land 1875 eine konstitutionelle Monarchie. Zwei große Parteien bilden sich, eine feudal-konservative und eine bürgerlich-liberale. Royalisten und Republikaner stehen sich von nun an in zwei verfeindeten Lagern gegenüber. 1909 erheben sich Offiziere und machen den Liberalen Eleftherios Venizelos zum Ministerpräsidenten. Er wechselt 1917 in die Reihen der Entente: Durch deren Sieg gestärkt und territorial erheblich vergrößert, wagt Griechenland den Expansionskrieg gegen das Osmanische Reich, wird beim Vormarsch auf Ankara von Atatürks Truppen 1922 aber vernichtend geschlagen. Nach dieser „kleinasiatischen Katstrophe“ mussten 1,5 Millionen Griechen die Türkei verlassen und erhöhten die Einwohnerzahl Griechenlands über Nacht auf
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7,5 Millionen Menschen. In der instabilen Republik von 1923 bis 1935 wechselten sich elf verschiedene Regierungen ab, jedes Jahr eine neue. Als nach den Januarwahlen von 1936 eine Pattsituation zwischen Königstreuen und Republikanern entstand und die kommunistisch dominierte Volksfront das Zünglein an der Waage bildete, ermöglichte Georg II. seinem Premierminister Ioannis Metaxas am 4. August 1936 einen Staatsstreich. „Diesen Verfassungsbruch verzieh das griechische Volk seinem Monarchen nie.“1 Venizelos, der (mit Unterbrechungen) über ein Vierteljahrhundert die Politik mitgestaltet hatte, floh nach Paris. Metaxas war schon im Ersten Weltkrieg Generalstabschef Konstantins I. gewesen. Ihm schwebte nach der Antike und Byzanz eine „Dritte Griechische Kultur“ als Gegenentwurf zur parlamentarisch-pluralistischen Staats- und Gesellschaftsordnung vor. Metaxas, der von 1899 bis 1903 die preußische Militärakademie besucht hatte und daher den Spitznamen „Kleiner Moltke“ trug, machte von Anfang an klar, dass die Herrschaft im Neon Kratos, im Neuen Staat, eine diktatorische sein würde. Er setzte entscheidende Verfassungsartikel außer Kraft, löste das Parlament auf und führte das Militärrecht ein. Doch seinem autoritär-faschistoiden Regime fehlten zwei systemspezifische Merkmale: Es konnte sich weder auf eine Massenpartei noch auf eine Massenbewegung stützen, und außenpolitisch betrieb es eine anglophile Politik mit einer germanophilen Elite, während es im Innern unter dem permanenten Spannungsverhältnis mit dem Co-Diktator Georg II. litt. Je mächtiger in dem „Monarchofaschismus“ der eine wurde, desto machtloser erschien der andere, und es war schon früh absehbar, dass in der Doppelherrschaft letztlich nur für einen Platz war. Immerhin ernannte Metaxas sich 1938 mit Billigung des Königs zum Diktator auf Lebenszeit. Eine endgültige Zuspitzung dieses Konflikts in der „Dritten Hellenischen Zivilisation“, wie sie sich hochtrabend nannte, ist durch Mussolinis Überfall im Oktober 1940, Metaxas Tod im Januar 1941 und den Einmarsch der Wehrmacht drei Monate später obsolet geworden. Das Regime, das sich selbst als totalitär empfand, es aber nur ansatzweise war, verschwand so schnell, wie es gekommen war. Der Versuch der Italiener, Kollaborateure zu finden, scheiterte genauso kläglich wie ihre Invasion. Hitlers Versuche, einen griechischen „Quisling“ aufzuspüren, nachdem er dem „gedemütigten Achsenpartner“2 zu Hilfe gekommen war, gestalteten sich noch kläglicher. Das Land stand gegen Rom und Berlin zusammen. Zwar bot General Tsolá1 Loukas Lymperopoulos, Kurze Geschichte Neugriechenlands, in: APuZ, Nr. 35–37/2012, S. 23– 30, hier: S. 26; vgl. auch Susanna-Sophia Spiliotis, Die Metaxas-Diktatur in Griechenland 1936– 1941 – ein faschistoides Regime?, in: Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime, a. a. O., S. 403–430; Emmanouil Zacharioudakis, Die deutsch-griechischen Beziehungen 1933–1941. Interessengegensätze an der Peripherie Europas, Husum 2014; Harry Chiadakis, Fascism in Greece. The Metaxas Dictatorship 1936–1941, Mainz und Ruhpolding 2014. 2 Hagen Fleischer, Kollaboration und deutsche Politik im besetzten Griechenland, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 377–396, hier: S. 379; vgl. ders., Im Kreuzschatten der Mächte. Griechenland 1941–1944, 2 Bde., Frankfurt am Main, Bern und New York 1986.
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koglou den Deutschen schon am 26. April 1941, drei Tage nach der Kapitulation, seine Dienste an und schrieb wenige Tage später an Hitler, „that Your Excellency may take the fate of our country in Your hands“, aber nur, um die Entlassung der Kriegsgefangenen zu erreichen und die Kontinuität der Regierungsgewalt zu gewährleisten, nachdem das bisherige Kabinett und der König nach London geflüchtet waren, wo sich eine Exilregierung bildete, und um zu verhindern, dass Griechenland ein italienisches Protektorat würde. Sein „Kabinett der nationalen Notwendigkeit“ stimmte der Aufteilung in eine deutsche, bulgarische und italienische Besatzungszone zu. Es erhoffte sich dadurch eine Einflussminderung der beiden letzteren Besatzungsmächte, die sich in Wirklichkeit aber immer neue Befugnisse anmaßten, was die anfänglich durchaus germanophile Grundstimmung bald in sich zusammenbrechen ließ und die Autorität der Kollaborationsregierung untergrub. Zwar entfesselt sie eine Kampagne gegen die Königsdiktatur wie auch gegen den geflüchteten „meineidigen Verräter“ Georg II. und seine Londoner Entourage, gleichzeitig mahnt General Altenburg von der deutschen Besatzungsmacht in eindringlichen Worten nach Berlin, die „griechische Währung und griechische Wirtschaft, aber auch griechische Religion und griechisches Ehrgefühl zu schonen“3, aber beidem ist wenig Erfolg beschieden. Verzweifelt notiert Ulrich von Hassell, dass es den Deutschen binnen kürzester Zeit gelungen sei, „die bei Beginn der Besetzung vorhandene Liebe und Bewunderung der Griechen für Deutschland in das Gegenteil zu verkehren“.4 Zum breaking point wird für Tsolákoglou die Eroberung Kretas durch Luftlandetruppen der Wehrmacht und die Erstürmung des Akropolis-Felsens Ende Mai 1941 durch zwei Studenten, die das Hakenkreuzbanner von dort entfernen und es „schänden“. Der Premier stellt sich durchweg hinter die Deutschen und hat damit ausgespielt. Nur mangels personeller Alternativen bleibt er noch bis zum Dezember 1942 im Amt, denn das Mutterland des Nationalsozialismus zeigt an den sich ihm andienenden griechischen Nationalsozialisten keinerlei Interesse. Schon die 1927 in Saloniki von Styljanos Gonatas gegründete „Nationale Union Griechenlands“ (EEE) blieb mit ihren 35.000 Mitgliedern relativ einflusslos. 1930 machte sie von sich reden, als Fanatiker unter ihren Anhängern das Judenviertel von Saloniki anzündeten. Nach Kriegsbeginn schickt Gonatas Hitler Huldigungstelegramme und bietet ihm die Aufstellung eines griechischen Freiwilligenkorps für die Ostfront an, aber der „Führer“ reagiert nur verhalten. Die deutsche Botschaft in Athen 3
Zit. nach Fleischer, Kollaboration und deutsche Politik im besetzten Griechenland, a. a. O., S. 383; vgl. auch: Hagen Fleischer, Schuld und Schulden, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 26.3.2015, S. 11 und Katerina Kralova und Nikola Karasova, Reparationsforderungen: Umfang, Rechtsfragen, politische Rahmenbedingung, in: Ulrich-Dieter Klemm und Wolfgang Schultheiß (Hg.), Die Krise in Griechenland. Ursprünge, Verlauf, Folgen, Bonn 2015, S. 299–325. 4 Ulrich von Hassell, Vom anderen Deutschland, Frankfurt und Hamburg 1964, S. 247 f.; Christoph U. Schminck-Gustavus, Winter in Griechenland. Krieg – Besatzung – Shoah 1940–1944, Göttingen 2010.
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warnt vor den „unwichtigen Opportunisten“. So trat, als Übergangs- und Verlegenheitskandidat, der mit einer Deutschen verheiratete Gynäkologieprofessor Konstantinos Logothetópoulos für vier Monate an die Spitze der zweiten Kollaborationsregierung. Der angeblich „einzige Quisling Griechenlands“, wie ihn seine Gegner nannten, entfaltete vom ersten Tag an eine derart besatzungskritische und nationalistische Politik, dass seine Absetzung nur eine Frage der Zeit war. Als „soliderer“ Kandidat erschien der königstreue Berufspolitiker Ioannis Rallis, auch wenn Logothetópoulos die Verbreitung kultureller und erzieherischer „Werte“ des Nationalsozialismus massiv förderte, so mit der Gründung des „Amtes zur Aufklärung der griechischen Jugend“. Rallis war 1920 Marine- und 1932 Außenminister gewesen; an der Spitze einer kleinen royalistischen Partei hatte er 1936 acht Mandate erringen können, aber die Metaxas-Diktatur drosselte auch seine politischen Aktivitäten. Zur Übernahme der Regierung erklärte er sich eigentlich nur deshalb bereit, weil der Krieg für ihn nach den deutschen Niederlagen von El Alamein und Stalingrad entschieden war. Vor seiner Amtseinführung am 7. April 1943 hatte er sich heimlich mit Georg II. in Kairo getroffen und abgestimmt. Genuine Kollaboration sieht anders aus. Rallis’ eigentliches Motiv für die Zusammenarbeit mit den Deutschen war die panische Furcht vor einer kommunistischen „Bartholomäusnacht“, die so abwegig nicht war, weil die Kommunisten die Führungsfunktion im landesweiten Widerstand innehatten und ihn dominierten. Die bis dahin relativ unbedeutende Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) sah ihre Stunde gekommen, als sie am 27. September 1941 zusammen mit sozialistischen Gruppen und der linksgerichteten Bauernpartei die „Nationale Befreiungsfront“ (EAM) gründete. In der EAM waren zuletzt von den sieben Millionen Griechen anderthalb Millionen tätig, es war die größte Organisation, die es in dem Ägäis-Staat jemals gegeben hat, und die größte Widerstandsbewegung in Europa. Da sie mit der ELAS eine eigene Partisanenarmee aufbaute, war es Rallis ein Leichtes, der Besatzungsmacht eigene bewaffnete Verbände abzutrotzen: die Palastwache der Efzonen, eine Art Prätorianergarde, und die „Sicherheitsbataillone“. Letztere setzten sich aus antikommunistischen Militärs, extremen Rechten, Opportunisten und Kriminellen zusammen. Per Regierungserlass wurden im März 1944 allen griechischen Soldaten, die nicht den Sicherheitsbataillonen beitraten, der Dienstgrad und die Sozialversicherung entzogen. Das zog. Rallis’ übergreifendes Ziel bestand darin, alle bürgerlichen Kräfte in einer Front gegen die EAM und die ELAS zu vereinigen, der im Oktober 1943 über 35.000 Mann verfügte. Die Bataillone und die Efzonen brachten es zusammen auf 25.000. Zum stärksten Widersacher der ELAS wurde allerdings die „Griechische Republikanische Befreiungsliga“ (EDES) unter General Napoleon Zervas, die umso schneller in das royalistische Lager wie auch in die Kollaboration abrutschte, je deutlicher die Kommunisten in der EAM den Alleinvertretungsanspruch erhoben. Der Beginn der offenen Auseinandersetzungen zwischen ELAS und EDES am 10. Oktober 1943 markiert, mitten in der Besatzung, den Anfang des griechischen Bürgerkriegs. Die ELAS kontrolliert zu dem Zeitpunkt weite Teile des Festlandes, insbesondere den Peloponnes.
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Einer (bis heute) populären These zufolge hat es in Griechenland nie Antisemitismus und Judenfeindschaft gegeben. Als Erbe und Vermächtnis des antiken Hellenismus sei vielmehr die Abscheu gegen Xenophobie und Rassenhass immer fest in der Gesellschaft verankert gewesen. Die Wirklichkeit indes sah anders aus, schon lange bevor die Deutschen kamen. Verfolgungen und Pogrome sind für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert bezeugt. Eleftherios Venizelos attackiert 1934 die sephardischen Juden wegen ihrer Weigerung, sich zu integrieren. Ein Jahr später werden militärische Freiwillige mit dem Versprechen geworben, das Judenviertel von Saloniki plündern zu können. Metaxas hingegen verbietet die EEE und verspricht den Juden, sie im „neuen Staat“ wie „alle anderen Kinder Griechenlands“ zu behandeln. Erste Aschkenasi aus Deutschland finden Zuflucht. Alle drei Ministerpräsidenten von deutschen Gnaden haben „ihren“ Juden gegenüber Sympathien bekundet. Tsolákoglou verkündete: „In Griechenland gibt es keine Judenfrage“, und Logothetópoulos protestierte scharf gegen die Einführung der Nürnberger Gesetze, worin ihn die orthodoxe Kirche unterstützte. Auch die italienischen Besatzer versuchten den Juden zu helfen. Wer ihre Zone erreichte, war bis zu Mussolinis Kapitulation 1943 gerettet. Zu dem Zeitpunkt befanden sich 45.000 der 50.000 Juden von Saloniki schon in Auschwitz. Durch das praktisch reibungslose Zusammenspiel von Eichmanns „Spitzenmännern“ (Friedländer) Alois Brunner, Dieter Wisliceny und Rolf Günther mit Vassilis Simonides, dem Generalgouverneur von Makedonien, und nicht weniger mit dem Oberrabbiner Zví Koretz, dem Oberhaupt der Gemeinde von Saloniki, und dessen beflissener jüdischer Polizei verließen vom 15. März 1943 an täglich vollgepferchte Züge die Stadt. „Dieses Mitwirken am Genozid stellt das schwärzeste Kapitel in der Geschichte des griechischen Judentums dar“ (Kralová). Es gab keinerlei Widerstand. Logothetópoulos’ Protest blieb vollständig unbeachtet. Mit den Grabsteinen des bis ins 15. Jahrhundert zurückreichenden jüdischen Friedhofs wurden Straßen und Schwimmbäder gebaut. Rallis mischte sich in die „Judenpolitik“ seines Innenministers Tavoularis nicht ein und ließ ihm dadurch freie Hand für die Kollaboration mit den Deutschen. Beide unterstellten die „Sicherheitsbataillone“ und die Eidikî, ihre eigene Geheimpolizei, im Herbst 1943 den Höheren SS- und Polizeiführern für Griechenland, Jürgen Stroop und danach Walter Schimana, und das gemeinsame Morden begann, insbesondere nachdem die Italiener im Sommer 1943 das Land verlassen hatten. Allerdings erfolgten die Aktionen gegen Gemeinden im ehemals italienisch okkupierten Gebiet erst ein Jahr später, nach Badoglios Wechsel auf die Seite der Alliierten. Im März 1944 wurde die „Endlösung“ in Athen, auf dem gesamten Festland und auf den Inseln durchgeführt. Zwar gab es von griechischer Seite einzelne Proteste, aber mehr auch nicht.5 Von den 77.000 griechischen Juden sind 65.000 umgekommen, über 80 Prozent. 5
Deshalb ist auch die These von Andrew Apostolou nicht zutreffend; vgl. ders., Strategies of evasion: Avoiding the issue of collaboration and indifference during the Holocaust in Greece, in: Stauber (Hg.), Collaboration with the Nazis, a. a. O., S. 138–165.
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Vom Jahreswechsel 1943/44 an fürchteten die Deutschen, dass Rallis hinter ihrem Rücken ein neues griechisches Heer aufstellt. Wehrmacht, SS und alle einheimischen Einheiten bekamen deshalb das Recht, Geiseln zu nehmen und eigene Opfer durch „Sühnemaßnahmen“ zu rächen. Tatsächlich ging es Rallis darum, den kommunistisch dominierten Widerstand zu schwächen und zu spalten. In Unkenntnis dessen veranlasste die Exilregierung am 19. Februar 1944 alle Widerstandsgruppen, ihn als „Landesfeind“ zu verurteilen, und forderte seine Verbände (erfolglos) zur Desertion auf. Die Bewusstseinslage der Efzonen wie auch der „Sicherheitsbataillone“ sah nämlich so aus, dass sie die Besatzungsmacht zwar zutiefst verabscheuten, aber bewusst bis zur letzten Minute mit ihr kollaborierten, um den Kommunismus in Griechenland zu verhindern. Großbritannien klassifizierte die Bataillone im Abkommen von Caserta mit der Exilregierung am 26. September 1944 ausdrücklich als „Instrument des Feindes“. Das war nicht ideologisch, sondern taktisch motiviert, um den starken ELAS nicht zu vergraulen. Britische Agenten pflegten gleichzeitig im ganzen Land auch weiterhin ihre Kontakte zu den Bataillonen, Churchill fuhr zweispurig. Die widersprüchliche Gemengelage wurde noch dadurch abgerundet, dass den Efzonen, die inzwischen in Athen, Saloniki, Patras und Korinth stationiert waren, offene Sympathie entgegenschlug, wenn sie in der Foustanella, der dem schottischen Kilt ähnlichen Tracht, durch die Stadt zogen, und dass die Wirtschaftskollaboration im ganzen Land florierte, im Bergbau, in der Industrie und in der Agrarproduktion. Fast 100.000 Familien waren in sie eingebunden und haben von ihr profitiert. Die Lufthansa wurde sogar Eigentümer der „Griechischen Gesellschaft für Luftverkehr“. Gleich, um welchen Bereich es ging, in Griechenland war alles anders als im übrigen Europa: „Je deutlicher das Ende der Besatzung sich abzeichnete, desto stärker wurde die Tendenz zur Kollaboration. Dies weist auf die Tatsache hin, dass es den politischen Kollaborateuren weniger um die Kollaboration selbst als vielmehr um die Vorbereitung zum Bürgerkrieg gegen die Linken ging.“6 Tatsächlich haben die Bataillone „nicht einmal in zwölfter Stunde“ (Fleischer) ihre Waffen gegen die abrückenden Deutschen gerichtet. Am 18. März 1944 bildet die EAM in den Bergen eine provisorische Regierung. Vom 17. bis zum 20. Mai schließen sich Delegierte dieser Regierung, der Exilregierung, aller Parteien und der meisten Partisanenverbände in Beirut zu einer Regierung der nationalen Einheit zusammen, der die EAM nicht angehört. So lange es ging, nutzten die Deutschen die „Kommunistenfurcht“ im Land – und rannten damit offene Türen ein. Mit dem „kleineren Übel“ Wehrmacht positioniert man sich für „die Zeit danach“, 6 Konstantin Loulos, Politische, wirtschaftliche und soziale Aspekte der Kollaboration in Griechenland 1941–1944, in: Röhr (Hg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), a. a. O., S. 397–414, hier: S. 413; Anestis Nessou, Griechenland 1941–1944. Deutsche Besatzungspolitik und Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung – eine Beurteilung nach dem Völkerrecht, Göttingen 2009; Lowe, Der wilde Kontinent, a. a. O., S. 361 ff.; Ian Buruma, ’45. Die Welt am Wendepunkt, Bonn 2015, S. 131 ff.
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in bis zur Schizophrenie gesteigerter Kollaboration. Rallis sah darin sogar seine eigentliche Pflicht, ohne zu erkennen oder erkennen zu wollen, wie sehr er damit „die von den deutschen Militärs betriebene Spaltung (des) eigenen Volkes vertiefte und den latenten Bürgerkrieg zur vollen Glut anfachte (…).“7 Doch auch Churchill und Stalin haben ein gerütteltes Maß Mitschuld am Ausbruch des Bürgerkriegs. Auch Churchill sah in den bewaffneten Kollaborationsverbänden ein willkommenes Gegengewicht gegen die griechische Linke. Darüber hinaus setzte er in Moskau durch, dass Griechenland nach dem Abzug der Deutschen im britischen Einflussbereich blieb, was Stalin so sklavisch und devot befolgte, dass er der „eigenen“ KKE verbot, nach der Macht zu streben. Zwar trat die Partei zusammen mit der EAM im August 1944 in die Exilregierung des Venizelisten und Antikommunisten Georgios Papandreou ein, aber sie unterstellte ihre Partisaneneinheiten dem britischen Oberbefehl. Dass sich nicht alle Kommunisten dieser Moskauer Paradoxie unterwarfen, hat das Entfachen des Bürgerkriegs entscheidend bewirkt. Am 18. Oktober 1944 zieht Papandreous „Regierung der Nationalen Einheit“ in das befreite Athen ein, am 2. November verlässt der letzte deutsche Soldat das griechische Festland. Anfang Dezember ruft die EAM den Generalstreik aus, unmittelbar nachdem sie die Administration Papandreou verlassen hat. Die ELAS und britische Einheiten liefern sich wilde Straßenschlachten, Churchills Intervention ist vergeblich. Vom Januar 1945 bis zum März 1946 lösen sich fünf bürgerliche Regierungen in zehn Regierungsumbildungen ab, die EAM ist nirgendwo dabei, die ELAS wird am 16. Februar 1945 aufgelöst. Die Kommunisten boykottieren die ersten Nachkriegswahlen vom 31. März 1946, die der Royalist Tsaldaris gewinnt. In der unter äußerst dubiosen Bedingungen durchgeführten Volksabstimmung vom 1. September 1946 entscheiden sich 68 Prozent für die Rückkehr zur Monarchie. Georg II. trifft im Dezember 1946 in Athen ein. Er lässt EAM-Mitglieder verfolgen, inhaftieren, foltern und töten. Am 27. Dezember 1947 werden die KKE, die EAM und zahlreiche weitere linke Gruppierungen (bis 1974) verboten. Der auf beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführte Bürgerkrieg ist erst im Spätsommer 1949 beendet, nach massiver Militärhilfe der USA. Obwohl die großen Widerstandsorganisationen sich schon im Februar 1944 darauf geeinigt hatten, die Efzonen und die Bataillone nach dem Krieg als Verbrecher und Verräter zu verfolgen, geschah das Gegenteil. Weil sie gegen die EAM und die ELAS gebraucht wurden, erfuhren sie teilweise sogar Aufwertungen und Ehrungen. Nur Kollaborateure, die in die Gefangenschaft der ELAS gerieten, sahen sich nach summarischen Verfahren durch „Volksgerichte“ zum Tode verurteilt. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt, es waren aber etliche Tausend. Rallis befand sich nicht in ihrer Hand, auf ausländischen Druck hin wurde ihm aber der Prozess wegen Hochverrats gemacht. Er argumentierte, sich für sein Land „gewissermaßen aufgeopfert“ zu haben, erhielt das Urteil „lebenslänglich“ und starb ein Jahr später in der Haft. Tsolákoglou, verrufen als 7
Fleischer, Kollaboration und deutsche Politik im besetzten Griechenland, a. a. O., S. 396.
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„griechischer Quisling“, wurde zunächst zum Tode verurteilt, aber in dem Klima, in dem Kollaborateure mehr wert waren als Kommunisten, schnell begnadigt. Man wollte keine Entwicklung wie in Jugoslawien. Logothetópoulos konnte nach Kitzbühel fliehen und dort das „Griechische Nationalkomitee“, eine ihrem Selbstverständnis nach Gegen-Exilregierung, bilden, die ohne jeden Einfluss blieb. Tatsächlich waren nach dem Krieg mehr Widerstandskämpfer als Kollaborateure vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. „In Umkehrung aller Werte galt frühere Widerstandstätigkeit (…) a priori als suspekt, wohingegen die Kollaborateure als erprobte Antikommunisten in den nationalen Konsens integriert werden“ (Fleischer). Von den 3500 Ermittlungsverfahren wegen Wirtschaftskollaboration zwischen dem Mai 1946 und dem Februar 1947 sind nur 138 vor Gericht und ganze 14 zur Verurteilung gelangt, von denen die meisten milde ausfielen. Eine Aufarbeitung im eigentlichen Sinne hat in Griechenland nicht stattgefunden. Sie ging binnen Kurzem in dem inneren Frontenkampf zwischen Rechts und Links auf, in dem die jeweilige Seite der anderen schlichtweg die „Zugehörigkeit zum Griechentum“8 absprach. Die Kollaborateure, für die Linke „Hitlers graecophoner Unrat“, hievte die von 1967 bis 1974 herrschende Militärjunta sogar per Gesetz in den Rang der „Nationalen Résistance“, die ehemaligen „Sicherheitsbataillone“ erhielten Pensionsanspruch, während EAM und ELAS erst 1982, ein Jahr nach der sozialistischen Machtübernahme unter Andreas Papandreou, der Status des „Nationalen Widerstands“ zuerkannt wurde. Bis dahin war jeder Vorwurf gegen Rallis’ Efzonen und die „Sicherheitsbataillone“ grundsätzlich „ungerecht und unstatthaft“9. Die Linke war nach 1945 sogar dazu gezwungen worden, sogenannte Reueerklärungen zu unterschreiben, die Akten der Widerstandskämpfer waren auf einstimmigen Beschluss aller parlamentarischen Parteien verbrannt worden – Auslöschung statt Aufarbeitung. Wegen Kollaboration sind in Griechenland bis 1948 nur 25 Delinquenten und vier Kriegs8 Fleischer, Kollaboration und deutsche Politik im besetzten Griechenland, a. a. O., S. 378; auch: Nessou, Griechenland 1941–1944, a. a. O.; Kaspar Dreidoppel, Der griechische Dämon. Widerstand und Bürgerkrieg im besetzten Griechenland 1941–1944, Wiesbaden 2009; Kateřina Králová, Das Vermächtnis der Besatzung. Deutsch-griechische Beziehungen seit 1940, Köln, Wien und Weimar 2016. Králová resümiert, „dass neben den deutschen Besatzern auch deren lokale Handlanger in erheblichem Maße für die Zerstörung Griechenlands mitverantwortlich sind“ (S. 18). Ferner Kambas und Mitsou (Hg.), Die Okkupation Griechenlands im Zweiten Weltkrieg, a. a. O.; Hagen Fleischer, Vergangenheitspolitik und Erinnerung. Die deutsche Okkupation Griechenlands im Gedächtnis beider Länder, in: ebd., S. 31–54, dort (S. 36) auch das Zitat „In Umkehrung aller Werte …“; Dimitris Kousouris, Kollaboration und Geschichtsschreibung in Griechenland, in: ebd., S. 169–186; Odette Varon-Vassard, Der Genozid an den griechischen Juden. Zeugnisse des Überlebens und Geschichtsschreibung seit 1948, in: ebd., S. 85–114; Dimitris Kousouris, Histoire des procès des collaborateurs en Grèce, Paris 2013; Mark Mazower, Inside Hitler’s Greece: The Experience of Occupation, 1941–44, New Haven 1995; Rena Molho, Der Holocaust der griechischen Juden. Studien zur Geschichte und Erinnerung, Bonn 2016. 9 Fleischer, Kollaboration und deutsche Politik im besetzten Griechenland, a. a. O., S. 377.
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verbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, Politiker der Linken ereilte diese Strafe im gleichen Zeitraum hingegen mehr als 3000 Mal. Da der Krieg unmittelbar in den Bürgerkrieg überging, ja schon vorher begann, hat in Griechenland nie irgendjemand irgendeiner Befreiung gedacht. Das einzige Identität stiftende Datum, „welches die gemeinsamen Koordinaten im Gedächtnis aller ausmacht(e)“10, war der 28. Oktober 1940, jener Tag, an dem die eigenen Truppen die von Albanien aus angreifende italienische Invasionsarmee erfolgreich zurückgeschlagen hatten. Er wurde – unter deutscher Besatzung – schon 1941 zum ersten Mal gefeiert und gilt als Beweis für die Unbesiegbarkeit des griechischen Militärs. So wird in dem Ägäis-Staat, in dem alles anders ist, bis heute nicht des Kriegsendes, sondern mit Schulparaden und geschlossenen Geschäften des Kriegsanfangs gedacht. Dass sich dieser in Wirklichkeit so gestaltet hatte, dass Saloniki im April 1941 binnen drei Tagen und Athen binnen drei Wochen gegenüber der Wehrmacht kapitulierten, dazu gibt es im offiziellen griechischen Gedächtnis nach wie vor kein einziges Wort. „Die Jahre der Okkupation wurden in der griechischen Literatur bis in die jüngste Zeit als Jahre der finstersten Terrorherrschaft beschrieben. Die deutschen Soldaten wurden pauschal als gewissenlose Mordbrenner und Mörderbande geschildert, die grundlos mordeten und brandschatzten. Letztlich wurde versucht, die Leiden der Besatzungszeit auf das Niveau des Horrors zu heben, den das polnische und russische Volk erlebt hatte.“11 Die grausamen Verbrechen und Massaker von Kommeno, Distomo, Kalavryta und Lyngiádes12 galten als Alltagspraxis, was sie nicht waren. Wer ein differenzierteres Urteil wagte, sah sich schnell als Apologet des Nazi-Regimes hingestellt. Erst die Ausstellung Meres tou vom November 2010 in Irakleion, die von der Besatzung auf Kreta handelt, leitet eine andere, zum Teil auch selbstkritische Wahrnehmung ein. Zu den unrühmlichsten Kapiteln der griechischen Nachkriegsgeschichte gehört der Umgang mit den wenigen Jüdinnen und Juden, die zurückgekehrt waren. Zwar hatte Athen schon 1945 das erste 10 Despoina Karakatsané und Tasoula Berbenióté, Griechenland. Doppelter Diskurs und gespaltene Erinnerung, in: Flacke (Hg.), Mythen der Nationen, a. a. O., Bd. 1, S. 257–281, hier: S. 258; vgl. auch: Antónis Liákos, Staat und Gesellschaft in Griechenland seit 1830, in: Klemm und Schultheiß (Hg.), Die Krise in Griechenland, a. a. O., S. 161–181. 11 Heinz A. Richter, Griechenland 1940–1950. Die Zeit der Bürgerkriege, Mainz und Ruhpolding 2012, S. 131; ders., Griechenland 1950–1974: Zwischen Demokratie und Diktatur, Mainz, Ruhpolding und Wiesbaden 2013; ders., Geschichte Griechenlands im 20. Jahrhundert, Bd. 2: 1939– 2004, Mainz, Ruhpolding und Wiesbaden 2015; ders., Griechenland – ein Sonderfall, in: Heydemann und Vollnhals (Hg.), Nach den Diktaturen. Der Umgang mit den Opfern in Europa, a. a. O., S. 107–124; Mark Mazower, Griechenland unter Hitler. Das Leben während der deutschen Besatzung 1941–1944, Frankfurt am Main 2016. 12 Christoph U. Schminck-Gustavus, Feuerrauch. Die Vernichtung des griechischen Dorfes Lyngiádes am 3. Oktober 1943, Bonn 2013; zur breiteren Einordnung: Richard Clogg, Griechenland im Zweiten Weltkrieg, in: Klemm und Schultheiß (Hg.), Die Krise in Griechenland, a. a. O., S. 285– 298.
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europäische Restitutionsgesetz überhaupt erlassen, als es 1949 auf Druck des World Jewish Congress aber endlich ratifiziert wurde, standen die meisten der 2000 „Repatrianten“ immer noch vor den Häusern, in denen die Nutznießer des deutschen Holocaust wohnten. Die für die Juden zuständige Fremdenpolizei ordnete diese zeitweise in die Kategorie „feindliche Minoritäten“ ein, die ansonsten für ehemals kollaborierende Minderheiten reserviert war (!). 1947 stimmte Griechenland als einziger europäischer Staat in der UNO gegen die Teilung Palästinas und damit de facto gegen die Entstehung des Staates Israel. Als Andreas Papandreou und seine „Panhellenische Sozialistische Allianz“ PASOK 1981 eine fast ununterbrochene 48-jährige Herrschaft der Rechten beendeten, setzte ein schleichender, wohl nie vollständig erloschener Antisemitismus in der Gesellschaft ein. Einige Politiker der PASOK sprachen bei den Übergriffen gegen die Palästinenser von den „israelischen Nazis“ als „würdigen Nachfahren Hitlers“13. Noch heute ist es für durchaus nicht radikal und extrem gesonnene Menschen des 11-Millionen-Staates völlig unverständlich, wie man „zugleich Grieche und Jude“ sein kann, obwohl nur noch wenige hundert Bewohner des Landes dieses Recht für sich in Anspruch nehmen. Die Jahre von 1950 bis 1967 gelten in Griechenland als „steinerne Zeit“, in der es zwar der äußeren Form nach eine parlamentarische Demokratie gab, in Wirklichkeit aber ein totalitäres System herrschte. Insofern wirkte der Übergang in die Militärdiktatur von 1967 bis 1974 für viele nicht einmal wie ein radikaler Bruch. Der König versuchte, die Junta mithilfe von reformorientierten Offizieren zu stürzen, aber er scheiterte und floh ins Ausland. 1974 gewann der konservative Karamanlis die Wahlen mit absoluter Mehrheit, und in einem Referendum stimmten 70 Prozent der Bevölkerung gegen die Monarchie, die seitdem abgeschafft ist. Im gesamten Zeitraum von 1945 bis weit in die 1980er Jahre hinein ist über Krieg, Bürgerkrieg, Kollaboration, Widerstand und Judenmord geschwiegen worden, sind diese in „linken wie rechten Narrationen der Geschichtsschreibung verkleidet oder sorgfältig versteckt (ge)blieben“ (Dimitris Kousouris). Die Kultur der Erinnerung und Aufarbeitung ist in Griechenland immer noch im Entstehen begriffen. Der erste und bisher einzige wissenschaftlich-politische Kongress, der sich ausschließlich mit dem Problemkomplex der Kollaboration befasst hat, fand 2004 in Samothrake statt, wohl nicht zufällig im Vorfeld der Aufnahme Griechenlands in die Eurozone, von der man sich wirtschaftliche Stabilität und Wohlstand versprach. Wie fragil und verwundbar, aber auch andere verwundend sie ist, zeigte sich, als der Ägäis-Staat von 2010 an in eine schwere Wirtschafts-, Finanz- und Identitätskrise geriet. Zwar war es offiziell eine Troika aus Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfond, die de facto die Aufsicht über die Athen auferlegten Sparmaßnahmen übernahm, aber aus der Perspektive der Betroffe13 Zit. nach Hagen Fleischer, Griechenland: Das bestrittene Phänomen, in: Graml, Königseder und Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhaß, a. a. O., S. 207–226, hier: S. 223; Ioannis Zelepos, Kleine Geschichte Griechenlands. Von der Staatsgründung bis heute, München 2014, S. 179 ff.
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nen reduzierte sich das Machtpotential dieser Gruppe auf ein Land und auf eine Person, nämlich auf Deutschland und Angela Merkel. Nicht nur in rechtsextremen Postillen, sondern bis in die linksliberale Presse hinein posierte sie – in der Regel auf dem Titelblatt – in Nazi-Uniform mit Hakenkreuzbinde als „Führerin des Vierten Reichs“. Die durch sie ausgeübte Kontrolle wurde als neue bzw. andere Form der „Besatzung“ empfunden, und auch neue „Kollaborateure“ standen bereit. Die Partei „Goldene Morgenröte“ hatte sich schon Anfang der 1990er Jahre gebildet, aber erst 2012 und erneut 2015 zog sie mit 6 Prozent und 17 Abgeordneten in das Athener Parlament ein. Ihre Mitglieder verherrlichen die griechische Kollaboration, veranstalten Fackelzüge, singen dazu das Horst-Wessel-Lied, lassen eine Parteifahne mit schwarzem Hakenkreuz auf rotem Grund im Wind flattern und heben den rechten Arm nicht zum deutschen, sondern zum „dorischen“, altgriechischen Gruß. Sowohl der konservative Premier Antonis Samaras wie auch sein Stellvertreter, der PASOK-Chef Evangelos Venizelos, sprachen übereinstimmend von den „Nachfahren der Nazis“, deren Anhängerschaft inzwischen bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht. Der Ende 2014 veröffentlichte, 700 Seiten starke Ermittlungsbericht der Athener Staatsanwaltschaft vermittelt das Bild einer nach dem Führerprinzip organisierten Partei mit eigenen „Sturmtruppen“ nach dem Vorbild der SA. Parteichef Michaloliakos und Chefideologe Kasidiaris befehlen Anschläge auf Ausländer, Homosexuelle und Linksintellektuelle bis hin zum Mord, so wie im September 2013 an dem Sänger Pavlos Fyssas. 69 Mitgliedern der Partei wirft der Bericht schwere Körperverletzung, rassistische Gewalttaten, Mord oder Mordversuch vor. Acht Abgeordnete sitzen in Untersuchungshaft, weil sie die Verbrechen aus dem Parlament heraus gesteuert haben. Michaloliakos betont indessen unentwegt: „Ich habe großen Respekt vor dem, was Hitlers Deutschland war.“ Griechenland ist und bleibt ein zerrissenes Land, was sich 2015 nach der Machtübernahme von Alexis Tsipras und seiner linkssozialistischen Syriza-Partei in aller Deutlichkeit zeigte. In einer seiner ersten Amtshandlungen verlangte Tsipras, den Deutschland 1942 von der griechischen Zentralbank in Höhe von 476 Millionen Reichsmark „zur Deckung der Besatzungskosten“ überwiesenen Zwangskredit zurück. Der Wert dieser Zahlungen habe inzwischen, so der neue Regierungschef, ein Volumen von elf Milliarden Dollar erreicht. Da 1990 in Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung auf Betreiben Kohls und Genschers aber – ganz bewusst – kein Friedens-, sondern „nur“ ein Zwei-plus-Vier-Vertrag abgeschlossen worden war, damit die 53 Kriegsgegner Deutschlands von 1939 bis 1945 keine „alten Rechnungen“ präsentieren konnten, hätte Athen 1990 formell Protest einlegen müssen, um seiner Ansprüche nicht verlustig zu gehen. Da dies nicht geschah, bleibt Tsipras jetzt nur noch der äußerst ungewisse Weg zum Internationalen Gerichtshof in Den Haag, wo bereits der rechtliche Charakter der zinslosen Transaktion, ob Darlehen, Zwangsanleihe oder Reichsschuld, umstritten ist. Fakt ist aber – und damit kehren wir zur Thematik dieser gesamten Untersuchung zurück –, dass sie auch ein Kollaborationsdeal war, denn die Regierungen Tsolákoglu und Rallis machten ihr Verbleiben im Amt von einer schritt-
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weisen Reduzierung der Besatzungskosten abhängig, für die der Betrag gemäß der Haager Landkriegsordnung von 1907 aufgewendet wurde. Dieser Aspekt wurde von der Regierung Tsipras natürlich mit keinem einzigen Wort erwähnt. Tatsächlich aber ist der Kredit dem Deutschen Reich auf neu eröffneten Sonderkonten als „politische Schuld gegenüber Griechenland“, als „Anlastung des Reichs“, als „Guthaben“ und als „Reichsverschuldung“ angeschrieben worden, die in Monatsraten zu tilgen war, was auch geschah. Die 32. und letzte dieser Raten ging am 27. Oktober 1944, sechs Tage vor dem Abzug der Wehrmacht, bei der Athener Staatsbank ein. Die exakte Tilgungssumme lässt sich wegen der inzwischen eingetretenen Hyperinflation nicht mehr genau berechnen. Gleichwohl steht damit aber fest, dass die Restschuld, egal wie hoch, keinen Reparationscharakter hat, sondern den eines nicht vollständig abgestotterten Kredits. Bei den Pariser Reparationsverhandlungen von 1945/46 präsentierten die Griechen eine Kriegsschadensbilanz von 7,2 Milliarden Dollar, was von den Westmächten als adäquat klassifiziert wurde. Dass nie damit begonnen wurde, diesen Posten zu bedienen, lag an dem sogenannten haircut, dem Londoner Abkommen von 1953, in dem „die aus dem Krieg herrührenden Forderungen gegenüber Deutschland bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage“ zurückgestellt wurden. Als einzig denkbarer Akteur hierfür galt ein wiedervereinigtes Deutschland, an das schon damals niemand glaubte. Allerdings betrieb Adenauer nicht nur gegenüber Israel eine kompensatorische Wiedergutmachungspolitik. In diesem Zusammenhang hat Griechenland bis 1960 in drei Tranchen nachweislich 435 Millionen D-Mark erhalten, woraufhin Athen erklärte, keine weiteren „individuellen Forderungen“ zu stellen. Da Griechenland den Zwei-plus-Vier-Vertrag in der Charta von Paris im November 1990 „mit großer Genugtuung zur Kenntnis“ genommen hat, ist seine völkerrechtliche Position hinsichtlich weiterer Forderungen schwach14, weshalb auch der 2012 eingesetzte „Nationalrat für Entschädigungsfragen“ eher privaten Charakter hat. Er ist entstanden, nachdem Zivilklagen von griechischen Kriegsopfern nach einem Gang durch alle Instanzen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gescheitert waren. Die dortigen Richter hatten das Prinzip der Staatenimmunität bestätigt, nach dem kein Staat wegen hoheitli14 Dagegen: Nessou, Griechenland 1941–1944, a. a. O., S. 495; nachdrücklich unterstützt wird diese Gegenposition von Hagen Fleischer, Karl Heinz Roth und Christoph Schminck-Gustavus, Die Opfer und nicht die Täter sollen in der Bringschuld sein? Zur Medien-Kampagne gegen die griechischen Reparationsansprüche aus dem Zweiten Weltkrieg, in: ZfG, Nr. 4/2016, S. 379–388; streitbar und provozierend: Karl Heinz Roth und Hartmut Rübner, Reparationsschuld. Hypotheken der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland und Europa, Berlin 2017. Für Roth und Rübner beruht die Regelung bzw. Nicht-Regelung der Reparationsfrage auf einer Verschwörung der westdeutsch-nordamerikanischen Machteliten zulasten der kleinen Länder in Europa. Die Beweisführung, mit der Fleischer, Roth und Schminck-Gustavus die in der Tat abenteuerliche und absurde These des Zeithistorikers Heinz A. Richter widerlegen, nicht Griechenland habe Reparationsansprüche gegenüber Deutschland, sondern umgekehrt, ist allerdings in jeder Hinsicht überzeugend.
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chen Handelns, auch nicht wegen rechtswidriger Handlungen seiner Soldaten (in diesem Fall der Massaker von Distomo, Lyngiádes und anderen), vor den Gerichten eines anderen Staates verklagt werden kann. Dessen ungeachtet ließ Tsipras sehr schnell eine Kommission einrichten, die die Reparationsforderungen gegenüber Deutschland errechnen sollte. Dies hatte übrigens auch bereits sein konservativer Vorgänger Samarás getan. Tsipras’ Kommission ist auf einen Betrag von 278,7 Milliarden Euro gekommen, worin die bereits genannte Zwangsanleihe, Kriegsschäden, geraubtes jüdisches Gold und Forderungen aus dem Ersten Weltkrieg enthalten sind. Die Tatsache bzw. – je nach juristischer oder nicht juristischer Wahrnehmung – der Vorwurf, dass ein Land, das nicht einmal seinen Verpflichtungen aus begangenen Verbrechen während der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg nachkommt, jetzt de facto die eigene Haushaltsführung kontrolliert, hat die deutsch-griechischen Beziehungen empfindlich und nachhaltig vergiftet. Das bisschen Kollaboration von 1941 bis 1944 spielt da im öffentlichen Bewusstsein und schon gar nicht in der offiziellen staatlichen Erinnerungskultur auch nur ansatzweise eine Rolle.
Europäisches Gedächtnis und europäische Identität Unser Gang durch Europa ist beendet. Er war ernüchternd und erschütternd, aber auch erhellend und erkenntnisfördernd. Seine zeitliche Dimension erstreckte sich von der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs bis heute, und sein Ziel war es, auf und mit ihm Bausteine für das Fundament einer gemeinsamen europäischen Identität zu gewinnen, die nicht auf Lügen, Sand und Selbsttäuschung aufgebaut ist, sondern auf einem schonungslosen Bekenntnis zur Wahrheit, insbesondere hinsichtlich der années noires von 1938 bis 1944/45. Das ist kein leichtes Unterfangen. Bevor es mit einer validen Antwort abgeschlossen werden kann, müssen wir uns zunächst die Ergebnisse der Reise kurz und summarisch, gleichwohl aber Land für Land, mit einer Leitfrage vergegenwärtigen: Wie sieht es im Einzelnen mit der Selbstvergewisserung im Hinblick auf die Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland aus? Wo steckt dieser Prozess noch in den Anfängen, wo ist er fortgeschritten und wo abgeschlossen? Nur mit dieser Bilanz, nur mit diesem Befund ist es legitim und möglich, einen verlässlichen Beitrag zu dem Jahrhundertprojekt der Herausbildung eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins zu leisten. Österreich, das seit 1866 deutsch sein wollte und 1938 deutsch wurde, trägt die Schuld an der Ermordung von drei Millionen Jüdinnen und Juden. Es hat von allen durch die NS-Herrschaft unterworfenen Staaten Europas den geringsten Widerstand geleistet und ist neben Deutschland die Kollaborations- und Täternation schlechthin. Der Unschulds- und Opfermythos war nach 1945 ihre Meistererzählung. Als Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem der Prozess gemacht wird, erkennt man ihm die österreichische Staatsbürgerschaft vorher ab – man stahl sich aus der Verantwortung. Das ging vierzig Jahre lang gut. Dr. Kurt Österreicher konnte sich auf seine Waldheimer verlassen, die wählten, wen sie wollten. Doch mit der Affäre um ihn war Österreichs Fluchtweg zur „Insel der Seligen“ außerhalb der deutschen Geschichte für immer versperrt, wie Karl Dietrich Erdmann völlig zutreffend urteilt. Mit der „reinen“ Okkupationsthese und dem „ersten Opfer des Hitlerfaschismus“ war es vorbei, die „Pflichterfüllung“ erwies sich als die Sollbruchstelle des Unschuldsmythos, der eigentliche Nationswerdungsprozess war gleichbedeutend mit verlorener Unschuld. Bundeskanzler Vranizky erkannte dies 1991 an, aber er blieb noch ein einsamer Rufer. Durch die Entsendung der EU-Delegation nach Wien 2000 zur „Kontrolle“ der ÖVP/FPÖ-Regierung erfährt die Opferthese eine erneute Aufwertung, erst 2005 erklärt Bundespräsident Fischer sie für nicht mehr existent. Vier Jahre zuvor war in einem Gesetz erstmals von der „moralischen Verantwortung Österreichs“ für die NS-Zeit die Rede gewesen, und 2007 (!) hält Gerhard Botz es für möglich, zu konstatieren, dass Österreich ein Nachfolgestaat Nazideutschlands ist. Aber es gibt immer noch genügend Leute, die das nicht interessiert. Im Programm der FPÖ von 1985 ist
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von der „Zugehörigkeit Österreichs zum deutschen Volks- und Kulturraum“ die Rede, was 2011 ausdrücklich wiederholt und bestätigt wird. Der Geist Haiders lebt. Der homo austriacus ist nach wie vor ein unbestimmbares Wesen, das nur langsam aus seiner Opferrolle findet, aus einer Erinnerungskultur des Nichts-wissen-Wollens. So lange sich dies nicht ändert, bleibt er der Komplize, der dann auch noch die Zeche prellte. Dabei wäre schon einiges gewonnen, wenn sich das victim wenigstens als guilty victim verstehen würde. In Italien ist die Verfolgung und Ermordung der Juden autonom auf eigene Initiative hin unternommen worden. 1943 kamen 800.000 italienische Soldaten, von denen etliche kurz zuvor noch Seit an Seit mit der Wehrmacht an der Ostfront gedient hatten, in die Gewalt der Deutschen. Italien war für mehr als zwanzig Monate ein doppelt besetztes Land mit zwei gegeneinander Krieg führenden Regierungen: Der Partisan des Nordens war im Süden legitimer Soldat, die Mussolini-Treuen des Südens sahen in den Kollaborateuren des Nordens ihre Partner. Ein regelrechtes Beamtenheer aus dem Süden pilgerte in den „Agoniefaschimus“ von Salò. Die ausgebliebene Säuberung nach 1945, als Versöhnung gedacht, wurde zum ersten Schritt der Restauration, die DC zum Auffangbecken der Mussolini-Partei. Das politische Klima war von Erinnerungsverweigerung, Teilrehabilitierung des Faschismus und dem Mythos von der Selbstbefreiung geprägt, fast so, als ob es die Repubblica Sociale Italiano und Mussolinis Ventennio nie gegeben hätte. Staatspräsident Ciampi billigt noch 2001 den Anhängern der Republik von Salò zu, „auf gleiche Weise der Ehre des Vaterlandes“ gedient zu haben wie alle anderen – Italiani brava gente. In der Ära Berlusconi ist dieses Selbstverständnis eher noch bestärkt worden. In der Schweiz wurde ein Schlingerkurs gefahren: Der Bundesrat verteidigte die Unabhängigkeit, NS-affine Parteien wollten die Eingliederung ins Reich bzw. den Status des „freien Reichsglieds in Hitlers Neuem Europa“. Nachdem der Bundesrat alle „nationalfaschistischen Bewegungen“ verboten hatte, bildeten sich illegale Auffangbecken. Die Schweiz bleibt der einzige nicht okkupierte Staat Zentraleuropas. Nach dem Krieg tauchte schon früh so manches Gerücht zu Raubgold, Wirtschaftskollaboration und nicht zuzuordnenden Konten auf, aber fünfzig Jahre lang geschah nichts. Mit dem „Eizenstat-Bericht“ von 1997 war klar: Die Golddrehscheibe Schweiz hatte erheblich zur Verlängerung des Zweiten Weltkriegs beigetragen. Die „Unabhängige Expertenkommission Schweiz“ urteilte 2002, dass das Land über die dormant accounts zu einem stillschweigenden Nutznießer des Holocaust geworden war. „Nur aus Rassegründen“ verfolgte Juden wurden an der Grenze abgewiesen, obwohl das Boot keineswegs voll war. Allerdings haben trotz der offiziellen „Fernhaltepolitik“ 300.000 Flüchtlinge Aufnahme gefunden. Gleichzeitig lief die deutsch-schweizerische Fertigungsstraße zu beiderlei Nutzen aber wie geschmiert. Die Schweiz gehört in einer wohlüberlegten und nicht selten raffinierten Mischung aus Überlebenskalkül und Profitinteresse zu den Kriegsgewinnlern von 1939 bis 1945. Sie war weder eine Insel der Humanität noch der Neutralität.
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Rechte, nationalistische, antisemitistische und faschistische Gruppierungen haben in Frankreich eine lange Tradition. Edouard Drumonts Buch „La France juive“ gehört zu den Bestsellern des 19. Jahrhunderts. Charles Maurras’ Action française bildet sich 1899, erst 1945 wird sie verboten („Dreyfus’ Rache“). Jacques Doriots Parti populaire français verlangt die „Förderung der französischen Rasse“, sie skandiert „Lieber Hitler als Blum“. La Rocques’ militant ausländerfeindliche „Feuerkreuzler“ haben in den 1930er Jahren eine Million Mitglieder, der junge Mitterrand applaudiert ihnen. Der Elysée reagiert 1938 mit keinem einzigen Wort auf die Reichspogromnacht. Pétains Waffenstillstandsvertrag von 1940 ist fast schon die Geburtsurkunde der Kollaboration, das Wort taucht wörtlich in ihm auf. Die von Pétain proklamierte „Nationale Revolution“ hatte ihren Chefideologen in Maurras. Sie war nationalistisch, aber nicht faschistisch. Werner Bests „Aufsichtsverwaltung“ soll ein Vertrauensverhältnis mit dem Mann auf der Straße schaffen und wird von der kommunistischen Parteizeitung „L’ Humanité“ gelobt. Zehn Millionen Franzosen arbeiten für die Deutschen, bis hin zur collaboration horizontale. Diese war nicht zuletzt Ausdruck des „Systems D“, das sich von débrouiller (sich durchwursteln) herleitet. Dementsprechend war die deutsche Kulturpolitik ein raffiniertes Gemisch aus Gleichschaltung, Verführung und Förderung, Paris blühte auf. Die „Nouvelle Revue Française“ wird zum Sprachrohr eines Europas unter deutscher Führung. Pétains Händedruck mit Hitler am 24. Oktober 1940 in Montoire sollte der Aufrechterhaltung der in zehn Jahrhunderten gewachsenen Einheit Frankreichs dienen, aber die Deutschen teilen das Land in den Etat Français von Vichy und den besetzten Norden. Der 25-jährige Mitterrand wird Verfassungsschutzchef von Vichy, führt aber bald ein Doppelleben. Am 19. Februar 1942 beginnt die Tragikomödie von Riom: Pétain versucht die „Verantwortlichen“ für die Niederlage von 1940 vor Gericht zu stellen und klagt sich damit faktisch selbst an. Frankreich ist aber auch am Holocaust mitschuldig geworden. Die Kollaboration hat ihn nicht verhindert, sondern im eigenen Lande ermöglicht. Das „Führungsvolk“ und das „Großraumvolk“ kollaborierten und rivalisierten hier miteinander, aber an La grande rafle, der Judenjagd in Paris, war kein einziger Deutscher beteiligt. Am 8. Mai 1945 begann le passé qui ne passe pas. Sie dauerte. Der Barbie-Prozess 1987, der zur Abrechnung mit der NS-Okkupation werden sollte, wird zur Anklage gegen Frankreich: Es stellt sich heraus, dass alle dramatis personae in einer Art „complicité générale“ (Arno Klarsfeld) selbstständig, ohne deutschen Befehl gehandelt haben. Die SS war nur der Parasit der französischen Regierungsapparate, die Milice française war ihr allerdings unterstellt. Was im Alltag galt, war l’accomodation mit Pétain, der französischen Fassung des Führerprinzips; schließlich konnte der Franzose einem Mann, der sich als Nachfahre von Charlemagne und Jeanne d’Arc stilisierte, doch wohl gehorsam sein. Alle Ministerpräsidenten de Gaulles haben ihm gedient: Debré, Pompidou und Couve de Murville. Und noch eines wurde langsam, aber sicher klar, nämlich die Erbärmlichkeit der Résistance, des von de Gaulle errichteten Mythos. Stattdessen wirkte es wie ein Schock, als sich herausstellte, dass die SS-Division Charlemagne, also
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Franzosen, dem „Führer“ in den Kellern der Berliner Reichskanzlei bis zum Schluss die Treue gehalten hatten. Libération und épuration gehen in einen Bürgerkrieg über. Überdies leben aus der collaboration horizontale auf einmal 200.000 „Deutschenbastarde“ im Land. Aber nicht nur von ihnen war „Frankreich in seiner Seele“ hintergangen worden. Drei Viertel aller Richter hatten in den Diensten von Vichy gestanden. Die Rekonstruktion nationaler Identität konnte sich mithin nicht auf dem Ausschluss von zigmillionen Pétainisten bilden. Sind die années noires bewältigt? Die Entschuldigung des Konservativen Chirac von 1995 für die französische Beteiligung am Judenmord wird durch das Verhalten des Konservativen Sarkozy fast entwertet, der bis zu seiner Abwahl 2012 die Worte „Kollaboration“ und „Vichy“ nicht in den Mund nimmt, genauso wenig wie sein sozialistischer Vorgänger Mitterrand. Es durfte einfach nicht sein, dass das Vaterland der Menschenrechte in all seiner Auserwähltheit und exception française in seiner tausendjährigen Geschichte einmal versagt hatte. In den Niederlanden wurden Hitlergegner schon ab 1933 wegen „Beleidigung eines befreundeten Staatsoberhauptes“ angeklagt. Demgegenüber ist es erstaunlich, dass Anton Musserts „Nationalsozialistische Bewegung“ nie richtigen Zulauf gefunden hat. Zur Amtseinführung der Zivilregierung unter Seyß-Inquart war Mussert demonstrativ nicht eingeladen. Für sein Großdietsches Reich aus Holländern, Flamen, Friesen und Nordostfranzosen verlangte er die volle Souveränität, aber dieses Reich blieb eine Chimäre. Bevölkerung, Judenrat und Polizei der Niederlande vollziehen die Deportation der Juden weitestgehend ohne die Deutschen, „eine Katastrophe, die in keinem westlichen Staat ihresgleichen hatte“ (Hannah Arendt). Für ein „Kopfgeld“ von 7,50 Gulden werden Juden verraten. Aber nicht nur deshalb verzeichnet das Land die mit Abstand höchste Todesrate in Europa. Der Widerstand im Polderstaat ist kaum der Rede wert. Nach dem Krieg beginnt ein genauso schonungsloser wie kompensatorischer Umgang mit den foute Nederlanders und moffenmeiden. Die „Besondere Rechtsprechung“ gerät allerdings schon bald zur chronique scandaleuse einer nicht erfolgten Aufarbeitung, während die „Stiftung zur Überwachung politischer Delinquenten“ die Belasteten gleichzeitig reihenweise reintegriert. Die Versäulung des politischen Systems wird wiederaufgenommen und das Trauma der massiven Kollaboration mit zunehmendem Deutschenhass übertüncht. Noch 1993 findet die nach den Morden deutscher Rechtsextremisten an Türken in Solingen durchgeführte holländische Aktion „Ich bin wütend“ 1,3 Millionen Unterschriften. Sie sind gleichermaßen Ausdruck von Empörung und Hass, aber auch ein Spiegelbild der eigenen unaufgearbeiteten Vergangenheit. Wo hierzu bereits Forschungsarbeiten vorliegen, vermitteln sie eine trübe Melange aus Opportunismus, Nichtstun, Wegschauen, Abwarten und Schweigen. Das Referendum von 2005, das – regierungsoffiziell – mit dem Slogan „Für die Europäische Verfassung – Gegen ein zweites Auschwitz“ geführt wird, scheitert mit fast zwei Drittel Gegenstimmen. Europäische Erinnerung und europäische Identität haben in den Niederlanden noch eine geringe Schnittmenge, und die langen Schatten der Kollaboration sind noch längst nicht gewichen.
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Léon Degrelle und seine Rexpartei sind das Zentrum des Nationalsozialismus in Belgien. Staf de Clercq, ihr Gegenspieler, will mit seinem „Flämischen Nationalen Verband“ so wie Anton Mussert ein Großdietsches Reich aus Holländern und Flamen, das unabhängig ist. Die Flamen sind für ihn (so wie die Österreicher) eine im Ausland lebende deutsche Minderheit. Degrelle hingegen ordnet sich der nationalsozialistischen europäischen Großraumpolitik unter. Nur in Belgien kommt es schon 1941 zu pogromartigen Ausschreitungen der Bevölkerung gegen die Juden, gleichzeitig werden aber auch zahlreiche Hilfsangebote gemacht und immer neue Verstecke gefunden, sodass zwei Drittel der Juden überleben. In Belgien war man den Deutschen vielerorts wohlgesonnen, aber der Besatzer schaffte es auch hier, die Einheimischen – insbesondere durch Zwangsarbeit – gegen sich aufzubringen. Erst im Juli 1944 wird die Zivilverwaltung eingeführt. Da ist der Hass zwischen Flamen und Wallonen, so wie vorher und nachher, größer als der Hass gegen die Deutschen. Beide warfen sich nach 1945 vor, die größeren Kollaborateure gewesen zu sein. Die Ahndung der Kollaboration an den Flamen wurde als Versuch des frankophonen Staatsteils gewertet, „die flämische Bewegung“ aufzulösen. Eine tragfähige, gemeinsame Erinnerungskultur konnte da kaum entstehen. Luxemburg, das schon 1940 eine Zivilverwaltung erhält, wird mit Koblenz und Trier zum „Moselgau“ zusammengeschlossen, annektiert und brutal germanisiert. Auf die Zwangsverpflichtung zur Arbeit und zum Heeresdienst im Reich folgt ein Generalstreik, aber viele schließen sich auch der „Volksdeutschen Bewegung“ an, die den endgültigen Anschluss propagiert. Die Zwangsverpflichteten wurden nach dem Krieg entschädigungsrechtlich genauso behandelt wie die Widerstandskämpfer. Diese (gewollte) Verklärung hatte für das Fortschreiten der luxemburgischen Nationalstaatswerdung eine katalytische Funktion. Der Entmythologisierungsprozess gegenüber der „Volksdeutschen Bewegung“ und ons Jongen ist noch jung, und er verläuft deutlich langsamer als im übrigen Europa. Dänemark unterschreibt am 31. Mai 1939 als einziger nordeuropäischer Staat das deutsche Angebot eines Nichtangriffspakts. Hitler plant zu dem Zeitpunkt bereits die Besetzung. Nachdem diese rigoros vollzogen ist, hat das Land eine in Europa einzigartige Stellung: Es ist unabhängig, neutral, territorial unversehrt und scheinsouverän. Die Deutschen verstehen sich als Gast. Sichtbarster Ausdruck der sogenannten Staatskollaboration ist die Tatsache, dass gegen die Besatzungsmacht gerichtete Handlungen von der dänischen Justiz scharf verfolgt werden. Dänemark ist das Musterprotektorat und wird niederschwellig von einem „Reichsbevollmächtigten“ geleitet. Für die dänische „Erfüllungspolitik“ steht der Name und die Person des Außenministers Eric Scavenius. Seine Unterschrift steht unter dem Antikominternpakt. Im September 1942 ruft Ministerpräsident Buhl zur Denunziation aller „fanatischen Provokateure“ der Besatzungsmacht auf, am 23. März 1943 lässt der „Reichsbevollmächtigte“ Werner Best freie Wahlen abhalten. Er will aus der Vernunft- eine Neigungsehe machen. Doch die Deutschen haben sich ihr „Musterprotektorat“ längst selbst zerstört. Im August 1943 rufen sie den
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Ausnahmezustand aus. Das „dänische Modell“ der Zusammenarbeitspolitik ist beendet. Als Ergebnis der „zweiten Okkupation“ amtiert eine Regierung der Staatssekretäre, die einzig und allein dem Bevollmächtigten untersteht. Sie setzt die „Staatskollaboration“ fort, aber ohne demokratische Legitimation. Die „Aufsichtsverwaltung“ ist beendet. Die Brücke über den Öresund, die größte nationale Rettungsaktion für Juden in Europa und die „größte Stunde der dänischen Geschichte“, ist durch den „erschreckend hohen Profit“ belastet, mit dem sich die dänischen Fischer den Transit nach Schweden bezahlen ließen. 6500 Dänen haben sich mit Billigung der eigenen Regierung für den Russlandfeldzug gemeldet, die meisten der nordischen Länder. Aus der „dritten Besetzung“ durch die deutschen Flüchtlinge aus den Ostgebieten ist Dänemark nicht ohne Makel hervorgegangen. Alle Babys sind verhungert. In den einzelnen Lagern sind mehr deutsche Flüchtlinge umgekommen als Dänen während des Krieges. Das war nicht nur Hass, sondern auch Selbsthass wegen der eigenen Kollaboration. Auch nach dänischer Rechtsauffassung hatte man sich zu keinem Zeitpunkt im Kriegszustand befunden. Als der Widerstand, der zum Schluss seinen Namen auch verdiente, auf das Schärfste die Verhaftung von Scavenius forderte, stellte sich König Christian X. persönlich vor den Mann, was an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ und einer nachträglichen Absegnung der „Staatskollaboration“ gleichkam. Dänemark ist es als „Siegermacht honoris causa“ geschickt gelungen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Die Politik der Zusammenarbeit wurde sogar zum passiven Widerstand hochstilisiert, der den aktiven unterstützt habe. Scavenius diente bald als Alleinverantwortlicher für die „Ruhestörung“ von 1940 bis 1945, als Sündenbock zur Verdrängung des eigenen Schamgefühls. Das Folketing lehnte 1955 eine „Reichsanklage“ gegen Personen ab, die für die „Verhandlungspolitik“ verantwortlich gewesen waren, was einer erneuten Rechtfertigung der Staatskollaboration gleichkam. Claus Bryld und Anette Warring haben 1998 nachgewiesen, dass die Wirtschaftskollaboration bis zum letzten Tag wie geschmiert lief. Erst 2003 geißelt Anders Fogh Rasmussen die „Erfüllungsrolle“ Dänemarks, das als realer Kriegsverbündeter zur Kriegsverlängerung beigetragen und damit eine moralische Mitschuld habe. Was in die dänische Meistererzählung hineingehört, ist heute unsicherer denn je. Der Name Vidkun Quisling ist das Symbol und die Chiffre für jedwede Form von Kollaboration auf der Welt. Er verstand sich selbst als Norwegens Förer. Schon in der Regierung der Staatsräte von 1940 ist er allerdings nicht vertreten. Dann wird die in der Bevölkerung durchaus vorhandene Kollaborationsbereitschaft dadurch blockiert, dass Quislings unbeliebte Nasjonal Samling als einzige Partei bestehen bleibt und er selbst an die Spitze eines Marionettenregimes tritt. Eine Staatskollaboration à la Dänemark scheitert. Quisling, für den das Leben von Juden nicht gleichwertig war mit dem von gode nordmenn, bahnt den Deportationen den Weg, die von Norwegern in Alleinregie vorgenommen werden. Im Januar 1945 sagt er, dass er den Kampf mit Hitler auch noch fortsetzen will, wenn Berlin gefallen ist. Da ist er faktisch längst entmachtet und das
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Land in der Hand des Reichskommissars Terboven. Die – beiderseitig gewünschten – Kinder von Norwegerinnen und Deutschen galten nach 1945 als Fortexistenz des Feindes im Land, als „Kinder der Schande“. Erst als sich eines als Mitglied der Popgruppe „Abba“ entpuppte, wagten sich die Mütter zu ihrer Liebe zu bekennen. Trotzdem gehörten sie neben den „vielen guten“ nach wie vor zu den „wenig bösen“ Norwegern. So einfach ging das. Die (negativen) Abstimmungen von 1972 und 1994 über einen Beitritt zur EG bzw. zur EU waren auch Referenden gegen Deutschland, und die Versuchung, sich in bösen Situationen der bösen Deutschen zu bedienen, ist geblieben. Ministerpräsident Stoltenberg hat es im Sommer 2011 deplatziert genug vorgemacht, als er den Massenmord von Anders Behring Breivik ohne jede Umschweife dem deutschen Einmarsch von 1940 an die Seite stellte. Schweden war schon vor 1933 ein folkhemmet mit Euthanasie und NS-affinen Gruppierungen. König Gustav V. gewährt den Deutschen das Durchmarschrecht, versorgt sie mit Eisenerz, handelt mit Raubgold und vermint die Ostsee. Neutralität sieht anders aus. Schweden war de facto ein vor Bomben geschützter Teil des großdeutschen Wirtschaftsraums. Die schwedische Regierung gibt ein positives Votum für das „Unternehmen Barbarossa“ ab, Ministerpräsident Per Albin Hansson kommt es darauf an, „den Führer bei Laune zu halten“. Schweden, von dessen Rohstofflieferungen Deutschland auf Gedeih und Verderb abhängig war, hat dieses Druckpotential zu keinem Zeitpunkt ausgespielt, und es war trotz Wallenberg und Graf Bernadotte ein „Bystander“ des Holocaust. Hanssons Politik des „Kleinstaatsrealismus“ war bis zum letzten Moment zwielichtig sowie auf den eigenen Profit und Vorteil bedacht. Schweden ist ein indirekter Kriegsgewinnler und hat erheblich zur Verlängerung des Zweiten Weltkriegs beigetragen. Auch danach wird für Flüchtlinge kein großes Risiko eingegangen. Das Land war alles andere als eine heile Bullerbü-Gesellschaft. Während Maria-Pia Boëthius 1991 zu dem Urteil gelangt, dass Schweden ein deutscher Vasallenstaat war, rechtfertigt eine von Ministerpräsident Persson eingesetzte Untersuchungskommission noch 1999 Hanssons Politik. Mit der Holocaust-Konferenz von 2000 wollte Persson einer moralischen Verurteilung durch das Ausland zuvorkommen. Die moralische Großmacht, das Weltgewissen, durfte nicht getrübt werden. Die faktische Kollaboration im folkhemmet wird nach wie vor verschwiegen. Finnlands Staatspolizei und die Gestapo arbeiten schon seit 1933 zusammen. Von „Barbarossa“ vorab informiert, bittet Helsinki um eine nur wenige Tage währende Scheinneutralität, die den russischen Angriff mitsamt der „Treibholzthese“ provoziert, der raffiniertesten Exkulpationsstrategie in Europa. Sie besagt, dass man wie ein wehrloses Stück Holz in den ganzen Strudel hineingerissen worden sei. Tatsächlich übernahm die finnische Armee als einzige nichtdeutsche einen eigenen Frontabschnitt als „gleichzeitig kriegführender Staat“. Mannerheim fährt mehrfache Spagatkurse; zunächst sucht er den Kontakt nach Washington. In den Stalags gehören Finnen zu den Erschießungskommandos. Nach Stalingrad setzt Mannerheim sein Doppelspiel fort und sondiert in Moskau wegen eines Separatfriedens. Als die Rote Armee am 9. Juni
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1944 nach Finnland durchbricht, bettelt er mit der Ehrenerklärung, nur im Einvernehmen mit Deutschland aus dem Krieg auszuscheiden, in Berlin um Divisionen der Wehrmacht. Er täuscht und lügt. Kaum sind diese angekommen, schließt er am 19. September 1944 einen Waffenstillstandsvertrag mit der Sowjetunion und liefert ihr alle in Finnland stationierten deutschen Truppen aus. Staatspräsident Ryti und der sozialdemokratische Außenminister Tanner, die beiden „finnischen Quislinge“, missbilligen dies. Tanner übernimmt 1958 den Vorsitz der sozialdemokratischen Partei, so als wäre nichts gewesen. In der Ära Kekkonen durfte kein offizielles Wort über Finnlands Rolle beim Überfall auf die Sowjetunion verloren werden, und das „Treibholz“ schwamm munter durch alle Flüsse und Seen. Erst 1987 wird es versenkt, aber trotzdem bleibt der Parallelkrieg „nationale Notwehr“, zur Kollaboration und zum Angriffskrieg wird geschwiegen. Die Mythen blühten. Staatspräsidentin Tarja Halonen spricht noch 2005 vom „Sonderkrieg 1941–1944“. Aus den „Waffenbrüdern in einem Verteidigungskrieg“ durften im nationalen Gedächtnis bis heute keine Angreifer werden. In Estland kollaborierten der Selbstschutz (Omakaitse) und die Sicherheitspolizei beim Judenmord, oft in Eigenregie und mit erheblichem Spielraum. In den Schutzmannschaftsbataillonen sollte die „rassische Verschmelzung“ deutscher und baltischer Menschen eingeleitet werden, die letztlich auch an die Stelle baltischer Unabhängigkeit treten sollte. Die Esten schlossen Waffenbrüderschaft, die estnischen Mütter sahen es gern, wenn ihre Söhne „zu den Deutschen“ gingen. 70.000 flohen im August 1944 mit der Wehrmacht. Prozentual zur Bevölkerung stellte Estland den größten Anteil an SSund Wehrmachtssoldaten in Europa. 2004 wird in Tallinn ein offizielles Denkmal für die eigenen SS-Legionäre eingeweiht. In der Erinnerungskultur des Landes gibt es bis heute keinen Unterschied zwischen Kollaborateuren und Unabhängigkeitskämpfern, denn alle gelten als Opfer. Lettlands Kollaboration gilt dem nationalen Unabhängigkeitskampf. In sämtliche Stufen des Terrors gegen die Juden ist das Land auf allen Ebenen eingebunden, vom denunzierenden Hausmeister und von klammheimlicher Freude bzw. offenen Billigung der Bevölkerung bis zur Komplizenschaft ohne jedweden Zwang. Das Kommando von Viktor Arājs mordet von sich aus, schon wenige Stunden nach Ankunft der Deutschen, genauso wie die „Donnerkreuzler“, Studentenkorporationen und andere. Sie alle folgen der „günstigen Konjunktur“. Zwangskollaboration hat es nur bei der Rekrutierung der lettischen SS gegeben, in die alle „wehrfähigen“ Männer Lettlands eingetreten sind und damit den höchstmöglichen Anteil militärischer Kooperation überhaupt stellten. Im lettischen Erinnerungsspeicher ist bis heute für Mitschuld und Kollaboration kein Platz. Die „Litauische Aktivistenfront“ kündigt bereits im Februar 1941 an, dass sie den Mord an den Juden in Eigeninitiative durchführen wird. Die vier Monate später einmarschierende Wehrmacht wird mit Freudentränen, Brot, Salz und Geschenken begrüßt, aber der Entfremdungsprozess beginnt schnell, weil der enteignete jüdische Besitz „nicht zur Verfügung des litauischen Volkes gestellt ist.“ Ganz gewöhnliche Litauer
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entfesseln Pogrome, die in Europa ihresgleichen suchen, und zwar vor der Ankunft der Deutschen. In den 200 Hinrichtungsstätten des Landes vollziehen sich die viehischen Tötungsorgien mit Hacken und Spaten unter den Augen einer feixenden und johlenden Menge. Wie auf dem Jahrmarkt halten Frauen ihre kleinen Kinder in die Höhe, damit sie auch alles mitbekommen, mit sadistischer Freude. Die Deutschen haben den strikten Befehl, sich aus diesen „Selbstreinigungsaktionen“ herauszuhalten. Am 21. Juli 1941 wird die Zivilverwaltung eingesetzt. Die SS und die einheimischen Siauliai begehen mit marodierenden Banden einen „arbeitsteiligen Massenmord“. Alles geschieht freiwillig, niemand wird gezwungen. 1945 ist das litauische Judentum zu über 95 Prozent ausgelöscht. In der litauischen Verwaltung gab es die geringste deutsche Präsenz in Europa, das nationalsozialistische Kalkül des „Kräftegewinns“ durch Kollaboration war in Litauen am erfolgreichsten, Litauer wurden durch Litauer unterworfen. Dieser Schock ist im Bewusstsein des Landes tief verankert, vor allem als durch die eigene Forschung die Zahl präsentiert wurde, dass in der Zivilverwaltung 660 Deutsche mit 20.000 Litauern äußerst effektiv und reibungslos zusammengearbeitet hatten. Der gemeinsame Nenner war der Antisemitismus, weil er hier wie dort als unabdingbar für eine „ethnisch reine Nation“ angesehen wurde; das Trennende war, dass man für genau diese als unabhängiger Staat im Neuen Europa nach dem Krieg kollaborierte. Als man das nicht bekam, wurden die Deutschen vom Partner zum Feind. Eine eigene litauische SS hat es deshalb nicht gegeben. Bei nur geringsten nationalen Zugeständnissen hätte vor Leningrad eine 3. (litauische) Armee gestanden und der Krieg wäre anders verlaufen, aber Hitler wollte nicht. Eingesehen und zugegeben hat man in Litauen wenig. Noch 1995 heißt es: „Wann werden sich die Juden bei den Litauern entschuldigen?“ Polen war immer stolz darauf, das „Land ohne Quisling“ zu sein, aber der Stolz ist verblasst, seitdem fast alles über die „blaue Polizei“, die Szmalczownicy, die Judenräte, die SS-Kontakte der Heimatarmee und vor allem über Jedwabne bekannt geworden ist. Die ausschließlich aus Polen bestehende „blaue Polizei“ war das Herrschaftsinstrument der Deutschen im Alltag. Die Szmalczownicy versteckten Juden, ließen sich dafür bezahlen, raubten sie aus und übergaben sie dann den Deutschen. Die Judenräte gaben „Rettung durch Arbeit“ vor, spendeten den Deutschen insgeheim Beifall und betätigten sich de facto als Henkershelfer. Die Heimatarmee hat sich im Februar 1944 mit der SS zu weitreichenden Verhandlungen getroffen und ihr die Unterstützung von 18 Bataillonen angeboten, aber sie waren für die Deutschen „keine Kameraden“. Es hat, nach heutigem Kenntnisstand, nicht nur ein, sondern über fünfzig Jedwabnes gegeben, in den Polen Juden ermordet haben. In damaligen polnischen katholischen Quellen wird die Entfernung aller neun Millionen Juden aus Europa gefordert. Die Wehrmacht wird, insbesondere in Ostpolen, als „Erlöser“ mit Blumen und der Halsabschneiderbewegung für die Juden begrüßt. Sie setzt unterdrückten Hass frei und schafft ein echtes Wir-Gefühl. Die Priester lesen in den Kirchen Messen für sie, ein Überfall sieht anders aus. Jan Karski dokumentiert, was viele Polen denken und kundgeben: „Wir sollten Gott danken, dass die Deutschen gekommen sind.“
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Nach dem 8. Mai 1945 empfand Polen, das Land ohne Hácha, Quisling und Wlassow, sich als das moralischste Land in Europa, das die größte Opfer- und Widerstandsleistung erbracht hatte. Mitten in diese martyriologisch-heroische Selbstzeichnung hinein beginnt eine zweite Judenverfolgung, und der Vorkriegsalltag kehrt zurück. Die überlebenden christlichen Polen wollten durch die überlebenden jüdischen Polen nicht an ihr eigenes Versagen erinnert werden und ermordeten 1500 von ihnen. Wer konnte, floh nach Deutschland (!). Das heutige Polen ist „ein antisemitisches Land ohne Juden“. Polen war nicht nur „Helfer und Retter“, wie in Yad Vashem vermerkt, diese Inschrift ist schleunigst zu ändern. Der Wunsch, das ganze Land „judenrein“ zu machen, war weit verbreitet. Man verstand und versteht sich als der „Christus unter den Völkern“, und dieses Selbstverständnis verträgt es nicht, dass es zwei Völker gibt, die am meisten gelitten haben. Der Abschied von dieser Selbstviktimisierung und Exklusivität im nationalen Narrativ fällt schwer. Die Sowjetunion stellt das größte Kollaborationsheer in Europa. Vom „Hilfswilligen“ (Hiwi) bis zum General dienten den Deutschen über eine Million Menschen. Hinzu kam, dass für Stalin jeder, der sich ergab oder in Gefangenschaft geriet, als zu verurteilender Kollaborateur galt. Im Frontbereich gab es kaum einen Russen, der nicht mit der Wehrmacht Handel trieb. Ohne die russischen Kollaborateure wäre die Kontrolle des besetzten Riesenraums unmöglich gewesen, wobei die Zusammenarbeit nie ideologisch motiviert war, sondern dazu diente, der Zwangsarbeit im Reich zu entgehen. Bei den Frauen waren die Übergänge zwischen Liebesverhältnissen und Armutsprostitution fließend, bei den Werbeaktionen für Hiwis auf den Dörfern wurden die Russen in infamer nazistischer Lüge als „gleichberechtigte Partner der europäischen Völkerfamilie“ angesprochen, in Wirklichkeit waren und blieben sie „Untermenschen“. Jeder Starost, der Kollaboration verweigerte, wurde erschossen. Anpassung und Überlebenswillen waren die „natürlichen“ Folgen. Man fühlte sich ausgeliefert und man war es. Der Marsch auf Stalingrad erfolgt mit 20.000 russischen Soldaten im Less-than-slavesStatus, dem Wlassow-Wort folgend, dass Russland nur von Russen besiegt werden kann. Die Figur des Generals bleibt im Übrigen rätselhaft, ja fast quichottesk, doch täglich liefen ihm neue Freiwillige, Deserteure, Domestiken, Fahrer und Köchinnen zu, die gesamte Palette der sowjetischen Kriegsgesellschaft. Nach dem Krieg wurde das Ausmaß der (erheblichen) antisemitischen Kollaboration mit den Deutschen heruntergespielt, dabei war der zaristische und der kommunistische Antisemitismus durch den Holocaust „nur“ unterbrochen worden. Ab 1945 ging es den zurückkehrenden Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern erst richtig an den Kragen: Sie alle, immerhin fünf Millionen Menschen, galten als „kollaborationsverseucht“ und kamen in Umerziehungslager oder den Gulag. Es waren maßgeblich jene Menschen, denen die Sowjetunion ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg zu verdanken hatte. Da der Vorwurf, mit dem Feind paktiert zu haben, auch auf ihre Familien und Verwandten ausgedehnt wurde, stand in der späten Stalin-Ära fast das ganze Volk unter Generalverdacht. Das Wort Kollaboration ist im heutigen Russland tabu, auf den Sieg im Großen Vaterländischen
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Krieg darf kein Schatten fallen, das ist das Meisternarrativ. Stalins finaler Denkmalsturz lässt noch auf sich warten, eine Stalin-Renaissance ist wahrscheinlicher. Der Holodomor hatte die Ukraine bis ins entlegenste Dorf hinein kollaborationsbereit gemacht. Seit dem Mai 1940, früher als jeder andere Mittäter in Europa, waren Melnik und Bandera, die Gründungsväter der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), in das „Unternehmen Barbarossa“ einbezogen. Theodor Oberländer, der spätere Minister Adenauers, bildete schon 1939 die Kämpfer der OUN-B (für Bandera) aus, die mit den Deutschen zusammen begeistert die Sowjetunion überfielen. In Lemberg wurden sie mit einem Meer von Blumen überschüttet. Als nach dem Einmarsch die unabhängige Ukraine proklamiert wird, lässt Hitler Bandera verhaften. Jetzt bot Melnik an, am „Kreuzzug gegen den Bolschewismus“ teilzunehmen und dafür eine „autochthone Nation Galizien“ anerkannt zu bekommen. Am 30. Juni 1941 wurde ein eigener Staat ausgerufen, diesmal „unter einer vom Führer bevollmächtigten Regierung“. Es ist das subtilste Kollaborationsangebot in Europa, doch selbst das geht Hitler und Ernst von Weizsäcker, seinem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, zu weit. Melnik bietet noch 1942 seine „Mitgestaltung des Neuen Europa“ an, um den einzigen Preis der Unabhängigkeit. Obwohl weitere Demütigungen aus Berlin folgen, bleibt Deutschland der „naturgegebene Partner“ der Ukrainer. Bis ins tiefste Donezbecken hinein wird die Wehrmacht mit Girlanden am Ortseingang willkommen geheißen. Im Kernland entsteht gleichzeitig ein Krieg im Krieg. Der Antisemit Bandera will eine „ethnisch reine Ukraine“ und zettelt noch vor Eintreffen der Deutschen in den einzelnen Landesteilen Pogrome an. Die Schreckensbilanz des Massenverbrechens von Babij Jar sieht so aus: 1200 Ukrainer und 300 Deutsche haben geschossen, ukrainische Polizisten, die OUN-B, die Wehrmacht und der SD arbeiteten zusammen, kein Ukrainer wurde gezwungen. Aus Angst vor Fragen nach deren Komplizenschaft durfte bis zur Ära Gorbatschow kein Wort hierüber verloren werden. Weitere Mordexzesse gegen Juden finden „ohne erkennbare deutsche Beteiligung“ (Saul Friedländer) statt. Eine besondere Kollaborationsspezies sind die Trawniki, Hilfswillige mit unterschriebener Verpflichtungserklärung. In Sobibor mordeten 20 Deutsche zusammen mit 130 Trawniki. Dieses „Fußvolk der Endlösung“ wird nach dem Krieg nicht einmal in den Heimatländern angeklagt, weil es den „putativen Befehlsnotstand“ für sich reklamiert. 5000 Trawniki hat es in Osteuropa insgesamt gegeben, von denen ein Drittel desertiert. Der Schritt von einem ursprünglich freiwilligen Kollaborateur zu einem Zwangsverpflichteten war klein und zumeist aus Hunger und Not geboren. 400.000 Ukrainer haben insgesamt kollaboriert, davon 2500 in der Wehrmacht. Das 50-jährige Jubiläum der SS-Division „Galizien“ wird 1993 in Lemberg völlig offen und feierlich mit Speis und Trank begangen. Der Streit um den Rang und das Vermächtnis der Veteranen von SS, OUN, der ukrainischen Unabhängigkeitsarmee und den Kollaborateuren in der Roten Armee im Erinnerungshaushalt des jungen, erst seit wenigen Jahren (wieder) souveränen Staates Ukraine dauert seither allerdings unerbittlich an, Schlägereien sind bei formellen oder informellen Zusammentreffen keine Seltenheit. Im nationalen Narrativ
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gibt es den Holodomor, aber nicht den Holocaust. Die Ost- und die Westukraine sind erinnerungspolitisch heute genauso gespalten wie 1945. Bei der Entmachtung der russophilen Führung 2014 wehten auf dem Kiewer Maidan die Flaggen Stepan Banderas. Auch in der Tschechoslowakei dienten die „Kollaborateure aus Überzeugung“ wie überall in Europa nur dazu, um Druck auf die „Kollaborateure aus Vernunft“ (Hácha) auszuüben. Es gab in dem Land kaum Widerstand, aber ein Doppelspiel mit der Exilregierung in London. Tisos slowakischer „Schutzstaat“ entlarvte sich am 22. Juni 1941 als Komplize Hitlers, der Nationalsozialismus als Ideologie hat in der gesamten Tschechoslowakei bis auf die Existenz einiger Splittergruppen aber keinerlei Verankerung gefunden, das Gesangbuch, insbesondere das katholische, war wichtiger. 738 deutsche arbeiten mit 350.000 tschechischen Verwaltungsbeamten zusammen. Staatspräsident Háchas Attentismus war keine Staatskollaboration, sondern sie sollte „Schlimmeres verhindern“. Obwohl die nationalsozialistische Unterwerfungspolitik in der Slowakei schon Ende 1941 gescheitert ist, erfolgen die dortigen Judendeportationen auf landeseigene Initiative und erhalten das Lob Ernst von Weizsäckers aus Berlin. Tiso schickt Dönitz noch am 1. Mai 1945 ein Grußtelegramm nach Flensburg. Er hatte den Pakt mit dem Teufel geschlossen, um die Unabhängigkeit zu erlangen. Die Slowaken erhoben sich erst spät, am 29. August 1944, gegen die deutsche Besatzung, die Tschechen gar erst am 5. Mai 1945 (!), als die Amerikaner schon in Sichtweite waren. Schwejk lässt grüßen. Tiso fürchtet die Wiedervereinigung von Tschechen und Slowaken in einem Staat nicht weniger als die sowjetische Invasion. Als er wegen Kollaborationsvergehen gehängt wird, läuten alle Pressburger Glocken. Das nationale Narrativ des seit dem 1. Januar 1993 wieder unabhängigen Staates sieht so aus: Die Juden waren das Opfer, das man für die eigene Souveränität bringen musste, Tiso avanciert zur Kultfigur. Die Rehabilitierungsversuche, ihn vom Klerikalfaschisten zum Prälatenpräsident zu machen, bestimmen den gesellschaftlichen Diskurs. 2009 entlässt Papst Benedikt XVI. den slowakischen Erzbischof Sokal, der Tisos Selig- und Heiligsprechung fordert. Eine gemeinsame tschechoslowakische Erinnerungskultur gibt es nicht, und es wird sie vielleicht auch nie geben. Als Václav Havel sich 2007 für die Vertreibung der Sudetendeutschen entschuldigt, verhöhnt man ihn als „Kollaborateur der Deutschen“. „Ungar ist, wen Trianon schmerzt“, dieser Satz gilt im Pusztastaat bis heute. Er bringt das kategorische Revisionsverlangen gegenüber den Pariser Vorortverträgen nach dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck, mit denen Ungarn drei Fünftel seines Staatsgebiets verlor. Der Reichsverweser Miklós von Horthy amtiert von 1919 bis 1944 in der halbfeudalen Monarchie mit vakantem Thron autoritär. In ihr wachsen die hungaristischen Pfeilkreuzler unter Ferencz Szálasi heran, die den „Schutz des ungarischen Blutes“ wollen. Horthy lehnt Szálasi ab. 250.000 Ungarn sind beim „Unternehmen Barbarossa“ dabei, aber der Reichsverweser betreibt ein Doppelspiel mit dem Westen. Im März 1944 marschiert die Wehrmacht ein. Der Frontwechsel ist nur mithilfe der Pfeilkreuzler zu verhindern, Horthy muss Szálasi am 16. Oktober 1944 inthronisieren, der in seinem autochthon-ungarischen Antisemitismus seiner bestialisch-besessenen Ver-
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nichtungswut freien Lauf lässt. Dabei werden die erstaunlich heterogenen, sich vom Adel bis hinunter zum Proletariat formierenden Pfeilkreuzler von der katholischen Kirche toleriert. Szálasi betont die „eigene nationalsozialistische Entwicklung aus eigener Kraft“ und entfesselt ein blutiges Inferno. In Anwesenheit von 80 SS-Offizieren Eichmanns bringen 100.000 Ungarn 564.000 der 750.000 ungarischen Juden um, in Eigenregie, Eigenverantwortung und „Willigkeit“. Ungarn stellt 14 SS-Divisionen, hinzu kommen 100.000 SS-Angehörige der Ungarndeutschen („Donauschwaben“). Irgendeinen Widerstand hat es in dem Land nicht gegeben. Nach 1945 lebte Ungarn mit einer doppelten Tabuisierung und einem (staatlich verordneten) dreifachen Selbstbetrug: Die Sowjetunion, die niemand als Befreier empfand, musste Befreier genannt, die Deutschen, mit denen man massenhaft kollaboriert hatte, mussten gehasst und der (eigene) Holocaust musste verschwiegen werden. Noch im Budapester Aufstand von 1956 streut die kommunistische Führung aus, dass es sich hier um die Rückkehr der Pfeilkreuzler handle. Diese waren nicht Sache der Ungarn, sondern der Deutschen – Schuld wird externalisiert. Viktor Orbán klittert die Geschichte auf seine Weise: Das Schicksal der Juden wird dem Schicksal der Ungarn im Kommunismus gleichgestellt, was sich im Logo des 2002 in Budapest eröffneten „Hauses des Terrors“ niederschlägt. Ein Pfeilkreuz und ein roter Stern sind dort direkt nebeneinandergestellt, der doppelte Opfermythos ist damit ikonographisiert, jeder Ungar ist ein Märtyrer zweier fremder Mächte. Zur Kollaboration fällt kein einziges Wort. Das Land ohne Widerstand wird in den Rang einer Widerstandsnation gehoben. Zwei Jahre später sind der Bau und die Einrichtung des Holocaust-Gedenkzentrums abgeschlossen. Es ist ein Quantensprung in der ungarischen Aufarbeitung von Geschichte, aber seitdem gibt es in dem Land eine Erinnerungsspaltung mit zwei sich ausschließenden Narrativen. 2010 koaliert Orbán zwar nicht mit Gábor Vonas „Bewegung für ein besseres Ungarn“, aber der Rechtspopulist reicht dem Rechtsextremisten die Hand zu mancher Zusammenarbeit. Die Vereidigungszeremonie von Vonas paramilitärischer „Nationaler Garde“ ist derjenigen der Pfeilkreuzler direkt angelehnt. Orbán und Vona wollen „ein völkisch-reines Magyarentum“, und Trianon schmerzt sie, jeden Tag. Rumänien war die „Benzintankstelle“ der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Marschall Antonescus erklärtes Ziel ist es, im Vergleich zu Ungarn der bessere Bündnispartner Deutschlands zu sein. 1941 schwingt er sich zum Militärdiktator auf. Für den Überfall auf die Sowjetunion steuert er mehr Soldaten bei als jeder andere europäische Staat, vom Herbst 1943 an beginnt er aber Geheimverhandlungen mit den Westmächten. Am 23. August 1944 erfolgt der fliegende Wechsel. Vorher hatten die „Blutsrumänen“ die radikalste antijüdische Gesetzgebung in Europa vollzogen, Deutschland eingeschlossen. Jüdinnen werden wie Hexen verbrannt, Deutsche und Rumänen arbeiten dabei Hand in Hand. In keinem anderen europäischen Land, abgesehen von Ungarn, heizten einheimische Kommandos auch ohne deutsche Kooperation die Judenverfolgung so an. In rumänischer Verantwortung sind 380.000 Juden ermordet worden, dabei besaß Antonescu einen Handlungsspielraum, von dem andere europäische Macht-
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haber nur träumen konnten. Er verordnete die Pogrome, aus eigenem Antrieb. Der Einmarsch der Roten Armee wird in Rumänien, wie auch im übrigen Osteuropa, nicht als Befreiung empfunden. Hinsichtlich des Holocaust gingen auf das rumänische Konto nur „ein paar Rempeleien und eingeschlagene Fenster“; man war unschuldig und verherrlichte Antonescu. Eine Expertenkommission zur Erforschung der Judenvernichtung wird ausschließlich deshalb eingesetzt, weil der Beitritt zur EU (2007) lockt. Elie Wiesel hat den Vorsitz. Er kommt zu dem Ergebnis, dass außer Deutschland nur Rumänien in einem vergleichbaren Maße an Judenmorden beteiligt gewesen ist. Die zehn Jahre lang währenden quälenden Verfahren um die Rehabilitation oder NichtRehabilitation Antonescus finden im Land weit mehr Interesse als die Arbeit der Kommission. Rumänien ist trotz seines EU-Beitritts noch nicht in Europa angekommen. Bulgarien war der eigentliche Kriegsgewinnler auf dem Balkan. Es gab in dem Land nicht auch nur ansatzweise Widerstand. Von der Wehrmacht unbesetzt, hat es keinen Heiligenschein in Sachen Antisemitismus. Es wandelt sich vom Opportunisten zum Komplizen und lässt die thrakischen Juden ermorden. In der Erinnerungskultur ist Zar Boris III., der noch bis in die 1980er Jahre hinein „Landesverräter“, „deutscher Agent“ und „Kollaborateur Nr. 1“ war, nach der großen Zeitenwende zum „Retter der Nation“ geworden, weil er Bulgarien aus dem Krieg herausgehalten hat. Schivkovs Nachfolger setzten den Mythos vom „Land ohne Antisemitismus“ geschickt ein, um dessen Europäizität nachzuweisen. Das Gebäude aus Legenden, Lügen und Geschichtsklitterung stand noch 2005, als Außenminister Joschka Fischer das wahrheitswidrige Narrativ von den im bulgarischen Altreich von Bulgaren geretteten und den in Thrakien von Deutschen ermordeten Juden in Sofia nachplapperte. Diese bequeme Selbsttäuschung reicht bis in die Gegenwart. Erst in jüngster Zeit wird hier und da zugegeben, für die Massaker in den „neuen Territorien“ mitverantwortlich gewesen zu sein. In Jugoslawien war alles anders. Zunächst wollte Hitler in Kroatien nicht den Faschisten Ante Pavelić, sondern Maček, den Chef der beliebten Bauernpartei und Nachfolger Stipe Radićs, an der Spitze seines Marionettenstaates sehen. Die deutschen Truppen werden in Zagreb frenetisch begrüßt. Pavelićs Ustascha hat bei Wahlen nie mehr als 0,6 Prozent der Stimmen gewonnen, in seinem radikalfaschistischen NDH-Staat gab es keine Identität mit der Ustascha. Die in Kroatien lebenden Serben werden wie in sakralen Handlungen mit Messer, Beil und Axt abgeschlachtet, es kommt zu Pfählungen, Kreuzigungen und dem Herausreißen von Herzen. 30.000 Serben werden ermordet, weil sie sich nicht wie in den Kreuzzügen des Mittelalters zwangschristianisieren lassen. Die deutschen Besatzungsoffiziere hatten Angst, dass ihnen diese Taten zur Last gelegt würden, und forderten die Abschaffung des NDH-Staates, aber Hitler hielt Pavelić, nachdem er ihn anerkannt hatte, bis zum Schluss die Stange. In Serbien arbeitet General Nedić als Selbstaufopferung für das eigene Volk mit den Deutschen zusammen. Es ist erpresste Kollaboration. 150.000 Slowenen haben in der Wehrmacht gedient, die slowenischen Domobranen kollaborieren in einem breiten Spektrum. Mit dem schrittweisen Scheitern des Selbstverwaltungssozialismus nach dem Krieg beginnt
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auch die staatlich verordnete Dichotomie bzw. Denkblockade der ausschließlich aus Kollaboration und Widerstand bestehenden nationalen Erinnerung zu bröckeln. Der Prozess der zweiten Serbifizierung Jugoslawiens schafft einen hochexplosiven Sprengstoff nationaler Gegenerinnerungen und der Zweite Weltkrieg kehrt – umcodiert – zurück: Die Tschetniks, die nicht kollaboriert, sondern Serbien verteidigt hatten, erklären sich zu Märtyrern und Helden. Am 28. Juni 1989 verkündet Slobodan Milošević auf dem Kosovo Polje, der „Wiege Serbiens“, dass sein Land seit tausend Jahren immer Opfer gewesen sei. Die „Serbische Republik Krajina“ entsteht. Franjo Tudjmans pomirba ist lediglich eine innerkroatische Versöhnung zwischen Ustascha und Kommunisten: Titos und Pavelićs Knochen sollen in die kroatische Erde zurückkehren. Um die Aussöhnung zwischen Serben und Kroaten ist es Tudjman nie gegangen. In seiner Regierung sitzen Ustascha-Exilanten, den NDH-Staat von 1941 bis 1945 preist er als „Anpassungsleistung“. Im jugoslawischen Erbfolgekrieg von 1991 bis 1995 gibt es wie im Zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten ethnische Säuberungen. Vieles erinnert an die vom NDH – als einzigem Kollaborationsregime in Europa – selbstständig betriebenen Todeslager, die Tudjman verschweigt. Erst mit seinem Nachfolger Stipe Mesić (2000– 2010) setzt ein Wandel ein. Er verurteilt die pomirba und die Verbrechen des NDH. Der Weg in die europäische Gemeinschaft war auch in Kroatien ohne das Bekenntnis zur europäischen Erinnerungsgemeinschaft nicht zu haben. Aber damit hapert es noch, selbst nach dem formellen Beitritt zur EU. Der Freispruch des Kriegsverbrechers im „heimatländischen Krieg“ von 1991 bis 1995, Ante Gotovina, durch das UN-Kriegsverbrechertribunal 2012 in Den Haag wird in ganz Kroatien überschäumend gefeiert. Slowenien war schon 2004 in die EU gelangt, nachdem es die Kollaboration der Domobranen als Verteidigung der Interessen der Nation deklariert hatte. In Jugoslawien hat – als einzigem Land der Welt – die Frage der Kollaboration oder Nicht-Kollaboration einen zweiten, grausamen Krieg heraufbeschworen. In Albanien darf man im Zweiten Weltkrieg trotz praktizierter Kollaboration bekunden, auch weiterhin ein demokratisches System zu besitzen, was einzigartig in Europa ist. Der Besatzer gab sich den Schein eines Befreiers vom bis 1943 währenden italienischen Joch, die Wehrmacht galt als „befreundeter Gast“. Als versucht wurde, eine albanische SS zu bilden, nahmen die Menschen die Waffen und gingen damit nach Hause, froh darüber, eingekleidet worden zu sein. Wo kein Nationalbewusstsein war, konnte man auch nicht von Kollaboration sprechen, es gab sie nicht. Das 1941 in Griechenland eingesetzte germanophile „Kabinett der nationalen Notwendigkeit“ ist eine Kollaborationsregierung, die „Schlimmeres verhindern“ soll. An den sich ihr andienenden griechischen Nationalsozialisten zeigt die deutsche Besatzungsmacht kein Interesse. Die Griechen lieben und bewundern die Deutschen, die sie aber vor den Kopf stoßen. Deshalb verwundert es nicht, dass der angebliche griechische Quisling Joannis Rallis sich schon 1943 heimlich mit der Exilregierung trifft. Aus Furcht vor dem Kommunismus bleibt es aber bei der Kollaboration mit Deutschland, die in einen Bürgerkrieg im Zweiten Weltkrieg, mitten in der Besatzung, übergeht. Ral-
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lis ermöglicht die Judendeportationen und lässt gemeinsam mit den Deutschen über 80 Prozent der griechischen Juden ermorden. Anders als im übrigen Europa verstärkt sich die Kollaboration zum Kriegsende hin, weil man die Rote Armee nicht im Land haben will, aber aus der Liebe zu den Deutschen ist längst Abscheu geworden. So ist die Kollaboration von Rallis’ Efzonen mit den Deutschen denn auch keine Zusammenarbeit um ihrer selbst willen, sondern die Vorbereitung des Bürgerkriegs gegen die Kommunisten. Nicht einmal „in der zwölften Stunde“ werden die Waffen gegen die Deutschen gerichtet, auch nicht von Rallis’ Sicherheitsbataillonen. Die Wehrmacht blieb bis zum Schluss das „kleinere Übel“. Durch diese schizophrene Situation ist der Bürgerkrieg in „der Zeit danach“ erst richtig angeheizt und die Gesellschaft gespalten worden; erst 1949, nach massiver Militärhilfe der USA, ist er beendet worden. Die Efzonen waren in der Zwischenzeit nicht verfolgt, sondern aufgewertet worden, weil Kollaborateure „wertvoller“ als Kommunisten waren. Man wollte kein zweites Jugoslawien. Nach 1945 wurden mehr Widerstandskämpfer als Kollaborateure vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Für die von 1967 bis 1974 herrschende Militärjunta galt die Kollaboration sogar als „Nationale Résistance“. Bis 1982 durften weder Rallis noch die Efzonen, noch die Sicherheitsbataillone attackiert werden. Die politische Linke musste nach 1945 sogar „Reueerklärungen“ unterschreiben. Eine Erinnerung gibt es in Griechenland nur an die deutschen Kriegsverbrechen in Distomo und Lyngiádes. Wer etwas anderes wagt, wird als Nazi verunglimpft, auch von der rechtsradikalen Partei „Goldene Morgenröte“. So weit zu den Einzelanalysen. Sie sind äußerst heterogen, erlauben aber gleichwohl etliche markante, analoge, vergleichbare bzw. europaweit übergreifende Aussagen. Bevor dies geschehen kann, muss abschließend die Gesamtheit des besetzten Territoriums noch einmal aus deutscher Perspektive in den Blick genommen werden. Fast drei Millionen Quadratkilometer mit über 150 Millionen Einwohnern und damit etwa 30 Prozent des nichtdeutschen europäischen Gebiets waren okkupiert. Für dieses riesige Imperium gab es keine zentrale Institution, etwa in Form einer „Reichsaußenverwaltung“, wie Japan sie 1942 mit dem „Großostasienministerium“ geschaffen hatte, und zwar aus einem einfachen Grund: Hitler wollte es nicht, was bereits ein signifikantes Schlaglicht auf den Stellenwert wirft, den er der Kollaboration beimaß. Wenn die viel beschriebene Polykratie des NS-Systems irgendwo sichtbar wurde, dann hier. Das extra geschaffene „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“ machte dies in besonders augenfälligem Maß deutlich, weil es für die besetzten Ostgebiete äußerst wenig zu entscheiden hatte und ergo faktisch nichts durchsetzen konnte. Zwar durfte sein Chef Alfred Rosenberg Verordnungen erlassen, dieses Recht aber besaßen die ihm formell unterstellten Reichskommissare Lohse und Koch genauso, was zur Folge hatte, dass sie sich kaum um das kümmerten, was „von oben“ kam. So lief viel, manchmal alles, fragmentarisch, au jour le jour, ohne einheitliches Konzept, ja oft von Augenblicksentscheidungen abhängig. Und auch damit nicht genug. Oft „stritten sich verschiedene Besat-
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zungs- und Reichsorgane untereinander derart um Einfluss und Kompetenzen, dass die Binnenstruktur im Einzelfall einem ‚bellum omnium contra omnes‘ glich.“1 Es gab die herkömmliche Militärverwaltung wie in Frankreich und Belgien, die Zivilverwaltung wie Norwegen, den Niederlanden und Norditalien, zivile Aufsichtsorgane wie in Dänemark und Italien und die Ausdehnung der Reichsverwaltung wie in Elsass-Lothringen und Luxemburg. Es gab Reichskommissare, Reichsbevollmächtigte, Chefs der Zivilverwaltung und Militärs, alle mit unterschiedlichen, oft sehr unsauber abgegrenzten Befehlskompetenzen. Hitler hatte schon am 9. Mai 1940 den Erlass über die Verwaltung der besetzten Gebiete Frankreichs, Luxemburgs, Belgiens und Hollands unterzeichnet, der dem Heer enorme Exekutivbefugnisse gewährte. Nachdem das Heer dort die Blitzsiege errungen hatte, fühlte der „Führer“ sich an nichts mehr gebunden. Allein mit dem Wort „Reichskommissariat“ (Niederlande, Norwegen, Belgien ab 1944, anfangs auch Österreich) sollte ein Übergangszustand zum Ausdruck gebracht werden, an dessen Ende ein Aufgehen im Deutschen Reich, eine Assoziation als „Reichsland“ oder aber ein Staatenbund stehen sollte. Dabei wurde bewusst offengelassen, ob diese Besatzungsvariante staats- oder parteiaffin zu verstehen sei. Letztlich geplant war ein deutsch geprägter und dominierter nationalsozialistischer Großstaat, in dem die eingegliederten Nationen keinerlei erkennbaren Rechte mehr hatten, außer dem, sich zur SS zu melden. Der altgermanische Treuebegriff und „rassische Wertigkeit“ traten an die Stelle von Vertragsprinzipien und allgemeinem Völkerrecht, dessen Existenz NS-Intellektuelle wie Werner Best schlichtweg leugneten. Die Unterwerfung Europas vollzog sich im rechtsfreien Raum. Demgegenüber ist der konkrete Besatzungsalltag von einem geradezu atemberaubenden Missverhältnis zwischen deutschem und einheimischem Militär- und Verwaltungspersonal gekennzeichnet, dem alle unpopulären und repressiven Maßnahmen aufgebürdet wurden, um Rache- und Hassgelüste von der Okkupationsmacht abzulenken. 1941 befanden sich in Dänemark 89, in Norwegen 260, in Italien 950, in Belgien 1166, in Holland 1596 und in Frankreich 22.000 deutsche „Funktioner“. Mit diesen paar Mann wurden die Länder restlos unterworfen und ausgeplündert, bis hin zu Albert Speers „europäischer Produktionsplanung“ von 1943. Trotzdem muss festgehalten werden, dass die Bevölkerung von Paris bis Zagreb und von Oslo bis Odessa „durchaus nicht mit Hass auf die Okkupanten reagierte, sondern vorsichtig zu erkennen gab, sich unter deutscher Vorherrschaft arrangieren zu wollen, und Verständigungsbereitschaft signalisierte.“2 Kollaboration wird man ein solches Verhalten (noch) nicht nennen 1 Hans-Werner Neulen, Deutsche Besatzungspolitik in Westeuropa – zwischen Unterdrückung und Kollaboration, in: Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1993, S. 404–425, hier: S. 405; Jürgen Matthäus und Frank Bajohr (Hg.), Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, Frankfurt am Main 2015. 2 Neulen, Deutsche Besatzungspolitik in Westeuropa, a. a. O., S. 422.
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können, aber alle Reflexionen hierüber erübrigen sich. Die Nazis machten derartige Ansätze früh, nachhaltig und brutal zunichte. Dabei wäre mit einer anderen, maßvollen und Souveränitätsrechte respektierenden Besatzungspolitik einiges zu erreichen gewesen. So zum Beispiel wäre durch einen formellen Friedensvertrag mit Frankreich die Achse gestärkt, England isoliert und die Ausgangsposition für das „Unternehmen Barbarossa“ ungemein optimiert worden. In seinen „Anmerkungen zu Hitler“ schreibt Sebastian Haffner, dass der Diktator nach dem Sieg über Frankreich „die nie wiederkehrende Chance (…,) Europa zu einigen und ihm durch solche Einigung Deutschlands Vorherrschaft annehmbar zu machen“3, für immer vergeben habe. Übrig blieben zum Schluss nur noch die ideologischen Kollaborateure, die „naturgegebenen Partner“, die Berlin anfangs nicht nur verschmäht, sondern in jedweder Führungsposition verhindert hatte. Hitler hat mit Quisling, Mussert, Degrelle, Déat, Doriot, Laval, Clausen, Bandera, Wlassow und Pavelić nie ernsthaft zusammenarbeiten wollen, ihre Inthronisierung war durchweg aus der Not geboren. Der „Führer“ wollte die Kollaboration der Kollaborateure nicht, im eigenen Land waren sie bald diskreditiert, verrufen – und durchaus mehr denn je von Berlin abhängig. Eine erfolgreiche und vom ganzen Volk bejahte nationalsozialistische Partei sollte es nur in Deutschland geben, nirgendwo sonst. Den europäischen Quislingen war deshalb nie mehr als die Rolle von gefügigen Werkzeugen und bedingungslosen Befehlsempfängern zugedacht, die sie in den eigenen Gefilden noch mehr kompromittierte. Die Herren an der Spree waren nicht nur unfähig, den Nationalismus der beherrschten Länder für ihre Ziele einzusetzen, sie glaubten schlicht und einfach, Kollaboration nicht nötig zu haben. Wann immer aus Rom, Vichy oder Oslo Anfragen zum politischen Leitbild, zur „Neuen Ordnung“ oder zum „Neuen Europa“ nach dem Krieg kamen, blieb die Antwort aus Berlin aus, obwohl es hier oft um Menschen, Gruppierungen, Parteien und (Schatten-)Regierungen ging, die sich den Deutschen nicht opportunistisch, sondern aus tiefster innerer Überzeugung angeschlossen hatten. Als sie erkannten, wie sehr sie instrumentalisiert, missbraucht und benutzt worden waren, war es längst zu spät. Dies galt insbesondere für diejenigen, die sich als Soldaten freiwillig an die Front gemeldet und das graue Flanell der Wehrmacht übergestreift hatten. Sie taten dies nicht durchweg als Kollaborateure, sondern auch als Patrioten und „Waffenbrüder“. Dafür wurden sie nach dem Krieg zu Verrätern, die – meist vor den Schranken des Gerichts – unter die Nase gerieben bekamen, dass sie nur einem einzigen Ziel gedient hatten, nämlich der Errichtung der deutschen Hegemonie in Europa. Finnland, Ungarn, Rumänien, die Slowakei und Italien beteiligten sich sogar mit eigenen Truppenkontingenten unter eigener Fahne am Ostfeldzug, weil sie ihn als gemeinsamen, ja notwendigen Abwehrkampf empfanden, um das Abendland zu retten. Somit kämpften in „Hitlers Europaarmee“ (Sönke Neitzel) im Rahmen der SS-Division Wiking „germanische Freiwillige nichtdeutschen Volkstums“, 3 Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 140; vgl. dazu: Bohn, Kollaboration und deutsche Mobilisierungsbemühungen im Reichskommisariat Ostland, a. a. O., S. 33–44.
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wie es im NS-Jargon hieß, und national gesonnene Soldaten unter nationalem Befehl, denen kaum in den Sinn kam, etwas Unrechtes oder Verbotenes zu tun. Viele dürften sich tatsächlich als Mitstreiter auf einem „Kreuzzug“ gesehen haben. Vom März 1943 an wurden, aus der Not geboren, multinationale Verbände der Waffen-SS gebildet, in denen neben Franzosen, Holländern, Norwegern und Dänen zum Schluss auch Weißrussen, Kosaken und sowjetische, bosniakische und albanische Muslime dienten. Ihre Gesamtzahl wird auf etwa 150.000 geschätzt. Im Frühjahr 1945 stammte über die Hälfte von fast einer Million Soldaten der Waffen-SS aus fünfzehn anderen europäischen Staaten. Die SS war heterogen, multinational und multiethnisch, der „fremdvölkische Hilfswillige“ war zum Schluss ein äußerst gern gesehener Mann.4 Inwieweit sie alle von nationalsozialistischem Gedankengut durchdrungen waren, also als ideologische Kollaborateure einzustufen sind, kann im Einzelfall nicht mehr geprüft werden. Zweifel sind angebracht. Da sah es bei den Volksdeutschen, die mit 310.000 Soldaten jeden dritten Waffen-SS-Mann stellten, schon anders aus. In Auschwitz betrug der Anteil der Volksdeutschen in den SS-Totenkopfverbänden 1943 knapp 48 Prozent. Im Hinblick auf alle Konzentrationslager machten sie die Hälfte des SS-Personals aus. In der Wehrmacht haben insgesamt über zwei Millionen nichtdeutsche Soldaten gedient. Gleich ob „Bündnisverwaltung“ wie in Dänemark, „Aufsichtsverwaltung“ wie in Norwegen und den Niederlanden, „Regierungsverwaltung“ wie im Protektorat Böhmen und Mähren oder „Kolonialverwaltung“ wie im polnischen Generalgouvernement, überall halfen Einheimische uniformiert oder nicht uniformiert, zu Hause oder an der Front, freiwillig, halbfreiwillig oder gezwungen bei der Unterwerfung Europas unter deutsche Suprematie und Knechtschaft mit. „Tatsache bleibt, dass mehr oder weniger das gesamte von Hitlerdeutschland besetzte Europa am 22. Juni 1941 zum Hinterland der deutschsowjetischen Front geworden war und ökonomisch, rüstungstechnisch und personell zur Kriegsfähigkeit des faschistischen Deutschland beigetragen hat, vom französischen Bauern über den belgischen Stahlschmelzer bis zum polnischen Lokomotivführer.“5 4
Vgl. Sönke Neitzel, Hitlers Europaarmee und der „Kreuzzug“ gegen die Sowjetunion, in: Michael Salewski und Heiner Timmermann (Hg.), Armeen in Europa – Europäische Armeen. Von den Kreuzzügen bis ins 21. Jahrhundert, Münster 2004, S. 137–150, hier: S. 142, Jochen Böhler und Robert Gerwarth, Einleitung: Ost- und Südosteuropäer in der Waffen-SS, in: ZfG, Nr. 7–8/2017, S. 605–610; Stefan Hördler, „Volksdeutsche SS-Freiwillige“ aus Südosteuropa. Rekrutierung, Einsatz und Gewalt 1941–1945, in: Olschowsky und Loose (Hg.), Nationalsozialismus und Regionalbewusstsein, a. a. O., S. 345–368. 5 Röhr, Kollaboration: Sachverhalt und Begriff, a. a. O., S. 26; Tatjana Tönsmeyer, Raumordnung, Raumerschließung und Besatzungsalltag im Zweiten Weltkrieg – Plädoyer für eine erweiterte Besatzungsgeschichte, in: ZfO, Nr. 1/2014, S. 16–38. Nicht gerade überzeugend hat Tönsmeyer sich inzwischen von dem „analytisch untauglichen Begriff der ‚Kollaboration‘“ abgewendet, weil er bereits im Krieg entstanden sei und die „wahren“, widerständigen Franzosen, Norweger, Tschechen etc. gegen die „wenigen“ Verräter stelle und somit keinerlei Handlungsmuster deuten und erklären könne. Das ist für die Interpretation und historische Einordnung des Phänomens sehr
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Mit dieser Fixierung auf ein Datum, auf einen Tag, liefert Werner Röhr zugleich den Schlüssel für das Verständnis des Phänomens Kollaboration, nämlich seine Zeitgebunden- und Prozesshaftigkeit. So banal es auch klingen mag: Das, was sich „Kollaboration“ nannte, war entscheidend vom Kriegsverlauf abhängig, und hier kommt, in nicht gerade rühmlicher Dimension, ihr Gegenstück, der Widerstand, ins Spiel. Die Welt blieb am 22. Juni 1941 ja nicht stehen, sondern es ging weiter. Die gespenstische Leichtigkeit, mit der man den Westen des Kontinents erobert hatte, schien sich im Osten fortzusetzen. Im Frühherbst 1941 stand die Wehrmacht mit ihrem Sammelsurium europäischer Soldaten vor den Toren von Moskau und Leningrad, und die frontnahe Bevölkerung stellte sich auf die neuen Herren ein, mit ihren Waren, Hilfsdiensten und nicht zuletzt auch mit ihren hübschen Mädchen. Der Problemkomplex Kollaboration, und darin besteht möglicherweise sogar seine größte Bedeutung, entlarvt die beiden zentralen Mythen der Nachkriegsgeschichte: auf westlicher Seite denjenigen vom gemeinsamen „antifaschistischen Widerstand“ aller europäischen Völker gegen das Dritte Reich und auf östlicher Seite denjenigen vom „Großen Vaterländischen Krieg“ aller Völker der Sowjetunion gegen Hitler. Beides war gelogen bzw. nur der kleinere Teil der Wahrheit. Es ist deshalb nicht das geringste Ergebnis dieser Arbeit, die der Kollaboration gewidmet war, gleichsam als Kehrseite der Medaille die Erbärmlichkeit und Schwäche des europäischen Widerstands aufgezeigt zu haben. Die Zahl der aktiven Widerstandskämpfer übertraf erst im Frühjahr 1945 die Zahl der aktiven Kollaborateure, wobei im gleichen Atemzug festzuhalten ist, dass beide Termini nicht unbedingt und nicht immer als kontrafaktisch zu definieren sind. Kollaboration muss nicht per se bzw. durchweg schlecht gewesen sein. Nimmt man die Zeitgebundenheit des Sujets hinzu, dann ist das – oft aus ein- und denselben Personen bestehende – Heer der Kollaborateure der ersten und der Widerständler der letzten Stunde eines der größten des gesamten Zweiten Weltkriegs, obwohl es oft keine Uniformen und Dienstgrade kannte. Dichotomisch jedenfalls sind die beiden Begriffe nicht zu fassen. Die Schwierigkeiten im Umgang mit ihnen resultier(t)en daraus, dass die Überhöhung und Glorifizierung des (so nicht stattgefundenen) Widerstands bei der nationalen Identitätsfindung nach dem Krieg die entscheidende Rolle gespielt hat. Für die Erforschung und Vergegenwärhilfreich und in dieser Untersuchung durchweg berücksichtigt worden. Tönsmeyer hingegen ist nach der analytischen Valenz des Begriffs zu fragen, den sie der Kollaboration entgegenstellt: „lokale Anwesenheitsgesellschaften“ mit unendlich variablen situativen Kontexten und Akteuren. Das hört sich gut an und ist zweifelsohne zutreffend, gleichermaßen aber auch eine Leerformel: Wo und wann wären Gesellschaften in der Geschichte nicht lokal anwesend gewesen? Das ist eine wenig aussagekräftige Selbstverständlichkeit. Vgl. Tatjana Tönsmeyer, Besatzung als europäische Erfahrungs- und Gesellschaftsgeschichte: Der Holocaust im Kontext des Zweiten Weltkriegs, in: Frank Bajohr und Andrea Löw (Hg.)., Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt am Main 2015, S. 281–398, hier: S. 284 und 290; vgl. Norbert Frei und Wulf Kansteiner, (Hg.), Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität, Göttingen 2013.
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tigung der eigenen Kollaboration war da kein Platz, im Gegenteil, sie störte, sie war gefährlich. Man blendete sie deshalb entweder im „Quarantäne-Prinzip“ aus (wie in Frankreich), erklärte sich zum Opfer (wie in Österreich) oder verharmloste sie (wie in Dänemark und den Niederlanden), entzog sich also, so gut es ging, der historischen Verantwortung. Tony Judt hat, auf das „Mutterland der Résistance“ bezogen, in seiner Nachkriegsgeschichte Europas das folgende Urteil gefällt: „Solange sich Frankreich seiner Vergangenheit nicht zu stellen vermochte, lag ein Schatten über dem neuen Europa – der Schatten einer Lüge.“6 Damit ist nicht mehr und nicht weniger gesagt, als dass nicht der Widerstand, so und soweit es ihn denn gab, sondern die schonungslose Aufarbeitung der Kollaboration das eigentliche identitätsstiftende Fundament des Europas von Morgen sein kann und muss. Da der Kriegsverlauf für Erfolg und Misserfolg, für das Gewicht und den Bedeutungsverlust der Kollaboration ausschlaggebend war, ist dieser Aspekt abschließend für sich in den Blick zu nehmen, wobei sich erhebliche Unterschiede auftun. Während sich die Kollaborationsbereitschaft 1944 und 1945 in West- und Nordeuropa von den traditionellen Eliten auf die faschistischen Parteien und Splittergruppen verlagerte und damit marginalisierte, gewann sie in Südosteuropa im gleichen Zeitraum aus Furcht vor dem Sieg des Kommunismus deutlich an Relevanz. Die militärische und die polizeiliche Kollaboration, die ihre weitestgehenden Ausformungen waren und beide expressis verbis den Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung widersprachen, wurde in fast allen Staaten bis zum Schluss aufrechterhalten. Dabei gingen Sonderkommandos wie die Milice française, das „Schalburg-Korps“ in Dänemark, die Boerenwacht in Belgien und das „Feldkommando Feldmeyer“ in den Niederlanden sogar brutal gegen die eigenen Partisanen vor. Dieser Sachverhalt darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in den meisten besetzten Staaten „nicht einmal einen einheitlichen nationalen Widerstand, geschweige denn eine europäische Résistance gab.“7 Der Widerstand war zu keinem Zeitpunkt in der Lage, die „große Wende“ gegen Deutschland herbeizuführen. Im Endergebnis muss festgehalten werden, dass die Kollaboration auf beiden und für beide Seiten gescheitert ist. Die nationalsozialistische Führung dachte nicht einen Moment daran, irgendjemandem im besetzten Territorium Autonomie, Selbstbestimmung oder Souveränität zu gewähren. Das aber war das erklärte Ziel fast aller kollaborierenden Minderheiten, Separatisten, Volksgruppen, Parteien, Staaten oder Nationen. Stattdessen sollten und mussten sie daran mitarbeiten und mitwirken, aus ihrem Heimatland den Teil eines unter deutscher Herrschaft stehenden europäischen Großreichs zu machen. Das war das Kollaborationsverständnis des Dritten Reiches. Beides zusammen ging nicht. Ausschließlich ideologisch geleitetes Mittun spielte demgegenüber 6 7
Judt, Geschichte Europas, a. a. O., S. 948. Gerhard Hirschfeld, Formen nationalsozialistischer Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg, in: Tauber (Hg.), „Kollaboration“, a. a. O., S. 40–55, hier: S. 55.
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eine nachrangige Rolle, hatte sich aber auch ein wie immer strukturiertes gemeinsames Europa auf die Fahnen geschrieben und hielt – wie das Weltanschauungen an sich haben – bis zum bitteren Ende am Schulterschluss mit Hitler fest. Es war mehr als tragische Symbolik, es war ein Menetekel, dass die letzten den „Führer“ im Keller der Berliner Reichskanzlei im April 1945 verteidigenden und schützenden Kämpfer nicht Deutsche, sondern Franzosen waren, nämlich Freiwillige der SS-Division Charlemagne. Ihr Hauptscharführer Pierre Rostaing resümierte resigniert: „Wir sind keine Deutschen und keine Franzosen mehr, wir sind das letzte Karree eines Europa, das sich zu sterben anschickt.“8 Die größte Position auf dem Schuldkonto der europäischen Kollaboration ist die Beteiligung am Holocaust. „Es ist offenkundig, dass in keinem besetzten Land dieser Völkermord ohne die einheimische Polizei gelungen wäre.“9 Sie erfasste, registrierte, nahm gefangen, transportierte oder erschlug mit Knüppeln gleich vor Ort wie in Estland, Lettland und Litauen. Sie war der nervus rerum in der zur Todesbank führenden Einbahnstraße. Doch sie war nicht allein: Auf dem gesamten Kontinent konnte sich die deutsche Herrschaft auf eine Kollaboration verlassen, die zum Teil von „rationalen“ Erwägungen bestimmt war, häufig aber auch auf bereitwilliger oder sogar begeisterter Anerkennung der Vorherrschaft Deutschlands aus allen möglichen ideologischen und machtpolitischen Gründen beruhte. An einer derartigen Kollaboration beteiligt waren nationale und regionale Behörden und Institutionen, Hilfstruppen aller Schattierungen, politische Unterstützungsgruppen und unabhängige Akteure von Politikern bis hin zu Verwaltungsbeamten, von Intellektuellen bis zu Polizeitruppen und Eisenbahnverwaltungen, von Journalisten bis zu Industriellen, von Jugendorganisationen bis zu Bauernverbänden, von Geistlichen bis zu Universitäten, von organisierten bis zu spontan sich bildenden Mörderbanden.10 (Saul Friedländer)
Sie alle waren dafür verantwortlich, dass die Juden, wo immer sie auch lebten, von einem „autochthonen Antisemitismus“ umgeben waren, „der jede Form von Massenflucht von vornherein aussichtlos machte“11, wie Hannah Arendt konstatiert hat. Sie saßen in der Falle, und bis zum Vormarsch der Alliierten im Sommer 1944 dachte praktisch niemand auf der Welt daran, ihnen zu helfen, im Gegenteil. Auf den Killing Fields in Osteuropa kamen auf einen deutschen Polizisten zehn einheimische Polizisten. Es bleibt kein anderer Schluss: Die „alte Formel“, dass Deutschland „schuldig“ und 8 Zit. nach Neulen, An deutscher Seite, a. a. O., S. 45. 9 Röhr, Landesverrat oder Patriotismus?, a. a. O., S. 96. 10 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, a. a. O., S. 102. Das Schlussurteil von Christian Gerlach (Der Mord an den europäischen Juden, a. a. O., S. 431 und 437) lautet, „dass die Maßnahmen (!) nichtdeutscher Staaten und die Gewalt gegen die Juden in ihren Gesellschaften einen partizipatorischen Charakter hatten, (…) (ohne den) die Verfolgung nicht so weitreichend oder so traumatisch gewesen (wäre).“ Das ist, in dem krampfhaften Bemühen, das Wort „Kollaboration“ nicht zu verwenden, eine uneingeschränkte Bestätigung ihrer Verbrechensdimensionen. 11 Arendt, Eichmann in Jerusalem, a. a. O., S. 28.
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der Rest Europas „unschuldig“ war, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, wie es auch Daniel Levy und Natan Sznaider betonen.12 Mehr noch, die sogenannte Endlösung der Judenfrage war „ein europäisches Projekt, das sich nicht allein aus den speziellen Voraussetzungen der deutschen Geschichte klären lässt“13 (Götz Aly). Der Holocaust ist damit und dadurch das „moralische Narrativ“, der „erinnerungskulturelle Fluchtpunkt“ und die „Gedächtnisikone“ (Katja Köhr) des gesamten Alten Kontinents geworden.14 Es ist in diesem Zusammenhang äußerst aufschlussreich, allein die Chronologisierung der jüngsten Gesamtdarstellung des Jahrhundertverbrechens von David Cesarani zu lesen. Sie lautet: „Das Schicksal der Juden 1933 bis 1948“ (!).15 An dieser Stelle ist, wie in der Einführung angekündigt, jener Pfad wiederaufzunehmen, der in die Dimensionen von Erinnerung, Gedächtnis und Identität führt. Als Guides standen und stehen an ihm Maurice Halbwachs, Jan und Aleida Assmann, Christoph Cornelißen und Harald Schmid. Halbwachs’ Ausgangsposition lautet: „Ohne Raum kein Gedächtnis, ohne Gedächtnis kein Raum.“16 Der Raum ist hier ein ganzer Kontinent, auf dem das kollektive Erinnern und das kollektive Gedächtnis durch selektive Vergangenheits- und Geschichtspolitik gesteuert wurde und wird, fast durchweg mit dem Ziel, eine idealiter „unbefleckte“ Identität herzustellen. Jan und Aleida Assmann unterscheiden, wie eingangs dargelegt und definiert, zwischen kommunikativem 12 Zit. nach Botz, Nachhall und Modifikationen, a. a. O., S. 600; Original: Levy und Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter, a. a. O.; ähnlich: Kirstin Frieden, Neuverhandlungen des Holocaust, Bielefeld 2014. 13 Zit. nach „Der Spiegel“, Nr. 21/2009, S. 86. Auch Peter Hayes, Warum? Eine Geschichte des Holocaust, Frankfurt am Main 2017, betont in seiner abschließenden Analyse, dass die Vernichtung der Juden kein ausschließlich deutsches Verbrechen war und sich unter anderem deshalb verschärfte, weil sie auf der Agenda von vielen europäischen Staaten stand, in denen die deutschen Besatzer schnell „erstaunlich hingebungsvolle Mörder“ rekrutieren konnten. 14 Köhr, Die vielen Gesichter des Holocaust, a. a. O., S. 9 und 12. 15 David Cesarani, „Endlösung“. Das Schicksal der Juden 1933 bis 1948, Berlin 2016; vgl. dazu: Sznaider, Gedächtnisraum Europa, a. a. O.; dazu: Aleida Assmann, Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?, a. a. O. und dies., Vorbei ist nicht vorüber. Wertvolles Gedenken oder übertriebene Vergangenheitsfixierung? Eine Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur in Deutschland und anderswo, in: Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten (Hg.), Newsletter „Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein“, Nr. 6/2014, S. 5–9 (Redaktion: Harald Schmid); Pieter Lagrou, Europe as a Place for Common Memories? Some Thoughts on Victimhood, Identity and Emancipation from the Past, in: Blaive, Gerbel und Lindenberger (Hg.), Clashes in European Memory, a. a. O., S. 281–288. 16 So Harald Schmid unter direktem Bezug auf Halbwachs: Harald Schmid, Regionale Gedächtnisräume, in: Janina Fuge, Rainer Hering und Harald Schmid (Hg.), Gedächtnisräume. Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland, Göttingen 2014, S. 33–41, hier: S. 37; ders., Vom publizistischen Kampfbegriff zum Forschungskonzept. Zur Historisierung der Kategorie „Geschichtspolitik“, in: ders. (Hg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis, a. a. O., Göttingen 2009, S. 53–76.
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und kulturellem, Generationen übergreifenden Gedächtnis, wohingegen Christoph Cornelißen in seinem Konzept der „Erinnerungskultur“ vor einer strikten Trennung zwischen beiden Gedächtnisformen ausdrücklich warnt.17 Das führt insofern zurück zu Halbwachs, als dessen mémoire collective die Pluralisierung und Dynamisierung des Vergangenheitsbezuges sozialer Gruppen bedeutet, und es führt hin zu Harald Schmid, für den ein gemeinsamer Erinnerungsraum nur aus der „Konfrontation partikularer Erinnerungen“18 gewonnen werden kann. Die aber hatte lange genug, wie die einzelnen Länderkapitel dieses Buches gezeigt haben, den Charakter eines „Dialoges unter Schwerhörigen in einem schwelenden Bürgerkrieg der Erinnerungen“ (Aleida Assmann), in dem weiterhin heroische Widerstands- und Opfermythen kultiviert wurden, und in nicht wenigen Staaten schwelt er bis heute. Dieser Zustand kann nur durch shared memory und shareable narratives überwunden werden. Nur durch „ein geteiltes europäisches Wissen über uns selbst als Täter und Opfer“19 ist das Fundament einer europäischen Erinnerungskultur gegeben. Bevor es jedoch gegossen und begehbar ist, sind ritualisierte Mythen zu erschüttern, nationale Narrative zu zerstören und „verlorene“, eingefrorene Gedächtnisse aufzutauen. Das ist nicht leicht, denn die eine Erinnerung diente ja gerade dazu, sich gegen eine andere zu immunisieren: „Für viele europäische Nationen gilt, dass die Fixierung auf deutsche Verbrechen nach dem Krieg die eigenen passenderweise zum Verschwinden gebracht hat“20 (Aleida Assmann). Doch die Zeiten dieses „gestörten Kurzzeitgedächtnisses (als) wichtigstem unsichtbaren Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs“ (Tony Judt) neigen sich unwiderruflich ihrem Ende entgegen, und zwar in mehrfacher Hinsicht. „Das Bild des Holocaust wandelt sich in der Geschichtsschreibung zunehmend von einem von Deutschland ausgehenden Völkermord zu einem gesamteuropäischen Genozid“ (Frank Bajohr und Andrea Löw). Das bisherige, auf dem Opfermythos und der Glorifizierung des Widerstands basierende nationale Basisnarrativ wird immer mehr in Frage gestellt und, daraus resultierend, das Anerkennen der Mitverantwortung am Judenmord zur „europäischen Eintrittskarte“21, zum „europäischen Gründungsmythos“. Dies wird aber, bedingt durch die zeitlich viel nähere Erfahrung der kommunistischen Zwangsherrschaft und stalinistischer Massentötungen, bislang nur in Westeuropa so gesehen und akzeptiert. „In seiner Erinnerungskultur bleibt das vereinte Europa ein gespaltener Kontinent. Nach der Erweiterung verläuft die Trennungslinie mitten durch die Europäische Union“22 (Ja17 Cornelißen, Was heißt Erinnerungskultur?, a. a. O., bes. S. 555 f. 18 Schmid, Europäisierung des Auschwitzgedenkens?, a. a. O., S. 202. 19 Peter Esterhazy, „Alle Hände sind unsere Hände“, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 11.10.2004, S. 16. 20 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, a. a. O., S. 268; dies., Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007. 21 Judt, Geschichte Europas, a. a. O., S. 934. 22 Janusz Reiter, Fremde Federn: Geteilte Erinnerung im vereinten Europa, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 7.5.2005, S. 8.
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nusz Reiter). Wenn man deshalb vom Gedächtnis Europas spricht, dann muss man sich dieses als eine Ellipse mit zwei Brennpunkten vorstellen, von denen einer der Holocaust und der andere der Stalin’sche Terror ist. „Zwischen beiden Ereignissen besteht derzeit noch eine eklatante Asymmetrie, die noch nicht in den Zustand einer verknüpfbaren Erinnerung erhoben worden ist“23 (Aleida Assmann). Nicht von ungefähr betont Christoph Cornelißen, dass „die Nationalität der Erinnerungskulturen in Europa bislang omnipräsent geblieben ist.“ Und hier rangiert „das nationalheroische Mythennarrativ“ auch weiterhin vor dem realen Geschichtsablauf. Zwar ist durch den Generationenwechsel der letzten zwanzig Jahre vielerorts ein regelrechtes régime d’historicité, ein „Erinnerungsimperativ zum Durchbruch gelangt, (der) (…) die Schattenseiten der Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu einer kulturellen Orientierungsnorm mit Leitbildfunktion hat werden lassen“, gleichwohl hat der daraus resultierende „gemeinsame Rekurs“ auf den Holocaust „bislang nicht die Rolle eines negativen Gründungsmythos Europas einnehmen können.“24 Deshalb muss hier gefragt werden, ob es überhaupt Sinn macht bzw. realisierbar ist, von einem gemeinsamen europäischen Gedächtnis zu reden. Inwieweit braucht man dies für gemeinsame europäische Politik, für den Prozess der europäischen Integration? Oder, umgekehrt gefragt, wie viel Gegensätzlichkeit kann oder muss dieser Prozess aushalten? Wenn Nationen, wie Max Weber gesagt hat, „Erinnerungsgemeinschaften“ sind, dann geht es heute ja um nicht mehr und nicht weniger als um die Auflösung dieses Sachverhalts und dessen Einbettung in eine kontinentale Dimension. Gleichwohl aber macht es wenig Sinn, ein europäisches Gedächtnis zu konzipieren, zu konstruieren oder gar zu erzwingen. Es wächst oder es wächst nicht. Gegenwärtig, im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts, gibt es noch keine einheitliche Erinnerungskultur. Diese weist vielmehr „Merkmale der Gemeinsamkeit und der inneren Spannung“ auf (Arnd Bauerkämper). Ist der Holocaust als „negatives Gedächtnis Europas“, also als Bekenntnis zu eigenen Verbrechen und eigenem Mittun, dazu in der Lage, diese Spannung aufzuheben? Wo ist man eigentlich schon bereit, „sich selbst mit den Augen der Nachbarn zu betrachten“ und entsprechend miteinander zu kommunizieren, und zwar nicht in einem Opfer-, sondern in einem Täterdiskurs? Natürlich darf es auch hier keine gedächtnispolitischen Steuerungen und Normierungen geben, sondern ursprünglich national23 Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, a. a. O., S. 155; vgl. dazu: König, Schmidt und Sicking (Hg.), Europas Gedächtnis, a. a. O. 24 Cornelißen, Die Nationalität von Erinnerungskulturen als ein gesamteuropäisches Phänomen, a. a. O., S. 7, 9, 11 und 14; ähnlich urteilt auch Jürgen Zarusky: „Ein gesamteuropäisches Gedächtnis haben all diese Aktivitäten bislang nicht zum Ziel gehabt“; Zarusky, Kampfplatz Geschichte. Anmerkungen zur europäischen Erinnerungspolitik nach dem Untergang des Kommunismus, in: „Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte“, Nr. 1/2014, S. 141–173, hier: S. 142; Markus J. Prutsch, Europäische Erinnerungspolitik. Bestandsaufnahme und Perspektiven, in: „Einsichten und Perspektiven“, Nr. 1/2016, S. 44–55; ders., Europäisches Historisches Gedächtnis: Politik, Herausforderungen und Perspektiven, Brüssel 2015.
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autonome Entwicklungen müssen in eine transnationale Erinnerung und schließlich in einen europäischen Konsens einmünden. Dieser Prozess ist im Gange. Er verläuft in unterschiedlicher Intensität, basiert auf geteilter wie auch auf gegensätzlicher Erinnerung und ist durchaus von der Bereitschaft gekennzeichnet, den „festgefügten Dualismus von Tätern und Opfern“25 zu überwinden. Doch egal, wie weit er reicht und welche finale Gestalt er auch einmal annehmen mag, es darf in Europa nie einen erinnerungspolitischen acquis communautaire als acquis historique oder gar einen „DIN-Standard“ für Erinnerungspraxis geben. Die europäische Erinnerungs- und Gedächtniskultur muss ein „Ensemble von Austauschprozessen über unterschiedliche Erinnerungen (in einem) (…) dynamischen Erinnerungsraum“26 sein und bleiben. Der „Arbeit am europäischen Gedächtnis“27 haben sich inzwischen herausragende Personen und Institutionen in zwei gewichtigen Projekten gestellt, einem vollendeten und einem lange unvollendeten. Das erste ist bereits 1992 unter dem Titel „Europa – Eine Geschichte seiner Völker“ als erstes gemeinsames europäisches Geschichtsbuch gleichzeitig in acht europäischen Verlagshäusern erschienen. Von französischer Seite haben Frédéric Delouche und Jean-Baptiste Duroselle, von deutscher Karl Dietrich Erdmann an der Verwirklichung des Konzepts mitgearbeitet. 2013 ist es als „Das europäische Geschichtsbuch. Von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert“28 in erneuerter Form erschienen. Das Werk erhebt keinen geringeren Anspruch als die Meistererzählung Europas von der Jungsteinzeit bis zur Finanzkrise 2010 zu präsentieren – mit einer signifikanten Leerstelle: der europäischen Kollaboration mit dem Dritten Reich, der
25 Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, a. a. O., S. 400; ders., Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur? Der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die stalinistischen Verbrechen im Gedächtnis der Europäer seit 1945, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte, Bd. 5 (2014), S. 43–65. 26 Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, a. a. O., S. 401; vgl. auch: Lucian Hölscher, Geschichte als „Erinnerungskultur“, in: ders., Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2009, S. 81–99; Birgit Schwelling, Identität – Differenz – Ähnlichkeit. Überlegungen zu Konzepten der Vermessung des europäischen Erinnerungsraums, in: Schoor und SchülerSpringorum (Hg.), Gedächtnis und Gewalt, a. a. O., S. 16–32; Ulrike Liebert und Henrike Müller, Zu einem europäischen Gedächtnisraum? Erinnerungskonflikte als Problem einer politischen Union Europas, in: APuZ, Nr. 4/2012, S. 40–48; Etienne François, Ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur denkbar? in: Bernd Henningsen, Hendriette Kliemann-Geisinger und Stefan Troebst (Hg.), Transnationale Erinnerungsorte. Nord- und südeuropäische Perspektiven, Berlin 2009, S. 13–30. 27 Hans-Joachim Veen, Volkhard Knigge, Ulrich Mählert und Franz-Josef Schlichting (Hg.), Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung, Köln, Weimar und Wien 2011; Siepmann, Vom Nutzen und Nachteil europäischer Geschichtsbilder, a. a. O. 28 Frédéric Delouche (Hg.), Das europäische Geschichtsbuch. Von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 376; vgl. auch: Jean-Frédéric Schaub, L’Europe a-t-elle une histoire? Paris 2008, bes. S. 17–48.
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sechs dürre Zeilen gewidmet werden, was die hier vorliegende Gesamtdarstellung mehr als notwendig gemacht hat. Das zweite Projekt war lange eine fleet in being, von der niemand so richtig wusste, wann sie fertig sein wird. Die Rede ist von dem Musée de l’Europe, dem „Haus der Europäischen Geschichte“ in Brüssel. In Artikel 128 des Maastrichter Vertrags von 1992 war erstmals vom „gemeinsamen kulturellen Erbe“ in Europa gesprochen worden. Das unverhohlene Ziel des fünf Jahre später gebildeten gemeinnützigen Vereins war es deshalb, ein identitätsstiftendes Museum mit dem europäischen Meisternarrativ zu schaffen. „Der Plan für ein Museum in Brüssel präsentiert damit die Geschichte Europas als eine teleologische Erzählung in guter Hegelscher Tradition“29. In diesem Konzept allerdings wurden die eklatanten Bruchstellen in der europäischen Erinnerungslandschaft überspielt, und so auch hier die größte aller Bruchstellen, die Kollaboration mit Hitlerdeutschland. Sie findet im Museum nicht statt. In den Planungen des 2007 vom Europäischen Parlament lancierten House of European History spielte sie keine nennenswerte Rolle. Solange dies der Fall war, musste das Projekt ein Torso bleiben, weil es „eine gemeinsame europäische Erfahrungsgeschichte“ (Stefan Krankenhagen) ohne eine zentrale europäische Erfahrung bot, oder anders formuliert: 28 europäische Erfolgsgeschichten unter einem Dach waren und sind nicht die ganze Geschichte. In den Ziffern 51 bis 68 („Das Europa der Weltkriege“) des 2008 verabschiedeten Konzepts des neunköpfigen internationalen Sachverständigenausschusses unter der Leitung des Deutschen Hans Walter Hütter ist die Kollaboration lediglich „in allen besetzten Staaten anzutreffen“ (Ziffer 67), mehr aber auch nicht. 2011 bewilligte das Europäische Parlament die erste Tranche für das 56 Millionen Euro teure und 4000 Quadratmeter Ausstellungsfläche umfassende „Haus der Europäischen Geschichte“30, das allerdings 29 Stefan Krankenhagen, Die Sache Europa. Das Musée de l’Europe: Von dem (vorerst) gescheiterten Versuch, die europäische Integration zum Subjekt der Geschichte zu machen, in: Claudia Fröhlich, Harald Schmid und Birgit Schwelling (Hg.), Jahrbuch für Politik und Geschichte, Bd. 4 (2013), Stuttgart 2014, S. 31–43, hier: S. 36; Birgit Schwelling, Europäische Dimensionen des Erinnerns. Methodische Überlegungen in systematischer Absicht, in: Claudia Fröhlich und Harald Schmid (Hg.), Jahrbuch für Politik und Geschichte, Bd. 3 (2012), Stuttgart 2013, S. 133–148; Harald Schmid, Das Unbehagen in der Erinnerungskultur. Eine Annäherung an aktuelle Deutungsmuster, in: Margrit Frölich et al. (Hg.), Das Unbehagen an der Erinnerung – Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt am Main 2012, S. 162–181; Uwe Berndt, Europa als Konfliktgemeinschaft der Erinnerungskulturen, in: „Journal für politische Bildung“, Nr. 3/2015, S. 8–15. 30 Sachverständigenausschuss Haus der Europäischen Geschichte, Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte, Brüssel 2008; wieder abgedruckt in: Veen et al. (Hg.), Arbeit am europäischen Gedächtnis, a. a. O., S. 197–232; vgl. dazu: Stefan Krankenhagen und Wolfram Kaiser, Europa ausstellen: Zur Konstruktion europäischer Integration und Identität im geplanten Musée de l’Europe in Brüssel, in: Michael Gehler und Silvio Vietta (Hg.), Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Köln, Wei-
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ausdrücklich „nicht die Summe nationaler oder regionaler Geschichten Europas abbilden, sondern sich vielmehr auf europäische Phänomene konzentrieren soll“ (Ziffer 23). Als das Museum im Mai 2017 seine Pforten öffnete, ging es in ihm in der Tat nicht darum, einen (zwangs-)homogenen europäischen Erinnerungsraum zu schaffen, es konnte aber genauso wenig eine bloße Addition von Nationalgeschichten oder ein Instrument der Geschichtspolitik sein, auch wenn die Große Erzählung vom europäischen Integrationsprozess als success story in ihm zweifelsohne die Leitfunktion ausüben muss. Es muss auch ohne Zweifel ein Ort sein, in dem der Weg zu einem europäischen Gedächtnis gewiesen und in dem die Spannung zwischen nationaler Identität und dem europäischen Ganzen nicht aufgehalten, sondern ausgehalten wird. Seine Besucher sollen in ihm lernen, den in ihren Gesellschaften und Bildungssystemen seit Jahrzehnten und Jahrhunderten tradierten und trainierten Blick auf den anderen abzulegen und sich selbst mit seinen Augen zu sehen, um auf diese Weise Freund/Feind- und Täter/ Opfer-Dichotomisierungen zu überwinden und abzulegen. Das wären die ersten, aber überaus wichtigen und richtigen Schritte zu einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft.31 Das Europäische Parlament hat hierfür 2009 eine weitere, richtungsweisende Entscheidung getroffen, indem es in seiner „Prager Erklärung“ den 23. August, den Tag, an dem Hitler und Stalin 1939 ihren den Zweiten Weltkrieg entfesselnden „Nichtangriffspakt“ unterzeichneten, in einer „Entschließung zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ als EU-weiten Gedenktag proklamierte, der „in Würde und unparteiisch begangen werden soll“, der bislang allerdings wenig Resonanz entfaltet hat. Mehr Wirkung ist Punkt 13 der Erklärung zugekommen, in dem die „Errichtung einer Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“ gefordert wird. Ihre Gründungsurkunde wurde am 14. Oktober 2011 in einer feierlichen Zeremonie im Prager Liechtensteinpalais unterzeichnet. Inzwischen gehören ihr 57 Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen aus ganz Europa an, die sich die Erinnerung und Aufarbeitung des Totalitarismus auf dem Alten Kontinent als Ziel gesetzt haben. Flankiert wurde all dies durch das 2006 aufgelegte und 2014 bis (zunächst) 2020 verlängerte Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“, für das 185,5 Millionen Euro bereitgestellt wurden. Es soll ausdrücklich zur Schaffung eines „Europäischen Geschichtsbewusstseins“ beitragen (Großschreibung im Original, K. K.). Irgendwie gewinnt man den Eindruck, mar und Wien 2010, S. 181–196 und Marcel Siepmann, Ein Haus der Europäischen Geschichte wird eingerichtet, in: GWU, Nr. 11/2012, S. 690–704. 31 Vgl. Etienne François, Europa als Erinnerungsgemeinschaft? Anmerkungen zur Frage nach einem europäischen Gedächtnis, in: Veen et al. (Hg.), Arbeit am europäischen Gedächtnis, a. a. O., S. 13–23; ders., Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Europa heute, in: ders. et al. (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989, a. a. O., S. 541–558; Günther Morsch, Der 23. August – ein geeigneter europäischer ‚Gedenktag für die Opfer aller totalitärer und autoritärer Diktaturen‘? in: Christoph Koch (Hg.), Gab es einen Stalin-Hitler-Pakt? Charakter, Bedeutung und Deutung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23.August 1939, Frankfurt am Main 2015, S. 313–329.
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dass hier Aleida Assmanns großes Wort, die Utopie als Zukunftsprojekt der Moderne habe zugunsten der Rekonstruktion von Vergangenheit und Erinnerung als dem neuen Schlüsselmoment europäischer Gesellschaften ausgedient, seine definitorische Einlösung gefunden hat. In diesen Maßnahmen und Maßgaben geht es samt und sonders um das höchste und hehrste Ziel des gesamten Integrationsprozesses, von dem niemand weiß, ob es jemals erreichbar ist bzw. ob dessen Erreichbarkeit und Finalität überhaupt wünschund machbar ist: eine gemeinsame europäische Identität, frei nach dem Motto: „Wir haben Europa geschaffen, jetzt müssen wir nur noch die Europäerinnen und Europäer schaffen.“32 Geht das? Geht das par ordre de Brüssel? Natürlich nicht. Natürlich muss auch und gerade Identität von unten wachsen, wenn sie nicht zur künstlichen, verkümmerten und aufoktroyierten Missgeburt werden soll. Mehrfach – und vergeblich – ist versucht worden, sie in einem gemeinsamen Dokument zu verankern, das letzte Mal in der gescheiterten Europäischen Verfassung von 2004. Dabei ist Identität und mit ihr auch europäische Identität primär die Summe sich überlagernder und permanent verändernder Teilidentitäten und nur sekundär das Produkt eines – von wem auch immer – vorgegebenen Ganzheitsideals. Ihr großer Widerpart und Feind, die Nation und mit ihr das nationale Meisternarrativ, ist keineswegs von der Erdoberfläche verschwunden, wie man bei den Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden, Gründungsstaaten der EWG, gesehen hat. Sie haben gezeigt, dass ein „Mehr“ an europäischer Identität fast automatisch mit der Angst vor nationalem Souveränitätsverlust 32 Vgl. Stefan Troebst, Die Europäische Union als „Gedächtnis und Gewissen Europas“? Zur EUGeschichtspolitik seit der Osterweiterung, in: François et al. (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989, a. a. O., S. 94–158, hier: S. 94, insbes. Leitzitat und Anm. 1 (Bezug auf Petra Huyst 2008 und Massimo d’Azeglio 1861); ebd., S. 491–513: Camille Mazé, Zwischen Geschichts- und Gedächtnispolitik. Die Europäisierung nationaler Museen; ebd., S. 525–540: Georg Kreis, „Europa“ ausstellen? Zum Werdegang eines supranationalen Museumsprojekts; ebd., S. 541–558: Etienne François, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Europa heute; vgl. auch: Viktoria Kaina, Wir in Europa. Kollektive Identität und Demokratie in der Europäischen Union, Wiesbaden 2009; Thomas Meyer, Die Identität Europas. Der EU eine Seele?, Frankfurt am Main 2004; Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt, Für Europa! Ein Manifest, München 2012; Thomas Schmid, Europa ist tot, es lebe Europa! Eine Streitschrift, München 2016; Dirk Ansorge (Hg.), Pluralistische Identität. Beobachtungen zu Herkunft und Zukunft Europas, Darmstadt 2016; Schmale, Geschichte und Zukunft der europäischen Identität, a. a. O.; ders., Was wird aus der Europäischen Union? Geschichte und Zukunft, Stuttgart 2018; Gregor Feindt, Félix Krawatzek, Daniela Mehler, Friedemann Pestel und Rieke Trimçev (Hg.), Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung. Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation, Göttingen 2014; Georg Datler, Das Konzept der „europäischen Identität“ jenseits der Demos-Fiktion, in: APuZ, Nr. 4/2012, S. 57–61; Stephanie Schick, Kann man eine europäische Identität schaffen?, Marburg 2012; Claus Leggewie, Warum der 23. August (1939) kein paneuropäischer Gedenktag geworden ist – und wie man dies ändern könnte, in: „Journal für politische Bildung“, Nr. 3/2015, S. 62–70.
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verbunden ist. „Solange die EU ein Staatenverbund bleibt, haften der Vorstellung einer europäischen Identität utopistische Züge an.“33 Sie ist, wie Werner Weidenfeld es gesagt hat, die „Achillesferse der Europäischen Union“. Von einem „Wir-Gefühl“, wie viele es beim Auflaufen der eigenen Fußballnationalmannschaft verspüren, kann mit Blick auf Europa jedenfalls noch keine Rede sein. Deshalb geht es auch nicht darum, unter Auflösung des modernen Nationalstaats ein europäisches Kollektivbewusstsein zu schaffen, sondern einen identitätsorientierten Übergangszustand als Dauerzustand. Ob und wann es ein europäisches Volk, eine „Nation Europa“ gibt, weiß niemand, ihre Finalität liegt in den Sternen. Sie ist eine Baustelle, ein permanentes Werden, und kein Sein. Entscheidend ist es in diesem Prozess, den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, dass sich nationale und europäische Identität nicht ausschließen, sondern ergänzen. Das eine wächst nicht auf Kosten des anderen. „Ein europäisches Wir-Gefühl kann nur durch die öffentliche Bearbeitung konkurrierender nationaler europäischer Geschichtsnarrative entstehen“34, und hier spielen die années noires von 1938 bis 1945 eine entscheidende Rolle. Auch wenn es die gültige Form des Erinnerns nicht gibt, so beginnt man endlich, sich ihrer zu erinnern. Allein das ist ein Fortschritt, ein Baustein für das Fundament einer gemeinsamen europäischen Identität. Er ist für sie genauso wichtig wie der gemeinsame Markt, die gemeinsame Währung und die gemeinsame Gerichtsbarkeit. Schengen lässt im vereinigten Europa niemanden mehr an einem Schlagbaum hängen, aber in der europäischen Erinnerungslandschaft gibt es noch einige Grenzzäune, die einzureißen sind. Da besteht zur EU-Phorie noch kein Anlass, eher zu Besorgnis und Furcht. „Man wird dieser Ängste nicht Herr, indem man europäisches Geschichtsbewusstsein an authentischen oder inszenierten Orten verordnet.“35 Europäische Identität ist ohne europäische Selbstaufklärung undenkbar, und in dieser darf es kein Beschweigen, keine Leerstellen, keine Amnesie, keine Selbsttäuschungen und keine bequemen Lügen geben, wie sie uns in diesem Buch zuhauf begegnet sind. „Wo 33 Michael Weigl, Identität zweiter Klasse – Vom Unwillen, Europas Selbstverständnis zu denationalisieren, in: Julian Nida-Rümelin und Werner Weidenfeld (Hg.), Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien, Baden-Baden 2007, S. 99–122, hier: S. 117; Jürgen Habermas, Ist die Herausbildung einer europäischen Identität nötig, und ist sie möglich?, in: ders., Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X, Frankfurt am Main 2004, S. 68–82; Werner Weidenfeld, Europa. Eine Strategie, München 2014. Hier spricht Weidenfeld von einem „vagabundierenden Identitätsbedürfnis, von dem man noch nicht weiß, wo es sich festmachen wird“ (S. 80). Auch Joschka Fischer, Scheitert Europa?, Köln 2014, S. 11, fragt sich, wie Europas „Finalität eigentlich aussehen soll.“ Für Peter Graf Kielmansegg, Wohin des Wegs, Europa?, Baden-Baden 2015, sind Erfahrungsgemeinschaft und Identität untrennbar miteinander verbunden. Vgl. dazu: Franz Walter, Politische Prediger und Provokateure Vom Verschwinden der Intellektuellen und der konzeptionellen Entleerung der Politik, in: „INDES – Zeitschrift für Politik und Gesellschaft“, Nr. 2/2017, S. 114–122. 34 Leggewie und Lang, Der Kampf um die europäische Erinnerung, a. a. O., S. 185. 35 Ebd., S. 188.
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keine gemeinsame Vorstellung von der eigenen Geschichte kommunizierbar ist, kann sich auch kaum eine gemeinsame Identität ausbilden“36 (Andreas Wirsching). Deshalb wird es ohne schonungslose Selbstvergewisserung der europäischen Kollaboration mit dem Dritten Reich auch kein vereinigtes Europa geben. Sind wir tatsächlich schon, wie Christoph Cornelißen es gesagt hat, „Zeugen der Durchsetzung eines wirklich geteilten Erfahrungsraumes Europa“37? Wobei, nota bene, das „geteilt“ die Bedeutung von „gemeinsam“ hat.
36 Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, S. 377; ders., Demokratie und Globalisierung. Europa seit 1989, München 2015, S. 157 und 225 f.; Konrad Jarausch, Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century; Princeton 2015. 37 Christoph Cornelißen, Vom Schreiben einer Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Perspektiven und Herausforderungen, in: „Zeiträume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung“, Jahrg. 13 (2012), S. 65–86; hier: S. 84; vgl. auch: Benedikt Widmaier, Europäisierung der Erinnerungsarbeit, in: ders. und Gerd Steffens (Hg.), Politische Bildung nach Auschwitz. Erinnerungsarbeit und Erinnerungskultur heute, Schwalbach im Taunus 2015, S. 163–175; Thomas Schlemmer und Alan E. Steinweis (Hg.), Holocaust and Memory in Europe (German Yearbook of Contemporary History, Bd. 1), München 2016; Alan E. Steinweis (Hg.), Holocaust Memory in a Globalized World, Göttingen 2017. Viertes Leitzitat „Man kann die junge Generation nicht (…)“: Jaroslaw Hrytsak, Narys istorii Ukraïny, Kiew 2000, S. 232.
Abkürzungen AK APuZ ARP AVNOJ BBC BHE BNSE BSG BSN BTE CFLN CGQJ ČSSR DC DDR DHI DNP DNSAP DNSAP EAM EDES EEE ELAS ES ESAP EU FFI Fidesz FPÖ FRN Gestapo GFL GG GL GWU HDZ HG
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Abkürzungen
HOS Kroatische Verteidigungskräfte HSL’S Slowakische Volkspartei (in der slowakischen Abkürzung) HZ Historische Zeitschrift IKL Vaterländische Volksbewegung (Finnland) IPN Institut für nationales Gedenken (Polen) JAFK Jüdisches Antifaschistisches Komitee (der Sowjetunion) Jobbik Bewegung für ein besseres Ungarn k. u. k. kaiserlich und königlich (Österreich-Ungarn) KGB Komitet Gossudarstwennoi Besopasnosti KKE Kommunistische Partei Griechenlands KP Kommunistische Partei KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KPF Kommunistische Partei Frankreichs KPJ Kommunistische Partei Jugoslawiens KPÖ Kommunistische Partei Österreichs KPS Kommunistische Partei Sloweniens KZ Konzentrationslager LAF Litauische Aktivistenfront LNC Nationale Befreiungsbewegung (Albanien) LNP Litauische Nationalisten Partei LVF Légion des Volontaires Français contre le Bolchevisme MSR Mouvement Social Révolutionnaire MVAC Milizia volontaria anticomunista (Slowenien) NBS Nationale Bewegung der Schweiz ND Nationaldemokratie (Endecja, Polen) NDH Unabhängiger Staat Kroatien Nationaldemokratische Partei Deutschlands (DDR) NDPD NF Nationale Front (Schweiz) NG Nationale Gemeinschaft (Schweiz) NKWD Narodnyj Kommissariat Wnutrennich Del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, sowjetischer Geheimdienst 1934–1946) NOR Nationale Radikale Organisation (Polen) NS Nationalsozialismus Nasjonal Samling (Norwegen) NS NSAP Nationalsocialistiska Arbetarparti (Schweden) NSB Nationaal Socialistische Beweging (Niederlande) NSBidS Nationalsozialistische Bewegung in der Schweiz NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP-N Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei-Nordschleswig NSSAP Nationalsozialistische Schweizerische Arbeiterpartei NSSB Nationalsozialistischer Schweizerbund
Abkürzungen
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NSU National Socialistiske Ungdom (Dänemark) NSZ Nationale Streitkräfte (Polen) NU Nederlandse Unie (Niederländische Union) NYKP Pfeilkreuzlerpartei (Ungarn) OF Slowenische Befreiungsfront OFG Opferfürsorgegesetz (Österreich) OKW Oberkommando der Wehrmacht OMON Mobile Einheit besonderer Bestimmung (Einheit der russischen Polizei) ONR National-Radikales Lager (Polen) OUN Organisation Ukrainischer Nationalisten OUN-B Organisation Ukrainischer Nationalisten-Bandera OUN-M Organisation Ukrainischer Nationalisten-Melnik ÖVP Österreichische Volkspartei PASOK Panhellenische Sozialistische Allianz (Griechenland) PCI Partito Comunista Italiano PLO Palästinensische Befreiungsorganisation PNF Partito Nationale Fascista (Italien) POW Polnische Militärorganisation PPF Parti populaire français PPS Polnische Sozialistische Partei PSF Parti social français PSI Partito Socialista Italiano RK Reichskommissariat RKO Reichskommissariat Ostland RKU Reichskommissariat Ukraine RNP Rassemblement national populaire Russische Befreiungsarmee ROA RONA Russische Volksbefreiungsarmee RSHA Reichssicherheitshauptamt RSI Repubblica Sociale Italiana SA Sturmabteilung (der NSDAP) SD Sicherheitsdienst SD Sicherheitsdienst (der SS) Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs SDAPÖ SdP Sudetendeutsche Partei SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SFIO Section française d’Internationale des ouvriers SGAD Schweizerische Gesellschaft der Freunde einer autoritären Demokratie SIG Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund SLS Slowenische Volkspartei SN Nationalpartei (Polen)
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Abkürzungen
SNCF Société Nationale des Chemins de Fer Français SOE Special Executive Organisation (britische Sabotagetruppe) SP Sicherheitspolizei (Litauen) SPÖ Sozialistische Partei Österreichs SS Schutzstaffel SSS Svensk Socialistisk Samling SSV Südschleswigscher Verein SSW Südschleswigscher Wählerverband Stalag Stammlager (für Kriegsgefangene des Dritten Reiches) STO Service de travail obligatoire (Frankreich) SVP Slowakische Volkspartei TASS Telegrafnoje Agentstwo Sowjetskowo Sojusa (staatliche sowjetische Nachrichtenagentur) TDA Schutz der nationalen Arbeit (Litauen) UÇK Albanische Untergrundarmee (im Kosovo) UDF Demokratisches Forum (Ungarn) UDBA Verwaltung für Staatssicherheit (Jugoslawien) UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UGIF Union Générale des Israélites de France UNDO Ukrainische National-Demokratische Organisation UNK Ukrainisches Nationalkomitee UNO United Nations Organisation UPA Ukrainische Aufständische Armee US United States USA Unites States of America UVO Ukrainische Militärorganisation Volksbund (Schweiz) VB VdU Verband der Unabhängigen (Österreich) VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte VLIK Oberstes Komitee zur Befreiung Litauens VNV Flämischer Nationaler Verband Vomi Volksdeutsche Mittelstelle WA Weer Afdeeling (Niederlande) World Jewish Congress WJC Zbor Jugoslawische Volksbewegung (Serbien) ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ZfO Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung
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Namensregister Abetz, Otto 113, 114, 118, 121, 123, 128, 129, 139, 140, 147, 179, 634 Achcar, Gilbert 24 Adenauer, Konrad 19, 53–55, 223, 316, 360, 386, 387, 401, 414, 507, 540, 553 Adler, Victor 35 Adriansen, Inge 189, 220, 579, 642 Afflerbach, Holger 82, 152, 579, 608, 613 Alter, Peter 36, 579, 589 Altgayer, Branimir 498, 508 Altrichter, Helmut 279, 291, 513, 579, 588, 607, 609 Aly, Götz 438, 444, 565, 579, 560 Amouroux, Henri 112, 123, 128, 135, 579 Andics, Hellmut 36, 57, 579 Antonescu, Ion 461–470, 472–476, 555, 556, 581, 587, 607, 625, 646 Antonescu, Mihai 463, 464, 468, 472 Arad, Yitzhak 315, 580 Arājs, Viktor Bernhard 284–288, 292, 550, 585, 614, 636 Ardelt, Rudolf 64, 580 Arendt, Hannah 165, 207, 328, 442, 443, 468, 479, 481, 546, 564, 580 Árpád 431, 433, 440, 446, 451, 457 Asserate, Asfa-Wossen 84, 580, 638 Assmann, Aleida 25, 27–30, 281, 565–567, 571, 580, 604 Assmann, Jan 25, 27, 28, 565, 581 Axer, Christine 35, 61, 66, 581 Azéma, Jean-Pierre 134, 156, 581 Bachmann, Ingeborg 50, 581, 604, 624, 643 Bachmann, Klaus 178, 325, 345, 581 Badoglio, Pietro 76, 79, 80, 533 Bailer, Brigitte 53, 54, 581 Bajohr, Frank 559, 562, 566, 581, 624, 646 Balzli, Beat 98, 581 Bandera, Stepan 380–385, 388, 392, 400, 401, 403, 405, 553, 554, 560, 635 Barbie, Klaus 135, 136, 137, 154, 386, 545, 579, 603
Baruch, Marc-Olivier 110, 132, 134, 141, 143, 146, 148, 152, 582 Bath, Matthias 196, 198, 213, 217, 582 Bauer, Kurt 40 Bauer, Otto 35, 36, 40, 604 Bauerkämper, Arnd 19, 25, 28, 78, 129, 340, 372, 447, 567, 568, 582, 634 Beck, Birgit 356, 357, 582 Belev, Alexander 481, 482 Bellen, Alexander Van der 69, 70 Benbassa, Esther 106, 583 Benedikt XVI. 86, 429, 554 Beneš, Eduard 410, 411, 414, 415, 418, 419, 424–426, 429, 430, 615 Benz, Angelika 398, 583 Benz, Wolfgang 42, 302, 303, 456, 468, 474, 480, 483, 484, 579, 583, 608, 615, 625, 646 Bergem, Wolfgang 27 Berger, Peter 68, 583 Berger, Christoph Waldenegg 70, 85, 583, 613 Bergier, Jean-François 97, 98 Bergmann, Werner 31, 584 Berlekamp, Brigitte 16, 635 Berlusconi, Silvio 82, 83, 85, 544, 624 Bernadotte, Folke Graf 254, 255, 549, 604 Bernhard, Thomas 61 Besier, Gerhard 38, 39, 72, 73, 86, 273, 321, 415, 584 Best, Werner 113–115, 122, 125, 129, 201–209, 212, 214–217, 545, 547, 559, 585, 592, 606, 618, 623 Beyrau, Dietrich 150, 335, 444, 471, 503, 582, 614, 617, 642–644 Bibó, István 446, 452, 453, 584 Bismarck, Otto von 37, 353 Blatnik, Herbert 38 Blom, Hans 173, 175 Blum, Léon 105, 108, 109, 111, 113, 122, 127, 545, 585 Boer, Pim den 30, 585
656
Namensregister
Böhler, Jochen 328, 331, 385, 561, 581, 585, 593, 625, 626 Böhm, Karl 45 Böhm, Karl-Heinz 45 Bohn, Robert 16, 20, 194, 197, 201, 219, 223, 229, 234, 236, 240, 256, 258, 268, 276, 278, 285, 299, 302, 311, 560, 583, 585, 591, 606, 607, 613, 616–618, 621, 625, 627, 630, 632, 645, 647, 650, 652 Borgstedt, Angela 52, 586, 638 Boris III. 477–479, 482, 483, 556 Bormann, Martin 124, 383 Borodziej, Wlodzimierz 21, 336, 337, 346, 586, 602, 622 Bosl, Karl 12, 619 Botz, Gerhard 33, 40, 43, 44, 46–48, 63, 64, 67–70, 255, 543, 565, 580, 586, 587, 596, 599, 603, 622, 623, 628, 636, 637, 643, 650 Bousquet, René 127, 131–133, 135, 138, 140, 153 Boveri, Margret 11, 231, 232, 587 Bracher, Karl Dietrich 41, 559, 587, 628 Braham, Randolph 437, 453, 455, 468, 475, 587, 641 Brandt, Willy 161, 250, 326, 340, 345 Brasillach, Robert 128, 129, 181, 634, 653 Brechenmacher, Thomas 88 Breier, Zsuzsa 30 Brenner, Michael 52, 595 Breschnjew, Leonid 371, 372, 394 Briand, Aristide 107, 114 Broda, Christian 51 Broszat, Martin 173, 493, 608 Bruckmüller, Ernst 49, 67, 588 Brüggemann, Karsten 279–281, 588 Brumlik, Micha 315, 340, 344, 366, 475, 588, 605, 615, 645, 649 Brunner, Alois 44, 533 Brunner, Anton 44 Brunner, Karl 78 Bryld, Claus 212, 224, 259, 548, 588, 649 Buhl, Vilhelm 200, 202, 214, 221, 547 Burian, Peter 36, 49, 589 Burgermeister, Nicole 100, 589 Butterweck, Helmut 51 Calic, Marie-Janine 491, 496, 501, 520, 589
Camus, Albert 117, 129, 148 Canaris, Wilhelm 216, 383–385, 623 Cankov, Alexander 477–480, 482 Carol II. 459–462, 607 Cavour, Camillo 85 Ceaușescu, Nicolae 471, 473, 474, 602 Celmiņš, Gustav 283, 284, 289, 290 Cesarani, David 68, 565, 589 Chiari, Bernhard 332, 355, 358, 387, 589 Chirac, Jacques 105, 159, 546 Chmelnitzki, Bohdan 377 Christian X. 195–197, 200, 215, 217, 548 Chruschtschow, Nikita 356, 372, 373, 394 Churchill, Winston 24, 144, 149, 368, 418, 463, 464, 534, 535 Ciampi, Carlo Azeglio 85, 544 Cioran, Emil M. 460, 476, 590, 617 Clausen, Frits 190, 195, 197, 200–202, 212, 214, 560, 618 Clemenceau, Georges 36, 104, 135 Clinton, Bill 23, 97 Cocteau, Jean 118, 129 Codreanu, Corneliu Zelea 460–462, 465, 474, 476 Colin, Nicole 22, 175, 590, 599, 607, 645 Colloti, Enzo 76 Conze, Eckart 88, 140, 420, 591 Cornelißen, Christoph 25–27, 31, 82–85, 152, 194, 217, 223, 229, 234, 240, 258, 268, 405, 415, 565–567, 573, 579, 582, 586, 587, 589, 591, 597, 606–608, 613, 618, 621, 623, 627, 640, 647, 650, 652 Cossiga, Francesco 85 Croce, Benedetto 71, 80 Cuza, Alexandru 460, 465 Cyrus, Inge 60 Daladier, Edouard 109, 110, 127 Dalos, György 431, 438, 458, 592 Danker, Uwe 192, 222, 258, 278, 285, 302, 311, 583, 585, 592, 616, 618, 625 Dannecker, Theodor 131, 133, 138, 481 Darlan, François 124, 126, 141 Darnand, Joseph 135, 136, 140, 142, 147, 148 Déat, Marcel 122–124, 127, 135, 136, 142, 147, 148, 560, 587
Namensregister
De Brinon, Fernand 146, 147 De Clercq, Staf 178–180, 182, 547 De Felice, Renzo 82, 84, 596 De Gasperi, Alcide 80, 85 De Gaulle, Charles 107, 129, 134, 136, 143–146, 148, 152, 155–158, 362, 545, 584, 612, 640 Degrelle, Léon 177–182, 547, 560 Deloncle, Eugen 123, 124, 126 d`Estaing, Giscard 143, 144, 157 Demjanjuk, Iwan 395–399, 583, 598, 609, 646, 649 Destouche, Louis Ferdinand, genannt Céline 118–120, 147, 589 Dickinger, Christian 36, 43, 47, 61, 593 Dieckmann, Christoph 21, 22, 30, 275, 299, 302–305, 307, 309, 310, 336, 363, 365, 382, 389, 416, 444, 465, 590, 593, 598, 601, 605, 630, Dietrich, Sepp 47 Dimitrov, Georgi 477, 480, 482 Dmowski, Roman 319–321, 344 Dollfuß, Engelbert 39–41, 582, 637, 644, 650 Doorslaer, Rudi van 182, 593, 641, 652 Doriot, Jacques 108, 118, 123, 124, 127–129, 131, 135, 142, 147, 148, 545, 560 Drexler, Martina 56 Dreyfus, Alfred 103–107, 137, 545, 583, 585, 594, 601, 604, 615, 619, 639, 650 Drolshagen, Ebba D. 116, 152, 169, 239 Drumont, Edouard 106, 130, 545 Duckwitz, Georg F. 206 Dunk, Hermann van der 167, 173, 594 Echternkamp, Jörg 187, 362, 504, 594, 597, 612 Eichmann, Adolf 60, 68, 131, 132, 134, 165, 166, 174, 207, 316, 328, 420, 437, 441–443, 468, 481, 482, 533, 543, 555, 564, 580, 589 Eizenstat, Stuart W. 97, 257 Eliade, Mircea 460, 476, 617 Elvert, Jürgen 70, 256, 583, 585, 586, 595, 645 Engel, Ulf 28 Engelking, Barbara 331, 339, 341, 344, 346, 595, 653
657
Ennker, Benno 40, 273, 297, 321, 422, 493, 510, 593, 595, 606, 615, 625, 634, 644, 654 Erdmann, Karl Dietrich 34, 35, 40, 62–64, 543, 568, 580, 595, 612, 643 Erker, Linda 52 Erlander, Tage 243 Ezergailis, Andrievs 291, 293, 595 Faulenbach, Bernd 156, 454, 595, 630, 641 Faulhaber, Theodor 58–60, 424, 612, 639, 643 Fellner, Fritz 63, 64, 69, 580, 596 Filov, Bogdan 478–480, 482 Fischer, Ernst 48 Fischer, Heinz 67, 543 Fischer, Joschka 63, 64, 484, 556, 573, 596 Fleischer, Hagen 530, 531, 534–536, 538, 540, 596 Focardi, Filippo 82, 504, 597 Förster, Jürgen 75, 625, 640 Franco, Francisco 23, 155, 180, 385 François, Etienne 346, 404, 568, 570, 571, 597, 617, 622, 624, 637, 643, 647 Frank, Anne 165, 174 Frank, Hans 334, 345, 401 Frank, Karl Hermann 416–419, 597 Frank, Michal 420, 423, 428, 589, 597, 633 Frantz, Konstantin 58 Frashëri, Mehdi Bey 524–527 Frech, Siegfried 52, 586, 638 Frei, Norbert 30, 44, 56, 88, 98, 135, 510, 562, 588, 591, 609, 614, 630, 636 Freisler, Roland 44 Freud, Siegmund 38, 43, 49, 454 Friedländer, Saul 43, 87–89, 100, 109, 130, 165, 254, 326, 333, 395, 420, 439, 440, 465, 533, 553, 564, 598 Friedrich, Klaus-Peter 325, 336, 337, 598, 605, 606 Fritz, Regina 60, 293, 441, 447, 456, 457, 598, 607 Fröhlich, Claudia 456 ,569, 598, 616, 638, 640 Frölich, Margrit 569, 599, 638 Gajda, Radola 410, 414, 424 Gamillscheg, Hannes 258, 259, 599
658
Namensregister
Garscha, Winfried R. 33, 40, 51, 55, 447, 599, 617, 637, 644 Gaunt, David 16, 276, 286, 303, 388, 585, 592, 600, 623, 636, 644, 654 Gautschi, Peter 97, 644 Gehler, Michael 41, 44, 51, 58, 62, 67, 569, 594, 600, 610, 619, 649 Gehmacher, Johanna 44, 600 Genscher, Hans-Dietrich 516, 539 Gentile, Giovanni 72 Georg II. 529–532, 535 Gerbel, Christian 55, 600, 647 Gerlach, Christian 20, 438, 444, 564, 600 Gerstl, Alfred 69 Giesbert, Franz-Olivier 126, 127, 131, 601 Gilzmer, Mechthild 82, 136, 167, 594, 601, 623 Giordano, Ralph 70, 299, 300, 303, 313, 601 Glass, Hildrun 395, 468, 473, 601, 605 Gleispach, Wenzeslaus 44 Globke, Hans 18 Globočnik, Odilo 44, 68 Goebbels, Joseph 16, 115, 118, 128, 162, 177, 191, 232, 321, Goethe, Johann Wolfgang 11 Göring, Hermann 16, 162, 192, 215, 216, 246, 252, 270, 353, 433, 623 Golczewski, Frank 381, 382, 388, 392, 396, 399, 404, 405, 601 Gorbatschow, Michail 268, 312, 323, 372, 373, 394, 553 Graf, Maximilian 54 Graml, Hermann 42, 63, 73, 93, 106, 165, 208, 234, 270, 439, 465, 473, 538, 589, 596, 601, 602, 605, 607, 608, 615, 617, 625, 641, 649, 650 Gramsci, Antonio 80 Greiner, Bernd 23 Grimnes, Ole Kristian 229, 253, 602 Gross, Jan Tomasz 21, 327, 331, 339, 341–343, 602 Gross, Walter 56 Großbölting, Thomas 376, 474, 510, 517, 596, 602, 609, 612, 633
Grüninger, Paul 91 Gruner, Wolf 45, 423, 603 Grundtvig, Nikolai F. 189, 194, 197, 205, 243 Gudehus, Christian 46 Guerrazzi, Amedeo Osti 73, 89, 504, 603, 613 Gustav V. 246, 247, 439, 549 Gustloff, Wilhelm 92 Haakon VII. 227, 228, 236 Haas, Hanns 67 Habsburg, Otto von 41, 451 Hácha, Emil 336, 411, 412, 415, 416, 418, 419, 423, 424, 426, 552, 554 Hahn, Hans-Henning 331, 345, 346, 603, 623, 643, 646 Haider, Jörg 65–67, 544, 592, 603, 637 Halbwachs, Maurice 25, 27, 28, 565, 566, 603 Hallama, Peter 423, 428, 454, 595, 603 Hammerstein, Katrin 26, 60, 67, 293, 591, 599, 604, 605 Hamsun, Knut 231–233, 246, 611 Handke, Peter 61, 503, 606 Hanisch, Ernst 35, 44, 68, 604, 645 Hansson, Per Albin 243, 244, 246–251, 253, 255, 257, 549 Harpprecht, Klaus 116, 128, 142, 604 Hartman, Geoffrey 29 Hartwig, Ina 50, 604 Hauer, Nadine 55 Hauff, Lisa 44 Hausleitner, Mariana 421, 465, 470, 473, 475, 480, 481, 581, 601, 605, 606, 647 Havel, Václav 429, 554 Hayes, Peter 88, 591, 605 Hedin, Sven 245 Hedtoft, Hans 206 Heer, Friedrich 69, 605 Heijden, Chris van der 175, 176, 599, 605 Heim, Susanne 421, 465, 480, 605 Heinen, Armin 462, 466, 468, 606, 609 Hein-Kircher, Heidi 40, 273, 297, 321, 422, 493, 510, 593, 595, 606, 615, 625, 634, 644, 654 Heitmeyer, Wilhelm 31, 584, 606
Namensregister
Henke, Klaus-Dietmar 50, 79, 153, 169, 237, 449, 507, 606, 618, 635, 636, 643, 645, 648, 652 Henlein, Konrad 411, 414 Herbert, Ulrich 113, 114, 201, 203, 205– 208, 216, 606 Herzl, Theodor 38, 106, 639 Heß, Rudolf 94 Heydrich, Reinhard 114, 129, 131, 200, 215, 216, 276, 416, 418, 419, 425, 502, 503, 582, 599, 601, 623 Hilberg, Raul 22, 23, 316, 481, 606, 642 Himmler, Heinrich 16, 45, 94, 95, 133, 147, 149, 162, 164, 173, 180, 194, 198, 200, 203, 215, 216, 254, 265, 277, 278, 289, 305, 323, 325, 330, 334, 364, 365, 390, 414, 468, 503, 526, 623 Hirsch, Helga 331, 338, 339, 341, 344, 346, 402, 595, 607, 614, 653 Hirschfeld, Gerhard 12, 22, 112, 117, 119, 129, 137, 141, 158, 168, 169, 554, 563, 607, 611–613, 617, 627, 635, 651, 653 Hitler, Adolf 15–17, 19–21, 38–43, 46, 50, 54, 68, 70, 73–77, 82, 85, 86, 91, 99, 100, 109, 113, 115, 117, 121–123, 125, 127, 128, 133, 135, 140–143, 145–147, 155, 161–164, 170, 177–180, 182, 183, 186, 196–198, 200, 201, 203, 204, 206, 208–210, 215, 216, 222, 225, 228, 232, 237, 239, 241, 244, 246–248, 250–252, 263, 264, 266, 267, 273.275, 278, 279, 281, 284, 297–299, 308, 312, 320–324, 330, 333, 334, 340, 341, 345, 350–354, 356, 357, 359–366, 368, 382–387, 389, 391, 392, 399–401, 410–413, 415–422, 433, 435, 436, 438–440, 445, 458, 461–464, 470, 478, 479, 481, 482, 490–493, 496–498, 500–503, 505, 526, 530, 531, 536–539, 544–548, 551, 553, 554, 556, 558–560, 562, 564, 570, 582, 584, 589, 593, 602, 605–607, 609, 610, 612, 613, 615, 621, 623–628, 631, 633, 634, 636, 638, 642, 645, 650 Hlinka, Andrej 409–413, 417, 420, 421 Höbelt, Lothar 41, 67, 607 Hochhuth, Rolf 86
659
Hoensch, Jörg K. 413, 416, 419, 587, 607 Hofer, Andreas 78 Hofer, Norbert 65 Hofer, Peter 78 Hofmann, Birgit 60, 67, 281, 292, 456, 475, 513, 598, 603, 607, 619, 632, 650 Hofmannsthal, Hugo von 33 Holec, Roman 26, 415 Hörbiger, Christiane 45 Horthy, Miklos von 432–440, 442, 445, 447–449, 451, 452, 455, 458, 554, 614, 642 Hoxha, Enver 527 Hürter, Johannes 305, 395, 399, 593, 608, 631 Hüser, Dietmar 152, 156, 608 Hutzelmann, Barbara 421, 465, 480, 606, 608 Imhof, Marcus 97 Izetbegović, Alija 515, 517 Jabloner, Clemens 55 Jäckel, Eberhard 135, 333, 603, 609 Jäger, Karl 302, 303, 312, 313, 316 Jakobsen, Frode 197, 210, 217 Jaksch, Wenzel 411 James, Harold 98, 99 Janukowitsch, Viktor 403, 405, 406 Jarausch, Konrad 30 Jeckeln, Friedrich 277, 278, 305 Jelich, Franz-Josef 156, 454, 595, 630, 641 Jelinek, Elfriede 66 Jelzin, Boris 371, 373, 403 Jobst, Kerstin 379, 402, 494, 609 Johannes Paul II. 88, 508 Judt, Tony 24, 48, 476, 563, 566, 610 Jünger, Ernst 114, 125, 152, 610 Juschtschenko, Viktor 403, 405 Kaczyński, Jaroslaw 344 Kádár, János 448, 450, 455, Kaiser, Wolfram 305, 358, 569, 589, 593, 610, 616, 633 Kaltenbrunner, Ernst 44, 68, 166, 334, 468 Kamil, Omar 24 Kappeler, Andreas 379, 381, 403, 405, 611 Kappler, Herbert 87 Karadjordjewitsch, Alexander II. 487, 488, 491, 498
660
Namensregister
Karajan, Herbert von 45, 117 Karski, Jan 326, 345, 611, 612 Kasztner, Rezső (Rudolf) 328, 332, 442, 443, 551, 620, 635 Kekkonen, Urho Kaleva 262, 268, 269, 550 Kellmann, Klaus 47, 62, 77, 80, 91, 125, 127, 189, 205, 221, 248, 349, 351, 354, 376, 379, 394, 611 Kelsen, Hans 36 Kertész, Imre 440, 441, 454, 457, 625 Khol, Andreas 58–60, 629, 639, 643 Kirchhoff, Hans 197, 208, 224, 613 Kirchschläger, Rudolf 47, 57, 59 Kissel, Wolfgang 29 Kissinger, Henry 50 Klarsfeld, Arno 134, 138, 545, 613 Klarsfeld, Serge 120, 132, 138, 139, 613 Klaus, Josef 46, 56 Klestil, Thomas 36, 43, 47, 61, 66, 593 Kliems, Alfrun 30 Klinkhammer, Lutz 26, 27, 73, 82, 84, 85, 89, 589, 591, 613, 623, 652 Knigge, Volkhard 30, 44, 56, 510, 568, 609, 614, 630, 636, 648 Knight, Robert 53, 54 Knoller, Rasso 238, 248, 271, 614 Koch, Erich 356, 383, 387–390, 558 Kochanowski, Jerzy 320, 329, 335, 346, 434, 470, 614, 646 Köhr, Katja 220, 241, 455, 565, 614, 647 König, Helmut 26, 30, 567, 615 Königseder, Angelika 42, 63, 73, 93, 106, 165, 167, 208, 234, 270, 439, 465, 473, 538, 579, 589, 596, 601, 602, 605, 607, 608, 615, 617, 625, 641, 649, 650 Kohl, Helmut 516, 539 Kohser-Spohn, Christiane 151, 614 Kończal, Kornelia 404, 597 Koop, Volker 24, 98, 615 Kosmala, Beate 339, 615 Kotowski, Elke-Vera 104, 314, 615, 654 Kovács, Eva 450, 451, 453–455, 616, 641 Kratzenberg, Damian 186 Kreisky, Bruno 54, 56, 57, 391, 630 Kreissler, Felix 70, 599 Kremp, Herbert 68
Kristensen, Henrik Skov 200, 209, 210, 220, 620, 640, 642 Kroh, Jens 29, 30, 258, 616 Krzymianowska, Justyna 31, 608 Kühlwein, Klaus 86 Kuretsidis-Haider, Claudia 55, 57, 447, 603, 617, 621, 644 Kvaternik, Slavko 492, 497 Laak, Dirk von 98, 135, 598, 609, 636 Lademacher, Horst 168, 175, 585, 595 Lagerlöf, Selma 246 Lammers, Karl Christian 194, 195, 201, 208, 217, 223, 225, 229, 234, 240, 258, 268, 586, 591, 606, 607, 618, 621, 627, 647, 650 Landbauer, Udo 70 Lang, Anne 280, 405, 572, 618 Lanzmann, Claude 44, 159, 592, 618 La Rochelle, Pierre Drieu 118, 128 Larsen, Dennis 199, 219, 618 Laval, Pierre 113, 121–124, 127, 128, 132, 133, 135, 136, 141, 143, 146, 155, 560, 597 Leggewie, Claus 280, 405, 571, 572, 618 Lehmann, Sebastian 278, 285, 302, 311, 583, 585, 616, 618, 625 Lehngut, Cornelius 60, 61, 619 Lehnstaedt, Stephan 324, 331, 385, 585, 626, 635 Leidinger, Hannes 34, 35, 54, 66, 67, 619 Lemberg, Hans 12, 411, 416, 587, 607, 619 Lenin, Wladimir Iljitsch 261, 273, 283, 330, 349, 406 Lenz, Claudia 234, 236, 238, 240, 254, 256, 584, 619 Levine, Paul A. 16, 248, 257, 258, 276, 286, 303, 388, 585, 588, 592, 600, 619, 623, 636, 644, 654 Levy, Daniel 29, 565, 619 Lie, Jonas 229 Liebert, Ulrike 29, 568, 613, 619 Lileikis, Aleksandras 301, 313, 315 Lindgren, Astrid 247, 620 Lindholm, Sven Olof 243, 244, 247, 250 Lingen, Kerstin von 28, 51, 82, 175, 186, 218, 241, 258, 371, 427, 445, 513, 607, 608, 613, 620–623, 632, 636, 642, 651 Littlejohn, David 11, 620
Namensregister
Livi, Massimiliano 38, 626 Loetz, Francisca 85, 613 Löw, Andrea 327, 328, 562, 566, 581, 635, 646, 653 Löw, Raimund 44, 621 Logothetópoulos, Konstantinos 532, 533, 536 Lohse, Hinrich 277, 356, 558 Loitfellner, Sabine 50, 56, 70, 621 Loose, Ingo 395, 421, 444, 470, 561, 605, 606, 608, 623, 627, 629, 631, 646, 649 Lorenz, Konrad 42 Loyola, Ignatius von 39 Lubowitz, Frank 195, 219, 220, 618, 621 Ludwig, Carl 97 Lueger, Karl 34, 38 Lustiger, Arno 167, 368, 602, 621 Lutz, Heinrich 64, 67, 596, 621 Lylloff, Kirsten 211, 212 Lyttelton, Adrian 72, 622 Macek, Vladko 491, 492, 556 Mach, Alexander 409, 412, 414, 416–418, 420, 421, 424 Madajczyk, Czeslaw 323–325, 334, 335, 345, 622 Mäe, Hjalmar 274, 275, 279, 622 Mak, Geert 161, 163, 171, 622 Mahler, Gustav 38 Mählert, Ulrich 26, 568, 604, 648 Maissen, Thomas 96, 98, 253, 622 Maleta, Alfred 52 Malle, Louis 157, 158 Mallmann, Klaus-Michael 23, 300, 398, 622, 629, 642 Mandl, Maria 44 Mannerheim, Carl Gustaf Freiherr von 261, 264–267, 549 Manoschek, Walter 44, 46, 48, 54 Mantelli, Bruno 82, 85, 623 Markova, Ina 52 Marsh, Patrick 22, 112, 117, 119, 129, 137, 141, 158, 607, 611–613, 617, 627, 651, 653 Martens, Stefan 187, 504, 594, 597, 612, 653 Marx, Karl 71 Masaryk, Tomáš Garrigue 409, 410, 427 Masepa, Iwan 377
661
Matlok, Siegfried 201, 216, 217, 219, 623 Mattioli, Aram 83, 84, 93, 504, 580, 624, 638 Mattl, Siegfried 255, 441, 452, 598, 623, 632 Matzner-Holzer, Gabriele 68, 624 Maur, Wolf in der 96, 624 Maurras, Charles 106–110, 112, 129, 177, 545 Mazower, Mark 91, 99, 118, 142, 362, 365, 466, 468, 496, 536, 537, 624 Meier, Christian 26, 624 Meinen, Insa 116, 181, 624 Meisinger, Agnes 54 Melnik, Andrij 380–383, 385, 387, 388, 400, 401, 553 Menasse, Eva 65, 624 Menasse, Robert 70, 624 Mesic, Stjepan 518, 519, 557 Mesner, Maria 54 Metaxas, Ioannis 530, 532, 533, 590, 642 Mihai I. 461, 464, 472 Mihajlović, Dragoslav 499–502, 505, 510 Mihok, Brigitte 443, 452, 454–456, 466, 468, 473–475, 579, 581, 583, 587, 601, 605, 625, 626, 646, 648 Milošević, Slobodan 511, 512, 515–517, 557, 584 Mitterrand, François 63, 64, 66, 126, 127, 131, 134, 148, 157, 159, 545, 546, 601, 612, 629 Mlynarczyk, Jacek Andrzej 321, 327, 328, 343, 396, 400, 581, 610, 625, 626 Modiano, Patrick 142, 158 Møller, Christmas 196, 202, 210, 217 Möller, Horst 107, 363, 374, 586, 605, 626, 627, 637, 640 Möller, Jens 191, 200 Moisel, Claudia 29, 31, 182, 456, 588, 594, 599, 616, 638 Molotow, Wjatscheslaw 322, 354 Mommsen, Wolfgang J. 36, 579, 589 Montanelli, Indro 84 Moravec, Emanuel 410, 414, 418, 419, 423, 424 Moritz, Verena 34, 35, 54, 66, 67 Morré, Jörg 303, 357, 366, 404, 593, 601, 627, 632, 644
662
Namensregister
Moser, Karin 34, 35, 54, 66, 67 Motadel, David 24 Moulin, Jean 136, 146, 157 Mueller, Wolfgang 55, 644 Müller, Klaus-Jürgen 107, 627 Müller, Rolf-Dieter 20, 23, 74, 199, 278, 436, 625, 627 Mühlhäuser, Regina 356, 357, 626 Munk, Kaj 208 Murmelstein, Benjamin 44, 605 Muschg, Adolf 30 Mussert, Anton 161–165, 168, 170, 175, 546, 547, 560, 617 Mussolini, Alexandra 83 Mussolini, Benito 40, 71–89, 107, 108, 123, 162, 177, 262, 296, 350, 385, 411, 479, 490–492, 497, 503, 506, 523, 524, 530, 544, 589, 596, 613, 624, 638 Nagy, Imre 446, 449–451, 453 Naimark, Norman 355, 368, 425, 627 Nansen, Fridtjof 227 Nasko, Siegfried 36 Nedić, Milan 498–501, 505, 556, 634 Neitzel, Sönke 46, 560, 561, 600, 627, 650 Nettelbeck, Colin 120, 158, 627 Neubacher, Hermann 462, 502, 525, 526 Neugebauer, Wolfgang 44, 645 Neulen, Hans-Werner 19, 499, 559, 564, 628 Nietzsche, Friedrich 71 Nikžentaitis, Alvydas 296, 314, 628 Nipperdey, Thomas 36, 64, 579, 589, 628 Nolde, Emil 191–193, 592, 609, 610, 615, 617, 634 Nollendorfs, Valters 291–293, 628 Oberg, Karl Albrecht 129, 131–133 Oberländer, Erwin 292, 296, 414, 435, 460, 478, 489, 499, 524, 530, 590, 621–623, 627, 628, 631, 634, 641, 642 Oberländer, Theodor 360, 383–386, 393, 553, 648 Østergaard, Uffe 29 Ofner, Günther 58–60, 639, 643 Olschowsky, Burkhard 151, 335, 395, 421, 444, 470, 507, 561, 582, 590, 605, 608, 610, 623, 627, 629, 631, 646, 649 Orbán, Viktor 451–455, 457, 458, 555
Osterloh, Jörg 45 Pacelli, Eugenio 85–87, 89 Päts, Konstantin 273, 274 Palme, Olof 243 Palosuo, Laura 16, 276, 286, 303, 388, 585, 592, 600, 623, 636, 644, 654 Panzenböck, Ernst 36, 629 Papandreou, Andreas 536, 538 Papandreou, Georgios 535 Pape, Matthias 629 Papon, Maurice 133, 134, 137, 138, 144, 154, 613, 636, 647 Pašić, Nikola 487, 489 Passerini, Luisa 28 Paul VI. 57 Paul, Gerhard 287, 300, 392, 629, 631, 642 Paulsen, Friedrich 189, 205, 612 Pavelić, Ante 16, 385, 490–498, 502, 505, 506, 513–515, 556, 557, 560, 593 Pavone, Claudio 85 Pelinka, Anton 36, 41, 45, 48, 53, 62, 624, 629, 632 Penter, Tanja 389, 402, 630 Persson, Göran 29, 257–259 Peschev, Dimitar 482, 485, 628 Pešek, Jiří 26, 415, 587, 591 Pétain, Henri Philippe 15, 16, 110–113, 118, 121–124, 126, 127, 130, 136, 138, 141–148, 155, 156, 545, 597 Peter der Große 375, 377 Peter II. 492, 499, 501 Peter, Friedrich 53, 56, 59 Petersen, Jens 78, 82, 84 Petrick, Fritz 198, 229, 630 Pfeil, Ulrich 155, 630 Pilsudski, Józef 273, 319–322, 334, 350, 379, 434, 614 Pius XI. 38, 86, 87 Pius XII. 38, 86–89, 109, 422, 424, 439, 495, 591, 598, 612, 613, 617 Pohl, Dieter 140, 356, 357, 392, 394, 399, 400, 605, 631 Poincaré, Alain 107 Pompidou, Georges 137, 144, 157, 545 Poppetrov, Nikolaj 478, 480, 631 Poroschenko, Petro 406
Namensregister
Putin, Wladimir 280, 323, 373, 375, 376, 406 Quinkert, Babette 22, 31, 275, 303, 336, 357, 363, 366, 382, 389, 404, 416, 444, 465, 590, 593, 598, 601, 605, 627, 630, 632, 643, 644, 646, Quisling, Vidkun 13, 16, 180, 227–233, 235, 237, 267, 299, 323–325, 335, 336, 346, 365, 419, 513, 530, 532, 548, 550–552, 557, 560, 598 Rabinovici, Doron 44 Radić, Stjepan 489, 491, 556 Radonic, Ljiljana 455, 513, 514, 518, 632 Radowitz, Sven 251, 252, 255, 632 Rahn, Rudolf 76 Rákosi, Mátyás 448–450, 452, 454 Rallis, Ioannis 532, 534–536, 539, 557, 558 Ranković, Alexander 509 Rathenau, Walther 86 Rathkolb, Oliver 45, 47, 52, 258, 270, 280, 311, 588, 611, 630, 632, 634, 635 Ratti, Achille 86 Rauchensteiner, Manfried 41, 632 Rebas, Hain 256, 276, 586, 632 Rebatet, Lucien 147, 181 Reichelt, Katrin 285, 287, 288, 632 Reich-Ranicki, Marcel 327,633 Reinhardt, Max 38 Reinhardt, Volker 91, 633 Reinthaller, Anton 53 Reiter-Zatloukal, Ilse 40, 42, 595, 634 Renner, Karl 35, 36, 37, 43, 44, 47–49, 61, 589, 593, 627, 637 Renthe-Fink, Cécil von 143, 198, 200 Ribbentrop, Joachim von 18, 114, 128, 216, 230, 266, 267, 274, 275, 352, 353, 416, 417, 479, 623 Richter, Klaus 296–298, 313, 634, 645 Riedweg, Franz 94, 95 Riegner, Gerhart 99 Rings, Werner 17 Rocque, François de la 107–109 Rød, Knut 233, 234, 241 Röger, Maren 324, 325, 356, 357, 635 Röhr, Werner 16–18, 20, 22, 76, 197, 265, 274, 284, 304, 306, 323, 357, 365, 381,
663
416, 496, 504, 524, 530, 534, 561, 562, 564, 586, 590, 596, 597, 605, 611, 613, 618, 621, 622, 630, 635, 644, 646, 648, 649, 651 Rommel, Erwin 23 Roosevelt, Franklin Delano 144, 332, 368, 439, 463 Rosenberg, Alfred 17, 246, 277, 356, 357, 360, 362, 363, 384, 385, 490, 558, 559, 624 Rößner, Susan 30 Rossolinski-Liebe, Grzegorz 129, 404, 582, 599, 634, 635 Rousso, Henri 112, 134–136, 138, 145, 148, 153, 154, 156, 159, 160, 590, 636 Ruchniewicz, Krzysztof 342, 344, 584, 636 Rumkowski, Chaim Mordechai 327, 328, 581631 Rumpler, Helmut 63, 64, 69, 503, 596, 621, 636 Ryti, Risto 263, 265–270, 550 Saage, Richard 36 Sabrow, Martin 30, 637 Sacharow, Andrej 373, 379 Salewski, Michael 62, 256, 363, 561, 586, 612, 627, 637 Sartre, Jean-Paul 117, 120, 148, 153 Sauerland, Carol 315, 340, 343, 344, 366, 475, 588, 605, 615, 637, 645, 649 Scavenius, Erik 196, 198, 200–203, 214, 217, 218, 547, 548 Schärf, Adolf 56, 69, 637 Schafranek, Hans 38, 40 Schalburg, Christian Frederik von 190, 199, 204, 208, 563 Scheptynzkyj, Andrej 87, 380, 385 Scherrer, Jutta 371, 372, 404, 637 Schieder, Theodor 36, 383, 579, 589 Schieder, Wolfgang 73, 76, 84, 638 Schindel, Robert 60 Schirach, Baldur von 128, 192 Schivkov, Todor 483, 485, 556 Schlaber, Gerret Liebing 211, 226, 638 Schlemmer, Thomas 73, 74, 89, 573, 613, 638 Schlichting, Franz-Josef 568, 648 Schmale, Wolfgang 30, 571, 638
664
Namensregister
Schmid, Georg G. 63, 596 Schmid, Harald 24, 25, 27, 28, 31, 52, 55, 70, 156, 234, 456, 565, 566, 569, 581, 583, 599, 616, 618, 631, 633, 638, 640, 651 Schmid, Julia 30, 38, 567, 615, 639 Schmidl, Erwin A. 43, 639 Schmidt, Daniel 38 Schmidt, Helmut 406, 471 Schmidt-Wodder, Johannes 189–191, 194, 219, 608 Schmitt-Egner, Peter 30, 639 Schnitzler, Arthur 38 Schoeps, Julius H. 106, 314, 333, 603, 615, 639, 654 Schollum, Esther 59 Schreiber, Gerhard 74, 640 Schulze Wessel, Martin 346, 405, 412, 616, 622, 628, 640 Schuschnigg, Kurt 40–44, 57, 637, 650 Schüssel, Wolfgang 64, 66 Schwartzkoppen, Max von 103 Schwarzkopf, Elisabeth 45 Schweitzer, Eva 23, 640 Schwelling, Birgit 568, 569, 599, 616, 640 Schwentker, Wolfgang 26, 27, 84, 85, 589, 591, 613, 623, 652 Sebastian, Mihai 460, 476, 640 Seewann, Gerhard, 446, 450, 451, 453–455, 616, 652 Segev, Tom 56, 391, 443, 641 Seidler, Franz 93, 94, 129, 155, 162, 180, 232, 422, 641 Seipel, Ignaz 38 Seyß-Inquart, Arthur 41, 53, 163–166, 546, 614 Shevtsova, Lilia 371, 641 Sicking, Manfred30, 567, 615 Siebenhaar, Hans-Peter 68 Siedler, Reinhard 44, 54 Siepmann, Marcel 29, 568, 570 Sikorski, Władysław 323, 324, 326, 332, 333 Sima, Horia 461, 462, 471 Singer, Israel 59 Sinowatz, Fredl 57, 59, 60 Skalnik, Kurt 48
Skanderbeg 523—527 Škirpa, Kazys 298, 299, 310 Skodvin, Magne 240 Smetona, Antanas 295–297, 299, 634 Smith, Bradley F. 47 Snyder, Timothy 36, 37, 286, 332, 366, 642, 653 Sooman, Imbi 258, 270, 280, 311, 588, 611, 630, 633, 634, 645 Sorel, Georges 71, 105 Sottopietra, Doris 56, 642 Spannenberger, Norbert 444–446, 642 Speidel, Hans 113, 120 Spinelli, Barbara 65 Sprengnagel, Gerald 33, 40, 44, 47, 63, 64, 67, 69, 580, 586, 587, 596, 599, 603, 622, 628, 636, 637, 643, 650 Stahlecker, Walter 285, 286, 288, 303, 305 Stalin, Josef 46, 47, 119, 145, 250, 252, 254, 262–264, 266, 267, 273, 291, 296–298, 312, 321–323, 333, 338, 349–356, 358, 362–376, 380–382, 384, 393, 400, 425, 449, 461, 463, 464, 470, 480, 491, 501, 502, 527, 535, 552, 570, 589, 590, 592, 596, 610, 612, 615, 625, 626, 627, 630, 642, 650 Starčević, Ante 488, 490, 494, 495 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 47, 360–363 Stauning, Thorvald 190, 194–196, 200 Stein, Edith 87 Steindorff, Ludwig 516, 520, 643 Steininger, Rolf 37, 41, 595, 600, 643, 649 Steinweg, Rainer 652 Steinweis, Alan E. 573, 638, 643 Stepinac, Alojzije 87, 495, 508 Stetzko, Jaroslaw 380–382, 385, 394, 400, 401 Stiefel, Dieter 50, 51 Stolle, Michael 52, 586, 638 Stolleis, Michael 98, 135, 598, 609, 636 Stoltenberg, Gerhard 62, 612 Stourzh, Gerald 33, 40, 54, 55, 63, 64, 643, 644 Stræde, Therkel 207, 218, 224, 643 Strnad, Maximilian 52, 595
Namensregister
Stülpnagel, Carl-Heinrich von 126, 140 Stülpnagel, Otto von 113, 120, 121, 123, 125, 129, Stuhlpfarrer, Karl 44, 63, 644 Sundhaussen, Holm 484, 490, 492, 495, 496, 499, 506, 508, 510, 511, 514, 520, 608, 644 Suppan, Arnold 55, 503, 636, 639, 644 Suppanz, Werner 40, 644 Szálasi, Ferenc 434, 436–438, 440, 441, 443, 444, 447–450, 455, 554, 555 Szarota, Tomasz, 331, 346, 593, 644 Sznaider, Natan 29, 565, 619, 645 Tálos, Emmerich 40, 44, 46, 51, 54, 599, 600, 623, 641, 645 Tamm, Ditlev 216, 225, 645 Tanner, Jakob 93, 97–99, 645 Tanner, Vainö 266–268, 270, 550 Tauber, Joachim 11, 16, 285, 300, 301, 304, 305, 309, 312–315, 320, 328, 336, 337, 346, 355, 364, 395, 415, 563, 582, 586–588, 592, 593, 598, 601, 606, 607, 614, 618, 622, 635, 640, 644–647, 653 Teleki, Pal 433–435, 437 Tell, Wilhelm 92 Terboven, Josef 228–230, 232, 237, 549 Thijs, Krijn 30, 175 Tiso, Jozef 409–418, 420–424, 427–430, 554, 602, 615, 649 Tito, Josip Broz 489, 500–510, 512, 513, 521, 557, 584, 630, 633, 641, 654 Tönsmeyer, Tatjana 13, 22, 31, 275, 303, 336, 363, 382, 389, 416, 422, 423, 428, 429, 4454, 465, 561, 562, 590, 593, 598, 601, 605, 630, 646 Togliatti, Palmiro 80, 81 Toleikis, Vytautas 314 Tonningen, Rost van 162, 168 Touvier, Paul 135, 137, 138, 154 Traba, Robert 331, 335, 337, 345, 346, 404, 597, 603, 623, 629, 643, 646 Trappe, Julie 26, 60, 475, 604, 607, 646 Traverso, Enzo 83, 647 Troebst, Stefan 322, 344, 404, 481, 483, 484, 568, 571, 597, 606, 610, 636, 647 Truffaut, François 158, 159
665
Truska, Liudas 309, 311–313, 647 Tschadek, Otto 56 Tschubarjan, Aleksandr 363, 374, 586, 625, 637, 640, 652 Tsolákoglou, Georgios 530, 531, 533, 535 Tudjman, Franjo 512–519, 557, 638 Tuka, Voijtech 409, 410, 412, 413, 416–418, 420, 422, 424 Tusk, Donald 335, 344 Ueberschär, Gerd R. 362, 514, 625, 644, 650 Uhl, Heidemarie 55, 62, 68, 454, 632, 647 Ullrich, Volker 32, 647 Ulmanis, Guntis 290, 293 Ulmanis, Kärlis 283–285 Uyl, Joop den 161 Vallat, Xavier 121, 131 Veesenmayer, Edmund 436, 437 Venizelos, Eleftherios 529, 530, 533 Vestermanis, Margers 286, 290, 293, 648 Vittorio Emanuele III. 75, 524 Vocelka, Karl 39 Voldemaras, Augustinas 296 Vranitzky, Franz 65, 66, 543 Wagner, Leopold 65 Waldheim, Kurt 33, 57–62, 64, 66, 68, 543, 586, 587, 592, 600, 612, 619, 629, 639 Wallenberg, Raoul 254, 258, 440, 441, 549 Walsin-Esterhàzy, Ferdinand 103, 104 Warring, Anette 215, 224, 548, 588, 649 Wefing, Heinrich 396, 398, 586, 649 Wegner, Bernd 265, 268, 270, 649 Weidenfeld, Werner 572, 628, 650 Weinzierl, Erika 36, 45, 48, 63, 624, 629, 630, 632, 650 Weizsäcker, Ernst Freiherr von 87, 100, 353, 386, 420, 553, 554 Weizsäcker, Richard Freiherr von 60, 88, 353 Welzer, Harald 27, 46, 100, 223, 234, 513, 587, 589, 600, 619, 623, 650 Werfel, Franz 38 Wessely, Paula 45 Wette, Wolfram 300–304, 309, 313, 314, 362, 514, 582, 588, 592, 593, 601, 606, 622, 644, 645, 650, 653
666
Namensregister
Wetzel, Juliane 42, 63, 73, 93, 106, 165, 208, 234, 270, 439, 465, 473, 475, 538, 581, 583, 589, 596, 601, 602, 605, 607, 608, 615, 617, 625, 641, 647, 649, 650 Wezel, Katja 60, 292, 293, 456, 599, 607, 650 Wiegrefe, Klaus 383, 396, 651 Wielenga, Friso 163, 165, 173, 175, 627, 651 Wiesel, Elie 475, 556 Wiesenthal, Simon 44, 46, 56, 57, 59, 61, 391, 439, 443, 621, 641, 651 Wiesinger, Marion 51, 52, 651 Wildt, Michael 37, 389, 584, 651 Wildvang, Frauke 73, 651 Wilson, Woodrow 36, 365 Wiltschegg, Walter 38, 651 Winkelbauer, Thomas 47, 633, 651 Winkler, Martina 30 Wippermann, Wolfgang 411, 422, 423, 651 Wirsching, Andreas 30, 107, 367, 370, 573, 594, 605, 616, 651 Wirth, Maria 56 Wlassow, Andrej A. 336, 362–365, 397, 552, 560, 640
Wolf, Hubert 86, 87, 652 Wolfrum, Edgar 26, 456, 509, 585, 598, 604, 608 Woller, Hans 50, 72, 74, 76–80, 82, 84, 89, 153, 169, 237, 449, 507, 606, 618, 635, 636, 638, 643, 645, 648, 652 Ylikangas, Heikki 266, 270 Zägel, Jörg 195, 198, 205, 207, 209, 218, 234, 235, 244, 248, 249, 252, 254, 256, 257, 259, 262, 270, 291, 314, 366, 367, 372, 652 Zander, Alfred 93, 95 Zarusky, Jürgen 305, 332, 395, 567, 593, 608, 645, 652, 653 Zaugg, Franziska 524, 653 Zervas, Napoleon 532 Ziebura, Gilbert 110, 653 Ziegler, Beatrice 97, 644 Ziegler, Jean 98, 653 Zimmermann, Moshe 88, 591 Zogu, Ahmed 523–525, 603 Zola, Émile 104, 105