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German Pages 741 Year 1996
Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert - der Fall D D R
Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner
Timmermann
Band 79
Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert - der Fall DDR
Herausgegeben von
Heiner Timmermann
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert - der Fall DDR /
hrsg. von Heiner Timmermann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e. V. ; Bd. 79) ISBN 3-428-08957-X NE: Timmermann, Heiner [Hrsg.]; Europäische Akademie (Otzenhausen): Dokumente und Schriften . . .
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-08957-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung Eckhard Jesse Wahrnehmung der DDR in der Politik, der Publizistik und der Wissenschaft - vor 1989 und danach
3
Tilman Mayer Probleme einer nachkommunistischen Gesellschaft
17
I I . Herrschaftsgeschichte Martin Georg Goerner Differenzierung, Unterwanderung und Kaderkonzept. Modelle der SED-Herrschaft anhand der Kirchenpolitik Friedrich-Christian
39
Schroeder
Die Rechtsprechung der DDR aus Sicht des Bundesgerichtshofes
63
Klemens Pleyer Das Recht als Herrschaftsinstrument in der DDR
71
Annette Weinke Strukturen und Funktionen politischer Strafjustiz in der DDR. Aktueller Forschungsstand und offene Fragen
81
Hermann Wentker Volksrichter in der SBZ / DDR (1945-1952). Ausbildung, Weiterbildung und Einsatz einer neuen Juristenelite
95
Petra Weber Rechtsstaat Thüringen? Neuaufbau und Intrumentalisierung der Justiz in Thüringen nach 1945
113
Hans-Peter Müller Die Ersetzung des Berufsbeamtentums durch die Gesinnungsverwaltung. Ein Aspekt beim Aufbau der deutschen Volksdemokratie in der SBZ im Lichte der Akten des zentralen Parteiapparates der SED 1945-1948
133
nhaltsverzeichnis
I Peter Skyba und Ulrich Mählert
Vom "Ringen um die Hirne und Herzen der jungen Menschen". Entstehungsbedingungen, Ergebnisse und Funktion ostdeutscher Geschichtsschreibung zur Freien Deutschen Jugend
151
Kerstin Thons DDR-Jugend auf "sozialistischem Kurs". Zwischen Anpassung und Opposition am Ende der 50er Jahre
171
Michael Walter Die Funktionen der Freien Deutschen Jugend im politischen System der DDR
193
Dorle Zilch Wer war die FDJ? Untersuchungen zur demographischen, sozialen und politischen Struktur der Mitglieder des Jugendverbandes der DDR -einschließlich seiner Funktionäre
215
Ulf Sommer Unter der Hegemonie der SED. Kein ganz normaler Parteitag der LDPD im Mai 1953
227
Carsten Tessmer "Wir brauchen den ständigen Dialog". Die Beziehungen zwischen FDJ und LDPD in den achtziger Jahren
251
Tobias Wunschik Das Ministerium für Staatssicherheit und der Terrorismus in Deutschland Siegfried
289
Suckut
Zum Verhältnis von Staatssicherheit und SED in den sechziger Jahren. Eindrücke nach ersten Archivrecherchen
303
Walter Süß Der Staatssicherheitsdienst im Herbst 1989
313
Frank Petzold Zu einer elementaren MfS-Dienstvorschrift der achtziger Jahre für das Grenzregime
325
Inge Bennewitz Die beiden Zwangsaussiedlungsaktionen 1952 und 1961
361
I I I . Gesellschaftsgeschichte Gerhard Besier Die Einsicht in Schuld und die Freiheit, neu anzufangen. Fünf Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung
373
Inhaltsverzeichnis
VII
Roland Brauckmann Weitgehende Anpassung. Die evangelische Kirche des Görlitzer Kirchengebietes 1975-1990
387
Wolfgang Thumser "Kirche im Sozialismus" als Kirche in einer "mündigen Welt"
397
Peter Maser "Beitrag zur Klärung der Grundfragen christlicher Existenz"? Zur Rolle der Ost-CDU an den Theologischen Fakultäten/Sektionen der DDR
411
Armin Boy ens "Geteilter Friede" - Anmerkungen zur Friedensbewegung in den achtziger Jahren Wilfriede
421
Otto
Gemeinsamkeiten und Unterschiede oppositioneller Handlungen in der SED bis zur Entmachtung der Staatspartei. Forschungsergebnisse und Probleme
437
Henrik Eberle Weder Gegnerschaft noch Abwerbung. Zu den Motiven republikflüchtiger SED-Mitglieder aus dem Bezirk Halle im Jahr 1961
449
Oliver Werner "Politisch überzeugend, feinfühlig und vertrauensvoll"? Eingabenbearbeitung in der SED
461
Rüdiger Thomas Zum Projekt einer Kulturgeschichte der DDR
481
Thekla Kluttig Das Schulungssystem der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (1946-1961) Theorie und Praxis
511
Ulrich Neuhäuser-Wespy Zur Gleichschaltung der DDR-Geschichtswissenschaft in der DDR. Die Historikerkonferenzen der SED 1956-1958
539
Jörg Roesler Die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands in der Nachkriegszeit (1945-1949) aus der Sicht der ersten Hälfte der 90er Jahre
553
Karl Eckart Die wirtschaftliche Bedeutung der Schwarzmetallurgie (=Eisen- und Stahlindustrie) in der DDR
567
vm
Inhaltsverzeichnis IV. Beziehungsgeschichte
Heiner Timmermann DDR-Außenpolitik als Instrument
583
Monika Tantzscher Die Stasi und ihre geheimen Brüder. Die internationale geheimdienstliche Kooperation des MfS
595
Manfred Wilke Interventionspolitik: Die SED und der Prager Frühling 1968 und die polnische Demokratiebewegung 1980/81
623
Wolfgang Pfeiler Alternativen der Deutschlandpolitik unter Breshnew und Andropow
645
Klaus Ziemer Die Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen in den 80er Jahren
653
Françoise Sirjacques-Manfrass Die Rolle Frankreichs aus der Sicht der DDR und Frankreichs Haltung zur Wiedervereinigung
665
Andreas Biefang Die SBZ/DDR in der Sicht der politischen Eliten der Bundesrepublik Deutschland. Zur Bedeutung des Gesamtdeutschen Ausschusses des Deutschen Bundestages 1949-1953
681
V. Schluß Stefan Meining Im Schatten der Vergangenheit. Ostdeutsch-jüdisch-amerikanische (1974-1989)
Beziehungen 695
Michael Richter Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Ein "Kind der Wende" Autoren Verzeichnis
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I. Einführung
Wahrnehmung der DDR in der Politik, der Publizistik und der Wissenschaft - vor 1989 und danach Von Eckhard Jesse
Α. Einleitende Überlegungen Nach einem Systemwechsel wollen viele nicht wahrhaben, was sie zuvor getan, geschrieben und gesagt haben. Das war im Fall der DDR nicht anders. Dieser Umstand gilt nicht nur für die in der Diktatur lebenden Menschen, sondern auch für die in der Bundesrepublik Deutschland - insbesondere im Bereich von Politik, Publizistik und Wissenschaft. Die an eine Diktatur wie die DDR zugrundegelegten Maßstäbe sollten die gleichen sein - ob zur Zeit ihrer Existenz oder nach ihrem Verschwinden. Schließlich hat der Zusammenbruch der DDR die Frage nach ihrem diktatorischen Charakter nicht neu gestellt, wurden doch im Kern keine Fakten bekannt, die es erlauben, das politische System anders zu bewerten. Insofern ist der milde und verbreitete Terminus "aus heutiger Sicht" gänzlich unangebracht. Gleichwohl neigen viele dazu, eine gegenwärtige Diktatur besser zu bewerten als eine vergangene. Folglich darf sich nach dem Zusammenbruch der DDR die Vergangenheitsaufarbeitung nicht nur auf das Geschehen in der DDR beziehen, sondern muß auch Versäumnisse in der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigen. Allerdings zeichnet sich die Diskussion durch eine spezifische Asymmetrie aus: Meistens steht nicht das Verhalten der Menschen im Westen auf dem Prüfstand, sondern das der Ostdeutschen. Im folgenden geht es jedoch darum, die westliche Wahrnehmung des Herrschaftssystems der DDR vor ihrem Ende unter die Lupe zu nehmen. Wurde die DDR richtig eingeschätzt? Haben die Politiker der demokratischen Parteien sich gegenüber dem DDR-Regime und seinen Politikern angemessen verhalten? Ist das Bild der Publizistik von der DDR realistisch gewesen? Hat die DDR-Forschung versagt? Jens Hacker hat heftig mit jenen abgerechnet, die sich seiner Meinung nach eine Schönfärbung des DDR-Systems haben zuschulden kommen lassen.1 Aber das ist nur die eine Seite: Es soll - ansatzweise - weiter geprüft werden, ob sich nach dem Zusammenbruch der DDR die Einschätzung geändert hat. Reden Politiker heute anders als vor der Öffnung der Mauer? Zeichnet die Publizistik ein 1 Vgl. Jens Hacker, Deutsche Irrtümer 1949-1989. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin/Frankfurt a.M. 1992.
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Eckhard Jesse
drastischeres Bild von der DDR? Geht die Wissenschaft anders "zur Sache"? Eine streng systematische Vorgehensweise ist dabei nicht beabsichtigt. Sowohl für die Zeit vor 1989 als auch für die Zeit danach soll das Verhältnis von Kontinuität und Wandel Berücksichtigung finden. Gibt es unterschiedliche Phasen? Überwiegen zwischen Politik, Publizistik und Wissenschaft Parallelen? Bei der Beurteilung hat man sich vor Besserwisserei ebenso zu hüten wie vor einer Apologie früherer Bekundungen.
B. Zeit vor 1989 I. Wahrnehmung durch die Politik Lange herrschte unter den Parteien die Auffassung vor, es sei nicht angängig, Kontakte zu einem illegitimen Regime zu pflegen, das seine Bürger unterdrücke. Der Schlüssel zur Wiedervereinigung liege in Moskau. Nach dem Mauerbau setzte jedoch bald ein erstes Umdenken ein. Egon Bahr propagierte 1963 die Konzeption des "Wandels durch Annäherung". Vor allem die sozial-liberale Koalition praktizierte eine vielfältige Vertragspolitik, um die Einheit der Nation zu wahren und den Status quo allmählich zu verändern. In der Folge entspann sich eine heftige Kontroverse mit der Union, die vor der Aufgabe von Rechtspositionen warnte. Nach dem Grundlagenvertrag von 1972 und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973 trug die Union allmählich die Vertragspolitik mit. Sie setzte mit dem Regierungswechsel im Jahre 1982 die bisherige Deutschlandpolitik im Kern fort, betonte allerdings stärker die Einheit der Nation. Sie sprach von "innerdeutschen Beziehungen" (statt von "deutsch-deutschen Beziehungen") ebenso wie von "zwei Staaten in Deutschland" (statt von "zwei deutschen Staaten"). Teile der Opposition waren bereit, stärkere Zugeständnisse an die DDR zu machen und Honeckers Geraer vier Forderungen aus dem Jahre 1980 zunehmend wohlwollend zu behandeln (Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft; Umwandlung der "Ständigen Vertretungen" in Botschaften; Auflösung der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustiz Verwaltungen in Salzgitter; Festlegung des Grenzverlaufs in der Mitte der Elbe). Kritikwürdig ist nicht die Anbahnung, Aufnahme und Vertiefung der Kontakte zum DDR-Regime und seinen Verantwortlichen gewesen, sondern manche Anbiederung an östliche Positionen, die ohne Not geschah und keine menschlichen Erleichterungen für die DDR-Bürger brachte. Besonders umstritten ist das 1987 zwischen der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED verabschiedete Papier "Der Streit der Ideologie und die gemeinsame Sicherheit". Die einen kritisierten die Aufwertung der SED durch die SPD, die anderen sahen im Papier einen Berufungstitel für Oppositionelle. Im allgemeinen änderte sich trotz der intensiven Gespräche mit DDR-Funktionären
Wahrnehmung der DDR
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nichts an der Ablehnung des SED-Regimes, wenngleich die Politiker aller Parteien sich milder äußerten als früher. Manches nach dem Zusammenbruch der DDR bekanntgewordene Protokoll läßt allerdings Zweifel an dem Bestreben einiger westdeutscher Politiker erkennen, die Einheit der Nation fortzusetzen. 2 Die heftig erörterte Frage, ob es die Westpolitik Konrad Adenauers oder die Ostpolitik Willy Brandts gewesen ist, die zum Zusammenbruch der DDR und damit zur Wiedervereinigung beigetragen hat, erscheint müßig. Erstens läßt sich der Zusammenhang zwischen einer bestimmten Politik und dem Ende der DDR angesichts vielfältiger anderen Faktoren (z.B. der Rolle Gorbatschows) nicht strikt nachweisen. Zweitens muß zwischen der Westpolitik der fünfziger und der Ost- und Deutschlandpolitik der siebziger Jahre kein Gegensatz bestehen. Drittens kann eine Strategie politische Folgen gehabt haben, die so nicht beabsichtigt waren. Intention und Wirkung mögen auseinandergehen. An folgendem Sachverhalt kommt keine Analyse herum: Als sich der Zusammenbruch der DDR vollzog, mußte improvisiert werden, da die Politik darauf offenkundig nicht vorbereitet war - und erst recht nicht auf einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Der Forschungsbeirat des Bundesministeriums für innerdeutsche Fragen, der Pläne für die deutsche Vereinigung schmieden sollte, wurde 1975 aufgelöst und später nicht mehr ins Leben gerufen.
Π. Wahrnehmung durch die Publizistik In der Publizistik herrschte lange die Auffassung vor, bei der "SBZ", der Ostzone" oder der "sogenannten DDR" - diese Termini waren bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre verbreitet - handle es sich um ein nicht lebensfähiges Gebilde. Man sparte nicht mit kritisch-polemischen Berichten über den tristen Alltag. Dominierte in den ersten Jahren eine Schwarz-Weiß-Sicht, änderte sich das später. Wer drastisch das Leben in der DDR beschrieb, Versorgungsengpässe aufspießte, den Verfall von Häusern und ganzer Stadtteile minutiös dokumentierte, auf den Unterdrückungsapparat der SED und ihrer Institutionen verwies, galt als lernunfähiger Kalter Krieger, der die Augen vor dem Wandel mit manchen Errungenschaften verschloß. Gewiß hatte es in den fünfziger Jahren auch andere Positionen als eine scharfe Ablehnung an den Verhältnissen in der DDR gegeben, wie sich in den achtziger Jahre nicht nur Befürworter einer - vermeintlich - "realistischen" Sicht der DDR zu Worte meldeten. Aber hier geht es nur um die in der öffentlichen Meinung dominierende Richtung.
2 Zahlreiche Beispiele finden sich bei Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993; eine andere Akzentuierung findet sich bei Heinrich Potthoff\ Die "Koalition der Vernunft". Deutschlandpolitik in den 80er Jahren, München 1995.
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Eckhard Jesse
Was waren die Gründe für den Wandel in der Publizistik? Die wohlwollende Interpretation geht in die Richtung, daß Journalisten westlich-besserwisserische Arroganz vermeiden und den Menschen in der DDR das Leben nicht erschweren wollten. Eine solche Position fußte auf der Annahme einer (Teil-)Identifizierung des Bürgers mit dem System. Die andere Interpretation stellt mehr auf blinde Flecken in der Sichtweise von Journalisten ab, die einerseits den Zeitgeist repräsentierten und ihm andererseits aufsaßen. Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre war durch die Studentenbewegung ein antikapitalistischer Impuls ausgelöst worden. In dem Maße, in dem die Bundesrepublik kritischer gesehen wurde, kam dies der DDR zugute. Zwar meldeten sich in der tonangebenden öffentlichen Meinung marxistische Positionen nicht nennenswert zu Wort, doch machte sich ein opportunistischer AntiAntikommunismus bemerkbar. Antikommunismus wurde dagegen vielfach mit dem Epitheton "primitiv" bedacht. Es galt, mehr auf das zu hören, was von der DDR kam - vermeintlich authentisch. Insofern ist das 1986 erschienene Buch von "Zeit"-Redakteuren in mancher Hinsicht typisch für die Einschätzung der DDR. Zwar wurde der "reale Sozialismus" nicht verherrlicht, aber manche offizielle Bekundung für bare Münze genommen, so etwa die Behauptung Erich Honeckers, der Wohnungsbau sei sein ureigenstes Anliegen: "Das erklärt, weshalb die DDR zu einer riesigen Großbaustelle geworden ist. Es erklärt, weshalb die Stimmung sich gebessert hat - das Verhältnis zwischen Volk und Obrigkeit entspannter ist als je zuvor: Die Bürger sehen, daß es vorangeht. Und es erklärt nicht zuletzt die Gelassenheit der heutigen Führungsschicht."3 Vor dem Zusammenbruch der DDR wurde das Buch mit diesen und anderen kritikwürdigen Passagen in der Bundesrepublik nicht als Skandalon empfunden. Offenbar lag eine solche Sichtweise im Trend der Zeit - mit - vermeintlich - viel Einfühlungsvermögen das "normale" Leben im "anderen Deutschland" zu schildern und dafür Verständnis zu erwecken. Die Erfahrungsberichte der ersten beiden Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in der DDR fügten sich - mehr (Günter Gaus)4 oder weniger (Klaus Bölling)5 - in derartige Klischees ein. Selbst die "Springer"-Zeitungen verzichteten im Sommer 1989 bei der Bezeichnung der DDR auf die jahrzehntelang gebrauchten Anführungszeichen. I I I . Wahrnehmung durch die Wissenschaft
Ganz ähnlich sah das Bild in der DDR-Forschung aus. Die DDR-Forschung, die verschiedene Disziplinen umfaßte, vollzog viele Entwicklungen im Bereich der 3
Theo Sommer (Hrsg.), Reise ins andere Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 29.
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Vgl. Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Hamburg 1983.
5
Vgl. Klaus Bälling, Die fernen Nachbarn. Erfahrungen in der DDR, Hamburg 1983.
Wahrnehmung der DDR
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Politik und auch der Publizistik nach. Das muß angesichts der Nahe dieses Forschungszweiges zur Politik nicht verwundern. Allerdings trifft der Befund, die Forschung sei von der jeweiligen Politik determiniert, in dieser Monokausalität nicht zu. Wer den wissenschaftlichen mainstream im Auge hat, kann die DDR-Forschung bis 1989 cum grano salis in drei Phasen aufteilen. In der ersten Phase, als die Anerkennung der DDR nicht zur Diskussion stand, dominierte der normativ ausgerichtete Totalitarismusansatz. Die DDR wurde an westlich-demokratischen Maßstäben gemessen und schnitt dementsprechend schlecht ab. Empirische Erhebungen kamen dabei zu kurz. DDR-Forschung galt weithin als "Wiedervereinigungswissenschaft" und konzentrierte sich auf das Herrschaftssystem. Die zweite Phase von Ende der sechziger bis Anfang der achtziger Jahre wurde stark durch den immanenten Ansatz bestimmt, propagiert und angewendet nicht zuletzt von Peter Christian Ludz - einem Autor, der für die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre erschienenen "Materialien zur Lage der Nation" ebenso verantwortlich war wie für das neue "DDR-Handbuch". Unter der immanenten Methode ist eine Sichtweise zu verstehen, die die DDR nach denjenigen Prinzipien zu beurteilen gewillt ist, die sie für sich selbst anerkennt. Angesichts dieses Umstandes lag eine eigentümliche Themenproportionierung nahe. Über Einparteiendiktatur und Opposition wurde wenig geschrieben. Die Fixierung auf das Selbstverständnis der DDR brachte bisweilen blasse Institutionenkunde hervor. Die systemimmanente Methode, die stark empirisch und vorgeblich wertfrei ausgerichtet war, paßte in das politische Umfeld der siebziger Jahre. In den achtziger Jahren, der dritten Phase der DDR-Forschung, gewann die 1978 ins Leben gerufene "Gesellschaft für Deutschlandforschung", die betont normative Positionen vertrat und die Wiedervereinigung Deutschlands auf ihr Panier schrieb, stärker an Bedeutung, zumal sie politische Unterstützung erhielt. Gleichwohl waren die meisten DDR-Forscher stärker dem Instrumentarium eines Peter Christian Ludz verpflichtet. Immerhin fächerte sich das Spektrum methodisch und politisch weiter auf. Manchen Wissenschaftlern war klar geworden, daß das DDR-System sich als zu unflexibel erwies, um mit den künftigen Herausforderungen fertigzuwerden. Aber die wenigsten Autoren zogen daraus Konsequenzen.6 Die repräsentativ angelegte "doppelte Bilanz" über die beiden deutschen Staaten vierzig Jahre nach ihrer Gründung informierte zuverlässig, hielt sich jedoch bei Bewertungen stark zurück. Faktisch handelte es sich nicht um einen Vergleich der beiden deutschen Staaten, sondern um eine Gegenüberstellung.7 6 Vgl. etwa der dem DDR-Forscher Hartmut Zimmermann gewidmete Band: Gert-Joachim Glaeßner (Hrsg.), Die DDR in der Ära Honecker. Politik-Kultur-Gesellschaft, Opladen 1988. 7 Vgl. Werner Weidenfeld/Hartmut Bilanz 1949-1989, München 1989.
Zimmermann (Hrsg.), Deutschland-Handbuch. Eine doppelte
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Eckhard Jesse
Es wäre verkehrt, den Streit um den richtigen methodischen Ansatz in erster Linie als einen wissenschaftlichen Streit zu deuten. Denn offenkundig begünstigte der jeweilige Ansatz das Ergebnis. Es liegt auf der Hand: Wer die DDR an Maßstäben mißt, die sie selbst aufgestellt hat, kommt zu einem weitaus positiveren Ergebnis als ein Ansatz, der westlich-normative Maßstäbe einführt. Im übrigen besteht zwischen den Ansätzen, die eine komplementäre Funktion entfalten können, kein Ausschließlichkeitsanspruch. Man muß nicht plakativ von einem Versagen der DDR-Forschung reden, kommt aber nicht um folgenden Sachverhalt herum: Die DDR-Forschung war in all ihren Phasen viel zu eng mit der Politik verknüpft. Den meisten Repräsentanten ist es nicht hinreichend gelungen, das politische System des zweiten deutschen Staates angemessen zu erhellen, sei es durch den Verzicht auf Wertung, sei es durch den Verzicht auf akribische Untersuchungen, sei es durch den Verzicht auf Vergleiche, sei es durch das Ausblenden von Tabuthemen. Daß die Darstellung der flächendekkend wirkenden Staatssicherheit praktisch einem Außenseiter vorbehalten blieb, dem Journalisten Karl Wilhelm Fricke, ist unverzeihlich.8 Die DDR-Forschung machte um das Thema einen großen Bogen - in manchen Studien zur DDR sucht der Leser dieses Herrschaftsinstrument der SED vergebens. Wer die DDR-Wissenschaft nach einzelnen Disziplinen untersucht, kommt zu einem etwas vielschichtigeren Befund. So machte etwa die Rechtswissenschaft - im Gegensatz zur Politikwissenschaft - längst nicht alle Modetorheiten mit. Im Bereich der besonders konjunkturanfälligen politischen Bildung waren die Ausschläge noch heftiger - von einer simplen Antikommunismus-Kunde in den fünfziger Jahren zu einer immanenten Betrachtung ohne Wertbezug in den Siebzigern.
C. Die Zeit nach 1989 I. Wahrnehmung durch die Politik So manch ein Politiker will heute nicht mehr gerne daran erinnert werden, daß er um eine Audienz bei Honecker nachgesucht hat. Viele Politiker rechtfertigen ihre frühere Handlungsweise mit dem Argument, daß sie auf diese Weise zur Destabilisierung der DDR beigetragen haben. In der Tat dürfte das vielfach der Fall gewesen sein, doch müssen Intention und Wirkung nicht zusammenfallen, wie das etwa für das berühmte SPD/SED-Papier von 1987 gilt.
8 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung, Strukturen, Aktionsfelder, 3. Aufl., Köln 1989. Siehe jetzt die Darstellung des Autors in eigener Sache: Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung, Berlin 1995.
Wahrnehmung der DDR
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Wer kritisch die Wechselbeziehungen der beiden deutschen Staaten analysiert und die Rolle der "Supermächte" berücksichtigt, kann zu dem Befund kommen, daß der Spielraum für eine wesentlich andere Deutschlandpolitik im Westen kaum möglich war. 9 Gleichwohl wird in der Politik zuweilen der Eindruck erweckt, als hätte man durch eine schroffere Politik gegenüber der politischen Führung der DDR mehr erreichen können. Politiker aus den Reihen der Union sehen wesentlich in der "Politik der Stärke" Adenauers eine angemessene Strategie, die letztlich im Zusammenbruch der DDR gemündet ist. Hingegen betonen Politiker der SPD vornehmlich die tragende Rolle der Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts, die die Mauer durchlässiger gemacht und Feindbilder abgebaut habe. Diese Haltungen sind beide nicht frei von Selbstgerechtigkeit, blenden sie doch die jeweilige "Großwetterlage" aus. Im Jahre 1992 hatte der Deutsche Bundestag eine Enquete-Kommission10 zur "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" eingesetzt, im Jahre 1995 eine Nachfolgekommission, die sich der "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" widmet. Schon die Überschrift zeigt die Richtung an. In den siebziger und achtziger Jahren wären amtliche Publikationen - mit einer Bezeichnung der DDR als "Diktatur" - zweifelsohne so nicht genannt worden. Die DDR sei eine Diktatur von Anfang gewesen und habe niemals Legitimität besessen. In desem Punkt herrschte Konsens unter Politikern der Union, der FDP, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Lediglich die PDS machte in einem Sondervotum fundamentale Einwände geltend. So hieß es bei ihrem Abgeordneten Dietmar Keller: "Eine objektive Bewertung der DDR-Geschichte schließt auch ein, sie weniger an den Maßstäben der Alt-Bundesrepublik Deutschland zu messen, sondern die Tatsache in Rechnung zu stellen, daß die DDR eine Gesellschaft mit eigenen Regeln, Werten und Konfliktregelungsmechanismen war. Sie auf den Aspekt ihrer diktatorischen Entscheidungsstrukturen zu reduzieren bedeutet, sie als Repressionsstaat zu simplifizieren und zu verkürzen. Die DDR war als Staat und Gesellschaft auch sozialer Vorsorgestaat und zum Teil Solidargesellschaft mit einem spezifischen Wir-GefühT." 11 Diese Auffassung wäre vor den Ereignissen des Jahres 1989 durchaus als eine legitime Position unter anderen akzeptiert worden. Heute handelt es sich um eine Außenseitermeinung - und nicht nur deshalb, weil sie von einem PDS-Politiker stammt.
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Vgl. Peter Bender, Episode oder Epoche? Zur Geschichte des geteilten Deutschland, München 1996.
10 Vgl. Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, 9 Bände in 18 Teilbänden, Baden-Baden/Frankfurt a.M. 1995. 11
Dietmar Keller, Sondervotum zu dem vorliegenden Bericht, in: Ebd., Bd. I, S. 682.
10
Eckhard Jesse I I . Wahrnehmung durch die Publizistik
Der Befund läßt sich nicht auf einen Nenner bringen. Es gibt viele, die heute die DDR weitaus negativer sehen als vor 1989. Die "Zeit" etwa hat mehrmals tendentiell selbstkritische Artikel veröffentlicht, etwa aus der Feder von Theo Sommer. 12 Andere wiederum halten im Kern an ihren Grundpositionen von einst fest. In diesem Sinne ist die folgende Beobachtung von Peter Bender zu verstehen, die der langjährige Berlin-Korrespondent und publizistische Vorreiter einer Annäherung an die DDR noch im Jahre 1995 verteidigte: "Die amtliche Bezeichnung SBZ, sowjetische Besatzungszone, sollte zwar nur die undemokratischen Machthaber diskriminieren, traf aber auch jeden Ostdeutschen. Die DDR war nun einmal sein Staat, auch wenn er sich einen besseren wünschte; und sogar, wenn er sich nicht mit ihr identifizierte, wurde er vom Westen mit ihr identifiziert." 13 Es gibt zahlreiche Kritiker, die nicht mit Schelte sparen.14 Nahezu Allgemeingut ist die Auffassung in der Publizistik geworden, die DDR als "totalitär" zu bezeichnen, obwohl ein solches Urteil in Teilen modifizierungsbedürftig sein mag, was etwa die letzten Jahre der zweiten deutschen Diktatur betrifft. Heutzutage mokieren sich viele Zeitungen über die Unfähigkeit der DDR-Forschung, obwohl sie selbst vor 1989 keinerlei Kritik in dieser Richtung zu erkennen gaben.15 Politikern wirft man vor, die DDR künstlich am Leben gehalten zu haben (etwa durch großzügige Gewährung von Krediten). Vor 1989 lautete der Vorwurf jedoch, "Hardliner" gefährdeten die Früchte der Entspannungspolitik. An diesem Beispiel wird die Kurzatmigkeit der Argumentation deutlich - typisch für einen Teil der Medien.Im übrigen gehört zum Wesen der Publizistik weniger Aufarbeitung der Vergangenheit als vielmehr Berichterstattung über aktuelle Entwicklungen. Insofern stehen Informationen zur untergegangenen DDR nicht im Vordergrund. Charakteristisch dürfte daher vielfach ein stillschweigendes Aufgeben früherer Positionen sein, was manche Einschätzung der ostdeutschen Diktatur oder die Frage der deutschen Einheit betrifft. Wenn in den Medien immer wieder die fehlende "innere Einheit" angeprangert wird, dann hat diese auch mit der Entwicklung der DDR vor der "Wende" zu tun. Aber ein solcher Gesichtspunkt kommt nur unzureichend zur Sprache. 12 Vgl. beispielsweise: Theo Sommer, Der Geist ist ein Wühler. Deutschland zu zweit oder einig Vaterland: Von den Schwierigkeiten, Geschichte zu prognostizieren - Eine Selbstbefragung, in: Die Zeit v. 11. Mai 1990. 13 So Peter Bender, Die DDR von unten gesehen. Eindrücke in den sechziger Jahren, in: Gisela Helwig (Hrsg.), Rückblicke auf die DDR. Festschrift für Ilse Spittmann, Köln 1995, S. 14. 14 Vgl. Konrad, Law, ... bis zum Verrat der Freiheit. Die Gesellschaft der Bundesrepublik und die "DDR", 2. Aufl., München 1994; Rüdiger Knechtel / Jürgen Fiedler (Hrsg.), Stalins DDR. Berichte politisch Verfolgter, Leipzig 1991. 15 Vgl. etwa Carola Becker, Kläglich versagt. Was die DDR-Forscher im Westen hinderte, die Wahrheit zu erkennen, in: Die Zeit v. 24. Mai 1991.
Wahrnehmung der DDR
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I I I . Wahrnehmung durch die Wissenschaft
Mittlerweile ist die DDR zu einem bevorzugten Untersuchungsgegenstand der Forschung geworden. Sämtliche Materialien der bereits erwähnten Enquete-Kommission, insbesondere Expertisen von Wissenschaftlern und Anhörungen von Zeitzeugen, sind veröffentlicht worden. Das Werk umfaßt stattliche 15187 Seiten. Um nur einige Schwerpunkte herauszugreifen: Der zweite Band stellt die Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen in der DDR dar. Im dritten geht es besonders um die Rolle der staatstragenden Ideologie des Marxismus-Leninismus, im vierten um Recht, Justiz und Polizei. Im siebten kommen Möglichkeiten und Formen abweichenden und widerständigen Verhaltens zur Sprache - mit einem Schwerpunkt auf der Zeit Ende der achtziger Jahre. Der achte Band analysiert jene Institition, die jede Form der Opposition unmöglich machen sollte - die flächendeckend arbeitende Staatssicherheit. Diese Übersicht widerspiegelt nicht annähernd die Vielfalt der einzelnen Themenfelder wider. Expertisen zu wichtigen Themen wurden mehrfach vergeben. Der pluralistische Grundzug des Werkes ist damit unverkennbar, auch wenn die Autoren an dem diktatorischen Charakter der DDR keinen Zweifel lassen. Die Materialien der Enquete-Kommission sind ein insgesamt beeindruckendes Dokument zur Analyse der zweiten Diktatur auf deutschem Boden, wiewohl sich in der Kürze der Zeit keine sensationellen Ergebnisse zutage fördern ließen. Das "Handbuch zur deutschen Einheit" aus dem Jahre 1993 hat nicht mehr viel mit dem erwähnten "Deutschland-Handbuch" aus dem Jahre 1989 gemein.16 Die stärker wertfrei orientierte Forschung ist insgesamt deutlich in die Defensive geraten. Bei Gert-Joachim Glaeßner etwa klingt heutzutage im Vergleich zu früher vieles weitaus vorsichtiger. 17 Gleichwohl ist er - wie noch so manch anderer - von einer entschiedenen Selbstkritik weit entfernt. Auffallend ist, daß sich eine Fülle von Autoren erst jetzt mit der DDR befaßt, eine Reihe früherer DDR-Forscher hingegen kaum noch über das einstige Forschungsfeld arbeitet. Das Ende der DDR ist der Beginn der DDR-Forschung, ließe sich etwas überspitzt formulieren. Jedenfalls kann keine Rede davon sein, daß mit dem Ende der DDR auch die DDR-Forschung in der zweiten deutschen Demokratie ihr Ende gefunden hat, ist man doch nicht mehr auf veröffentlichtes und gefiltertes Material angewiesen. Exemplarisch sei auf ein Werk ausführlich eingegangen: Der im Auf16 Vgl. Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Körte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt a.M./New York 1993. Der Vorgängerband unter denselben Herausgebern hieß: Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt a.M. 1992. Der Band war bereits vor 1989 geplant: Wäre er noch 1989 herausgekommen, hätte sich für viele Autoren ein Desaster ergeben. 17 Vgl. Gert-Joachim Glaeßner, Kommunismus - Totalitarismus - Demokratie. Studien zu einer säkularen Auseinandersetzung, Frankfurt a.M. u.a. 1995; ders., Das Ende des Kommunismus und die Sozial Wissenschaften. Anmerkungen zum Totalitarismusproblem, in: Deutschland Archiv 28 (1995), S. 920-936.
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Eckhard Jesse
trage des Instituts für Zeitgeschichte von Hartmut Mehringer herausgegebene Sammelband ist ein gutes Beispiel dafür, daß die Öffnung ostdeutscher Archive neue Erkenntnisse zutage gefördert hat.18 Er stellt Forschungsergebnisse von jüngeren Autoren, vornehmlich Mitarbeitern der Außenstelle Potsdam des Instituts für Zeitgeschichte, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vor - und zwar zu ganz unterschiedlichen Themen, die sich auch zeitlich nicht decken. Jeweils drei beziehen sich auf die Vorgeschichte der DDR und auf die Zeit Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre. Der letzte betrifft den Zeitraum Anfang der achtziger Jahre. Ute Haese leuchtet das Verhalten der katholischen Kirche gegenüber dem Staat aus und umgekehrt - bezogen auf den Antrittsbesuch des Vorsitzenden der Berliner Bischofskonferenz Gerhard Schaffran bei dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker im Jahre 1981. Wie aus internen Dokumenten im Vorfeld des Besuchs hervorgeht, wurde hinter den Kulissen um den Text der Rede des Bischofs und ihre Auswertung in der Presse gerungen. Der instruktive Beitrag macht deutlich, daß trotz guter Quellenlage ein gewisser Interpretationsspielraum für den Rücktritt Schaffrans im Jahre 1982 bleibt. Hermann Wentker schildert die Hintergründe und Motive der Einführung der Jugendweihe in den Jahren 1954 bis 1958. Der Prozeß verlief zunächst weniger geradlinig als angenommen, dann jedoch setzte sich die Jugendweihe schnell durch. Hardliner Walter Ulbricht hatte sich gegen Paul Wandel behauptet, dem es um einen weniger kompromißlosen Weg gegangen war. Die Jugendpolitik steht auch im Mittelpunkt des Aufsatzes von Michael Buddrus, der ein so gut wie unbekanntes und für die SED weniger erfreuliches Thema aufgreift, die Geschichte der - ersten und einzigen - Kadettenschule der Nationalen Volksarmee in Naumburg (1956-1961). Wie Buddrus' Blick in den Mikrokosmos dieser Eliteschule aufgrund von Inspektionsberichten zeigt, wurde die ideologische Erziehung als unzureichend angesehen, identifizierten sich die vornehmlich aus Funktionärsfamilien stammenden Kadetten ungenügend mit den rigiden politischen Vorgaben, so daß die Liquidierung der exklusiven Schule bald beschlossene Sache war. Mit den Beweggründen Ulbrichts für die Abriegelung der DDR macht uns André Steiner vertraut, und zwar aufgrund zweier bisher unbekannter Briefe an Chruschtschow aus dem Jahre 1961. Was im Westen immer behauptet wurde, erweist sich als richtig. Die Notwendigkeit des "antifaschistischen Schutzwalls" beruhte für die SED auf der ökonomischen und politischen Krise der DDR, wie sie die wachsende Fluchtwelle widerspiegelte, nicht auf der - behaupteten - Aggressionspolitik der Bundesrepublik. Schon damals galt diese als Vergleichsgesellschaft - für die Herrschenden wie für die Beherrschten. Daran änderte sich bis zum Jahre 1989 nichts.
18 Vgl. Hartmut Mehringer (Hrsg.), Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssystem in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1995.
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Drei weitere Aufsätze zeichnen einzelne Etappen in den Kinderjahren der DDR bzw. der SBZ nach. Damals spielte das andersgeartete System im Westen als Gegenmodell noch keine so große Rolle. Der von Hermann Brill 1945 ins Leben gerufene "Bund demokratischer Sozialisten" konnte sich nicht behaupten und wurde bald verboten, wie Gunter Ehnert detailliert belegt. Die von Michael Schwarz rekonstruierte Geschichte der "Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler" (1945-1948) erhellt ebenso nachdrücklich den kommunistischen Hegemonieanspruch wie Frank Zschalers Studie über die "Deutsche Zentralfinanzverwaltung". Noch vor Gründung der DDR war die Transformation der Finanzverwaltung gelungen. Ungeachtet der Heterogenität der Themen weist der für einen Teil der empirisch ausgerichteten Forschung prototypische Band gewisse Gemeinsamkeiten auf. Die Entwicklung verlief weitaus weniger stromlinien-färmig, als es vom Ergebnis her erscheinen mag. Die SED schlug häufig eine Doppelstrategie ein, ließ aber an ihrem Machtanspruch dank der sowjetischen Bajonette nicht rütteln. Was gemutmaßt wurde, läßt sich nun belegen. Die Beiträge der Autoren aus den alten und neuen Bundesländern stellen großenteils beträchtliche Forschungsleistungen, fügen sich aber noch nicht zu einem geschlossenen Ganzen, stehen auch nicht in einem direkten Zusammenhang. Es bedarf vieler solcher materialgesättigter Spezialuntersuchungen 19 , bis ein Grundlagenwerk ein abgerundetes Bild der Geschichte der zweiten deutschen Diktatur zu zeichnen vermag. Gerade angesichts der vielen Einzelstudien sind zusammenfassende Überblicksdarstellungen vonnöten, weil sie Forschungslücken aufzeigen können.20 Nach der "Wende" sind zahlreiche neue Institutionen ins Leben gerufen worden. Die Einrichtung eines Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, wie es in Dresden erfolgt ist, wäre in den achtziger Jahren undenkbar gewesen. Um nur zwei andere zu nennen - in Potsdam gibt es den von Jürgen Kocka und Christoph Kleßmann geleiteten Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien und in Berlin den von Manfred Wilke und Klaus Schroeder betreuten Forschungsverbund SEDStaat an der Freien Universität. In beiden Einrichtungen sind Forscher aus der DDR integriert. Die heftigen Konflikte spielen sich weniger zwischen Wissenschaftlern aus Ost und West ab, sind vielmehr Ausdruck früherer Auseinandersetzungen zwischen Forschern im Westen, die heute noch anhalten, zumal die Forschungsmittel knapp sind.
19 Vgl. etwa Jürgen Kocka/Martin Sabrow (Hrsg.), Die DDR als Geschichte. Fragen - Hypothesen Perspektiven, Berlin 1994; Jürgen Weber (Hrsg.), Der SED-Staat: Neues über eine vergangene Diktatur, München/Landsberg am Lech 1995. 20
Vgl. Heiner Timmermann (Hrsg.), DDR-Forschung. Bilanz und Perspektiven, Berlin 1995.
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D. Kontinuität und Wandel Die Frage nach Kontinuität und Wandel soll sich einerseits auf die einzelnen Bereiche (Politik, Publizistik und Wissenschaft) beziehen, andererseits auf zeitliche Phasen. Die Unterschiede in der Einschätzung der DDR liegen weniger zwischen der Politik, der Publizistik und der Wissenschaft als vielmehr in der zeitlichen Dimension.21 In den fünfziger Jahren wurde die DDR insgesamt weitaus negativer beurteilt als in den achtziger Jahren. Schwang zunächst mitunter eine propagandistische antikommunistische Note mit, so trat später, um frühere Fehler zu vermeiden, eine Überreaktion in die andere Richtung ein: Die DDR wurde geschönt wahrgenommen. Der Wandel der Perzeption der DDR war weniger stark bestimmt vom Wandel in der DDR getragen - die Rigidität des dortigen politischen Systems lockerte sich in den siebziger und achtziger Jahren im Vergleich zu den fünfzigern und Sechzigern, ohne daß sich die Suprematie der SED in Frage stellen ließ -, als vielmehr von Tendenzen des Zeitgeistes. Immerhin nahm in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre der Realismus in der Wahrnehmung der DDR vielfach wieder zu, weil die Reformunfähigkeit des Honecker-Systems augenscheinlich wurde - etwa im Vergleich zu den Wandlungen in der Sowjetunion, denen die politische Führung der DDR eher skeptisch gegenüberstand. Der Vergleich zwischen der Zeit vor 1989 und der Zeit danach im Hinblick auf Kontunität und Wandel hinkt insofern, als die Zeit seit der "Wende" wohl zu kurz ist, um schon Elemente von Kontunität und Wandel angemessen ausmachen zu können. Gleichwohl sei er mit einiger Vorsicht gewagt: Auch hier zeigt sich, daß zwischen Politik, Publizistik und Wissenschaft kein gravierender Unterschied besteht. Die DDR wird insgesamt deutlich negativer beurteilt als vor 1989, wobei auffällt, daß zumal im Bereich der Politik und der Publizistik häufig simple Charakterisierungen vorherrschen. Das Jahr 1989 hat einen Paradigmenwechsel ausgelöst. Auffallend ist allerdings die Tendenz, daß sehr früh eine Historisierung des politischen Systems der DDR eingesetzt hat. Wissenschaftliche Studien äußern sich etwa zur Frage nach dem totalitären Charakter der DDR differenzierter 22 als publizistische Betrachtungen. Stand für die DDR-Forschung bis zum Jahre 1989 die Frage 21 Vgl. Heinz Peter Hamacher, DDR-Forschung und Politikberatung 1949-1990. Ein Wissenschaftszweig zwischen Selbstbehauptung und Anpassungszwang, Köln 1991. 22 Vgl. etwa Stefan Eck, Totalitarismus und die DDR, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 41 (1994), S. 724-728; Eckhard Jesse, War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 40/94, S. 12-23; Arnold Sywottek, "Stalinismus" und "Totalitarismus" in der DDR-Geschichte, in. Deutsche Studien 30 (1993), S. 25-38; Ralph Jessen, DDRGeschichte und Totalitarismustheorie, in: Berliner Debatte INITIAL 6 (1995), Heft 4/5, S. 17-24; Richard Bessel /Ralph Jessen (Hrsg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996.
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der Herrschafts Sicherung bei den meisten Autoren nicht im Vordergrund, so dominieren heutzutage solche Themen (Rolle der Staatssicherheit, Bedeutung von Opposition und Resistenz bei der DDR-Bevölkerung). 23
E. Abschließende Überlegungen Ohne jede Attitüde von Rechthaberei gilt es, folgenden Befund zur Kenntnis zu nehmen: Die Einschätzung der DDR vor 1989 ist insgesamt kein Ruhmesblatt für einen Teil der Politik, der Publizistik und der Wissenschaft. Während im Bereich der Politik Rücksichtnahmen noch am ehesten verständlich waren, ist der zum Teil naive Glaube an die Funktionsfähigkeit des "realen Sozialismus", zumal im Bereich der Wissenschaft, die den Dingen auf den Grund gehen sollte, ein kritikbedürftiger Sachverhalt. Der Hinweis auf unzureichende Einblicke in das wenig transparente Herrschaftssystem verfängt nicht: Wer wissen wollte, konnte wissen. Aber viele wollten nicht wissen. Die Kritik richtet sich weniger gegen die mangelnde Richtigkeit der Vorhersagen als vielmehr gegen den Verzicht auf das Geltendmachen westlich-normativer Positionen bei der Beurteilung der DDR. Ihre fehlende Legitimität wurde nicht immer beim Namen genannt - aus Gedankenlosigkeit, aus politischer Rücksichtnahme, aus Opportunismus, aus Überzeugung, aus Unkenntnis, aus methodischem Unvermögen, je nach Perspektive. Hinter der Frage nach den Freiheitsrechten in der DDR mußte die nach der Wiedervereinigung verblassen. War erst einmal das Selbstbestimmungsrecht der Menschen in der DDR erreicht, konnten sie über ihren Weg selbst entscheiden. Insofern greift Kritik an jenen, die nicht auf die Vereinigung Deutschlands fixiert waren, aber stets die diktatorische Struktur des politischen Systems zur Sprache brachten, erheblich zu kurz. Die Verheerungen des Dritten Reiches hatten bei Teilen von Intellektuellen einen derartigen Kulturschock hervorgerufen, daß sie nicht gewillt waren, einem System, das sich als antifaschistisch verstand, jegliche Legitimität abzusprechen. So trugen die bitteren und leidvollen Erfahrungen der NS-Diktatur dazu bei, den Blick für den Totalitätsanspruch einer linken Diktatur zu trüben. Als werde das frühere Unrecht durch den Hinweis auf heutiges Unrecht weniger schlimm. Eine vergleichende Diktaturforschung konnte sich kaum entfalten, stand sie doch unter Ideologieverdacht.
23 Vgl. beispielsweise Ulrike Poppe / Rainer Eckert / Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995; Gerda Haufe/Karl Bruckmeier (Hrsg.): Die Bürgerbewegungen in der DDR und in den ostdeutschen Ländern, Opladen 1993; Armin Mitter /Stefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993.
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Eckhard Jesse
Politiker, Publizisten und Wissenschaftler sollten selbstkritisch ihre Positionen überprüfen, ob sie dem "Zeitgeist" auf den Leim gegangen sind.24 Wer dafür plädiert, will keine mißliebigen Sichtweisen polemisch an den Pranger stellen, sondern zu einer umfassenden Aufarbeitung beitragen, die im Dienst der Redlichkeit steht. Der ausschließliche Blick auf die neuen Bundesländer bedeutet eine Perspektivenverengung im Bereich der vielzitierten Vergangenheitsbewältigung. Diese kritikwürdige Schieflage gilt es zu überwinden. Gelingt dies, so ist ein Stück innere Einheit dazugekommen. "Selbstkritik" bedeutet jedoch nicht, neuen Einseitigkeiten das Wort zu reden. Die Gefahr des "Zeitgeistes" liegt auf der Hand. Was für die Vergangenheit zutraf, gilt für die Gegenwart. Die DDR, so wie sie war, hat heute praktisch keine Anhänger mehr. Selbst die PDS sieht sich zur Distanzierung genötigt, wenngleich nicht von allen Bereichen. Um ein angemessenes Bild vom Herrschaftssystem der DDR zu erhalten, ist Methodenvielfalt ebenso vonnöten, wie es auch nicht angängig ist, jede Entwicklung in der DDR nur vor dem Hintergrund der allmächtigen SED zu interpretieren. 25 Damit versperrt man sich unter Umständen neuen Einsichten. Wer dafür plädiert, will allerdings keine alten Ansichten forschreiben.
24 Vgl. Peter Eisenmann/Gerhard Hirscher (Hrsg.), Dem Zeitgeist geopfert. Die DDR in Wissenschaft, Publizistik und politischer Bildung, Mainz 1992. 25 Vgl. Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994; Clemens Burrichter / Gerd-Rüdiger Stephan, Die DDR als Untersuchungsgegenstand einer Historischen Soozialforschung. Ergebnisse, Defizite und Perspektiven, in: Deutschland Archiv 29 (1996), S. 444-454.
Probleme einer nachkommunistischen Gesellschaft Von Tilman Mayer
A. Einführung Die These, daß wir in den neuen Bundesländern eine postkommunistische Gesellschaft vor uns haben, bedeutet, daß eine vierzig Jahre dauernde Prägung sich in den politischen Einstellungen noch nachweisen läßt. Die These bedeutet nicht, daß in Ost- Deutschland kommunistisches Denken eine Zukunft hat. Sie besagt vielmehr, daß die "Integration des Ostens in den Westen", von der Kurt Biedenkopf mit Blick auf die erfolgreiche technische, organisatorische, administrative Integration gesprochen hat1, nicht oder noch nicht zu einer geistigen Integration in den Westen geführt hat. Postkommunistisch wird hier im amerikanischen Sinne verstanden, daß z.B. alle Parteien, die nach dem Untergang des Kommunismus in Osteuropa gegründet wurden, postkommunistische Parteien sind - wie immer groß der Abstand zur untergegangenen Epoche ist. Um den Herrschaftscharakter mehr zu betonen, könnte auch von postdiktatorischen Gesellschaften gesprochen werden. Genauso berechtigt wäre der Begriff "posttotalitär", zumal der Totalitarismusansatz2 in den ehemaligen Ostblock-Ländern anerkannt und angewendet wird. Im Encounter schrieb 1990 Zbigniew Brzczinski über eine Konferenz über aktuelle Entwicklungen in der Sowjetunion, in der ein sowjetischer Akademiker mit guten Beziehungen zur Regierung so gesprochen habe, als wäre er gerade aus den Seminaren der Totalitarismusforscher Marie Fainsod und Carl J. Friedrich gekommen. Seine Lieblingsbegriffe, so Brzezinski, waren "Totalitarismus ... Entlegitimierung .... Terror ... ideologische Indoktrination ... bürokratische Stagnation". Der sowjetische Kollege habe nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die aktuellen Probleme der Sowjetunion charakterisieren wollen3.
1 Kurt Biedenkopf: Die Einheit: eine einzigartige Leistung, in: DIE ZEIT Nr. 40 vom 29. September 1995, S. 56. 2 "Nicht genannt möchten sie werden. 'Totalitarismus' als Begriff und Realität", von Karl Dietrich Bracher, in: SPECTRUM/Die Presse, Wien 30. Jänner 1988; Eckhard Jesse: Der Totalitarismus-Ansatz nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte November 1991, S. 983 ff.; Harald Bluhm: Hannah Arendts politische Theorie - Neue Editionen und Interpretationen, in: PVS 36/H. 1-1995/. Klaus Hornung: Das totalitäre Zeitalter. Bilanz des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993. - Ein Arbeitskreis der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) nennt sich übrigens "Postsozialistische Gesellschaften".
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Auf Deutschland übertragen bedeutet das, den totalitären Charakter des SEDRegimes nicht erneut, wie in den siebziger Jahren zumindest geschehen, zu unterschätzen.4 Nur durch die Annahme einer intensiven Einwirkung des untergegangenen Regimes auf die Denkeinstelung der Bürger können manche Nachwirkungen der Diktatur erklärt werden. Zu dieser Erklärung kann - im Unterschied zu subjektiven Spekulationen und persönlichen Eindrücken - die empirische Umfrageforschung, wenn sie seriös betrieben wird, beitragen. Eine realistische Analyse also des geeinten Deutschland, der einen Nation, muß beinhalten, was noch nicht eins geworden ist. Das religiöse Empfinden etwa in Ost und West gehört sicher nicht zu den Gemeinsamkeiten. Deutschland ist nicht, wie 1990 zu hören war, protestantischer, es ist atheistischer geworden. "Gott ist in meinem Leben überhaupt nicht wichtig" sagen 12 Prozent der West-, aber 44 Prozent der Ostdeutschen. Persönlich aus dem Glauben Trost und Kraft ziehen nur 20 Prozent der Ost-, aber 43 Prozent der Westdeutschen. Als religiöse Menschen bezeichnen sich 24 Prozent der Ost-, aber 56 Prozent der Westdeutschen. Entsprechend sagen 63 Prozent der Ost- aber nur 29 Prozent der Westdeutschen, sie seien keine religiösen Menschen bzw. sogar überzeugte Atheisten. Ob und welche Auswirkung diese atheistische Einstellung auf die Werteordnung hat, bleibt eine wichtige Untersuchungsfrage. 5 Realistisch ist es davon auszugehen, daß folgende weitere Prägungen eine postkommunistische Gesellschaft noch einige Zeit charakterisieren werden: Angesichts des Atheismuswertes verwundert es deshalb nicht, daß die Anhängerschaft der Jugendweihe in Ostdeutschland überwältigend groß ist. Drei von vier Befragten sind dafür, daß sie beibehalten wird. Daß in den DDR-Kindergärten die Kinder indoktriniert, politisch massiv beeinflußt worden sein sollen, glauben 76 Prozent der befragten Ostdeutschen im Juli 1994 nicht. Ob die Rechtssicherheit in der früheren DDR oder heute in Deutschland größer gewesen sei, also daß "Gesetze für alle gleich gelten und daß die Rechtssprechung fair ist", darüber hat sich die ostdeutsche Bevölkerung noch keine Meinung gebildet, das weiß sie noch nicht (47 Prozent), 27 Prozent wähnen die Rechtssicherheit früher in der DDR als mehr gegeben. Das glauben in Westdeutschland nur 3 Prozent. 3 Zbigniew Brzczinski: Vergangene Niederlagen, heutiger Jubel, in: Europäische Rundschau, 19. Jg. H 1 1991, S. 122. 4 Vgl. dazu und zur gesamten Aufarbeitung der DDR-Forschung Jens Hacker. Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen/aktualisierte Taschenbuchausgabe 1994, darin jetzt zu beachten "Nachwort", S. 616 ff. 5 Vgl. auch Renate Köcher. Deutschland einig Vaterland - auch eins in den Köpfen und Herzen? In: Paul Bocklet/Gerhard Fels/Hartmut Löwe (Hrsg.): Der Gesellschaft verpflichtet. Kirche und Wirtschaft im Dialog, Köln 1994, S. 63 ff.; Renate Köcher Nachhut oder Vorhut? Dem Christentum mangelt es an Selbstbewußtsein und Strahlkraft, in: FAZ vom 5.4.95, S. 5.
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Die ostdeutsche Bevölkerung ist sogar auch nicht sicher, wo die Menschenrechte besser geschützt werden oder wurden: früher oder heute: 44 Prozent sind bei dieser Menschenrechtsfrage unentschieden, 21 Prozent sehen sogar - noch im Februar 1995 - in der ehemaligen DDR die Menschenrechte besser geschützt. Vielleicht wäre überhaupt ein neuer Staat 1989/90 zu schaffen besser gewesen anstelle der Staatsform der alten Bundesrepublik? Ungefähr ein Drittel der Ostdeutschen konnte sich das zwischen November 1990 und Dezember 1993 (Umfragezeitraum) vorstellen. Die ostdeutsche Bevölkerung ist also im bundesdeutschen, gesamtdeutschen Staat noch nicht recht angekommen. Es finden sich noch Einstellungen in ihr, die nur durch die Prägungen der Vergangenheit erklärt werden können. Das zeigt sich auch darin, daß noch immer der Sozialismus an sich für eine gute Idee gehalten wird, die lediglich schlecht ausgeführt wurde. 63 Prozent der Ostdeutschen sind dieser Auffassung im Juni 1994, 18 Prozent widersprechen. Und sogar der Kommunismus selbst gilt 59 Prozent der Ostdeutschen im August 1995 als gute Idee, bei 21 Prozent gegenteiliger Auffassung und nur 20 Prozent Unentschiedenen. Vielleicht charakterisiert gerade dieser Befund über die gute Idee des Kommunismus die postkommunistische Gesellschaft am meisten. Jedenfalls wird verständlich, warum es vor diesem Hintergrund mit der Anerkennung des Wirtschaftssystems heute nicht weit her ist (Graphik 1). Richard Schröder hat kürzlich 6 dem "fast schon geflügelten Wort", daß man sich "so die Einheit nicht vorgestellt habe" zu Recht widersprochen, indem er zurückfragte: "Wann habt ihr euch denn die Einheit vorgestellt? Und für wann? Und wie?" Diese Fragen müssen sich auch die Kritiker des Wirtschaftssystems gefallen lassen. Zumal dieser Blick zurück gar nicht den Ausgangsbefund von 1990 abruft. Damals hatte der Kapitalismus in ganz Deutschland sehr wohl einiges Ansehen (Graphik 2). Und bei aller Kapitalismuskritik und bei aller Skepsis gegenüber den ersten Erfahrungen mit der Marktwirtschaft: der ostdeutsche Glaube an die Sanierungskraft der westdeutschen Wirtschaft bezüglich der neuen Bundesländer schmeichelt dem Kapitalismus sehr (Tabelle 1). Mehr Zuversicht kann nicht erwartet werden. Svetozan Pejovich7 hat recht, wenn er sagt: "Die Vorteile des Kapitalismus würden, so dachte man 1989, irgendwie zu den Errungenschaften des sozialistischen Wohlfahrtsstaates hinzukommen." Auf diese Täuschung mußte die Enttäuschung folgen, die falschen Vorstellungen über den Kapitalismus sind wohl in der Epoche des real existierenden Sozialismus entstanden.8 6 Gemeinsam die Hypotheken abtragen. Wir können die innere Vereinigung nicht vorantreiben, wenn wir uns nicht als Nation verstehen, in: DIE ZEIT Nr. 39 vom 22. September 1995. 7 Svetozan Pejovich: Der Markt der Institutionen. Osteuropa zwischen Nationalismus und Liberalismus, in: Transit Nr. 9, Februar/März 1995, S. 45. 8 Auch die Ostmedien spielen bei der Beurteilung des Kapitalismus eine wichtige Rolle, vgl.: "Politik unter doppeltem Druck. Ostmedien beklagen die Lage, aber loben die staatliche Wirtschaftspolitik", in:
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Β. Nostalgien und rückwärtsorientierte Toleranzen Charakteristisch für das Transitorium, in dem sich die fünf neuen Länder befinden, ist die entstandene gewisse DDR-Nostalgie. Man befindet sich mitten im Fluß, der Strom ist reißender als erwartet, das Wasser eisiger als befürchtet, das rettende Ufer ist zwar nahe, aber der Blick zurück fällt dann doch, je länger der Übergang dauert, wehmütig aus. Vielleicht, könnte es sein, daß die Verhältnisse in der DDR ganz erträglich waren (Tabelle 2)1 Der Mut zur Veränderung, der das Ende der DDR bedeutete, beginnt zu sinken. Wenn nur von der Risikogesellschaft gesprochen wird, verfällt der Mut zur Veränderung. In der geschlossenen sozialistischen Gesellschaft der DDR entstand ohne Pressefreiheit - wohl ein Anschein von Harmonie und Stabilität. "Darauf', so Elisabeth Noelle-Neumann9, "könnte die Legende von der menschlichen Wärme und Geborgenheit in der ehemaligen DDR beruhen." Bei einer realistischen Betrachtung muß auch die Erkenntnis eine erhebliche Rolle spielen, daß jeder fünfte befragte Ostdeutsche bekennt, daß er Mitglied der SED war. Übrigens befanden sich - Frühjahr 1992 - unter den Anhängern der Ost-CDU die wenigsten ehemaligen SED-Mitglieder (Tabelle 3) und wichtig ist auch, daß das Gefühl, von der Stasi verfolgt worden zu sein, bei den Ost-CDU-Anhängern am größten war (Tabelle 4). D.h., daß das Stichwort Blockflöte kaum die ganze Wirklichkeit des Parteienspektrums jenseits der SED abbildet. Die Ost-CDU wird sozusagen weit unter Wert gehandelt und sie verdiente eine eingehendere empirische Analyse. Aber zurück zur Betrachtung der Bevölkerung insgesamt. Zwei von drei Ostdeutschen sagen, sie hätten an den sozialistischen Staat geglaubt. Daß gar 78 Prozent der Schulabgänger mit Abitur bzw. Studium und sogar 82 Prozent der leitenden Beamten und Angestellten an den sozialistischen Staat geglaubt haben läßt erahnen, woher ein gut Teil der Probleme der postkommunistischen Gesellschaft herrühren. MEDIEN TENOR, Bonn-Bad Godesberg, Nr. 28 vom 1.10.95, S. 6. Beim MEDIEN TENOR handelt es sich um eine kommunikationswissenschaftlich arbeitende Forschergruppe "Der MEDIEN TENOR spiegelt wissenschaftlich exakt und neutral wider, wie überregionale deutsche Medien über bestimmte Themen, Sachverhalte und Personen berichten. Trends, Gewichtungen und Argumente werden offengelegt. Der MEDIEN TENOR untersucht dauerhaft und detailliert die Berichterstattung zu Themen von largfristiger Bedeutung: die Einheit Deutschlands, Parteien, Politiker, die DDR-Vergangenheit, Verteidigungspolitik, Technologien, Branchen, Gewerkschaften, Unternehmen, die Lage Deutschlands unter ökonomischen, politischen und sozialen Aspekten. Für jede Ausgabe werden vier aktuelle Themen analysiert." Zur Methode heißt es in dem Blatt: "Die Inhaltsanalyse ist ein Verfahren zur systematischen und quantitativen Erfassung der Medienberichterstattung. Texte werden nicht subjektiv interpretiert und bewertet, sondern nachprüfbar verschlüsselt."; Vgl. auch Heft 8/95 von "Media Perspektiven". 9 Elisabeth Noelle-Neumann: Drei Jahre nach dem Fall der Mauer. Die Einstellung der West- und Ostdeutschen zueinander und zur Wiedervereinigung, Institut für Demoskopie Allensbach, Manuskript, Allensbacher Archiv, Januar 1993, S. 62; Vgl. auch: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984-1992, hrsg. von Elisabeth Noelle-Neumann und Renate Köcher, München und Allensbach 1993.
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So entstehen in den neuen Bundesländern Toleranzen mit Blick nach links und mit Blick zurück. Der PDS darf man die Fehler der SED oder allgemein die Fehler in der DDR nicht vorwerfen, meinten in Ostdeutschland 47 Prozent gegen 32 Prozent gegenteiliger Auffassung. Die PDS wird eher als eine demokratische Partei toleriert. Nur ein Drittel der Befragten zweifelt am Demokratiepotential der SED-Nachfolgepartei. Im Westen empfinden dagegen 71 Prozent diese Zweifel. Besonders bedenklich wird die rückwärtsgewandte Toleranz, wenn die Gegenwart deshalb kritisch-distanziert-unbeteiligt betrachtet wird. Dann gilt die Gesellschaftsordnung, "so wie sie jetzt ist", als nicht unbedingt verteidigungswert. Zweifel hat dann jeder Dritte in Ostdeutschland, ob wir aktuelle Probleme mittels der demokratischen Staatsform lösen können. Und ob die Demokratie die beste Staatsform sei, darüber ist eine Mehrheit sich noch gar nicht schlüssig (Tabelle 5). Das demokratische Bewußtsein ist bei den Regierungsparteien vorhanden, läßt dagegen sehr bei den Oppositionsparteien zu wünschen übrig , was eine These von Frederic David Weil stützt, der von einem "Regierungsmachtfaktor" gesprochen hat. Er macht es den Bürgern, "deren bevorzugte Partei an der Regierung ist", leichter, "sich mit der Demokratie zu identifizieren, als Bürger, deren bevorzugte Partei in der Opposition ist" - so Elisabeth Noelle-Neumann in einem Allensbach-Bericht für die FAZ 10 . Bei aller Skepsis gegenüber den Demokratiepotentialen in den neuen Bundesländern darf aber auf keinen Fall vergessen werden, daß die 89er Revolution gerade aus dem demokratischen Bewußtsein heraus gegen den Polizeistaat und die hypermilitarisierte Gesellschaft sich entfaltete: "Wir sind das Volk". Dieses demokratische Bewußtsein bedarf der Unterstützung und ständigen Erneuerung. Das ist m.E. eine wichtige Schlußfolgerung, die aus der demokratieskeptischen Einstellung in Ostdeutschland zu ziehen ist. Die These von der nachkommunistischen Gesellschaft und ihren Problemen ließe sich, wozu hier nicht der Raum ist, entsprechend dem Totalitarismusansatz mit Erkenntnissen aus der westdeutschen Nachkriegszeit untermauern durch Belege der Nachwirkung der ersten Diktatur. Dazu sei nur ein Vergleichshinweis gegeben (Tabelle 6). Er zeigt - sozusagen als angewandte, empirische Totalitarismusforschung - welche Vergleiche zu ziehen möglich ist. Die Tabuisierung eines Vergleiches 11 , der ja auch die Unterschiedlichkeit der Systeme zum Ergebnis haben kann, ist unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten absurd. Schon nach 1945 war 10 "Die Demoskopie in den neuen Bundesländern", in: Deutsche Fragen - deutsche Antworten, FAZ vom 30.9.91. Vgl. auch Deutsche Fragen - deutsche Antworten, FAZ vom 16.8.94 von Elisabeth NoelleNeumann: "Eine Nation zu werden ist schwer. Ostdeutsche Sozialisation und westdeutsche Naivität" und Elisabeth Noelle-Neumann: "Das demoskopische Defizit" vom 20. September 1995 (FAZ/Deutsche Fragen - deutsche Antworten). 11 Durch einen Abdruck der Stellungnahme von Jürgen Habermas vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages fällt die Tabuisierung des Vergleichs nun etwas schwer. Jürgen Habermas: Die Last der doppelten Vergangenheit, in: DIE ZEIT vom 13. Mai 1994, S. 54.
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der Totalitarismusansatz nicht selbstverständlich. Politisch gesehen hatte man es allerdings leichter, denn damals duldete man keine NSDAP-Nachfolgepartei. Die Nachkriegsregierungen hätten es schwerer gehabt. Die These von der nachkommunistischen Gesellschaft lädt auch förmlich dazu ein, den eigentlich angemessenen Ost-Ost-Vergleich durchzuführen, die neuen Bundesländer mit Polen, Tschechien usw. zu vergleichen, z.B. die Demokratieverankerung. Dieser ergänzende Vergleich postdiktatorischer Gesellschaften wäre deshalb angebracht, um ihn mit den wattierten Transformationsproblemen unter dem Dach einer Demokratiezu kontrastieren. Realistisch, so haben wir bisher herausgearbeitet, ist es, die real existierenden Differenzen im geeinten Deutschland analytisch zu identifizieren.
C. Spalterformeln im Einigungsprozeß Doch wird der Rahmen einer seriösen Analyse arg strapaziert, wenn, wie ich es nennen möchte, neue Spalterformeln in den nicht leichten Prozeß des Zusammenwachsens implantiert werden. Von Medienechodemoskopie muß gesprochen werden, wenn Ost-West-Vorurteile, die Sand im Getriebe der Einigung sind, durch direkte Fragen angesprochen werden. Denn dann spiegelt die Demoskopie diese Vorurteile auch einfach nur direkt wieder. Eine ausführliche Wiederlegung derartiger Kurzschlüsse kann an dieser Stelle nicht erfolgen, aber vielleicht genügen einige Hinweise. Von denjenigen Westdeutschen, die im Osten Gespräche geführt haben, hatten nur 26 Prozent den Eindruck, sie hätten "Jammer-Ossis" getroffen, 65 Prozent hatten nicht diesen Eindruck (März/April 1994). Und umgekehrt hatten die Ostdeutschen, die mit Westdeutschen ins Gespräch kamen nur zu 28 Prozent den Eindruck, es handele sich um "Besser-Wessis", aber 61 Prozent hatten diesen Eindruck nicht. Es gibt also Vorurteile, aber der in der Öffentlichkeit erzeugte Eindruck über das Ausmaß des Problems ist völlig falsch. Ähnliches kann von der Spalter-Formel "Mauer in den Köpfen" oder dem Kolonialisierungsvorwurf gesagt werden.12 Vielleicht ist der Satz von Günter Kunert ja richtig, "daß die Intellektuellen in Ost- wie Westdeutschland an der Mauer in den Köpfen fleißig mitbauen". Und weiter schreibt er zum fünften Jahrestag der deutschen Einheit: "Indem die in Ostdeutschland vorhandenen Ressentiments in den Medien aus mehr oder weniger berufenen Mündern unterstützt, gar verklärt werden, kann die Distanz zwischen Westlern und Ostlern sich kaum verringern". 13 12 Ein Beleg für das Interesse, den Kolonialisierungsvorwurf erheben zu können, zeigt die im NEUEN DEUTSCHLAND erschienen Besprechung des Buches von Wolfgang Dümeke/Fritz Vilmar: Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1995, in: NEUES DEUTSCHLAND vom 13.10.95. 13
"Geistige Welt" vom 30.9.95.
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Läßt man die Spalter-Formeln Revue passieren nimmt es nicht Wunder, daß die Frage nach dem leitenden Motiv für den Übergang von der kommunistischen zur postkommunistischen Gesellschaft 1989/90 ebenfalls bereits von neuen Legenden verschleiert wird: Stichwort Banane. Nur zwei Hinweise dazu. In Westdeutschland kam es 1989/90 im Verlaufe nur eines halben Jahres zu einer sehr starken Beurteilungsänderung über die Motive der Übersiedler (Tabellen 7 a und 7 b; vgl. auch Graphik 3). Ein klassisches Medienecho läßt sich an diesen Zahlen ablesen, erhoben zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990. Damals, nach der Maueröffnung, wurden die Kosten der Einheit ganz in den Vordergrund gerückt: diese Erkenntnis ist nicht ein bloßer Eindruck, subjektive Meinung des Verfassers. Der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger konnte empirisch belegen, wie sehr die Medienberichterstattung im Frühjahr 1990 umgeschlagen ist. Zunächst erschienen die DDR-Flüchtlinge "als Rebellen, die, vom Wunsch nach Freiheit getrieben, ihre materielle Existenz riskierten. In Ostdeutschland verstärkte dies den Drang nach Veränderung und lieferte erfolgversprechende Verhaltensmodelle.In Westdeutschland löste es eine einzigartige Welle spontaner Hilfsbereitschaft aus." Doch dann kam die Wende in der Wende: "Nach der Öffnung der Mauer vermittelte die Fernsehberichterstattung den Eindruck, daß die Übersiedler nur einem höheren Lebensstandard nachliefen. Aus einer Freiheitsbewegung wurde eine Wohlstandsflucht. Offenbar konnten die Berichterstatter nicht verstehen, daß die Übersiedler auch jetzt noch einem Regime mißtrauten, das sie schon einmal vor den Augen der Weltöffentlichkeit eingemauert hatte. Im Gefolge des Umschwungs der Berichterstattung wuchs unter den Westdeutschen der Widerstand gegen die Unterstützung der Übersiedler. Bereits im Frühjahr 1990 verdrängte eine Welle von Mißgunst die Welle der Hilfsbereitschaft vom Herbst 1989. Damit verloren die Ostdeutschen das einzige, was sie den Westdeutschen vorausgehabt hatten - die Bewunderung für den erfolgreichen Kampf um Freiheit. Zugleich war der Aufstand als Symbol des Freiheitswillens der Deutschen verspielt, bevor er sich wirksam entfalten konnte."14 Diese medieninszenierte Agendasetzung schuf die Legende, das Hauptmotiv aller revolutionären Veränderung sei wirtschaftlicher Natur gewesen. Diese Unterstellung dürfte ziemlich falsch sein, ist jedoch in manchen Kreisen Ost- wie Westdeutschlands sehr populär. Lothar Fritze hat diese marxistische Revanche- und Racheparole noch am ehesten auf ein plausibles Argumentationsmuster angehoben in seinem Aufsatz: "Irritationen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß" 15. Daß der unter14 Hans Mathias Kepplinger. "Fernsehen war Motor und Bremse. Die Rolle der Berichterstattung auf dem Weg zur Einheit", in : FOCUS vom 25.9.95, S. 72; Vgl. ders./Andreas Czaplicki: "Die deutsche Vereinigung im Femsehen" in: Jens Hacker, Hans Mathias Kepplinger, Andreas Czaplicki: "Das DDRBild". Einschätzungen und Wahrnehmungen in Politik und Medien, hrsg. von der Konrad-AdenauerStiftung, Sankt Augustin 1995; Michael Minholz/Uwe Stirnberg: Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN). Gute Nachrichten für die SED (Kommunikation und Politik, Bd. 27) München 1995. 15 "Man sitzt jedoch einem Vorurteil auf, wenn man glaubt, die Masse der DDR-Bürger habe im Herbst 1989 und später bei den Volkskammerwahlen im März 1990 in erster Linie für Freiheit und
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stellte Materialismus aber nicht die ganze Wahrheit sein kann, dafür gibt es viele Hinweise: Einmal: die Magnetwirkung des Westens existierte andauernd, mit ihr kann der Herbst '89 nicht beschrieben werden. Weiter, retrospektiv gesehen: es wurde den Montagsdemonstranten in Ostdeutschland kein "himmlischer Friede" beschert, - aber das wußten die Demonstranten selbst damals nicht, sie demonstrierten für ihre Freiheit. Zum anderen: Für den materiellen Wohlstand riskiert man nicht sein Leben. Und schließlich: "Wir bleiben hier" ist kaum als eine Flucht-in-dieDM-Bewegung zu verstehen. Jedenfalls, zusammenfassend getestet (Tabelle 8), fand im Juni 1990 das Meinungsfreiheitsmotiv eine recht hohe Anerkennung. Daß im übrigen nach einer real existierenden Mangelgesellschaft ein Konsumwunsch sich entfaltet, kann kaum verwundern. In den angelsächsischen Ländern findet übrigens der Freiheitswert eine sehr große Zustimmung unabhängig von der Wirtschaftsentwicklung, d.h. die lange Erfahrung von Freiheit läßt auch die Wertschätzung dieses Gutes steigen.
D. Die Vergangenheit des Westens Der häßliche Bananenvorwurf stammt aus dem Westen. Dem seinerzeitigen Grünen-Abgeordneten Otto Schily (heute SPD) bleibt der zweifelhafte Ruhm, am Wahlabend des 18. März 1990 mit einer Banane vor den TV-Kameras hantierend "argumentiert" zu haben. Das führt zu der Frage, was für Probleme hat der Westen, genauer: welche Probleme die westdeutsche Intelligenz eigentlich mit der Einheit hat? Die nachkommunistische Gesellschaft im Osten kann nicht verstanden werden, wenn nicht zugleich die Vorgeschichte der Einheit im Westen beachtet wird. Das soll auch heißen, daß eine DDR-Forschung heute wie früher eine Deutschlandforschung sein muß.16 Leider habe ich nicht den Raum, um auf diejenigen im Westen einzugehen, die sich mit Blick nach Osten als Rückversicherer verhalten haben.17 Auch im Westen ist eine Vergangenheit zu bewältigen. Demokratie votiert. Natürlich hat der DDR-Bürger auch für seine politische Freiheit gekämpft. Hier gab es einen Komplex von Motiven. Das Hauptmotiv allerdings, sowohl die DDR zu verlassen als auch das realsozialistische Experiment zu beenden und den Beitritt zur Bundesrepublik zu wählen, war wirtschaftlicher Natur. Die Unzufriedenheit mit den DDR-Verhältnissen entsprang vor allem einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den materiellen Lebensbedingungen. Es war allgemein bekannt, daß diese im anderen deutschen Staat entschieden besser waren, und von diesem höheren westlichen Lebensstandard ging eine große Anziehungskraft aus." In: Lothar Fritze: Irritationen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 27/95 vom 30. Juni 1995. 16 Vgl. jetzt den Tagungsband "DDR-Forschung. Bilanz und Perspektiven", hrsg. von Heiner Timmermann, Berlin 1995, bes. S. 29 ff., 41 ff., 71 ff., 83 ff. u.a.m. 17 Auf der akademisch-intellektuellen Ebene vgl. dazu die grundsätzliche Kritik von Jens Hacker: Deutsche Irrtümer (s.o. Anm 4). Auf der Ebene der Konspiration vgl. dazu den Hinweis auf über zweitausend inoffizielle Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit in Westdeutschland, in: Woche im BUNDESTAG 14/95 vom 6.9.95, S. 5.
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Außer dem selbstgerechten Materialismusvorwurf gab es in Westdeutschland aber ein zusätzliches Unbehagen, was den Einheitsgedanken belastete. "Im Westen gab es die Angst vor dem Nationalen", schreibt Richard Schröder in einer Serie 18 zum 5. Jahrestag der deutschen Einheit. Er sagt weiter "Wir müssen uns wieder als ein Volk oder eine Nation verstehen lernen". Eben das fällt vielen Westdeutschen bisher schwer. Aus dem Osten kam der für die meisten unerwartete, revolutionäre Ruf, der die Spaltung Deutschlands beendete: "Wir sind ein Volk". Im Westen hatte man sich mit der Teilung arrangiert. Die Wiedervereinigung gehörte schon lange nicht mehr, spätestens mit Beginn der sozial-liberalen Ära, zu den wichtigsten Prägen. Aber, immerhin, der Wiedervereinigungswunsch blieb sehr wohl erhalten (Tabelle 9). In diesem Zusammenhang möchte ich das Buch von Elisabeth Noelle-Neumann: Demoskopische Geschichtsstunde empfehlen, das die politischen Schlüsselumfragen aus dem Zeitraum 1981-1991 zusammenträgt. Dabei handelt es sich um zum Teü überarbeitete und aktualisierte Studien aus der FAZ, der Politischen Meinung (Wesseling) und um Allensbacher Archivmaterial; sieben Beiträge sind vor dem Fall der Mauer publiziert worden, vierzehn danach. Das Bändchen ist ein Muß für jeden Deutschlandforscher. 19 In diesem Buch ist auch nachzulesen, daß die Westdeutschen am Ziel der Einheit festhielten, wenn sie auch illusionslos die Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung der Welt stehen sahen. Die DDR betrachteten die Westdeutschen erwartungsgemäß als besonders unsympathisches Land, dagegen wurden die Menschen in der DDR als sympathisch beurteilt (Tabelle 10). Über diesen Befund zur nationalen Kohäsion der Deutschen las man wenig und entsprechende Fachliteratur wurde kaum zitiert. Fast könnte man von einem Schweigekartell sprechen. Diese Differenzierung zwischen der DDR als unsympathischen Land und der Verbundenheit mit ihren Bewohnern ist hervorzuheben. Und im Januar 1989 niemand20 dachte an die bevorstehende Wiedervereinigung - antworteten die Westdeutschen auf die Frage, ob die Menschen in der DDR eher Landsleute seien oder eher Fremde mit 71 Prozent: eher Landsleute, nur 17 Prozent: eher Fremde. 18 Vgl. oben Anm 16. Vor 1989 konnte diese Beobachtung der Angst vor dem Nationalen, der "Flucht vor allem Nationalen" auch schon konstatiert werden, vgl. das Kapitel "Der antinationale Affekt" in meinem Buch "Prinzip Nation", 2. Aufl. 1987, S. 48 ff. sowie mein Rezensionsaufsatz "Die nationale Frage in Deutschland", in: Neue Politische Literatur 2/83, der mit dem Satz beginnt: "Es gibt einen antinationalen Affekt". 19
Zürich, Edition Interfrom 1991.
20 Dennoch ist es wichtig - was die Prognosefähigkeit angeht - zu sehen, welche benennbaren Autoren in diese Richtung weisende Entwicklungsmöglichkeiten ausgesprochen, erwartet, zumindest nicht ausgeschlossen haben, was aber nicht das Thema dieser Abhandlung ist. Doch der Satz von Robert Solow ist sicher bedenkenswert, den György Bence und Seymour Martin Lipset anführen: "Warum sollte man von jemandem, der so schlechte Prognosen macht, erwarten, daß er zu anderen Themen brauchbare Meinungen hat?" Bence/Lipset: Der wohlfundierte Irrtum. Die Sowjetologie und das Ende des Kommunismus, in: Transit Nr. 9, Frankfurt/M. 1995, S. 90.
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Und an der Selbstbestimmungsformel in der Präambel des Grundgesetzes sollte auf jeden Fall festgehalten werden (Tabelle 11) -doch dieses Nationalbewußtsein wurde in der politischen Elite weniger geteilt, um sich vorsichtig auszudrücken. Mehr noch. Der einflußreiche Historiker Hans Mommsen durfte 1979 den Zeitgeist, wie er in manchen Universitäten wehte, folgendermaßen auf den Begriff bringen: "Die Herausbildung eines nationalen Teilstaatsbewußtseins in der Bundesrepublik ist auf Grund einer Vielzahl verfügbarer Meinungsumfragen nachgewiesen worden." 21 Derartige Behauptungen waren ein schwerer Schlag für alle, die den Wiedervereinigungsgedanken als - trotz aller macht- und mächtegestützten Teilung in der Bevölkerung präsent ansahen22 - und wie hier gezeigt wurde: Zu Recht als präsent ansahen. Für die Vertreter der sozialistischen Nations-lehre hatte Mommsen eine willkommene Haltung eingenommen.23 Doch wer Mommsen widersprach, zog sich den Verdacht zu, kalter Krieger zu sein, was in der Wissenschaftswelt die Isolation zur Folge hatte, der so Bezeichnete hatte kaum Chancen, für diskursfähig angesehen zu werden. "Wer vor zehn oder auch noch fünf Jahren von zwei Diktaturen in Deutschland gesprochen hätte, hätte sich vermutlich scharfer Kritik ausgesetzt", so Christoph Kleßmann in einem Aufsatz "Zwei Diktaturen in Deutschland" von 1995.24 Im Ausland sah man die Teilung Deutschlands eher als Friedensgefährdung an (Tabelle 12). Ein wiedervereinigtes Deutschland diente nach Ansicht der Mehrheit der französischen, britischen und amerikanischen Bevölkerung dem Frieden mehr. Im Inland aber wurde über die ausländische Meinung zur Wiedervereinigung jahr-zehntelang das Gegenteil behauptet.25 Kurz: Es ist wichtig zu erkennen für die Analyse der nachkommunistischen Gesellschaft, daß die östliche Gesellschaft ihre eigenen Probleme hat, aber genauso wichtig ist es, daß auf der anderen, westlichen Seite, unter dem gemeinsamen nationalen Dach, eine freie Gesellschaft ebenfalls sich neu realistisch positionieren muß. 21 Vgl. Noelle-Neumann, Anm. 19, S. 33 ff. Eine kritische Position Mommsens zu diesen falschen und schädlichen Behauptungen sucht man vergebens. 22 In meinem oben erwähnten (Anm. 18) Rezensionsaufsatz heißt es, in der DDR gebe es keinen antinationalen Affekt, "weil es ein gesamtnationales Bewußtsein" in der Bevölkerung gebe, welches "das Ansinnen, einer artifiziellen, zutiefst unwahren sozialisitischen Nation angehören zu sollen, torpediert". 23 Vgl. zu der Preisgabe der gesamtdeutschen Nation durch die propagierte Bi-Nationalisierung Deutschlands, Tilman Mayer, Anm. 18, S. 210 f. 24 "Es ist überhaupt keine Polemik, wenn man sagt, daß die Existenz der DDR von der Roten Armee abhängt. Umgekehrt kann man aber nicht behaupten, daß die amerikanischen Truppen in der Bundesrepublik diesen Staat existenzfähig machten. Der Unterschied, den man eigentlich nicht zu erklären brauchte, besteht in der mangelnden Legitimität dieses mitteldeutschen Staates - und aller Herrschaftsstrukturen des sog. Ostblocks". Tilman Mayer in: Prinzip Nation, 2. Aufl. 1987, S. 136. 25 Deshalb waren folgende Sätze in der Politikwissenschaft eigentlich obsolet: "Wo die nationale Freiheit nicht gewahrt ist, weil ein Teil der Nation in Unfreiheit, in einer oktroyierten Ordnung lebt, kann man, verabsolutiert man den Frieden nicht, nicht von einer Friedensordnung sprechen." Mayer, Anm. 14, S. 234.
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E. Gesamtdeutscher Optimismus Was also hält die Deutschen zusammen? Sind wir ein Volk? Wachsen die beiden Gesellschaften im deutschen Nationalstaat zusammen? Vom Verfassungspatriotismus, von der zivilen Gesellschaft ließe sich in Deutschland - für sich betrachtet, angesichts der prekären Demokratieverankerung in Ostdeutschland - schlecht leben.26 Nebenbei ein Hinweis, sich darauf zu besinnen, wovon die Demokratie in Deutschland heute zehren kann und daß die schon von Herman Heller geschätzte Homogenität einer Gesellschaft ein großes Kapital darstellt. Um eine realistische Analyse abzurunden, um die Probleme der nachkommunistischen Gesellschaft zu balancieren, bedarf es also des Hinweises auf einen wichtigen gesamtdeutschen Optimismusbefund. Trotz der erwähnten Prägungen und politischen Mentalitätsdifferenzen zwischen Ost und West ( - diese Polarität ist bestimmend und nicht etwa der Gegensatz einzelner Bundesländer, die viel erwähnte Bundesstaatlichkeit in Deutschland spielt bei diesen Fragen keinerlei Rolle) 27 , gibt es etwas, was ich - um das Wort national zu vermeiden - einen gesamtdeutschen Optimismus nennen will: - die Freude über die Wiedervereinigung ist ungetrübt - das Zusammenwachsen Deutschlands gelingt - zu Spannungen zwischen Ost- und Westdeutschen dürfte es schon gar nicht kommen (Graphik 4; Tabellen 13 und 14). So gesehen lassen sich eine realistische Betrachtung mit einem optimistischen Ausklang verbinden, ohne einer Schönfärberei zu verfallen.
26 Ulrich Sarcinelli: "Verfassungspatriotismus" und "Bürgergesellschaft" oder: Was das demokratische Gemeinwesen zusammenhält, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 20. August 1993, S. 25 ff. 27 Auch die Schaflung "einheitlicher" Lebensverhältnisse, zentrales Anliegen des Bundesstaatsdenkens, kann übertrieben werden. Zurecht fragt Ilse Spittmann deshalb "Wieviel Einheit brauchen wir?"in: Aus Politik und Zeitgeschichte vom 15.9.95, S. 3 ff.
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Tabellen und Abbildungen Tabelle 1 Überfordert der Wiederaufbau im Osten die westdeutsche Wirtschaft? (Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre - Angaben in %) Frage: "Ist die westdeutsche Wirtschaft stark genug, um der schwachen Wirtschaft in den neuen Bundesländern zu helfen und sie zu sanieren, oder geht diese Unterstützung über die Verhältnisse der westdeutschen Wirtschaft? ' Westdeutschland Ostdeutschland Sept. Okt. Mrz. Okt. Juli Juni Sept. Okt. Mrz. Okt. Juli Juni 1990 1990 1991 1991 1993 1994 1990 1990 1991 1991 1993 1994 Wirtschaft ist stark genug 56 64 53 61 29 40 85 86 73 78 58 57 Geht über die Verhältnisse 27 19 28 25 52 43 6 5 10 9 23 21 Unentschieden 17 17 19 14 19 17 9 9 17 13 19 22 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 Sept. 1990: Frageformulierung: "Ist die Wirtschaft in der Bundesrepublik stark genug, um der schwachen Wirtschaft in der DDR ..." Okt. 1990-0kt. 1991 : Frageformulierung: "... um der schwachen Wirtschaft in der ehemaligen DDR zu helfen..." Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 5039/11, 5049, 5056, 9003/11, 9005/11, 5082, 5096.
Tabelle 2 Wie waren die Verhältnisse in der DDR wirklich? (Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre - Angaben in %) Frage in Westdeutschland: "Wie würden Sie das beurteilen, was die Verhältnisse in der DDR in den letzten Jahren vor der Wende eigentlich ganz erträglich für die Menschen dort, oder würden Sie sagen, es mußte sich unbedingt vieles ändern?" Frage in Ostdeutschland: "Wenn Sie jetzt einmal zurückblicken auf die letzten Jahre vorder Wende in der DDR - waren die Verhältnisse eigentlich ganz erträglich, oder würden Sie sagen, es mußte sich unbedingt vieles ändern?' Westdeutschland Ostdeutschland Mrz Aug. Mrz. Okt. Sept. Okt. Mrz. Aug. Mrz. Okt. Sept 1991 1991 1992 1992 1994 1990 1991 1991 1992 1992 1994 Waren ganz erträglich 11 11 15 16 22 26 28 11 22 32 34 Mußte sich unbedingt 76 77 72 74 72 70 57 63 56 69 60 ändern Unentschieden 13 12 15 13 12 8 10 11 9 11 12 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 Juni 1990-Aug. 1991 Ostdeutschland: "... die letzten zwei Jahre in der DDR ..." Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 5049, 5054, 5062, 5071, 6004, 9002, 9005/1.
Tabelle 3 Anteil von ehemaligen SED-Mitgliedern unter den Anhängern der heutigen Parteien (Ostdeutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre - Angaben in %) Frage: "In der ehemaligen DDR kam man ja oft nicht darum herum, Mitglied der Partei zu werden. Wie war das bei Ihnen, waren sie Mitglied der SED, oder waren Sie nicht Mitglied?" Februar / März 1992 - Anhänger der Parteien Bev. insß. CDU FDP SPD B. 90/Grüne PDS War Mitglied der SED 22 9 29 29 23 66 War nicht Mitglied 74 71 89 66 75 26 Keine Angabe 4 2 X 5 2 8 η = 1052 220 60 265 71 39 χ = weniger als 0,5 Prozent. Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 5061.
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Tabelle 4 Beobachtete Stasi-Überwachung (Ostdeutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre - Angaben in %) Frage: "Wurden Sie selbst von der Stasi überwacht, oder hatten Sie das Gefühl, daß man Sie beobachtet, oder hat sich die Stasi nicht für Sie interessiert?" Februar / März 1992 - Anhänger der Parteien Bev. CDU PDS Männer Frauen FDP SPD B. 90/Grüne inSR.
Wurde über1 11 wacht Hatte das Ge17 19 fühl, beobachtet zu werden Hat sich nicht 26 32 für mich interessiert 44 44 Weiß nicht 1052 492 η = Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage
4
9
8
5
9
5
15
21
19
18
11
4
37
27
24
33
37
42
44 560 5061.
43 347
49 87
44 389
43 146
49 51
Tabelle 5 Noch keine erkennbare Verankerung der Demokratie in Ostdeutschland (Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre - Angaben in %) Frage: "Glauben Sie, die Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben, ist die beste Staatsform, oder gibt es eine andere Staatsform, die besser ist?' Westdeutschland Demokratie beste Staatsform Gibt andere, die besser ist. Unentschieden 1967, Oktober* 74 4 100 22 14 100 1974, August 72 14 74 17 100 1975, Juli / August 9 66 20 100 1977, August 14 18 100 1978, November 71 11 11 100 1990, November 81 8 100 12 80 8 1991, April 7 13 100 1991, Juli 80 100 77 12 11 1991, September 16 100 6 78 1992, Dezember 100 17 8 75 1993, Dezember 100 76 15 9 1994, Februar März 100 15 6 79 1994, September Ostdeutschland 40 100 41 19 1990; November 43 100 31 26 1991, April 43 100 1991, Juli 32 25 37 100 34 29 1991, September 100 41 20 39 1992, Dezember 38 100 30 1993, Dezember 32 100 28 41 1994, Februar März 31 40 100 25 1994, September 35 *Frage: "Glauben Sie, daß die Demokratie für Deutschland die beste Staatsform ist, oder könnten Sie sich eine bessere vorstellen?" Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 2032, 2156 (ab 18 Jahre), 3017, 3046, 3061, 5043/11, 5050, 5053, ,5055, 5074,, 9007/11, 5088, 8092, 6003.
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Tabelle 6 Vergleichende Totalitarismusforschung (Angaben in %) Halten Sie den Nationalsozialis- Halten Sie den Sozialismus für mus für eine gute Idee, die schlecht eine gute Idee, die schlecht ausgeausgeführt wurde? führt wurde? Westdeutschland, Oktober 1948 Juni 1994, Ostdeutschland 57 63 Ja 18 28 Nein 15 19 Unentschieden 100 100 Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 113 und 5096.
Spiegel-Titel, Agenda-Setting 26/90 Die Stunde Null : D M für die DDR 39/90 Vereint aber fremd 41 /90 Beutezug im Osten 16/91 Übernehmen wir uns? Millionen fur den Osten 27/91 Wieviel noch? Steueropfer für den Osten 13/92 Große Pleite. Ist die Einheit unbezahlbar? 18/92 Das Teilen beginnt, Opfer für den Osten 34/92 Deutsche gegen Deutsche. Die neue Teilung 33/94 Der Osten is' stark. Vom Stolz in den neuen Ländern 7/95 Das Millardengrab Aufschwung Ost 27/95 Das Ostgefühl. Heimweh nach der alten Ordnung 36/95 Blühende Landschaften?
Tabelle 7a Radikal veränderte Beurteilung - Motivforschung I (Alte Bundesrepublik, Bevölkerung ab 16 Jahre - Angaben in %) Frage: "Was, glauben Sie, wird für die Deutschen aus der DDR, die jetzt zu uns kommen, wichtiger sein, damit sie sich wohlfiihlen: der höhere Lebensstandard oder die Freiheit bei uns?' Sept. 1989 März 1990 Höherer Lebensstandard 26 59 Freiheit 60 28 Unmöglich zu sagen 14 13 η= 1070 1026 Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen, 5025, 5032.
Tabelle 7b (Angaben in %) Frage: "Was, glauben Sie, wird für das Glück der Menschen in der DDRin Zukunft wichtiger sein, die Freiheit, die Rechtssicherheit oder der höhere Lebensstandard?" Juni/Juli 1990 Höherer Lebensstandard 58 Freiheit, Rechtssicherheit 34 Unmöglich zu sagen η= 1026 Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen, 5037.
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Tabelle 8 Die Sicht der Akteure - Motivforschung I I (Juni 1990 - DDR, Bevölkerung ab 16 Jahre - Angaben in %) Frage: "Es gibt ja jetzt in der DDR viele neue Freiheiten, auf die man läge Jahre verzichten mußte. Jetzt gibt esfreie Wahlen und Meinungsfreiheit und andererseits auch die Reisefreiheit und die Freiheit in dem, was man kauft. Was meinen Sie, was ist für Sie jetzt wichtiger, freie Wahlen und Meinungsfreiheit oder die Reisefreiheit und die Freiheit beim Einkaufen?" Bev. insg. Politisches Interesse interessiert nicht besonders, gar nicht Freie Wahlen und Meinungsfreiheit 39 47 27 Reisefreiheit und Freiheit beim Einkaufen 13 7 22 Beides gleich wichtig 39 39 39 Unentschieden 9 7 12 n= 576 369 207 Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 9002.
Tabelle 9 Wunsch der Mehrheit: Wiedervereinigung (Bundesrepublik mit West-Berlin, Bevölkerung ab 16 Jahre - Angaben in %) Frage: "Wünschen Sie sehr, daß die Wiedervereinigung kommt, oder ist Ihnen das nicht so wichtig?" Juli 1986 Juli 1987 September 1989 Jan. 1976 Juli 1981 61 Wünsche ich sehr 60 51 50 52 Nicht so wichtig 36 32 43 43 45 7 6 5 Andere Antwort 4 5 100 100 100 100 100 Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 3023, 3098,4075,4092/11, 5025.
Tabelle 10 Nationalbewußtsein: Unterschied zwischen Land und Leuten (Bundesgebiet mit West-Berlin, Bevölkerung ab 16 Jahren, Januar 1983 - Angaben in %) Fragen: "Welche von diesen Leuten (in der Hälfte der Interviews: "... von diesen Ländern) hier sind Ihnen besonders sympathisch? Wenn Sie bitte nicht mehr als drei heraussuchen." "Und welche von diesen Leuten (Ländern) sind Ihnen besonders unsympathisch? Wenn Sie es mir wieder nach dieser Liste sagen." (jeweils Vorlage einer Liste)
"Leute" Die Österreicher Die Schweizer Die Franzosen Die Holländer
Sympathisch 52 47 31 27
Unsympathisch 6 5 7 16
Die Menschen in der DDR
26
7
Die Italiener Die Briten
15 14
24 19
Die Griechen
13
7
Die Tschechen Die Russen Keiner davon
"Länder" Österreich Schweiz Frankreich Niederlande
Sympathisch 63 63 43 31
Unsympathisch 4 4 5 10
Italien
26
18
Griechenland Großbritannien
23 14
5 17
4
46
DDR
4 18 Tschechoslowakei 3 32 4 37 Sowjetunion 3 57 11 34 Keines davon 5 22 244 180 278 220 Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4020; Elisabeth Noelle-Neumann: Demoskopische Ge schichtsstunde. Vom Wartesaal der Geschichte zur Deutschen Einheit, Zürich 1991, S. 27.
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Tabelle 11 Westdeutsche bejahten Grundgesetz-Präambel: "An Einheit festhalten" (Bundesgebiet mit West-Berlin, Bevölkerung ab 16 Jahren - Angaben in %) Frage: "Hier steht ein Satz aus dem Grundgesetz - wenn Sie ihn bitte einmal lesen: Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. - Was meinen Sie: Soll dieser Satz auch weiterhin im Grundgesetz stehen, oder finden Sie, er sollte gestrichen werden?' Apr. 73
Jan. 76
Jan. 78
Mai 79
Juni 82
Sollte weiterhin im Grundgesetz stehen
73
72
75
76
77
Sollte gestrichen werden
11
12
11
10
Unentschieden
16
16
14
14
Okt./Nov. 83
März 85
Dez. 85
Juli Dez. Jan. 88 88/89
79
72
69
69
75
9
7
13
12
16
12
14
14
15
19
15
13
100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 Tabelle über den Zeitraum der Veröffentlichung des Originaltitels fortgeführt. Quelle: Allenbsbacher Archiv, IfD-Umfragen 2093, 3023, 3052, 3079, 4010, 4034, 4055, 4066, 5007, 5014.
Tabelle 12 Deutschland: besser geteilt oder wiedervereinigt? Die Ansichten der Franzosen, Engländer und Amerikaner 1984 (Frankreich, Großbritannien, Bevölkerung ab 15 Jahren, USA, Bevölkerung ab 18 Jahren - Angaben in %) Frage: "Deutschland ist ja geteilt in die Bundesrepublik und die DDR. Darüber, ob es für den Frieden in der Welt besser ist, wenn Deutschland geteilt bleibt oder wiedervereinigt wird, gibt es verschiedene Meinungen. Welcher dieser beiden Meinungen würden Sie eher zustimmen?" (Vorlage einer Liste) Frankreich 'Wenn ein Land gegen seinen Willen geteilt ist, entstehen dort besonderes leicht Spannungen. Deshalb wäre ein wiedervereinigtes Deutschland besser" "Ein wiedervereinigtes Deutschland wäre zu stark und könnte das internationale Kräftegleichgewicht stören. Für den Frieden in der Welt ist daher ein geteiltes Deutschland besser" Unentschieden
Großbritannien
USA
43
51
54
25
26
31
32 23 15 100 100 100 η_Ξ 2000 1889 1255 Quellen: Institut für Demoskopie Allensbach: Das Ansehen der Deutschen. Eine Represäntativbefragung in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich im Auftrag des STERN. Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 2970/1, Tabelle 7. Die Umfragen wurden durchgefühlt von den folgenden Institutionen: Institut Français des Demoscopie, Paris; NOP Market Research Ltd., London; Louis Harris and Ass., Inc., New York.
Probleme einer nachkommunistischen Gesellschat
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Tabelle 13 Überzeugung: Das Zusammenwachsen gelingt (Gesamtdeutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre - Angaben in %) Frage: "Glauben Sie, daß das Zusammenwachsen Deutschlands gelingt, oder glauben Sie, daß Ost und West im Grunde immer zwei getrennte Staaten bleiben werden?" Gesamtdeutschland Alte Bundesrepublik Neue Bundesländer Juli 1993 Okt. 1994 Juli 1993 Okt. 1994 Juli 1993 Okt. 1994 48 68 74 63 73 Zusammenwachsen gelingt 60 23 19 21 32 21 Werden wie zwei getrennte 22 Staaten bleiben 20 18 5 9 6 Unentschieden 18 100 100 100 100 100 100 Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 5082, 5109/28.
Tabelle 14 Daß Spannungen zwischen West- und Ostdeutschen ausbrechen könnten, ist eine der geringsten Sorgen in Deutschland (Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre) Alte Bundesrepublik Neue Bundesländer Rang-Platz der erfragten Prozent Prozent Rang-Platz der erfragten Sorgen Sorgen 19/20 8 12 14/20 1990 September September/Oktober 19/20 8 10 17/20 19/23 15/23 9 14 Oktober Oktober/November 12/13 9 13 10/12 10 Mitte November 9/12 9 10/12 12/15 8 Ende November 12 10/15 Dezember 9/12 10 15/18 8 14 16/18 1991 Januar 15/18 10 Februar 17 15/18 15/18 März 12 21 14/18 April 14/18 12 24 14/18 13/18 Mai/Juni 8 15 14/18 Juli 15/18 12 19 14/18 August 14/18 9 17 13/18 13/16 September 10 13/16 19 Oktober 13/16 20 11 13/16 November 13/16 9 25 13/16 Dezember 14/17 7 24 13/17 1992 Januar 14/17 8 15 14/17 Februar 16/17 15 12/17 11 Mai 9/10 16 11 9/10 Juni 17/19 8 22 15/19 Juli 15/18 8 25 13/18 August 15/18 9 21 14/18 September 14/18 11 15 15/18 Oktober 15/16 12 12 16/17 Oktober/November 18/18 12 14 15/18 November/Dezember 19/20 10 13 17/20 Es wird monatlich in Allensbacher Mehr-Themen-Umfragen erkundet, was die Sorgen der Bevölkerung sind, und es werden jeweils etwa zwanzig Sorgenbereiche zur Auswahl gestellt. Aus den monatlichen Sorgen wird die Sorge "Daß es zu Spannungen zwischen Ost- und Westdeutschen kommt" berichtet. Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen.
3 Timmermann
Graphik 1 Wirtschaftssystem der Bundesrepublik - wachsende Akzeptanzprobleme i m Osten Frage: "Haben Sie vom Wirtschaftssystem In der Bundesrepublik eine gute oder keine gute Meinung?' rpjtdeutschland I
•
i Gute Meinung Keine gute Meinung
1990 ι 1990 ι 1990 | 1990 | 1991 | 1991 I 1992 \ 1993 | 1994 | 1995 ι 1995 | 1995 | 1996 FebrJMIrz
Juni
Juli/Aug. Oktober
Februar
Oktober
Juni
November August
Januar
Juli/Aug. Nov./Det November
Quelle: Altensbacher Archiv, zuletzt IfD-Umfrage für dl· "WIrtichaftswoche" 6037,Nov. 1996
Graphik
2
Assoziationen zum Kapitalismus Frage: "Wenn Sie jetzt einmal an das Wort Kapitalismus denken - es kann einem ja dazu alles mögliche einfallen. Darf ich Ihnen mal einiges vorlesen? Sie sagen mir dann bitte, ob man bei Kapitalismus tatsächlich daran denken könnte." West 19901 Bei "Kapitalismus" könnte man denken an 1990 ' Ost West Ost 1995 ιιιιιιιιιιι 1990 19901995 Profit 92 96 96 Unternehmungsgeist
83
95
83
Tüchtigkeit
81
93
75
Fortschritt
73
86
60
Wirtschaftskrisen
72
83
92
Erfolgreich
78
81
60
Ausbeutung
69
77
91
54
77
75
54
65
37
49
56
59
29
50
50
56
48
33
Wohlstand für alle
36
29
6
Gerechtigkeit
26
26
7
Probleme einer nachkommunistischen Gesellschaft
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Graphik 3 Darstellung der Motive der DDR-Flüchtlinge / Ubersiedler i m Fernsehen
1989 • • •
Darstellung materieller Motive
1990
ezam Darstellung des Wunsches nach Freiheit
Quelle: Schaubild aus dem Manuskript von Hans Mathias Kepplinger: Motor oder Bremse? Die Rolle der Medien auf dem Weg zur Freiheit. Vortrag Dresden, ergänztes Manuskript (1995)
Graphik 4 Anlaß zur Freude / Sorge Frage: "Ist die deutsche Wiedervereinigung eher Anlaß zur Freude oder eher zur Sorge?"
Quelle: Allensbacher Archiv. IfD-Umfragen. *
Bevölkerung ab 16 Jahre.
II. Herrschaftsgeschichte
Differenzierung, Unterwanderung und Kaderkonzept Modelle der SED-Herrschaft anhand der Kirchenpolitik
Von Martin Georg Goerner Die Kirchen in der DDR waren stets ein unkalkulierbarer Fremdkörper im Herrschaftssystem der SED. Sie waren die einzigen demokratischen Organisationen in einem Staat, der nur einen "demokratischen Zentralismus" kannte und wirkten als ein gesellschaftlicher Freiraum, der vom System nicht vorgesehen war und beseitigt werden sollte, trotz aller Anstrengungen aber bis zuletzt erhalten blieb und eine wichtige gesellschaftspolitische und kommunikative Funktion innehatte. Schließlich betrachtete die SED die Kirchen als ideologische Konkurrenz, die sie durch Ersatzrituale zu verdrängen suchte, zumal sie als letzte große Institutionen ihrem Zugriff entzogen waren. Auf die Kirchen konzentrierte sich daher in besonderem Maße ihre Politik zur Herrschaftssicherung, nachdem alle anderen potentiellen Gegner relativ schnell von ihr aus- oder gleichgeschaltet werden konnten. Daher läßt sich am Beispiel der Kirchen besonders gut nachzeichnen, welche Strategien, Strukturen und Mechanismen die SED als Staatspartei zur Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruchs entwickelte. Eine adäquate Kategorie für die Beschreibung der Vorgehensweise der SED gegenüber den Kirchen ist durch den Begriff der "Herrschaftsausübung" gegeben, der durch den Charakter der Gesellschaft in der DDR gerechtfertigt ist. Jürgen Kocka spricht in diesem Zusammenhang - im Rückgriff auf Alf Lüdtke - von einer "durchherrschten Gesellschaft" und stellt fest, daß "ubiquitäre politische Herrschaft jene Gesellschaft bis in ihre feinsten Verästelungen hinein" prägte.1 Die Kirchen erscheinen in dieser Untersuchungsperspektive daher in erster Linie als ein Herrschaftsobjekt, das sich zur Veranschaulichung von Herrschaftsstrukturen anbietet.
1 Jürgen Kocka: Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka und Hartmut Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547-553, hier S. 548 sowie Alf Lüdtke: "Helden der Arbeit" - Mühen beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR, in: ebenda, S. 188-213, hier S. 188. Sigrid Meuschel verwendet den Begriff "Parteiherrschaft". S. dazu Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt/M. 1992.
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Martin Georg Goerner
A. Differenzierungspolitik und Unterwanderung Nach wechselhaften und unsystematischen kirchenpolitischen Ansätzen im Zeitraum von 1945 bis 1953 entwickelte die SED-Führung seit den sowjetischen Vorgaben zum "Neuen Kurs" von Ende Mai 1953 eine systematische und langfristig angelegte einheitliche Strategie gegenüber den Kirchen, die sich durch die Elemente "Differenzierung", "Unterwanderung" und "selektive Integration" kennzeichnen läßt. Damit trug die SED ihrer Erkenntnis Rechnung, daß sie durch die Repressionspolitik, die insbesondere im Zuge des "Aufbaus des Sozialismus" nach der 2. Parteikonferenz angewandt wurde, zwar ihrem Ziel einer Entkirchlichung der Bevölkerung näherkommen konnte, die kirchliche Organisation aber nach wie vor für ihre Herrschaftsausübung verschlossen geblieben war. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des "Kirchenkampfes" in der Zeit des Nationalsozialismus mußte äußerer Druck die Kirchen nur fester zusammenschließen bzw. in die Katakomben drängen und damit tendenziell zu einem zunehmenden Kontrollverlust führen. Schlimmstenfalls wäre erneut eine Spaltung in eine majoritäre regimetreue und eine minoritäre "bekennende" Kirche erfolgt. Davor hatte beispielsweise Oberkirchenrat Gerhard Lötz, der juristische Berater des Thüringer Bischofs Mitzenheim, die SED-Führung gewarnt. Das Hauptproblem, das sich der Parteiführung im Hinblick auf die Kirchen stellte, war die Tatsache, daß die SED hier nicht wie in den anderen Gesellschaftsbereichen oder wie im Staats- und Wirtschaftsapparat durch ihre Funktionäre unmittelbar präsent sein und agieren konnte, sondern zuvor erst Personen aus dem kirchlichen Raum als "Ansprechpartner" für ihr Anliegen gewinnen mußte. Die neue Strategie zielte deshalb mittelfristig darauf ab, durch eine Differenzierungspolitik, die gezielte Repressionen gegen die "reaktionären" Kirchenmitglieder ebenso wie selektive Integrationsangebote gegenüber den "fortschrittlichen" einschloß, die Kirchen zu spalten. Auf diese Weise wollte man Bündnispartner gewinnen, die die kirchliche Organisation unterwandern und dadurch für die SED von innen heraus beherrschbar, steuerbar und politisch instrumentalisierbar machen sollten. Langfristiges und übergeordnetes Ziel der SED blieb dabei aber immer die Zurückdrängung des gesellschaftlichen Einflusses der Kirchen und die Entkirchlichung der Bevölkerung. Dieses politische Vorhaben wurde am 14. März 1954 in einem umfangreichen Grundsatzdokument des Politbüros über "Die Politik der Partei in Kirchenfragen" 2 formuliert und in den folgenden Jahren in zahlreichen - oft sehr detaillierten - Beschlüssen ausgeführt. Die Einzelheiten dieser Politik sind von mir bereits mehrfach
2 Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 14.3.1954, Tagesordnungspunkt 3: "Stellungnahme zur Tätigkeit der Kirche", Berichterstatter: Plenikowski, mit Anlage 6: "Die Politik der Partei in Kirchenfragen" mit Anhang: "Administrative Maßnahmen", SAPMO-BArch ZPA J IV 2/2/353, Bl. 14-22.
Differenzierung, Unterwanderung und Kaderkonzept
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an anderer Stelle dargelegt worden,3 weshalb ich mich im folgenden auf die Methoden, die ihr zugrundelagen, beschränken werde. Die neue Politik sah vor, die Kirchen mit Hilfe einer Differenzierungsstrategie in mehrfacher Hinsicht zu spalten. Diese beinhaltete gezielte Repressionen gegen die sogenannten "reaktionären" Kirchenmitglieder, die sich ihrer Politik verweigerten, sowie selektive Integrationsangebote gegenüber den sogenannten "fortschrittlichen", die sich gegenüber dem Gesellschaftskonzept der SED aufgeschlossen zeigten. Die Mitglieder dieser einzelnen Gruppen wurden nicht nur demonstrativ unterschiedlich behandelt, sondern man versuchte auch, die Angehörigen der verschiedenen Gruppen gegeneinander in Stellung zu bringen, um vorhandene oder geschaffene Gegensätze künstlich zu vertiefen. Die "Fortschrittlichen" wurden ermutigt, gefördert und integriert, die "Reaktionären" eingeschüchtert, ausgegrenzt und isoliert. Damit wird deutlich, daß von der SED praktisch die gleichen Mittel eingesetzt wurden, wie von ihrem wichtigsten Herrschaftsinstrument, dem Staatssicherheitsdienst, der diese Strategie in gewissem Sinne nur mit seinen besonderen - eben geheimdienstlichen Methoden fortsetzte und verfeinerte. Alle Varianten der Differenzierungsstrategie - hinter der sich die alte Herrschaftstechnik des "divide et impera" verbarg - die Erzeugung bzw. Verstärkung von Gegensätzen 1. zwischen den einzelnen kirchlichen Mitarbeitern, 2. zwischen Mitarbeitern und Kirchenleitungen und 3. zwischen den einzelnen Landeskirchen zielten im Kern auf eine Entsolidarisierung und Vereinzelung des Individuums innerhalb der sozialen Gruppe "Kirche", die auf diese Weise beherrschbar gemacht werden sollte. Dazu mußten tendenziell die Loyalitätsbeziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb des Teilsystems "Kirche" aufgebrochen und durch übergeordnete Loyalitäten und Abhängigkeiten der einzelnen Kirchenmitglieder zum Staat bzw. zur herrschenden Partei überlagert oder ersetzt werden. Damit diese Politik wirksam war, mußte dies verdeckt geschehen, also auf konspirative Weise. Die konspirativen Beziehungen des "Inoffiziellen Mitarbeiters" zu seinem Staatssicherheits-Führungsoffizier sind daher nur ein Teilaspekt der übergeordneten Differenzierungsstrategie. Die Gewinnung und der sinnvolle Einsatz eines "IM" ist einerseits nur möglich im Rahmen einer Differenzierungspolitik. Andererseits setzt wirksame Differenzierung die konspirative Informationsbeschaffung und Einflußnahme voraus. Daher kann es nicht verwundern, daß diejenigen Personen, die von 3 S. hierzu u.a. Martin Georg Goemer und Michael Kubina: Die Phasen der Kirchenpolitik der SED und die sich darauf beziehenden Grundlagenbeschlüsse der Partei- und Staatsführung in der Zeit von 1945/46 bis 1971/72. Expertise im Auftrag des Deutschen Bundestages, veröffentlicht in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Baden-Baden/Frankfurt/M. 1995, Bd. VI, S. 615-874, sowie Martin Georg Goerner: Die Kirche als Problem der SED. Untersuchung von Methoden, Strukturen und Zielen kommunistischer Herrschaftsausübung anhand der Ausbildung einer systematischen Politik der SED gegenüber den evangelischen Kirchen in der DDR in den Jahren 1953 bis 1958. Dissertation an der Universität Potsdam, Manuskript, 1995.
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Martin Georg G oerner
der SED in den fünfziger Jahren als "fortschrittliche" Christen eingestuft und behandelt wurden, vielfach seit den sechziger und siebziger Jahren als "Inoffizielle Mitarbeiter" auch vom Staatssicherheitsdienst geführt wurden und damit gewissermaßen eine "Doppelkarriere" in den Strukturen der herrschenden Partei einerseits und denen ihres Geheimdienstes andererseits absolvierten. "Fortschrittliche Kräfte" sollten sich nach Möglichkeit bei kirchlichen Wahlen durchsetzen, auf diese Weise in Entscheidungspositionen gelangen und allmählich ihren Einfluß innerhalb der Kirchen verstärken. Die SED förderte nach Kräften ihre Karriere, um in der kirchlichen Hierarchie möglichst hoch angebundene Ansprechpartner zu haben. In besonderem Maße bemühte sich die Parteiführung im Laufe der fünfziger Jahre, für "fortschrittliche" Kirchenmitglieder "Sammelpunkte" zu schaffen, um diese systematischer fördern zu können und durch ihre Zusammenfassung eine Art "Multiplikatoreffekt" innerhalb der Kirchen zu erzielen. Außerdem sollte dadurch das Gruppengefühl der "Fortschrittlichen" gestärkt und ihnen eine politische Einbindung im Sinne einer Mitwirkungsmöglichkeit suggeriert werden. Die Schaffung von Sammelpunkten gehört daher zur integrativen Komponente der SEDStrategie. Außerdem sollten diese Zusammenfassungen innerhalb der Kirchen an Boden gewinnen, durch Ausstrahlungskraft weitere Sympathisantenanziehen und auf diese Weise einen allmählichen Stimmungsumschwung in den Kirchen zugunsten der Politik der SED bewirken. Eine Reihe von Beschlüssen der Parteiführung in den Jahren 1953 bis 1958 widmeten sich daher der Schaffung von derartigen Sammelpunkten. Es handelt sich hauptsächlich 1. um die Versuche der SED, die Theologischen Fakultäten an den Universitäten zu Stätten einer kirchlichen "Kaderbildung" umzugestalten und dadurch gewissermaßen selber eine kirchliche "Personalpolitik" zu betreiben, 2. um die Gründung eines "Bundes Evangelischer Pfarrer in der DDR", 3. um die Schaffung einer eigenen Zeitschrift für "fortschrittliche" Christen und 4. um die Einrichtung eines Erholungsheimes als Begegnungsstätte für "loyale" kirchliche Mitarbeiter. Daneben existierten seit Mitte der fünfziger Jahre mehrere kleinere Gruppen innerhalb des Reservoirs an "fortschrittlichen Christen", die die SED-Führung wiederholt als "Beratergremium" oder in der Art eines "Testballons" für geplante Maßnahmen gegen die Kirchen einsetzte. Ihnen eröffnete sie kirchenpolitische Planungen, um ihre Reaktion darauf zu testen und Verbesserungsvorschläge für die weitere Effektivierung der Differenzierungspolitik zu erhalten. Durch solche "thinktanks" aus "progressiven" Kirchenvertretern wollte die SED außerdem Informationen aus dem Innern der Kirchen erhalten, die ihr zu einer Zeit, in der sie noch kaum über Informanten in den Kirchen verfügte, verschlossen geblieben wären, die aber zur Unterwanderung der kirchlichen Organisation notwendig waren. Hierbei handelt es sich zum einen um das Redaktionskollegium der Zeitschrift "Glaube und Gewissen", zum anderen um einen kleinen Kreis von Pfarrern in der "Nationalen Front". Daneben entstanden als erster größerer Erfolg der SED-Politik seit etwa 1957/58 in
Differenzierung, Unterwanderung und Kaderkonzept
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der Thüringer und in der Berlin-Brandenburgischen Landeskirche "fortschrittliche" Gruppen von Pfarrern und Laien, die die SED für ihre Differenzierungsstrategie gegen die Kirchenleitungen einsetzen konnte. Außerdem unternahm die SED-Führung nun planmäßige und langfristig angelegte Anstrengungen, um die kirchlichen Finanzen unter ihre enge Kontrolle zu bringen, die Bautätigkeit der Kirchen zu beschneiden sowie die Ausstrahlung der Kirchen auf die Jugend und damit auf ihr gesellschaftliches Nachwuchs- und Erneuerungspotential nachhaltig und dauerhaft zu schwächen. Diese Schritte lagen zwar - äußerlich betrachtet - in der Linie der "klassischen" Repressionspolitik gegen die Kirchen zur Beförderung ihres "Absterbens". Sie müssen aber - unter dem Blickwinkel der neuen Differenzierungs- und Unterwanderungspolitik - begriffen werden als Anstrengungen, kirchliche Positionen und Ressourcen gezielt zu kontrollieren und zu schwächen, um damit zur Erhöhung der Wirksamkeit der neuen Strategie einen verbesserten und genauer "dosierbaren" administrativen und repressiven Zugriff auf die Kirchen zu schaffen. Mit diesem Instrumentarium konnte die SED-Führung in Zukunft bei Bedarf ausweglose Situationen oder Konflikte inszenieren sowie die verschiedenen Landeskirchen gegeneinander ausspielen und unter Druck setzen, um den "Fortschrittlichen" überhaupt erst Einwirkungsmöglichkeiten innerhalb der Kirchen zu eröffnen. 4 Neben der bereits erwähnten Differenzierungspolitik illustrieren diese Maßnahmen beispielhaft weitere zentrale Herrschaftstechniken, die nicht allein für die SED typisch sind, sondern auch von anderen kommunistischen Parteien angewandt wurden: die Bündnispolitik, die Unterwanderungstaktik und das konspirative Vorgehen, die Gründung von Front- oder Sympathisantenorganisationen sowie die Kaderpolitik. Ausgehend vom historischen und theoretischen Selbstverständnis der SED als kommunistisch-leninistischer Partei sollen daher nachfolgend diese grundlegenden Modelle zur Herrschaftsausübung kurz erörtert werden.
B. Avantgardekonzeption und Bündnispolitik Insbesondere die Tatsache, daß die kommunistischen Parteien sowohl in Deutschland als auch in Rußland lange Zeit der politischen Verfolgung ausgesetzt waren, führte zur Ausbildung einer politischen Taktik, die sowohl verschiedene Täuschungsmanöver als auch eine strenge Konspiration einbezog. Auf diese Zeit geht auch der Charakter der SED als "Geheimgesellschaft" zurück.5 Ihr elitäres Bewußtsein, nicht nur einen Teilbereich der Gesellschaft zu verkörpern, sondern tendenziell 4 Zu den Einzelheiten dieser Politik s. Goerner/Kubina: Die Phasen der Kirchenpolitik der SED..., a.a.O., sowie Goerner. Die Kirche als Problem der SED, a.a.O. passim. 5 S. hierzu auch Johann Wachtier: Zwischen Revolutionserwartung und Untergang. Die Vorbereitung der KPD auf die Dlegalität in den Jahren 1929-1933, Frankfurt/M. 1983.
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Martin Georg Goerer
das Ganze, sowie ihre erklärte Absicht, dieses Ganze - die gesamte Gesellschaft aufzulösen und revolutionär umzuwandeln, nahm der SED - wie im übrigen auch den anderen kommunistischen Parteien im sowjetischen Herrschaftsbereich - den Charakter von "Partei" im Wortsinn. "Partei" war vielmehr nur eine Organisationsform der kommunistischen Bewegung, in der sie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auftrat, um die Macht zu erringen. Da sich die Kommunisten auch nach der Eroberung der Macht sowohl in der Sowjetunion (in der Zeit des sog. "Kriegskommunismus") als auch in der SBZ und in den anderen Ländern des sowjetischen Machtbereichs stets in einer Situation der permanenten äußeren Bedrohung sahen und mangels demokratischer Legitimation nicht von einer Akzeptanz ihrer Herrschaft in der Bevölkerung ausgehen konnten, wurden diese Taktiken auch nach ihrer Machtübernahme angewandt und weiterentwickelt. So kam es zu dem paradoxen Phänomen, daß die KPD und spätere SED auch nach Eroberung einer gesicherten - ja monopolistischen - Machtstellung in der SBZ und später in der DDR eine Herrschaftstechnik entwickelte, die im Grunde weniger einer Regierungspartei, als vielmehr einer in der Illegalität operierenden Geheimorganisation angemessen war. Sie verhielt sich nun innerhalb ihres eigenen Staates gewissermaßen wie eine Untergrundorganisation - und zwar sowohl den Organisationsformen nach (als "Partei neuen Typs"), als auch nach ihren Herrschaftsmethoden. 6 Diese lassen sich im Kern aus dem Selbstverständnis der Partei als einer "Avantgarde" herleiten, die als kleine Minderheit an der Spitze aller anderen gesellschaftlichen Gruppen wie ein "politischer Sauerteig"7 die gesamte Gesellschaft in ihrem Sinne umwandeln wollte. Diese Taktik leitet sich aus der historischen Erfahrung der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution her, die sich damals vor die Notwendigkeit gestellt sahen, mit wenigen, der Partei ergebenen Berufsrevolutionären einen riesigen bereits bestehenden Verwaltungsapparat zu übernehmen und entsprechende Methoden zu entwickeln, um die politische Führungsrolle der Partei in allen gesellschaftlichen Bereichen personell und organisatorisch sicherzustellen. Um als kleine Gruppe ihre Herrschaft über die gesamte Gesellschaft ausdehnen zu können, waren sie bestrebt, in alle gesellschaftlichen Bereiche einzudringen, indem sie dort ebenfalls "Avantgarden" schufen - kleine Gruppen von "fortschrittlich" Gesinnten, die zur Zusammenarbeit bereit waren. Von diesen Gruppen aus sollte dann die gesamte Gesellschaft für die Pläne der Partei funktionalisierbar oder beherrschbar gemacht werden. Auch die "fortschritt6 Otto Bauer: Die illegale Partei, Paris 1939, untersucht den Typus der bolschewistischen Partei als einer Partei in der Illegalität. Bauer beschreibt u.a. die Kaderschulung und den konspirativen Organisationstypus der Partei sowie die Formen ihrer massenpolitischen Arbeit. 7 Emst Richert: Macht ohne Mandat Der Staatsapparat in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschland, Köln, 1958, S. 261.
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liehen Kräfte", die die SED in den Kirchen warb, gehören in diese Kategorie. In engem Zusammenhang mit der Avantgarde-Konzeption steht die kommunistische Kaderpolitik, über die noch zu reden sein wird. Mit Hilfe der "fortschrittlichen" Avantgarde-Gruppen in den verschiedenen gesellschaftlichen Großorganisationen - der Sozialdemokratie, den Kirchen, den Gewerkschaften usw. - betrieben die KPD und die anderen kommunistischen Parteien in historisch und taktisch verschiedenen Varianten eine "Bündnispolitik" mit diesen Organisationen. Ziel war dabei nicht - wie die euphemistische Bezeichnung "Bündnispolitik" vermuten lassen könnte - der Sieg eines gemeinsamen Anliegens, sondern mit Blick auf das Endziel einer kommunistischen Gesellschaft ausschließlich die Stärkung der eigenen kommunistischen Partei und die Zersetzung und Spaltung des Bündnispartners durch die Bildung von kommunistischen Fraktionen.8 Historisch gesehen lassen sich verschiedene Grundmuster der "Bündnispolitik" unterscheiden, und zwar: Erstens die "Aktionseinheit". Sie bezeichnet ein zeitweiliges Zusammenwirken verschiedener Bewegungen und Organisationen im Hinblick auf eine einzelne politische Frage und ist daher ein momentanes Bündnis, das nach Erreichen seiner eng begrenzten Zielstellung wieder zerfällt. Die Aktionseinheit kann von oben, d.h. zwischen den Führungen der an ihr beteiligten Bewegungen, aber auch von unten, zwischen ihren Anhängern (und um auf die Führungen Druck auszuüben), vereinbart werden. Zweitens die "Volksfront". Diese Taktik kam innerhalb des traditionellen Parteiensystems von "bürgerlichen" Demokratien (beispielsweise in Frankreich) zur Anwendung und bezeichnet eine - auf längere Dauer angelegte, aber ebenfalls zeitweilige - Öffnung gegenüber sozialdemokratischen und bürgerlichen Parteien mit dem Ziel, einen gemeinsamen Feind (beispielsweise den Nationalsozialismus) zu besiegen. Drittens die "Einheitsfront". Sie existierte innerhalb der bereits kommunistisch beherrschten Staaten und bezeichnet ein auf Dauer angelegtes Bündnis mit verschiedenen anderen Parteien und Bewegungen unter der Führung der kommunistischen Partei, um deren Herrschaft abzusichern. Ein Beispiel für diese Taktik wäre der "Block" der "antifaschistischen" Parteien und Organisationen in der SBZ/DDR. Alle Formen der Bündnispolitik haben miteinander gemeinsam, daß es sich bei ihnen nur scheinbar um ein Zusammengehen von gleichberechtigten Partnern handelt. In Wirklichkeit stand dahinter das Ziel der Kommunisten, innerhalb des Bündnisses die Führung zu gewinnen und es möglichst vollständig zu beherrschen, um so bald als möglich die faktische Alleinherrschaft zu erlangen.9 1 Insbesondere die Sozialdemokratie war ein Opfer dieser Taktik. S. u.a. Hermann Weber. Ein Bündnis gegen den Faschismus, in: Die Zeit, 15.7.1994, S. 32. Weber zitiert u.a. den ehemaligen Sekretär der Sozialistischen Internationale, Julius Braunthal, der die "Volksfront" 1936 in Spanien als einen "erbarmungslosen Krieg der Stalinisten gegen Trotzkisten, Anarchisten und Sozialisten" kennzeichnete (ebenda).
' Z u den verschiedenen Konzeptionen der kommunistischen Bündnispolitik, die in ihrer theoretischen
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Martin Georg Goerner
Insbesondere in der Zeit von 1945 bis 1947/48, als die KPD bzw. später die SED versuchte, die Kirchen für ihr Gesellschaftstransformationskonzept zu gewinnen und im Rahmen der Volkskongreßbewegung als politische Kraft zu integrieren, sowie jeweils in Phasen, in denen die Kirchen deutschlandpolitisch instrumentalisiert werden sollten - wie in der Kampagne um die sog. "Stalin-Noten" - beinhaltete die Kirchenpolitik der SED ausgeprägte bündnispolitische Aspekte, die dem Typus nach der "Aktionseinheit" zuzurechnen sind. In den Anfangsjahren entwickelten die sogenannten "religiösen Sozialisten" innerhalb der SED, die aus einer christlichen Motivation heraus eine theologisch-philosophische Auflösung des Gegensatzes zwischen Christentum und atheistischem Marxismus anstrebten, Konzepte für diese Integrationsstrategie und erhielten dafür von der Parteiführung aus taktischen Gründen begrenzte Einflußmöglichkeiten eingeräumt. Die KPD/SED wollte zu dieser Zeit in ihrer Propaganda die weltanschaulichen Fragen zunächst hinter die Erfordernisse des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufbaus in Deutschland zurückstellen, um ihre noch ungefestigte Machtposition abzusichern und um im Sinne der damaligen sowjetischen Deutschlandpolitik die Attraktivität der SBZ als Modell für einen späteren gesamtdeutschen Staat nicht zu gefährden. 10 In ihrem "Avantgarde"-Bewußtsein sah sich die SED-Parteiführung im elitären Alleinbesitz eines Wissens über das Wesen und den Entwicklungsweg von Geschichte und Gesellschaft, das ihrer Meinung nach allen anderen - vorerst noch verschlossen war. Allenfalls die "fortschrittlichen" Bündnispartner, die sie in der Gesellschaft mobilisierte, waren auf dem Wege zu dieser Erkenntnis. Im Grunde sah die Parteiführung diese Personen jedoch stets funktional. Das eigene Anliegen ihrer Bündnispartner galt ihr wenig, wichtig war nur, daß sie sich für die Verwirklichung der kommunistischen Utopie verwenden ließen. Auch die - meist idealistischen - Rechtfertigungen ihrer kirchlichen Bündnispartner für den ideologischen Spagat, den ihr Doppelengagement für sie persönlich in der Regel bedeuten mußte, verachtete die Parteiführung im Grunde genommen. Sie bewegten sich in ihren Augen "im Dunstkreis nützlicher Inkonsequenz".11 So verhielt es sich auch mit den "fortschrittlichen" religiösen Sozialisten, deren Ziel einer
Begründung neben Lenin auf Georgi Dimitroff zurückgehen, s. Lucas Heumann: Kommunistische Bündnispolitik in Europa. Historische Erfahningen - politische Konsequenzen, in: APuZG 48/1982, 4.12.1982, S. 19-32. In ihrem historischen Ablauf stellt auch Hermann Weben Ein Bündnis gegen den Faschismus, a.a.O., die einzelnen bündnispolitischen Phasen und Taktiken der KPD sowie die verschiedenen internationalen taktischen Schwenks Stalins seit den 20er Jahren dar. Einen Überblick über die Formen kommunistischer Bündnispolitik bietet auch: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Zur Strategie und Taktik der KPD/SED. Aktionseinheit, Einheitsfront, Volksfront, Bündnispolitik, Bonn 1982. 10 S. hierzu Goerner/Kubina: Die Phasen der Kirchenpolitik der SED..., a.a.O., S. 629-633 sowie Goerner: Die Kirche als Problem der SED, a.a.O., S. 73-86 und 109-118. 11 Rudolf Mau : Eingebunden in den Realsozialismus? Die evangelische Kirche als Problem der SED, Göttingen 1994, S. 100.
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Verbindung von Christentum und Marxismus bereits im "Kommunistischen Manifest" lächerlich gemacht wurde. 12
C. Sympathisantenorganisationen Schon Hannah Arendt beobachtete, daß "im Gegensatz zu den ideologischen Gehalten, die immer überkommen sind, und den Propagandaschlagworten, die oft von konkurrierenden Parteien oder Bewegungen nahezu identisch gebraucht werden [...], die Organisationsformen totalitärer Bewegungen von einer beispiellosen Originalität" sind.13 Diese Erkenntnis wird durch eine besondere Variante kommunistischer Bündnispolitik veranschaulicht: der Gründung von Sympathisantenorganisationen. Derartige Zusammenschlüsse unterstützten - ohne auf den ersten Blick als kommunistisch gesteuert zu erscheinen - de facto die Ziele der kommunistischen Partei und stellten zu ihrer Propagierung ein Medium bereit. Arendt erachtete die Unterscheidung von (vielen) Sympathisierenden oder "Mitläufern" und (wenigen) Parteimitgliedern als geradezu konstitutiv für die totalitäre Herrschaftsform. 14 Die Wirkungsweise dieser Organisationen illustriert auch die Beobachtung von Ernst Richert, daß die SED sich vorzugsweise als eine "aus dem gesellschaftlichen Raum wirkende Willenskraft" 15 aufspielte und Tendenz hatte, "ihren eigenen, ausschlaggebenden Anteil an Entscheidungen im Staatsapparat in Dunkel zu hüllen und andere [...] als scheinbare Willensträger vorzuschieben."16 Soweit derartige Zusammenschlüsse als Großorganisationen in der DDR oder den anderen Staaten des sowjetischen Herrschaftsbereichs bestanden und zur Absicherung der Herrschaft der Partei dienten, werden sie im allgemeinen als "Massenorganisationen" bezeichnet.17 Hier dienten sie dazu, "Menschengruppen mit [...] n "Nichts ist leichter, als dem christlichen Asketismus einen sozialistischen Anstrich zu geben. [...] Der christliche Sozialismus ist nur das Weihwasser, womit der Pfaffe den Ärger des Aristokraten einsegnet". Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies.: Werke, 39 Bde., Berlin (Ost) 1957-1968 (im folgenden: MEW), Bd. 4, S. 459-493, hier S. 484. 13
Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1955, S. 577.
14
Ebenda, S. 580.
15
Richert: Macht ohne Mandat, a.a.O., S. 53.
16
Ebenda, S. 44.
17 Zur Anwendung des Massenorganisations- und Kaderkonzeptes auf die SED-Kirchenpolitik s. Goemer/Kubina: Die Phasen der Kirchenpolitik der SED..., a.a.O., S. 686 f.; Michael Kubina: Massenorganisation und Kaderpolitik. Denkmuster der Kirchenpolitik der SED in den siebziger Jahren, in: Klaus Schroeder (Hg.): Geschichte und Transformation des SED-Staates. Beiträge und Analysen, Berlin 1994, S. 130-148 sowie Goemer: Die Kirche als Problem der SED, a.a.O., passim. Zum Begriff und zur Funktion der Massenorganisationen s. u.a.: Erfassung und Einbindung des Menschen im SED-Staat: Zur Rolle der Blockparteien und Massenorganisationen, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission, a.a.O., Bd. II, S. 277-414, hier insbes. die Expertise von Friederike Sattler: Die
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'spezifischen gemeinsamen Merkmalen' (soziale Situation, Interessen, Aktivitäten) zu organisieren und für die - wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen - Ziele der Partei zu mobilisieren." 18 Für ihre Funktion, den Willen der Parteiführung in die Gesellschaft zu tragen, wurde in der Literatur oft das Bild des "Transmissionsriemens"19 gebraucht. Außerdem wurde den jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen auf diese Weise eine kontrollierte Möglichkeit zur Artikulation ihrer Interessen gegeben, die damit zugleich im Sinne der Partei kanalisiert werden konnten. Massenorganisationen müssen daher nicht nur als Herrschaftsinstrumente, sondern auch - wenn auch in sehr beschränktem Sinne - als Interessenvertretungen angesehen werden. Schließlich bedeutete "Interessenvertretung" in der Terminologie der SED, "die spezifischen Fähigkeiten und Erfahrungen der Mitglieder für den gesellschaftlichen Fortschritt [...] zu aktivieren". 20 In diesem Sinne sorgten sie in einer Gesellschaft, die keine freien Medien und keine offene Diskussion kannte, in begrenztem Maße für die gesellschaftliche Rückkopplung und Konfliktbewältigung. Wenn solche Zusammenschlüsse jedoch nicht oder nicht allein in einem kommunistisch beherrschten Land wirkten, sondern international, insbesondere im nichtkommunistischen Ausland - also in gesellschaftlichen Bereichen, in denen die kommunistische Partei (noch) nicht die Macht oder die Mehrheit errungen hatte werden sie oft als "Sympathisanten"- oder "Frontorganisationen" bezeichnet. Im Gegensatz zu den Organisationen, mit denen die kommunistische Partei ihre "Bündnispolitik" betrieb (also Parteien, Gewerkschaften etc.) werden mit diesem aus der englischsprachigen Kommunismusforschung ("front organization") stammenden Begriff Zusammenschlüsse bezeichnet, die eigens auf Veranlassung einer kommunistischen Partei und für die Durchsetzung eines bestimmten politischen Ziels gegründet wurden, diesen Ursprung und dieses Ziel jedoch hinter einer Fassade (englisch "front") verbargen. 21 "Der Terminus 'Front' deckt sich dabei begrifflich Funktion der Massenorganisationen, ebenda, S. 2639-2691; Hans-Hermann Hertie: Funktion und Bedeutung der Massenorganisationen am Beispiel des FDGB, ebenda, S. 282-290 und Siegfried Suckut: Die gesellschaftspolitische Funktion und Bedeutung der Blockparteien, ebenda, S. 301-308; FriedrichEbert-Stiftung (Hg.): Organisationen und Verbände in der DDR. Ihre Rolle und Funktion in der Gesellschaft, Bonn 1980; Hartmut Zimmermann: Die Leninsche Theorie der gesellschaftspolitischen Funktion der "Massenorganisationen" und die tatsächliche Bedeutung dieser Verbände in der SBZ. Manuskript, Berlin 1956; ders.: Das System der Massenorganisationen in der DDR, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Manuskript, Berlin 1966. 18
Kubina: Massenorganisation und Kaderpolitik, a.a.O., S. 136.
19 S. u.a. den Artikel "Massenorganisationen", in: Peter Christian Ludz (wiss. Leitung), unter Mitarbeit von Horst Ulrich und Michael Fehlauer: DDR-Handbuch, 2 Bde., Köln 1985 (3. Aufl.), Bd. 2, S. 876 f. 20 Handbuch gesellschaftlicher Organisationen in der DDR. Massenorganisationen, Verbände, Vereinigungen, Gesellschaften, Genossenschaften, Komitees, Ligen, Berlin (Ost) 1985, S. 18. 21 Zum Begriff und zur Arbeitsweise von Front- bzw. Sympathisantenorganisationen s. Helmut Bärwald und Herbert Scheffler: Partisanen ohne Gewehr. Funktion, Methoden und Argumente kommu-
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nicht mit dem, der in Zusammensetzungen wie 'Einheitsfront' oder 'Volksfront' auftaucht." 22 Neben dem Begriff "Frontorganisation" sind in der Literatur eine Reihe weiterer Bezeichnungen zu finden wie "Vorfeld-" "Satelliten-", "Peripherie-", "Fellowtraveller-" ("compagnon de route-"), "Parallel-" oder "kommunistische Weltorganisationen". Oft werden sie auch einfach - allerdings sehr unscharf - als "Hilfsorganisationen" bezeichnet.23 Für den deutschen Sprachgebrauch scheint mir die Bezeichnung "Sympathisantenorganisationen", den Nikolaus Lobkowicz verwendet, am treffendsten zu sein.24 Diese Herrschaftstechnik geht "auf freimaurerische Traditionen 25 zurück, die in der revolutionären Bewegung Rußlands eine wichtige Rolle gespielt haben und so auch in Lenins Konzeption für die Arbeit einer kommunistischen Partei eingingen."26 Nach außen hin traten Sympathisantenorganisationen für moralisch unanfechtbare und idealistische Ziele ein und sammelten nicht kommunistisch organisierte Angehörige der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in ihren Reihen. Nur an den entscheidenden Stellen waren wenige Mitglieder der kommunistischen Partei als "Kader" zu ihrer Steuerung eingesetzt. Im Gegensatz zu anderen international operierenden "Non-Governmental Organizations" (NGO's)27 erfolgte ihre Gründung auch nicht auf Privatinitiative, wenngleich sich die kommunistische Propaganda bemühte, dies so darzustellen. nistischer Infiltration, Köln 1967; Helmut Bärwald: Mißbrauchte Friedenssehnsucht. Ein Kapitel kommunistischer Bündnispolitik, Bonn u.a. 1983; Robert H Bass: Comunist Fronts: Their history and function, in: Problems of Communism 5/1960. S. 8-16; Bochenski, Niemeyer. Handbuch des Weltkommunismus, a.a.O., S. 159 f.; Die internationalen kommunistischen Frontorganisationen, in: OstProbleme 18-19/1961, S. 546-601; Kommunistische Frontorganisationen im ideologischen Klassenkampf. Über die Tätigkeit internationaler sowjetkommunistischer Propagandaorganisationen und ihrer Partner in der Bundesrepublik Deutschland. Texte zur inneren Sicherheit. Hg. vom Bundesminister des Innern, Bonn 1985; Bernard S. Morris: Communist International Front Organizations. Their Nature and Function, in: World Politics 1/1956-57, S. 76-87; Robert Orth: Hilfsorganisationen des Weltkommunismis, Pfaffenhofen/Ilm 1963; D.G. Toeppel: Kommunistische Weltorganisationen, in: Claus D. Kernig u.a. (Hg.): Die Kommunistischen Parteien der Welt. Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Sonderband, Freiburg, Basel, Wien 1969, S. 37-50; Andreas von Weiss: Die nichtstaatlichen Organisationen in der Globalpolitik der Sowjetunion, in: Zeitschrift für Politik 2/1982, S. 185-205. 22
D.G. Toeppel: Kommunistische Weltorganisationen, a.a.O., S. 38.
23
Ebenda, S. 39.
24 Nikolaus Lobkowicz: Einleitung zu: Helmut Dahm und Frits Kool (Hg.): Dokumente der Weltrevolution, Bd. 5: Die Technik der Macht, Olten/Freiburg 1974, S. 9-69, hier S. 60. 25 S. dazu Michael Kubina: N.P. Ogarev - die Entwicklung seiner Revolutionstheorie im Rahmen der revolutionären Bewegung Rußlands (1856-1870): Ziel, Methode und Organisation einer Geheimgesellschaft. Mag.-Arbeit, Manuskript, Berlin 1990. 26
Kubina: Massenorganisation und Kaderpolitik, a.a.O., S. 143.
27 Zur Funktion der Sympathisantenorganisationen innerhalb des Netzes der NGO's s. Weiss: Die nichtetaatlichen Organisationen in der Globalpolitik der Sowjetunion, a.a.O., S. 190-195.
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Nach Hannah Arendt haben die "Frontorganisationen", die sie "für die Bewegung im ganzen nicht weniger wichtig [...] als die eigentliche Parteimitgliedschaft" 28 einschätzt, eine Doppelfunktion für die Herrschaftsausübung: Einerseits bilden sie "einen Schutzwall, der die Mitgliedschaft, ihren fanatischen Glauben an die ideologische Fiktion und ihre 'revolutionäre' Moral gegen den Schock einer noch intakten Außenwelt schützt",29 denn "durch die Frontorganisationen der Sympathisierenden hindurch erscheint die Welt als voll von geheimen Verbündeten". 30 In diesem Sinne wirken sie für ihre Mitglieder als "Ersatz der Wirklichkeit, der am wirksamsten vor der Wirklichkeit schützt."31 Andererseits "täuschen sie die Außenwelt über den eigentlichen Charakter der Bewegung",32 denn "sie täuschen die nichttotalitäre Umgebung über die radikale Andersartigkeit und Aggressivität der ideologischen Fiktion". 33 Daneben sollten diese Zusammenschlüsse als "Spaltungsgruppen" innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen wirken. Während die SED streng darauf achtete, daß sich in ihren eigenen Reihen keinerlei Fraktionen bildeten, war sie im Rahmen ihrer Differenzierungspolitik bestrebt, in den Organisationen, die sie unterwandern und beherrschen wollte, Fraktionen von "Fortschrittlichen" zu bilden. Dadurch erhielt sie nicht nur eine Einfluß- und Kontrollmöglichkeit, sondern zugleich die Chance eingeräumt, durch Erzeugung von Unfrieden zu einer Zersplitterung und Schwächung der kirchlichen Organisation beizutragen. Sehr anschaulich beschreibt Lobkowicz einen weiteren Aspekt der Sympathisantenorganisationen: "Einerseits wirken sie nach der Art des Chores in antiken Tragödien, indem sie kommunistische, aber auch gegen Kommunisten gerichtete Aktionen bzw. die Politik der Sowjetunion, Chinas und ihrer jeweiligen Satellitenstaaten in den erwünschten Zusammenhang stellen und in der nichtkommunistischen Öffentlichkeit entstehende Trends je nach Bedürfnis stärken oder abschwächen, ohne daß der Eindruck entstünde, hier würden Kommunisten sprechen; andererseits gewinnen sie für die kommunistischen Parteien Sympathisanten, die in kritischen Augenblicken unter dem Vorwand einer unmittelbar drohenden Gefahr für Demonstrationen, Zusammenstöße mit der Polizei oder auch nur Massenbriefaktionen gewonnen werden können. Beide Ziele werden dadurch erreicht, daß diese Sympathisantengruppen und -Organisationen nicht offen als kommunistisch auftreten, ja in den allermeisten Fällen weder die große Mehrheit der Mitglieder noch die nach außen 21
Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a.a.O., S. 580.
29
Ebenda.
30
Ebenda, S. 581.
31
Ebenda.
32
Ebenda.
33
Ebenda, S. 582.
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hervortretenden Vorsitzenden [...] Kommunisten sind."34 Die nützlichste Funktion dieser Organisationen war nach Meinung des Autors, "die Öffentlichkeit über die eigentlichen Ziele des Kommunismus in Unkenntnis zu lassen - indem sie Parolen ausgaben, welche die Kluft zwischen dem Kommunismus und der nichtkommunisüschen Welt verschleierten und Ziele verfolgten, die in abstracto jeder anständige Mensch unterschreiben würde, in concreto aber, im gegebenen Augenblick und in der gegebenen Gestalt, kommunistische bzw. sowjetische [...] Interessen förderten."35 Diese Beobachtungen treffen recht genau auf die verschiedenen Sammlungspunkte für "fortschrittliche" Pfarrer zu, die von der SED-Führung im Laufe der fünfziger Jahre systematisch geschaffen wurden - wie der Pfarrerbund, die Zeitschrift "Glaube und Gewissen" oder auch der "Deutsche Friedensrat" bzw. die "Arbeitsgruppen Christliche Kreise" innerhalb der "Nationalen Front". 36 Beispiele für international arbeitende Sympathisantenorganisationen in der Kirchenpolitik wären etwa der "Weltfriedensrat" oder die "Christliche Friedenskonferenz" (CFK).
D. Die Taktik des ''Trojanischen Pferdes" Die "Avantgarde"- Gruppen und Sympathisantenorganisationen sollten - wie bereits angedeutet - nach Vorstellung der Parteiführung nicht offen innerhalb ihres Wirkungsbereiches als "Bündnispartner" der SED in Erscheinung treten, da sie sonst sehr schnell politisch wirkungslos geworden wären. Daher mußte die SED-Führung mit ihnen verdeckt Kontakt halten, um sie zu steuern, zugleich aber ihre Funktionalisierung zu verbergen. Auch im Raum der Kirchenpolitik vollzog sich die Informationsübermittlung durch "fortschrittliche" Kirchenmitglieder an die SED oder an die verschiedenen "Organe" ihres Herrschaftsapparates, etwa die Staatssicherheit, sowie die Übermittlung von Handlungs"empfehlungen" in umgekehrter Richtung auf konspirative Weise. "Inoffizielle Mitarbeiter" der Staatssicherheit wurden sogar wiederholt dazu aufgefordert, nach außen hin eher als "reaktionär" in Erscheinung zu treten, um sich nicht verdächtig zu machen. Auf diese Weise wurde die "Bündnispolitik" zur Unterwanderung. Diese Unterwanderungstaktik, die von der KPD (ohne großen Erfolg) erstmals in größerem Stil gegenüber den nationalsozialistischen Massenorganisationen angewandt wurde, illustrierte Dimitroff 1935 treffend mit dem Bild des "Trojanischen
34
Lobkowicz,, a.a.O., S. 60.
* Ebenda, S. 61. 36
S. hierzu Goerner/Kubina: Die Phasen der Kirchenpolitik der SED..., a.a.O., S. 655-664 sowie Goerner. Die Kirche als Problem der SED, a.a.O., S. 227-241 und 274-311.
4*
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Pferdes". 37 Wilhelm Pieck griff wenig später das Bild Dimitroffs auf und erweiterte es dahingehend, daß die kommunistischen "Eindringlinge" um ihrer besseren Tarnung und Wirksamkeit willen selbst vor einer (äußerlichen) Übernahme der feindlichen Ideologie nicht zurückschrecken sollten:38 Wer diese Kampftaktik nicht verstanden habe, sei nach Pieck ein "Sektierer". Dieser Vorwurf des "Sektierertums" begegnet auch in der Kirchenpolitik der SED häufig - und zwar immer dann, wenn Parteifunktionäre die "Unterwanderungstaktik", die seit 1953 entwickelt wurde, nicht begriffen hatten und statt dessen nach alter Manier mit plumpen Repressionen gegen die Kirchen arbeiteten. Diese Überlegungen machen deutlich, daß die Verbindung zwischen den "fortschrittlichen Kräften" in der Gesellschaft und der sie "anleitenden" Parteiführung tendenziell immer konspirativer Natur war. Nicht nur innerhalb der Partei, sondern auch beim Prozeß des Machterwerbs und Machterhalts über die Gesellschaft spielte daher das Moment der Konspiration von Anfang an eine wichtige Rolle. Auch die "Anleitung" der Massenorganisationen und Blockparteien durch die SED hatte konspirative Aspekte, da diese Gebilde nach außen als demokratisch und selbstbestimmt in Erscheinung treten sollten. Dies galt auch für die Weitergabe von Informationen, die diese Organisationen gesammelt hatten, an die Parteiführung. Prinzipiell unterlag auch jedes SED-Mitglied gegenüber den übergeordneten Parteiinstanzen einer unbegrenzten Auskunftspflicht, der sich sämtliche Berufsgeheimnisse und Schweigepflichten unterzuordnen hatten. Innerhalb des Partei- und Staatsapparates herrschte eine extensive Geheimhaltung - selbst in Bereichen, in denen dazu keinerlei Veranlassung bestand oder in denen sie sich offensichtlich kontraproduktiv auswirkte. Das MfS war in diesem Staatsgefüge, das insgesamt geheimdienstliche Züge trug, nur ein zusätzliches, absicherndes und koordinierendes Informationssystem. Schon Marx und Engels betrachteten den konspirativen Kampf als festen Bestandteil der jeweiligen revolutionären Strategie und Taktik. In der "Ansprache der 37 "Das angreifende Heer [...] konnte den Sieg nicht eher erringen, als bis es mit Hilfe des berühmten trojanischen Pferdes in die Stadt, in das Herz des Feindes eindrang. [...] Wer die Notwendigkeit, eine solche Taktik gegenüber dem Faschismus anzuwenden, nicht begreift, wer ein solches Vorgehen für 'erniedrigend' hält, der mag ein vortrefflicher Genosse sein, aber er ist, mit Verlaub zu sagen, ein Schwätzer und kein Revolutionär, er wird es nicht verstehen, die Massen zum Sturz der faschistischen Diktatur zu führen." Rede Dimitroffs auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, 17.7.-1.9.1935, in: Parteihochschule "Karl Marx" beim ZK der SED (Hg.): Die Kommunistische Internationale (Auswahl von Dokumenten und Reden vom VI. Weltkongreß bis zur Auflösung der Kommunistischen Internationale, 1928-1943), Berlin 1956, S. 358-433, hier S. 396. S. hierzu auch EmilPeter Müller: Die Bündnispolitik der DKP. Ein trojanisches Pferd, Köln 1982, der diese Taktik im Hinblick auf die DKP in der Bundesrepublik untersucht 3i "[...] Aber, Genossen, wie soll das Pferd in das faschistische Troja hineingebracht werden? Wir müssen dazu alle Möglichkeiten ausnutzen, die uns die faschistische Demagogie, welche die Faschisten zum Betrug der Arbeitermassen anwenden, bietet." Bericht von Wilhelm Pieck auf der Brüsseler Konferenz im Oktober 1935, in: Klaus Mammock (Hg.): Die Brüsseler Konferenz der KPD, Berlin (Ost) 1975, S. l l O f .
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Zentralbehörde an den Bund" vom März 1850 erklärten sie, daß es darauf ankomme, "neben den offiziellen Demokraten eine selbständige geheime [...] Organisation der Arbeiterpartei herzustellen,"39 und Engels äußerte 1852 in einem Artikel zum Kölner Kommunistenprozeß: "[...] Nur ein Feigling griffe unter bestimmten Voraussetzungen nicht zu konspirativen Methoden, gerade so wie ein Narr sich unter anderen Voraussetzungen auf ihre Anwendung versteifte [...]." 40 Viele Beispiele der Verbindung des illegalen mit dem legalen Kampf und der Anwendung konspirativer Methodenfielen in die Zeit des sog. Sozialistengesetzes (1878-1890). Unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht wurde ein ganzes System des illegalen und konspirativen Kampfes entwickelt. Liebknecht warnte im November 1888 im Reichstag die Abgeordneten mit Blick auf die Arbeit des "Roten Sicherheitsdienstes: "Davon können Sie überzeugt sein, wir haben eine bessere Polizei als Sie!" 41 Lenin sah in der Verbindung von legalen und illegalen Formen des Kampfes und der Anwendung der Konspiration durch die Partei neuen Typs eine der notwendigen Bedingungen für die Eroberung der politischen Macht, ordnete die Konspiration jedoch immer dem Gesamtanliegen des politischen Kampfes unter. So heißt es etwa in seiner Schrift "Was tun?": "Wir wandten uns stets gegen die Einengung des politischen Kampfes zu einer Verschwörung und werden uns natürlich auch weiter dagegen wenden, aber selbstverständlich bedeutet dieses keineswegs, daß wir die Notwendigkeit einer festgefügten revolutionären Organisation leugneten."42 Weiter heißt es: "Konspiration ist eine so unumgängliche Vorbedingung für eine solche Organisation, daß alle anderen Bedingungen (die Zahl der Mitglieder, ihre Auslese, ihre Funktionen usw.) ihr angepaßt werden müssen."43 Für Lenin war es daher eine "unerläßliche Schlußfolgerung", "daß alle legalen kommunistischen Parteien unverzüglich illegale Organisationen schaffen müssen, um systematisch illegale Arbeit zu leisten und sich gründlich auf den Augenblick vorzubereiten, in dem die Verfolgungen durch die Bourgeoisie einsetzen. Besonders notwendig ist die illegale Arbeit in Heer, Flotte und Polizei."44
39 Karl Marx und Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in: MEW, Bd. 7, S. 244-254, hier S. 248 f. 40
Friedrich Engels: Der Kommunisten-Prozeß zu Köln, in: MEW, Bd. 8, S. 398-404, hier S. 398 f.
41
Dieter Friche: Bismarcks Prätorianer, Berlin 1962, S. 264.
* W. I. Lenin: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, in: ders.: Werke, Bd. 5, S. 355-541, hier S. 492. 43
Ebenda, S. 493.
44 W.I. Lenin: Thesen über die Hauptaufgaben des zweiten Kongresses der Kommunistischen Internationale, in: ders.: Werke, a.a.O., Bd. 31, S. 172-189, hierS. 183.
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E. Das Kaderkonzept Die Steuerung der Sympatisantenorganisationen in den Kirchen erfolgte in weiten Teilen über Kader der SED.45 Mit diesem Terminus ist ein weiteres zentrales Herrschaftsinstrument der SED benannt. Der Kaderbegriff, dessen Unscharfe in der Forschung wiederholt hervorgehoben wird, 46 leitet sich im Kern aus dem bereits erläuterten Selbstverständnis der kommunistischen Partei als Avantgarde ab. Wollte die Partei als Minderheit über eine Mehrheit herrschen, so benötigte sie treu ergebene Personen, die in der Revolution die Schaltstellen der Verwaltung und der Gesellschaft besetzen konnten. In diesem Sinne waren Kader ursprünglich Berufsrevolutionäre und Parteiarbeiter. Stalin zählte die Kader folgerichtig zum "Kommandobestand der Partei", 47 denn "Kader entscheiden alles" 48 Im Laufe der Geschichte wurde der Kaderbegriff jedoch "zunehmend auf den gesamten Personenkreis angewendet, der von der kommunistischen Partei im Rahmen einer langfristigen Planung zur Durchsetzung ihrer Ziele in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zum Einsatz kam." 49 Im Sprachgebrauch der SED waren Kader im allgemeinen Personen, die in Gesellschaft bzw. Wirtschaft an leitender Stelle tätig waren und auf deren Handeln sie unmittelbaren Einfluß hatte. Darüber hinaus weitete die Partei den Kaderbegriff auch auf diejenigen Vertrauenspersonen aus, die sie in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Organisationen eingesetzt hatte, die formal selbständig waren (wie den Blockparteien und Massenorganisationen). Daher betrachtete sie in gewissem Sinne auch ihre "fortschrittlichen" Ansprechpartner in den Kirchen als ein Art Kader. Im Laufe ihrer "Gesprächspolitik" mit kirchenleitenden Persönlichkeiten wurde zudem sichtbar, daß die SED-Führung diese Personengruppen in Analogie zur Kaderarbeit behandelte. Daher ist die Untersuchung der Prinzipien der Kaderpolitik - insbesondere in den gesellschaftlichen Bereichen, die dem direkten Einfluß 45 Zur Kaderpolitik allgemein s. Gert-Joachim Glaeßner: Kaderpolitik, in: DDR-Handbuch, Bd. 2, S. 697-701; ders.: Herrschaft durch Kader. Leitung der Gesellschaft und Kaderpolitik der DDR am Beispiel des Staatsapparates, Opladen 1977; R. Herber und H. Jung: Kaderarbeit im System sozialistischer Führungstätigkeit, Berlin (Ost) 1968; Richert: Macht ohne Mandat, a.a.O., S. 260-280; J. Schultz: Der Funktionär in der Einheitspartei. Kaderpolitik und Bürokratisierung in der SED, Stuttgart/Düsseldorf 1956; Rudolf Schwarzenbach: Die Kaderpolitik der SED in der Staatsverwaltung. Ein Beitrag zur Entwicklung des Verhältnisses von Partei und Staat in der DDR (1945-1975), Köln 1976; Hartmut Zimmermann: Überlegungen zur Geschichte der Kader und der Kaderpolitik in der SB Z/DDR, in: HartmutKaelble, Jürgen Kocka und Hartmut Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 322-358. 46 Zum Kaderbegriff s. Schwarzenbach: Die Kaderpolitik der SED in der Staatsverwaltung, a.a.O., S. 45-47. 47
J. W. Stalin: Fragen des Leninismus, Berlin (Ost), 1955, S. 797.
41
Ebenda, S. 669. Kubina: Massenorganisation und Kaderpolitik, a.a.O., S. 136 f.
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der SED entzogen waren - von Bedeutung für die Kirchenpolitik, denn sie geben Aufschluß über Verhaltensmuster der SED-Führung gegenüber kirchlichen Einflußpersonen. Im allgemeinen strebte die SED-Führung mit Hilfe ihrer Kaderpolitik an, über die Besetzung sämtlicher einflußreicher Posten zu entscheiden und den von ihr ausgewählten Personen Instruktionen im Sinne der gewünschten politischen Richtung zu geben. Um diese Personalpolitik planmäßig betreiben zu können, wurden die entsprechenden Schlüsselpositionen in allen wichtigen Bereichen in einer sogenannten "Nomenklatur" geführt. Dieser aus dem Russischen übernommene Begriff bezeichnet eine Aufstellung aller Posten, die für die SED-Führung von Interesse waren. Darin wurde genau festgelegt, welche Organisationsebene der SED (die Kaderleitungen der jeweiligen Parteigliederung bzw. in den staatlichen Institutionen) jeweils über eine personelle Besetzung zu entscheiden hatte und für die laufende "Betreuung" zuständig war. 50 Wie wichtig die SED-Führung die Kaderpolitik nahm und welchen Stellenwert sie einer richtigen Personalauswahl einräumte, wird schon durch die Tatsache verdeutlicht, daß die höchsten Parteigremien - in der Regel das Sekretariat des ZK, aber auch das Politbüro - sich regelmäßig intensiv mit Personalfragen beschäftigten, teilweise bis hin zu unteren Verwaltungsebenen. Durch die Kaderpolitik wurde zwangsläufig dem Faktor "Person" eine außerordentliche Rolle im politischen Handeln beigemessen - wenngleich unter dem Blickwinkel der Steuerbarkeit und Zuverlässigkeit, zumindest aber ex negativo, durch die enorme Angst der Partei vor einer möglichen Fehlauswahl und durch die ständigen Sicherheitskontrollen selbst der als "zuverlässig" eingestuften Kader. Im Staatsapparat und auch in der Wirtschaft funktionierte die Kaderpolitik seit Anfang der fünfziger Jahre relativ problemlos, da die SED in diesen Bereichen ohnehin weitgehenden Einfluß besaß. Interessanter für die vorliegende Untersuchung ist die Art und Weise, in der die SED über die Kaderpolitik auf die Blockparteien - die zumindest nicht automatisch ihrem Zugriff ausgeliefert waren -, und auf die Massenorganisationen - die nach außen hin ebenfalls einen gewissen Anschein der Selbständigkeit wahren sollten -, Einfluß nahm. Insbesondere die Umgestaltung der Blockparteien im Zeitraum von 1945 bis 1952 zu Gebilden, die von der SED vollständig abhängig waren, erfolgte über einen geschickt betriebenen Austausch ihres Führungspersonals. 51 50
Zur Nomenklatur s. Schwarzenbach: Die Kaderpolitik der SED in der Staatsverwaltung, a.a.O.,
S. 48. 51 S. hierzu insbesondere Christel Dcwidat: Personalpolitik als Mittel der Transformation des Parteiensystems der SBZ/DDR (1945-1952), in: Hermann Weber (Hg.): Paiteiensystem zwischen Demokratie und Volksdemokratie. Dokumente und Materialien zum Funktionswandel der Parteien und Massenorganisationen in der SBZ/DDR 1949-1950, Köln 1982, S. 463-469. Im Hinblick auf die CDU wird dieser Vorgang untersucht von Siegfried Suckut: Zum Wandel von Rolle und Funktion der ChristlichDemokratischen Union Deutschlands im Parteiensystem der SBZ/DDR (1945-1952), in: ebenda, S. 117128.
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Hans-Jürgen Brandt und Martin Dinges untersuchen die Kaderpolitik in diesem Bereich für den Zeitraum von 1963 bis 1984. Dabei zeigen sich weitgehende Parallelen zur Kirchenpolitik der SED. Als Instrumente zur Durchsetzung und Kontrolle der Kaderpolitik in den Blockparteien nennen sie zunächst eine Reihe von Methoden, die die Kaderarbeit der SED grundsätzlich prägten und die sich auch in der Kirchenpolitik wiederfinden lassen. Als "wirkungsvollstes Instrument der Kaderarbeit" 52 bezeichnen die Autoren das "Kadergespräch". Gezielte und regelmäßig geführte "individuelle Aussprachen" sollten eine "langfristige und gründliche Vorbereitung" und 'Entwicklung" der Kader bewirken. Durch "Bezugnahme auf Erfolge und Fehlleistungen der Kader im Zeitraum seit dem letzten Gespräch" sollten diese Begegnungen eine "erziehende Wirkung" erzielen und zugleich eine fortlaufende Einschätzung der als Kader geführten oder in Aussicht genommenen Personen ermöglichen. "Fordern und Fördern" war die Devise. Der Gesprächsleiter hatte dabei eine "scheinbar non-direktive Gesprächsführung, die jedoch ein Maximum an Informationen über den Kader sichern soll", anzuwenden. Auf der Grundlage dieser Gespräche sollten die Kader die Vorgaben der Partei eigenverantwortlich in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich umsetzen. Gespräche werden auch in vielen Maßnahmeplänen für die Kirchenpolitik als erste und wichtigste Methode der Einflußnahme genannt. Ohne daß dabei explizit von "Kadergesprächen" die Rede ist, läßt die Art der Gesprächsführung und der Berichterstattung darüber die Merkmale des "Kadergespräches" deutlich erkennen. Gemeint war "nicht das offene, fremde Überzeugungen respektierende und Verständigung suchende, sondern das machtgestützte und streng funktionalisierte Gespräch."53 Seit März 1957 begann der neu eingesetzte Staatssekretär für Kirchenfragen, Werner Eggerath, eine intensive und systematische "Gesprächspolitik" mit den verschiedensten leitenden Kirchen Vertretern. 54 Derartige Gespräche wurden nach dem Grundmuster des "Kadergesprächs" geführt und - wie auch die Kaderge52 Zu diesem und den folgenden Zitaten bis zum nächsten Beleg s. Hans-Jürgen Brandt und Martin Dinges: Kaderpolitik und Kaderarbeit in den "bürgerlichen" Parteien und den Massenorganisationen der DDR, Berlin 1984, S. 25. 53
Mau: Eingebunden in den Realsozialismus?, a.a.O. S. 75.
54 S. hierzu Goerner/Kubina: Die Phasen der Kirchenpolitik der SED..., a.a.O., S. 669-671 sowie Goerner: Die Kirche als Problem der SED, a.a.O., S. 386-397. Dokumente, die den Beginn der Gesprächstätigkeit Eggeraths veranschaulichen, wären: "Niederschrift über das mehr als dreistündige Gespräch mit dem Dekan der Theolog. Fak. der Humboldt-Univ., Prof. Vogel und Prof. Fascher von der Humboldt-Univ. am 18.9.1957 ab 15.00 Uhr", Unterschrift: Eggerath, Vermerk: "Für den Gen. Paul Wandel", 19.9.1957, S ΑΡΜΟ-Β Arch ZPA IV 2/14/57, Bl. 139- 142. Aktennotiz Eggeraths über eine Unterhaltung von Weise mit Prof. Vogel, Dekan der theol. Fakultät der Humboldt-Universität, in der Wohnung von Weise, 11.1.1958, SAPMO-BArch ZPA IV 2/14/58, Bl. 7-10. "Aktennotiz. Besprechung mit den Pfarrern Caffier, Plesske und Penitzka am 14.1.58 von 10.30 bis 12.35 Uhr", Unterschrift: Eggerath, 14.1.1958, SAPMO-BArch ZPA IV 2/14/58, Bl. 2-6. Niederschrift über ein Gespräch Eggeraths mit Prof. Hertzsch, Jena, 15.1.1958, SAPMO-BArch ZPA IV 2/14/58, Bl. 11-12.
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spräche - in ausführlichen Berichten systematisch ausgewertet. Ziel war es, von den kirchlichen Gesprächspartnern Informationen aus dem Leben der Kirchen zu erhalten - vor allem über Personalia und über die "Kräfteverhältnisse" zwischen den leitenden Personen sowie deren Standpunkte. Auf der Grundlage dieser Hinweise sowie weiterer Informationen wurden Charakteristika der kirchenleitenden Personen erarbeitet und Entwicklungsprognosen erstellt. 55 Kirchenvertretern wurden auch meist mit unbestimmtem Erfolg - mehr oder weniger deutliche "Ratschläge" über das von ihnen oder von der Kirchenleitung gewünschte Verhalten gegeben. Eggerath strebte sogar eine systematische und "flächendeckende" Ausarbeitung solcher Personeneinschätzungen in Parallele zur Nomenklatur der Parteikader an. "Zur Schaffung einer genauen und umfassenden Übersicht über die Geistlichen" hatte er daher eine "Nomenklatur der kirchlichen Amtsträger in der DDR" 5 6 erstellt. Es handelt sich um eine Aufzählung der verschiedenen Stellungen in der kirchlichen Hierarchie mit Vorgaben für die jeweils erwünschten Angaben zur Person, die von den einzelnen Partei- oder Verwaltungsebenen erfaßt werden sollten. Nach der Logik der Kaderpolitik, auf die der Begriff "Nomenklatur" verweist, war mit dieser Liste aber nicht nur eine Erfassung der jeweiligen kirchlichen Positionen beabsichtigt, vielmehr drückte sich darin bereits der Anspruch aus, langfristig auch über deren personelle Besetzung entscheiden zu können. Als Fernziel seiner Einflußnahme schwebte Eggerath offenbar für die Kirchenleitungen die gleiche "Anleitung" durch die SED vor, die sie bereits gegenüber "ihren" Blockparteien und Massenorganisationen praktizierte: "Wir werden selbst fähig werden, nach und nach auch die einzelnen Kirchenleitungen zu führen und zu beraten, wir können ganz zuversichtlich sein, denn alle guten Argumente sind auf unserer Seite."57 Um dieses Verhältnis der "Führung" oder "Anleitung" der SED gegenüber den Kirchenleitungen herzustellen, wählte sich der Staatssekretär zunächst einige Bischöfe - darunter Mitzenheim - aus, zu denen ein besonders intensives Verhältnis hergestellt werden sollte, das dann als Modellfall auch den anderen Landeskirchen vorgehalten werden konnte. Eggeraths Nachfolger Seigewasser baute diese "Kaderführung" zu einem regelrechten "politisch-ideologischen Betreuungssystem[]" für die "individuelle Arbeit 55 Ein Beispiel wäre die "Einschätzung des neu gewählten Vorsitzenden des Rates der E K D Präses D. Kurt Scharf", Information an die Mitglieder des Politbüros, ohne Unterschrift, 17.2.1961, SAPMO-BArch ZPA IV 2/14/5, Bl. 44-46. 56
"Nomenklatur der kirchlichen Amtsträger in der DDR", Stempel: Staatssekretär für Kirchenfragen, V D Nr. 8/58, ohne Datum (vermutlich Februar 1958), SAPMO-BArch ZPA IV 2/14/58, Bl. 138-141. 37 "Auszug aus der Rede des Genossen Eggerath vor den Mitarbeitern für Kirchenfragen bei den Räten der Bezirke am 2. und 3. Dezember 1957 in Berlin", ohne Datum (vermutlich Anfang Dezember 1957), 2.12.1957, SAPMO-BArch ZPA IV 2/14/57, Bl. 229-234, Hervorhebung d. Verf. Interessant ist die Verwendung des Terminus "führen", der sowohl für die "Führung" von "Inoffiziellen Mitarbeitern" durch die Staatssicherheit als auch für die "Kaderführung" durch die SED typisch war.
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mit einzelnen Geistlichen" aus, das vor und während wichtiger Ereignisse - wie beispielsweise Synoden - noch durch zusätzliche "Sondergespräche" intensiviert werden konnte.58 Vor wichtigen Gesprächen des Staatssekretärs wurden von der Arbeitsgruppe Kirchenfragen "Argumentationen" ausgearbeitet, die teilweise Vorgaben für detailliertes taktisches Verhalten, Fangfragen 59 etc. beinhalteten. Solche Gesprächskonzeptionen und Argumentationsvorlagen gingen teilweise zur Bestätigung an das Politbüro bzw. das Sekretariat. Von dort wurden sie dann dem Staatssekretär bzw. auch anderen mit der Gesprächsführung beauftragten Funktionären übermittelt, 60 die ihrerseits einen Bericht über das Gespräch für die ZK-Arbeitsgruppe anfertigten. Das Vorgehen von Eggerath und Seigewasser gegenüber den Kirchen illustriert auch die weiteren Merkmale der Kaderarbeit, die untrennbar zur Gesprächspolitik dazugehörten und die das Gespräch überhaupt erst als Instrument zur Herrschaftsausübung verwendbar werden ließen. Brandt und Dinges führen in diesem Zusammenhang zunächst das "Beurteilungswesen" an. Nicht nur die SED-Kader, sondern auch sämtliche Mitglieder der "bürgerlichen" Parteien und Massenorganisationen wurden systematisch durch regelmäßige Gespräche "betreut" und periodisch (mindestens einmal jährlich) "eingeschätzt". Diese "Einschätzungen" gingen nach dem Urteil der Autoren bis hin zu regelrechten "Bewußtseinsanalysen",61 die die Argumente und Meinungen der erfaßten Kader wiedergaben. Als weiteres Kennzeichen nennen Brandt und Dinges das Führen von Kaderakten, die die wichtigste Entscheidungsgrundlage für die Kaderarbeit lieferten, da sie - auch bei einem Wechsel des "betreuenden" Kaderleiters - die Kontinuität der Personalführung sicherstellten. Schließlich hängt damit das organisationsinterne Berichtswesen zusammen, das von unten nach oben die Weitergabe von Kadereinschätzungen und von Gesprächsberichten an die übergeordneten Parteiinstanzen gewährleistete. In umgekehrter Richtung erhielt der mit der Gesprächsführung beauftragte Funktionär 51 Alle diese Zitate und Begriffe: Aktennotiz über die Vorbereitung der Berlin-Brandenburgischen Synode vom 7.-9.12.1962, Staatssekretär Seigewasser an die Arbeitsgruppe Kirchenfragen (Willi Barth), 1.11.1962, SAPMO-BArch ZPA IV 2/14/151, Bl. 21-22. S. dazu u.a. auch den "Vermerk über die im Rahmen des Betreuungsplanes am Donnerstag, dem 22. November 1962, von 14.30 bis 15.13 Uhr durchgefühlte Aussprache mit Kirchenrat Federlein", Unterschrift: Flint, 23.11.1962, SAPMO-BArch ZPA IV 2/14/151, Bl. 45. Hervorhebung d. Verf. 59 Ein Beispiel hierfür wäre das Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 21.2.1961, Anlage 7: "Über die Veihandlungstaktik zum Kirchentag mit Mitgliedern des Kirchentagspräsidiums, die Bürger der DDR sind", SAPMO-BArch ZPA J I V 2/2/751. 40 Ein Beispiel für eine derartige Gesprächskonzeption der SED-Führung wäre das Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 13.12.1960, Anlage 4: Argumentationsvorlage für Staatssekretär Seigewasser für die Ablehnung des Kirchentages in Berlin gegenüber den Bischöfen, SAPMO-BArch ZPA J I V 2/2/737. 61 Brandt, Dinges: Kaderpolitik und Kaderarbeit in den "bürgerlichen" Parteien und den Massenorganisationen der DDR, a.a.O., S. 27.
Differenzierung, Unterwanderung und Kaderkonzept
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von seiner Leitungsinstanz Argumentations- und Gesprächsvorgaben sowie Anweisungen fiir die "Entwicklung" des Kaders. Ein weiterer Bereich der Kaderarbeit, der an dieser Stelle nicht behandelt werden kann und der die Kirchenfunktionäre der SED ebenfalls betraf, war das ausgedehnte parteiinterne Schulungssystem.62 Bereits die Regelmäßigkeit der Gespräche, die im Rahmen eines "Betreuungssystems" geführt wurden, beinhaltet - wie bei den Kadergesprächen - ein repressives Element. Mußte der Gesprächspartner schon bei einer einmaligen Begegnung mit einem Vertreter des kirchenpolitischen Apparats wissen, daß selbst beiläufige Äußerungen von ihm nicht unverbindlich blieben, sondern daß seine Worte - bis hin zu sprachlichen Ausrutschern - genau noüert und auf die Goldwaage gelegt wurden, konnte er in einem "Betreuungssystem" damit rechnen, daß er beim nächsten Termin auf die Richtigkeit seiner Aussagen und auf die Einhaltung seiner Zusagen festgelegt wurde und daß sich - je nach seinem zwischenzeitlichen Verhalten - der Ton und die Gesprächsatmosphäre ändern würden. Auf diesem repressiven Mechanismus beruhte auch - neben der "persönlichen Bindung", die dadurch allmählich gegenüber dem Gesprächspartner entstand sowie der systematischen Suggerierung der persönlichen Wichtigkeit - die "Führung" der "Inoffiziellen Mitarbeiter" durch die Staatssicherheit. Diese Tatsache verweist auf die intensive Verzahnung des MfS mit den anderen Gesellschaftsbereichen und verdeutlicht den fließenden Übergang zwischen einer "normalen" Gesprächsführung mit dem Partei- oder Staatsapparat und der Berichtstätigkeit als "IM". Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man zum ersten die Niederschriften des Staatssekretärs für Kirchenfragen über Gespräche mit kirchenleitenden Persönlichkeiten, zum zweiten die Aufzeichnungen über "Anleitungsgespräche" mit "fortschrittlichen" Christen - beispielsweise bei der "Nationalen Front", aber auch der SED -, sowie zum dritten die Gesprächsprotokolle und Treffberichte aus den Arbeitsakten der "Inoffiziellen Mitarbeiter" der Staatssicherheit gegenüberstellt. Es zeigt sich, daß alle drei Gesprächstypen - zumindest von der Intention der gesprächsführende Seite her - im Grunde nach den gleichen Regeln verliefen. Es handelte sich in allen drei Fällen um das Grundmuster des Kadergesprächs, das die gesprächsführenden Seite dem Gesprächspartner aufzwang, um Informationen zu erhalten und die zukünftige Handlungsweise des Gegenübers zu beeinflussen. Dahinter stand nicht nur dieselbe Gesprächstechnik, sondern auch das gleiche funktionale Menschenbild. Neben der Nähe zur Kaderpolitik verdeutlicht der Begriff der - planmäßigen - "Betreuung", daß hier für Menschen gedacht werden sollte, die einer "Führung" bedurften und die nach dem Urteil der SED nicht für sich selbst sprechen konnten oder durften, verweist also auf eine tendenzielle Entmündigung. Dazu schreibt Rudolf Mau treffend: "Der zur Gesprächsführung verpflichtete Funktionär hatte stets aus der Position überlegener und unwiderleglicher politischer 6
S. dazu auch den Beitrag von Thekla Kluttig.
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Einsicht zu sprechen, der sich das Objekt der Einflußnahme, wie man überzeugt war, nur auf Grund von ideologisch bedingter Beschränktheit oder bösem Willen entziehen konnte.63 Die häufige Aufforderung zu einer 'vertrauensvollen' Aussprache sollte mißtrauische Zurückhaltung beim Gesprächspartner durch suggeriertes Wohlwollen des Funktionärs abbauen. Sie bedeutete nicht, daß der Staatsfunktionär dem andersdenkenden Partner vertraute, sondern daß dieser dem Funktionär Vertrauen entgegenbringen und ihm Gelegenheit zu gezielter Einflußnahme geben sollte."64 Ein "Gespräch" mit SED-Funktionären war demnach niemals eine echte Diskussion, sondern eigentlich immer nur eine "Belehrung" oder eine Weitergabe von Wünschen bzw. Forderungen. Die SED konnte ihre Macht dahingehend nutzen, im Gesprächskontakt mit Kirchenvertretern die ihr genehmen Themen anzusprechen bzw. auch den Gesprächspartnern Themen aufzuzwingen (z.B. die regelmäßigen Exkurse zur vermeintlichen "Friedenspolitik" der SED, die zum Standartrepertoire der Gesprächspolitik gehörten), und war auch in der Lage, diejenigen Themen, deren Erörterung ihr nicht genehm war, in den Hintergrund zu drängen oder völlig auszulassen (wie beispielsweise das Thema "Volksbildung", das immer tabu blieb). Damit wurde das institutionalisierte Gespräch zum subtilen und flexiblen Herrschaftsinstrument. Gegenstück und zugleich logische Ergänzung zur Herrschaftstechnik des Kadergesprächs war die gezielt eingesetzte Gesprächs- und Kommunikations verweigerung sowie der Gesprächsabbruch oder die Drohung damit. Mehrfach läßt sich diese Technik auch in der Kirchenpolitik beobachten, so beispielsweise anhand der Begegnung zwischen Innenminister Maron und den Kirchenvertretern im Februar 1956. Nachdem die staatliche Seite ultimativ ihre Forderungen an die Kirchen in der DDR nach Abgabe einer öffentlichen Loyalitätserklärung und nach Abspaltung von der gesamtdeutschen EKD vorgetragen hatte, brach sie die Kommunikation ab, um ihr Ultimatum zu unterstreichen. Ein solcher Gesprächsabbruch hatte freilich nur Sinn vor dem Hintergrund der Machtposition, die die SED gegenüber den Kirchen innehatte. Gesprächsverweigerungen oder -abbrüche der kirchlichen Seite kamen zwar wiederholt vor, konnten aber nicht durchgehalten werden, da die Kirchen nicht in einer entsprechenden Machtposition waren. ö Diese Beobachtung illustriert Mau an anderer Stelle mit einem Bericht Staatssekretär Seigewassers über ein Gespräch mit dem West-Berliner Theologieprofessor Vogel. In herablassender Weise beschreibt darin der Staatssekretär, daß Vogel zu einer von der SED gewünschten Verhaltensweise "ausdrücklich ermahnt" wurde. Dem Hochschullehrer "wurde klargemacht", daß eine bestimmte kirchliche Reaktion nicht hingenommen werde. Seigewasser resümiert in seinem Bericht, daß sein Gespräch mit Vogel für diesen "den Charakter einer Belehrung" gehabt hätte, denn dem Professor sei "ins Bewußtsein genickt" worden, was die Partei von ihm erwartete. (Kurzbericht über die Aussprache mit Prof. Vogel am 12.2.1962,16 bis 17.45 Uhr, BArchP 04-2623, Bl. 286-288, zit. n. Mau: Eingebunden in den Realsozialismus?, a.a.O. S. 89 und 224).
" Ebenda, S. 75 f.
Differenzierung, Unterwanderung und Kaderkonzept
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F. Spezifikum der SED-Herrschaft? Abschließend ist festzustellen, daß sowohl die Sympathisantenorganisationen als auch die Kaderpolitik letztlich der Differenzierungs- und Unterwanderungsstrategie als Teilaspekte untergeordnet waren: Während die Sympathisantenorganisationen mit ihrem Sammlungs- und Schneeballeffekt die nach außen wirkende Komponente dieser Politik bildeten - gewissermaßen die "Theaterbühne" -, kann das Kaderkonzept als die damit zusammenhängende, nach innen, verdeckt und tendenziell konspirativ wirkende Komponente gelten. Um im Bild des Theaters zu bleiben, veranschaulicht es die Rolle der SED-Führung als Souffleur. Die Strategien der SED für ihre Herrschaftsausübung gegenüber den Kirchen (Differenzierung und Unterwanderung) und die Methoden der Einflußnahme, die sie dabei anwandte, waren zwar kein Spezifikum der Herrschaft der SED oder anderer herrschender Parteien des sowjetischen Machtbereichs, sondern sind prinzipiell auch unter andersartigen politischen Verhältnissen vorstellbar - beispielsweise als Komponenten eines aggressiven Lobbyismus einer gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Macht. Auch das mechanistische und naive funktionale Menschen- und Gesellschaftsbild der SED ist nicht auf kommunistische Parteien beschränkt, sondern gehört zum Inventar jeder technokratischen Fortschrittsideologie. Schließlich sind auch konspiratives Handeln oder Propagandakampagnen durchaus nicht auf diese Regime beschränkt. Allerdings entfalten derartige Methoden innerhalb einer militärisch-bürokratisch organisierten Diktatur mit totalem Herrschaftswillen, der eine breite Palette von subtilen oder gewalttätigen Repressivmaßnahmen zur Verfügung stehen, um der Werbung für ihre "Friedenspolitik" den nötigen Nachdruck zu verleihen, und der ihre Bevölkerung alternativlos ausgeliefert ist, eine völlig andere Dimension. "Wichtigstes Mittel des Machtgewinns und -erhalts war und blieb für die SED die brutal oder subtil erzeugte Angst. Sie gehörte für lange Zeit zur überall spürbaren, später mehr zurücktretenden, aber nie verschwindenden Grundbefindlichkeit in der DDR." 65 Bereits Lobkowicz stellte fest, daß die meisten dieser häufig auf Lenin zurückgehenden Herrschaftspraktiken nicht neu sind, sondern teilweise weit vor Machiavellis Fürstenspiegel "II Principe" zurückreichen. Sie wurden allerdings seiner Meinung nach "niemals zuvor in solchem Detail konsequent durchgeführt und mit derart skrupellosem Zynismus wie (besonders bei Lenin) dargestellt". Auch sei es "den Kommunisten wie kaum jemand anderem in der Neuzeit gelungen, [...] die generationenschwere Erfahrung über den Umgang mit politischen Gegnern mit ähnlicher Nüchternheit auf die jeweils gegenwärtige Situation anzuwenden."66 Schließlich nennt Lobkowicz eine Reihe von Taktiken (in erster Linie die "Bünda
Mau: Eingebunden in den Realsozialismus?, a.a.O., S. 176.
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Lobkowicz, a.a.O., S. 64.
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nispolitik" und den Aufbau von Sympathisantenorganisationen), "die in ihrer modernen Einzelausführung bisher fast ausschließlich von Kommunisten gebraucht worden sind." Im Kern handele es sich dabei um "die Ausnützung der Ideale anderer zu eigenen Zwecken und die entsprechende Koalition mit Kräften, Bewegungen und Parteien, die man noch kurz zuvor bekämpft hatte und - nachdem entweder das erwünschte Ziel erreicht worden ist oder die Koalition sich als nutzlos, möglicherweise sogar schädlich erwiesen hat - unverzüglich weiterbekämpft". 67 Lobkowicz urteilt daher, daß das Instrumentarium kommunistischer Herrschaftsausübung im Grunde wenig originell ist. Dessen Besonderheit ist daher woanders zu suchen. Ein grundsätzliches "Mißverständnis der Neuzeit", das Lobkowicz auf Thomas Hobbes zurückführt, war - ausgehend vom Gesellschaftsverständnis des Positivismus im 19. Jahrhundert, das auch den klassischen Marxismus weitgehend prägte - bei den kommunistischen Parteien besonders verbreitet: der naive Glaube der politisch Handelnden, die "Vagheit, Zweideutigkeit, Vielfalt des Sozialen wie des Politischen" und seine Komplexität sei als "Ausführung von technischen Anweisungen" zu beherrschen. 68
67
Ebenda, S. 65.
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Ebenda, S. 69.
Die Rechtsprechung der DDR aus der Sicht des Bundesgerichtshofs Von Friedrich-Christian Schroeder
Ich habe für dieses kurze Referat ein bewußt enges Thema gewählt. Vorgegeben waren neue Forschungen zur DDR nach der Wende. Bei ihrer Beurteilung der DDRVergangenheit haben nun auch die deutschen Gerichte erstmals das Sozialsystem und darunter auch die Rechtsprechung der DDR zu erforschen. In der Strafprozeßordnung steht, daß die Gerichte verpflichtet sind, die Wahrheit zu erforschen; also auch in der Strafprozeßordnung findet sich ein Begriff, den wir als Wissenschaftler für uns in Anspruch nehmen. Es erschien mir daher reizvoll, zu untersuchen, welche Ergebnisse der Bundesgerichtshof bei seiner Ermittlung der Rechtsprechung der DDR gezeitigt hat, und sie mit den Ergebnissen der langjährigen DDR-RechtsForschung1 zu vergleichen. Dabei muß ich mit einer gewissen Enttäuschung sagen, daß die ersten einschlägigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs auf diese DDR-Rechts-Forschung überhaupt keinen Bezug genommen haben. Erst das neueste Urteil hat dies getan, und zwar in sehr eingehender Weise. Diese Enttäuschung soll mich allerdings nicht dazu verführen, an die Ergebnisse des Bundesgerichtshofs mit besonderer Kritiksucht heranzugehen.
A. Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs Der Bundesgerichtshof hat bisher in vier begründeten Entscheidungen zur Rechtsprechung der DDR Stellung genommen. Es gibt auch einige neue Entscheidungen, die in der Presse viel Aufsehen erregt haben. Sie bringen aber für das hier zu erörternde Thema nichts Neues.
1 Zu ihr allgemein F.-C. Schroeder, Die Entwicklung der DDR-Rechts-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Deutschland Archiv, 1986, 947ff.
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I. Das Urteil vom 13. Dezember 1993 Beginnen wir mit dem ersten Urteil vom 13. Dezember 19932. Da stellte sich zunächst ein etwas überraschendes Problem: Die Vorschrift über Rechtsbeugung, die zur Zeit, als die Taten begangen wurden, galt, ist aufgehoben; das gesamte Recht der DDR ist aufgehoben. Eine Bestrafung ist also nur noch möglich nach dem Recht, das an die Stelle dieses DDR-Rechts getreten ist, und das ist das Recht der Bundesrepublik. Nun gibt es nicht nur ein Rückwirkungsverbot, sondern auch ein Nachwirkungsverbot. Wenn also das für die ostdeutschen Länder neue Recht der Bundesrepublik mit dem alten Recht der DDR überhaupt nichts zu tun hätte, wäre eine Bestrafung nicht möglich. Der Bundesgerichtshof muß daher zunächst darlegen, daß zwischen der Rechtsprechung der DDR und dem dort vorgesehenen Rechtsbeugungstatbestand und unserem Rechtsbeugungstatbestand gewisse Gemeinsamkeiten bestehen. Der Bundesgerichtshof sieht sich also vor der paradoxen Aufgabe, zunächst die rechtssichernde Funktion der Rechtsprechung der DDR darzulegen. Er stellt fest, daß nach Kommentaren und Lehrbüchern Zweck des Rechtsbeugungstatbestandes der DDR die Gewährleistung des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz und die Sicherung der Gerechtigkeit und der Gesetzlichkeit der Rechtsprechung gewesen seien. Nach Art. 19 der Verfassung der DDR seien die sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtssicherheit garantiert gewesen. Auch in Art. 90 der Verfassung sei festgelegt gewesen, daß die Rechtspflege der Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit und dem Schutz von Freiheit, Rechten und Würde der Menschen diente. Nach Art. 96 der Verfassung seien die Richter unabhängig und nur an das Gesetz gebunden gewesen. Damit habe in der DDR eine Doktrin gefehlt, daß der bloße Wille der Inhaber der tatsächlichen Macht Recht schaffen könne. Das ist eine deutliche Abgrenzung zur Justiz des Dritten Reiches. Man stutzt hier etwas, denn es liegen ja mehrere Fälle vor, in denen Ulbricht durch Paraphe auf Anklageschriften Forderungen nach einem Todesurteil ausgesprochen hat, denen dann sofort entsprochen wurde. Der Bundesgerichtshof wollte aber hiermit die grundsätzliche Verbindlichkeit des Rechts für die DDR feststellen und darlegen, daß nicht die reine Faktizität Recht geschaffen habe. Er sagt das später noch einmal deutlicher: elementare Menschenrechtsverletzungen seien Mißbrauch gewesen, sei es unter Druck, sei es im Einverständnis, sei es durch individuellen Exzeß des Richters. Der Bundesgerichtshof will also darlegen, daß das Rechtssystem der DDR an sich nicht derartig pervertiert gewesen sei wie das des Nationalsozialismus, wo der bloße Wille des Machthabers habe Recht schaffen können. In der DDR sei der Wille der Machthaber Willkür gewesen. Das ist eine sehr feine Unterscheidung, die der Bundesgerichtshof aber deswegen durchführen muß, weil er andernfalls in Schwierigkeiten mit dem Nachwirkungsverbot gekommen wäre. 2
Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Bd. 40, S. 30ff.
Die Rechtsprechung der DDR aus der Sicht des Bundesgerichtshofs
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Nun die zweite Stufe: Hier stellt der Bundesgerichtshof tiefgreifende Unterschiede zwischen der Rechtsprechung der DDR und der der Bundesrepublik fest. Es habe keine Gewaltenteilung gegeben, die Gerichte seien Organe gewesen, die fest in das einheitliche System der Machtausübung eingegliedert gewesen seien, die Rechte und Interessen des Einzelnen hätten nicht im Gegensatz zu staatlichen Belangen stehen dürfen, die sozialistische Gesetzlichkeit habe keine umfassende Garantie gegeben, die Führung durch die SED habe Verfassungsrang gehabt, die SED habe die Inhalte des Sozialismus und damit die sozialistische Komponente der Gesetzlichkeit zu definieren gehabt. Daher seien die Beschlüsse der SED Grundlage für die Tätigkeit der Rechtspflegeorgane gewesen, und die Parteiorganisationen hätten Einfluß auf die Wahrung der sozialistischen Gesetzlichkeit durch die Rechtspflegeorgane genommen. Demgemäß hätten die Richter mannigfachen äußeren Einflüssen unterlegen, die sämtlich auf die SED zurückzuführen gewesen seien. Die Orientierung an der inhaltlichen Bestimmung der sozialistischen Gesetzlichkeit durch die SED sei verstärkt worden durch den Grundsatz des demokratischen Zentralismus. Die Einheitlichkeit der Rechtsprechung habe einen höheren Stellenwert gehabt als in der Bundesrepublik. Der Bundesgerichtshof führt dann eine Reihe von Bestimmungen auf, die dieses näher begründen. So habe das Oberste Gericht die Einheit der Rechtsprechung nicht nur durch Rechtsmittelentscheidungen, sondern auch durch Richtlinien und allgemeine Beschlüsse sichern müssen. Ähnliche Aufgaben habe auch das Bezirksgericht gegenüber den ihm untergeordneten Kreisgerichten gehabt und wiederum der Direktor des Bezirksgerichts gegenüber dem Bezirksgericht selbst. Das Justizministerium habe die Funktion der Anleitung und der Kontrolle gehabt. Plenarsitzungen des Obersten Gerichts seien maßgeblich gewesen. Es hätten sog. gemeinsame Standpunkte eine Rolle gespielt, die zum Teil gemeinsam von dem Obersten Gericht und der Generalstaatsanwaltschaft, auch unter Mitwirkung von Ministerien, geschaffen worden seien; Schreiben und sonstige Verlautbarungen des Obersten Gerichts seien maßgeblich gewesen. Das Ministerium der Justiz habe Revisionen durchgeführt, Mitglieder des Obersten Gerichts hätten Inspektionen der Gerichte vorgenommen, es habe Überprüfungen der Gerichtstätigkeit durch Arbeitsgruppen aus dem Obersten Gericht und den Justizorganen und die zuständige Abteilung beim ZK gegeben. Obwohl nach dem formellen Recht, nämlich Art. 20 Abs. 2 und 39 Abs. 1 S. 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes der DDR, nur Richtlinien und Beschlüsse des Obersten Gerichts verbindlich gewesen seien, seien "in Anwendung des Prinzips des demokratischen Zentralismus" auch diese Standpunkte als verbindlich angesehen worden. Die Richter der unteren Gerichte hätten vor Entscheidungen Kontakt mit den Richtern höherer Gerichte aufgenommen. Die persönliche Unabhängigkeit der Richter sei gering gewesen, sie seien jederzeit durch die Wahlorgane abberufbar gewesen.
5 Timmcrmann
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Nachdem der Bundesgerichtshof so drastisch die Unterschiede zwischen der Rechtspflege in der Bundesrepublik und der der DDR dargestellt hat, bekommt er wieder etwas Angst vor der eigenen Courage und fragt sich, ob er damit nicht die Basis für eine Verurteilung abgerissen hat. Er kommt zu dem Resümee, trotz dieser Unterschiede seien die Rechtsgüter nicht so ungleich, daß § 336 des geltenden Strafgesetzbuchs nicht anwendbar sei. Entscheidend sei nicht der Staatszweck gewesen, sondern die Tatsache, daß die Rechtsprechung auch dazu gedient habe, das geordnete Zusammenleben der Menschen zu regeln. In bezug auf den jeweüigen Konflikt hätte den Richtern eine Neutralität gegenüber den Beteiligten oblegen und das Bemühen, ihnen gerecht zu werden. Bei den Kapital-, den Sexual- und den Gewaltdelikten, auch bei vielen Vermögensdelikten, sei, zumal während der letzten Jahre der DDR, diese Neutralität gewahrt worden. Die Rechtsprechung sei auf weiten Strecken einigermaßen neutral gewesen. Nun erfolgt eine erneute Einschränkung. Bei der Prüfung der Rechtsbeugung seien die besonderen Züge des anderen Rechtssystems zu beachten. Es sei ein System, das auf Vereinheiüichung und Durchsetzung der sozialistischen Zielsetzung gerichtet gewesen sei. Es seien die Einflußnahmen zu berücksichtigen. Diese werden hier noch einmal aufgezählt. Bei der Auslegung komme es auf die Auslegungsmethoden der DDR nicht auf die der Bundesrepublik an. Strafbar seien daher neben Einzelexzessen nur Willkürakte, offensichtlich rechtswidrige Entscheidungen und Entscheidungen, die eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte enthielten.
Π. Das Urteil vom 9. Mai 1994 Das folgende Urteil vom 9.5.19943 betrifft die Nichtverfolgung eines Stasi-Mannes, der 1984 in angetrunkenem Zustand vor dem Stasigebäude von Güstrow im Verlauf einer Auseinandersetzung zwei Leute mit aufgesetzter Pistole einfach erschossen und einen dritten schwer verletzt hat. Dieser schießwütige Stasi-Unteroffizier wurde von dem zuständigen Militärstaatsanwalt seinerzeit nicht verfolgt. Hier zieht der Bundesgerichtshof die Argumentation umgekehrt auf: Er stellt zunächst tiefgreifende Unterschiede fest. Es habe keine Gewaltenteilung geben, die Rechtsanwendung sei auf Verwirklichung eines sozialistischen Staates unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei ausgerichtet gewesen. Die Entscheidungen der Justiz hätten mannigfachen äußeren Einflüssen unterlegen, die letztlich auf die SED zurückzuführen gewesen seien. Das ist eine Wiederholung der Formulierung aus der erstgenannten Entscheidung. Das habe auch für Staatsanwälte gegolten. Es werden nun einige Bestimmungen aus dem Staatsanwaltsgesetz aufgezählt: die Staatsanwälte hätten der Arbeiterklasse und dem 3
Amtliche Sammlung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Bd. 40, S. 169ff.
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sozialistischen Staat treu ergeben gewesen sein müssen (§35 Staatsanwaltschaftgesetz). Die Aufgabe habe darin bestanden, in Verwirklichung der Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse auf der Grundlage der Verfassung, der Gesetze und der anderen Rechtsvorschriften über die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit zu wachen (§ 1 des Staatsanwaltschaftgesetzes). Die Staatsanwaltschaft sei streng hierarchisch und zentralistisch organisiert gewesen (§§ 5-8 des Staatsanwaltschaftgesetzes). Daher habe das Prinzip des demokratischen Zentralismus bei den Staatsanwälten besondere Bedeutung gehabt, darunter die Einflußnahme übergeordneter Instanzen und die Abstimmung mit anderen Organen sowie mit der SED. Entgegen § 80 der Strafprozeßordnung seien auch die Untersuchungsorgane des Ministeriums für Staatssicherheit nicht der Staatsanwaltschaft untergeordnet gewesen, sondern es habe umgekehrt gegolten. Andererseits - nun auch hier das große Andererseits - hätte die Staatsanwaltschaft auch bei der Ahndung gewöhnlicher Kriminalität mitgewirkt und zum Schutz der Menschen vor solcher Kriminalität beigetragen. Damit wird wieder die Brücke geschlagen, daß man trotz der Aufhebung der damaligen Rechtsnormen nach der jetzigen Rechtsnorm bestrafen kann. Aber - sagt der Bundesgerichtshof - die Auslegungsmethoden der DDR seien auch beim Verfahrensrecht zu berücksichtigen. Angesichts der überragenden Bedeutung der Verwirklichung der Beschlüsse der Partei und des demokratischen Zentralismus sei es möglich, daß auch in die Beurteilung des hinreichenden Tatverdachts politische Wirkungen des Verfahrens eingehen sollten und daß dies als vereinbar mit den Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften verstanden worden sei. Das ist eine Strapazierung des Wortlauts, die m.E. nicht mehr tragbar ist. Der Bundesgerichtshof sagt mit anderen Worten: Der Sachverhalt darf verfälscht werden wegen der politischen Wirkungen, die aus dem Verfahren zu erwarten sind; das sei noch unter den Gesetzeswortlaut des hinreichenden Tatverdachts gefallen.
ΙΠ. Das Urteil vom 10. Oktober 1994 Ein weiteres Urteil erging am 10. Oktober 19944. In diesem Urteil ging es darum, daß jemand bei einer Rekrutenvereidigung vor dem Gebäude des Rats des Kreises ein kleines Plakat mit dem Text hochgehalten hatte: "DDR! Deine Grenzen sind für mich kein Friedensbeitrag!". Das Plakat wurde ihm nach wenigen Sekunden entrissen. Er wurde dann wegen Bekundung der Mißachtung der Gesetze verurteilt. Aus welchen konkreten Gründen der Bundesgerichtshof hier dazu kommt, den Richter, der dieses Urteil erlassen hat, freizusprechen, darauf möchte ich erst am Ende eingehen. Die allgemeinen Erwägungen sind ähnlich wie die, wie ich sie bisher dargestellt hatte. 4
5*
Amtliche Sammlung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, 40. Bd., S. 272ff.
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IV. Das Urteil vom 5. Juli 1995 Als letztes bisher unveröffentlichtes Urteil führe ich ein Urteil vom 5. Juli 1995 an, dessen Text mir bekanntgeworden ist und über das ich eine Rezension in einer juristischen Zeitschrift geschrieben habe5. Hier ging es um einen Fall aus dem Arbeitsrecht. Lehrerinnen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, war gekündigt worden. Sie hatten Klage gegen die Kündigung erhoben, und diese Klage war im Beschlußverfahren ohne Beteiligung der Öffentlichkeit durch den Richter abgebügelt worden. Hier sagt der Bundesgerichtshof wiederum, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung habe einen weitaus größeren Stellenwert gehabt als in der Bundesrepublik. Die Leitungsfunktion habe dazu geführt, daß auch andere Meinungsäußerungen dieses Gerichts als verbindlich für die nachgeordneten Gerichte angesehen worden seien. In der DDR habe eine sehr viel größere Präjudizienwirkung als in der Bundesrepublik geherrscht. Zu beachten gewesen seien auch Einflußnahmen des Ministeriums der Justiz, Revisionen der Bezirks- und Kreisgerichte, Rechtsprechungsanalysen und dergleichen mehr.
B. Vergleich mit den Ergebnissen der DDR-Rechts-Forschung Soweit die Darstellung der Ausführungen des Bundesgerichtshofs zur Rechtsprechung der DDR. Ich komme nun dazu, sie mit dem bisherigen Befund der DDRRechts-Wissenschaft zu vergleichen. M.E. ist die Analyse, die der Bundesgerichtshof vorgenommen hat, durchaus zutreffend. Die wesentlichen Züge sind hier richtig dargestellt. Man könnte vielleicht eine kleine Korrektur aussprechen: M.E. war es nicht so, daß in der DDR die sozialistische Gesetzlichkeit in zwei Teile geteilt wurde und das eine die Gesetzlichkeit war und das andere der Sozialismus, den dann die Partei hätte auslegen dürfen. Sondern der Einfluß der Partei wurde unmittelbar auf die führende Rolle der Partei und den Grundsatz der Parteilichkeit gestützt. Die sozialistische Gesetzlichkeit wurde definiert als Einheit von strikter Beachtung der Gesetze und Parteilichkeit ihrer Anwendung. Man hat das aber nicht so auseinanderdividiert, daß es eine durch den Sozialismus gewissermaßen verwässerte Gesetzlichkeit sei. Das ist eine kleine historische Ungenauigkeit des Bundesgerichtshofs, die aber an sich den Gesamtinhalt des Begriffs ganz gut wiedergibt. Man kann sagen: es war eine Gesetzlichkeit mit sozialistischer Einschränkung. Überraschend ist der fortgesetzte Hinweis des Bundesgerichtshofs darauf, daß in der DDR der Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsprechung einen höheren Stellenwert gehabt habe als bei uns. Wir haben das bisher doch immer ganz anders genannt: Wir haben gesprochen von der rücksichtslosen Durchsetzung des Parteiwillens bis in das letzte Gericht, Herr Pleyer hat vom Recht als Herrschaftsinstru5
Neue Zschr. für Strafrecht, 1995, S. 544ff.
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ment gesprochen; hier wurde gesagt, wie dem Richter die Unabhängigkeit genommen und der Parteiwille noch bis in das letzte Kreisgericht durchgesetzt wurde. Beim Bundesgerichtshof finden wir das plötzlich in positiver Formulierung als Feststellung, daß die Einheitlichkeit der Rechtsprechung in der DDR eine höhere Rolle gespielt habe und daß dort die Präjudizien Wirkung größer gewesen sei. Man fühlt sich hier an die "immanente" DDR-Forschung erinnert, die die DDR an ihren eigenen Vorgaben messen wollte6: Es wird festgestellt: Vorgabe war die Einheitlichkeit der Rechtsprechung, das wurde erreicht. Das ist eine auffällige Begründung des Bundesgerichtshofs, über die man noch näher diskutieren müßte. Vor allen Dingen müßte die Diskussion darum gehen, was diese Betonung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung durch den Bundesgerichtshof eigentlich für eine Funktion hat. M.E. ist entscheidend nicht, wie die rechtlichen Ergebnisse zustandegekommen sind, ob nun durch einen unabhängigen Richter oder durch einen abhängigen Richter, sondern wieweit sie mit dem Gesetzes Wortlaut in Einklang standen. Und mir sind kaum Richtlinien des Obersten Gerichts bekannt, die gegen den Wortlaut der Gesetze verstoßen haben. Es gibt einen Grenzfall, wo das Oberste Gericht der DDR entschieden hat, daß die Bekundung der Mißachtung der Gesetze auch dann angenommen werden könne, wenn sie für den Außenstehenden gar nicht erkennbar gewesen sei. Das ist aber vielleicht der einzige Grenzfall. Im übrigen weiß ich nicht, was diese längeren Ausführungen des Bundesgerichtshofs eigentlich sollen, sie sind m.E. irrelevant. Ich halte es für richtig, daß der Bundesgerichtshof den Arbeitsrichter und die Arbeitsrichterin, die die Kündigungsklagen im Beschlußwege abgewimmelt haben, freigesprochen haben - es gibt auch bei uns ein Beschlußverfahren bei Überlastung der Gerichte, z.B. in der Strafprozeßordnung bei der Revision, und eigentlich könnte ein totalitärer Staat doch sogar jedes Klagerecht gegen Kündigungen versagen. Demgegenüber hat die DDR noch das Klagerecht gehabt, und die Gerichte haben es dann formal abgebügelt. M.E. ist das ein Verfahren, das nicht so elementar gegen Menschenrechte verstößt, daß man darauf eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung stützen kann. Ganz anders sieht es aus in dem Fall des Plakats "DDR! Deine Grenzen sind für mich kein Friedensbeitrag!". Da stand der Bundesgerichtshof vor der Frage: War das nicht eigentlich eine Rechtsbeugung, denn der Angeklagte wurde verurteilt wegen Bekundung der "Mißachtung der Gesetze", und der Betreffende hatte ja von den Gesetzen gar nichts gesagt, hatte nur gesagt: "Deine Grenzen sind für mich kein Friedensbeitrag!". Dazu führt der Bundesgerichtshof aus: Der Protestierer hat zwar nicht von Gesetzen gesprochen; aus dem Plakattext konnten die Angeklagten, das sind jetzt der Richter und die Staatsanwältin, jedoch den Schluß ziehen, daß der Angeklagte "die gesamte mit der Grenzregelung in Zusammenhang stehende Gesetzgebung" in Frage stellen wollte! .6 Schroeder (Anm. 1), S. 951.
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Es geht noch weiter. Der Betreffende hat sich darauf berufen, daß es in keinem Gesetz der DDR eine umfassende Ausreiseregelung gab. Dazu sagt der Bundesgerichtshof: "Gerade das Fehlen einer solchen Regelung kennzeichnet die nach der Überzeugung der Angeklagten von P. 'mißachtete' Gesetzeslage"! Ich finde das skandalös. So ein Urteil haben die Richter der DDR nicht zustandegebracht. Die haben einfach geschrieben: Das war Bekundung der Mißachtung der Gesetze, und damit basta. Jetzt zeigt der Bundesgerichtshof den unbeholfenen Ostrichtern, wie man so etwas rechtsstaatlich hätte machen müssen. Er hat zwar nicht die Gesetze angesprochen, aber er hat eine "Lage" angesprochen, "wo das Gesetz fehlte". Das sei eine "Bekundung da* Mißachtung der Gesetze", erstens, weil er die gesamte damit in Zusammenhang stehende Gesetzeslage habe ansprechen wollen, und zweitens, weil auch das Fehlen eines Gesetzes eine Gesetzeslage und damit ein Gesetz sei. Wenn ich das Fehlen eines Gesetzes anprangere, bekunde ich eine Mißachtung der Gesetze.
C. Fazit Es hat sich gezeigt, daß die Methode des Bundesgerichtshofs, auf die Verfahren zur Rechtsgewinnung in der DDR hinzuweisen und zu sagen, daß diese Verfahren hingenommen werden müssen, für den Sachverhalt irrelevant ist. Die Frage der Rechtsbeugung muß an der Übereinstimmung der Verurteilungen oder der Unterlassung der Strafverfolgung mit dem Wortlaut der Gesetze gemessen werden. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen die DDR-Gerichte den Wortlaut der Gesetze krass überschritten haben - so die Verurteilung in dem von mir genannten Fall -, und es ist ausgesprochen peinlich, wenn die rechtsstaatliche Justiz jetzt daran geht, die Begründungen, die damals von den DDR-Richtern nicht gefunden worden sind, nachzuliefern. 7
7 Allgemein zur justiziellen Behandlung des DDR-Unrechts F.-C. Schroeder: die Ahndung des SED-Unrechts durch den Rechtsstaat, Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 38/95, S. 17ff.
Das Recht als Herrschaftsinstrument in der DDR Von Klemens Pleyer
A. Einleitung Mein Referat soll sich mit der Umgestaltung des Rechts zu einem Instrument der Herrschaft in der sozialistischen Ordnung der DDR beschäftigen. Dies kann nur anhand einiger ausgewählter Beispiele geschehen. Ich habe hierfür angesichts der Zusammensetzung des Teilnehmerkreises mit Absicht gerade solche Gebiete gewählt, die dem Nichtjuristen weniger bekannt sind, also nicht das Verfassungsrecht, das Strafrecht, das Wahlrecht oder ähnliches. Ich befasse mich vielmehr mit dem bürgerlichen Recht (Zivilrecht), hier aber nicht mit dem Eigentum, sondern mit dem Vertrag. Als weiteres folgt das Bankrecht, das außerhalb der Fachleute weniger bekannt ist. Aus dem dann folgenden Arbeitsrecht habe ich die Mitwirkung und Mitbestimmung ausgewählt. Den Abschluß bilden einige Fragen aus dem Gerichtsverfassungs- und Zivilprozeßrecht. Ich hoffe zeigen zu können, daß auch diese etwas spröde und dem Nichtjuristen weitgehend unbekannte Materie Aussagekraft über die jeweils herrschende Ordnung besitzt und welche Regeln geradezu zwangsläufig geändert werden mußten, als sich in der DDR eine neue Ordnung etablierte.
B. Zivilrecht I. Wirtschaftsverträge 1 Der Vertrag spielte in der DDR eine sehr große Rolle. Auch die volkseigenen Betriebe und die sozialistischen Genossenschaften schlossen untereinander Verträge über die Lieferung von Sachen, die Erbringung von Dienstleistungen und ähnliches mehr. Gerade diese "Wirtschaftsverträge" sind besonders aufschlußreich. Während wir den Vertrag als eine Manifestation der Freiheit ansehen, wurden dort die Ver-
1 Vgl. z.B. Pley er "Vertrag und Wirtschaftsordnung" in Zentralplanwirtschaft und Zivilrecht 1965, S. 43 ff; "Der Wirtschaftsvertrag in der DDR" in AcP 181, S. 459 ff. (= Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftspolitik in der DDR, 1984,125 ff.)
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träge auf die Erfüllung der Pläne ausgerichtet (Stichwort: Zentralplanwirtschaft). Dies bedingte natürlich ein Zurücktreten der Vertragsabschluß- und Ausgestaltungsfreiheit und ein Vordringen der Momente, die die Erfüllung und Übererfüllung der Pläne gewährleisten sollten. Der Vertrag war auch eines der wichtigsten Kontrollmittel, mit dessen Hilfe die Staatsführung sich den Überblick über das wirtschaftliche Geschehen verschaffte. Dies alles bedingte, daß an die Stelle der Vertragsabschlußfreiheit der Kontrahierungszwang trat, d.h. die Betriebe waren verpflichtet, zur Erfüllung der ihnen übertragenen Planaufgaben die entsprechenden Verträge abzuschließen. Das Maß an Entscheidungsfreiheit, das ihnen hierbei insbesondere bei der Ausgestaltung des Vertragsinhaltes zur Verfügung stand, variierte bekanntlich im Lauf der Geschichte mehrfach (Stichwort: Neues ökonomisches System der Planung und Leitung). Indem man den Betrieben den Vertragsabschluß übertrug, konnten sie die sog."Feinabstimmung" bei der Planerfüllung selbst vornehmen, was sicher rationeller war, als alles von der Zentrale aus regeln zu wollen. Zum andern verband sich mit dem Abschluß von Verträgen der Effekt, daß dann, wenn ein Vertrag nicht richtig erfüllt wurde, der Partner die entsprechenden Sanktionen ergriff, z.B. Schadensersatz oder eine vereinbarte Vertragsstrafe verlangte. Dieses bei uns den Parteiinteressen dienende Instrumentarium wurde in der DDR für die Zwecke der Planerfüllung und Plankontrolle mit nutzbar gemacht. Eine Klage auf Schadensersatz wegen verspäteter Lieferung vor dem staatlichen Vertragsgericht diente also zugleich auch dazu, den Betrieb zu plangemäßem Verhalten zu veranlassen. Aus alledem ergab sich zwingend, daß es nicht im Belieben der Betriebe stand, ob sie Ansprüche wegen Vertragsverletzung geltend machen wollten oder nicht. Sie waren vielmehr gehalten, die Ansprüche zu erheben. Man konnte weiter gewisse Zuwendungen an die Belegschaft von der Erfüllung bestimmter Pläne, etwa des Gewinnplanes abhängig machen und so ein Stimulans zur Planerfüllung einbauen. Indem die Betriebe nach dem sog. Prinzip der wirtschaftlichen Rechnungsführung arbeiteten, d.h. also u.a.einen Gewinn ausweisen mußten, konnte man etwa über die Gewinnpläne eine Kotrolle ihrer Tätigkeit installieren.
Π. Bankrecht2 Bekannüich wurden schon 1945 in der SBZ die privaten Banken sozialisiert. Es wurde allerdings keine Einheitsbank errichtet, sondern mehrere Banken, z.Teil in Anlehnung an die bisherige Tradition. Diese Banken machten sich aber keine Konkurrenz, vielmehr hatte jede bestimmte Aufgaben. Freilich gab es Überschneidungen.
2 Vgl. z.B. Pleyer "Aufgaben und Rechtsstellung der Banken in der DDR" in: Politik und Kultur 1986, S. 44 ff.; Lieser "Das zentralplanwirtschaftliche Bank- und Kreditrecht in der DDR" in: Pleyer-Lieser, Das Zivil- und Wirtschaftsrecht der DDR im Ausklang eines Reformjahrzehnts, 1973 S. 42 ff.; PleyerTömp\ "Grundzüge des Bankrechts in der DDR" in: Recht in Ost und West 1980, S. 1 ff.
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Die Staatsbank der DDR 3 war das wichtigste Organ. Sie war allen anderen Banken übergeordnet. Sie war Notenbank des Staates und Verrechnungszentrum, sie führte die Konten für die staatlichen Einrichtungen und die anderen Banken und sie war auch - im Gegensatz zu unserer Bundesbank - die wichtigste Geschäftsbank für die soz. Wirtschaft. Eine Unabhängigkeit gegenüber dem Staat kam ihr nicht zu. Ganz im Gegenteil, sie war an die staatlichen und die programmatischen Vorgaben der SED gebunden. Sie wurde nach dem Prinzip der Einzelleitung geführt, d.h. ihr Präsident hatte eine hervorgehobene Stellung, während wir den Präsidenten der Bundesbank im allgemeinen mehr als primus inter pares im Zentralbankrat ansehen. Neben der Staatsbank gab es noch die Bank für Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie, die Genossenschaftskassen für das Handwerk, die Sparkassen sowie die Postsparkasse und Postscheckämter für die Bürger. Für den Außenhandel gab es besondere Banken. Die Staatsbank der DDR arbeitete mit Hilfe allgemeiner Geschäftsbedingungen 4, die wie in der DDR allgemein üblich im Gesetzblatt veröffentlicht wurden. Die Banken sollten Kontrollorgane sein. Dann aber kann sich der einzelne Betrieb nicht die Bank aussuchen, mit der er kooperieren möchte, vielmehr mußten die sozialistischen Betriebe mit bestimmten Stellen, meist der Staatsbank, kooperieren, sie mußten dort ihre Konten unterhalten und wurden von dort aus kontrolliert. Umgekehrt unterlag die Staatsbank - Analoges gilt auch für die übrigen Banken innerhalb ihres Aufgabenkreises einem Kontrahierungszwang, d.h. sie mußte vertragliche Beziehungen mit dem betreffenden sozialistischen Betrieb eingehen, um ihrer Kontrollaufgabe genügen zu können. Daraus ergaben sich viele Einzelheiten, die von unserem Bankrecht abweichen. Der kontrollierte volkseigene Betrieb konnte z.B. nicht ohne weiteres bei einer anderen Bank Konten unterhalten. Barzahlungen waren im allgemeinen verboten, um die Kontrollaufgabe nicht zu beeinträchtigen. Der Kontobestand auf dem Konto bei der Staatsbank konnte von dem Betrieb nicht abgetreten werden. Die Betriebe wurden knapp dotiert, sie sollten die erforderlichen Mittel weitgehend selbst erwirtschaften, sie waren auch gezwungen, einen Kredit bei der Staatsbank aufzunehmen. Hierfür gab es eine eigene gesetzliche Regelung, nämlich die Kreditverordnung 5 für die sozialistische Wirtschaft. Das Verfahren der Kreditgewährung ähnelte mehr einem behördlichen Verfahren, als einer Verhandlung zwischen zwei Wirtschaftssubjekten. Es gab insbesondere eine Beschwerde dagegen, 3
Vgl. Pleyer "Die Staatsbank der DDR" in Festschrift für Wilhelm Herschel 1982, S. 333 ff.
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Vgl. Pleyer "Allgemeine Geschäftsbedingungen und Wirtschaftsordnung"in Gedächtnisschrift für Ernst E. Hirsch, Ankara 1986, S. 93 ff. (=Recht in Ost und West 1987, S. 202 ff.) 5 Vgl. Pleyer "Bankkredite für die sozialistische Wirtschaft" in: Sozialistisches Wirtschaftsrecht zwischen Wandel und Beharrung, 1987, S. 83 ff.
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wenn der Kredit versagt wurde. Da Kredite für die Planerfüllung lebensnotwendig waren, mußten die Banken auch in die Lage versetzt werden, den benötigten Kredit zu erhalten. Die Zinssätze waren gesetzlich geregelt. Sie sollten als ein Stimulierungsmittel wirken. Für besonders förderungswürdige Vorhaben wurden daher niedrigere Zinsen vorgesehen, umgekehrt konnten höhere Sanktionszinsen verhängt werden, wenn ein Betrieb seinen Aufgaben nicht nachkam und deswegen etwa zusätzliche Kredite benötigte. Theorie und Praxis klafften freilich oft auseinander. Banken wirkten auch bei der Aufstellung der Pläne mit, sie waren also über das gesamte wirtschaftliche Vorgehen gut orientiert. Um den Banken die Kontrolle zu ermöglichen, war es den sozialistischen Betrieben verwehrt, sich auf andere Weise als über die Bank Kredit zu verschaffen. Anzahlungen, Vorauszahlungen, die Begebung von Wechseln usw. spielten in der soz. Wirtschaft der DDR keine Rolle, sie galten als Störfaktoren.
ΙΠ. Arbeitsrecht6 Auch das Arbeitsrecht diente der Erfüllung der staatlichen Pläne. Die Vertragsfreiheit wurde auch hier weitestgehend beseitigt und durch zwingende Regeln ersetzt. Unser Arbeitsrecht ist vor allem als ein Arbeitnehmerschutzrecht konzipiert, es greift ein, wo der Schutz des Schwächeren dies erfordert, läßt im übrigen aber der Vertragsfreiheit, vor allem der Verbände, aber auch der Einzelnen freien Raum. In der DDR waren durch Gesetze, vor allem aber durch zahlreiche Verordnungen die Arbeitszeit, der Urlaub, die Arbeitsentgelte usw. geregelt. Im allgemeinen galt der sog. progressive Leistungslohn, der höhere Leistungen entsprechend höher belohnte, vor allem waren für hervorragende Leistungen besondere Auszeichnungen und Prämien vorgesehen. Im westdeutschen Arbeitsrecht spielen vor allem die kollektiven Verträge, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen eine große Rolle. Sie greifen insbesondere dort ein, wo dem individuellen Vertrag nicht zugetraut wird, vernünftige Ergebnisse zu gewährleisten. Konsequenterweise ist es möglich, daß man etwa von den Tarifverträgen zugunsten der Arbeitnehmer abweichen kann. Die Kollektivverträge der DDR setzten hingegen zwingendes Recht, sie konnten weder zugunsten noch zum Nachteil der Werktätigen abgeändert werden. Die Kündigung ist bei uns das Pendant zum freien Abschluß der Arbeitsverträge. Sie unterliegt für den Arbeitnehmer - abgesehen von Fristen - keinerlei Einschränkungen, wohl aber ist die Kündigung des Arbeitgebers daran gebunden, daß sie nur aus sachlichen Gründen erfolgt. 6 Vgl. etwa Pleyer "Wirtschaftsordnung und Arbeitsrecht" in: Zentralplanwirtschaft und Zivilrecht 1965, S. 123 ff., ferner S. 133 ff. u. 225 ff.; "Neuere Entwicklungen im Arbeits- und Sozialrecht der DDR" in "Die DDR nach 25 Jahren" 1975, S.103 ff.; Pley er-Liese r-Triebnigg "Funktion und Entwicklung des Arbeitsrechts in der DDR" in: Recht der Arbeit 1971, 65 ff. Pley er "Grundfragen des Arbeitsrechts im Spiegel des neuen Arbeitsgesetzbuches der DDR" in: Recht der Arbeit 1978, 351 ff.
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Wenn ein Arbeitnehmer von einem Betrieb in einen anderen wechselt, so ist damit regelmäßig ein gewisser Produktionsausfall verbunden. Dies wollte man in der DDR nach Möglichkeit vermeiden. Die Fluktuation der Arbeitskräfte wurde daher bekämpft. Primär sollte ein Arbeitsvertrag durch einen Aufhebungsvertrag, also durch eine Übereinkunft zwischen Betrieb und Werktätigem aufgelöst werden, erst in zweiter Linie durch einseitige Kündigung. Diese war freilich nicht beseitigt worden. In der Sowjetunion hingegen konnte längere Zeit hindurch der Werktätige nur eine Klage erheben, wenn er aus dem Betrieb gegen dessen Willen ausscheiden wollte. Diese war bei Vorliegen bestimmter Gründe erfolgreich. Vertretungsorgan der Arbeitnehmer im Betrieb ist bei uns ein von der Betriebsbelegschaft gewählter Betriebsrat, in der DDR hingegen waren es Betriebsgewerkschaftsleitungen, in größeren Betrieben Abteilungsgewerkschaftsleitungen, die von den Gewerkschaften selbst eingesetzt wurden. Die Gewerkschaften wiederum identifizierten sich hundertprozentig mit dem sozialistischen Staat, dem wichtigsten Arbeitgeber. Die Übereinstimmung der Tätigkeit der Vertretungsorgane mit den Intentionen der Staatsführung war daher gewährleistet. Während bei uns die Mitwirkung und die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in personellen sowie sozialen aber auch in wirtschaftlichen Fragen eine große Rolle spielen, sprach man in der DDR vorwiegend von Mitwirkung und Mitgestaltung. Dabei dachte man aber in erster Linie an eine Mitwirkung bei der Ausarbeitung der Pläne, bei den Möglichkeiten, die Pläne zu erfüllen und überzuerfüllen und ähnliches mehr. Die soz. Betriebe wurden nach dem Prinzip der Einzelleitung geleitet. Der Betriebsleiter war zwar verpflichtet, seine Maßnahmen weitestgehend mit der Belegschaft zu besprechen und zur Diskussion zu stellen, letzten Endes aber trug doch er die Verantwortung und durfte daher nicht durch Mitbestimmungsrechte, etwa in Fragen der Betriebsleitung, behindert werden. Freilich gab es auch Fälle, wo die Betriebsgewerkschaftsleitung ein echtes Mitbestimmungsrecht hatte. So mußte sie etwa bei Kündigungen zustimmen, auch beim Erlaß des Urlaubsplanes und ähnliches mehr. Generell ist noch festzuhalten, daß der Betrieb im Leben der Bevölkerung der DDR eine viel größere Rolle spielte als bei uns. Die Gesundheitsfürsorge, die Teilnahme am kulturellen Leben, die Gestaltung des Urlaubes usw. erfolgten in sehr starkem Maße über den Betrieb.
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IV. Gerichte und Prozesse7 Auch das Gerichtsverfassungs- und das Prozeßrecht wurden in der DDR zu einem Herrschaftsinstrument für die dortige Ordnung ausgestaltet. Den Gerichten wurde nicht nur die Aufgabe zugewiesen, den ihnen unterbreiteten konkreten Fall zu entscheiden, sie sollten vielmehr auch, wie man formulierte, eine "staatliche Leitungstätigkeit" entfalten, sie sollten also den gesellschaftlichen Prozeß leiten, zwar mit den ihnen eigenen Mitteln, aber doch parallel etwa zu den Verwaltungsbehörden. Dazu gehörte, daß man den Gerichten die Aufgabe zuwies, den "Konflikthintergrund" aufzuhellen und dazu beizutragen, entstandene Mängel zu beseitigen. Zu diesem Zweck konnten die Gerichte neben der Entscheidung über den konkreten Fall in einem besonderen Beschluß sog. Gerichtskritik üben. Die angesprochenen Behörden oder Einrichtungen mußten dann zu dieser Gerichtskritik Stellung nehmen. Eine Weisungsbefugnis hatten die Gerichte freilich nicht. Alle diese Momente bedingten ein Zurücktreten der Unabhängigkeit der Richter in dem Sinne wie wir sie verstehen. Die Richter kamen durch Wahl in ihr Amt und konnten auch wieder so abberufen werden. Besonders ausgeprägt war die Stellung der Staatsanwälte. Der Staatsanwalt galt als der "Hüter der sozialistischen Gesetzlichkeit". Er hatte daher wesentlich größere Befugnisse als bei uns. Er konnte auch in Zivü- und Arbeitsverfahren am Prozeß teilnehmen und Rechtsmittel einlegen. Er hatte sich überhaupt darum zu kümmern, daß Rechtsverletzungen unterblieben. Die den Gerichten zugewiesene Aufgabe beeinflusste auch ihre Stellung zu den übrigen staatlichen Instanzen. Die Lehre von der Trennung der Gewalten wurde in der DDR und im gesamten Ostblock abgelehnt. Man sieht das z.B. daran, daß das oberste Gericht auch Richtlinien erlassen durfte. Diese waren äußerlich von Gesetzen oder Verordnungen nicht zu unterscheiden, sie gliederten sich in Paragraphen, Absätze usw. So war etwa das Familienvermögensrecht in der DDR nur in einigen wenigen Paragraphen des ZGB geregelt, die Einzelheiten enthielt dann eine Richtlinie des obersten Gerichts. Offiziell galten diese Richtlinien nicht als Akte der Gesetzgebung. Praktisch aber lief das doch darauf hinaus. Bei uns wird der Satz vom gesetzlichen Richter sehr hoch geschätzt, d.h. es muß von vornherein feststehen, welches Gericht und in welcher Zusammensetzung für einen bestimmten Fall zuständig ist. Dies wurde in der DDR gleichfalls aufgelockert. So konnte z.B. der Direktor des Kreisgerichtes (der untersten Instanz) jedes Verfahren an sich ziehen, der Direktor des Bezirksgerichtes konnte einen Fall vom Kreisgericht an das Bezirksgericht ziehen.
7 Vgl. etwa Pleyer "Zivilprozeß und Wirtschaftsordnung" in "Zentralplanwirtschaft und Zivilrecht" 1965, S. 79 ff.; Pleyer "Richter und Rechtsprechung in der DDR" in "Innerdeutsche Rechtsbeziehungen" Hrsgb. Deutsche Richterakademie 1988; Pleyer "Gerichte, Rechtsfindung und Zivilprozeßordnung in der DDR" in: Politik und Kultur 1977 Nr.2 S.3ff.
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Für die Streitigkeiten innerhalb der sozialistischen Wirtschaft über den Abschluß von Verträgen oder über Streitigkeiten wegen der Erfüllung von Verträgen gab es besondere Instanzen, nämlich die staatlichen Vertragsgerichte. Dies waren keine echten Gerichte, sondern Schiedsinstanzen, die in der Sowjetunion auch zutreffender Arbitrage genannt wurden. Diese Vertragsgerichte hatten gleichfalls nicht nur den konkreten Fall zu entscheiden, sie übten vielmehr auch eine Art Aufsicht über die sozialistische Wirtschaft aus. Man merkt das daran, daß sie unter anderem auch Verfahren von Amts wegen einleiten konnten, etwa wenn Verträge, die zur Erfüllung der Pläne notwendig waren, nicht abgeschlossen wurden. Bei diesen staatlichen Vertragsgerichten dominierte die Zweckmäßigkeit ganz stark. Es gab keine festen Regeln über die örtliche Zuständigkeit und die Zusammensetzung der Spruchkörper, die Entscheidung sollte vielmehr dort und in der Zusammensetzung getroffen werden, wie es für den konkreten Fall am günstigsten erschien. Es gab auch kein echtes Rechtsmittelverfahren wie sonst im Prozeßrecht. Gegen eine Entscheidung eines Bezirksvertragsgerichtes konnte zwar das zentrale staatliche Vertragsgericht angerufen werden, es hatte aber nicht die unbedingte Pflicht einer erneuten Prüfung. Ein Herrschaftsinstrument ganz besonderer Art waren die sog. gesellschaftlichen Gerichte 8, vor allem in der Form der in den Betrieben errichteten Konfliktkommissionen. Dies waren Spruchkörper aus Laien, die unter anderem zuständig waren für arbeitsrechtliche Streitigkeiten, für die kleinere Kriminalität, aber auch für Zivilsachen, eine Zeitlang sogar für Moralverstöße. Sie waren fest im Griff der Partei und können nicht etwa als Ausdruck einer gewissen betrieblichen oder gesellschaftlichen Autonomie gegenüber den staatlichen Instanzen angesehen werden. Das Verfahren vor ihnen war verhältnismäßig formlos. Sie verhängten keine kriminellen Strafen, wohl aber Bußen und konnten Verpflichtungen des Beschuldigten bestätigen. Das Verfahren vor der Konfliktkommission fand im Betrieb statt, Richter über den konkreten Fall waren Kollegen aus dem Betrieb. Dies hatte vielfach zur Folge, daß mit der Verhandlung vor der Konfliktkommission eine gewisse Prangerwirkung verbunden war. Man findet deshalb immer wieder Hinweise, daß Beschuldigte darum baten, den Fall vor das staatliche Gericht und nicht vor die Konfliktkommission zu bringen, obzwar dann die Gefahr bestand, daß sie mit einer kriminellen Strafe belegt wurden, die auch im Strafregister eingetragen wurde. Da die Betriebskollegen über Vorfälle urteilten, die regelmäßig schon vorher im Betrieb diskutiert worden waren, die sie vielleicht selbst mit erlebt hatten, waren die Distanz und die Unvoreingenommenheit der Richtenden fraglich.
'Vgl. Pleyer "Zur Betriebsjustiz in beiden Teilen Deutschlands" in: Pleyer-Lieser Zentralplanung und Recht 1969, S. 150 ff.
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Einige Beispiele aus der Praxis 9: "So erschienen z.B. vor einiger Zeit bei der Rechtsauskunft im Kreisgericht Wittenberg zwei Ehefrauen, die sich über die ehewidrige Verhaltensweise ihrer Männer beklagten. Diese vernachlässigten die Familien, gingen häufig allein zum Tanzen und ins Kino, und die Frauen vermuteten, daß sie es auch mit der ehelichen Treue nicht so genau nahmen. Das Gericht benachrichtigte die Konfliktkommission des Betriebes der beiden Ehemänner von diesem Sachverhalt, und es fand eine Sitzung statt, in der die beiden Kollegen zu ihrem Verhalten Stellung nehmen mußten. Sie vertraten anfangs die Meinung, in ihre persönlichen Angelegenheiten habe sich kein anderer einzumischen. Im Laufe einer kritischen Aussprache wurden sie jedoch davon überzeugt, daß das Tätigwerden der Konfliktkommission keine ungerechtfertigte Einmischung bedeutet, sondern Ausdruck der neuen gesellschaftlichen Beziehungen ist. Die beiden Ehemänner erkannten das Falsche ihres Verhaltens gegenüber ihrer Familie und versprachen, dieses zu ändern. ... In der Sprechstunde des Kreisgerichts erschien eine Frau und beklagte sich über die mangelhafte Unterhaltszahlung ihres Ehemannes für sich und ihr Kind. Der Richter begab sich daraufhin in den Betrieb des Ehemannes, um unter Teilnahme von Mitgliedern der Konfliktkommission und Funktionären der Gewerkschaftsleitung im Kreis der Brigade mit dem Ehemann über den Sachverhalt zu sprechen. Hier stellte sich heraus, daß auch die Verhaltensweise der Ehefrau nicht richtig war, daß sie es nicht verstand, mit dem Wirtschaftsgeld auszukommen, und daher von ihrem Mann das Wirtschaftsgeld zugeteilt bekam. Jeder Kollege sagte offen und ehrlich seine Meinung, und die Kollegen gaben dem Ehemann an Hand ihrer eigenen Praxis Hinweise, wie er seine finanziellen Verhältnisse innerhalb der Familie am besten regeln könnte. Sie waren auch bereit, ihm bei der Lösung der ehelichen Schwierigkeiten zu helfen und zu diesem Zweck mit seiner Ehefrau in der Brigade eine Aussprache zu führen. "
Die Verhandlungen eines Einbruchsdiebstahls, den zwei verheiratete Arbeiter begangen hatten, um in den Besitz eines Albums mit Aktfotos zu kommen, das die Wohnungsinhaberin einem von ihnen gezeigt hatte, wurde auf folgende Vorfragen erstreckt: Tribüne-Beilage
KK 34/1965
... "Verschweigen wir nicht: Beide sind verheiratet, also auch Gerd. Wie kommt es, daß er sich nachts mit einer fremden Frau umhertreibt? Damit begann es. Gerd hat sich bei den Zusammenkünften der Brigade noch nicht mit seiner Frau sehen lassen. Die Kumpel hatten schon wiederholt gefragt. Dazu Gerd: "Meine Frau liebt nicht die Geselligkeit, sie tanzt nicht gern. " "Warum laßt ihr zu, daß Gerd den Außenseiter spielt?" Der Vorsitzende blickte fragend in die Runde. Doch die schweigt. Liegt es daran, daß sich die Kollegen mit Gerd und Klaus schon gründlich "ausgesprochen" haben?"
9 Vgl. aaO (Fn 8): "Grundfragen des mitteldeutschen Arbeitsrechts im Spiegel der Rechtsprechung". S. 225 ff. und 240 ff.
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Es war aber nicht nur die Gerichtsverfassung selbst, die zu einem Herrschaftsinstrument der sozialistischen Ordnung ausgestaltet wurde, auch das Prozeßrecht unterlag einem Funktionswandel. Daraus ergaben sich dann viele konkrete Änderungen. Bei uns wird der Zivilprozeß nach wie vor von den Parteien selbst betrieben und geformt. Im Zivilprozeß der DDR fühlte sich das Gericht als ein Kontrollinstrument des Staates. Dies bedingte ein weitgehendes Zurücktreten der Befugnisse der Parteien und eine stärkere Stellung des Gerichtes gegebenenfalls auch der Staatsanwaltschaft. Während etwa bei uns die Rücknahme der Klage in der Hand der Parteien liegt, konnte in der DDR der Staatsanwalt die Fortsetzung des Prozesses erzwingen. Dies erscheint durchaus logisch. Wenn der Prozeß ein Kontrollinstrument ist, kann man den Kontrollierten, also den Parteien, nicht gestatten, dieses Kontrollinstrument auszuschalten, wenn etwa gerade unangenehme Dinge zur Sprache kommen. Wenn sich bei uns die Parteien des Prozesses über den Streitstoff einigen, also einen Vergleich schließen, ist damit der Prozeß beendet. In der DDR mußte der Vergleich bestätigt werden, sonst wurde der Prozeß weitergeführt. Während bei uns das Gericht im Zivilprozeß nur die Beweise erhebt, die von den Parteien angeboten werden (es gibt freilich Ausnahmen, etwa für Ehesachen) hatte das Gericht in der DDR die Befugnis, alle Beweise zu erheben, die ihm wesentlich erschienen. Das ergibt sich aus seiner Funktion als Kontrollinstanz. Bei uns kann ein Prozeß durch das Fernbleiben einer der Prozeßparteien beendet werden. Die Klage wird, wenn der Kläger nicht erscheint, abgewiesen, wenn der Beklagte nicht erscheint, gilt das Vorbringen des Klägers als zugestanden und kann dann zu einem Versäumnisurteil führen. Auch dies war in der DDR nicht mehr möglich, es hätte ja zu gewissen Manipulationen des Prozesses durch die Parteien und damit zu einer Beeinträchtigung der Kontrolltätigkeit führen können. Besonders hervorzuheben ist die Möglichkeit, daß in der DDR auch rechtskräftige Urteüe im sog. Kassationsverfahren wieder aufgehoben werden konnten. Die Kassation war freilich nicht ein Rechtsmittel in der Hand der Prozeßparteien, sie stand vielmehr der Staatsanwaltschaft und den Vorsitzenden der Gerichte zu. Auch das Zwangsvollstreckungsrecht wurde umgestaltet und sollte u.a. etwa durch die Pfändungsfreiheit gewisser Einkünfte z.B. der Prämien für gute Leistung, der Erhöhung der Arbeitsproduktivität dienen. Die marktwirtschaftliche Versteigerung wurde durch den Verkauf der gepfändeten Sachen etwa an den, der sie für Arbeiten im Rahmen der Pläne brauchte, ersetzt.
C. Schluß Während die erwähnten gesetzlichen Regelungen und die gerichtliche Praxis uns seit langem bekannt waren, erfuhren wir nach 1989, daß man aus Gründen der Zweckmäßigkeit oder Einfachheit oft vom Gesetz abgewichen ist. So wurden große
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Bauvorhaben durchgeführt, ohne daß man die Grundbücher entsprechend berichtigte. Man achtete die Rechtssicherheit und Gesetzestreue viel geringer als bei uns. Ich habe nur einen kleinen Ausschnitt behandeln können und einige wenige charakteristische Regelungen vorgeführt, die gerade für den Nichtjuristen aufschlußreich sind. Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, einen lehrreichen Einblick in das Recht der DDR als Herrschaftsinstrument der dortigen sozialistischen Ordnung zu geben.
Strukturen und Funktionen politischer Strafjustiz in der DDR Aktueller Forschungstand und offene Fragen
Von Annette Weinke
Als ich vor etwa eineinhalb Jahren den Rechtswissenschaftler Siegfried Mampel in einer dienstlichen Angelegenheit aufsuchte, empfing mich dieser mit den Worten: "Ich weiß gar nicht, womit Ihr Euch eigentlich den ganzen Tag beschäftigt. Über die DDR-Strafjustiz ist doch bereits alles gesagt und geschrieben worden." Ich glaubte damals, einen leicht vorwurfsvollen Unterton aus diesen Sätzen herausgehört zu haben, habe aber nicht nachgefragt, ob dieser Vorwurf mehr den Kollegen Staatsanwälten bei der "Arbeitsgruppe Regierungskriminalität" bei deren Bemühungen einer strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Justizunrechts galt oder sich eher an die Vertreter meines Fachs, die Zeithistoriker, richtete. Diese kleine Episode kam mir spontan in den Sinn, als ich mit den Vorbereitungen zu dem heutigen Vortrag begann. In der Tat handelt es sich bei einem bestimmten Teil der seit 1990 vorgelegten Forschungsarbeiten, die sich mit der Thematik der Politischen Justiz in der DDR befassen, inhaltlich und methodisch um alten Wein in neuen Schläuchen. Ich werde auf diese Erscheinungen im Laufe meines Vortrages noch zu sprechen kommen. Ungeachtet einzelner Negativerscheinungen kann jedoch fünf Jahre nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes grundsätzlich von einer positiven Bilanz gesprochen werden, wenn es die Erforschung von Strukturen und Funktionen des DDR-Repressionsapparates zu beurteilen gilt. Die Mehrzahl der seit 1990 vorgelegten Untersuchungen zu dem Thema setzte die Forschungen westdeutscher Publizisten und Wissenschaftler wie Karl Wilhelm Fricke, Wolfgang Schuller oder F.-C. Schroeder aus der Zeit vor 1989 fort, indem deren Erkenntnisse anhand einer erweiterten Quellenbasis überprüft bzw. ergänzt wurden.1
1 Karl Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968, Köln 1979 (2. Auflage Köln, 1990); Wolfgang Schuller, Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts der DDR bis 1968, Ebelsbach 1980; Friedrich-Christian Schroeder, Das Strafrecht des realen Sozialismus. Eine Einführung am Beispiel der DDR, Opladen 1983; zur Entwicklung der bundesdeutschen DDR-Rechtsforschung bis Mitte der achtziger Jahre vgl. Schroeder, Die Entwicklung der DDR-Rechts-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: DA 19 (1986), S.947ff.
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Α. Begriffliche Probleme und thematische Eingrenzung Bevor ich auf die neueren Forschungsergebnisse zu sprechen komme, möchte ich zunächst kurz die verschiedenen Aspekte des Begriffs der politischen Justiz in den DDR-spezifischen Ausprägungen näher umreißen. Bekanntermaßen umfaßt der Begriff nach Kirchheimer zum einen den klassischen Anwendungsbereich des politischen Strafrechts, also die strafrechtliche Verfolgung politisch motivierter Delikte. Zum anderen wird unter politischer Justiz der Gebrauch von juristischen Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken verstanden.2 Die Tatsache, daß sich im Rechtsalltag eines totalitären Systems wie dem der DDR beide Bereiche häufig überschnitten haben, bedeutet für die wissenschaftliche Erforschung dieses Themas, daß eine sektorale Betrachtungsweise - die eine exakt bestimmbare Trennlinie zwischen vermeintlich "normaler" und "politischer" Strafjustiz voraussetzen würde - der vor 1989 bestehenden Wirklichkeit nicht gerecht werden kann.3 Zudem gilt für eine umfassende wissenschaftliche Analyse der politischen Justiz in besonderem Maße der Forschungsansatz, den der Rechtssoziologe Hubert Rottleuthner vor einiger Zeit in Bezug auf die Erforschung des gesamten DDR-Rechtswesens proklamiert hat: Um die Besonderheiten dieses Rechtssystems zu erfassen, müsse man - so Rottleuthner - über "die bloß formelle Betrachtungsweise hinausgehen und zusätzlich zu den legalen Mechanismen ('Gesetzesbindung') auch die zahlreichen informellen Funktionsmodi einbeziehen."4 In seiner 1980 erschienenen Untersuchung über Anwendungs- und Auslegungspraktiken des politischen Strafrechts in der DDR hatte bereits Schuller darauf hingewiesen, daß die übersteigerte Tendenz zur "Fingierung , Propagierung und Kaschierung" als eine spezifische Erscheinung des DDR-Justizsystems bezeichnet werden kann, die dieses vom nationalsozialistichen Rechtswesen unterschied.5 Demgemäß fielen im DDR-Justizsystem das schrift2 In seinem Werk zur "Politischen Justiz" stellte Otto Kirchheimer insgesamt drei Grundformen politischer Prozesse auf. Danach werde in einem politisch motivierten Verfahren entweder "eine mit politischer Zielsetzung verübte kriminelle Tat abgeurteilt und die Verurteilung des Täters um bestimmter politischer Vorteile willen angestrebt", oder es werde mit den Mitteln des klassischen politischen Prozesses versucht, "das politische Verhalten seiner Widersacher als kriminell zu brandmarken, um sie auf diese Weise von der politischen Bühne zu entfernen". Daneben diene der gleichsam abgeleitete politische Prozeß zur Diskreditierung des politischen Gegners, wobei Delikte eigener Art wie Beleidigung oder Verleumdung, Meineid, Ungebühr vor Gericht herhalten müßten (Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken, Neuwied und Berlin 1965, S. 80); vgl auch Jutta Limbach, Politische Justiz im Kalten Krieg, in: Neue Justiz 2 (1994), S.49ff. 3 Dieses systemimmanente Phänomen des DDR-Justizsystems ist beispielsweise von Belang bei Auswahl und Auswertung der Justizakten, deren Quellenwert erst in Ansätzen untersucht worden ist; vgl. dazu Klaus-Heinrich Debes/Annette Weinke, Aufklärung von DDR-Justizunrecht in Strafverfahren in* DA 10 (1995), S. 104ff. 4 Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. unter Mitarbeit von Andrea Baer u.a. im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz, Steuerung der Justiz in der DDR: Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Bundesanzeiger, Köln 1994, S.9ff., hier: S.12. 5
Schuller 1980 (wie Anm.l), S.418.
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lieh niedergelegte Normengefüge und die faktische Anwendung dieser Normen oftmals auseinander. Es lassen sich somit folgende Teilbereiche unterscheiden, die bei dem wissenschaftlichen Umgang mit diesem Thema berücksichtigt werden müssen: Zum einen gehört dazu die Beschäftigung mit den formalen normativen Grundlagen der Rechtspflegeorgane und der Rechtsprechung. Zu diesem Bereich zählen das verfassungsrechtlich geregelte Gesetzgebungswesen, die im Gerichtsverfassungsgesetz und entsprechenden Bestimmungen festgelegten Strukturen der Ermittlungs- und Rechtsprechungsorgane bzw. die Vorschriften für die Personalrekrutierung und das dem GVG bzw. der Weisungsgbundenheit innerhalb der Staatsanwaltschaft entsprechende Anleitungswesen innerhalb der Gerichtsbarkeit und der Staatsanwaltschaft. Von weitaus größerer Bedeutung für die tatsächliche Rolle der Justiz in der DDR war jedoch der gesamte Bereich der informell getroffenenen Festlegungen und Entscheidungsabläufe: Unter diesen Bereich fallen u.a. die faktische Übernahme gesetzgeberischer und rechtsprechender Kompetenzen durch die verschiedenen Parteigremien, die Aktivitäten des MfS-Untersuchungsorgans in der Grauzone zwischen gesetzlich geregelter Ermittlungstätigkeit und illegalen Maßnahmen des politisch-operativen Kampfes sowie schließlich Ausmaß und Auswirkung der justizexternen Einflußnahme auf Gerichte und Staatsanwaltschaften durch die SED oder das Ministerium für Staatssicherheit jenseits strafprozessualer und sonstiger Vorschriften. 6 Die Einflußnahme dieser justizfremden Stellen auf eine ohnehin unter dem "Primat der Politik" stehende Rechtsprechung führte im Ergebnis zu der für das DDR-Justizsystem typischen "Dreischichtigkeit der politischen Strafrechtsvorschriften" 7 und konnte unter Umständen auch Handlungen von Rechtsbeugung nach sich ziehen. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, daß die hier skizzierten Charakteristika und die damit verbundenen begrifflichen Probleme dazu geführt haben, daß das von Ernst Fraenkel entworfene "Doppelstaat" - Modell zur Zeit als ein theoretisches Erklärungsmuster für das DDR-Justizsystem eine Renaissance erlebt.8 6 Dieser Fragestellung wird besonders im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen nachgegangen, die zur Zeit gegen ehemalige DDR-Justizfunktionäre wegen des Verdachts der Rechtsbeugung laufen (vgl. Debes/Weinke, Aufklärung von DDR-Justizunrecht [wie Anm.3). 7 Diese Charakterisierung stammt von Wolf gang Schuller und wird von ihm folgendermaßen erläutert: "Es konnte vorkommen, daß die Auslegung vom Wortlaut und manchmal sogar die Anwendung von der Auslegung qualitativ abwich. So wurde der Begriff des 'Verleitens' bei der Republikflucht entgegen dem Woitlaut so ausgelegt, daß darunter auch die Zustimmung zu einem bereits gefaßten Entschluß fiel; (...) so wurde das Wort 'Gerücht' entgegen seiner Bedeutung nicht als unüberpriifte, sondern als sachlich unzutreffende Nachricht ausgelegt und darüber hinaus auf wahre Sachverhalte angewandt. Wer solche Praktiken anwendet, handelt nicht im Rahmen des Rechts und weiß das auch" (Wolfgang Schuller, Warum das DDR-"Recht" Unrecht war, in: Wahrheit und Gerechtigkeit - Warum es notwendig ist, sich mit den Taten und Folgen der SED-Diktatur auseinanderzusetzen, Referate des 1. Dialog-Forums vom 5.6.3.1993 in Magdeburg, hrsg. von Günter Rüther im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung, S. 35ff., hier: S. 37). 1 So die Charakterisierung von Falco Werkentin, der in seiner Untersuchung zur Rolle der Justiz als Herrschaftsinstrument der SED auf Fraenkels berühmte Analyse der nationalsozialistischen Rechts-
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Β. Neuere Forschungsergebnisse und aktuelle Projekte Ein Vergleich der in den vergangenen fünf Jahren vorgelegten Publikationen zu dem Thema zeigt, daß sämtliche der hier beschriebenen Teilbereiche Gegenstand eingehender Untersuchungen gewesen sind, wobei - je nach Perspektive des Verfassers - entweder mehr die formelle oder die informelle Ebene in den Vordergrund der Betrachtung rückte. Der Umstand, daß das Oberste Gericht der DDR unmittelbar nach der Wende ganz wie zuvor auf politischen Druck von oben reagierend - eine Reihe ehemaliger prominenter politischer Häftlinge justizförmig rehabilitierte und nun auch die justizrelevanten DDR-Akten zugänglich gemacht wurden, führte dazu, daß bereits im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung eine Reihe von Einzelaufsätzen erschienen, die sich besonders drastischen Erscheinungsformen von Justizunrecht in der DDR widmeten. Im Mittelpunkt der Betrachtung standen zu diesem Zeitpunkt vor allem die "Waldheimer Prozesse" des Jahres 1950, die - bis 1989 ein Tabuthema in offiziösen Darstellungen zur DDR-Justizgeschichte - inzwischen als das am besten erforschte Kapitel gelten können.9 In der Folgezeit widmete sich besonders Falco Werkentin, zur Zeit Mitarbeiter des StU in Berlin, in diversen Einzeluntersuchungen der Frage nach Intentionen und Methoden der SED bei der justitiellen Verfolgung tatsächlicher oder vermeintlicher politischer Gegner. 10 Angesichts des ungeheuren quantitativen Ausmaßes der politisch motivierten Strafverfolgung in der DDR - Werkentin erklärt in seiner neuesten Veröffentlichung die geschätzte Zahl von 200.000 bis 250.000 Opfern für "nicht übertrieben" - konnte er nach eigener Formulierung nur "Schneisen in das Dickicht der DDR-Strafrechtsgeschichte und ihrer archivalischen Überlieferung schneiden."11 Mit Rückgriff auf die vorwiegend im Parteiarchiv lagernden Dokumente konnte er beispielsweise anhand einzelner Fallstudien nachweisen, daß die SED in Übereinstimmung mit den Beratern der Sowjetischen Kontrollkommission noch bis 1960 vorwiegend auf das Mittel des Wirtschaftstrafrechts setzte, um die beabsichtigten sozioökonomischen Umwälordnung zurückgreift (Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht [Forschungen zur DDR-Geschichte, Bd.l], Berlin 1995, S.395ff.). 9 Vgl. dazu Fricke, Das justitielle Unrecht der Waldheimer Prozesse, in: NJ (1991), S.1991 ff.; Werkentin, Scheinjustiz in den frühen Jahren der DDR - Aus den Regieheften der Waldheimer Prozesse, in: Kritische Justiz (1991), S.333ff. sowie Wolfgang Eisert, Die Waldheimer Prozesse - Der stalinistische Terror, München 1993. 10 Werkentin, Justizkorrekturen als permanenter Prozeß - Gnadenerweise und Amnestien in der Justizgeschichte der DDR, in: Neue Justiz (1992), S.521ff.; ders., Strafjustiz im politischen System der DDR: Fundstücke zur Steuerungs- und Eingriffspraxis des zentralen Parteiapparates der SED, in: Rottleuthner unter Mitarbeit von Andrea Baer u.a. im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz, Steuerung der Justiz in der DDR: Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Bundesanzeiger, Köln 1994, S.93ff. 11
Werkentin,
Politische Strafjustiz (wie Anm.8), S.12f.
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zungen gegenüber einer sich unwillig gebährdenden Bevölkerung - betroffen waren in erster Linie Landwirte und mittelständische Unternehmer - durchzusetzen.12 Politische Hintergründe und Formen des Einsatzes wirtschaftstrafrechtlicher Maßnahmen in der SBZ/DDR wurde bislang erst in Ansätzen erforscht, jedoch zeichnet sich bereits jetzt ab, daß speziell in den großen Wirtschaftstrafverfahren der Frühphase das justizförmige Instrumentarium entwickelt wurde, welches auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder zur Vernichtung politischer Gegner herhalten mußte: Zu den typischen Elementen politisch motivierter Strafverfahren in der DDR zählten die sog. "Stellvertreterverfahren" 13 zur Verwirklichung übergeordneter politischer Zielsetzungen: So verhaftete beispielsweise das MfS mehr nach dem Zufallsprinzip, als auf der Grundlage systematischer Ermittlungen ausgewählte leitende Angestellte einzelner Wirtschaftsbetriebe, um Sündenböcke für die verfehlten planwirtschaftlichen Prognosen zu präsentieren. Des weiteren gehörten dazu die justizförmige Inszenierung eines Gerichtsverfahrens auf der Grundlage sog. "Kunstdelikte" und erdichteter Ersatzwirklichkeiten. 14 Es konnte bislang noch nicht hinreichend geklärt werden, aufgrund welcher Kriterien das Oberste Gericht, z.T. unter Verletzung geltender DDR-Gesetze, politisch bedeutsame Verfahren an sich zog, um die Beschuldigten in inszenierten Schau- und Geheimprozessen abzuurteilen.15 Diese sog. OG-Musterprozesse bildeten in der Regel den Auftakt zu einer Verfahrenswelle vor den Bezirks- und Kreisgerichten. Schließlich sei noch erwähnt, daß für diese, als besonders bedeutsam erachteten Verfahren oftmals von der Partei ein umfassendes Regiebuch - d.h. ein Prozeßplan - entworfen wurde, in dem von der propagandistischen Vor- und Nachbereitung des Verfahrens, der Begutachtung der n Ebd., S.47ff; vgl. dazu auch Monika Kaiser, 1972 - Knockout für den Mittelstand, zum Wirken von SED, CDU, LDPD und NDPD für die Verstaatlichung der Klein- und Mittelbetriebe, Berlin 1991. 13 Das erste Verfahren dieser Art war der am 29.4.1950 durchgefühlte Wirtschaftstrafprozeß gegen W i l l i Brundert und Leo Herwegen vor dem Obersten Gericht der DDR, der sog. DCGG-Prozeß in Dessau. Der Historiker Michael Richter, der die Verfolgungswelle gegenüber CDU-Politikern seit 1948 näher untersucht hat, weist auf die besondere Bedeutung dieses Prozesses für die Geschichte von Repression und Opposition in der DDR hin: Mit dem Schauprozeß von Dessau, bei dem die Sowjets erstmals der SED die Liquidierung ihrer politischen Gegner selbst überließen, habe die Partei auch zum ersten Mal die neu aufgebauten DDR-Justizbehörden im Kampf gegen oppositionelle Kräfte eingesetzt (,Michael Richter, Vom Widerstand der christlichen Demokraten in der DDR, in: Günther Scholz [Hrsg.], Verfolgt - verhaftet - verurteilt. Demokraten im Widerstand gegen die rote Diktatur. Fakten und Beispiele, Bonn/Berlin 1990, S.35ff,S.42). 14
Diese ebenfalls von Kirchheimer entwickelten Begriffe bezeichnen zum einen die Stilisierung einfacher Unmutsäußerungen und anderer, staatlicherseits mißbilligter, aber harmloser Handlungen zu staatsgefährdenden Delikten, und zum anderen die gerichtliche Umdeutung des tatsächlichen Geschehens zum Zwecke der Schwarz-Weiß-Malerei. 15 Zur politischen Rechtsprechung des Obersten Gerichts vgl. seit neuestem Rudi Beckert, Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR, Berlin 1995. Wenig bekannt ist bilsang, daß einzelne systemspezifische Einrichtunges des DDR-Justizsystems erstmals im Rahmen der Großen OG-Schauprozesse eingeführt wurden. So wurde beispielsweise die Institution des "Gesellschaftlichen Anklägers" eingens für den im Juli 1963 abgehaltenen Propagandaprozeß gegen Hans Maria Globke geschaffen (BArch, P3,33).
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schauspielerischen Leistung der beteiligten Justizfunktionäre, den parteilichen Festlegungen zum Strafmaß bis zur Form der Strafvollstreckung alles berücksichtigt war. Aber auch andere justitielle Verfolgungskampagnen sind inzwischen in das Blickfeld der Forschung gerückt: Ein für Historiker besonders interessantes Thema ist beispielsweise das Feld der 1948 einsetzenden Parteisäuberungen, die sich zunächst auf die SED und die westdeutsche Bruderpartei erstreckten und bald darauf auch die bürgerlichen Blockparteien ergriffen. Die justitiellen Aspekte der Säuberungsaktionen innerhalb der kommunistischen Parteien wurden teilweise in den bisher entstandenen Einzelfalluntersuchungen - wie die zum Fall Paul Merker, zu Paul Baender oder zu Fritz Sperling 16 - oder in übergreifenden Darstellungen 17 am Rande mitbehandelt. Zu den entsprechenden Vorgängen innerhalb der CDU liegen ebenfalls vereinzelte Untersuchungen vor. 18 Zum Umgang mit den LDPD-Funktionären erarbeitete die Forschungsabteilung des Bundesbeauftragten eine entsprechende Expertise für die Enquete-Kommission, die sich u.a. mit dem Fall des vom MfS verhafteten LDPD-Ministers Karl Hamann befaßte. 19 Eine systematische Erforschung dieses spannenden Teilbereichs der DDR-Justizgeschichte, die insbesondere Aufschlüsse zu dem Zusammenspiel zwischen den einzelnen Parteigremien (Politbüro bzw. ZK-Sekretariat, Justizkommission, Zentrale Parteikontrollkommission, ZK-Abteilungen "Staatliche Verwaltung" und "Sicherheitsfragen"), zum Verhältnis zwischen SED und MfS bzw. deutschen und sowjetischen Organen sowie zur Frage nach den Täter-Opfer-Verstrickungen geben könnte, zeichnet sich zur Zeit allerdings noch nicht ab. Eine derartige Aufgabe kann meines Erachtens aufgrund der archivischen Bestimmungen des StVG auch nur von den BStU-Mitarbeitern selbst bewältigt werden, da es für die Klärung der hier genannten Fragestellungen erforderlich ist, die komplette, d.h. nicht anonymisisierte Überlieferung der Akten des 16 Wolfgang Kießling, Partner im "Narrenparadies". Der Freundeskreis von Noel Field und Paul Merker, Berlin 1994; ders., Der Fall Baender, Berlin 1992; Elke Scherstnajoi, Paul Baender und die "zuständigen" Offiziere der sowjetischen Kontrollkommission, in: BzG (1993), S.80ff.; Karl Heinz Jahnke, "... ich bin nie ein Parteifeind gewesen". Der tragische Weg der Kommunisten Fritz und Lydia Sperling, Bonn 1993. 17 Hermann Weber/Dietrich Staritz (Hrsg.), Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und Säuberungen seit den dreißiger Jahren, Berlin 1993; Wolf gang Maderthaner/Hans Schafranek (Hrsg), "Ich habe den Tod verdient". Schauprozesse und politische Verfolgung in Mittel- und Osteuropa 1945-1956, Wien 1991 sowie Georg Hermann Hodos, Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-1954, Frankfurt/M. 1988. 18 Michael Richter, Die Ost-CDU 1948-1952, Düsseldorf 1990; Jochen Franke, Der Fall Dertinger und seine parteiinternen Auswirkungen. Eine Dokumentation, in: DA (1992), S.286ff. 19 Siegfried Suckut, Widerspruch und abweichendes Verhalten in der LDPD (Bericht der EnqueteKommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Drucksache 12/7820 des Deutschen Bundestages, S.189ff.). Darüber hinaus legte die Friedrich-Naumann-Stiftung im Jahr 1994 den Abschlußbericht zu dem Forschungsprojekt "Liberale unter kommunistischer Herrschaft Zur Geschichte der LDP 1945-1952" vor, das von Gerhard Papke bearbeitet wurde.
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MfS-Untersuchungsorgans auszuwerten.20 Eine einzelfallübergreifende Untersuchung dieses Teilbereich der DDR-Justizgeschichte hätte beispielsweise dem Phänomen nachzugehen, warum gegen eine Reihe ausgewählter, hochrangiger Parteifunktionäre justizförmige Verfahren durchgeführt wurden, die oftmals erst Jahre nach der Verhaftung stattfanden und trotz aufwendiger Vorbereitung durch Zentrale Parteikontrollkommission und Staatssicherheit manches Mal - wie im Fall Hamann/Baender21- von für Partei und Justiz peinlichen Pannen begleitet wurden. Weitere Einsatzgebiete der Strafjustiz bildeten in den folgenden Jahren u.a. die Abrechnung der SED mit den Aufständischen des 17. Juni 1953, der sog. "Kirchenkampfdie Niederschlagung innenpolitischer Reformansätze in Zusammenhang mit dem XX. KPdSU-Parteitag von 1956, die Verfolgungswelle gegen Spione und Agenten während der fünfziger und sechziger Jahre, die Installierung des Grenzregimes nach dem 13. August 1961, die Bewältigung der NS-Vergangenheit bzw. neonazistischer Tendenzen durch die Justiz, die Rechtsprechung gegen Vertreter der Friedens- und Umweltbewegung sowie die auf Weisung der Parteiführung durchgesetzte juristische Lösung des sog. "Antragstellerproblems". Die Rolle der Justiz- und Sicherheitsorgane bei diesen historischen Ereignissen wurde teilweise in den Untersuchungen, die sich mit Opposition und Widerstand in der DDR befassen, am Rande mitberücksichtigt. 22 Diese Veröffentlichungen können hier nicht im einzelnen genannt werden. Stellvertretend soll an dieser Stelle lediglich das vom Bundesjustizministerium geförderte Austellungsprojekt zur DDR-Justiz erwähnt werden: In dem zu der BMJ-Wanderausstellung erschienenen Katalog werden die wesentlichen Stationen der politischen Justizgeschichte nachgezeichnet, in dem dazu entstandenen Wissenschaftlichen Begleitband verschiedene, bereits erforschte Aspekte des Themas ausgebreitet und neue Forschungsfelder angeschnitten.23 Am Rande sei noch erwähnt, daß inzwischen auch einzelne zeithistorische Forschungsarbeiten vorgelegt wurden, die anhand der BStU-Unterlagen und der überlieferten Akten des "Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen" der interessanten Frage nachgehen, wie die Reaktionen des politischen Gegners im Westen auf die 20 So zeichnen sich speziell die MfS-Vernehmungsprotokolle dadurch aus, daß sie eine erhebliche Anzahl von Narnensangaben und privaten Daten verschiedener Parteifunktionären enthalten, die von den Beschuldigten unter Druck preisgegeben wurden. Diese Angaben sind in der Regel vom MfS für die Konzeption weiterer politisch-operativer Maßnahmen ausgewertet worden, sie sind also unverzichtbare Informationen für die Analyse des Gesamtverlaufs der Parteisäubemngen auf höherer Ebene. 21 So geht aus der Vorlage, die die ZK-Abteilung Staatliche Verwaltung am 1.6.1954 für die folgende Politbüro-Sitzung ausarbeitete, hervor, daß das OG Hamann ohne vorherige Konsultierung der Parteiführung zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt hatte (SAPMO, Β Arch-ZPA J I V 2/2 A-345). 22
Vgl. beispielsweise Waldemar Kröning/ Klaus-Dieter Müller, Anpassung - Widerstand - Verfolgung. Hochschule und Studenten in der SBZ und DDR 1945-1961, Köln 1994; Bernd Eisenfeld, Die Oppositionsbewegung der achtziger Jahre im Spiegel der MfS-Akten, Berlin 1995). 23 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED, Katalog, Dokumentenband, Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des BMJ, Leipzig 1994.
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politische Strafverfolgung in der "Zone" ausfielen, und wie die entsprechende Gegenreaktion der Staatssicherheit aussah.24 Neben den bisher genannten Publikationen, die im weitesten Sinne dem Bereich der Politikgeschichte zuzurechnen sind, entstanden darüber hinaus eine Reihe von Arbeiten aus dem Bereich Rechtsgeschichte und -Soziologie, die sich vor allem mit den strukturellen und personellen Grundlagen des Justiz- und Sicherheitsapparates in der DDR befaßt haben. Ich möchte hier vor allem das große, ebenfalls vom BMJ geförderte und von Hubert Rottleuthner geleitete Forschungsprojekt zur "Rechtstatsachenforschung", eine von Fricke vorgelegte Studie zur Tätigkeit des "Obersten Gerichts" sowie diverse Einzelgutachten zur Richterausbildung in der SBZ/DDR nennen, die von der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages in Auftrag gegeben wurden. 25 Schließlich sollte noch erwähnt werden, daß seit mehreren Jahren auch die DDRStrafrechtsgeschichte Gegenstand größerer Forschungsvorhaben ist. Der vor allem von seiten westdeutscher Strafrechts Wissenschaftler geäußerten Auffassung, daß die Erforschung der DDR-Rechtsgeschichte nach dem Untergang des Regimes und der damit verbundenen Abwicklung rechtswissenschaftlicher Institute nicht ohne Beteiligung ehemaliger DDR-Wissenschaftler von statten gehen solle, trug z.B. das renommierte Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht dadurch Rechnung, indem es den ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter des bis Januar 1990 amtierenden OG-Präsidenten Dr. Günter Sorge mit der Bearbeitung eines größeren Forschungsprojektes zur DDR-Strafrechtsgeschichte betraute. 26 Dieses ist nicht der geeignete Ort für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Thesen von Jörg Arnold 27 und Volkmar Schönebur^8 oder anderer, weniger lernfähiger ehemaliger DDR-Rechtswissenschaftler wie Detlef 24 Siegfried Mampel, Organisierte Kriminalität der Stasi in Berlin (West). Die Machenschaften des Ministeriums für Staatsicherheit gegen den Untersuchungsauschuß Freiheitlicher Juristen, in: DA 9 (1994), S.907ff:, Frank Hagemann, Der Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen. 1949-1969, Frankfurt/M. 1994 sowie ders., Juristen im Kalten Krieg. Die Geschichte des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen, in: Recht und Politik 2 (1995), S.88ff. 25 Rottleuthner u.a., Steuerung der Justiz (wie Anm.4); Fricke, Zur politischen Rechtsprechung des Obersten Gerichts der DDR, Heidelberg 1994; Dieter Gräf Rekrutierung und Ausbildung der Juristen in der SBZ/DDR (Bericht der Enquete-Kommission [wie Anm.18]); Henning Frank, Die Juristenausbildung nach 1945 in der SBZ/DDR, in: Neue Justiz 8 (1995); S.403ff. 26 Vgl. Albin Eser/Jörg Arnold, Strafrechtsprobleme im geeinten Deutschland: Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor neueren Hrausforderungen, in: Neue Justiz 6 (1993), S.245ff, Anm.10 (Teil 1) sowie NJ 7 (1993), S.289ff. 27 Jörg Arnold, "Normales" Strafrecht in der DDR?, in: Kritische Vierteljahresschrift 2 (1994); S.187ff; ders., "Normalität" des Strafrichters in der DDR, in: Loccumer Protokolle 1994 (Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum vom 6. bis 8. Mai 1994), S. 18Iff. 28 Volkmar Schöneburg, Recht im nazifaschistischen und im realsozialistischen deutschen Staat Diskontinuitäten und Kontinuitäten, in: Neue Justiz 2 (1992), S.49ff.
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Joseph29 oder Erich Buchholz.30 Letzterer publiziert zur Zeit neben seiner Tätigkeit als Verteidiger in den Rechtsbeugungsverfahren gegen DDR-Justizfunktionäre recht regelmäßig Beiträge zur DDR-Strafrechtsgeschichte. 31 Ohne das wissenschaftliche Oevre der hier genannten Personen insgesamt als Apologie abtun zu wollen, läßt sich doch eine Gemeinsamkeit ihrer Veröffentlichungen unschwer übersehen: Gemeint ist die fehlende Beschäftigung mit den historischen Fakten bzw. mit dem relevanten Quellenmaterial. Wie auch Werkentin kürzlich in einer Buchkritik meinte, scheint unter ehemaligen DDR-Rechtswissenschaftlern eine unbewußte Abneigung verbreitet zu sein, die sie davon abhält, die justizrelevanten Aktenbestände in den seit 1990 geöffneten Archiven einzusehen und die entlarvenden Dokumente über die tatsächlichen Machtstrukturen in diesem Staat zur Kenntnis zu nehmen. Während eines Vortrags von Herrn Arnold erhielt ich unlängst eine beeindruckende Bestätigung dieser These: Darauf angesprochen, warum er im Laufe seiner fast einstündigen Ausführungen über "normales" und "politisches" Strafrecht in der DDR die geheimen Rechtsprechungsanleitungen des OG nicht erwähnt habe, gab Arnold zur Antwort, von der Existenz dieser Dokumente noch nie etwas gehört zu haben. In Anbetracht dieser Reaktion erübrigte es sich, den Referenten darauf hinzuweisen, daß das hier angesprochene sog. "Schubladenrecht" bereits im Jahr 1987 Gegenstand eines von Friedrich-Christian Schroeder und Dieter Gräf publizierten Fachaufsatzes war und daß zudem seit 1992 ein von Hans-Hermann Lochen und Christian Meyer-Seitz bearbeiteter Dokumentenband der "Geheimen Rechtsprechungsanweisungen" vorliegt. 32 Bevor ich auf bestehende Forschungsdesiderata zu sprechen komme, möchte ich die wesentlichen Erkenntnisse der letzten fünf Jahre kurz zusammenfassen: Durch die neueren Forschungen konnte im wesentlichen die bereits vor 1989 aufgestellte These bestätigt werden, daß es sich bei der DDR-Justiz insgesamt um ein von der SED eingerichtetes und auf die jeweiligen politischen Zwecke hin modifiziertes
29 Detlef Joseph, Parteilichkeit - Makel oder immanenter Bestandteil richterlicher Entscheidungstätigkeit, in: Loccumer Protokolle (wie Anm. 27), S.211. 30 Erich Buchholz, 7. Kapitel: Strafrecht, in: Uwe-Jens Heuer, Die Rechtsordnung der DDR. Anspruch und Wirklichkeit, Baden-Baden 1995, S.273ff. 31 Es wäre sicherlich interessant, der Frage nachzugehen, inwieweit die nach 1990 publizierten Forschungen zur DDR-Strafrechtsgeschichte die Rechtsprechung bundesdeutscher Gerichte in den Rechtsbeugungssachen gegen DDR-Justizfunktionäre und insbesondere die vom Bundesgerichtshof vertretene Auffassung über das DDR-Rechtswesen beeinflußt haben (vgl. BGH-Urteil vom 13.12.1993, auszugsweise abgedruckt in: Jürgen Weber/ Michael Piazolo [Hrsg], Eine Diktatur vor Gericht. Aufarbeitung von SED-Unrecht durch die Justiz, München 1995, S.229ff). 32 Friedrich-Christian Schroeder/Dieter Gräf, Geheime Rechtsprechungsanweisungen in der DDR, in: Recht in Ost und West (1987), S.291ff.; Hans-Hermann Lochen/Christian Meyer-Seitz, Die geheimen Anweisungen zur Diskrimininierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministerium des Innern, Bonn 1992.
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Instrument der Herrschaftsausübung handelte.33 Die Einbindung der Justizorgane in den Parteiapparat erfolgte zum einen vertikal - durch die Angliederung an die hierarchisch aufgebauten Parteigorgane innerhalb der Justiz -, zum anderen horizontal durch die Schaffung übergreifender zentraler Kontroll- und Anleitungsinstanzen, wie es beispielsweise die "Leiterberatungen" darstellten. 34 Abgesehen davon, daß das DDR-Recht aufgrund der fehlenden Machtbegrenzung des Staates grundsätzlich disponibel war, erstreckten sich die Eingriffe justizfremder Stellen auf jeden möglichen Einzelbereich wie Gesetzgebung, Anklagepolitik, Rechtsprechung und Urteilskorrektur sowie Strafvollstreckung. 35 Es hat sich gezeigt, daß als Kriterien für eine Periodisierung der DDR-Rechtsgeschichte die politischen Zäsuren den formalrechtlichen vorzuziehen sind. Hinsichtlich der periodischen Entwicklung ist festzuhalten, daß während der ersten Phase des Experimentierens Einmischungsversuche durch verschiedene justizfremde Stellen an der Tagesordnung waren. Die zweite, Anfang der sechziger Jahre einsetzende Phase war demgegenüber durch eine gewisse Kontinuität und Stabilität gekennzeicht. Die Ursachen für diese Veränderung waren hauptsächlich die auch justizpolitisch folgenreiche Abschottung durch den Mauerbau, die durch den Rechtspflegeerlaß von 1963 geschaffene Kompetenzverteilung sowie die Rekrutierung einer Kaste von politisch zuverlässigen Justizfunktionären. 36 Während der letzten beiden Jahrzehnte mußte die Parteiführung nur noch sporadisch in laufende Verfahren eingreifen: Der Fall des 1973 durchgeführten Schauprozesses gegen verschiedene Vertreter bundesdeutscher Fluchthelferorganisationen ("Menschenhändlerbanden)" ist bislang der letzte Fall, bei dem eine direkte Einmischung des Politbüros in ein laufendes Strafverfahren aktenkundig geworden ist. 37 Ebenfalls aus dem Jahre 1973 stammt ein von Honecker bestätigtes Todesurteil gegen einen mutmaßlichen NS- und Kriegsverbrecher. 38 In den siebziger und achtziger Jahren 33
Vgl. Schuller, Warum das DDR-"Recht" Unrecht war (wie Anm.7), S.43.
34
Vgl. Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz (wie Anm.4), S.28.
* Vgl. Werkentin, Strafjustiz im politischen System (wie Anm.10), S.132. sowie Meyer-Seitz, SEDEinfluß auf die Justiz in der Ära Honecker, in: DA 1 (1995), S.32ff. 36
Vgl. Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz (wie Anm.4), S.26.
37
Auf seiner Sitzung vom 23. Oktober 1973 bestätigte das Politbüro eine von Mielke (MfS) und Streit (GStA/DDR) gemeinsam ausgearbeitete Vorlage, datierend vom 12. Oktober, zur Durchführung eines Schauprozesses vor dem Ia-Strafsenat des Stadtgerichts von Groß-Berlin. Die in der Vorlage gewählte Diktion spiegelt die der Justiz zugewiesene Rolle eines Zeremonienmeisters unmißverständlich wider: In dem Prozeß - zu dem im übrigen auch Westjournalisten geladen wurden - solle bewiesen werden, daß die Verbrechen der Menschenhändlerbanden nicht nur eine fortgesetzte grobe Mißachtung der Grundprinzipien des Völkerrrechts darstellen, sondern daß diese bei ihren kriminellen Aktivitäten eng mit den imperialistischen Geheimdiensten, Bundesgrenzschutz und Zoll zusammenarbeiten würden (SAPMOBArch, ZPA-SED J I V 2/2A/1723). 31 In einer ZK-Hausmitteilung vom 12.1.1973, die der für Justiz- und Sicherheitsfragen zuständige ZK-Sekretär Friedrich Ebert dem Partei Vorsitzenden Honecker zukommen ließ, heißt es: "In der Anlage übersende ich eine Information der Abteilung Staats- und Rechtsfragen zu dem Strafverfahren gegen den
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läßt sich die Präjudizierung von Urteilen durch die Partei nachweisen durch vorab aufgesetzte Pressemeldungen über den erst später durchgeführten Prozeß, die dem SED-Generalsekretär von der ZK-Abteüung zur Bestätigung vorgelegt wurden. 39 Insoweit bestätigen die Akten die u.a. auch von Werkentin vertretene These, daß sich nach Ablauf der vergleichsweise gut erforschten Ulbricht-Ära die Formen und Methoden parteilicher Einflußnahme auf die Justiz zwar verfeinerten - wobei sich Fingierung und Kaschierung weiter ausbreiteten -, daß sich jedoch an den zugrunde liegenden Machtverhältnissen nichts änderte.40 Somit blieb die justitiell verbrämte Niederwerfung politischer Gegner und anderer unbequemer Personen eine typische Erscheinung dieses Systems. Mit diesen Beobachtungen ist unweigerlich die Frage verbunden, warum sich die DDR - mag sie nun eine weitere Variante totalitärer Regime oder eine "moderne Diktatur" gewesen sein - bis zum Schluß eine mit ungeheurem Verwaltungsaufwand verbundene rechtsstaatliche Fassade zu geben suchte.41 Ein Blick auf die noch Anfang der achtziger Jahre durchgeführten Geheimprozesse gegen abtrünnige MfS-Mitarbeiter zeigt, daß dabei gleichermaßen innenwie außenpolitische Intenüonen eine Rolle gespielt haben dürften. 42 Die Zusammenhänge zwischen wissenschaftlicher Erforschung der DDR-Justiz und dem aktuellen Versuch einer zweiten justitiellen Vergangenheitsbewältigung ist zweifelsohne ein reizvolles Thema, muß jedoch im Rahmen dieses Vortrags unberücksichtigt bleiben. Es erscheint mir trotzdem wichtig, in diesem Zusammenhang noch einmal einen ausgewiesenen Experten zu Wort kommen zu lassen. Ich zitiere Falco Werkentin: "So verfehlt es wäre, die Stellung der Justiz und der Bürger im politischen System der NS-Zeit oder dem der Bundesrepublik am Beispiel der prozessualen Formen und der Rechtsprechung in Verkehrsstrafsachen untersuchen Angestellten Sch. Ich bitte um Kenntnisnahme und Rückäußerung zu der Absicht, der Staatsanwaltschaft die Höchststrafe (Todesstrafe) in dem bevorstehenden Prozeß zu empfehlen." Die Vorlage wurde von Honecker noch am gleichen Tag bestätigt, jedoch änderte er das Wort "empfehlen" kurzerhand in "beantragen" um (SAPMO-BArch, ZPA-SEDIV 2/2031/12). 39 Eine solche vorbereitete Presseerklärung über die Verurteilung findet sich beispielsweise in den Unterlagen zum Fall Dr. Nitschke, den Hans Jürgen Grasemann dokumentiert hat. In dem Verfahren gegen Nitschke wurde der Prozeß nach Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens unversehens abgebrochen und nicht formell beendet. (Die politische Justiz in der Ära Honecker, in: BMJ (Hrsg.), Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED, Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des BMJ, Leipzig 1994, S. 179ff., hierS. 187.S. 197ff, hier: S. 199.). 40
Werkentin,
Politische Strafjustiz (wie Anm.8), S.395ff.
41 Ein Beispiel aus der Endphase stellt das am 14.12.1988 eingeführte Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen (GBl. 1 1988, S.327) dar, bei dem das MfS wiederum für die Einrichtung eines Schlupflochs gesorgt hatte (vgl. Lochen/MeyerSeitz, Die geheimen Anweisungen [wie Anm.31], S.223ff.). 42 Vgl. Fricke, "Jeden Verräter ereilt sein Schicksal". Die gnadenlose Verfolgung abtrünniger MfSMitarbeiter, in: DA 3 (1994), S.258ff. Die Frage nach den Formen und Methoden des Umgangs mit abtrünnig gewordenen, hohen Funktionsträgern eines totalitären Regimes dürfte künftig sicherlich noch ein ergiebiges Forschungsgebiet für den Diktaturenvergleich werden.
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zu wollen, so unsinnig wäre dies für die DDR. Der von Justizfunktionären der ehemaligen DDR erhobene Vorwurf, die Konzentration auf die politische Justiz zeichne ein falsches Bild und unterschlage, was es an Gutem und Aufbewahrenswertem gegeben habe, erinnert an vertraute Argumente der Apologeten eines anderen politischen Regimes. (...) die Apologeten dieser Justiz erklären, Staatsanwälte und Richter würden heute strafrechtlich verfolgt, obwohl sie nur das für sie verbindliche Recht angewendet hätten. Im internen Schriftgut der DDR-Justiz und der sie anleitenden Partei ist von anderem die Rede (...). Die Partei- und Justizfunktionäre wußten, daß sie ständig gegen geltendes Recht verstießen."43
C. Künftige Forschungsfelder und offene Fragen Auch gut fünf Jahre nach Öffnung der Archive bestehen auf dem Gebiet der politischen Justiz in der DDR viele noch zu bearbeitende Forschungsfelder und offene Fragen. Insbesondere auf den vergangenen Sitzungen der ersten EnqueteKommission wurde eine Reihe von Forschungsdesiderata formuliert, die aufzugreifen wären: Dazu zählen u.a. die Ermittlungs- und Spruchpraxis der Militärjustizorgane. Des weiteren fehlt es an empirischen Grundlagen, beispielsweise an einer übergreifenden Analyse zur quantitativen Bilanz der Rechtsprechung in politischen Strafsachen, die Strafzumessungsgrundlagen, Strafmaß und die Praxis bei den Amnestie- und Gnadenverfahren gleichermaßen berücksichtigen sollte. Ein bislang eher vernachlässigtes Thema ist auch der gesamte Bereicht der Rechtspropaganda, zu dem ich neben der juristischen Fachpresse die mediale Berichterstattung über einzelne Prozesse, die z.B. in "Justizaussprache" durchgeführte politische Massenarbeit auch die Einrichtung der "Gesellschaftlichen Gerichte" zählen würde. Auch die Zusammenarbeit zwischen MfS und Justiz wurde bislang nur in Ansätzen und ohne ausreichende quellenmäßige Fundierung erforscht. 44 Trotz der hier aufgezeigten, mehrheitlich positiven Forschungsleistungen läßt sich jedoch gleichfalls für die historische Aufarbeitung des DDR-Justizunrechts eine Tendenz feststellen, die bis vor einigen Jahrzehnten für den wissenschaftlichen Umgang mit der Verbrechensbilanz nationalsozialistischer Juristen zutraf: Ein vergleichender Überblick über die vorgelegten geschichtswissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahre zeigt, daß sich diese vorwiegend mit den Betroffenen staatlicher Repression befassen und die Ebene personeller Verantwortlichkeiten und Befehls43
Werkentin,
Politische Justiz (wie Anm.8), S. 11 und 14.
44 Dieser Zustand könnte sich schon bald ändern, denn wie aus dem neuestem Jahresbericht des BStU hervorgeht, sollen inzwischen 1.163 von 1.503 lfm der archivalischen Hinterlassenschaft der HA I X beim MfS erschlossen worden sein (Zweiter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik - 1995, Anlage 3, S.114); vgl. Fricke, Der Einfluß der Staatssicherheit auf die politische Straf justiz der DDR als Beispiel totalitärer Herrschaftspraxis, in: Karl Low (Hrsg.), Totalitarismus, Berlin 1988, S.91-107.
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strukturen zumeist ausblenden. Dieser Eindruck läßt mich die Vermutung äußern, daß die Beschäftigung mit den Tätern entweder abermals eine mehr oder weniger exklusive Aufgabe der Straf justiz bleiben dürfte oder aber weiterhin von den Medien okkupiert wird. 45 Die Erfahrung mit der Aufarbeitung der Geschichte nationalsozialistischer Verbrechen hat gezeigt, daß Strafprozesse gegen einzelne Funktionsträger des Regimes als Initialzündung für die Zeithistorie wirken können, sich der Erforschung des Täterkomplexes von wissenschaftlicher Seite her zu nähern. Es ist zu hoffen, daß die laufenden Verfahren gegen DDR-Richter- und Staatsanwälte und die hoffentlich noch stattfmdenen Nachfolgeverfahren gegen Parteifunktionäre bzw. Mitarbeiter des MfS-Untersuchungsorgans eben diesen Effekt haben werden.
45 Als ein besonders prägnantes Beispiel für die überwiegend unterschwellig verbreitete Tendenz, die Tätigkeit von Zeithistorikern und Strafverfolgern auf dem Gebiet der Aufarbeitung von SED-Unrecht gegeneinander auszuspielen, seien hier die Äußerungen des Rechtswissenschaftlers Hubert Rottleuthner angeführt, der von einem Konkurrenzverhältnis zwischen beiden Parteien ausgeht und zudem meint, daß diejenigen unter den Historikern, der sich mit personellen Verantwortlichkeiten und Befehlstrukturen im Bereich staatlich organisierter Kriminalität befaßten, unweigerlich das Geschäft der Staatsanwaltschaft besorgen würden (Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz [wie Anm.4], S.14f. und A n m . l l ; vgl. dazu auch die Kritik der Verfasserin an dem Forschungsprojekt zur "Rechtstatsachenforschung": Annette Weinke, Neue Literatur zum Justizsystem in der SBZ/DDR, in: D A 2 [1995], S.202ff.).
Volksrichter in der SBZ/DDR (1945-1952) Ausbildung, Weiterbildung und Einsatz einer neuen Juristenelite
Von Hermann Wentker
A. Einleitung Jedes politische System benötigt zu seiner Erhaltung Funktionseliten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Dies gilt für Demokratien und Diktaturen gleichermaßen. Demokratische Strukturen verhindern indes, daß Herrschaft gegen den Willen der Mehrheit ausgeübt werden kann und tragen somit wesentlich zur Stabilität des politischen Systems bei. Diktaturen, die zwar auch nicht ganz ohne die Zustimmung der beherrschten Gesellschaft auskommen, fehlt dieser Stabilitätsanker, da sie durch die Einführung demokratischer Mechanismen in ihrer Existenz bedroht wären. Während Demokratien - vereinfacht gesprochen - auf den Säulen "demokratische Legitimation" und "Funktionseliten" ruhen, sind Diktaturen fast ausschließlich auf letztere angewiesen. Von den Mitgliedern der Funktionseliten wird daher in Diktaturen ein sehr hohes Maß an Loyalität und Systemkonformität gefordert. Dies gilt in besonderer Weise für das Justizpersonal: Denn nach Beseitigung der Autonomie der Justiz ist diese eines der wichtigsten staatlichen Instrumente, um Herrschaft nicht nur auszuüben, sondern ihr auch - in den Worten von Ernst-Wolfgang Böckenförde "einen ideell-normativen Ausdruck" 1 zu verleihen. Die überwiegende Mehrheit der Richter und Staatsanwälte hatte sich der ersten deutschen Diktatur zur Verfugung gestellt und - von wenigen Ausnahmen abgesehen - den an sie gestellten Anforderungen entsprochen. Die Juristen zählten mehrheitlich zu jener konservativen Elite, die im Kaiserreich sozialisiert worden war, die Weimarer Republik bekämpft und sich mit den Nationalsozialisten verbündet hatte. Im Dritten Reich wurde das ihnen auf der Universität vermittelte rechtsstaatliche Denken weitgehend verschüttet, so daß sie in der Regel die Gesetze des Regimes anwandten und in seinem Namen Recht sprachen.2 1 Emst-Wolfgang S.21.
Böckenförde,
Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, München 1967,
2 Zur Motivation der Richterschaft, sich in den Dienst des Dritten Reiches zu stellen vgl. vor allem Ralph Angermund, Deutsche Richterschaft 1919-1945. Krisenerfahrung, Illusion, politische Rechtsprechung, Frankfurt/M. 1990.
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Nach 1945 wurden in den Westzonen wie in der SBZ Richter und Staatsanwälte im Zuge der Entnazifizierung des öffentlichen Lebens von ihren Ämtern suspendiert. Während im Westen die meisten von ihnen bereits nach kurzer Zeit in den Justizdienst zurückkehrten, war die sowjetische Besatzungsmacht darauf bedacht, "die Machtbasis der vorher regierenden Gruppen aufzubrechen" 3 und verwehrte daher ehemaligen Nationalsozialisten die Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit in Gerichten und Staatsanwaltschaften. Eine neue Funktionselite sollte an die Stelle der alten, diskreditierten Juristenschicht treten: die in mehrmonatigen Lehrgängen ausgebildeten sogenannten Volksrichter. Im folgenden werden Ausbildung, Weiterbildung und Einsatz der Volksrichter von 1945 bis 1952 unter drei Aspekten behandelt: - Gefragt wird einmal nach Rolle und Gewicht der einzelnen Akteure, die die Ausbildung und den Einsatz der Volksrichter planten und zu beeinflussen suchten. Hier stehen die Rechtsabteilung der Sowjetischen Militäradministration, die von der Militärverwaltung eingesetzte Deutsche Zentralverwaltung für Justiz (DJV), die Landesverwaltungen bzw. Landesregierungen sowie die KPD/SED-Führung im Mittelpunkt des Interesses. - Des weiteren geht es um eine Bestimmung der jeweils verfolgten Ziele und damit um das Verhältnis von fachlicher Qualifikation auf der einen und politischer Schulung auf der anderen Seite. - Schließlich ist nach der Realisierung dieser Zielvorstellungen zu fragen: Welche Mittel wurden eingesetzt, welche Probleme traten auf, wie wurden diese bewältigt? Da diese Fragen in den verschiedenen Entwicklungsphasen jeweils unterschiedlich zu beantworten sind, wird die Volksrichterausbildung in drei Phasen eingeteilt: die Anfänge in den Jahren 1945/46, die ersten Jahre der Volksrichterausbildung bis 1948 und die "Sozialisierung" der Ausbildung in den Jahren 1948 bis 1952. Die Behandlung von Weiterbildung und Einsatz der Volksrichter erfolgt daran anschließend in jeweils separaten Abschnitten.
B. Die Anfänge der Volksrichterausbildung (1945/46) Als am 17. Dezember 1945 die Rechtsabteilung der SMAD dem Präsidenten der DJV, Eugen Schiffer, eine Anordnung Marschall Schukow übermittelte, "beständige juristische Kurse" zur Schulung von "aktiven Antifaschisten" einzurichten, hatten in der Zentralverwaltung bereits Diskussionen zu diesem Thema stattgefunden 4. Dabei 3
Leonhard Krieger, Das Interregnum in Deutschland, März 1945-August 1945, in: Wolf-Dieter Narr, Dietrich Thränhardt (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung, Entwicklung, Struktur, Königstein 1979, S.42. 4 Siehe dazu die Ausarbeitung von Paul Bertz, Die Entwicklung der Frage des Volksrichters in der Deutschen Zentralen Justizverwaltung, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen im
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muß deutlich unterschieden werden zwischen dem Amtsleiter Schiffer, dem Leiter der Abteilung Ausbildung Erich Wende und einigen anderen auf der einen und Hilde Benjamin, Ernst Melsheimer und Paul Bertz - die der KPD angehörten - auf der anderen Seite. Um das Problem des Richtermangels zu lösen - darüber waren sich beide Seiten klar -, mußte zu unkonventionellen Methoden gegriffen werden. Schiffer hatte als Justizminister in der Weimarer Republik eine Reform der deutschen Justiz angestrebt, um die "Entfremdung zwischen Recht und Volk" zu überwinden 5, und sah nun seine Chance gekommen. Dazu strebte er unter anderem den Ausbau des Laienelements in der Justiz an, hielt aber angesichts der spezialisierten und technisierten Gesetzgebung eine völlige Verdrängung der Volljuristen für unmöglich. Schiffer und die ihm nahestehenden Abteilungsleiter waren daher durchaus reformfreudig. Sie setzten auf die Heranziehung und Ausbildung von Nicht-Akademikern, "um den Kreis der Richter volkstümlicher zu gestalten, ohne zugleich die Qualität des Richterstandes zu senken"6. Sie wollten dabei vornehmlich auf bereits juristisch geschultes Personal wie Steuerberater, Rechtspfleger sowie Gewerkschaftssekretäre und nur in Ausnahmefällen auf erfahrene, ältere Arbeiter zurückgreifen. Ganz anders Hilde Benjamin und die Kommunisten in der DJV. Benjamin begriff den Richtermangel als Chance, um mit Hilfe rasch ausgebildeter Laien auf die Dauer einen Elitenaustausch vornehmen zu können. Die Ausbildung sollte daher nicht nur juristische Kenntnisse vermitteln, sondern auch eine "rechtspolitische Schulung" enthalten, die die Lehrgangsteilnehmer "die gegenwärtige Form des Rechts erkennen läßt als Ausdruck der gegebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse"7. Schiffer scheiterte mit dem Versuch, sein Konzept gegenüber der SMAD-Rechtsabteilung durchzusetzen. Deren Leiter Karassjow wies Schiffer am 14. November 1945 scharf zurecht: Die DJV solle "schnellstens einen Entwurf für die Schaffung juristischer Schulen ausarbeiten", die innerhalb von sechs Monaten überprüften Antifaschisten "eine elementare Ausbildung vermitteln sollten". Der von Schiffer übersandte Entwurf enstpreche diesen Anforderungen "in keiner Weise"8. Mit dieser Arbeit beauftragte Schiffer den Leiter der Abteilung Ausbildung, Erich Wende. Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv (künftig: SAPMO, ZPA), NL 182/1118, Bl. 140-144 sowie die beigefügten Anlagen Nr.1-7, Bl.145-165. Dazu sehr knapp Julia Pfannkuch, Volksrichterausbildung in Sachsen 1945-1950, Frankfurt/M. u. ö. 1993, S.14-18. 5
Vgl. Eugen Schiffer,
Die deutsche Justiz. Grundzüge einer durchgreifenden Reform, Berlin 1928.
6
Sod»Leiter der Abteilung III, Fritz Corsing, am 24.9.1945, Anlage 1 zur Ausarbeitung von Bertz, SAPMO, ZPA NL 182/1118, Bl. 145. 7
Anlage 4 zur Ausarbeitung von Bertz, ebenda, B1.157.
1
Chef der SMAD-Rechtsabteilung an den Chef der DJV, 14.11.1945, geheim!, Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (künftig: BAP), DPI VA Nr.2, B1.103; das Schreiben ist teilweise zit. in Pfannkuch, Volksrichterausbildung, S.16. 7 Timmermann
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Dabei griff dieser zwar zum Teil auf Benjamins Vorstellungen zurück; seine Festlegungen, den Lehrgang ab dem dritten Ausbildungsmonat in einen Zweig für angehende Zivilrechtler und einen für Strafrechtler zu teilen, Lehrgangsteilnehmer wegen mangelnder Eignung auszuschließen und strikte Bestimmungen über die Abschlußprüfungen lassen jedoch den Versuch erkennen, trotz einer nicht-akademischen, stark verkürzten Ausbildung einen möglichst hohen Standard zu wahren 9. Die eingangs erwähnte Anordnung Schukows vom 17. Dezember 1945 wurde nötig, um das Vorgehen in der Volksrichterfrage zu vereinheitlichen. Denn auf Anordnung der Sowjetischen Militärverwaltung in Sachsen hatte die Abteilung Justiz der Landesverwaltung in Dresden bereits im November mit der Planung juristischer Kurse begonnen10. Die Anordnung Schukows legte daher fest, in allen Ländern Kurse mit 30 bis 40 Teilnehmern für "aktive Antifaschisten" einzurichten, die mindestens Volksschulbildung hatten und nicht jünger als 25 Jahre waren. Die Länder wurden für die Auswahl der Teilnehmer, die Finanzierung der Lehrgänge und die Ernennung der Lehrgangsleiter verantwortlich gemacht, während der DJV "die methodische Leitung dieser Kurse sowie die Aufstellung der Programme und Lehrpläne übertragen" wurde 11. Bei der Umsetzung dieser Anweisung für die Landesverwaltungen griff Schiffer auf den Entwurf Wendes zurück, der einschließlich des Lehrplans auch von der SMAD genehmigt wurde. Daß die SMAD-Rechtsabteilung offensichtlich noch nicht über ein geschlossenes Konzept in der Volksrichterfrage verfügte, geht daraus hervor, daß sie sich noch nicht darüber im klaren war, welche Bedeutung dieser Art der Ausbildung für die Heranziehung des juristischen Nachwuchses insgesamt zukommen sollte. Denn im Januar und Juli 1946 gaben Offiziere aus der Rechtsabteilung gegenüber Mitarbeitern der DJV zu erkennen, daß sie die Volksrichterlehrgänge nur als "temporäre zeitbedingte Maßnahme zur Deckung des augenblicklichen Bedarfs an Richtern" 12 verstanden und daß auf die Dauer "der Richterstand sich weiter aus akademisch gebildeten Richtern ergänzen"13 müsse. Aufgrund ihrer Unsicherheit beschränkte sich die SMAD im Zusammenhang mit der Volksrichterausbildung auf die Vorgabe 9
Ordnung betreffend die Einrichtung von juristischen Fachschulen, Β AP, DPI SE Nr.3561.
10 Mitarbeiter der DJV hatten von diesem Schritt aus der Presse erfahren und fragten daher bei der sächsischen Landesverwaltung nach; diese informierte den Chef der DJV mit Schreiben vom 24.11.1945 über die Initiative der SMAS und die Maßnahmen der Abteilung Justiz der sächsischen Landesverwaltung, BAP, DPI SE Nr.3478. 11 Chef der SMAD-Rechtsabteilung an den Chef der DJV, 17.12.1945, BAP, DPI SE Nr.3478; Teilabdruck (nach der Rundverfiigung der DJV vom 28.12.1945) in: Pfannkuch, Volksrichterausbildung, S.147. 12 Vermerk über eine Besprechung von Nikolajew mit Kleikamp am 12.1.1946, BAP, DPI SE Nr.3561. 13
Vermerk Wendes über eine Unterredung mit Lyssiak am 4.7.1946, ebenda.
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von Rahmenbedingungen und überließ die Details der DJV, deren Präsident Schiffer diesen Handlungsspielraum nutzte und einen Entwurf umsetzen konnte, der trotz Rückgriffe auf Ausarbeitungen Hilde Benjamins im wesentlichen die Handschrift des nicht-kommunistischen Abteilungsleiters Wende trug.
C. Die ersten Jahre der Volksrichterausbildung (1946-1948) Die Volksrichterausbildung bis 1948 stand nicht unter dem Primat der kommunistischen Ideologie; es ging vielmehr darum, das Problem des Richtermangels möglichst effektiv und in möglichst kurzer Zeit zu beheben. Die auffälligsten Änderungen bestanden in einer zweimaligen Verlängerung der Lehrgänge auf zunächst acht Monate (ab dem 2. Lehrgang) und, mit SMAD-Befehl Nr. 193 vom 6. August 194714, auf ein Jahr. Dies zog eine schrittweise Änderung der Lehrpläne nach sich. Bereits im Mai 1946 hob die SMAD-Rechtsabteilung nach Einsprüchen der Provinzialverwaltung in Potsdam die Zweiteilung der Lehrgänge in einen zivilrechtlichen und einen strafrechtlichen Zweig auf, so daß die Absolventen nicht länger nur auf ein Rechtsgebiet festgelegt waren15. Die Verlängerung der Lehrgänge auf ein Jahr wurde vorwiegend zur Vertiefung der Themen genutzt, die den Schülern schwer fielen, vor allem im Bereich des Straf- und Zivilrechts. Daneben erweiterte die DJV mit Büligung der SMAD-Rechtsabteilung den Lehrplan um Rechtsgeschichte und um aktuelle Rechtsgebiete wie Gesetzgebung der Besatzungsmächte, Wirtschaftsstrafrecht und Bodenreform. Für die seit Anfang der Kurse bestehende Veranstaltung "Rechtssoziologie" wurden hingegen nach wie vor nur 24 Stunden angesetzt16. Die DJV bemühte sich vor allem, die Ausbildung zu optimieren. Durch Berichte der Landesverwaltungen oder durch Besuche eigener Mitarbeiter informiert, war man in Berlin über die Volksrichterausbildung mit ihren Problemen gut unterrichtet. Die Weisungen der DJV an die Landesverwaltungen enthielten eine Fülle methodisch-didaktischer Hinweise: Vorlesungen sollten mit Übungen am selben Tag verbunden werden, um eine bessere Aufnahme des Stoffes zu erreichen; die Gründung von Arbeitsgemeinschaften unter der Leitung eines Referendars wurde für die Nachbereitung des Stoffes empfohlen; der Unterricht sollte vor allem praxisorientiert sein. Schonfrühzeitig fiel den Verantwortlichen in Berlin auf, daß der Lehrgang - wie im sächsischen Bad Schandau - am sinnvollsten in Form einer Internatsschule organisiert wurde 17. Trotz wiederholter Aufforderungen an die Landesjustizministe14
Gedruckt in: Zentral Verordnungsblatt, Berlin 1947, S.165f.
15 Das Protestschreiben des Präsidenten der brandenburgischen Provinzialverwaltung an die DJV, 26.3.1946, BAP, DPI SE Nr.3478; Rechtsabteilung der SMAD an Chef der DJV, 13.5.1946, ebenda.
7*
16
Siehe Otto Hartwig, Die Ausbildung der Volksrichter, in: Neue Justiz 1 (1947), S.158.
17
Siehe u.a. das Rundschreiben der DJV an die Provinzial- und Landesverwaltungen/Abt. Justiz,
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rien konnten bis 1948 lediglich in Mecklenburg und Thüringen zwei weitere Internate eingerichtet werden 18. Das größte Problem bildete freilich die Auswahl der Hörer und Dozenten. Bei den Lehrkräften mußte man im wesentlichen auf die wenigen Volljuristen zurückgreifen, die die Entnazifizierung überstanden hatten und in den Landesverwaltungen, an den Gerichten und als Anwälte tätig waren. Der Kreis der potentiellen Hörer wurde dadurch stark eingeengt, daß sie sowohl den formellen Anforderungen - aktive Antifaschisten, Mindestalter 25 Jahre - als auch den intellektuellen Anforderungen der Lehrgänge entsprechen mußten. Ein sehr hoher Prozentsatz der Schüler erwies sich als ungeeignet: Bei den ersten beiden Lehrgängen konnten von den ursprünglich 172 bzw. 223 Teilnehmern nur 56,4 bzw. 57,3 % den Kurs erfolgreich abschließen19. Die Ursachen für die hohen Ausfälle werden deutlich bei einem Blick auf die Rekrutierungspraxis. Das Vorschlagsrecht hatten die zugelassenen Parteien und Massenorganisationen, während die endgültige Auswahl von den Landesjustizverwaltungen getroffen wurde. Diese Regelung nutzten vor allem die KPD bzw., ab Frühjahr 1946, die SED, um die Dominanz der eigenen Parteimitglieder in den Lehrgängen zu sichern. Dies gelang von Anfang an, da zum einen die SED-Landesleitungen sehr viel mehr Kandidaten vorschlugen, als Plätze vorhanden waren, und da die bürgerlichen Parteien sich desinteressiert zeigten20. Mit der Qualifikation dieser Genossen stand es indes oft nicht zum besten. Mängel in intellektueller Hinsicht, in schriftlicher wie mündlicher Ausdrucksfähigkeit und in Orthographie wurden wiederholt von Seiten der DJV und der SED kritisiert. Dies lag zum einen daran, daß die SED in den Jahren bis 1948 geeignete 'Kader' vor allem für andere Bereiche, nicht zuletzt für die eigene Parteiarbeit, zurückhielt, und zum anderen war angesichts der geringen Bezahlung der Richter und Staatsanwälte diese Laufbahn für viele nicht attraktiv genug. Schließlich zeigte die Erfahrung, daß oftmals gerade die politisch engagierten Kandidaten sich nicht mit Paragraphen herumplagen wollten. Hinzu kam, daß die SED sich ihre 'Kaderarbeit' durch ideologische Vorgaben erheblich erschwerte: Denn sie wollte Arbeiter und überzeugte Marxisten mobilisieren, um die Justiz personell in den Griff zu bekommen. Beides wurde zunächst nicht 30.4.1946, BAP, DPI V A Nr.10, Bl.18-21; Chef der DJV an Rechtsabteilung der SMAD, 2.7.1946, BAP, DPI V A Nr.824, B1.20f. 18 Das Internat in Mecklenburg (Schwerin-Zippendorf) wurde 1947, das in Thüringen (Gera-Roschütz) 1948 eröffnet. Erst 1949 folgten Brandenburg (Potsdam-Babelsberg) und Sachsen-Anhalt (Halle). 19 Vgl. Wendes Bericht, Der erste Richterlehrgang, 19.12.1946, BAP, DPI SE Nr.3478, und den Bericht über den 2. Lehrgang der Richter und Staatsanwälte, 19.9.1947, ebenda. 20 Rundschreiben an die Landes- und Provinzialvorstände der SED, 30.7.1946, S ΑΡΜΟ, ZPA IV 2/13/445; vgl. Pfannkuch, Volksrichterausbildung, S.43, 45 und Helga A. Welsh , Revolutionärer Wandel auf Befehl? Entnazifizieiungs- und Personalpolitik in Thüringen und Sachsen (1945-1948), München 1989, S.153f.
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erreicht. Die Angestellten überwogen, und Hilde Benjamin kritisierte im Januar 1948 den Mangel an "ideologisch fundierten Genossen" in der Justiz21. Vor noch größere Probleme sah sich die SED gestellt, als auf Anordnung der SMAD die Anzahl der Kursteilnehmer mit Befehl Nr. 193 auf 350 gesteigert wurde. Der SED-Einfluß bezog sich neben der Teilnehmerauswahl auf die Gestaltung der 24-stündigen Vorlesungsreihe "Rechtssoziologie". Ursprünglich hatte die DJV einen Lehrplan erarbeitet, der jedoch, wie Karl Polak auf einer SED-Juristenkonferenz im August 1946 darlegte, von der SMAD-Rechtsabteilung nicht gebilligt worden war. Daraufhin trat diese an die Justizabteilung beim Zentralsekretariat der SED heran; dort wurden entsprechende Vorlesungen ausgearbeitet, die Mitglieder des SEDApparates zunächst an der Potsdamer Richterschule hielten22. Die Absicht, die Vorträge dort mitstenographieren zu lassen und die Skripten anschließend an alle Volksrichterkurse zu schicken, ließ sich jedoch nicht verwirklichen, da das Zentralsekretariat keine Stenotypistin zur Verfügung gestellt hatte. Die Justizministerien der Länder und Provinzen mußten schließlich am 25. Juni 1947 angewiesen werden, sich wegen der Vorlesungsmanuskripte direkt an die SED-Landesleitungen zu wenden. Daher war erst im Verlauf des dritten Lehrgangs sichergestellt, daß im Rahmen dieser Vorlesung Themen wie "Der antike Sklavenstaat", "Die Oktoberrevolution in Rußland und die sowjetischen Verfassungen" und "Unser Kampf gegen das Monopol-Kapital" zonenweit behandelt wurden 23. Der Vermittlung des Stoffes stand zudem die Zusammensetzung der Lehrkörper entgegen: Denn von parteilosen Juristen konnte man schwerlich erwarten, die Teilnehmer in marxistischer Ideologie zu schulen24. Aber auch die Hörer selbst nahmen oftmals die rechtssoziologische Vorlesung nicht ernst, so daß die DJV im Februar 1948 auf Anregung von Hilde Benjamin die Anweisung erteilte, das Fach bei der Abschlußprüfung zu berücksichtigen25. Insgesamt war in den Jahren bis 1948 der SED-Einfluß auf die Volksrichterkurse begrenzt, auch wenn die überwiegende Mehrzahl der Absolventen dieser Partei 21 So Hilde Benjamin bei der Tagung des SED-Ausschusses für Rechtsfragen, 3./4.1.1948, SAPMO, ZPA IV 2/1.01/70, B1.187. 22 Stenographische Niederschrift über die Juristen-Konferenz am 3. und 4.8.1946, SAPMO, ZPA IV 2/1.01/13, B1.95f. 23 Siehe Chef der DJV an Landes- undProvinzialregierungen/Justizministerien, 25.6.1947, Β AP, DPI SE Nr.3552. 24 Dies war Benjamin sehr wohl bewußt, die auf der SED-Juristenkonferenz vom 3./4.8.1946 feststellte, "daß wir zu einem großen Teil noch Lehrer haben, die nicht den Anforderungen entsprechen, die wir an die Lehrer an sich stellen müssen, sogar zu einem Teil Lehrer - und das ist vielleicht das schwierigste Problem -, die der Sache noch immer ablehnend und kritisch gegenüberstehen und das auch noch zum Teil den Schülern gegenüber zum Ausdruck bringen", SAPMO, ZPA IV 2/1.01/13, B1.49. 25 Benjamin an Hartwig, 9.2.1948, BAP DP 1 SE Nr. 3552; Chef der DJV an Landesregierungen/Justizministerien, 17.2.1948, ebenda.
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angehörte 26. Der Handlungsspielraum der nicht-kommunistischen Mitarbeiter der DJV wurde jedoch in dem Maße eingeengt, in dem die SMAD-Rechtsabteilung zu erkennen gab, daß sie bei der Volksrichterausbildung die Zügel anziehen wollte. Während sie sich 1945/46 auf allgemeine Vorgaben beschränkt und noch unklar gelassen hatte, welches Gewicht den Volksrichterkursen im Rahmen der allgemeinen Juristenausbüdung zukommen sollte, zeigte ein Eingriff vom April 1947, daß sie sich nicht auf eine Zuschauerrolle beschränken wollte 27 . Sie kritisierte, daß nach Zwischenprüfungen Lehrgangsteilnehmer ausgeschlossen worden seien, "die als Vertreter der breiten Volksmassen zu gelten haben", und fuhr fort: "Die Tendenz, sich der Vorbereitung von Vertretern des Volkes zum Justizdienst zu entziehen, muß als antidemokratischer Versuch gewertet werden." 28 Die DJV war daraufhin genötigt, von ihrer Praxis abzugehen, ungeeignete Kandidaten aus den Kursen zu entfernen, und mußte von dem angestrebten hohen fachlichen Standard Abstriche machen. Die SMAD zeigte auch mit dem Befehl Nr. 193 einen größeren Gestaltungswillen als noch 1945/46. Die Anordnung, die Kurse auf ein Jahr zu verlängern, die Gesamtzahl der Teilnehmer auf 350 zu erhöhen und die Rechtsstellung der Absolventen eindeutig zu regeln 29, war ohne nachweisbare Konsultationen mit der DJV erfolgt. Die Phase der Unsicherheit in der SMAD war vorbei: Aufgrund der Erfahrungen mit den ersten Lehrgängen setzte sie nun verstärkt auf Volksrichterkurse, um die Frage des juristischen Nachwuchses zu lösen.
D. Die "Sozialisierung" der Ausbildung in den Jahren 1948 bis 1952 Das Jahr 1948 bildet für die Geschichte der SBZ eine unübersehbare Zäsur. Aufgrund internationaler und zoneninterner Entwicklungen wurde von nun an
26 Vgl. Hilde Benjamin u.a. (Autorenkollektiv), Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 19451949, Berlin (Ost) 1976, S . l l l ; Bericht über den Beginn des 3. Volksrichter-Lehrgangs, BAP, DPI SE Nr.3561. Demzufolge gehörten von 226 Absolventen der ersten zwei Lehrgänge 180 der SED an; unter den 220 Lehrgangsanfängern in Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt waren im Herbst 1947 140 SED-Mitglieder. 27 Zuvor war durch die Sowjetischen Militärverwaltungen in den Ländern bereits punktuell eingegriffen worden: So hatte beispielsweise bei den Abschlußprüfungen des ersten Richterlehrgangs in Schwerin die SMA Mecklenburg die Anweisung gegeben, die durchgefallenen Kandidaten nochmals zu prüfen: Vermerk Wendes, 2.9.1946, BAP, DPI V A Nr. 7320. 28
29
Chef der Rechtsabteilung der SMAD an Chef der DJV, 9.4.1947, BAP, DPI V A Nr.7088.
Da Volksrichter nicht, wie in § 2 Gerichtsverfassungsgesetz vorgeschrieben, ein Universitätsstudium und zwei Staatsprüfungen abgelegt hatten, war ihre Stellung als Richter umstritten. Dies führte dazu, daß Rechtsanwälte gegen Urteile von Volksrichtern wegen nicht ordnungsgemäßer Besetzung des Gerichts Revision beantragten. Befehl Nr. 193 stellte daher eindeutig fest, daß Lehrgangsabsolventen die gleichen Möglichkeiten und Rechte wie Volljuristen besäßen: siehe Andrea Feth, Die Volksrichter, in: Hubert Rottleuthner MA., Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994, S.372.
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Einführung des Sozialismus auf allen Gebieten forciert 30. Betroffen war auch die Justiz, derer sich die SED in verstärktem Maße annehmen wollte. Nach einer entsprechenden Resolution des Rechtspolitischen Beirats der SED formulierte Max Fechner auf der Tagung des Parteivorstands am 14. Januar 1948: "Wir haben bisher die Justiz links oder besser gesagt rechts liegen gelassen. Das können wir uns jetzt aber nicht mehr erlauben. Die Partei muß ihre ganze Kraft jetzt mit dafür einsetzen, daß die undemokratische und volksfremde Formaljustiz endgültig liquidiert wird und die fortschrittlichen demokratischen Kräfte offensiv werden gegen die Bestrebungen, das alte Recht wiederherzustellen." Für die Ausbildung der Volksrichter, die Fechner als "unsere schlagkräftigste Waffe gegen den alten Justizapparat" bezeichnete, ergaben sich daraus zwei Forderungen: qualifiziertere Genossen, auch eingearbeitete Parteifunktionäre, in die Lehrgänge zu bringen und die Richterschulen durch die Partei besser politisch zu betreuen31. Auch von seiten der Rechtsabteilung der SMAD wurde gegenüber leitenden Mitarbeitern der DJV die Notwendigkeit betont, die "reaktionäre Gesinnung" in der Justiz "vollständig auzumerzen". Die Volksrichter seien dabei ein wichtiges Instrument; sie müßten jedoch weniger nach formalen Gesichtspunkten ausgewählt, mehr im Hinblick auf die Praxis ausgebildet und besser eingesetzt werden 32. Daß die SMAD-Rechtsabteilung nunmehr zur Behebung des Personalmangels in der Justiz ausschließlich auf Volksrichter setzte, zeigt die Anweisung von Ende August, die Gesamtzahl der Lehrgangsteilnehmer auf 500 zu erhöhen33. Aus der DJV wurden 1948 im Zusammenspiel von SED und SMAD alle Mitarbeiter entfernt, die sich dem SED-Führungsanspruch nicht bedingungslos unterordneten, und durch bewährte Genossen ersetzt. Erich Wende, der bereits im Januar 1947 die DJV verlassen hatte, um im Kultusministerium in Hannover einen Staatssekretärsposten anzunehmen, war durch Otto Hartwig ersetzt worden, der zwar der CDU angehörte, sich jedoch als treuer Gefolgsmann der neuen Leitung erwies 34. Hilde Benjamin, die seit August 1946 die Personalabteilung kommissarisch geleitet hatte, war im Januar 1947 zum Direktor und Leiterin der Abteilung ernannt worden 30 Vgl. Dietrich Staritz, Die Gründung der DDR. Von der sowjetischen Besatzungsherrschaft zum sozialistischen Staat, München 19953, S.156-160. 31 Die Resolution des Rechtspolitischen Beirats, der am 3./4.1.1948 getagt hatte, ist als Anlage Nr.2 dem Protokoll der Sitzung des SED-Zentralsekretariats vom 8.1.1948 beigefügt: SAPMO, ZPA IV 2/2.1/162; für die Äußerungen Fechners siehe das Protokoll der 6. (20.) Tagung des SED-Parteivorstands vom 14./15.1.1948, SAPMO, ZPA IV 2/1/38, Bl.104-125, hier 106,110. 32 Äußerungen Jakupows in: Bericht über die Besprechung bei der Rechtsabteilung in Karlshorst am 5. März 1948, BAP, DPI V A N r . l l , B1.130.
* Vermerk über eine Unterredung zwischen Melsheimer und Karassjow, 31.8.1948, ebenda, B1.153. 34 Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, daß er auch in das DDR-Justizministerium übernommen wurde, wo er nachweislich noch 1950 Präsident des Prüfungsamtes war, DPI V A Nr.7638.
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und übte damit, insbesondere im Hinblick auf Ausbildung, Weiterbildung und Einsatz der Volksrichter, einen maßgeblichen Einfluß aus. Die personellen Veränderungen erfaßten auch die Spitze der DJV: Eugen Schiffer reichte im August 1948 seinen Abschied ein, und Max Fechner trat am 2. Oktober an seine Stelle35. Zur Umsetzung der neuen Richtlinien in der Justiz berief die DJV im Juni und November 1948 zwei groß angelegte Konferenzen ein, an denen unter anderem die maßgeblichen Vertreter der Justiz aus den Ländern der SBZ teilnahmen. Die Konferenz vom 25 ./26. November faßte unter anderem die Entschließung, an dem Lehrplan für die Richterlehrgänge grundsätzliche Veränderungen vorzunehmen36. Daraufhin wurde in der DJV ein völlig neues Lehrprogramm ausgearbeitet, das im Januar 1949 in Kraft trat. Dessen auffälligste Neuerung bestand in einer Erhöhung der Stundenzahl für "Gesellschaftskunde" von 24 auf 153 (59 Stunden Vorlesung, 46 Stunden Seminar und 48 Stunden Selbststudium). Des weiteren wurde der bisherige Stundenplan auf Kosten von Sachen-, Erb- und Handelsrecht um weitere Fächer wie Bodenreform, Bodenrecht, Wirtschaftsplanung und volkseigene Betriebe ergänzt 37. Auch die traditionellen Rechtsgebiete blieben nicht verschont: Da der SED viele Bestimmungen des BGB und des Handelsgesetzbuches nicht mehr zeitgemäß erschienen, verschickte die DJV im Februar neue Lehrprogramme für Bürgerliches Recht und Handelsrecht, die nicht nur Gesetzesänderungen, sondern auch neue Auslegungen und Kritik am geltenden Recht enthielten38. Zwei flankierende Maßnahmen sollten die Umsetzung des neuen Lehrplans in die Praxis sicherstellen: Zum einen eine Erweiterung der Abschlußprüfung um eine gesellschaftskundliche Klausur und zum anderen die Fortbildung einer größeren Anzahl von Dozenten in einem Sonderlehrgang auf der Deutschen Verwaltungsakademie im Herbst 194939. Probleme bereitete nach wie vor die Rekrutierung der Teilnehmer. Trotz des Einsatzes von Presse und Rundfunk blieb man im vierten Lehrgang hinter dem vorgeschriebenen "Soll" von 500 zurück, und auch die Strategie, unter den Arbeitern in den Betrieben für die Kurse zu werben, zeitigte zunächst keine Erfolge 40. Nur indem Lehrgangsteilnehmer und Absolventen persönlich 35 Zu dem Personalrevirement in der DJV vgl. Thomas Lorenz, Die Deutsche Zentral Verwaltung für Justiz (DJV) und die SMAD in der sowjetischen Besatzungszone 1945 bis 1949, in: Rottleuthner u.a., Steuerung der Justiz, S. 135-142. 36
Die zweite Juristenkonferenz der Deutschen Justizverwaltung, in: Neue Justiz 2 (1948), S.266.
37
Der Lehrplan ist dem Rundschreiben der DJV an die Justizministerien der Länder vom 31.1.1949 beigefügt, BAP, DPI VA Nr.7844; vgl. auch Otto Hartwig, Die weitere Ausgestaltung der Lehrgänge für Richter und Staatsanwälte, in: Neue Justiz 3 (1949), S.13-15. 38 Chef der DJV an Landesregierungen/Justizministerium, 23.2.1949, BAP, DPI VA Nr. 1032, B1.181f. 39 Otto Hartwig, Die Ausbildung der Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte in der Deutschen Demokratischen Republik, 28.2.1950, BAP, DPI VA Nr.978, B1.213, 211.
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Arbeitnehmer in den Betrieben ansprachen, konnte der Arbeiteranteil in den Kursen allmählich gesteigert werden 41. Die Verantwortlichen in der SMAD-Rechtsabteilung und in der DJV gaben sich nicht mit den Änderungen der Einjahreslehrgänge zufrieden. Im März 1949 wurden Planungen in Gang gesetzt, denen zufolge die Lehrgangszeit verdoppelt werden sollte42. An deren Ende stand die Eröffnung des ersten Zweijahreslehrgangs im Juni 1950. Da die Gebäude der zentralen Richterschule in Potsdam-Babelsberg jedoch noch nicht fertiggestellt waren, wurden zunächst zwei Teillehrgänge mit insgesamt 205 Schülern in Halle und Bad Schandau durchgeführt; die Vereinigung der beiden Kurse erfolgte erst im April 195143. Damit waren drei bedeutsame Entwicklungen verbunden. Erstens eine Zentralisierung der Ausbildung: Zwar liefen die Einjahreslehrgänge in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt noch weiter bis 1951/1952^, aber sie waren, ebenso wie die Zweijahreslehrgänge auf der zentralen Richterschule in Potsdam-Babelsberg, direkt dem DDR-Justizministerium unterstellt. Die Landesjustizministerien bzw. die Hauptabteilungen Justiz bei den Ministerpräsidenten der Länder 45 hatten keinerlei Einfluß mehr auf die Gestaltung der Kurse. Zweitens eine noch weitergehendere Ideologisierung des Unterrichts als in den Einjahreslehrgängen: Dies zeigt sich nicht nur daran, daß von 4029 Unterrichtsstunden 1062 auf die Gesellschaftskunde entfielen, sondern auch an dem Versuch, dieses Fach zur Basis der juristischen Veranstaltungen zu machen46. Ein neues Rechtsbewußtsein, so die 40 Chef der DJV an Rechtsabteilung der SMAD, 20.12.1948, BAP, DPI V A Nr.6527; vgl. die Äußerungen von Fediner und Schoeps auf der Tagung der Leiter der Richterlehrgänge am 20./21.5.1949, BAP, DPI V A Nr.6587. 41 Vgl. außer dem Bericht Hartwigs (wie Anm.39), B1.209, Erich Funke, Mehr Werktätige in die Richterschulen!, in: Der Funktionär 3 (1950), S.159: Demzufolge hatten in Sachsen "140 Genossen Richter und Staatsanwälte den Parteiauftrag [erhalten], ein bis zwei Teilnehmer zu werben".
* Siehe Chef der DJV an Chef der Rechtsabteilung der SMAD, 17.3.1949, BAP, DPI V A Nr.6527; bereits am 4.3.1949 waren die Justizministerien der Länder aufgefordert worden, auf der Grundlage des Lehrplans vom 31.1.1949 Lehrpläne für einen Zweijahreslehrgang auszuarbeiten, BAP, DPI V A Nr.986. 43 Analyse des 1. Ausbildungslehrganges der Zentralen Richterschule der DDR, 29.12.1952, BAP, DPI VA Nr.6682. 44 Die Jahrgänge in Sachsen und Sachsen-Anhalt liefen 1951, der in Thüringen lief Mitte Juli 1952 aus. Siehe Ministerium der Justiz, Abteilung Schulung, an Sowjetische Kontrollkommission, Sektor Justiz, 14.1.1953, BAP, DPI V A Nr.2321. 45 Im November 1950 waren "im Zuge der Neubildung der Regierungen der einzelnen Länder" deren Justizministerien (mit Ausnahme von Thüringen) in Hauptabteilungen für Justiz umgewandelt worden: siehe Hilde Benjamin u.a. (Autorenkollektiv), Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1949-1961, Berlin (Ost) 1980, S.71. 46 Siehe Studienplan für die Zweijahreslehrgänge der Zentralen Richterschule der DDR, 1.6.1950, BAP, DP 1 VA Nr. 269; vgl. auch Günther Scheele, Zur Eröffnung der Zentralen Richterschule der Deutschen Demokratischen Republik, in: Neue Justiz 4 (1950), S.183-185. Die von Scheele angegebenen Zahlen treffen offensichtlich nicht zu.
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nachvollziehbare Überlegung, konnte nur vermittelt werden, wenn Gesellschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften von einer gemeinsamen Prämisse ausgingen: der marxistisch-leninistischen Ideologie. Drittens leiteten Zweijahreslehrgänge eine Akademisierung der Volksrichterausbildung ein, die mit einer Verschulung der Universitätsausbildung korrespondierte. Auf der einen Seite wurde das Jura-Studium nach den Erfahrungen der Volksrichterlehrgänge verschult und durch gesellschaftswissenschaftliche Pflichtveranstaltungen erweitert. Auf der anderen Seite war die zentrale Richterschule mit der Absicht gegründet worden, "die Lehrgangsteünehmer zu noch besseren Leistungen zu befähigen, die sie in wissenschaftlicher Hinsicht den Juristen mit akademischer Vorbildung angleichen sollen und ihnen die Möglichkeit eröffnen soll, auch akademische Grade zu erlangen" 47. Diesem Ziel entsprachen die weiteren Entwicklungen: Die zentrale Richterschule ging im Mai 1952 in der neu gegründeten Deutschen Hochschule für Justiz auf, die wiederum im Februar 1953 mit der Deutschen Verwaltungsakademie zur Deutschen Akademie für Staat und Recht "Walter Ulbricht" fusionierte. Ab September 1954 konnte hier nach einem dreijährigen juristischen Studium das Staatsexamen abgelegt werden 48. Die Zeit der Volksrichterausbildung war damit endgültig beendet.
E. Die Weiterbildung der Volksrichter (1946-1952) Alle an der Volksrichterausbüdung Beteiligten hatten ein elementares Interesse an der Weiterbildung der neuen Richter und Staatsanwälte. In der DJV wurde von Anfang an zum einen auf politische Fortbildung Wert gelegt, um das Verständnis "für die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fragen der Gegenwart" auf seiten der Richter zu fördern und auf diese Weise einen Beitrag zur Überwindung da* von Schiffer immer wieder beklagten Kluft zwischen Volk und Justiz zu leisten49. Zum anderen erschien den Verantwortlichen in der DJV die weitere fachliche Qualifizierung der Lehrgangsabsolventen aufgrund der Kürze der Ausbildung als dringendes Erfordernis. Dem entsprach das große Bedürfnis nach Weiterbildung auf seiten der neuen Volksrichter, die sich ihrer Lücken spätestens beim ersten Schritt in die Praxis bewußt wurden 50.
47
Siehe den Bericht Hartwigs (wie Anm.39), B1.216f.
41
Zu dieser Entwicklung siehe Geschichte der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR. Die Akademie in der Periode des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus, Teil II: 1950-1960, PotsdamBabelsberg 1983, S.23, 26. 49 DJV an Landes- und Provinzialverwaltungen Abt. Justiz, 6.4.1946, BAP, DPI V A Nr.6782, Bl.8-11. 30 Wende an Melsheimer, November 1946, BAP, DPI VA Nr.6335, B1.123f.; Konzept eines Rundschreibens an die Landes- und Provinzialverwaltungen, November 1946, ebenda, Bl. 132-134.
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Die SMAD-Rechtsabteilung hielt Weiterbildung ebenfalls für erforderlich. Daher erteilte sie im August 1947 die Anweisung, nach dem Vorbild einer Fortbildungsveranstaltung vom 2. bis 4. August 1947 in Halle in jedem Land groß angelegte Wochenendtagungen abzuhalten, an der Volksrichter, Referendare, Assessoren und die ortsansässigen Richter teilnehmen sollten51. Derartige Veranstaltungen boten SMAD und SED die Möglichkeit, die Teilnehmer in ihrem Sinne zu beeinflussen. Auf einer Fortbildungstagung in Potsdam beispielsweise referierte Reinhold Schäfermeier von der Justizabteüung beim SED-Zentralsekretariat über das Thema: "Wie schützt der Richter die Demokratie?" Oberstleutnant Jakupow von der SMADRechtsabteilung betonte bei derselben Gelegenheit u.a. die Notwendigkeit, Wirtschaftsverbrechen streng zu bestrafen und sprach sich dagegen aus, "den Strafvollzug allzu human zu gestalten"52. Die allgemeine Akzeptanz der Weiterbildung ermöglichte folglich deren Mißbrauch zur ideologischen Beeinflussung und Justizsteuerung. 1948 kam es auf Anweisung der. DJV zu einer Systematisierung und Ideologisierung der Weiterbildung, die nun vor allem auf drei Ebenen zu betreiben war: Zum einen sollte der jeweilige Lehrgangsleiter engen Kontakt zu seinen ehemaligen Schülern halten, die wiederum diesem alle zwei Monate schriftlich über die von ihnen geleistete Arbeit berichten mußten. Zum anderen waren alle in einem Landgerichtsbezirk tätigen Absolventen unter der Leitung eines fortschrittlichen Richters oder Staatsanwalts zusammenzufassen, um nicht nur neue Gesetze und Verordnungen sowie Fragen der Praxis regelmäßig zu besprechen, sondern auch um "ihre Berufsauffassung zu festigen, den fortschrittlichen Geist wachzuhalten und sie immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Arbeit nicht mit der Erledigung der vorliegenden Akten beendet ist, sondern daß die Absolventen sich am öffentlichen Leben weitgehend beteiligen [...] müssen". Fortbildungstagungen schließlich sollten für alle Absolventen eines Oberlandesgerichtsbezirks veranstaltet werden 53. Weiterqualifizierungsmaßnahmen erhielten somit Funktionen die, den fachlichen und politischen Entwicklungsstand der Absolventen zu überprüfen, diese in fachlicher und ideologischer Hinsicht weiterzubilden 54 und sie umgehend mit neuen Gesetzen und Verordnungen sowie deren "richtiger" Anwendung vertraut zu ma31
Chef der DJV an Landesregierungen/Justizministerien, 11.9.1947, BAP, DPI SE Nr.3548; Chef der DJV an Rechtsabteilung der SMAD, 20.10.1947, BAP, DPI SE Nr.3476. 32 Bericht über die Sonderveranstaltung zur Fortbildung der Absolventen der Richterlehrgänge, der Referendare und Assessoren in Potsdam am 22.11.1947, BAP, DPI V A Nr.10, Bl.80-82. 53
54
Chef der DJV an Landesregierungen/Justizministerium, 29.7.1948, BAP, DPI V A Nr.1041.
Siehe das Rundschreiben vom 8.11.1948, BAP, DPI SE Nr.3548, in dem es hieß: "Es ist darauf zu Bedacht zu nehmen, daß alle auf der Fortbildungstagung erörterten Rechtsfragen den Teilnehmern auch in ihrer soziologischen und rechtspolitischen Bedeutung nahe gebracht werden. Zur Vertiefung können rein soziologische Vorträge beitragen."
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chen. So wurden auf Anordnung der DJV im Januar 1949 zweiwöchige Fortbildungsveranstaltungen speziell für die mit Wirtschaftsstrafsachen befaßten Richter und Staatsanwälte eingerichtet 55. Dabei ist zu beachten, daß in zunehmendem Maße nicht nur Volksrichtern, sondern allen Richtern und Staatsanwälten die Teilnahme an derartigen Veranstaltungen auferlegt wurde. Die ideologische und juristische Weiterbildung erhielt demzufolge auch die Funktion der "Verschmelzung der verschiedenartigen Schichten der Justizfunktionäre" (Hilde Benjamin)56. Nach Gründung der DDR wurde das Weiterbildungssystem perfektioniert und zentralisiert. So legte ab Januar 1951 das DDR-Justizministerium die Themen für die monatlichen Schulungen zentral fest und verschickte zu deren sachgemäßen Behandlung fertig ausgearbeitete Dispositionen57. Ab 1952 trat zudem die fachliche Fortbildung zugunsten der Ideologie in den Hintergrund: Der für die gesamte Republik gültige Plan sah nun fast ausschließlich Themen wie "Bedeutung der Lehre von Marx, Engels, Lenin und Stalin", "Klassen und Klassenkampf', "Der sozialistische Sowjetstaat" und "Der Staat in den Volksdemokratien" vor 58 . Daneben wurden nach wie vor in entsprechenden Veranstaltungen neue Gesetze, wichtige Prozesse und Probleme der Rechtsprechung behandelt, die jedoch oftmals im Zusammenhang mit ideologischen Fragen standen. Dies wird deutlich an den Länderkonferenzen der Generalstaatsanwaltschaften zum "Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Handels" im August 1951. Gerda Grube vom DDR-Justizministerium stellte in ihrem zusammenfassenden Bericht über die Veranstaltungsreihe fest, "daß die Einsicht in die politische Bedeutung der Gesetzgebung der Deutschen Demokratischen Republik im allgemeinen und des Gesetzes zum Schutze des innerdeutschen Handels im besonderen noch bei einem Teile der Richter und Staatsanwälte nicht vorhanden" sei. Es müsse daher eine der wichtigsten Aufgaben sein, "das ideologische Bewußtsein der Richter und Staatsanwälte zu heben"59. Gerade bei den politischen Strafvorschriften wie dem "Handelsschutzgesetz" hing die "richtige" 55 Chef der DJV an die Landesregierungen/Justizministerium, 24.12.1948 BAP, DPI VA Nr.7844, B1.299: Da5 Lehrprogramm umfaßte sechs "wirtschaftliche und politische Themen" wie etwa den "Zweijahresplan" und "Planung und Produktion" sowie "juristische Themen" wie die "Wirtschaftsstrafverordnung" und die "richtige Strafzumessung". In Ergänzung zu dieser Verordnung wurden am 6.1.1949 Dispositionen zu den sechs juristischen Themen versandt, ebenda, B1.300. 56 Hilde Benjamin, Stete Sorge der Partei für die Entwicklung der Justizkader, in: Staat und Recht 20 (1971), S.564. 57 Siehe die Rundschreiben des Justizministeriums an die Landesregierungen Hauptabteilung Justiz ab dem 23.12.1950, BAP, DPI SE Nr.3548. 58 Der Themenplan vollständig bei Werner Künzel, Das Ministerium der Justiz im Mechanismus der Justizsteuerung 1949 bis 1963, in: Rottleuthner u.a., Steuerung der Justiz, S.178. 59 Siehe den Bericht über die gemeinsamen Länderkonferenzen der Generalstaatsanwaltschaften mit den Landesjustizverwaltungen über das Thema: "Gesetz zum Schutze des innerdeutschen Handels", BAP, DPI SE Nr.3548.
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Anwendung also nicht nur von fachlichen Kenntnissen, sondern auch vom "ideologischen Bewußtsein" ab. Über Qualifizierungsmaßnahmen, zunächst vor allem zur Schließung der Wissenslücken bei den Volksrichtern gedacht, wurde es schon sehr früh möglich, die bereits tätigen Volksrichter ideologisch zu beeinflussen und justizsteuernd zu wirken. Auf den Erfahrungen mit den Volksrichtern aufbauend, entwickelte sich die Weiterbildung somit zu einem wesentlichen Instrument bei der Erziehung der Justizfunktionäre und bei der Lenkung der Justiz insgesamt.
F. Der Einsatz der Volksrichter (1946-1952) In engem Zusammenhang mit der Fortbildung der Volksrichter stand deren angemessener Einsatz. Denn es galt, die noch gänzlich unerfahrenen und nur mit den Grundzügen der Rechtsprechung vertrauten Lehrgangsabsolventen so einzusetzen, daß sie zwar bereits ihre Funktion erfüllen, aber gleichzeitig noch notwendige Kenntnisse erwerben konnten. In den Jahren 1946/47 war die DJV vor allem bestrebt, den Absolventen die ersten Schritte in der Praxis zu erleichtern. An den Erfahrungen mit den oftmals noch von den sowjetischen Kommandanten eingesetzten Richtern ohne Vorbildung anknüpfend, sollten die Volksrichter zunächst vorzugsweise bei den Staatsanwaltschaften und als Beisitzer in Straf- oder Zivilkammern, keineswegs aber als Einzelrichter an kleinen Amtsgerichten eingesetzt werden60. Auf Weisung der SMAD-Rechtsabteilung ging man dazu über, die Berufsanfänger eine dreimonatige Probezeit bei einem Richter oder Staatsanwalt absolvieren zu lassen61. Der Einsatz bereitete jedoch auch Probleme, da das Verhältnis zwischen Volljuristen und Volksrichtern oft nicht ungetrübt war. Die DJV sah sich daher im Juli 1947 genötigt, die Volljuristen im Justizdienst darauf hinzuweisen, "sich der neuen Kollegen anzunehmen und sie in die Praxis einzuführen" 62. Hilde Benjamin, die als Leiterin der Personalabteilung in der DJV für den Einsatz der Volksrichter zuständig war, achtete zudem streng darauf, daß diese nach einer Einarbeitungsphase in verschiedenen Rechtsgebieten tätig wurden, um zu verhindern, daß sie im Vergleich zu den Volljuristen "Richter 2. Klasse" blieben. Daher kritisierte sie nach einer Dienstreise durch Thüringen im Januar 1948 den dort sehr einseitigen Einsatz der Lehrgangsabsolventen heftig. Das thüringische Justizministerium, so stellte sie fest, habe "es nicht verstanden [...] und [habe es] bisher vielleicht 60 DJV an Landes- und Provinzialverwaltungen Abt. Justiz, 18.7.1946, BAP, DPI V A Nr.6335, Bl.lllf. 61
Siehe den Vermerk über die Besprechung am 17.8.1946, BAP, DPI SE Nr.3556.
" Chef der DJV an die Länderregierungen/Justizministerium, 2.7.1947, BAP, DPI V A Nr.6335, B1.156. Diese Anweisung wurde von den Oberlandesgerichtspräsidenten weitergeleitet: vgl. Rundschreiben der OLG-Präsidenten in Halle, 19.7.1947, BAP, DPI V A Nr.1032, B1.22; Rundschreiben des OLG-Präsidenten in Gera, 16.7.1947, BAP, DPI VA Nr.6405.
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auch nicht verstehen wollen, die Absolventen der Lehrgänge so bei den Gerichten einzusetzen, daß sie einmal als belebendes und fortschrittliches Element sich auswirken können". Denn dazu mußten sie "durch vielseitige Beanspruchung möglichst gut weitergebildet werden" 63. Die Umwälzungen des Jahres 1948 wirkten sich auch auf die Personalpolitik im Justizwesen aus. Als wichtigster Grundsatz galt von nun an, "daß nur solche Richter und Staatsanwälte für die Arbeit in der Zone tragbar sind, die die demokratischen Errungenschaften, die in der sowjetischen Besatzungszone erreicht worden sind, bejahen und sich zu ihnen bekennen"64. Im Rahmen der neuen Personalpolitik waren die Volksrichter besonders zu fördern. So drängte die mittlerweile unter kommunistischer Dominanz stehende DJV darauf, die Absolventen des ersten und zweiten Lehrgangs zu Behördenleitern, Aufsichtsrichtern und Vorsitzenden von Landgerichtskammern zu befördern. Darüber hinaus hielt man sie offensichtlich für geeignet, in Verfahren tätig zu werden, die für das Regime von besonderer Bedeutung waren. Dies betrifft zum einen die Verfahren nach SMAD-Befehl Nr. 201, demzufolge die Bestrafung von Kriegs- und NS-Verbrechen deutschen Gerichten überlassen worden war 65 . Zum anderen sollten die Lehrgangsabsolventen ab 1948 stärker zur Verfolgung von Wirtschaftsverbrechen herangezogen werden, auch, wie es ausdrücklich hieß, "in zweitinstanzlichen Verfahren" 66. Diese Tätigkeit wiederum prädestinierte die betroffenen Volksrichter aus der Sicht der DJV für Leitungspositionen an den Gerichten und Staatsanwaltschaften. Diese Weisungen führten ab 1949 insgesamt zu einem Beförderungsschub für die Volksrichter. Denn von den 425 im Jahre 1950 tätigen Absolventen der ersten drei Lehrgänge befanden sich 55 bereits in leitenden Positionen; zwei von ihnen waren schon 1949 zu Landgerichtsdirektoren befördert worden 67. Eine Reihe von Absolventen erreichte binnen kurzer Zeit Spitzenpositionen im Justizwesen der DDR. 1952 gehörten dem Obersten Gericht 12, der Generalstaatsanwaltschaft 31 und dem Justizministerium 6 Volksrichter an; außerdem kamen damals fast alle Bezirks-
63 Hilde Benjamin: Bericht über die Tätigkeit der Absolventen des 1. Lehrganges im ersten Jahr ihrer Tätigkeit, 13.1.1948, BAP, DPI SE Nr.3561; dieselbe: Bericht über die Dienstreise nach Thüringen, 24.1.1948, BAP, DPI VA Nr.1032, Bl.38-46; das Zitat B1.40. 64 Chef der DJV an die Landesregierungen/Justizministerium, 20.9.1948, BAP, DPI VA Nr.6335, B1.173. 65 Befehl Nr. 201 vom 16.8.1947 ist gedruckt in: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945-1949, Berlin (Ost) 1968, S.489-492. 66 Chef der DJV an die Landesregierungen/Justizministerium, 25.9.1948, BAP, DPI VA Nr.6335, B1.178. 67 Diese Zahlen basieren auf Listen zum Einsatz der Absoventen der 1.-3. Richterlehrgänge bei den Gerichten der Länder aus dem Jahre 1950, BAP, DPI V A Nr.824, Bl.1-22.
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gerichtsdirektoren 68 und Bezirksstaatsanwälte aus den Lehrgängen.69 Insgesamt waren am 31. Dezember 1950 von 1319 Richtern und Staatsanwälten 805 - also 61 % - Absolventen der Richterlehrgänge 70. In den fünfziger Jahren konnte der Elitenaustausch im Justizwesen dank des Instruments der Volksrichter im wesentlichen abgeschlossen werden.
G. Zusammenfassung Der Weg hin zu einer politisierten Volksrichterausbildung, an deren Ende ein dem Regime treu ergebener und lenkbarer Justizfunktionär stand, war alles andere als geradlinig. Dies hing damit zusammen, daß trotz der maßgebenden Stellung der SMAD-Rechtsabteilung in den Jahren 1945 bis 1948 die Vorstellungen der SED sich nur sehr begrenzt hatten durchsetzen können. Und für die damals noch maßgebenden nicht-kommunistischen Akteure stand die fachliche Qualifizierung der angehenden Volksrichter im Vordergrund. Wenngleich erste Eingriffe der SMADRechtsabteilung im Jahre 1947 den Handlungsspielraum der nicht-kommunistischen Mitarbeiter in der DJV eingeengt hatten, erfolgten die entscheidenden Änderungen erst 1948, als die Weichen in Richtung Sozialismus gestellt wurden. Kennzeichen der Phase nach 1948 waren eine drastische Erhöhung der Schülerzahl, eine Ideologisierung der Ausbildung sowie eine gezielte Förderung der bereits eingesetzten Volksrichter. Die Weiterbildung, die bereits 1947 teilweise ideologisiert und für Justizsteuerungszwecke mißbraucht worden war, wurde nach 1948 systematisiert und perfektioniert. Die Absolventen der Lehrgänge schienen für ihre Aufgabe, dem Regime als systemkonforme Richter und Staatsanwälte zu dienen, wie geschaffen. Wenngleich der Arbeiteranteil unter ihnen nicht so hoch war, wie sich das Regime gewünscht hätte, stammten sie doch mehrheitlich aus den weniger privilegierten Schichten und hätten unter anderen Bedingungen den Sprung in eine staatliche Funktionselite wohl kaum geschafft. Sie verdankten somit ihre Karriere vor allem dem neuen Regime, das gezielt Personen aus ihren Kreisen und mit dem Parteibuch der SED förderte. Die Ausbildung schließlich hatte - zumindest ab 1949 - nicht den wissenschaftlich gebildeten, unabhängig urteilenden Richter, sondern den politisch geschulten, "parteilich" denkenden Justizfunktionär im Blick, dessen Kenntnisse zudem so große Lücken aufwiesen, daß er für Schulungen, Fortbildungsmaßnahmen und damit auch Einflußnahmen sehr aufgeschlossen war. Bei diesen Voraussetzungen mag es auf den ersten Blick überraschen, daß eine Reihe der Lehrgangsabsolventen den an sie 61 Ende 1953 kamen 13 von 14 Bezirksgerichtsdirektoren aus den Lehrgängen: vgl. Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 31.
® Vgl. Hilde Benjamin, Volksrichter, in: Staat und Recht 19 (1970), S.745. 70
Feth, Volksrichter, S.368.
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gestellten Ansprüchen in der Praxis nicht genügte: Einige flohen in den Westen, andere wurden entlassen, freilich weniger aufgrund politischen sondern eher aufgrund moralischen Fehl Verhaltens. Hans Hattenhauer schließt daraus und aus der Tatsache, daß die Volksrichter zwischen 1954 und 1960 ein drei- bis fünfjähriges Fernstudium absolvieren mußten, daß das Volksrichterexperiment "erstaunlich schnell gescheitert" sei. Diese Schlußfolgerung geht indes zu weit: Die von ihm aufgeführten Fälle zeigen zwar, daß die Volksrichterlehrgänge keineswegs die makellosen sozialistischen Justizfunktionäre hervorgebracht hatten, deren Bild die DDR in leuchtenden Farben malte. Er legt indes weder genaue Zahlen vor, aus denen hervorgeht, wie viele Volksrichter letztlich scheiterten, noch kann er zeigen, daß das Ausscheiden und das Fehlverhalten von Volksrichtern das Funktionieren der DDR-Justiz ernsthaft beeinträchtigt haben71. Insgesamt scheint die Funktionsfähigkeit des Jusüzsystems durch derartige Vorfälle nicht in Frage gestellt worden zu sein. Die Hintergründe über die Entscheidung, die Volksrichter in einem Fernstudium weiterzubilden, sind noch nicht geklärt; möglicherweise gehen sie auf eine Orientierung am sowjetischen Vorbild zurück 72. Jedoch selbst wenn diese Entscheidung auf die Erkenntnis über die mangelnde Qualifikation der Volksrichter zurückgehen sollte, bedeutet dies nicht ein Scheitern der Volksrichterkonzeption, da Weiterbildung von Anfang an ein integraler Bestandteil dieser neuartigen Form der Juristenausbildung darstellte.
71 Hans Hattenhauer, Über Volksrichterkarrieren, Göttingen 1995 (Bericht aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft für Wissenschaft e.V., Hamburg, Jg.13, H.l), S.31. 72
Vgl. Benjamin u.a., Geschichte der Rechtspflege, S.160.
Rechtsstaat Thüringen? Neuaufbau und Instrumentalisierung der Justiz in Thüringen nach 1945
Von Petra Weber
Vor mehr als 1.000 Zuhörern wurde vom 3. Mai bis 10. Juni 1949 in der Ilmenauer Festhalle, der größten Versammlungshalle der Stadt, der bis dahin spektakulärste Schauprozeß Thüringens inszeniert. Der groß aufgezogene, aber schlecht vorbereitete Ilmenauer Glasprozeß füllte die Balken aller Thüringer Landeszeitungen.1 Die Presse hatte die Angeklagten verurteilt, noch ehe die Hauptverhandlung eröffnet war. 27 Angeklagte standen vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Gotha, neun fungierten als Hauptangeklagte. Sie wurden beschuldigt, über 3 Millionen Fieberthermometer in die Westzonen verschoben zu haben. Auf der Anklagebank saßen nicht nur Hersteller von Fieberthermometern, sondern auch Angestellte des Industriebüros Glas, Bürgermeister und Landräte aus Ilmenau und Umgebung, die laut Anklage an dem Deal mitgewirkt hatten. Der Kreis der Beschuldigten war ursprünglich weitaus größer gewesen.2 Die Verhaftungen mußten eingestellt werden, weil man sonst nicht nur sämtliche Fieberthermometerhersteller Thüringens, sondern auch Partei- und Staatsfunktionäre vor die Anklagebank hätte stellen müssen. Die zuständigen Stellen innerhalb der Landesregierung waren über den von der Ilmenauer Glasindustrie betriebenen Schwarzhandel mit Fieberthermometern ebenso informiert wie über die Kompensationsgeschäfte des Industriebüros Glas, die sie geduldet hatten.3 Glaswaren gehörten in der SBZ seit 1946 zu den bewirtschafteten Waren. Die Fieberthermometer-Industrie Thüringens jedoch lebte vom Export, den die sowjetische Besatzungsmacht durch einen überhöhten Verkaufspreis fast unmöglich gemacht hatte, so daß der Schwarzhandel für die Thüringer Glasindustrie zu einer Frage des Überlebens geworden war. 4 Fehlende Quecksilberzuteilungen zwangen zu Kompensationsgeschäften. Da der planmäßige Absatz stockte, entstand ein Überangebot von Fieberthermometern, für dessen Verschulden das Wirtschafts1 Vgl. die Prozeßberichte im "Thüringer Volk" vom 4. Mai bis 15. Juni 1949 und in der "Thüringischen Landeszeitung" vom 4. Mai - 14. Juni 1949. 2
Thüringische Landeszeitung vom 6.5.1949.
3 Schreiben Karl Hägers an den Präsidenten des Obersten Gerichts vom 21.1.1950, ThHStAW, Akten des MdJ 289. 4 Hintergründe des Fieberthermometer-Prozesses in Ilmenau/Th. Febr. 1951, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0048 C.
8 Timmermann
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ministerium Sündenböcke brauchte. Im Sommer 1948 mahnte Thüringens Wirtschaftsminister Hüttenrauch Justizminister Loch zu durchgreifenden Maßnahmen gegen die Thüringer Glasindustrie.5 Das Aufdecken der "Schiebungen" und die "Entlarvung" der Schwarzhändler übernahm bereitwillig die Landeskontrollkommission, die der Staatsanwaltschaft auch beim Verfassen der Anklageschrift die Feder führte. Das Wirtschaftsministerium, dem die Anklageschrift noch vor Prozeßbeginn zugeleitet worden war, demonstrierte sein Interesse an dem Prozeß, indem es einen Vertreter als Nebenkläger in die zum Gerichtsgebäude umfunktionierte Ilmenauer Festhalle sandte.6 Die Anklageschrift, von Oberstaatsanwalt Günther verfaßt, glich, wie die Graue Eminenz im Thüringer Justizministerium, Ministerialdirektor Karl Schuhes, entsetzt feststellen mußte, einem "politischen Pamphlet", so daß noch während des Prozesses umfangreiche Ermittlungen angestellt werden mußten.7 Am 10. Juni 1949 erging das Urteil. Die neun Hauptangeklagten wurden zu Freiheitsstrafen von einem Jahr Gefängnis bis zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. 8 Oberstaatsanwalt Günther hatte für den Hauptangeklagten Langenberger, einer der leitenden Angestellten im Industriebüro Glas, eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren gefordert. In der Urteilsbegründung wurde den Angeklagten vorgeworfen, "in böswilliger Absicht den demokratischen Wiederaufbau sabotiert" zu haben. Schultes notierte nach Durchsicht der Urteüsschrift: "Das Urteil enthält schwere Fehler! Keine jurist(isch) exakte Herausarbeitung des Tatbestandes, endloses Wiedergeben von Zeugenaussagen." Der Leser müsse sich nach dem Lesen der Urteilsschrift fragen, "was den Angeklagten eigentlich zur Last gelegt wird". 9 Der Vorsitzende Richter Walter Strube hatte beim Abfassen des Urteils dem Druck der SMA, deren Vertreter im Gerichtssaal anwesend waren, der SED und der Landeskontrollkommission, die eng mit der Zentralen Kontrollkommission in Berlin zusammenarbeitete, nachgegeben.10 Mehr Aufsehen noch als die Verurteilung der sogenannten "Wirtschaftssaboteure" erregte in der Öffentlichkeit die Niederlegung des Vorsitzes durch Landgerichtsrat Otto, der zunächst die Verhandlung geleitet hatte. Otto war von Oberstaatsanwalt Günther vorgeworfen worden, antisowjetischen Äußerungen eines Angeklagten nicht widersprochen zu haben. Ein unvorhergesehener Regiefehler war eingetreten, 5
Schreiben Hüttenrauchs an Loch vom 16.8.1948, ThHStAW, Akten des MdJ 289.
6
Staatsanwalt Perscheid.
7 Handschriftliche Notizen Schultes' zu dem im Ilmenauer Prozeß gefällten Urteil (o.D.), IfZ, N L Schultes 25. 8
Schreiben Lukas' an die deutsche Justizverwaltung vom 11.6.1949, IfZ, NL Schultes 25.
9
Handschriftliche Notizen Schultes' zu dem im Ilmenauer Prozeß gefällten Urteil. Ebd.
10
Bericht: Thüringisches Justizministerium, S. 5, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0048 C. Bei dem ungenannten Verfasser des Berichts handelt es sich um Karl Schultes.
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den die SED und die Landeskontrollkommission hatte vermeiden wollen, indem sie zuvor auf die Besetzung des Gerichts Einfluß genommen hatte. Zwölf Stunden, nachdem Otto den Vorsitz niedergelegt hatte, wurde er auf Anweisung der SMATh verhaftet. Erst vier Monate nach seiner Verhaftung erging ein Haftbefehl, den der frühere Reichsgerichtsrat Hermann Grossmann, vor 1933 Sozialdemokrat und entschiedener Gegner des Nationalsozialismus, von der sowjetischen Besatzungsmacht unter Druck gesetzt, unterzeichnet hatte.11 Nach Intervention Schultes' wurde Werner Otto freigelassen, 12 mußte aber auf Anordnung Hildegard Heinzes, die ein Jahr später sich maßgebend an der Abfassung der Terrorurteile in den WaldheimProzessen beteiligte, aus dem Justizdienst entlassen werden. Senatspräsident Grossmann, der 1950 zum Oberlandesgerichtspräsidenten avancierte, zeichnete sich nicht nur für die Unterzeichnung des Haftbefehls gegen Otto verantwortlich, sondern auch für die Kassation des Urteüs des Oberlandesgerichts Gera, das aufgrund der von den Angeklagten eingelegten Revision das im Ilmenauer Glasprozeß ausgesprochene, rechtsbeugende Urteü der Gothaer Strafkammer aufgehoben hatte. Grossmann hatte sich abermals dem Druck Frau Heinzes gebeugt.13 Aus dem Schauprozeß war ein Marionettentheater geworden. Die Verantwortlichen in der Thüringer SED und Landeskontrollkommission waren unglücklich über den Ilmenauer Prozeß, nicht weil dort Recht gebeugt worden war, sondern weil der Prozeß im Grunde als Blamage geendet hatte. Den Angeklagten, nicht den Anklägern gehörte die Sympathie des in der Ilmenauer Festhalle versammelten Publikums und der Öffentlichkeit. 14 Nichtsdestotrotz fuhr man fort, die Justiz zur Enteignung der Thüringer Fieberthermometer-Industrie zu mißbrauchen. Die Prozeßregie schrieb nun der Generalstaatsanwalt der DDR vor, der sich dabei nicht immer im Einklang mit dem Thüringer Justizministerium befand. 15 Widersetzten sich die Thüringer Richter der Prozeßregie oder mißverstanden sie, so wurde das Urteil vom Obersten Gericht kassiert.16 Ende 1952 war die Existenz der privaten Unternehmer in der Thüringer Fieberthermometer-Industrie vernichtet. 11
Ebd; Bericht über die Justiz in der Ostzone, AdsD, SPD-PV Ostbüro 0048 D.
n Schreiben Heinz-Joachim Schult^ an Schultes vom 17.11.1954, IfZ, NL Schultes 11; Bescheinigung Werner Ottos vom 19.1.1951, NL Schultes 3. 13
Bericht: Thüringisches Justizministerium, S. 5, (wie Anm. 10).
14 Fieberthermometer-Schauprozeß Ilmenau, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0048 C; Niederschrift über die am 12.5.1950 im Innenministerium stattgefundene Sitzung zwischen Justiz, Volkspolizei, L K K für staatliche Kontrolle (vertraulich), ThHStAW, Akten des MdJ 599. 15 Schreiben des Generalstaatsanwaltes Thüringens Schmuhl an das Thüringische Justizministerium vom 14.10.1950, ThHStAW, Akten des MdJ 289. Hier auch Unterlagen zu den in den Jahren 1951/52 gegen die Ilmenauer Glasindustrie geführten Prozessen. 16 Unterlagen zu dem Prozeß gegen Hugo Siegfried und Karl Zimmermann. Ebd; Entscheidungen des Obersten Gerichts, Bd. 2, S. 278-282.
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Ein klassisches Beispiel der DDR-Justiz, sensationell ist an ihm nichts, auch nicht, daß der Prozeß begann, noch ehe die DDR gegründet war. Vor dem Landgericht Zwickau hatte bereits Ende 1948 ein Prozeß gegen angebliche "Textilschieber" im Raum Glauchau-Meerane stattgefunden, der für den Glasprozeß in Dmenau das Vorbüd abgeben sollte.17 Trotzdem, der Schauplatz läßt aufhorchen. War doch nach 1945 oft die Rede vom Rechtsstaat Thüringen, dessen vorbildliche Leistungen auf dem Felde der Justiz bis 1947 auch in westzonalen juristischen Fachkreisen gelobt wurden. 1946 wünschte die "Deutsche Rechts-Zeitschrift", daß die Leistungen des thüringischen Gesetzgebers, insbesondere auf dem Gebiet des Strafrechts, in ganz Deutschland gebührende Beachtung" finden. 18 Richard Langes Gesetzeswerk zur Änderung und Anwendung des Reichsstrafgesetzbuches in Thüringen vom November 1945 galt als eine Pionierleistung auf dem Felde der geplanten Strafrechtsreform. Der kürzlich verstorbene Jenaer Strafrechtler hatte nicht nur die vom NSRegime aufdiktierten Strafrechtsbestimmungen beseitigt, sondern auch die Grundlage für eine wehrhafte Demokratie geschaffen. 19 Weimar sollte sich nicht wiederholen. "Angriffe gegen die demokratische Staatsform" wurden ebenso unter Strafe gestellt wie die "unlautere Einwirkung auf die Rechtspflege". In Zukunft sollte mit Gefängnis bestraft werden, wer anläßlich eines gerichtlichen Verfahrens durch Gewalt oder rechtswidrige Drohung oder durch beschimpfende Äußerungen auf einen Richter oder eine andere Person (...), die am Verfahren beteiligt ist, (einzuwirken)", versuchte.20 Außerdem stellte Langes Strafrechtswerk die Arbeiterschaft und den wirtschaftlichen Neuaufbau unter Schutz - eine Bestimmung, die sich ungewollt freilich auch gegen politische Gegner der von der SED betriebenen Sozialisierung verwenden ließ. Große Beachtung fanden auch Langes Überlegungen zur Aburteüung von Denunzianten, die während der NS-Zeit Menschen ins Gefängnis gebracht oder dem Henker ausgeliefert hatten. Langes Konstruktion einer "mittelbaren Täterschaft" schuf eine Möglichkeit zur strafrechtlichen Verfolgung von Denunzianten, ohne auf die Kontrollratsdirektive Nr. 10 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) zurückgreifen zu müssen, die gegen den Grundsatz nulla poena sine lege verstieß. 21 Die politischen Amtsträger und die für die Rechtspflege Verantwortlichen trieb - unabhängig davon, welcher Partei sie angehörten - die Furcht vor einem Wiederaufleben des Nazismus um. Die Verurteilung der "Kriegsverbrecher" 17
Bericht über die Justiz in der Ostzone, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0048 D.
" Die Rechtsentwicklung im Lande Thüringen, in: Deutsche Rechts-Zeitschrift 1/2, 1946/47, S. 58. ö D a s Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich in der Fassung des Thüringischen Anwendungsgesetzes vom 1. November 1945 mit strafrechtlichen Einzelgesetzen. Bearb. Richard Lange, Weimar 1946. 20
§ 145e.
21 Vgl. hierzu den Aufsatz von Martin Broszat, Siegeijustiz oder strafrechtliche "Selbstreinigung". Aspekte der Vergangenheitsbewältigung der deutschen Justiz während der Besatzungszeit 1945-1949 in· VfZ 29,1981, S. 487-495.
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und "Naziaktivisten" galt als Voraussetzung für den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates. Anläßlich des ersten großen Denunziantenprozesses in Thüringen im Mai 1946 gegen Puttfarcken betonte Thüringens Generalstaatsanwalt Friedrich Kuschnitzkyin einer viel beachteten Rede, daß "Vertrauen zur Justiz" die wichtigste Grundlage für die Errichtung eines Rechtsstaates sei. Die wichtigste Voraussetzung für die Herstellung des "Vertrauens zur Justiz" sei aber die "Sühne für die Verbrechen der Hitlerzeit". 22 Die meisten Denunzianten wurden bis 1947 freilich nicht von deutschen Gerichten zur Rechenschaft gezogen, sondern den örtlichen NKWDStellen übergeben, die weisungsgemäß von den deutschen Behörden die Ermittlungsakten zugesandt bekamen.23 Daß der NKWD zur gleichen Zeit, als er die Verfolgung von NS-Denunzianten aufnahm, dabei war, ein dichtes Netz von Spitzeln in Thüringen aufzubauen, war kein Thema, über das man offen sprach. Durch eine konsequente Entnazifizierung der Richter- und Staatsanwaltschaft hoffte man, sicher zu gehen, daß die Richter und Staatsanwälte Thüringens, die nach 1933 mit den Funktionären der NSDAP in engem Einvernehmen gestanden hatten,24 in Zukunft den Postulaten der Demokratie Rechnung trugen. Bereits im Oktober 1945 erklärte der Präsident des Oberlandesgerichts in Gera Arno Barth, der zugleich Leiter der Abteilung Justiz in der Präsidialkanzlei war, daß es in der Thüringischen Justiz "keine Nazis" mehr gebe.25 Zumindest für die leitenden Stellen in der Justizverwaltung und an den Gerichten traf dies auch zu. Da die Mehrzahl der Richter sich dem Nationalsozialismus allzu willfährig angedient hatte, war man ähnlich wie im Nachbarland Hessen bestrebt, die Mitwirkung der Laien an der Rechtsprechung zu verstärken. So sah das Gerichtsverfassungsgesetz vom 5. Dezember 1945 vor, daß die kleinen Strafkammern an den Landgerichten mit einem Vorsitzenden Berufsrichter und zwei Schöffen, die großen Strafkammern mit zwei Berufsrichtern und drei Schöffen zu besetzen waren. 26 Gegenüber den früheren Regelungen überwiegte nun das Laienelement. Die großen Kontroversen über die Ausbildung von Volksrichtern, die in Thüringen höchst umstritten war, wurden in der Literatur bereits ausführlich dargestellt.27 Seit 1948 wurden auch in Thüringen forciert Volksrichter 22
Rede wiedergegeben, in: Thüringer Volk vom 10.5.1946.
23 Bericht Kuschnitzkys an Paul vom 22.2.1946 über seine am 19.2.1946 mit Kolesnitschenko getroffene Vereinbarung über die Strafverfolgung von Denunzianten, ThHStAW, Akten des MdJ 606; Rundschreiben Nr. 40/46 des OLG-Präsidenten Barth vom 23.2.1946. Ebd. 503. 24
Ralph Angermund, Deutsche Richterschaft 1919-1945, Frankfurt am M., 1990, S. 264.
25
Schreiben Barths an Paul vom 30.10.1945, ThHStAW, Akten des MdJ 83.
26
Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung des Gesetzes über die Anwendung des Gerichtsverfassungsgesetzes in dem Lande Thüringen vom 5.12.1945. Zusammengestellt von der Gesetzgebungsabteilung des Präsidialamtes, Weimar 1946, S. 20. Es handelt sich um § 76 des genannten Gesetzes. 27 Helga Welsh , Revolutionärer Wandel auf Befehl? Entnazifizierung und Personalpolitik in Thüringen und Sachsen 1945-1948, München 1989, 5. 151-158; vgl. auch den Beitrag von Hermann Wentker in diesem Band.
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als Strafrichter eingesetzt. Strikt abgelehnt wurde von Thüringens Justizverantwortlichen die Bildung von Volksgerichten. Anfang Oktober erwirkte Barth einen Befehl der SMATh, das einzige Volksgericht Thüringens in Zeulenroda aufzulösen.28 Die Justiz Thüringens sollte u.a. durch die verstärkte Mitwirkung der Laien an der Rechtsprechung demokratisiert werden, sozialistische Experimente jedoch waren nicht gefragt. Kennzeichen eines demokratischen Rechtsstaates ist der Schutz der individuellen Freiheitsrechte. Die Freiheit der Bürger gegen obrigkeitsstaatliche Übergriffe zu sichern, gehörte seit ihrer Eirichtung im 19. Jahrhundert zur Aufgabe der Verwaltungsgerichte. Unter seinem Präsidenten Hellmuth Loening nahm am 22. Juni 1946 das Oberverwaltungsgericht in Jena als erstes Verwaltungsgericht der SBZ seine Tätigkeit auf. Damit habe sich Thüringen "bewußt auf den Boden des Rechtsstaates gestellt", erläuterte Karl Schultes,29 der in der bald aufbrechenden Kontroverse über Aufgabe und Kompetenzen der Verwaltungsgerichte zu einem Widersacher Loenings werden sollte. Um einen umfassenden Individualrechtsschutz zu gewährleisten, hatte Thüringen als einziges Land der SBZ der Verwaltungsrechtsprechung eine Generalklausel zugrundegelegt, nach der grundsätzlich alle Verfügungen anfechtbar waren, durch die sich ein Kläger in seinen Rechten verletzt fühlte. Im ersten Jahr seines Bestehens sah das Jenaer Oberverwaltungsgericht seine Aufgabe vor allem darin, einer mißbräuchlichen Anwendung des Begriffs des Staatsnotstandes, der nach Ansicht Loenings mit dem Rechtsstaat unvereinbar war, Einhalt zu gebieten und einer Instrumentalisierung des Reichsleistungsgesetzes zu einer allgemeinen Enteignung einen Riegel vorzuschieben.30 Die SED erblickte schon bald in dem Jenaer Oberverwaltungsgericht einen Hort der Reaktion, der ihre revolutionären Wirtschafts- und Gesellschaftspläne gefährdete. Am 7. Oktober 1948 verabschiedete der Thüringer Landtag gegen die Stimmen der CDU und LDP ein von der SED schon längere Zeit vorbereitetes Verwaltungsgerichtsgesetz, dessen Bestimmungen denen der übrigen Länder der SBZ angepaßt waren und sich wie dort auch als "glatte Rechtlosmachung" der Bürger auswirkten. 31 Die Generalklausel
24 Vermerk über die Besprechung des Majors Jeroma mit Herrn Oberlandesgerichtspräsident Dr. Barth am 5.10.1945, ThHStAW, Akten des MdJ 74. 29 Karl Schultes, Gesetzgebung und Rechtsentwicklung im Lande Thüringen vom 8. Mai 1945 bis 31. Dezember 1946, Weimar 1947, S. 10. 30 Rechtsprechung. Zum Reichsleistungsgesetz, in: Archiv des öffentlichen Rechts 74, 1948, S. 78-94; Jahrbuch der Entscheidungen des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts 18, 1946/47, insbesondere, S. 18/19. 31 So in einem Bericht (Thüringer Landtag) eines Informanten des Ostbüros der SPD, der in dem für Verwaltungsstreitfälle zuständigen Thüringer Landtagsausschuß mitgearbeitet hatte. AdsD, SPD-PVOstbüro 0039/0041 ; der verabschiedete Gesetzentwurf über die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist abgedr. in: Hellmuth Loening, Kampf um den Rechtsstaat in Thüringen. Eine dokumentarische Zusammen-
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wurde zugunsten des Enumerativprinzips abgeschafft. Verwaltungsstreitverfahren waren jetzt nur noch dort zulässig, wo das Gesetz es ausdrücklich vorsah. Wenn der zuständige Vertreter des Innenministeriums - das nun die Aufsicht über die Verwaltungsgerichtsbarkeit hatte - feststellte, daß für den Streitfall kein öffentliches Interesse vorlag, versandete die Klage bei der Behörde, die die Interessen der Verwaltung, gegen die der Bürger sein Recht einklagte, verfocht. Der Jenaer Staatsrechtler Martin Draht hatte, unterstützt von Karl Schultes, der Aushöhlung des Rechtsschutzes durch die SED entgegenzuwirken versucht, indem er den Landtag mit der Verwaltungskontrolle betraute.32 Nach dem im Oktober verabschiedeten Verwaltungsgerichtsgesetz konnte der Landtag jeden Streitfall an sich ziehen, in der Praxis jedoch nur, wenn der Vertreter des Innenministeriums den Streitfall dem Landtag zuleitete.33 Drahts Plan, den Landtag in die Verwaltungskontrolle einzuschalten, hätte allenfalls dann Erfolg gehabt, wenn, wie Draht das auch vorgeschlagen hatte, dem Landtag die Verwaltungsgerichtsbarkeit unterstellt worden wäre 34 - einem Landtag freilich, der in einer Atmosphäre der Freiheit seine Entscheidungen fällte. Oberverwaltungsgerichtspräsident Loening sah den "Kampf um den Rechtsstaat" verloren und machte neben Draht Karl Schultes dafür verantwortlich. 35 Draht fühlte sich zu Unrecht angegriffen und verteidigte seine Vorschläge als eine Politik des kleineren Übels, mit der er auf das von der SED ausgesprochene Verdikt über die Verwaltungsgerichtsbarkeit reagiert habe.36 Schultes hatte Drahts Pläne gefördert. Als ein Mann aber, der von sich selbst sagte, daß er "ganz auf dem Boden der sozialistischen Revolution" stehe,37 bestärkte er zugleich die SED in ihrer Auffassung, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit eine "Waffe der Reaktion" sei, um den sozialistischen Neuaufbau zu verhindern. 38 Ein umfassender Rechtsschutz durch Verwaltungsgerichte vertrug sich nur schlecht mit der Absicht, die Gesellschaft revolutionär zu verändern. Ulbricht war im Grunde nur konsequent, wenn er dagegen intervenierte, daß Thüringens Regierungschef Paul im Regierungsblatt einen Stellung zur Entstehungsgeschichte des Thüringer Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetzes vom 7. Oktober 1949, in: Archiv des öffentlichen Rechts 75,1949, S. 63-71. * Schreiben Martin Drahts an Hellmut Loening (o.D.), in: Archiv des öffentlichen Rechts 75, 1949, S. 124-128. 33
So der Bericht des in Anm. 31 erwähnten Informanten des SPD-Ostbüros.
"Gutachten Martin Drahts, Zur Kontrolle der Verwaltung durch das Parlament, IfZ, NL Schultes 30. 31
Loening, Kampf um den Rechtsstaat, S. 58.
36
Brief Martin Drahts an Hellmuth Loening, in: Archiv des öffentlichen Rechts 75,1949,124-128.
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Brief Schultes' an Hans Oberländer vom 5.12.1948, IfZ, NL Schultes 10.
31 Entwurf Schultes* zur Ausführungsverordnung des Kontrollratsgesetzes Nr. 36 über Verwaltungsgerichte, IfZ, NL Schultes 30; Ausführungen Schultes' zum Külz-Bericht im Landtag (1947). Ebd 25.
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Artikel veröffentlichte, in dem er unter der Überschrift "Thüringen ist ein Rechtsstaat" willkürlichen Eingriffen in die Wirtschaft Einhalt zu gebieten suchte.39 Thüringen ist ein Rechtsstaat - das war auch in den Jahren 1946/47, als es in Thüringen noch eine als vorbildlich geltende Verwaltungsrechtsprechung gab, Postulat, aber nicht Wirklichkeit. Bei der Bodenreform und bei der Sequestrierung des Vermögens von "Kriegsverbrechern" und "Naziaktivisten" blieb der Rechtsweg ausgeschlossen. Die Landeskommissionen zur Durchführung der Bodenreform und der Sequesterbefehle 124 und 126 unterstanden zunächst dem 1. Vizepräsidenten, später dem Innenminister - Ämtern, die fest in der Hand der KPD bzw. der SED waren. Weder die Bodenreform noch die Sequestrierung verlief nach rechtsstaatlichen Grundsätzen. Während der Durchführung der Bodenreform wurden "Junker" und "Großgrundbesitzer" von der Polizei in "Schutzhaft" genommen und zum Teil später ausgesiedelt, ohne daß sie den Schutz der Gerichte in Anspruch nehmen konnten.40 Auch Verfügungen der Verwaltung, die zum Regierungsakt erklärt wurden, konnten von den Bürgern Thüringens nicht auf gerichtlichem Wege angefochten werden. Im Januar 1947 trat in Thüringen ein Gesetz in Kraft, nach dem der ordentliche Rechtsweg und das Verwaltungsstreitverfahren bei Maßnahmen der öffenüichen Gewalt gegen "Nazismus und Militarismus", die in der Zeit vom 8. Mai 1945 bis 20. November 1946 erfolgten, ausgeschlossen war. Die SMATh hatte bei der Genehmigung des Gesetzentwurfs die Terminbegrenzung 20. November 1946 gestrichen. Schultes wie auch die meisten führenden Richter des Landes beharrten einstweilen trotz der Intervention der sowjetischen Besatzungsmacht auf der Ansicht, daß der Verwaltung nicht auch für die Zukunft ein "Freibrief geschaffen werden dürfe. Die Terminbegrenzung sollte für die Rechtsprechung maßgebend sein.41 Das Sagen hatte jedoch die sowjetische Besatzungsmacht. Ihre Befehle entzogen sich jeder gerichtlichen Nachprüfung. Die Autonomie der Länder war begrenzt, weil die Befehle der SMAD Vorrang vor der Ländergesetzgebung hatten. Sie wirkten zentralisierend, zumal auch die SED in enger Übereinstimmung mit der sowjetischen Besatzungsmacht auf eine einheitliche Ländergesetzgebung drängte. So mußten die Thüringer unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht ihren eigenen Gesetzentwurf zur Bodenreform zurückziehen. Die Eingriffe der SMATh in die Rechtspflege waren zahlreich, zunächst aber recht willkürlich, abhängig von der Lust und Laune des jeweiligen Kreis- oder Stadtkommandanten. Ab Mitte 1946 schaltete sich wiederholt der Verwaltungschef der SMATh Kolesnitschenko ein und 39
Unveröffentlichter Artikel Pauls, IfZ, NL Schultes 25; zu Ulbrichts Intervention vgl. Jürgen John, Vorgeschichte und Hintergründe der Thüringischen Landesverfassung von 1946, in: Thüringische Forschungen. Festschrift für Hans Eberhardt zum 85. Geburtstag am 25. September 1993, hrsg. Michael Gockel/Volker Wahl, Weimar, Köln, Wien 1993, S. 572. 40
Schreiben Kuschnitzkys an Paul vom 14.12.1945, ThHStAW, Büro des Ministerpräsidenten 1886; Geschichte der Deutschen Volkspolizei, Bd. 1: 1945-1961, 2. Aufl. Berlin 1987, 5.61. 41
Schreiben Schultes' an Paul vom 14.1.1947, ThHStAW, Büro des Ministerpräsidenten 1864.
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schrieb die zu verhängenden Strafen bei mangelnder Erfüllung der Ablieferungspflicht oder Nichterfüllung der Reparationslieferungen vor. Landräten, die für die Erfüllung des Ablieferungssolls nicht genügend Sorge trugen, drohte ebenso das sowjetische Militärtribunal wie Richtern, die entgegen den Erwartungen der SMATh die Beschuldigtenfreisprachen. 42Als Oberlandesgerichtspräsident Arno Barth Ende 1946 in einem Justizausspracheabend die Eingriffe der SMATh in die Rechtspflege zur Sprache brachte, bekam er von der SMATh eine Geldstrafe von dreihundert Reichsmark auferlegt. 43 Zwei Jahre später hätte ihm die gleiche Kritik vermutlich seine Stelle gekostet. Die Eingriffe und Übergriffe der sowjetischen Besatzungsmacht auf dem Felde der Justiz nahmen nicht ab, sondern zu. Zunächst unterschieden sich ihre Oktrois und Sanktionen kaum von denen der Besatzungsmächte in den westlichen Zonen. In Württemberg-Hohenzollern bespielsweise hatte die französische Besatzungsmacht im Sommer 1945 Gebhard Müller mit der Todesstrafe gedroht, falls er ihren Personalvorschlägen beim Wiederaufbau der Justiz nicht nachkomme.44 Aber im Westen gab es keinen NKWD, der politische Gegner unschädlich machte. Kontrollratsdirektive Nr. 38 bot den sowjetischen Repressivorganen nicht nur die rechtliche Handhabe, um gegen "Kriegsverbrecher" und "Naziaktivisten" vorzugehen, sondern auch um politische Gegner in Internierungslagern verschwinden zu lassen oder vor Militärtribunale zu stellen.45 Die Ermittlungsakten über NS-Verbrecher wurden ebenso wie die über politische Gegner vereinbarungsgemäß von den Thüringer Gerichtsbehörden dem NKWD überstellt. 46 Die für die Justiz Verantwortlichen Thüringens standen in den Jahren 1945/46 in einem engen Meinungsaustausch mit dem NKWD. Erst danach kam es zu regelmäßigen Beratungen mit dem Leiter der Rechtsabteilung der SMATh Schur bzw. Jakupow.47 Wer aus politischen Gründen verhaftet worden war und vor ein Thüringer Gericht gestellt wurde, konnte von Glück reden. Es wäre schon eine Beruhigung, "zu wissen, daß ein ordentliches Gerichtsverfahren zustandekommt", schrieb der von der sowjetischen Besatzungs42 Z.B. Befehl des Chefs der Verwaltung der SMATh Nr. 338 vom 18. Juli 1946 oder Befehl vom 3. Juni 1946, ThHStAW, Akten des MdJ 75; Schreiben des OSTA Eisenach an den Generalstaatsanwalt in Gera vom 20.10.1947. Ebd. 234. 43
Schreiben Külz' an Barth vom 18.11.1946, ThHStAW, Büro des Ministerpräsidenten 1863.
44 Handschriftliche Notizen Gebhard Müllers über eine Besprechung mit Oberbürgermeister Renner am 27.9.1945, HStAS, Persönliches Archiv Gebhard Müller B2/2. 45
Allg. hierzu Leonid Pawlowitsch Kopalin, Die Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer politischer Verfolgung. Reihe Gesprächskreis Geschichte der FES Heft 10, Bonn 1995. 46 Bericht des Generalstaatsanwaltes in Gera an Präsident Paul vom 22.2.1946, ThHStAW, Akten des MdJ 606. 47 Anlage zum Protokoll über die 50. Regierungssitzung am 8.12.1947, ThHStAW, Büro des Ministerpräsidenten 1865.
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macht abgesetzte erste thüringische Regierungschef Hermann Louis Brill Ende 1947, als er sich um die Freilassung des wegen angeblicher Spionage Ende 1945 nach Buchenwald abtransportierten Generalsekretärs der Industrie- und Handelskammer Thüringens Ernst Heißmann einsetzte. Friedrich Sarow, von 1945-1947 Mitarbeiter der "Tribüne" in Weimar, sollte Grotewohl ausrichten, "daß wir in Bezug auf die Ansprüche, die wir an die Sicherheit der Person in der Ostzone stellen dürfen, bescheiden genug geworden sind, um mit einer Gerichtsverhandlung schon zufrieden zu sein".48 Im August 1947 erging der SMAD-Befehl 201, durch den die Aburteilung der "Kriegsverbrecher" und "Naziaktivisten" deutschen Gerichten überantwortet wurde, die, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, zugleich zum richtigen Gebrauch der Kontrollratsdirektive Nr. 38 erzogen werden sollten. Den russischen Besatzern war es schon lange ein Dorn im Auge, daß die Thüringer Richter zumeist nicht auf der Grundlage der Kontrollratsdirektiven und SMADBefehle aburteilten, sondern sich bei ihrer Rechtsprechung auf das weniger strenge deutsche Strafrecht beriefen. 49 Mit dem Erlaß des Befehls 201, den Thüringens Generalstaatsanwalt Kuschnitzky als eine "Synthese zwischen deutschen und russischen Rechtsauffassungen" bezeichnete,50 waren politische Hinterabsichten verbunden, wie ein vermutlich von Tulpanow gehaltener Vortrag zeigt: Man kann sagen, weshalb hat das Kommando der SMAD die Behandlung der Angelegenheiten der deutschen Nazis und Kriegsverbrecher den deutschen Gerichten übergeben? Man hat es bewußt getan, um die Gerichte schwimmen zu lassen und in der Praxis festzustellen, was sie für Schwimmer sind."51 Die SMAD hatte eine Spielwiese für die deutsche Justiz geschaffen. Die SED kritisierte im Verein mit der sowjetischen Besatzungsmacht die viel zu milden Urteile und die vielen Freisprüche in den 201er-Verfahren. Die SMAD drohte die strafrechtliche Verfolgung der NS-Verbrecher in Thüringen wieder selbst in die Hand zu nehmen.52 Von ihr wie auch von der SED wurde moniert, daß die Richter nach individueller Schuld fragten und nicht die in der Kontrollratsdirektive Nr. 38 aufgezählten Belastungskriterien, nach denen die Zugehörigkeit zu einer als verbrecherisch eingestuften Gruppe genügte, ihrer Entscheidung zugrundelegten. Was bei der Zugehörigkeit zur SS oder zur Gestapo durchaus einzuleuchten vermag, wurde problematisch bei Unternehmern, die während des Krieges Fremdarbeiter 48
Schreiben Brills an Fritz Sarow vom 8.12.1947, BÄK NL Brill N28.
* Z.B. Bericht über die Besprechung im Ministerium der Justiz am 12.12.1947, ThHStAW, Akten des MdJ 74. 50
Befriedigung des politischen Lebens, in: Thüringer Tageblatt vom 28.10.1947.
51 Undatiertes Redemanuskript Ende August/Anfang September 1947, in: Rolf Badstübner/Wilfried Loth (Hrsg.), Wilhelm Pieck, Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-1953, Berlin 1994, S.170. 52 Manfred Wille, Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945-1948, Magdeburg 1993, S. 191f.
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beschäftigt oder der NSDAP nach 1933 kleinere Spenden hatten zukommen lassen und deshalb pauschal zur Kategorie der NS-Verbrecher gezählt wurden. Auf diese Weise konnten die 201er-Prozesse zur Enteignung von Privatbetrieben mißbraucht werden. 53 Ungewollt wurde dadurch auch der Entwicklung eines Tätertypenstrafrechts, das für die Rechtsprechung der DDR-Justiz maßgebend werden sollte, Vorschub geleistet. Thüringens Richter versuchten, die Bürde der 201er-Prozesse abzuwerfen, indem sie sich krank meldeten. Man sprach von "201er-Krankheit". 54 Um zu müde Urteile zu korrigieren, bediente man sich des am 10. Oktober 1947 verabschiedeten Gesetzes über die Kassation rechtskräftiger Urteile in Strafsachen zum Teil, wo die Urteile der Schwere der in der NS-Zeit begangenen Vergehen in keiner Weise entsprachen, durchaus zu Recht.55 So stieß die Handhabung des Kassationsrechtes, dessen Einführung unter Thüringens Staatsanwälten und obersten Richter heftig umstritten war, zunächst auf weitgehende Akzeptanz. Die SED freilich verband mit der Einführung der Kassation - manchmal wurde ganz unverblümt von Nichtigkeitsbeschwerde gesprochen - weitergehende politische Absichten. Die Kassation sollte, wie Schultes unterstrich, als Hebel zur Umfunktionierung des Rechtssystems nach den Vorstellungen der SED benutzt werden: "Es soll die Möglichkeit geschaffen werden, den Versuchen der Gerichte, die demokratische Entwicklung durch formalistische Rechtsanwendung zu hemmen, entgegenzutreten und die neue demokratische Auffassung vom Recht durchzusetzen."56 Während Justizminister Külz unterstrich, daß mittels Kassation alle Fehlurteile korrigiert worden seien, so daß kein Hauptschuldiger mehr zu milde bestraft sei,57 kritisierte der Leiter der Rechtsabteilung der SMATh Schur, daß die Kassation rechtskräftiger Urteile "nicht mit der nötigen Energie und vor allem nicht in dem erforderlichen Umfange" erfolge. 58 Die SMATh drängte auf Entlassung der Richter, die in den 201er-Prozessen nicht die nötige Härte gezeigt hatten. Da Külz sich dem Ansinnen der SMATh entgegenstellte, ordnete sie die Entlassung der bei ihr in Ungnade gefallenen Richter an: "Wegen Versagen in 201-Verfahren" wurde am 30. Juni 1948 Landgerichtspräsident Asmus, von 1945 bis Frühjahr 1946 Generalstaatsanwalt in Thüringen, entlassen. Kurze Zeit später mußten aus dem gleichen Grund der Land53
Z B . Bericht Schneiders über das Strafverfahren 201 gegen Itting vom 2.12.1949, IfZ, N L Schultes
25. 54 Anlage zum Protokoll über die 50. Regierungssitzung am 8.12.1947, ThHStAW, Büro des Ministerpräsidenten 1865. 55 Eine Übersicht über die Kassationsverfahren der Jahre 1947/48 findet man, in: ThHStAW, Akten des MdJ 601. 56
Entwurf Schultes' über die Kassation vom 14.4.1947, ThHStW, Büro des Ministerpräsidenten 1864.
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Schreiben Külz' an Schur vom 2.4.1948, ThHStAW, Akten des MdJ 161.
51
Z.B. Besprechung bei Oberstleutnant Schur, 20.1.1948, ThHStAW, Akten des MdJ 74.
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gerichtspräsident in Meiningen Friedensburg und der Weimarer Landgerichtsrat Franz den Richtersessel räumen. Aus allgemein politischen Gründen mußte Karl Magen (CDU) am 30. Juni 1948 auf Anordnung der Besatzungsmacht sein Amt als Vizepräsident des Oberlandesgerichts niederlegen. Generalstaatsanwalt Friedrich Kuschnitzky (LDP) wurde im September 1948 beurlaubt, Hellmuth Loening, der kämpferische Präsident des Oberverwaltungsgerichts in Jena, floh im Sommer 1948 in den Westen. Fünf Landgerichtspräsidenten verloren 1948 ihr Amt. So wurden in diesem für die gesellschaftspolitische Entwicklung der SB27DDR so entscheidenden Jahr fast alle Richter in exponierter Stellung ausgewechselt.59 Im Mai 1948 war Helmut Külz mehr unfreiwillig als freiwillig als Justizminister zurückgetreten. Sein Stellvertreter Karl Schultes hatte einiges dazu beigetragen, daß Külz das Vertrauen der sowjetischen Besatzungsmacht verlor. 60 Das Verhältnis der beiden war im Laufe der Zeit immer gespannter geworden. Während Külz am liberalen Gewaltenteilungsprinzip festgehalten hatte, plädierte Schultes für die uneingeschränkte Souveränität des Landtages, bei dem er alle Gewalt konzentrieren wollte. Schlütes' radikaldemokratischer Standpunkt entpuppte sich als widersprüchlich und illusorisch angesichts des Machtanspruchs der SED, in deren Interesse er als "zuverlässiger SED-Mann" den Wirkungskreis des Liberalen Külz einzuschränken versucht hatte,61 was ihm auch häufig gelungen war. Külz hatte im Kampf um die Autonomie der Ländergesetzgebung einige Kontroversen mit der Deutschen Justizverwaltung in Berlin ausgefochten, war aber im Grunde ein schwacher Minister, der sich von Schultes vieles aus der Hand nehmen ließ und von den obersten Richtern des Landes des öfteren übergangen wurde. 62 Bei der sowjetischen Besatzungsmacht hatte er lange Zeit antichambriert, Kritik an ihren Maßnahmen nicht zugelassen, ihre Eingriffe in die Rechtspflege bewußt heruntergespielt. 63 Külz' Nachfolger Hans Loch, wie sein Vorgänger der LDP zugehörig, war ein "willfähriger Salonkommunist",64 der gegen den Willen seiner Partei von der SMA auf den Sessel des Justizministers befördert worden war. Schultes hatte die Ernennung des neuen Justizministers begrüßt und unterstützt, weil er glaubte sich unter Loch, dem die Parteikarriere wichtiger als die Sorge um die Justiz war, voll entfalten zu kön59 Vermerk: Veränderungen im Personalwesen der Justiz (vertraulich), IfZ, NL Schultes 26; Die personelle Erneuerung der Justiz in Thüringen. Bericht über die Entwicklung vom 8. Mai bis 31.12.1948. Ebd. ω
Schreiben Schultes' an den Landesvorsitzenden der SED vom 25.8.1948, IfZ, NL Schultes 36.
61
Schreiben Schultes' an das Sekretariat des Landes Vorstandes der SED vom 16.10.1947. Ebd.
c
Z.B. Schreiben Külz' an Barth vom 3.6.1947, ThHStAW, Akten des MdJ 75.
63
Ausführungen Külz! in der Landtagssitzung am 10.10.1947; Stenographischer Bericht des Thüringer Landtags vom 10.10.1947, S. 654. 64 So charakterisiert in einem Bericht eines ehemaligen Thüringischen Ministerialdirektors vom 17.9.1949, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0038.
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nen.65 Seine Hoffnung stellte sich als fataler Irrtum heraus. Er wurde das Opfer der Entwicklung, die er selbst eingeleitet und lange Zeit gefördert hatte. Von den personellen Säuberungen und Revirements im Justizapparat, denen er sich seit Ende 1948, ohne von Loch Rückhalt zu bekommen, wiederholt entgegenstemmte, blieb auch er nicht verschont. 1950 flüchtete er in den Westen. Die von der SMA im Verein mit der SED vorgenommenen personellen Säuberungen im Justizapparat im Jahre 1948 waren nur eine, freilich eine unabdingbare Voraussetzung für die Transformation der Justiz zu einem politischen Repressionsinstrument. Sie gingen einher mit einer schrittweisen Entmachtung der Justiz, die immer mehr unter die Kontrolle des Innenministeriums und der Polizei geriet, und der Zentralisierung der politischen Gewalt bei der Deutschen Wirtschaftskommission, die in den Landeskontrollkommissionen willfährige Helfer zur Durchsetzung ihrer wirtschaftspolitischen Ziele fand. SMAD-Befehl 201 hatte auch im Hinblick auf den Machtzuwachs der Polizei eine ungute Entwicklung eingeleitet. In den 201er-Verfahren konnte die Polizei als Anklagebehörde fungieren, sie verfaßte die Anklageschriften, die von der Staatsanwaltschaft nur noch zu bestätigen waren. Für die Durchführung des Befehls waren in den Ländern der Justiz- und Innenminister gemeinsam zuständig.66 Von Anfang an hatte die Thüringer Polizei Befehl 201 als ihre "Geheimsache" betrachtet, wobei sie sich die Ansicht zu eigen machte, daß die "Aufgaben die der Polizei durch den Befehl zugefallen sind, nur durch die Polizei (zu) lösen" seien.67 Der SED konnte an einer Machtsteigerung der Polizei gegenüber der Justiz nur gelegen sein. Hatte sie doch auch in Thüringen gleich 1945/46 die leitenden Stellen innerhalb des Polizeiapparats mit ihren Leuten besetzt. Die Polizei ging 1948 immer mehr zu einer offenen Brüskierung der Justiz über. Festgenommene wurden wochenlang in Untersuchungshaft gehalten, ohne daß die Staatsanwaltschaft überhaupt wußte, daß eine Festnahme erfolgt war. Auch wenn der zuständige Richter einen Haftbefehl ablehnte, wurde der Beschuldigte, falls dessen Inhaftierung weiterhin im Interesse der Polizei lag, nicht aus der Polizeihaft entlassen.68 Vertreter der SED schreckten nicht einmal davor zurück, polizeiliche "Schutzhaft" zu verhängen.69 Anfang 1949 hatte die Thüringer Landespolizeibehörde die Chuzpe und die Macht, ihre Praxis, die rechtsstaatlichen Grundsätzen geradezu Hohn sprach, zu legalisieren. In einem Rundschreiben vom 25. Februar dekretierte sie, daß bei Differenzen in der Auffassung über die "Notwendigkeit einer Maßa
Schreiben Schultes' an den Landesvorsitzenden der SED vom 25.8.1948, IfZ, NL Schultes 36.
* Ausführungsbestimmungen Nr. 3 zum Befehl Nr. 201 vom 16.8.1947, in: Entnazifiziemngspolitik der KPD/SED 1945-1948. Hrsg. Ruth-Kristin Rößler, Goldbach 1994, S. 158. * Bericht Erich Mielkes über den Stand der Durchführung des Befehls Nr. 201, in: ebd., S. 196. * Bericht aus Thüringen vom 20.11.1949, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0048 D. ® Manuskript (Abschrift) Schuhes' vom 20.4.1948, IfZ, NL Schultes 23.
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nähme", "z.B. Inhaftierung eines Wirtschaftsverbrechers", "der Beschuldigte nach Ablehnung des Haftbefehls durch den Untersuchungsrichter, falls die Polizei die Inhaftierung nach wie vor für erforderlich hält, in Polizeigewahrsam zu nehmen und auf dem kürzesten Wege die LKPA Weimar in Kenntnis zu setzen (ist), die ihrerseits mit dem Herrn Minister des Innern und über diesen mit dem Herrn Minister der Justiz bzw. dem Herrn GSTA in Verbindung tritt." 70 Justizminister Lochs Protest gegen den Ukas der Landespolizeibehörde war äußerst verhalten. Er schloß sich sehr schnell und bereitwillig dem Vorschlag Innenminister Gebhardts an, nach dem der Innen- und Justizminister in letzter Instanz über den Erlaß eines Haftbefehls gemeinsam zu entscheiden hatten.71 Der Justizminister Thüringens verstand sich mehr und mehr nur noch als der Juniorpartner des Innenministers, der sich u.a. seit den im November 1948 in Thüringen geltenden Bestimmungen über die Wahl der Schöffen und Geschworenen auch in die Schöffenauswahl einschalten konnte.72 Es entstand eine Polykratie, innerhalb der sich das Innenministerium, das Justizministerium, die Polizei und die Landeskontrollkommission die Macht teilten und sich gegenseitig kontrollierten, wobei der Justiz der schwächste Part zufiel. Sie argumentierte aus der Defensive, wenn auf gemeinsamen Tagungen über Strategien der Verbrechensbekämpfung, die Entwicklung der Justiz oder die Inszenierung von Schauprozessen beratschlagt wurde. 73 Vom Rechtsstaat Thüringen war auf diesen Tagungen nie die Rede. Bei den Prozessen, die zur Diskussion standen, handelte es sich fast ausschließlich um Prozesse gegen sogenannte "Wirtschaftsverbrecher". Die Polizei arbeitete mit der Landeskontrollkommission Hand in Hand, wenn es darum ging, einem Unternehmer oder einem Einzelhändler ein "Wirtschaftsverbrechen" anzuhängen, um den Betrieb "volkseigen" zu machen oder ein Einzelhandelsgeschäft der HO einzuverleiben. Die Volkskontrollausschüsse hatten sich seit Herbst 1947 zu einem Schrecken der Bevölkerung entwickelt. Im Zusammenhang mit SMADBefehl 234 vom 9. Oktober 1947 über Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter fiel ihnen die Aufgabe zu, in allen Betrieben und Verwaltungen Prüfungen vorzunehmen. Sie sollten den Kampf gegen Schwarzhandel und Warenhortungen aufnehmen, aus dem unterderhand ein Kampf gegen Unternehmer und Betriebsleiter, Einzelhändler und Gewerbetreibende wurde. Die Presse erhielt entsprechende Berichte, die zu Vorverurteilungen führten. Gegen Richter und Staatsanwälte, die den Straf70 Rundschreiben Nr. 571, Ministerium des Innern-Landespolizeibehörde vom 25.2.1949, ThHStAW, Akten des MdJ 599. GSTA ist die Abkürzung vpr Generalstaatsanwalt 71 Schreiben Lochs an Ministerium des Innern-Landespolizeibehörde vom 24.3.1949. Ebd; Bericht: Thüringisches Justizministerium (wie Anm. 10). 72 Vgl. Verordnung zur Ausführung des Gesetzes über die Wahl der Schöffen und Geschworenen vom 19.11.1948, ThHStAW, Büro des Ministerpräsidenten 1867. 73 Ein Teil der Niederschriften über die gemeinsamen Beratungen befinden sich, ThHStAW, Akten des MdJ 599.
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antragen der Kontrollkommission nicht zu folgen gewillt waren, wurde ein Feldzug gestartet, der mit Beschimpfungen in der Presse begann und des öfteren mit der Entlassung des Angegriffenen endete. Der Vorsitzende der Thüringer Landeskontrollkommission Stornier mahnte im März 1948 ganz unverblümt: "Wir müssen die Kämpfe gegen unsere Staatsanwälte eröffnen, um zum Sprachrohr des Volkes zu werden. Das bezieht sich besonders auf Eisenach, Gera, Schleiz und Rudolstadt".74 Störmers Kampfansage war keine leere Drohung. Oberstaatsanwalt Neumann in Gera, der der Landeskontrollkommission wegen seines "völlig volksfremde(n) und reaktionäre(n) Verhalten(s)" schon des öfteren Anlaß zu Empörung gegeben hatte, unterschrieb die Anweisung zur Rückgabe von 6.000 Zigarren an einen Zigarrenhändler, der aufgrund eines Gerichtsbeschlusses die zuvor von der Kriminalpolizei beschlagnahmten Zigarren zurückerhalten sollte. Die Landeskontrollkommission forderte daraufhin im Mai 1948 "Maßnahmen" gegen Neumann.75 Mit Unterstützung des Abteilungsleiters Justiz des Landesvorstandes der SED, Otto Hauschild, erreichte sie ihr Ziel. Neumann ein "sehr rüstiger Herr" von 60 Jahren wurde aus "gesundheitlichen Gründen" in den Ruhestand versetzt.76 Otto Adam, Volksstaatsanwalt in Rudolstadt und Mitglied der SED, drohte die Entlassung, weil er nach Ansicht der Landeskontrollkommission in einem Fleischvergiftungsprozeß den falschen Hauptschuldigen angeklagt hatte. Der von der Landeskontrollkommission ausersehene Hauptschuldige war völlig schuldlos. Daß Otto Adam Staatsanwalt in Rudolstadt bleiben konnte, hatte er Schultes zu verdanken, der sich bei der SMATh für ihn verwandte. 77 Neumann und Adam waren nicht die beiden einzigen Richter und Staatsanwälte, die auf der Abschußliste der Landeskontrollkommission standen. Seit September 1948 hatten die Zentrale Kontrollkommission sowie die Landeskontrollkommissionen das Recht, "falls begründeter Verdacht strafbarer Handlungen vorliegt, die Polizei bzw. die Justiz verpflichtend zu beauftragen, Personen festzunehmen und Sachen sicherstellen zu lassen".78 Die Thüringer Kontrolleure, die auf dieses Recht insistierten, spürten 1949 1752 Fälle angeblicher Wirtschaftsvergehen auf, in 162 Fällen kam es zu Gerichtsverfahren, die offiziellen Angaben
74 Protokoll über die Sitzung des Landeskontrollausschusses am 16.3.1948, ThHStAW, Akten des MdJ 77. 73
Protokoll über die Sitzung des Landeskontrollausschusses am 14.5.1948. Ebd.
76
Bericht aus Thüringen vom 20.11.1949, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0048 D.
77 Schreiben Otto Adams an Schultes vom 25.7.1949, IfZ, NL Schultes 25; Bericht: Thüringisches Justizministerium, S. 6, (wie Anm. 10). 71
Anordnung über die Aufgaben der ZKK bei der DWK, der Landeskontrollkommission bei den Landesregierungen und der Kontrollbeauftragten bei den Kreisen und kreisfreien Städten der SBZ Deutschlands vom 1.9.1948, in: Thüringische Rechtskartei. Hrsg. Karl Schultes, Loseblattsammlung.
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zufolge in 51 Fällen zu Geschäftsschließungen führten. 79 Da auch die Verwaltungsbehörden Geldstrafen bis zu 100.000,-- D M wegen Wirtschaftsvergehen verhängen konnten, ließen sich die Geschäftsschließungen ebenso auf kaltem Wege erreichen, 80 so daß die tatsächliche Zahl der Geschäftsschließungen höher gelegen haben dürfte. 1949 war nicht der Höhepunkt, sondern lediglich der Auftakt für eine unendliche Reihe von Wirtschaftsprozessen in Thüringen, bei denen fast immer die Landeskontrollkommission die Hände im Spiel hatte, die auch die Prozesse zu steuern versuchte. Der Vorsitzende der Thüringischen Kontrollkommission, der seit 1949 an allen Kabinettssitzungen beratend teilnahm, scheute sich nicht, ganz offen vor dem Landtag über seine Interventionen beim Generalstaatsanwalt und beim Präsidenten des Oberlandesgerichts wegen der "ungenügenden" Bearbeitung der übergebenen Strafsachen zu berichten. 81 Bis 1949 konnte, wer in erster Instanz verurteilt worden war, hoffen, beim Oberlandesgericht in Gera sein Recht zu finden. Mit dem Tod Arno Barths im November 1949 und der Bildung des Obersten Gerichts der DDR schwand auch diese Möglichkeit, sich gegen Rechtsbeugung zu wehren. 82 Die Justiz vermochte nicht, die Untaten der Landeskontrollkommission zu bremsen. Im April 1949 mußte das Justizministerium sogar eine dreitägige Kontrolle durch die Landeskontrollkommission, das Innenministerium und die zuständigen Stellen der sowjetischen Besatzungsmacht über sich ergehen lassen.83 Die SED hatte mit Lob für die Arbeit der Kontrollkommission nicht gespart und ihr jede Unterstützung zuteil werden lassen, mußte aber nun feststellen, daß sie immer mehr ihrer Führung entglitt. 1950 stieß der 1. Landessekretär der SED Mückenberger wiederholt mit dem Vorsitzenden der Landeskontrollkommission Eberling zusammen, der eigenmächüg SED-Funktionäre hatte verhaften lassen. Mückenberger gab zu verstehen, daß er "keine Funktionärsfabrik" habe.84 Er fürchtete Kaderverluste, vergleichbar denen in der Sowjetunion in den dreißiger Jahren. Die Machtträger in Thüringen, die Druck auf die Justiz ausübten, waren alle in der SED, aber die SED war nicht die einzige Schaltzentrale, die die Justiz steuerte. Innerhalb des sich entwickelnden Einparteienstaates hatten sich polykratische Formen der Herrschaftsausübung gebildet. 79 Bericht Eberlings in der Landtagssitzung am 31.3.1950. Stenographischer Bericht des Thüringer Landtags, 31.3.1950, S. 1858. 10
Schreiben Barths an das Ministerium der Justiz vom 5.3.1949, ThHStAW, Akten des MdJ 236.
11
Bericht Eberlings. Stenographischer Bericht des Thüringer Landtags, 31.3.1950, S. 1857.
c Zu den Revisionsverfahren am Oberlandesgericht Gera und deren kritischer Beurteilung durch die SED vgl. Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1945-1949. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Hilde Benjamin, Berlin 1976, S. 282f. 83
Erklärung Schultes' o.D., IfZ, NL Schultes 3.
84
Strömungen der SED Thüringen, Bericht vom 30.4.1951, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 03301.
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Seit Ende der vierziger Jahre bis Mitte der fünfziger Jahre waren Thüringens Gerichte mit Prozessen wegen "Wirtschaftsvergehen" ausgelastet und überlastet. In einem programmatischen Vortrag "Justiz und Zweijahresplan" hatte Justizminister Loch 1948 die Unterstützung der wirtschaftspolitischen Forderungen und Ziele der Deutschen Wirtschaftskommission zu einer Aufgabe der Justiz erklärt. 85 So erstaunt es nicht, daß die Prozesse in den einzelnen Ländern der SBZ/DDR nach dem gleichen Muster verliefen, der Gegenstand der Anklage ein und derselbe war. Dem Prozeß gegen die "Textilschieber" in Glauchau Meerane folgte einige Monate später der Prozeß gegen die Textilindustriellen in Greiz. 86 Die unter maßgebender Beteiligung des Thüringer Innenministeriums in Angriff genommene Enteignung der Hotels und Pensionen in Oberhof in den Jahren 1950/51 fand ihre Fortsetzung in der "Aktion Rose", in deren Verlauf im Frühjahr 1953 an der Ostsee über 400 Hotels und Pensionen beschlagnahmt wurden. 87 Dem großen Schauprozeß gegen leitende Raiffeisen-Genossenschafter in Güstrow schloß sich im Januar 1951 ein Prozeß gegen neunzehn Angehörige der Thüringer Raiffeisen-Hauptgenossenschaft und der Landesgenossenschaftsbank in Erfurt an. Beide Prozesse wurden mit dem Ziel geführt, die Raiffeisen-Genossenschaften der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe einzuverleiben.88 Anderthalb Jahre, nachdem das Oberste Gericht leitende Ingenieure des im Zwickauer Kohlenrevier gelegenen Martin-Hoop-Werkes für eine dort ausgebrochene schwere Brandkatastrophe verantwortlich gemacht und als "Saboteure" verurteilt hatte, stand im Dezember 1953 die gesamte Betriebsleitung des Kalikombinats Volkenroda vor dem politischen Strafsenat des Bezirksgerichts Erfurt. Beim Einsturz von Schächten infolge einer vom Ministerium für Industrie angeordneten rücksichtslosen Planerfüllung waren sechs Arbeiter ums Leben gekommen.89 Die Direktoren und leitenden Ingenieure des Volkenrodaer Kalikombinats mußten wie ihre Kollegen in Zwickau als Sündenböcke für eine fehlerhafte Wirtschaftsplanung herhalten. Die Leiter der Konsumstellen in Thüringen standen immer mit einem Bein im Gefängnis, weü die "planmäßige" Versorgung mit Lebensmitteln fast nie klappte und c
Hans Loch, Justiz und Zweijahresplan, in: Thüringer Tageblatt vom 7.9.1948.
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Greizer Textilschieber vor Gericht; Der zweite Tag im Greizer Textilschieber-Prozeß; Volksschädlinge erhielten gerechte Strafe, in: Thüringer Volk vom 6., 7., 8.9.1949. 17 Zu den Prozessen gegen Hotel- und Pensionsbesitzer in Oberhof vgl. Zusammenstellung in Erscheinung getretener Vorgänge in der Strafrechtspflege, 2.12.1950, ThHStAW, Akten des MdJ Betrifft: Ministerien in Thüringen, AdsD, SPD-PV-Ostbtlro 0038; Zur "Aktion Rose" vgl. Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 59-68. U JC von der Neide, Raiffeisens Ende in der sowjetischen Besatzungszone, Hrsg. BMG Bonn 1952, S. 21-28.
® Betrifft: Bezirk Erfurt - Erster Kali-Prozeß, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0048 C; zu dem ZwickauerProzeß vgl. Rudi Beckert, Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR, Goldbach 1995, S. 97-100. 9 Timmermann
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nach den Säuberungen der Konsumstellen von ehemaligen Sozialdemokraten die neuen Leiter ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren. Uwe Johnson brachte in "Mutmaßungen über Jakob" die in der DDR herrschende Rechtsunsicherheit auf die treffende Formel: "Zwischen Staatsbürger und Staatsfeind darf man nicht eine Grenze ziehen vorher. Jedermann ist eine Möglichkeit". Die Justiz der SBZ/DDR war im Gegensatz zu der des NS-Regimes zunächst weniger ein Mittel der Herrschaftssicherung - diese Aufgabe übernahm die sowjetische Besatzungsmacht - sie hatte vielmehr den gesellschaftlichen Transformationsprozeß zu unterstützen und für dessen Widersprüche und inhumanen Folgen den Schuldigen auszumachen. Der politischen Gegner - soweit sie nicht zu "Wirtschaftsverbrechern" deklariert wurden - nahm sich bis zu Beginn der 50er Jahre noch die sowjetische Besatzungsmacht an. Einer 1962 vom VDS herausgegebenen Dokumentation zufolge wurden bis 1951 alle in Thüringen in Haft genommenen Studenten durch sowjetische Militärtribunale abgeurteüt.90 Offensichtlich fürchtete man, daß die Angeklagten den Gerichtssaal als Forum benutzten, aus der Anklage gegen den politischen Gegner eine Anklage gegen die politischen Zustände in der DDR werden könnte. Falls die sowjetischen Militärtribunale nicht die Schmutzarbeit übernahmen, sich ein publikumswirksames Delikt, das zur Inszenierung eines Schauprozesses taugte, nicht finden ließ, mußte der politische Gegner ohne Einschaltung der Justiz zum Schweigen gebracht werden. Ein relativ unbedeutender Bewohner der Gemeinde Meuselbach, Kurt Henschler, war nicht nur ein Gegner der Nationalen Front, er hatte obendrein einen Redner der SED erst in Argumentationsnot gebracht und dann auch noch lächerlich gemacht. Damit Henschler nicht die ganze Gemeinde Meuselbach "kopfscheu" machte, wollte man, wie in ähnlich gelagerten Fällen bereits früher des öfteren praktiziert, Rücksprache mit dem Arbeitsamt nehmen, das dann "in aller Kürze" den unbequemen Widersacher beim Erzbergbau unterzubringen hatte.91 Wo der Bürger ohne Rechtsschutz war, gab es vielfältige Möglichkeiten, ihn mundtot zu machen. Die Gerichte waren nur eine davon und nicht immer die wirksamste. Schauprozesse, die als Blamage endeten, diskreditierten das System, dessen Justiz bei der großen Mehrheit der Thüringer auf Ablehnung stieß. Bei den ersten großen politischen Schauprozessen verfiel man daher auf die Strategie, politische Gegner als Wirtschaftsverbrecher zu kriminalisieren. Thüringens Finanzminister Moog (LDP) warf man "Sabotage" an der von der SED betriebenen Steuer- und Finanzpolitik vor. Die Landeskontrollkommission sorgte dafür, daß der Prozeß gegen Moog vor das Oberste Gericht kam, das den ehemaligen Finanzminister Thüringens im Dezember 1950 in absentia zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilte. 92
90 Dokumentation des Terrors. Namen und Schicksale der seit 1945 in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands verhafteten und verschleppten Professoren und Studenten. Hrsg. VDS, März 1962. 91 Schreiben des SED-Kreisverbandes Jena an Ernst Schwarz, Bürgermeister von Meuselbach, vom 27.3.1950, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0338 AI.
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Gegen Heinrich Gillessen (CDU), von 1948-1950 Minister für Handel und Versorgung in Thüringen, verhängte das Landgericht Erfurt im Februar 1951 acht Jahre Zuchthaus. Gillessen, der 1950 in die Bundesrepublik geflohen war, wurde vorgeworfen, die Verwaltung seines Ministeriums nicht "volksnah" gestaltet zu haben und für die Haftentlassung der Greizer "Textilschieber" eingetreten zu sein.93 Zu Beginn der 50er Jahre im Zuge der Noeld-Field-Affäre wurde ein neues Delikt gefunden, um noch übriggebliebene sozialdemokratische und bürgerliche Opponenten auszuschalten: Spionage für den westlichen Monopolkapitalismus und Militarismus. Ende 1952 standen sieben Mitglieder der Thüringischen CDU vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Erfurt, die ihre Kontakte zum Ostbüro der CDU mit langjährigen Zuchthausstrafen bezahlten. Durch den Prozeß sollte die verbrecherische Tätigkeit des Ostbüros der CDU enthüllt werden. Die Rechnung der SED-Gewaltigen ging nicht auf. Die Nachfolgeprozesse gegen weitere oppositionelle CDU-Mitglieder mußten als Geheimprozesse geführt werden, weil die Gefahr bestand, daß die Öffentlichkeit sich mit den Angeklagten solidarisierte. 94 Die meisten politischen Prozesse fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, insbesondere Prozesse gegen Arbeiter, denn die von der SED ausgegebene Ideologie wurde durch sie Lügen gestraft. Als im Frühjahr 1952 die zwölf "Rädelsführer" der aufständischen Arbeiter der Wismut A.G. in Saalfeld vor der politischen Strafkammer des Landgerichts in Erfurt standen, hatte die Volkspolizei das Gerichtsgebäude hermetisch abgeschirmt, um Solidaritätsbekundungen mit den WismutKumpels zu verhindern. 95 Die angeklagten Aufständischen wurden zu insgesamt 111 Jahren Zuchthaus verurteilt. In einem Folgeprozeß wurden gegen zehn weitere Angeklagte 69 Jahre Zuchthaus verhängt. Die Angeklagten galten in den Augen der SED als Anführer der bei der Wismut A.G. beschäftigten, zum Teil zwangsverpflichteten Arbeiter, die im August 1951 unter dem Beifall der Saalfelder Bevölkerung das Gerichtsgefängnis in Saalfeld gestürmt und zahlreiche Häftlinge befreit hatten. Die SED reagierte auf die Rebellion in gleicher Weise, wie sie zwei Jahre später auf den 17. Juni reagierte: Die "Rädelsführer" des Bastille-Sturmes wurden als "gedungene Provokateure" diffamiert. Wie groß die Argumentationsnot der SED ® Vermerk des Ministeriums der Justiz vom 29.7.1950, ThHStAW, Akten des MdJ 231; Beckert, S. 86-89. 93 Leichtfertigkeit führte zum Verderben. Acht Jahre Zuchthaus für Dr. Gillessen, Thüringer Tageblatt vom 8.2.1951. 94 Niederschrift der Verhandlung gegen die Angeklagten Hein Toepler, Schreiner u.a. am 19720.12.1952 vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Erfurt, ACDP I I I 045/149/1, Franz Josef Kos, Der Erfurter Schauprozeß und die beiden Nachfolgeprozesse 1952/53, in: Brigitte Kaff (Hrsg.) Gefährliche politische Gegner. Widerstand und Verfolgung in der sowjetischen Zone/DDR, Düsseldorf 1995, S. 61ff. 95 Der Telegraf vom 30.4.1952. Urteil in der Strafsache gegen Herrmann R. u.a. vom 18.4.1952, TkHStAW, Akten des M d l 610.
9*
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war, zeigt ihr Rückgriff auf das Schweinehundargument: "zwei ausgesprochene Huren" wurden als Anführerinnen des Aufstandes ausgemacht.96 Der Aufstand der Wismut-Kumpel war ein Schockerlebnis für die SED. 97 Gegen den kollektiven Protest der Arbeiter war die Justiz eine nur stumpfe Waffe. Sowjetische Panzer, nicht die Furcht vor der DDR-Justiz, verhinderten das Ende des DDR-Regimes am 17. Juni 1953. Der SSD marschierte in Thüringens Betrieben oft auf. Es scheint aber, zumindest nach den für die SED traumatischen Ereignissen des 17. Juni, nur selten zu Verhaftungen gekommen zu sein.98 Die Richter und Staatsanwälte Thüringens hatten sich freiwillig oder unfreiwillig mit dem SED-Regime arrangiert. Die, die es nicht taten, standen auf der Abschußliste.99 Die Beeinflussung erfolgte seit Beginn der fünfziger Jahre zumeist indirekt durch "mündliche Fühlungsnahme", bei "Wirtschaftsverbrechen" durch die Landeskontrollkommission. 100 Auch die regimetreuen Staatsanwälte und Richter litten unter den ständigen Anweisungen und Kontrollen. Ein Informant des Ostbüros der SPD, der im Frühjahr 1952 aus intimer Kenntnis die Situation am Landgericht Erfurt schilderte, berichtete: "Besonders stark wird auf die Arbeit der Staatsanwaltschaft eingewirkt. Sie hat laufend Berichte zu liefern. Die Leute sind mit ihren Nerven total fertig, soviel wird ihnen dreingeredet." 101 Mit der Auflösung der Länder im Sommer 1952 wurde das Landgericht in Erfurt wie auch die übrigen Thüringischen Landgerichte aufgelöst. Es entstanden drei Bezirksgerichte in Erfurt, Gera und Suhl. Das Bezirksgericht in Erfurt, vor dem die meisten Wirtschafts- und politischen Prozesse abliefen, wurde schon bald zu einem Schauplatz unerbittlicher Härte und menschenverachtender Rechtsbeugung. Annemarie Grevenrath, nach 1952 Bezirks-Staatsanwältin in Erfurt, erhielt im Dezember 1953 für ihre vorbildlichen Strafanträge vom ZK der SED eine Prämie von 500,- DM. 1 0 2 Vom Rechtsstaat Thüringen sprach 1953 niemand mehr.
96
Thüringer Volk vom 24.8.1951.
97
Besprechung am 5.11.1951 und 15.11.1951, in: Badstübner/Loth, Pieck-Aufzeichnungen, S. 378f.
* Z.B. Situation in Erfurt, Bericht vom 2.11.1956, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0522 A-C; Bericht über Greiz vom 16.7.1953. Ebd. 0523 C-M; Betr. Bezirk Gera: SS D-Überprüfungen von Großbetrieben 0046 F/E. 99 Z.B. Bericht: Thüringisches Justizministerium (wie Anm. 10); Linientreue Genossen des Justizministeriums in Erfurt, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0038; Bericht über das Thüringische Justizwesen vom 20.5.1953. Ebd. 0049 A-C. 100
Landgericht Erfurt. Stand März 1952, Bericht vom 4.4.1952, AdsD, SPD-PV-Ostbüro 0048 D.
101
Ebd.
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Betrifft: Bezirk Erfurt, Rüge für Richter und Schöffen, 20.12.1953. Ebd.
Die Ersetzung des Berufsbeamtentums durch die Gesinnungsverwaltung Ein Aspekt beim Aufbau der deutschen Volksdemokratie in der SBZ im Licht der Akten des zentralen Parteiapparates der SED 1945-1948
Von Hans-Peter Müller
A. Vorbemerkung Die Vorbereitung der deutschen Kommunisten in ihrem sowjetischen Exil auf die Übernahme von Verwaltungsfunktionen und gar den Neuaufbau des Staates in Deutschland war denkbar schlecht. Bis Ende Januar 1945 hinein wurden in den internen Diskussionen mehr Ideen und Gedanken auf einen der kommunistischen Doktrin mehr entsprechenden revolutionären Volksaufstand mit militärischen Mitteln verwendet (man sprach von "Kampfgruppen in den Städten"; "Freischärlern in den Landgebieten") als auf den konkreten Verwaltungsneubau. Die Ergebnisse der Jalta-Konferenz machten dann jedoch klar, daß man vielmehr mit einem harten Besatzungsregime als oberster staatlicher Autorität und einem Parteien verbot zu rechnen hätte. Gefragt wäre "jetzt nicht Kurs auf neue Regierung", wie Wilhelm Pieck bei einer Unterredung mit dem vormaligen Generalsekretär der Komintern und Stalin-Vertrauten Georgi Dimitroff am 6.2.45 notierte, sondern deutsche Hilfsorgane der Besatzungsmacht, "Vorschläge für Kader". 1 In einer Rede vor Partei- und NKFD-Kadern am 10. März 1945 an der KPDSchule Nr. 12 bei Moskau gab Pieck den zu erwartenden ernüchternden Umständen des politischen Kampfes in Deutschland einen positiven Anstrich, indem er sich den politischen Rahmenbedingungen in der sowjetischen Besatzungszone zuwandte: 'Wesentlich einfacher wird sich die Organisierung unserer Arbeit in der Besatzungszone der Roten Armee gestalten, sowohl was den Einsatz unserer Kader angeht, als auch die Zusammenarbeit und die Übereinstimmung in Ziel und Durchführung unserer Aufgaben. Und doch müssen wir uns auch hier auf wesentliche Einschränkung unserer Aufgaben in der ersten Zeit einrichten." 2 Für die politische Akzeptanz 1 G. Keiderling 1993, S. 183. 2
G. Keiderling,
(Hg.): "Gruppe Ulbricht" in Berlin. April bis Juni 1945. Eine Dokumentation. Berlin
a.a.O., S. 236-254 passim.
Hans-Peter Müller
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würde jedoch entscheidend sein, daß man die Maßnahmen der Besatzungsbehörden in jeder Hinsicht unterstützen und "für ein möglichst reibungsloses Zusammenarbeiten zwischen Besatzungsbehörden und Bevölkerung Sorge zu tragen" habe.3 Am 5. April 45 legte die KPD-Führung im Moskauer Exil "Richtlinien für die Arbeit der deutschen Antifaschisten in dem von der Sowjetarmee besetzten deutschen Gebiet" fest. 4 Nach kommunistischer Begriffsnomenklatur sind "Richtlinien" verbindliche Parteibefehle. Neben den in der Vergangenheit stets dominanten Bereichen Agitation, Propaganda und Massenmedien wurden erstmals auch die Punkte "Schaffung von Verwaltungsorganen in den Städten und Dörfern des besetzten Gebietes", "Direktiven für die nächsten Aufgaben der Stadtverwaltung" und "Aufgaben in den Landgemeinden" erwähnt. Die nur wenige Schreibmaschinenseiten umfassenden "Richtlinien" waren jedoch eher ein punktueller Programmkatalog denn Richtlinien im Sinne von praktikablen politischen Anweisungen. Als Handlungsanleitung waren diese Richtlinien nur sehr bedingt tauglich, obwohl sie festlegten, daß "... die leitenden Genossen in die wichtigsten, von der Roten Armee besetzten Städte (fahren), um die Durchführung der Richtlinien anzuleiten." Es lag jedoch auf der Ebene politischen Machteroberungsdenkens, daß schon zu diesem Zeitpunkt die städtischen Personalämter als politisch-strategische Schlüsselposition hinsichtlich des Verwaltungsaufbaus in den Gemeinden angesehen wurden: "Für die Auswahl und Registrierung der Funktionäre ist das 'Personalamt' verantwortlich. Die Leitung dieses Amtes soll in der Regel ein Genosse in den Händen haben, der in den letzten Jahren außerhalb Deutschlands als antifaschistischer Funktionär gearbeitet hat."5 Auch die Absicht zu einer deutlichen Hierarchisierung der Funktionäre wurde erkennbar: In den Schlüsselstellungen sollten sowjet-exilierte Vertrauenskader sitzen ("außerhalb Deutschlands als antifaschistischer Funktionär" gearbeitet; so lautete das politische Anforderungsprofil); für nachgeordnete Positionen wurden auch überprüfte Altkommunisten, NKFD-Kader und Intellektuelle zugelassen: "Für Funktionen in der Gemeindeverwaltung werden Antifaschisten herangezogen, die schon vor 1933 antifaschistischen Organisationen angehört haben und während der Hitlerherrschaft standhaft geblieben sind. Werktätige, die während des Hitlerregimes am Kampf gegen die Naziherrschaft und gegen den Hitlerkrieg teilgenommen haben; verantwortungsbewußte, entwicklungsfähige Kräfte aus den Reihen der Intelligenz..."6
3
Ebenda.
4
Abgedruckt in: P. Erler/H. Laude/M. Wilke: "Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland. Berlin 1994, S. 380 ff. 5
Erler u.a.: "Nach Hitler...", a.a.O., S. 383.
6
Ebenda.
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Solange die KPD-Spitze sich in Moskau befand, war dies jedoch nicht mehr als ideologische Gedankenspielerei. Erst als sich nach der militärischen Eroberung und schließlich der vollständigen Kapitulation herausstellte, daß es in Deutschland wider Erwarten keine geordneten Verwaltungsstrukturen mehr gab, zeigte sich, daß die Moskauer Exil-Kommunisten mit ihren Planspielen nicht schlecht beraten gewesen waren. Bezieht man nämlich die noch im Sommer 1945 errichteten Landes Verwaltungen und Zentralverwaltungen in die Betrachtung mit ein, dann zeigt sich, daß die KPD nicht nur auf kommunaler Ebene, sondern auch auf höchster Verwaltungsebene ihr Konzept der Vertrauenskader in personalpolitischen Schlüsselstellungen recht zielgerichtet umgesetzt hat. Für die Zentralverwaltungen ergab sich danach die folgende Übersicht: Die KPD stellte in den zunächst gegründeten 11 Verwaltungen 5 Präsidenten und 4 der wichtigen ersten Vizepräsidenten; die SPD 5 Präsidenten und 5 erste Vizepräsidenten, die CDU dagegen nur jeweils einen Vertreter in jeder Kategorie. 7 Die im September 1945 gegründete Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler, die ein wichtiges Experimentierfeld kommunistischer Machteroberungsstrategie unter den Bedingungen alliierter Besetzung gewesen zu sein scheint8, war bis auf Alibi-Sozialdemokraten überwiegend, die 1946 gebildete Deutsche Verwaltung des Innern (DVdl) von Anfang an vollkommen von Kommunisten dominiert ebenso wie die 1947 gegründete Deutsche Wirtschaftskommission. Auch die Bestellung der Spitzen der Landesverwaltungen scheint mit direkter Beratung der SMAD durch den zentralen Parteiapparat der KPD und kommunistische Kader vor Ort zustande gekommen zu sein. Von den ernannten 5 Landesbzw. Provinzialpräsidenten waren 3 Sozialdemokraten, 1 Liberaldemokrat und 1 parteilos; von den 18 Vizepräsidenten gehörten 6 der KPD, 4 der SPD, 5 CDU und LDP an und 3 waren parteilos. 9 Aber sämtliche, zugleich für den Bereich Inneres, Personal, Sicherheit und Schulung zuständigen 1. Vizepräsidenten waren KPDFunktionäre. Obwohl, oder bessser: gerade weil die Kommunisten einen gravierenden Kadermangel hatten, achteten sie peinlich darauf, daß die Schlüsselpositionen Sicherheit, Personal und Umerziehung mit absolut zuverlässigen Kadern besetzt waren. 7 Vgl. M. Broszßt/H. Weber (Hg.): SBZ-Handbuch: Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der SBZ 1945-1949. München 1990, S. 202 f. 1
Sojedenfalls der Tenor der Essays von Michael Schwartz: Zwischen Zusammenbruch und Stalinisierung. Zur Ortsbestimmung der Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler (ZVU) im politisch-administrativen System der SBZ, in: Hartmut Mehringer (Hg.): Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssystem in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1995, S. 43 ff. 9
Broszat/Weber,
a.a.O., S. 96.
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In mindestens einem Fall läßt sich die kaderpolitische Zusammenarbeit der KPDSpitze mit der SMAD inzwischen anhand der Akten deutlich belegen. Am 2. Juli 1945, zwei Tage vor deren Bestellung durch die SMAD, informierte Walter Ulbricht das provisorische Sekretariat der KPD über die beabsichtigte personelle Zusammensetzung der Provinzial- bzw. Landesverwaltungen Brandenburg, Land Sachsen und Mecklenburg. 10 Am 8. Juli 1945 beschloß das Sekretariat, Gustav Gundelach nach Halle zu entsenden, "um Personen für die Provinzialverwaltung auszuwählen", und legte gleichzeitig fest, daß der Altkommunist und BuchenwaldKapo Robert Siewert "für die Provinzialverwaltung verwandt werden" solle.11 Am 13. Juli 1945 verfaßte Gundelach einen an Ulbricht gerichteten Vollzugsbericht. Mit Unterstützung von Bernard Koenen hatte er eine Besetzungsliste zusammengestellt und dem zuständigen SMAD-Generalmajor Kotikow unterbreitet. Wie aus dem Bericht, der jeweils eine kurze politische Einschätzung der Kandidaten enthält, weiterhin hervorgeht, scheint eine der wesentlichen, aber zugleich politisch heiklen Aufgaben darin bestanden zu haben, die geforderte "Pluralität" der Zusammensetzung z.B. auch durch nominelle Parteimitgliedschaften optisch zu verbessern. Gundelach berichtete nämlich, daß von den vorgeschlagenen Kandidaten vier der KPD, zwei der SPD, zwei der LDP angehören und sechs parteilos sind. Die beiden SPD-Kandidaten und zwei Parteilose stünden aber den Kommunisten sehr nahe, alle übrigen wären "Anhänger der Blockbildung und Freunde der SU". 12 Am 16. Juli 1945, einen vor Beginn der Potsdamer Konferenz wurden per Befehl des Oberkommandierenden General Shukow die Landesverwaltung Thüringen und die Provinzialverwaltung Sachsen eingesetzt und im letzten Fall exakt nach dem Vorschlag Gundelachs verfahren. 13 Der relative Mangel an Kadern führte jedoch dazu, daß mit dem Einsetzen der Entnazifizierungskampagne gleichsam als quantitativer Ersatz immer wieder pauschal die parteipolitische Zusammensetzung von Ministerien und Verwaltungen als Maßstab für erfolgreiche politische Säuberung und Eroberung erfragt wurde. Nach der Vereinigung von KPD und SPD war in diesen Umfragen die zweitwichtigste Kategorie nach den SED-Mitgliedern die nach "Gegnern der Einheit", d.h. ehemaligen SPD-Mitgliedern in den Verwaltungen, die sich der Zwangsvereinigung widersetzten.
10 Vgl. G. Benser/H.-J. Krusch (Hg.): Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland. Reihe 1945/1946, 3 Bde. München 1993. Hier: Protokoll Nr. 1 vom 2.7.1945, ebenda, Bd. 1. 11
Protokoll Nr. 2 vom 8.7.1945, in: ebenda.
12
SAPMO-BArch, Nachlaß Walter Ulbricht, ZPA-Signatur NL 182/1084, Bl. 1-2.
13
Vgl. ebenda. Bl. 8.
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Aus den Akten wird ersichtlich, daß die Länderinnenministerien und ab 1946 die Deutsche Verwaltung des Innern (DVdl) gezielt instrumentalisiert, nämlich gleichsam zu "Parteiministerien" ausgebaut worden sind, die die strategischen Eckdaten des Verwaltungshandelns aller übrigen Verwaltungen direkt oder präjudizierend festzulegen vermochten: Stellenpläne, Stellenkegel, Besoldungsordnungen, Verwaltungsschulung, Behördenstatute, Dienst- und Disziplinarordnungen etc. All dies wurde im vorhinein zentral festgelegt oder zumindest im nachhinein zentral, und zwar immer in enger Abstimmung zwischen Innenverwaltung und zentralem Parteiapparat überprüft. Im November 1948 war dieser Prozeß schon so weit vorangeschritten, daß vier Beschluß-Vorlagen an das Zentralsekretariat der SED direkt aus einer polizeilichen Sonderberatung in der DVdl am 22. November 1948 stammten.14 Die Vorlagen betrafen eine Verordnung über die summarische 20%ige Senkung der Personalkosten aller Behörden (Auftakt zu einer großen Säuberungswelle in den Verwaltungen 1948/49), eine Verordnung zur Auflösung sog. länderübergreifender Sonderbehörden wie z.B. Arbeitsämter und eine Verordnung zur Schaffung einer einheitlichen Struktur aller Verwaltungen. Im Mai 1948 schon hatte die DVdl das Recht zur Überprüfung sämtlicher Länderministerien und -Verwaltungen verlangt. Jedoch wurde dieses Ansinnen durch Anweisung der Abteilung Landespoliük des Zentralsekretariats zunächst auf die Innenministerien begrenzt.15 Die daraufhin umherreisende Prüfungskommission dokumentierte bereits den Machtanspruch der SED: Sie war zusammengesetzt sowohl aus Mitgliedern der DVdl wie des Zentralsekretariats der SED. Unbehindert konnten reine Parteifunktionäre an der Revisionstätigkeit gegenüber Staatsbehörden teilnehmen, wie ebenso umgekehrt sich die der Kommission offenbarenden Staatsangestellten kein Dienstvergehen mehr begingen, obwohl sie ja gezwungen wurden, Amtsgeheimnisse Außenstehenden preiszugeben.16 Die Kommission hatte vor allem eine politische Strukturprüfung durchzuführen: Ob es eine allgemeine Verwaltungsabteilung als koordinierende Anleitungsinstanz von Gesetzgebungs- und Verwaltungsvorhaben der gesamten Landesregierung gäbe; ob das Ministerbüro als Führungssekretariat ausgebaut sei; welche Abteilungen sich in SED-Hand befänden; wie weit der Personalzentralismus ausgebaut sei u.dgl.17
14
BAP Bestand Nr. 7, DVdl, Bd. 6, Bl. 155 ff.
15
Aktennotiz vom 15.5.1948 des Abteilungsleiters Malz an DVdl-Vizepräsident Seifert. BAP Bestand Nr. 7: Deutsche Verwaltung des Innern, Bd. 14, Bl. 57 ff. 16 Als Mitglieder der Kommission wurden festgelegt: Der Abteilungsleiter in der DVdl, Malz, der Abteilungsleiter aus dem sächsischen Innenministerium, Hegener, der Abteilungsleiter aus dem mecklenburgischen Innenministerium, Ballerstädt, und der Hauptreferent aus der Zentralsekretariatsabteilung Landespolitik, Dr. Leo Zuckermann. A.a.O., Bl. 72.
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Die Stoßrichtung der Überprüfung belegt, wie der zentrale Parteiapparat die einmal errungenen "strategischen Höhen" ins Spiel zu bringen und zur weiteren inneren Machtusurpation innerhalb der bestehenden Institutionen einzusetzen gedachte. Als entscheidendes Experimentierfeld erwiesen sich dabei immer wieder die Innenbehörden.18 Die Diktatur wurde zwar als äußere Hülle und oberste staatliche Autorität zur Beseitigung der Nazi-Diktatur durch sämtliche alliierten Besatzungsmächte überall in Deutschland quasi auf einen Schlag installiert. Aber die Errichtung der inneren Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone war ein gradueller Prozeß, der in seinen Einzelschritten verfolgt werden muß, wenn wir uns heute fruchtbar mit diesem Phänomen auseinandersetzen wollen. Diese These soll im folgenden auf der Grundlage neuer Quellen an einem einzelnen Gegenstand aus meinem Untersuchungsfeld etwas näher erläutert werden.
B. Die Auseinandersetzung um das Berufsbeamtentum Curt Garner hat in seiner kürzlich erschienenen Untersuchung zur Frage der Auseinandersetzungen der Allierten über die Zukunft des deutschen Berufsbeamtentums auf deren unterschiedliche politische Ziele verwiesen. 19 Mit dem Befehl Nr. 66 vom 17. September 1945 hatte die SMAD das Deutsche Beamtengesetz von 1937 komplett als "faschistisch" eingestuft und für das Gebiet der SBZ aufgehoben. 20 In diesem Sinne hatte eine Verordnung der Landesverwaltung Sachsen vom 17. August 1945 grundsätzlich festgelegt, daß die "Bildung eines neuen demokratischen Verwaltungsapparates" erfolgen werde und daher "aus der Zugehörigkeit zur früheren Verwaltung kein Anspruch auf Wiederverwendung noch sonst irgendein Anspruch geltend gemacht werden (kann)."21 Berufungen ins Beamtenverhältnis fanden daher in Sachsen wie in den anderen Ländern nicht mehr 17 Vgl. Bundesarchiv Potsdam (BAP) Bestand Nr. 7: Deutsche Verwaltung des Innern, Bd. 14, Bl. 41 ff. Bericht der Kommission vom 28.5.1948. 11 A m 3.2.1949 wiesen die beiden DVdl-Vizepräsidenten Fischer und Wagner den 3. Vizepräsidenten der Behörde, Seifert, darauf hin, daß für alle Polizeiangestellten faktisch die Koalitionsfreiheit außer Kraft gesetzt sei: Die mit den Gewerkschaften ausgehandelten Tarifordnungen und tarifrechtlichen Regelungen gälten für diesen Personenkreis nicht mehr und Arbeitsrechtsklagen von Polizeiangehörigen wären von den Arbeitsgerichten abzuweisen. BAP Bestand Nr. 7: Deutsche Verwaltung des Innern, Bd. 14, Bl. 131. 19 C. Garner: Schlußfolgerungen aus der Vergangenheit? Die Auseinandersetzungen um die Zukunft des deutschen Berufebeamtentums nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in: H.-E. Volkmann: Ende des Dritten Reiches - Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München/Zürich 1995, S. 607 ff. 20
Garner, a.a.O., S. 607 f.
^Zitiert nach: Gustav Leissner: Verwaltung und öffentlicher Dienst in der sowjetischen Besatzungszone. Eine kritische Würdigung aus gesamtdeutscher Sicht, Stuttgart/Köln 1961, S. 256.
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statt. Nur in Thüringen war am 5. Oktober 1945 das alte Thüringische Staatsbeamtengesetz von 1923 wieder in Kraft gesetzt worden. Da die Ausführungsbestimmungen jedoch im Landtag stecken blieben, kam es lediglich bei der Pensionierung noch vorhandener Beamter zur Anwendung, wie in internes Gutachten in den Akten der ZS-Abteilung Landespoliük zufrieden konstatierte.22 Per Runderlaß Nr. 126 hatte die Zentralverwaltung für Finanzen am 26.11.1945 der Wiederinkraftsetzung widersprochen, vermochte es jedoch erst nach ihrem Revisionsbericht vom 6.10.1947, die endgültige, dann aber rückwirkend auf den Tag des Erlasses datierte Aufhebung durchzusetzen.23 Garners These, daß es nach der Aufhebung des Beamtengesetzes keine Versuche gegeben habe, das öffentliche Dienstrecht neu zu ordnen, läßt sich aus den Akten der SED nicht bestätigen. Im Gegenteil: Das öffenüiche Dienstrecht erweist sich im nachhinein geradezu als ein Experimentierfeld für die von der SED angestrebte Sowjetisierung der Arbeitsverhältnisse, wobei der Bereich der Innenbehörden und insbesondere der Polizei beispielhaft hinsichtlich der politischen Indoktrination als Bestandteil des Arbeitsverhältnisses und der Unterhöhlung der Koalitionsfreiheit hierbei noch einmal eine Vorreiterrolle spielten.24 Der öffentliche Dienst war das Experimentierfeld, auf dem die SED vorexerzierte, wie sie die innerparteilichen Prinzipien der Diktatur der Parteispitze über die Partei nunmehr auf einen entscheidenden Bereich der Gesellschaft zu übertragen gedachte. Im folgenden also einige neue Quellen, an denen die oben aufgestellte These näher illustriert werden soll. 1. Quelle: "Zur Frage der Rechtsstellung der im öffentlichen Dienst tätigen Bür-
ger".25 Ende Dezember 1946 fand als Reaktion auf die Entwicklung in den Westzonen eine Spitzenberatung der SED-Zentralsekretariatsabteilungen Länderpolitik, Kommunalpolitik, Sozialpolitik mit FDGB-Vertretern zur Frage der Entlohnung und der Rechtsverhältnisse der Angestellten der öffentlichen Verwaltung in der sowjetischen Besatzungszone statt.26 Die SED fühlte sich in der gesamtdeutschen Diskussion in die Defensive gedrängt. Auf dieser Sitzung wurde deswegen dem Zentralsekretariat ein Papier unterbreitet, das die Linie des zentralen Parteiapparates in dieser Frage entwerfen und festschreiben wollte Sein Kernsatz lautete, daß "ein Berufsbeamten22
Vgl. SAPMO-BArch, IV 2/13/5,13.1.1948.
23
Das Gesetz wurde formell durch Gesetz vom 7.10.1948 aufgehoben. Vgl. G. Leissner, a.a.O., S.
257. 24
Vgl. obenAnm. 18.
25
SAPMO-BArch ZPA NL 182/1088, Bl. 237 ff.
24
SAPMO-BArch ZPA N L 182/1085, Bl. 2-3.
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tum, eine eigene Beamtenbesoldung und eine Beamtenpensionsordnung von der Partei grundsätzlich abzulehnen sind... Wir halten es deshalb für erforderlich, dass es keine Wiederherstellung alter reaktionärer Zustände, sondern nur einen Neuaufbau geben kann. Die Demokratisierung der Verwaltung darf nicht sabotiert, sondern muss gesichert und entfaltet werden. Darum darf nicht an die Tradition des alten Berufsbeamtentums angeknüpft werden, sondern auf diesem Gebiet des Neuaufbaues unserer Verwaltung müssen grundsätzlich neue Gesichtspunkte entwickelt und neue Wege beschritten werden..." 27 Eine dieser Maximen sollte lauten: "Bei der Anstellung muss als Erfordernis neben der politischen Zuverlässigkeit und Leistung auch die persönliche Verantwortlichkeit betont werden." 28 Im Mai 1947 hielt der vormalige KPD-FraktionsVorsitzende des Danziger Volkstages (1928-1937)29 und nunmehr Leiter der SED-Zentralsekretariats-Abteilung Landespolitik, Anton Plenikowski, vor einer Zonentagung der Kreisrats- und Kreistagsvertreter, Kommunalsekretäre und Kommunaldezerneneten der SED in Bad Berka ein programmatisches Referat zur "Frage der Rechtsstellung der im öffentlichen Dienst tätigen Bürger". 30 Seine Ausführungen können als Konkretisierung der apparat-internen Eckpunkte vom Dezember 1946 verstanden werden. Plenikowski stellte an den Beginn seiner Ausführungen über die Umwälzung des öffentlichen Dienstes Formulierungen, die sich wie eine Parallelisierung zu den 21 Bedingungen der Komintern von 1920 lasen. Er betonte nämlich, daß die Schwierigkeiten des Aufbaus "mit Demokratisierung statt mit Bürokratisierung gemeistert" worden wären, eine Umschreibung dafür, daß man in den entscheidenden Verwaltungspositionen einer gesinnungsmäßig loyalen Dilettanten ver waltung31 den Vorzug vor einer politisch neutralen Leistungsverwaltung gegeben hatte. Ganz analog hatte es dazu in der 2. Bedingung der Komintern gelautet: "Jede Organisation, die sich der Kommunistischen Internationale anschließen will, muß regelrecht und planmäßig aus allen mehr oder weniger verantwortlichen Posten der Arbeiterbewegung (...) die reformistischen und Zentrumsleute entfernen und sie durch bewähr27
Ebenda.
24
Ebenda.
29
Vgl. H. Rottleuthner u.a.: Steuerung der Justiz in der DDR, Köln 1994, S. 567.
30
Vgl. SAPMO-BArch, Nachlaß Walter Ulbricht, N L 182/1088, Bl. 237-246.
31 Der Begriff wird hier in Anlehnung an den Terminus Max Webers verwendet, der mit Bezug auf das System der politischen Administration in den Vereinigten Staaten von "DilettantenVerwaltung durch Beutepolitiker" im Gegensatz zum modernen Fachbeamtentum gesprochen hat. (M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft 5. A. (1972), Tübingen 1985, S. 831. Vgl. ebenso ders.: Parlament und Regierung i m neugeordneten Deutschland. Beamtenschaft und politisches Führertum, in: ders.: Gesammelte Politische Schriften, Tübingen (1921) 1988, S. 327. Hier wird der Begriff der "Dilettantenwirtschaft" verwendet.)
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te Kommunisten ersetzen, ohne sich daran zu stoßen, daß besonders im Anfang an die Stelle von 'erfahrenen' Opportunisten einfache Arbeiter aus der Masse gelangen."32 Nun aber, so setzte Plenikowski fort, stoße dieser politisch gewünschte Praktizismus und Dilettantismus an seine Grenzen: "Unsere Genossen können auf ihre Leistungen33 nicht ausruhen, sie müssen erkennen, dass für die Durchführung ihrer Verwaltungsarbeit auch verwaltungsmässige Ausbildung gehört, dass man auch die Verwaltungstechnik, Bürotechnik usw. beherrschen muss. Die politische Zuverlässigkeit allein genügt auf die Dauer nicht, wenn nicht qualitatives Verwaltungsfachwissen hinzukommt. Die alten Füchse und Geier der Verwaltungsmaschinerie warten ja darauf, um ein Versagen hierin für ihre Forderung zu benutzen, die 'Fachleute' müssten wieder in die Verwaltung. Unsere Auseinandersetzung mit der Frage des Berufsbeamentums ist deshalb die Frage der Sicherung und des Ausbaues unserer neuen demokratischen Verwaltung und darum von besonderer Bedeutung für das Gremium dieser Tagung." Plenikowski fuhr fort: "Es geht dabei nicht um das Wort Beamter. Aber dieses Wort ist wie kaum ein anderes in Deutschland mit allem verknüpft, was reaktionäre Bürokratie heisst. Wie auf wirtschaftlichem Gebiet der Begriff 'Schlotbaron', so war der Begriff des Berufsbeamten mit seinen wohlerworbenen Rechten der typische Begriff der deutschen reaktionären Bürokratie. Deshalb bin ich der Ansicht, dass er genau so verschwinden muss, wie der 'Schlotbaron'." Andererseits dürfe man nicht das mentalitätsmäßige und politische Potential der durch die Säuberungen aus den Verwaltungen entfernten Personen und ihres Familienanhangs unterschätzen, das sogar in öffentlichen Stellungnahmen der I.G. 15, also der FDGB-Gewerkschaft der öffentlichen Bediensteten, seinen Niederschlag gefunden habe. Plenikowski verwies sodann darauf, daß die Debatte im kompletten Widerspruch zur Verfassungslage in den Ländern und Provinzen der SBZ stehe: "Seit Monaten existieren in den Ländern der sowjetischen Zone einstimmig angenommene Verfassungen, und in keiner dieser Verfassungen ist von Beamten die Rede. Es heisst dort (ich zitiere den entsprechenden Artikel der sächsischen Landesverfassung; der Wortlaut deckt sich nahezu wörtlich mit dem Wortlaut der betreffenden Artikel der anderen Landesverfassungen) im Artikel 6: 'Die im öffentlichen Dienst angestellten Bürger sind Diener des Volkes. Sie müssen sich des Vertrauens des Volkes jederzeit würdig erweisen.' Aber in unserer Presse lebt der Beamte lustig weiter..."
31 Zit nach: Theo Pirker (Hg.): Utopie und Mythos der Weltrevolution. Zur Geschichte der Komintern 1920-1940. München 1964, S. 25. 33
Im Original sie!
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Plenikowski faßte dann das angeblich Neue im Verhältnis von Verwaltung und Bürger wie folgt zusammen: "Die fortschrittliche Entwicklung in Deutschland wird vor allem darin bestehen, dass die einheitliche deutsche Republik ausschliesslich auf der Volkssouveränität beruhen muss. In den Ländern der sowjetischen Besatzungszone ist das bereits verwirklicht und damit ist das Problem einer neuen Ordnung auch für die im öffenüichen Dienst tätigen Personen im vollen Umfang aufgeworfen." Die Weimarer Republik sei, so Plenikowski, nicht an der Korruption gescheitert, sondern an "der Erhaltung des Systems des Berufsbeamtentums, in der fehlenden wirklichen Demokratisierung auch der Verwaltung. Es blieben nicht nur die Generale, es blieb auch die alte Bürokratie und das reaktionäre bürokratische Berufsbeamtensystem. Eine wirklich demokratische Neuregelung muss von der Erkenntnis ausgehen, dass es auch für die im öffenüichen Dienst tätigen Bürger grundsätzlich keine Privilegien, keine Vor- und Sonderrechte geben darf. Der demokratische Grundsatz 'gleiches Recht für alle' muss seine Verwirklichung finden. Die Zweiteilung der im öffenüichen Dienst angestellten Personen in Angestellte und Beamte darf genau so wenig geduldet werden, wie die Anwendung grundsätzlich verschiedener Anstellungs- und Arbeitsverhältnisse für die Angestellten der Privatwirtschaft und für die in der öffentlichen Verwaltung Tätigen." Den damals weit beachteten Vorschlag einer Vierzonen-Eisenbahnerkonferenz, keine überstürzte Lösung der Beamtenfrage anzustreben, sondern zu gegebener Zeit ein deutsches Parlament im Einverständnis mit den Spitzenkörperschaften der deutschen Gewerkschaften den einheitlichen Neubau des Beamtenverhältnisses regeln zu lassen, wies Plenikowski für die SBZ zurück. Die SED wollte präjudizierend für eine gesamtdeutsche Regelung wirken, aber eine Tendenz zur politischen Mäßigung folgte für sie daraus nicht. Plenikowski bekräftigte das Gegenteil: "Ich bin der Ansicht, das man diesen Auffassungen [Rücksichtnahme auf die Entwicklung in den Westzonen- HPM.] entgegentreten muss. Wir haben es in der Verfassungsfrage abgelehnt, solchen auch in dieser Frage laut gewordenen ähnlichen Auffassungen Ausdruck zu verleihen. Wenn wir solchen Tendenzen Vorschub leisten und vor der Gestaltung einer fortschrittlichen Entwicklung zurückweichen, sind wir auf dem besten Wege, die Fehler von 1918 zu wiederholen. Die fortschrittliche Demokratisierung der Verwaltung darf nicht sabotiert, sondern muss gesichert und entfaltet werden. Darum darf nicht an die Tradition des alten Berufsbeamtentum angeknüpft werden, sondern gerade auf diesem Gebiet des Neuaufbaues unserer Verwaltung müssen grundsätzlich neue Gesichtspunkte entwickelt und neue Wege beschritten werden." Plenikowski stellte dann seinem Auditorium einige der Eckpunkte der apparatinternen Diskussion zum neuen Dienstrecht vor:
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- angemessene Regelung der Anstellungs- und Versorgungsbedingungen; - Kündigungsschutz statt Absicherung "wohlerworbener Rechte" durch lebenslängliche Anstellung; - prinzipielle Zulässigkeit der Kündigung z.B. bei Faulheit oder falschem "Verhalten gegenüber dem Publikum"; - Abschaffung der differenzierten Besoldungsabstufungen; - neuartiges Laufbahnrecht: Aufstieg nur nach (potentieller) Tüchtigkeit und Fähigkeit, nicht nach Dienstalter und Bewährung; keine Regelbeförderung mehr; - Verpflichtung zu Verwaltungsschulung und -fortbildung; - keine politische Neutralitätspflicht, keine reine Amtssachwaltung im Verwaltungshandeln, sondern Entscheidungen vielmehr unter voller Ansehung der Person; - Abschaffung der privilegierenden sozialen Absicherung; - Einrichtung von Personalausschüssen bei den Volksvertretungen als faktischer Arbeitgeber aller im öffentlichen Dienst Beschäftigten; nicht die Behörde, sondern die Volksvertretung als Arbeitgeber/Dienstherr; - Weiterbestehen eines gesonderten Disziplinarrechts, aber auch Zuständigkeit der Arbeitsgerichte; - Wegfall der dienstrechtlichen Unterscheidung mehr zwischen Beamten und Angestellten, nicht jedoch zwischen öffentlichen Bediensteten und "Wahlstelleninhabern", also politischen Staatsfunktionären. Besonders bei der beabsichtigten Einführung der Kündbarkeit der öffentlichen Bediensteten gab es einerseits einen unverkennbar populistischen Zug in der Argumentation der SED, andererseits die Absicht, die Kündigung gezielt als politisches Disziplinierungs- und Abschreckungsmittel einsetzen zu können. Plenikowski: 'Dadurch werden wir die Sympathie der breiten Masse erwerben. Dadurch zwingen wir die Leute, sich anständig zu benehmen." Ein auf derselben Tagung gefaßter Beschluß "Vorschläge zur weiteren Demokratisierung der Verwaltung" 34 machte u.a. deutlich, daß die SED neben einer Aktivierung der Volksvertretungen und der einzelen Volksvertreter, also deren Einbeziehung in politische Kampagnen, die "Bevölkerung" durch "Ausdehnung der ehrenamtlichen Mitarbeit von Einwohnern in der Verwaltung" zu aktivieren versuchte. Dies war nichts anderes als der Versuch, die Massenorganisationen zu Verwaltungstätigkeiten heranzuziehen und auf dem Wege über parteimajorisierte Ausschüsse und Kommissionen den fehlenden Sach- und Fachverstand der politisch gewünschten Dilettantenverwaltung teilweise temporär zu kompensieren. Ca. gegen Ende 1947 verfaßte Plenikowski eine Überarbeitung seiner Ausführungen vor der Beiratstagung in Bad Berka unter dem Titel "Neues Personalrecht". 35 34
SAPMO-BArch IV 2/13/1.
* Manuskript "Neues Personalrecht", SAPMO-BArch IV 2/13/5.
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Zur historischen Parallele zwischen der Weimarer Republik und der SBZ führte er nun aus: "Der zutreffende Hinweis auf die Tatsache, daß die Repubik trotz der Fortentwicklung gerade der Beamtenrechte von den Beamten enttäuscht worden ist, ist in diesem Sinne nicht stichhaltig. Der Fehler liegt in anderen Umständen. Die Republik machte den Kardinalfehler, den auch wir heute selbst in der sowjetischen Zone nicht genügend zu vermeiden suchen, die Elemente der Vergangenheit im Verwaltungsapparat zu belassen. 1918 war ihnen der Verwaltungsapparat völlig ausgeliefert. Monarchie und Bourgeoisie haben ihre fest und sicher ausgerichteten wissenschaftlich gebildeten Funktionäre in die Verwaltung dirigiert. Daß diese gar nicht daran dachten und auch heute nicht daran denken, sich ideologisch im sozialistischen Sinne umzustellen, ist selbstverständlich. Aus diesem Grunde aber ist daher erstes Erfordernis, Funktionäre 36 wissenschaftlich zu schulen und in den Verwaltungsapparat hineinzubringen, die eine sozialistische Einstellung besitzen..." Diese internen Ausführungen zeigen, daß die Parteiführung der SED nur wenige Jahre nach der Abschaffung der nationalsozialistischen Gesinnungsverwaltung ihrerseits auf die Errichtung einer politisierten Gesinnungs verwaltung, diesmal unter "demokratischen" Vorzeichen hinzielte. Im August 1947 faßten dann die beteiligten Zentralsekretariats-Abteilungen Landespolitik, Kommunalpolitik und Arbeit und Sozialfürsorge den apparatinternen Meinungsbildungsprozeß zum Entwurf einer "Verordnung über die Dienstverhältnisse der Angestellten im öffentlichen Dienst" zusammen, die von folgenden Grundsatzregelungen ausging: - Abschaffung des Bewährungsaufstiegs - Bezahlung nach Leistung und Art der Tätigkeit statt nach Vorbildung und Laufbahn - Ersetzung des politischen Mäßigungsgebotes durch die Einführung einer politischen Wohlverhaltensklausel, nach der der öffentliche Angestellte verpflichtet ist, in und ausserhalb seiner dienstlichen Tätigkeit für eine Festigung der demokratischen Ordnung einzutreten.37 Ein Jahr später, im Vorfeld des Π. Parteitages der SED im September 1948 zeichnete sich dann auch in der Frage des öffentlichen Dienstrechts die weitere Verschärfung des innenpolitischen Kurses der SED ab. Auf der für die weitere Entwicklung richtunggebenden staatspolitischen Konferenz für Verwaltungsfragen und Landespolitik am 23. und 24. Juli 1948 in Werder/Havel, an der SED-Spitzenfunktionäre von allen Ebenen aus Partei und Verwaltung teilnahmen, wurden wegweisende Referate gehalten und Beschlüsse gefaßt, die das Zentralsekretariat am 2. August 1948 noch einmal formell bestätigte. 36
I m Original: Funktionär.
37
SAPMO-BArch IV 2/13/5,18.8.1947. Handschriftlich am Rand: "lau".
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2. Quelle: Das Papier: "Stellung der SED zur Personalpolitik in der Verwaltung".38 Die zukünftigen Grundsätze der Personalpolitik legte die Konferenz in einem Papier mit dem Titel "Stellung der SED zur Personalpolitik in der Verwaltung" fest. Die nachträgliche Bestätigung durch das Zentralsekretariat dürfte daraus eine offizielle Parteirichtlinie gemacht haben. Als Grundsatz für die Personalauswahl der Verwaltungen wurden nunmehr die innerparteilichen Prinzipien der Kaderverwaltung festgelegt: Es "müssen die richtigen Menschen ausgewählt und an den richtigen Platz gestellt (werden), (es) müssen junge entwicklungsfähige Kräfte gefördert und die Entwicklung und die Tätigkeit jedes einzelnen Mitarbeiters richtig beurteilt werden. Der Prüfstein für die fortschrittliche demokratische Gesinnung eines jeden Verwaltungsangestellten ist sein Eintreten für die demokratische Einheit Deutschlands und seine positive Einstellung zur Sowjetunion und zu den Ländern der Volksdemokratie. Die Verwaltung muss rein bleiben von allen Feinden der neuen demokratischen Ordnung." Damit war in einem Parteidokument offen die korrekte Gesinnung des Staats angestellten zu einem Qualifikaüonskriterium erhoben worden. Über die notwendige personelle Zusammensetzung der Verwaltung hieß es: "Die leitenden Stellungen sollen von den politisch bewußtesten und der Demokratie ergebensten fortschrittlichen Kräften besetzt sein. Um den Verwaltungsapparat wirklich zu stärken, sind vor allem Aktivisten aus den Reihen der Betriebsarbeiter, Angestellten, werktätigen Bauern und Angehörigen der fortschrittlichen Intelligenz zu schulen... In den Verwaltungen ist deshalb kein Platz für: Feinde der Demokratie, Agenten, Schumacherleute, Spione, Saboteure usw., die sich in den Verwaltungsapparat eingeschlichen haben; Bürokraten, jene 'Beamte', die die besten Absichten zunichte machen, die die Arbeit hemmen, die Beschlüsse nicht durchführen und dadurch zu Saboteuren werden; bestechliche und korrupte Elemente. Alle diese Elemente müssen entlarvt und entlassen werden." Sodann operationalisierte die Entschließung den strategischen Vorteil, den die SED inzwischen bei der politischen Säuberung der Innenverwaltungen und bei der gezielten Besetzung der Personalabteilungen in den übrigen Verwaltungen errungen hatte. Zu deren Aufgaben hieß es nun: "Um diese Aufgaben [d.h. die Säuberung] durchführen zu können, ist zunächst eine Kontrolle und Überprüfung der Personal31 BAP, Bestand Nr. 7: Deutsche Verwaltung des Innern, Band Nr. 9, Bl. 32-36. Es wurden zu folgenden Themen Referate gehalten: "Die neuen Aufgaben der staatlichen Verwaltung." (Walter Ulbricht). "Die Einheit der demokratischen Verwaltung und die Erfahrungen der Verwaltungsarbeit der D W K und der Landes- und Kreisverwaltungen." (Erwin Lampka). "Die Personalpolitik in der Verwaltung". (Erich Mielke). "Die neuen Aufgaben im Finanzwesen und Sparmassnahmen in der Verwaltung." (Henry Meyer). "Die Funktion der Kontrollkommission und der Volkskontrollorgane." (Fritz Lange). Laut Anwesenheitsliste nahmen 68 Spitzenfunktionäre aus Partei, Staat und Massenorganisationen an der Konferenz teil. Vgl. SAPMO-BArch IV 2/13/110.
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abteilungen selbst erforderlich, um qualitativ starke, zentralisierte Personalabteilungen zu schaffen, die in der Lage sind, die richtige Auswahl der Menschen für den richtigen Platz zu treffen." Über die Qualifikation in den Personalabteilungen selbst hieß es, daß die Mitarbeiter "bewährte Antifaschisten" sein müßten. Das bedeutet nichts anderes, als daß die SED nunmehr dazu überzugehen beabsichtigte, das System der öffentlichen Verwaltung in ein System gesinnungsloyaler Verwaltungskader und Verwaltungsfunktionäre umzuwandeln. Es genügte nun nicht mehr, sich politisch neutral zu verhalten. Antifaschisüsche "Bewährung" war gleichbedeutend mit dem aktiven Eintreten für die Partei und deren Staat. 3. Quelle: Die Entschließung: "Demokratische Festigung der staatlichen Verwaltung".39 In einem auf derselben Konferenz vom selben Teilnehmerkreis verabschiedeten Papier mit dem Titel "Demokratische Festigung der staatlichen Verwaltung" wurde der im Vergleich zu den Westzonen vorgeblich "demokratische" Charakter der sowjetzonalen Verwaltung herausgestrichen: "In der sowjetischen Besatzungszone sind in der Staatsverwaltung die entscheidenden Funktionen bereits in den Händen der Arbeiterklasse..." Und diese Verwaltung sei nicht lediglich neutraler Sachwalter, sondern eine nach Kriterien politischer Gesinnung selektierte Verwaltung mit ordnungspolitischem Erziehungs- und Formungsauftrag: "Unsere Demokratie ist eine Demokratie höherer Ordnung, die Staatsgewalt dient dem gesellschaftlichen Fortschritt. Gleichzeitig dient die Staatsgewalt der Niederhaltung und der Bekämpfung der Feinde der demokratischen Ordnung und des Neuaufbaus... Die Fragen des Staates und der Staatsverwaltung stehen in der gegenwärtigen Periode im Mittelpunkt aller politischen Kämpfe." 40 Getreu der etatistischen Tradition in der sozialistischen und kommunistischen Bewegung Deutschlands war nach diesem Verständnis der Staat ein nach innen gerichteter Gesinnungskampfstaat, seine Verwaltung eine nach innen gerichtete Gesinnungskampf Verwaltung. Dieser Anspruch könne nur realisiert werden, wenn in allen Verwaltungen "die Parteigruppen zu einer systematischen Arbeit übergehen", d.h. ein Programm der inneren politischen Hegemonialisierung der Verwaltungen verwirklichen. Bernard Koenen drückte diese Intention der SED im Verlauf einer Diskussion auf der Konferenz so aus: "Alle Angestellten unserer neuen Republik müssen von der Überzeugung durchdrungen sein, daß sie sozusagen auf Vorposten im politischen Kampf um die Macht stehen."41 Mit dieser Position der SED war eine entscheidende institutionelle Barriere zwischen der Sphäre des politischen Machtkampfes und derjenigen 39
Vgl. ebenda., Bl. 37-39.
40
Diese Formulierung geht später fast wörtlich in den Entwurf der Präambel des Statuts der D V d l ein. Vgl. BAP Bestand Nr. 7: DVdl, Bd. 6, Bl. 122 ff. 41
SAPMO-BArch IV 2/13/110, Bl. 128.
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der rein sachbezogen arbeitenden Fachverwaltungen eingerissen worden, indem sie als Relikt eines historisch zu überwindenden "reaktionären Bürokratismus" denunziert wurde. Dieser grundlegenden politischen Umwertung sollte eine ebensolche in der Funktion der Justiz entsprechen. Die Leiterin der Abteilung Personalwesen in der Deutschen Zentral Verwaltung Justiz, Hilde Benjamin, formulierte dies in einem Statement folgendermaßen: "Es muß allgemeines Bewußtsein werden, daß der Plan eines der höchsten Rechtsgüter ist, die die Justiz zu schützen hat, ein höheres Rechtsgut als Privateigentum. [...] Die wichtigste Frage wird es also sein, die Menschen zu haben, die mit dem Plan innerlich so verbunden sind, daß sie die Gesetze, die ihnen zur Verfügung gestellt werden, tatsächlich im richtigen Sinne handhaben." 42 Für die gezielte Personalpolitik beinhalte dies, den folgenden qualitativen Schritt zu tun: "In organisatorischer Hinsicht stehen wir auch hier vor einer Wendung in der Entwicklung; denn in der Personalpolitik gehen wir jetzt von der negativen Phase, die bisher relativ einfach war, in der es im großen und ganzen darauf ankam, die politisch belasteten Leute auszuscheiden, über zu der sehr viel schwierigeren Phase einer positiven Personalpolitik, wo man nicht nur wirkliche Rostflecke auszuscheiden hat, sondern die Menschen auszuscheiden sind, die politisch nicht genügen. [...] Wir werden uns jetzt laufend darüber informieren müssen: wer sind die, die auf dem Aussterbeetat stehen, und wer muß ausgeschieden werden, sobald der Nachwuchs da ist? Das ist eine Aufgabe, die jetzt sehr wichtig wird." 43 Das war die zynische Internsprache von Machtpolitikern, die Personalführungsprobleme in die Begrifflichkeit ideologischer Korrosionsbekämpfung kleideten. 4. Quelle: Der Beschluß des Zentralsekretariats vom November 1948 über die Verbesserung der Parteiarbeit in den Verwaltungen. 44 Mit diesem Beschluß schickte sich die Parteiführung nun an, dasjenige zielgerichtet in die Tat umzusetzen, was sich als Resultat im vorangegangenen internen Meinungsbildungsprozeß von Parteispitze und oberstem Parteiapparat ergeben hatte. Der Tenor des Beschlusses zielte darauf ab, wie nun endgültig und rechtsverbindlich die Prinzipien der Parteiinnenwelt auf die Außenwelt von Behörden und Verwaltungen übertragen, d.h. wie diese in politisch zuverlässige Apparate zur Exekution des Parteiwillens, der im Begriff des Plans kulminierte, transformiert werden könnten. In erster Linie bedeutete dies, den universalen Führungsanspruch der Partei zukünftig auf allen Ebenen des Verwaltungshandelns zu verwirklichen.
* Ebenda. Bl. 133.
10*
43
Ebenda. Bl. 135.
44
Vgl. ebenda, Bl. 43-48.
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Das Problem der SED freilich war, daß selbst eigene Parteifunktionäre noch immer "ihre Verwaltungsarbeit nicht als Funktionäre der Partei, sondern als parteipolitisch 'neutrale Verwaltungsbeamte' durchführten", wie der Beschluß monierte. M.a.W. ihre Behörden-, Amts- bzw. Funktionsloyalität noch immer höher einstuften als die Parteiloyalität. Auf die Umkehrung dieser Wertigkeit zielte jedoch das Konzept der politisierten GesinnungsVerwaltung. Als Folge davon konstatierte der Beschluß: 'Diese ideologischen und organisatorischen Schwächen sind die Ursache für das Fehlen einer straffen Verwaltungsführung von oben bis unten sowie für den vorhandenen engen Ressortgeist... Die Verschärfung des Klassenkampfes fand nicht die genügende Beachtung. Die in den letzten Monaten mit der Losung 'Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' immer zielbewußter geführte Kampagne der reaktionären Kräfte gegen die Ersetzung der aus der Verwaltung entfernten nazistischen Elemente durch politisch zuverlässige proletarische Kräfte stiess bei manchen Genossen nicht auf die erforderliche Zurückweisung." Sodann erhob der ZS-Beschluß die Beschlüsse der Werder-Konferenz zu verbindlichen Parteidirektiven, indem er die Parteibetriebsgruppen und deren Leitungen zu innerbehördlichen Relaisstellen bei der Umsetzung des Parteiwillens in die Verwaltungen erklärte und ihnen vor allem eine wichtige Funktion beim Zusammenspiel mit den Personalabteilungen zuwies. Man könnte also die These vertreten, daß bei der Errichtung der politisierten Gesinnungsverwaltung diese Strategie der kombinierten Nutzung strategischer Höhen die Eroberung der Institutionen von innen ermöglichte und dennoch den interalliierten Abmachungen gemäß die demokratische Fassade dieser Institutionen zunächst weiterhin wahren half. Daß die SED in dieser Phase die Diktatur als Parteidiktatur errichtete und sich dessen voll bewußt war, machte schließlich ein im Zentralsekretariat bzw. Partei vorstand zu beschließender Resolutionentwurf deutlich, der als Begründung für neue Aufgaben des Parteiapparates formulierte: "Der Charakter der Partei als führende Staatspartei verlangt eine Wendung zur wirklichen Beherrschung der Wirtschaft und des Staatsapparates."45
C. Fazit Versucht man abschließend eine Wertung der verwaltungspolitischen Programmatik der SED in dieser Periode, dann zeichnete sich auch die interne Diskussion unter der Fachleuten in dieser Partei, die so viel auf ihre Fähigkeit zur wissenschaftlichen Durchdringung der historischen Gesetzmäßigkeiten gab, durch erstaunliche Ignoranz und Dilettantismus aus. Die seit Max Webers Untersuchungen 45
Ebenda, Bl. 49-56.
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zur Bürokratie übliche Unterscheidung zwischen einem umgangsprachlichen Bürokratiebegriff, der eine populistische Bürokratie-Antipathie pflegt; einer obrigkeitsstaatlichen Bürokratie, die auf einer Mißachtung des Parlamentarismus und einer Machtunausgewogenheit von Bürokratie und Politik beruhte und einer modernen Leistungsverwaltung, die in Deutschland fest mit dem Berufsbeamtentum verbunden war, wurde bewußt nicht zur Kenntnis genommen. Begreift man Webers Unterscheidung zwischen einer modernen professionalisierten Verwaltung im Gegensatz zu einer Dilettantenverwaltung auf der Basis reiner Beutepolitik46, wie KPD und SED sie erkennbar betrieben, gar als historische Periodisierung, dann vollzog die SED mit dem erklärten Ersatz von fachlicher Leistung, Gewissenhaftigkeit und Integrität durch Gesinnung, soziale Herkunft und mit der Installierung von Cliquenwirtschaft und Nepotismus in herrschaftssoziologischer Betrachtungsweise einen historischen Rückschritt. Was sie pars pro toto als Bürokratismus verunglimpfte, entsprach dem umgangssprachlichen Verständnis von Bürokratie: Vorschriftenfülle, Formular-Wut, Paragraphenreiterei, Schematismus und Überformalisierung von Verfahren. Dies zusammen mit einem Gutteü tatsächlich vorhandenen obrigkeitsstaatlichen Standesbewußtseins des preußisch-deutschen Beamtentums bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein bildete die Grundlage für die pauschale Ablehnung all dessen, was eine moderne Leistungsverwaltung ausmacht - und die konnte in Deutschland aufgrund der historischen Tradition nur auf einer Bürokratie mit Berufsbeamtentum und folgenden Prinzipien beruhen: dem Prinzip der Amtshierarchie und des festgelegten Instanzenzuges; der Rechtsförmigkeit und Schriftlichkeit des Verfahrens und der regelgebundenen Dienstdisziplin im Sinne einer "integren", d.h. rein sachlichen, fachorientierten, überparteilichen Amtsführung "ohne Ansehen der Person" und dann eben auch der Hauptamtlichkeit, Spezialisierung und Fachschulung, dienstherrlichen Ernennung, Lebenslänglichkeit, standesgemäßen Auskommensicherheit, Laufbahnsicherheit der Amtsinhaber als Berufsbeamten. Mit ihrem Rückgang auf die politisierte Gesinnungs Verwaltung sowjetischen Typs - das wäre abschließend die zentrale These dieses Essays - machte die SED eine historische Errungenschaft in Deutschland wieder rückgangig, die als Zeichen einer modernen Verwaltung galt: Fachorientierung und Überparteilichkeit der integren Amtsführung durch Berufsbeamte. Vielmehr sollte die Amtsausübung gesinnungsloyaler Parteiuntertanen jeweils wieder bewußt in voller Ansehung der Person erfolgen, Mittel zum Kampf um die politische Macht sein und zur Verteidigung der Macht und der aus dieser Macht folgenden Verantwortung für die Sache der Partei instrumentalisiert werden. 47 Der Institution des Berufsbeamtentums wurde hierbei 46
47
Vgl. hierzu Anm. 26 oben.
'"Über den Parteien', das heißt aber in Wahrheit: außerhalb des Kampfes um eigene Macht, soll der Beamte stehen. Kampf um eigene Macht und die aus dieser Macht folgende Eigenverantwortung für seine
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pauschal ein politischer Feindeswille unterstellt, den es ganz im Sinne des Weberschen Machtbegriffs mit allen Mitteln zu brechen galt.48 Die durchaus richtig diagnostizierte tatsächliche politische Reserviertheit erheblicher Teile der kaiserlichen Beamtenschaft gegenüber der Weimarer Republik und sodann die schmähliche Verstrickung vieler Beamter in das Nazi-Unrecht waren jedoch für die deutschen Kommunisten nur ein willkommener Anlaß, um mit der Besatzungsmacht im Rükken die erhofften, aber nicht eingetreteten Ergebnisse einer politischen Revolution nun im Wege von Verordnungen und Parteidekreten nachzuholen: die Abschaffung einer vermeintlichen Stütze des verhaßten politischen Systems des Kapitalismus. In diesem Sinne hat also die politische Revolution des Herbstes von 1989 einen historischen Rückschritt wieder rückgängig gemacht.
Sache ist das Lebenselement des Politikers wie des Unternehmers." (Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, a.a.O., S. 335.) 48 "Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht." (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. A. 1972, S. 28.) Die im Vergleich zum Herrschaftsbegriff relativ stärkere Unterströmung der Irrationalität wird dadurch sinnvoll ergänzt, daß man "eigenen Willen" vornehmlich auf eine Lagedefinition bezieht: Macht wäre demnach in Anlehnung an Theo Pirker das Vermögen, eine bestimmte Definition der Lage zur allgemein verbindlichen zu erklären, Herrschaft darüber hinaus, dies zur allgemein verbindlichen Handlungsrichtschnur zu machen. (Vgl. T. Pirker: Utopie und Mythos ..., a.a.O., S. 7 ff.) Dies war der Kern der Machtfrage, die die SED zu stellen wünschte.
Vom " Ringen um die Hirne und Herzen der jungen Menschen* * Entstehungsbedingungen, Ergebnisse und Funktion ostdeutscher Geschichtsschreibung zur Freien Deutschen Jugend1
Von Peter Skyba und Ulrich Mählert
Die als "Vertrauliche Verschlußsache" klassifizierte und in lediglich sechs Ausfertigungen verteilte Studie "Zum Geschichtsbewußtsein von Jugendlichen der DDR", die das Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung im März 1989 vorgelegt hatte2, mußte all jene schlagartig desillusionieren, die am Vorabend des Zusammenbruchs der SED-Diktatur die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatten, daß "das Wissen um die Geschichte, um die großen revolutionären Traditionen unseres Kampfes" nicht nur den Kommunisten, sondern "allen Bürgern, insbesondere auch" der Jugend "Stolz auf das [...] in harten Klassenauseinandersetzungen und unter großen Anstrengungen Erreichte" vermitteln und "ihnen Kraft und Zuversicht für die Lösung der vor uns stehenden Aufgaben" geben würde.3 Zwar konstatierten die Leipziger Jugendforscher, daß sich die Mehrzahl der Jugendlichen gegenüber geschichtlichen Themen durchaus aufgeschlossen zeige, die bevorzugten Themen deckten sich jedoch offenkundig nicht mit den Erwartungen der Staats- und Parteiführung. Nicht genug, daß die Heranwachsenden "ein zu geringes Interesse für die Entwicklung des Sozialismus" mitbrachten.4 Generell hieß es in der Studie: "Das Interesse an der Geschichte der DDR ist ebenfalls schwach ausgeprägt. Weniger als 1 Gekürzter und überarbeiteter Vorabdruck des Beitrages "Propaganda und Geschichtsschreibung. Die Freie Deutsche Jugend als Gegenstand der zeitgeschichtlichen Forschung in Ost- und Westdeutschland bis 1989". Erscheint im Dezember 1995 in: Jahrbuch für zeitgeschichtliche Jugendforschung 1 (1995) (Berlin: Metropol-Verlag). 2 Zentralinstitut für Jugendforschung: Zum Geschichtsbewußtsein von Jugendlichen der DDR. Ausgearbeitet von Dr. Witfried Schubarth, Sektor "Jugend und Ideologie", Leipzig März 1989, SAPMOBArch (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv) FDJ, Β 5858. Sofern die zitierten Archivalien eine Seitenzählung enthalten, wird diese angegeben. Vgl. auch Schubarth, Wilfried: Historisches Bewußtsein und historische Bildung in der DDR zwischen Anspruch und Realität, in: Hermig, Werner /Friedrich, Walter (Hg.): Jugend in der DDR. Daten und Ergebnisse der Jugendforschung vor der Wende, Weinheim und München 1991, S. 27ff. 3 So Kurt Hager auf der 6. Tagung des Zentralkomitees der SED am 9./10. Juni 1988, vgl. Neues Deutschland, 10. 6. 1988. 4
Zentralinstitut für Jugendforschung, Zum Geschichtsbewußtsein, Bl. 8; die folgenden Zitate ebd.
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Peter Skyba und Ulrich Mahlert
die Hälfte der Jugendlichen interessiert sich in stärkerem Maße dafür, noch geringer ist das Interesse für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, der SED und der FDJ". In der knappen Schlußfolgerung gestanden die Jugendforscher die weitgehende Erfolglosigkeit jahrzehntelanger, mit großem Aufwand betriebener propagandistischer Bemühungen ein: "Das Hauptziel unserer geschiehtsideologischen Arbeit, die feste Verbindung aller Jugendlichen mit der Geschichte ihres Vaterlandes, wird somit noch nicht in ausreichendem Maße erreicht." Für jene Rostocker Forschergruppe, die seit den sechziger Jahren in enger Zusammenarbeit und im Auftrag der FDJ nicht nur maßgeblich an der Geschichtspropaganda für den Jugendverband mitgewirkt hatte sondern auch an der Ausbildung von Geschichtslehrern beteiligt gewesen war, bedeutete diese Feststellung eine Bankrotterklärung. Die beschwörenden Worte des Leiters der Mecklenburger Wissenschaftler auf einer Konferenz zur Geschichte der FDJ im März 1989, "das Ringen um die Hirne und Herzen der jungen Menschen auch mit Hüfe einer fundierten Vermittlung unseres Geschichtsbildes zu führen", verhallten ungehört.5 Der Versuch, mittels eines parteilichen Geschichtsbüdes die Herrschaft der SED zu legitimieren und die Bevölkerung, hier vor allem die Jugend, für das System zu gewinnen, war schon vor dem Ende der DDR gescheitert. Über dreißig Jahre zuvor hatten SED und FDJ erstmals das mangelhafte Geschichtsbewußtsein innerhalb der Jugend beklagt. 1956/57 konstatierten sie bei den Jugendlichen, die in der DDR aufgewachsen waren und weder die Weimarer Republik noch das Dritte Reich aus eigenem, bewußtem Erleben kannten, ein Defizit an historischen Kenntnissen. Viele dieser Heranwachsenden - so die Kritik - hielten die Errungenschaften der DDR für selbstverständlich. Sie würdigten nicht die Anstrengungen, welche diese hervorgebracht hätten und engagierten sich daher nicht mit entsprechender Dankbarkeit und Einsicht nach den Vorgaben der Einheitspartei. 6 Als die FDJ im April 1957 auf Betreiben Walter Ulbrichts mit ihrer vergleichsweise undogmatischen Programmatik des Tauwetterjahres 1956 brach und sich zur "sozialistischen Massenorganisation" erklärte, rückte die Verbandsführung erneut die ideologische Indoktrination der Heranwachsenden in den Vordergrund der FDJ-Arbeit. Dabei entdeckte sie auch die Geschichte als Mittel der Erziehung: Es sei notwendig, "der Jugend den Kampf der Arbeiterklasse und die revolutionären Traditionen der Arbeiterjugend bewußt zu machen und sie mit Dankbarkeit und Verantwortungsgefühl dafür zu erfüllen, würdige Mitkämpfer und Fortsetzer dieses 5 Pietschmann, Horst'. Konferenz zur Geschichte der FDJ, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG) 31 (1989), S. 729f, zit. S. 730. 6 Vgl. Beschluß des Zentralrats der FDJ, 25.4.1957, in: Dokumente der 16. Tagung des Zentralrats der FDJ, Berlin 25.4.1957, herausgegeben vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend, o.O. und o.J., S. 22ff, besonders S. 30. Diesen Generationen Wechsel hatte die SED schon ein Jahr zuvor festgestellt; vgl. den Beschluß des Politbüros 'Der Jugend unser Herz und unsere Hilfe', 24.1.1956, in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen des Zentralkomitees sowie seines Politbüros und seines Sekretariats, Bd. VI, Berlin 1958, S. 1 Iff, besonders S. 11.
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Werkes zu sein".7 Zugleich hoffte die FDJ, die Jugendlichen der DDR damit gegen Propaganda, Werte und Lebensweise des Westens immunisieren zu können. Absicht von SED und FDJ war es, die angestrebte ideologische Erziehung der Heranwachsenden zur Loyalität zu Staat und Partei und zum Einsatz für deren Ziele auch mittels einer entsprechenden Geschichtspropaganda zu intensivieren. Die seit 1990 in den Archiven der ehemaligen DDR zugänglichen Akten erlauben es nicht nur, die Geschichte der FDJ auf neuer Grundlage zu erforschen; sie ermöglichen es auch, die Genese der umfangreichen, in Ostdeutschland entstandenen Literatur zur Geschichte der Jugendorganisation zu rekonstruieren. Dabei werden die Steuerungs- und Kontrollmechanismen erkennbar, denen sich die historische Jugendforschung in der DDR, die im Hinblick auf die Zeit nach 1945 de facto eine FDJ-Forschung war, unterwarf. Die Funktionsweise dieser Mechanismen und ihr Einfluß auf die publizierten und die unveröffentlichten Forschungsergebnisse läßt sich nun nachvollziehen. Die ersten Forschungen zur Geschichte der FDJ mit wissenschaftlichem Anspruch entstanden im Rahmen der sich konstituierenden Zeitgeschichtsschreibung der DDR, der die SED in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen begann. 1955 hatte das Politbüro der Partei scharfe Kritik an den Historikern der DDR geübt. Diese sollten sich von nun an stärker mit den Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung und der deutschen Geschichte nach 1945 befassen und diese auf der Basis der parteioffiziellen Sichtweise des historischen Materialismus erforschen und darstellen. Damit versuchte die Parteiführung, eine von ihr als "marxistisch" apostrophierte Historiographie in der DDR vollends durchzusetzen. Deren Ergebnisse sollten der Auseinandersetzung mit der westdeutschen Geschichtsschreibung und der Popularisierung der historischen und politischen Sichtweise der Partei in der Bevölkerung - in Ost und West - dienen.8 Überdies suchte die Partei ihre Herrschaft auch mittels der Zeitgeschichte zu begründen und auf diese Weise das Defizit ihrer mangelnden demokratischen Legitimation zu überdecken. Die Indienstnahme der Geschichtswissenschaft für diesen Zweck entsprach dem von der SED erhobenen gesamtgesellschaftlichen Führungsanspruch; ihr stellte sie die Aufgabe, "durch vertiefte Ausarbeitung und 7 Beschluß des Zentralrats der FDJ, 25.4.1957, a.a.O., S. 30; vgl. auch die Forderung, die Geschichte der Arbeiterklasse und der Arbeiteljugendbewegung mit Bezug auf die zeitgenössische Politik als Mittel der Erziehung einzusetzen, im Beschluß des FDJ-Zentralrats, 19./20.12.1957, in: Dokumente der 19. Tagung des Zentralrats der FDJ, herausgegeben vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend, o.O. und o.J, S. 53ff, hier S. 61. 1 Vgl. Beschluß des Politbüros "Die Verbesserung der Forschung und Lehre in der Geschichtswissenschaft der Deutschen Demokratischen Republik", 5.7.1955, Auszüge in: Hoffmann, Dierk /Schmidt, Karl-Heinz / Skyba, Peter. Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949 - 1961, München 1993, S. 216ff.
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Darlegung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes zur wissenschaftlichen Begründung und zum tieferen Verständnis der Politik der Partei" beizutragen.9 Die jeweüs aktuelle Politik der SED war als Fortsetzung einer bereits in der Vergangenheit 'wissenschaftlich* begründeten Strategie und Praxis darzustellen und umgekehrt die Vergangenheit ungeachtet aller Brüche unter dem aktuell geltenden politischen Blickwinkel zu betrachten. Geschichtsdarstellungen hatten also die Prämissen der jeweiligen zeitgenössischen Politik der SED in die Vergangenheit zu verlängern und deren Kontinuität und Richtigkeit zu beweisen, um auf diese Weise die Parteiherrschaft historisch zu legitimieren. Als Teil der Zeitgeschichtsforschung unterlagen die Ende der fünfziger Jahre entstandenen Institutionen, die sich der Geschichte der deutschen Arbeiterjugendbewegung und der FDJ widmeten, den gleichen Rahmenbedingungen. Für eine gleichermaßen jugendgemäße wie auf wissenschaftlichen Forschungsergebnissen basierende Geschichtsagitation fehlten 1957 allerdings alle Voraussetzungen. Es existierten weder Darstellungen der Geschichte der Arbeiterjugendbewegung und der FDJ noch bestanden Forschungseinrichtungen, die sich speziell mit diesen historischen Themengebieten befaßten. Die ersten Publikationen zur FDJ in der DDR, zum Teil herausgegeben vom Zentralrat der Jugendorganisation, hatten - selbst nach dem, was die eigene Arbeit betraf, sehr weitgefaßten Wissenschaftsverständnis der ostdeutschen Jugendgeschichtsforscher - allenfalls "geschichtspropagandistischen"10 Charakter. Dazu zählt etwa ein Band mit zeitgenössischen Dokumenten und Erinnerungen ehemaliger führender Funktionäre zur Geschichte der Arbeiterjugendbewegung und zur Anfangszeit der FDJ11 und Ausgaben oft willkürlich ausgewählter, gekürzter und meist schon früher in Broschüren und in der Presse veröffentlichter Reden kommunistischer Spitzenfunktionäre. 12 Zum zehnjährigen Bestehen der FDJ erschien ein reich 9 Zentraler Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR bis 1975, in: Einheit 27 (1972), S. 169ff, zit. S. 180; der Forschungsplan war im Januar 1972 vom Politbüro bestätigt worden. Zur Entwicklung der Zeitgeschichtsforschung in der DDR vgl. Schütte, Hans-Dieter: Zeitgeschichte und Politik. Deutschland- und blockpolitische Perspektiven der SED in den Konzeptionen marxistisch-leninistischer Zeitgeschichte, Bonn 1985; eine komprimierte Auseinandersetzung mit der "Parteilichkeit" der DDR-Historiographie in Weber, Hermann: Die DDR 1945 - 1990, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, München 1993 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte Bd. 20), S. 125ff. 10 Vgl. Jahnke, Karl Heinz: Zur Entwicklung der Jugendgeschichtsforschung in der DDR, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe (nachfolgend zitiert als W Z Rostock) 28 (1979), S. 449ff, zit. S. 451. 11 Vgl. Deutschlands junge Garde. 50 Jahre Arbeiteijugendbewegung, Berlin 1954; der zweite Band der überarbeiteten Neuauflage enthält weitere Erinnerungen zur Geschichte der FDJ; vgl. Deutschlands junge Garde, 2 Β de, Berlin 1959. 12
Vgl. Lenin/Stalin: Über die Jugend, Berlin 1950; Ulbricht, Walter: An die Jugend, Berlin 1954; Dimitroff, Georgi: An die Jugend, Berlin 1955; Grotewohl, Otto: A n die Jugend, Berlin 1955; Pieck, Wilhelm: A n die Jugend, Berlin 1955.
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illustrierter Materialienband, dem eine konkrete politische Zielsetzung zugrunde lag: Er sollte dazu beitragen, "die deutsche Jugend für den Kampf gegen den Militarismus und die Kriegspläne der deutschen Imperialisten für die Verwirklichung der Grundrechte der Jugend in ganz Deutschland und für die Wiedervereinigung Deutschlands auf demokratischer Grundlage zu gewinnen".13 Das in Zusammenarbeit mit dem Institut für Marxismus-Leninismus (IML) beim ZK der SED herausgegebene Buch stellte die Gründung der Jugendorganisation dezidiert in den Kontext der Geschichte der kommunistischen Arbeiterjugendbewegung. Es enthält eine der plumpesten Quellenfälschungen der DDR-Propagandisten jener Jahre. Auf dem faksimiliert wiedergegebenen Gründungsbeschluß der FDJ vom Frühjahr 1946 wurden die Unterschriften einiger inzwischen mißliebiger Gründungsmitglieder - so die des in den vierziger Jahren zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilten Manfred Klein - wegretuschiert.14 Fälschungen finden sich auch in veröffentlichten Primärdokumenten zur Geschichte der FDJ. So handelt es sich bei den heute meist benutzten Protokollbänden der ersten drei Parlamente der FDJ in den vierziger Jahren um zensierte Zweitauflagen aus dem Jahr 1952. Es bedurfte daher einer Institution, die den neuen Anforderungen an die Jugendgeschichtsschreibung gerecht werden konnte. Dabei ging es wohlgemerkt nicht um ein mehr an Objektivität, sondern um eine gesteigerte parteikonforme Produktivität der Historiker. Die erste Initiative zur Einrichtung eines derartigen Gremiums kam von der FDJ. Die Abteilung Propaganda des Zentralrats schlug vor, eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe speziell zur Erforschung der Geschichte der FDJ und der westdeutschen Jugendbewegung nach 1945 einzurichten.15 Die Abteilung entwikkelte auch inhaltliche Vorschläge, mit denen "die Erziehung der Jugend anhand der Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung und besonders der revolutionären Traditionen der Arbeiterjugendbewegung im Kampf um den Sieg des Sozialismus" intensiviert werden sollte.16 Das Sekretariat des Zentralrats beschloß im August 1958 eine entsprechende Arbeitsgruppe, bestehend aus 2 FDJ-Funktionären und einem Vertreter des Verbandsorgans Junge Welt, bei der Abteilung Propaganda zu bilden und übertrug ihr die Aufgabe, "die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, den Kampf um die politisch-ideologische Festigung des Verbandes und die 13 Zur Geschichte der ArbeiteijugendbeWegung in Deutschland. Eine Auswahl von Materialien und Dokumenten 1904-1946, Berlin 1956, S. 5. 14 Vgl. a.a.O. S. 366. Zu den Fälschungen in der DDR-Historiographie der fünfziger und frühen sechziger Jahre vgl. Weber, Hermann: Ulbricht fälscht Geschichte. Ein Kommentar mit Dokumenten zum "Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung", Köln 1964. 15 Vgl. Schreiben der A b t Propaganda des FDJ-Zentralrats an das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 8.4.1958, SAPMO-BArch ZPA, I V 2/9.04/124, Bl. lOff. 16 Entwurf betreffend "Maßnahmen zur wissenschaftlichen Erforschung, zum Studium und zur verstärkten Verbreitung der Traditionen und Lehren der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung einschließlich der FDJ", 1.4.1958, SAPMO-BArch ZPA, IV 2/9.04/124, Bl. Iff, zit. Bl. 1.
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sozialistische Erziehung der Jugend darzustellen und zu unterstützen" [sie]. 17 Nach diesem Beschluß, der auch die thematischen Schwerpunkte der weiteren Arbeit festlegte, sollte das Gremium in engem Kontakt mit der Abt. Wissenschaft des ZK der SED und dem I M L auch Einfluß auf die universitären Forschungsvorhaben zur Geschichte der FDJ und der westdeutschen Jugendbewegung nehmen. Gleichzeitig installierte das Sekretariat eine Kommission zur Erforschung der FDJ-Geschichte beim Zentralrat, der neben den Mitgliedern der Arbeitsgruppe mehrere höhere Verbandsfunktionäre angehören sollten. Sehr schnell stellte sich heraus, daß die Arbeitsgruppe ihren Aufgaben - sie sollte u.a. bis 1960 eine 400 Seiten umfassende Geschichte der FDJ sowie einen Dokumentenband vorlegen - nicht gewachsen war. Im Frühjahr 1959 beschloß die FDJFührung daher, diese Gremien umzustrukturieren. Die Arbeitsgruppe zur Erforschung der FDJ-Geschichte wurde, personell verstärkt, aus der Abt. Propaganda herausgelöst und einem Sekretär des Zentralrats unterstellt. Unter gleicher Leitung wurde eine zweite Arbeitsgruppe beim Zentralrat gebildet, die sich mit der Geschichte der deutschen Arbeiterjugend bis 1945 beschäftigen und ihren Sitz im I M L haben sollte. Die Kommission zur Erforschung der Geschichte der FDJ sollte durch Vertreter u.a. des IML, des Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim ZK, der Parteihochschule "Karl Marx", des Instituts für Zeitgeschichte, einen Sekretär des Zentralrats, Heinz Kimmel, und weitere hohe FDJ-Funktionäre aus der Anfangszeit des Verbands ergänzt werden. Zur Absicherung der politischen Linie der Arbeitsergebnisse beschloß die FDJ-Führung zusätzlich, daß alle erarbeiteten Materialien Erich Honecker, Mitglied des Politbüros, und Paul Verner, Kandidat des Politbüros, vorzulegen seien. 1 8 Auf diese Weise konnten die einstigen Protagonisten der Jugendpolitik in der SBZ und der frühen DDR über ihr eigenes Bild in historischen Darstellungen entscheiden. Im gleichen Beschluß billigte das Sekretariat auch eine Initiative der FDJ-Bezirksleitung Rostock. Dort hatte Erich Jawinsky, Sekretär der Bezirksleitung und wissenschaftlicher Assistent an der Universität Rostock, schon im Dezember 1958 einen detaillierten "Plan zur Erforschung und Zusammenstellung der Geschichte der FDJ in Mecklenburg bzw. im Bezirk Rostock (1945-1958)" vorgelegt. 19 Das Sekretariat hob an diesem Vorhaben besonders dessen auf die politisch-ideologische Erziehung gerichtete Zielsetzung hervor und empfahl ihn den anderen Bezirks-
17 Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des FDJ-Zentralrats, 19.8.1958, sowie Anlage zum Protokoll, SAPMO-BArch FDJ, A 2.623. 11 Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des FDJ-Zentralrats, 10.3.1959, sowie Anlage zum Protokoll, SAPMO-BArch FDJ, A 2.620. 19
Vgl. SAPMO-BArch ZPA, IV 2/9.04/124, Bl. 225ff.
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leitungen als Vorbild. 20 Aus dieser Initiative entstand die 'Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte des sozialistischen Jugendverbandes', die 1959 am Historischen Institut der Universität Rostock ihre Arbeit aufnahm. 21 In der Folge übernahm diese Institution die wissenschaftliche Arbeit. Sie kooperierte dabei eng mit der FDJ-Führung. Vor allem die 'Kommission zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterjugendbewegung und der FDJ' beim Zentralrat gewann in diesem Zusammenhang als politisches Organ, das die entsprechenden Forschungen anzuleiten und zu kontrollieren hatte, erhöhte Bedeutung. Unter Leitung des Zentralratssekretärs Helmut Müller sollte die Kommission zudem die FDJ-Führung bei der "propagandistischen Arbeit mit der Geschichte" beraten, Forschungen zur Geschichte anregen und alle historischen Publikationen des Verbandes begutachten.22 Mit der 1962 gegründeten 'Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der Geschichte der revolutionären deutschen Jugendbewegung' bei der Deutschen Historiker-Gesellschaft wurden alle universitären Forschungen zu diesem Themenbereich unter eine einheitliche Leitung gestellt. Von der Arbeitsgemeinschft unter Vorsitz des Greifswalder Historikers Karl Heinz Jahnke koordiniert, sollte unter anderem an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig die Jugendbewegung bis 1917 und an der Universität Greifswald die Jugendbewegung bis 1945 untersucht werden. Als Leiteinrichtung für die Forschungen zur FDJ fungierte die von Erich Jawinsky aufgebaute und zunächst geleitete Arbeitsgruppe des Historischen Instituts der Universität Rostock.23 Die Konzeption für diese Forschungseinrichtung hatten die FDJ-Führung und das Historische Institut der Universität Rostock gemeinsam entworfen und darin den Einfluß der FDJ-Führung auf die Arbeit des Instituts festgeschrieben: Grundlage seiner Arbeit waren danach die Beschlüsse des Sekretariats des Zentralrats, der Kommission zur Erforschung der FDJ-Geschichte beim Zentralrat und des Wissenschaftlichen Beirats für Geschichte beim Staatssekretariat für das Hoch- und Fach20 Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des FDJ-Zentralrats, 10.3.1959, sowie Anlage zum Protokoll, SAPMO-BArch FDJ, A 2.620. 21 Vgl. Fabian, Gerda: Über die Tätigkeit der Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte des sozialistischen Jugendverbandes, in: BzG 3 (1961), S. 437ff. 22 Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des FDJ-Zentralrats, 27.10.1959, sowie Anlage zum Protokoll, SAPMO-BArch FDJ, A 3.741. 23 Vgl. "Wenn wir gemeinsam kämpfen, sind wir unüberwindlich". Protokoll der wissenschaftlichen Konferenz "Erfüllt das Vermächtnis der Helden des antifaschistischen Widerstandskampfes - kämpft für die Überwindung des westdeutschen Imperialismus und Militarismus." Herausgegeben vom Zentralrat der FDJ, Abteilung Agitation und Propaganda und der Arbeitsgemeinschaft der DHG "Geschichte der revolutionären Jugendbewegung". Berlin o.J. und "Die Jugend im antifaschistischen Widerstandskampf in Deutschland (1933-1945)". Wissenschaftliche Konferenz in Greifswald. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG), 10 (1962), S. 941-948, besonders S. 947, sowie die Konzeption der Arbeitsgemeinschaft 'Geschichte der revolutionären Jugendbewegung bei der Deutschen Historiker-Gesellschaft', 24.1.1962, SAPMO-BArch FDJ, A 5.712.
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schulwesen. Es sollte alle Forschungsvorhaben auf diesem Gebiet koordinieren und anleiten sowie Kandidaten für Staatsexamens- und Diplomarbeiten und für Dissertationen zur Geschichte der Jugendbewegung heranziehen. Seine funktionale Hauptaufgabe bestand in der Lehrerausbildung. Daneben hatte das Institut auch wissenschaftliche Kader für die FDJ auszubilden und FDJ-Funktionären die Möglichkeit zu geben, über das Fernstudium im Fach Geschichte das Diplom der Philosophischen Fakultät zu erwerben. 24 Mit der Zentralisierung der Forschungen zur Geschichte der FDJ und dem Einfluß der FDJ-Führung auf diese Forschungen hatten sich bis 1962 die Institutionen gebildet, die das Profil dieses Bereichs der Zeitgeschichte bis 1989 im wesentlichen prägten. Setzte schon die institutionelle Anbindung aller Gremien, die die Geschichte der FDJ erforschen und in Publikationen darstellen sollten, an eben diese Jugendorganisation der kritischen wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit Grenzen, so war deren Spielraum zusätzlich durch thematische und politisch-ideologische Vorgaben von Anfang an weiter eingeschränkt. Für die Forschungstätigkeit der Arbeitsgruppe der FDJ hatte das Sekretariat des Zentralrats schon 1958 verlangt, davon auszugehen, "daß die Entstehung und Entwicklung der FDJ untrennbar mit dem Kampf der SED bzw. KPD um eine glückliche Zukunft des deutschen Volkes und der deutschen Jugend verbunden ist.... Das Verhältnis zwischen Partei und Jugendverband, die Rolle des Jugendverbands als Reserve und Helfer der Partei bei der Durchsetzung ihrer Politik muß deshalb bei allen Fragen zum Ausgangspunkt der Untersuchungen genommen werden." Grundlage der Forschungen sollten "die Beschlüsse des ZK der SED, des Zentralrates bzw. des [westdeutschen] Zentralbüros der FDJ, der Parlamente der FDJ und Berichte erfahrener Verbandsfunktionäre" sein.25 Doch es waren nicht nur diese Vorgaben und die immer wieder erhobene Forderung, daß die Darstellung der FDJ-Geschichte zur politischen Erziehung der Heranwachsenden dienen sollte, welche die Rahmenbedingungen der zeitgeschichtlichen Jugendforschung in der DDR konstituierten. Vielmehr hatten sich die Arbeitsgruppe der FDJ wie auch das Institut der Universität Rostock vor allem mit den "Leistungen" der Massenorganisation und der Jugendlichen bei den Umwälzungen in der SBZ und der DDR, ihrem Anteil am wirtschaftlichen Aufbau, ihren Beziehungen zum Komsomol und ihrem Kampf "gegen die Spaltung" Deutschlands zu befassen. 26
24
Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des FDJ-Zentralrats, 10.5.1960, sowie Anlage zum Protokoll, SAPMO-BArch FDJ, A 3.746/1. 25 Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des FDJ-Zentralrats, 19.8.1958, sowie Anlage zum Protokoll, SAPMO-BArch FDJ, A 2.623. 26
Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des FDJ-Zentralrats, 10.5.1960, sowie Anlage zum
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Wie die Anfang der sechziger Jahre erschienenen Veröffentlichungen zeigten, blieben diese politischen Vorgaben keineswegs auf dem Papier - die mit der Geschichte der FDJ befaßten Forscher erfüllten durchaus die in sie gesetzten Erwartungen. Als erste umfassendere Publikation, betreut von der Arbeitsgruppe Geschichte der FDJ, erschien ab 1960 eine vierbändige Dokumentensammlung zur Geschichte der FDJ. 27 Sie enthielt eine Vielzahl von Beschlüssen der führenden Gremien von FDJ und SED, Redeauszüge von Spitzenfunktionären, Aufrufe zu Wettbewerben, Grußadressen und Glückwunschschreiben. Die Mehrzahl der Texte war schon zuvor - meist in der 'Jungen Welt' - veröffentlicht worden. Vereinzelt wurden aber auch Archivdokumente in die Bände aufgenommen. Wissenschaftlichen Kriterien hält die Veröffentlichung jedoch nicht stand. Als editorischer Grundsatz läßt sich allenfalls die angestrebte propagandistische Wirkung ausmachen. Die Sammlung bietet keinen Überblick über wichtige Entscheidungen der FDJ-Führung. Dokumente, die aus der politischen Sichtweise der späten fünfziger Jahre nicht mehr opportun erschienen, fanden ungeachtet ihrer zeitgenössischen Bedeutung keine Aufnahme. 28 Zudem wurde der Charakter einzelner Texte systematisch verfälscht, indem Teile, in denen Kritik an der Arbeit der FDJ geübt worden war, eliminiert wurden. 29 Mit dem Entwurf einer Geschichte der deutschen Arbeiterjugendbewegung legte die 'Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der Geschichte der deutschen Jugendbewegung' 1966 zum 20. Jahrestag der FDJ-Gründung ein erstes ausführliches Arbeitsergebnis vor. Die beiden Bände waren die erste Gesamtdarstellung dieser Thematik von ihren Anfängen bis zum Jahr 1964.30 Die ideologischen Prämissen für das Werk sowie seine Ergebnisse hatte die SED vorformuliert: Die zu erstellende "Geschichte der deutschen Arbeiterjugendbewegung" habe "den Nachweis zu erbringen: a) daß die Arbeiterklasse die Führerin der Nation ist und daß die Arbeiterjugend ständig an der Seite der Arbeiterklasse gekämpft hat... b) daß die deutsche Bourgeoisie ihren Anspruch auf die Führung Deutschlands verspielt hat, daß sie Protokoll, SAPMO-BArch FDJ, A 3.746/1. und Protokoll der Sitzung des Sekretariats des FDJ-Zentralrats, 19.8.1958, sowie Anlage zum Protokoll, SAPMO-BArch FDJ, A 2.623. 27
Vgl. Dokumente zur Geschichte der Freien Deutschen Jugend, 4 Bde., Berlin 1960-1963.
21
So etwa der Beschluß des Zentralrats vom 19.8.1953, mit dem die FDJ-Führung auf den 17. Juni reagierte, und der Zentralratsbeschluß vom 3./4.2.1956, der die politische Linie des Verbands bis Anfang 1957 festlegte. ® Beispielsweise fehlt im Beschluß des Büros des FDJ-Zentralrats über die politische Schulungsarbeit 1953/54 vom 9.9.1953 (Dokumente der FDJ, Bd. ΙΠ, S. 169-S. 176) eine kritische Passage über die schlechte Arbeit der FDJ-Leitungen im bisherigen Schuljahr; die Auslassung ist nicht kenntlich gemacht Daß es sich um einen Dokumentenauszug handelt wird nur aus der Überschrift deutlich ("Aus dem Beschluß des Büros ..."). 30 Abriß der Geschichte der deutschen Arbeiteljugendbewegung. Entwurf, 2 Bde, herausgegeben im Auftrag des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend von der Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Berlin 1966.
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stets die Feinde der deutschen Jugend waren ... c) daß die Jugendorganisationen nur ihre Ziele und ihre Aufgaben verwirklichen können, wenn sie von einer marxistischleninistischen Partei geführt werden.... g) daß die Wahrheit über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Arbeiterjugendbewegung nur vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus wahrheitsgetreu ausgearbeitet werden kann."31 Bei der Erforschung dieser Geschichte müsse "von den Beschlüssen der Partei ausgegangen werden. Die Beschlüsse der Partei und die Reden der leitenden Genossen sind wissenschaftliche Dokumente und müssen als solche studiert werden." 32 In der Konzeption entsprach der Entwurf der nahezu zeitgleich entstandenen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. 33 Beide Werke waren an der nationalen Grundkonzeption bzw. dem nationalen Geschichtsbild ausgerichtet, das Ulbricht Ende der fünfziger Jahre für die zeithistorische Darstellung der deutschen Vergangenheit für verbindlich erklärt hatte. Die revolutionären Umwälzungen in der SBZ/DDR waren danach gleichzeitig als Kampf für die Einheit Deutschlands zu interpretieren und die nationale Frage mit der politisch-sozialen zu verknüpfen. 34 Der zweite Band des Entwurfs der Geschichte der deutschen Arbeiterjugendbewegung enthielt die bis dahin umfassendste Darstellung der historischen Entwicklung der FDJ. Diese war in ausführliche Schilderungen der parteioffiziellen Sicht weise der SED-Politik eingebettet, die in erster Linie, entsprechend den Vorgaben, aus ihren gesamtdeutschen Zielen erklärt wurde. Auch die Entwicklung und die Politik der linken Jugendorganisationen in Westdeutschland wurden aus dieser Perspektive kurz angerissen bzw. interpretiert. Aufgrund der umfangreichen Vorarbeiten - der Entwurf basierte auf mehr als einhundert Diplomarbeiten und einigen Dissertationen allein zur Geschichte der FDJ und auf einer kaum geringeren Anzahl von Arbeiten zu verschiedenen Aspekten der (Arbeiter-) Jugendbewegung vor 1945 sowie in der Bundesrepublik35 - bot er einen vergleichsweise materialreichen Überblick über die Geschichte der FDJ. Entsprechend den ideologischen Vorgaben erschien die FDJ als selbständige Jugendorganisation, die sich unter der Führung der SED für deren Ziele einsetzte. Die tatsächliche Dimension der Unterordnung des Jugendverbands unter die Partei, deren bis ins kleinste gehende Reglementierung und Kontrolle durch die 31 "Konzeption über die weitere Perspektive unserer Arbeit auf dem Gebiet der historischen Behandlung unserer Jugendprobleme" der ZK-Abteilung Jugend, 18.10.1962, SAPMO BArch. ZPA, I V 2/16/4, Bl. 194-203, zit. Bl. 195f. 2
Ebenda.
33 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiteibewegung, herausgegeben vom Institut für MarxismusLeninismus beim Zentralkomitee der SED, 8 Bde., Berlin 1966. 34
35
Vgl. hierzu Schütte, Zeitgeschichte und Politik, S. 51ff.
Vgl. die erste Auflage der 'Bibliographie über die in der Deutschen Demokratischen Republik angefertigten Arbeiten zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung', Berlin 1969 (Schriftenreihe zur Geschichte der FDJ Bd. 11).
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SED, die durch ihre oftmals kurzfristigen Aufträge und abrupten Kurswechsel die Jugendorganisation nicht selten vor harte Belastungsproben stellte, wurden nicht thematisiert. Um die geforderte weitgehend konfliktfreie Erfolgsgeschichte der FDJ präsentieren zu können, schilderten die Autoren detailliert Leistungen Jugendlicher in den von der FDJ organisierten Wettbewerben und Aufgeboten. Probleme und Krisen, mit denen sich die FDJ in ihrer Geschichte immer wieder konfrontiert sah, blieben dagegen ausgeblendet oder wurden nur allgemein und knapp angesprochen. Trotz handwerklicher Mängel und einer monotonen Sprache sticht der Entwurf gegenüber späteren Veröffentlichungen gleichen Zuschnitts dennoch heraus. Die Autoren hatten stellenweise versucht, die Haltung von wesentlichen Gruppen der Heranwachsenden in der DDR zu bestimmten politischen Themen darzustellen. Dabei wirdansatzweise deutlich, daß die FDJ mit ihrer Politik durchaus auf Ablehnung stieß, so etwa mit ihren Rekrutierungsmaßnahmen für die im Aufbau befindliche Armee nach der Übernahme der Patenschaft über die Volkspolizei im Jahr 1952. 36 Auch die Republikflucht Jugendlicher wurde, verbrämt als 'Abwerbung', immerhin erwähnt. Daß die FDJ aber unter der Mehrheit der Jugendlichen über lange Jahre kaum Resonanz fand, wurde völlig ausgespart. Während der erste Band des Abrisses die Grundlage für eine umfangreiche Darstellung der Geschichte der Arbeiterjugendbewegung bildete37, blieben die Publikationsbemühungen für eine Geschichte der FDJ bei diesem Entwurf stecken. Der Grund dürfte im sich nach 1968 abzeichnenden Wandel der Perspektive der SED auf die Nachkriegsgeschichte zu suchen sein, der eine abschließende Veröffentlichung entsprechend der 1966 vorgelegten Konzeption nicht mehr zuließ. Im Vorfeld der dritten Hochschulreform in der DDR vom April 1969, die u.a. durch eine stärkere Zentralisierung die Voraussetzung für eine stärkere Einbeziehung der Universitäten und Hochschulen in den gesamtgesellschaftlichen Planungsprozeß schaffen sollte, wurde die 'Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der Geschichte der revolutionären deutschen Jugendbewegung' aufgelöst und die mit der Thematik befaßten Wissenschaftler als Forschungsgruppe 'Geschichte der Jugendbewegung' unter der Leitung von Karl Heinz Jahnke an die Sektion Geschichte der Universität Rostock angegliedert. Diese Einrichtung wurde für alle Forschungen in der DDR zur Jugendbewegung verantwortlich gemacht.38 Ihre Arbeitsgrundlage bildete, neben Vereinbarungen mit dem IML, ein formeller Vertrag zwischen dem Zentralrat der FDJ und der Rostocker Universität aus dem Jahr 1968, in dem der Jugendverband die Forschungsaufgaben bis ins Jahr 1980 mit dem Schwerpunkt der eigenen Verbandsgeschichte detailliert vorgab. Gleichzeitig wurde eine materielle 36
Vgl. Abriß der Geschichte der deutschen Arbeiteijugendbewegung, Bd. II, S. 234f.
37
Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterjugendbewegung 1904-1945, Berlin 1973.
31
Vgl. Jahnke, Zur Entwicklung der Jugendgeschichtsforschung in der DDR, S. 452.
11 Timmermann
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Unterstützung der Forschungen durch die FDJ vereinbart. 39 Auch nach dieser Umstrukturierung behielt die FDJ damit den entscheidenden Einfluß auf die Darstellung der eigenen Geschichte. Die Arbeit der Rostocker Forschungsgruppe stand seit den siebziger Jahren im Zeichen verstärkter Anstrengungen der SED, die Geschichte wirkungsvoller als in der Vergangenheit zur Legitimation ihrer Politik zu instrumentalisieren. Der Geschichtswissenschaft wurde die Aufgabe angetragen, in der Bevölkerung der DDR ein "sozialistisches Geschichtsbewußtsein" zu entwickeln. Als solches galten die "klassenmäßigen Einstellungen und Überzeugungen von der Gesetzmäßigkeit des Sieges des Sozialismus und der historischen Mission der Arbeiterklasse, von der Notwendigkeit der führenden Rolle der marxistisch-leninistischen Partei der Arbeiterklasse, der Rolle der UdSSR in Gegenwart und Zukunft ... sowie von der geschichtlichen Überlebtheit des Imperialismus". 40 1980 verlangte das Politbüro von den Historikern "mit der weiteren Ausarbeitung und massenwirksamen, lebendigen Verbreitung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes zur sozialistischen Bewußtseinsentwicklung" beizutragen.41 Diese ideologischen Initiativen wandten sich auch und besonders an die Jugendlichen in der DDR. Im Jugendgesetz von 1974 formulierte die SED das Ziel, die Heranwachsenden zu "sozialistischen Persönlichkeiten" zu erziehen.42 Diese sollten sich u.a. durch ein "sozialistisches Geschichtsbewußtsein" auszeichnen.43 Als Leiter der Rostocker Arbeitsgruppe machte Jahnke die Bemühungen, durch entsprechende historische Darstellungen zur politischen Sozialisation der Heranwachsenden beizutragen, zur Maxime ihrer Tätigkeit: "Gehen wir davon aus, daß es eine Hauptaufgabe der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft ist, sozialistisches Geschichtsbewußtsein zu entwickeln, so ergeben sich hieraus eine Reihe von Schlußfolgerungen. Wir widmen uns der Geschichte der FDJ vor allem, 30 Vgl. Veitrag zwischen der Universität Rostock und dem Zentralrat der FDJ, SAPMO-BArch FDJ, A 10.509. In vier umfassenden Vereinbarungen, deren letzte 1986 abgeschlossen wurde, paßte die FDJ in den folgenden zwei Jahrzehnten die wissenschaftlich-propagandistische Zusammenarbeit an die jeweils gültige Paiteilinie der SED an; vgl. Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen dem Zentralrat der FDJ und der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock für den Zeitraum 1986 bis 1990, 7.2.1986, SAPMOBArch FDJ, A 10.845. 40 Meier, Helmut: Sozialistisches Geschichtsbewußtsein in unserer Zeit, in: Einheit 28 (1973), S. 705ff, zit. S. 706. 41 Zentraler Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR 1981 bis 1985, in: Einheit 35 (1980), S. 1209ff, zit. S. 1218. 42
Vgl. Jugendgesetz der DDR vom 28.1.1974, Gesetzblatt der DDR, Nr. 5 1974, S. 47ff, besonders
S. 48. 43 Vgl. Jahnke, Karl Heinz'. Zur Rolle der Geschichte der FDJ bei der sozialistischen Bewußtseinsbildung der Jugend der DDR, in: WZ Rostock 24 (1975), S. 157ff, besonders S. 158.
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weil in ihr eine wichtige Potenz für die klassenmäßige Erziehung der Jugend zu suchen ist." 44 Aus dieser ideologischen Intention leitete Jahnke auch thematische Schwerpunktsetzungen ab. Im Zentrum der künftigen Forschungen sollten "das erfolgreiche Wirken der FDJ als Helfer und Reserve" der SED sowie ihre Beziehungen zum Komsomol und den Jugendverbänden anderer Ostblockländer stehen.45 Daß es sich bei der von Jahnke formulierten Unterordnung der Forschungen zur Geschichte der FDJ unter politisch-ideologische Prämissen keineswegs nur um eine formelle Anpassung an die Geschichtspolitik der SED handelte, unter deren Schutz die Forschungsgruppe wissenschaftlich eigenständig arbeiten wollte oder konnte, zeigten die Veröffentlichungen der folgenden Jahre. Die Basis dieser Publikationen bildeten wieder zahlreiche Diplomarbeiten und vor allem Dissertationen. Zeitlich nahmen die Forschungsgruppe und die von ihr angeleiteten Historiker und Pädagogen neben der Entstehungsgeschichte der FDJ und ihrer Entwicklung in den sechziger Jahren auch die aus zeitgenössischer Perspektive unmittelbare Vergangenheit bis Mitte der achtziger Jahre ins Blickfeld. Während in der 'Schriftenreihe zur Geschichte der FDJ' vorwiegend propagandistische Artikel und Konferenzbeiträge erschienen, wurden Aufsätze und knapp zusammengefaßte Ergebnisse unveröffentlicher Dissertationen, mit denen ein wissenschaftlicher Anspruch erhoben wurde, in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Universität Rostock und ab 1978 in einem eigenen, von der Universität Rostock herausgegebenen Periodikum, 'Beiträge zur Geschichte der FDJ', veröffentlicht. Arbeiten, die interpretatorische Leitlinien vermitteln sollten, erschienen auch in den 'Beiträgen zur Geschichte der Arbeiterbewegung' und der 'Zeitschrift für Geschichtswissenschaft'. 46 In der Konzeption der Arbeiten paßten sich die Forscher der neuen, ab 1971/72 gültigen parteioffiziellen Sicht weise der deutschen Nachkriegsgeschichte an.47 Hintergrund des Wandels zum 'internationalistischen Geschichtsbild' der SED war die demonstrative Abgrenzung der DDR gegenüber der Bundesrepublik. Die Absage der SED an eine gemeinsame deutsche Nation ging mit Bestrebungen einher, sich stärker in das östliche Lager zu integrieren. Die nationale Frage wurde aus der Gegenwart und aus der Geschichte verdrängt. Hatte die SED bis in die späten sechziger Jahre immer die besondere Entwicklung zum Sozialismus in Deutschland seit 1945 - bedingt durch die Spaltung des Landes - betont, so hob sie nun die Wesensgleichheit des Umwandlungsprozesses mit den Volksdemokratien hervor. 44
A.a.O., S. 162.
45
A.a.O., S. 163.
46
Einen Überblick über die bis 1987 entstandenen Publikationen und unveröffentlichten Diplomarbeiten und Dissertationen bietet die 'Bibliographie über die in der Deutschen Demokratischen Republik angefertigten Arbeiten zur Geschichte der Jugendbewegung', Berlin 1988 (Schriftenreihe zur Geschichte der FDJ Bd. 67). 47
11*
Vgl. zum folgenden Schütte, Zeitgeschichte und Politik, S. 82ff und S. 138ff.
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Der Sozialismus sei dementsprechend in einem kontinuierlichen revolutionären Prozeß und nicht, wie zuvor betont, im Verlauf von zwei getrennten Revolutionen (einer gesamtdeutsch ausgerichteten, antifaschistisch-demokratischen 1945-1949 und einer sozialistischen nach 1949) errichtet worden. Auch die Rolle der Sowjetunion in diesem revolutionären Prozeß erfuhr eine Umwertung. Hatte nach der alten Sichtweise das Volk die Umwälzung lediglich mit der Unterstützung der Sowjetunion vollbracht, so galt nun die östliche Führungsmacht als innerer Faktor im revolutionären Prozeß auf dem Gebiet der DDR. Das neue Geschichtsbild der SED schlug sich auch in den Forschungen zur Geschichte der FDJ nieder. Hatten sich diese 1966 noch am nationalen Geschichtsbild Ulbrichts mit dem Modell zweier Revolutionen auf dem Gebiet der DDR orientiert, so ordneten die führenden FDJ-Forscher die Entwicklung des Jugendverbands nun in das Konzept eines einheitlichen revolutionären Prozesses ein. 48 Daraus leitete Walter Parson die Behauptung ab, daß sich die FDJ ab 1949/1950 unter der Führung der SED in einem objektiv notwendigen Prozeß kontinuierlich und konsequent zu dem 1957 proklamierten "sozialistischen Jugendverband" entwickelt hätte.49 Die Brüche in der tatsächlichen Entwicklung der FDJ, die durchaus nicht mit diesem Ziel in Einklang zu bringen waren, ignorierte er. Der Begriff des "sozialistischen Jugendverbandes" wurde dabei ideologisch überhöht und ihm der Charakter einer vermeintlich objektiv-gesetzmäßigen Kategorie zugesprochen. Als Merkmale wurden ihm wesentliche der in den siebziger Jahren formulierten politisch-ideologischen Erziehungsziele, die mit Hüfe der Geschichte der FDJ verfolgt wurden, zugeschrieben.50 Entsprechend den neuen Vorgaben der SED rückte seit den siebziger Jahren auch zunehmend der sowjetische Einfluß auf die Jugendpolitik der SED und auf die FDJ ins Blickfeld der Rostocker Forscher Während der Entwurf dar Geschichte der deutschen Arbeiterjugendbewegung von 1966 Kontakte zu sowjetischen Funktionären und zum Komsomol allenfalls am Rand erwähnte, erschienen nun zahlreiche Beiträge, in denen der Delegationsaustausch von FDJ und Komsomol, die Schulung führender FDJ-Funktionäre in der Sowjetunion und die Arbeit der Jugendabteilung der SMAD angesprochen wurden. Die Autoren betonten dabei die Hilfe und Anleitung, die die FDJ seitens der SMAD * Vgl. Arlt, Wolfgang /Jahnke, Karl Heinz /Parson, Walter: Die Jugendpolitik in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus in der DDR, in: BzG 20 (1978), S. 183ff, besonders S. 189f. * Vgl. Parson, Walter: Zur Entwicklung der FDJ in den Jahren 1949/1950, in: W Z Rostock 23 (1974), S. 17Iff, besonders S. 171 und ders.: Die Rolle der Arbeiterjugend bei der Entwicklung der FDJ zu einer sozialistischen Jugendorganisation, in: BzG 15 (1973), S. 678ff, besonders S.678. 50 Vgl. Parson, Walter: Der marxistisch-leninistische Begriff der sozialistischen Massenorganisation der Jugend, in: W Z Rostock 25 (1976), S. 21ff.
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und sowjetischer Funktionäre erfahren habe. Unterstützung habe auch der Komsomol gewährt, zu dem sich seit 1945 ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt habe und der in vielem zum Vorbild der FDJ geworden sei.51 Diese plakativen Aussagen wurden aber nur in wenigen Fällen durch genaue Untersuchungen untermauert.52 Die Rostocker Forscher vermieden es, konkret zu zeigen, welchen Einfluß sowjetische Funktionäre auf jugendpolitische Entscheidungen nahmen und in welchen Fällen die FDJ poliüsche Inhalte oder organisatorische Methoden des Komsomol übernahm. Die gleichen Mängel wies auch eine zusammenfassende propagandistische Darstellung der Beziehungen von FDJ und Komsomol auf. 53 Auch in anderen Bereichen begann die Rostocker Arbeitsgruppe, ihre Forschungen in umfangreicheren Publikationen zusammenzufassen. Den Anfang machte eine Chronik zur Geschichte der FDJ, eine Datensammlung, die knapp über wesentliche Beschlüsse, Veranstaltungen und Wettbewerbe sowie - allerdings nicht gleichmäßig - über das Führungspersonal der FDJ informierte. Sie betonte besonders die Leistungen, die Jugendliche unter Leitung von FDJ und SED für die Wirtschaft der DDR erbracht hätten.54 Nachdem der 1. Sekretär der FDJ, Egon Krenz, auf dem X. Parlament der FDJ im Juni 1976 der Rostocker Forschungsgruppe die Aufgabe gestellt hatte, "eine geschlossene Darstellung der Geschichte der FDJ auszuarbeiten",55 begannen die Arbeiten an diesem Werk. Es entstand nicht nur in enger Zusammenarbeit mit dem IML sondern auch unter direkter Einflußnahme der SED-Führung. Erich Honecker persönlich genehmigte schließlich im Oktober 1981 die Drucklegung, nachdem das Institut für Marxismus-Leninismus in einem Gutachten versichert hatte, die Autoren seien "bestrebt" gewesen, "jene inhaltlichen Grundideen für ihre Arbeit zum Tragen zu bringen, die sich aus dem Parteiprogramm, den Arbeiten des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Erich Honecker ... ergeben."
51 Vgl. stellvertretend Jahnke, Karl Heinz: Zur Entwicklung der Beziehungen von FDJ und Komsomol von 1946 bis zur Gegenwart, in: W Z Rostock 22 (1973), S. 551ff und Jahnke, Karl Heinz /Pardon, Inge: Die Herausbildung freundschaftlicher Beziehungen zwischen der FDJ und dem Leninschen Komsomol (1946 -1949), in: BzG 17 (1975), S. 291ff. 51 Als Ausnahme zu einem eher wirtschaftsgeschichtlichen Thema vgl. etwa Jahnke, Karl Heinz: Zu den Ergebnissen der Reise einer FD J-Delegation junger Bauarbeiter im August 1952 in die Sowjetunion, in: W Z Rostock 26 (1977), S. 63ff. 53 Freundschaft - FDJ - Komsomol. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen FDJ und Komsomol, Berlin 1977. 54
Geschichte der Freien Deutschen Jugend. Chronik, Berlin 1976.
55
Vgl. X. Parlament der Freien Deutschen Jugend. Berlin, vom 1. bis 5. Juni 1976, Berlin 1976, S. 56.
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Außerdem hätten die Historiker Honeckers Autobiographie 'Aus meinem Leben'56 "gründlich ausgewertet."57 Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten bedeutete die mit Photos und Abbüdungen ülustrierte Geschichte der FDJ, in der sich die Konzeption der Forschungen seit den siebziger Jahren widerspiegelt, 58 einen Rückschritt gegenüber den vorangegangenen Zeitschriftenveröffentlichungen. Das Werk richtete sich vor allem an Jugendliche und sollte zu deren Schulung nach den in den siebziger Jahren formulierten politischen Prämissen dienen. Dementsprechend breiten Raum nehmen daher Schilderungen des Einsatzes Jugendlicher für die ökonomischen Ziele der DDR und von Großveranstaltungen aller Art ein, auf denen Heranwachsende ihre Verbundenheit mit den politischen Zielen der SED bekundeten. Die Geschichte des Jugendverbandes wurde als kontinuierliche, nahezu konfliktfreie Entwicklung unter der Führung da* SED dargestellt. Die Autoren ignorierten die Krisen und Brüche im Werdegang der FDJ oder handelten sie in einzelnen, allgemeinen Sätzen ab. Auch über die Organisationsgeschichte des Jugendverbandes enthält der Band kaum zuverlässige Informationen. In diesen Punkten bot selbst der Abriß der Geschichte der deutschen Arbeiterjugendbewegung von 1966 mehr Informationen. Diese 'Parteilichkeit' bestimmte auch neuere Quellenpublikationen zur SEDJugendpolitik. Eine zweibändige und bis 1985 in mehreren überarbeiteten Auflagen erschienene Ausgabe von meist schon zuvor veröffentlichten Reden und Aufsätzen Honeckers hatte vor allem propagandistischen Charakter. Zudem wurden gerade die zeitgenössisch wichtigsten Passagen einzelner Dokumente gekürzt. 59 Dies trifft auch auf Texte aus der Zeit nach 1945 in einer Sammlung jugendpolitischer Dokumente der kommunistischen Bewegung von 1845 bis 1978 zu. 60 Keine dieser Veröffentlichungen enthält interne Beschlüsse der SED über die FDJ, die deren Tätigkeit im wesentlichen bestimmten. Die gleiche 'Parteilichkeit' dominierte auch die zahlreichen Zeitschriftenbeiträge, die in den achtziger Jahren zur Geschichte der FDJ erschienen. Gegenüber den Arbeiten früherer Jahre läßt sich zwar der Versuch konstatieren, einige Prozesse 54 Vgl. Honecker, Erich: Aus meinem Leben, Berlin 1981. Darin auch Honeckers Selbstdarstellung seiner Tätigkeit als FDJ-Vorsitzender. 57 Vgl. 'Stellungnahme des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED', 19.10.1981, SAPMO-BArch FDJ, A 11.241. Das Gutachten wurde Honecker mit einem Schreiben von Egon Krenz und Paul Verner übersandt, in dem diese betonten, daß sich auch Hermann Axen, Joachim Herrmann, Inge Lange, Heinz Keßler und Wolfgang Herger positiv zum Manuskript geäußert hätten. 58
Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Berlin 1982.
59
Vgl. Honecker, Erich: Zur Jugendpolitik der SED, 2 Bde, Berlin 1977.
60
Vgl. Partei und Jugend. Dokumente marxistisch-leninistischer Jugendpolitik, Berlin 1980. Auch die Herausgabe dieses Dokumentenbandes bedurfte der Bestätigung durch die Parteiführung; vgl. Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED, November 1978, SAPMO-BArch FDJ, A 11.241.
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etwas differenzierter darzustellen.61 Bis 1989 bestimmten aber ideologische Prämissen und nicht die Kriterien wissenschaftlicher Arbeit die Publikationen zur Geschichte der FDJ. Als die Rostocker Jugendforscher einige Monate nach dem Ende der SED-Diktatur eine Bilanz ihrer Arbeit zogen, übten sie auch halbherzige Selbstkritik und stellten fest, daß sie mit ihren Veröffentlichungen die DDR-Führung unterstützt hätten. Gleichzeitig verwiesen sie auf die unveröffentlichten Dissertationen, mit denen "im Ergebnis einer gründlichen wissenschaftlichen Analyse zum Großteil sehr faktenreiche und differenzierte Untersuchungen zur Entwicklung der FDJ angefertigt" worden seien.62 Tatsächlich waren diese Arbeiten, sofern sie in der Bundesrepublik verfügbar waren, bis zur Wende eine wichtige Quelle für westdeutsche Wissenschaftler. Sie beruhten meist auf Archivmaterial und enthielten, da sie nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, einzelne Informationen auch über Sachverhalte, die sich nicht ohne weiteres mit dem verordneten Geschichtsbild vereinbaren ließen. Fünf Jahre nach der Öffnung der ostdeutschen Archive erweisen sich diese Dissertationen allerdings als ein höchst unzuverlässiger Faktensteinbruch. Zwar hatten die Rostocker Doktoranden und Doktorandinnen keinen Einblick in das interne Archiv der Parteiführung. Aber auch das ihnen zur Verfügung stehende umfangreiche Quellenmaterial werteten sie nicht unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus. Handwerkliche Mängel erschweren es zudem, den Geltungsbereich der aus Archivalien gewonnenen Aussagen einzuschätzen, da auch in den Dissertationen, entsprechend der in zeitgeschichtlichen Darstellungen aus der DDR häufig geübten Praxis, oft darauf verzichtet wurde, zitierte oder paraphrasierte Dokumente exakt zu kennzeichnen und lediglich eine Archivsignatur angegeben wurde. Als problematisch erweist sich auch die mangelnde quellenkritische Herangehensweise an Archivmaterialien - vor allem Aussagen von Dokumenten aus dem Apparat oder der Führung von SED und FDJ wurden nicht selten ungeprüft als Tatsachen wiedergegeben.63 Genauso schwer wiegt, daß die in den veröffentlichten Werken dezidiert zum Ausdruck kommende politische Zielsetzung sich auch auf die ihnen zu Grunde liegenden Dissertationen erstreckte. So ordnete etwa Marion Buder ihre Dissertation explizit in die Bemühun61 So erwähnte Jahnke 1985, wenn auch am Rande, im Gegensatz zu 1971 den Widerstand, den Paiteienund Kirchen gegen die Gründung des Monopoljugendverbands FDJ leisteten; vgl. Jahnke, Karl Heinz: Zur Jugendpolitik der KPD 1945/46, in: WZ Rostock 34 (1985), S. 6ff und ders.: Die Gründung der Freien Deutschen Jugend, in: ZfG 19 (1971), S. 733ff. a Drewes, Uwe: Geschichte der Jugendbewegung gründlich überarbeiten, in: BzG 32 (1990), S. 554f, zit. S. 555. 63 Zahlreiche Beispiele etwa in Müller, Roland: Der Kampf um die Wahrung und Verteidigung der organisatorisch selbständigen, einheitlichen, demokratischen Massenorganisation der Jugend in der Periode der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung im östlichen Teil Deutschlands (März 1946 bis Oktober 1949), Phil. Diss., Rostock 1969 (MS).
168
Peter Skyba und Ulrich M h l e r t
gen ein, durch die Erforschung der Geschichte der FDJ zur 'sozialistischen Bewußtseinsbildung' unter der Jugend der DDR beizutragen.64 Eine Analyse der Arbeiten zeigt, daß solche Bekenntnisse keineswegs als formale Rituale auf das Vorwort beschränkt blieben, sondern tatsächlich Forschung und Darstellung bestimmten. Auch die Auswahl der in den Dissertationen dargestellten Sachverhalte unterlag der Parteilichkeit. Hannelore Barthel referierte in ihrer Dissertation 65 - verglichen mit anderen eine der interessantesten unveröffentlichten Arbeiten zum Thema - über lange Passagen jugendpolitische Beschlüsse der SED und programmatische Festlegungen der FDJ, schilderte eingehend Tagungen und Konferenzen und stellte die Leistungen Jugendlicher in Wirtschaft und Landwirtschaft ausführlich dar. Worauf jugendpolitische Entscheidungen zielten und wie sie zustande kamen bleibt aber meist im Dunkeln und damit, wie im Falle des Politbürobeschlusses vom 24.1.1956, ohne Kenntnis der Krise, in der die FDJ sich 1955 befand, und der dramatisch hohen Abwanderungszahlen Jugendlicher zu dieser Zeit, unverständlich. Deutlich kommt das Bemühen von Barthel zum Ausdruck, Probleme und Schwierigkeiten der SEDJugendpolitik herunterzuspielen. In ihrem Abschnitt über die Jugendpolitik bis 1955 erwähnte sie mit keinem Wort den Versuch, die Junge Gemeinde zu liquidieren, und zur Reaktion auf den 17. Juni gab sie lediglich einen veröffentlichten Parteibeschluß von 1953 wieder. Der Existenzkrise der FDJ im Herbst 1956 widmete Barthel eine halbe Seite, und die durchaus ablehnende Haltung vieler Jugendlicher zum Mauerbau 1961 thematisierte sie überhaupt nicht. Im Bemühen, mit ihren Ergebnissen dem Postulat einer erfolgreichen Entwicklung der FDJ zu entsprechen, und im Gegensatz zu ihrer Fragestellung verzichtete Barthel weitgehend darauf, die "Verwirklichung" der Beschlüsse von SED und FDJ zu untersuchen. Nur so konnte sie die Diagnose vermeiden, daß ein großer Teil dieser Festlegungen die FDJ-Basis gar nicht oder nur in Ansätzen erreichte und so auch nicht umgesetzt wurde. Dieser Sachverhalt wurde in zeitgenössischen Dokumenten zuweilen sehr deutlich angesprochen. Die Hoffnung der Rostocker Forscher, ihre Arbeit werde wenigstens mit den Dissertationen zur Geschichte der FDJ Bestand haben, hat sich nicht erfüllt. Als durchaus zutreffend erweist sich dagegen ihre Feststellung, "daß sie bei der Darstellung der Geschichte der FDJ einem falschen Bild von der Geschichte der SED und der DDR gefolgt" seien - sie gelangten nach eigenem Bekunden erst nach dem Oktober 1989 zu der Erkenntnis: "Das bisherige Geschichtsbild über die FDJ kann nicht aufrecherhalten werden. Es ist neu zu erarbeiten." 66 64 Vgl. Buder, Marion: Die Entwicklung der FDJ-Organisation der Karl-Marx-Universität Leipzig 1955-1961, Phil. Diss., Leipzig 1985 (MS), S. 3. 65 Barthel Hannelore: Die Jugendpolitik der SED und ihre Verwirklichung durch die FDJ Mitte der 50er bis Anfang der 60er Jahre, Phil.Diss. Rostock (MS) 1985. 66
Drewes, Geschichte der Jugendbewegung gründlich überarbeiten, S. 555.
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169
In einer pluralistischen Wissenschaftslandschaft geht es jedoch nicht mehr darum, ein einheitliches und starres Geschichtsbild zu zeichnen. Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen haben mit ihren Forschungsergebnissen seit 1990 begonnen, facettenreiche Bilder der Geschichte der FDJ zu entwerfen.
DDR-Jugend auf "sozialistischem Kurs M Zwischen Anpassung und Opposition am Ende der 50er Jahre
Von Kerstin Thons Die DDR hat sich in allen Jahren ihrer Existenz als "Staat der Jugend" bezeichnet und den jungen Generationen ein explizit großes Interesse entgegengebracht. Mit Inpflichtnahme und Förderung verknüpften die Kommunisten nach 1945 die Hoffnung, eine sozialistische Entwicklung gegen Vorbehalte und Vorurteile der älteren Generation durchsetzen zu können. Jugendpolitik wurde somit eine zentrale Aufgabenstellung der SED, die darauf zielte, eine rasche Interessenidenütät zwischen ihrer Gesellschaftspolitik und den individuellen Haltungen und Sichtweisen der Jugend zu erreichen. Der praktische Vollzug dieser konzeptuellen Überlegungen wurde den Jugendgremien, in erster Linie der einzigen in der DDR zugelassenen Jugendorganisation FDJ und ab 1949 dem staatlichen Amt für Jugendfragen, übertragen. In diesem Prozeß folgte der Wandel der Jugendpolitik stets dem Wandel der übergreifenden strategischen Konzepte der Partei wie ihrer jeweiligen taktischen Akzentuierung. Der umfassende Erziehungsanspruch von Partei, FDJ und Staat, der seit Mitte der 50er Jahre dem Leitbild der "sozialistischen Persönlichkeit" folgte, stieß allerdings auf partei- und staatsferne Sozialisationsagenturen - speziell in den Familien - und hatte sich zudem mit einem Selbstgestaltungsinteresse der Jugendlichen auseinanderzusetzen, das ebenfalls zu erheblichen Teilen durch systemfremde, z.B. traditionale oder "westliche" Einstellungen bestimmt war.Da empirisch-soziologische Untersuchungen zu realen Befindlichkeiten der DDR-Jugend erst ab 1962 durch den Beirat für Jugendforschung und ab 1966 durch das Institut für Jugendforschung an der Leipziger Universität vorliegen, soll hier anhand zahlreicher Quellen1 zu Stimmungslagen der sozialen Jugendschichten, zur Entwicklung von Jugendkriminalität, zu den Moüven der Republikflucht die komplexe Situation der Heranwachsenden näher betrachtet werden. In der westlichen Soziologie wurde und wird der Begriff "Jugend" neben der biologisch bedingten Entwicklungsphase, der Zeit nach der Kindheit und vor dem Erwachsensein, als eine spezifische und zugleich sehr umfassende Sozialisations1 Die Aktenbestände lagern im Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (BAP), in der Stiftung der Archive und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Bestand Zentrales Parteiarchiv der SED (SAPMO-BArch., ZPA) und Bestand Zentralrat der FDJ (SAPMO-BArch., FDJ) sowie beim Bundesbeauftragtenfür die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BSTU).
172
Kerstin Thons
phase interpretiert, "in der sowohl die Vorbereitung auf Status und Kultur der Erwachsenen erfolgt wie auch eine eigenwillige Jugendrolle und Subkultur ausgeformt wird." 2 Die Zielgruppe dieser Betrachtung sind vor allem Jugendliche im Alter zwischen 14 und 25 Jahren, eine auch in der ehemaligen DDR benutzte Altersbegrenzung, die juristisch, pädagogisch und mit Beginn der 60er Jahre auch soziologisch in drei Untergruppen geteilt wurde: 14- bis 17jährige Jugendliche, 18- bis 20jährige Heranwachsende, 21- bis 25jährige junge Erwachsene. Schulzeit, Berufsausbildung und Studium waren die wesentlichen Kriterien dieser Zuordnung. Zudem wurden die 14jährigen seit Einführung der "Jugendweihe" 1954 offiziell in den "Kreis der Erwachsenen" aufgenommen, was zwar kein Zuwachs an Rechten bedeutete, wohl aber den moralischen Pflichtenkatalog erweiterte. Der zweiten Gruppe wurde das aktive Wahlrecht und die Volljährigkeit zuerkannt; die Besonderheit für die 21- bis 25jährigen ergab sich vor allem aus verlängerten Ausbildungszeiten und damit verbunden, der materiellen Unselbständigkeit. Insgesamt wurde die Adoleszenz in der DDR nicht als Phase spezieller biologischer, sozialer, interkultureller, personaler Veränderungen in Richtung auf Teilreifen und eine Gesamtreife 3 interpretiert, sondern im Zusammenhang mit Bildungs- und Ausbildungmodi, wirtschaftlicher Abhängigkeit und spezifischer, primär "delinquenter Gruppenbildung" erklärt. Tabelle 1 gibt Auskunft über das Verhältnis der jugendlichen Wohnbevölkerung zur Gesamteinwohnerzahl in der DDR.
2 Gerhard Wurzbacher, Helmut Grau, Gesellungsformen der Jugend in der Bundesrepublik, in: Die Jugend. Das wissenschaftliche Tagebuch, Abt. Soziologie, Hrsg. Helga und Horst Reimann, München 1975, S. 15. 3
Vgl. Walter Jaide, Barbara Hille, Jugend im doppelten Deutschland, Opladen 1977, S. 18.
DDR-Jugend auf "sozialistischem Kurs"
173
Tabelle 1 DDR-Jugend im Vergleich zur Einwohnerzahl in den Jahren 1956 bis I960 4 Jahreszahl
absolut
14- bis 17jährige (davon weibüch)
18- bis 25jährige (davon weiblich)
Gesamtzahl Jugendliche
1956
17.602.776
1.228.666 (603.780)
1.852.286 (920.335)
3.080.952
1957
17.410.570
1.131.914 (555.644)
1.892.527 (901.963)
3.024.441 (-56.511)
1958
17.311.707
1.035.383 (508.973)
1.977.580 (976.641)
2.080.963 (-1.043.471)
1959
17.285.902
899.352 (438.528)
2.001.308 (988.060)
2.890.666 (+890.691)
1960
17.188.488
779.894 (384.420)
1.937.503 (957.145)
2.717.398 (-17.326)
(1) Die niedrige Quote der 14- bis 18jährigen in den Jahren 1959 und 1960 ist auf die geburtenschwachen Jahrgänge in der Zeit von 1940 bis 1946 zurückzuführen. (2) Der absolute Rückgang an Jugendlichen zwischen 14 und 25 Jahren beträgt für die Jahre 1957 bis 1960 307.618. In dieser Zahl sind 296.924 Jugendliche enthalten, die in die Bundesrepublik Deutschland flüchteten. (Vgl. dazu auch Tabelle 3). Diese formale Zuordnung wurde ab 1958 durch den auch in der DDR stärker beachteten Aspekt einer sozialen Heterogenität differenziert, die in Tabelle 2 dargestellt wird.
4 Alle Angaben aus Statistisches Jahrbuch der DDR, hrsg. von der Zentralverwaltung für Statistik, Berlin (Ost) 1957, 1958,1959, 1960, 1961.
174
Kerstin Thons
Tabelle 2 Sozialstruktur der DDR-Jugend für 1958 und 1960/61 1958
1960/61
1.829.739
2.242.731
Klasse 8
197.000
132.000
Klasse 9
56.000
95.000
Klasse 10
31.000
68.000
davon Abiturstufe
23.000
22.000
Abschluß Abitur
19.000
22.0005
2.014.277
1.590.000
429.572
290.0006
o. A.
102.3427
Studierende (Direktstudium an Uni., Hochschule)
53.000
61.538
an Fachschulen
24.000
28.275®
Schüler insgesamt (auch 1. bis 12. Klasse und Sonderschulen) davon Abschluß
jugendliche beschäftigte in staatl., genossenschaftl., privater Industrie davon Lehrlinge jugendliche Beschäftigte in der Landwirtschaft (nur LPG)
(1) Keine statistischen Angaben waren für junge Beschäftigte im Angestelltenbereich zu ermitteln. (2) Über die Entwicklung des Anteils jugendlicher Beschäftigter in den genossenschaftlichen Betrieben der Landwirtschaft 1958 und 1960/61 zeichnete sich folgender Trend ab: Betrug ihr Anteü 1958 noch 15,9 Prozent, so sank er nach der Kollektivierung 1960 auf 13,8 Prozent. Weitere signifikante Sozialisationsbedingungen ergaben sich aus der unterschiedlichen Situation von Schülern und Studierenden im Vergleich zu den bereits in 5
Vgl. SAPMO-BArch., ZPA IV/2/115.
4
Vgl. ebenda, FDJ A 2632.
7
Vgl. ebenda, FDJ A 3747 II.
1
Vgl. ebenda, ZPA IV 2/16/233, Bl. 55.
DDR-Jugend auf "sozialistischem Kurs"
175
abhängiger Erwerbstätigkeit stehenden Jugendlichen oder ihrer bis 1960 auf dem elterlichen Bauernhof arbeitenden Altersgefährten, der konfessionellen Prägung, dem Bildungsgrad, der Bindung an die Familie und den regionalen Besonderheiten. Mit Ausnahme der altersmäßigen Abgrenzung und sozialen Zuordnung gab es in der DDR keinen spezifischen Jugendbegriff. Lediglich den 14- bis 17jährigen wurde eine verminderte strafrechtliche Schuldfähigkeit zuerkannt, während insgesamt die Eigenständigkeit der Jugendphase abgelehnt wurde, 9 was allerdings in einem erheblichen Widerspruch zu den formulierten Aufgaben und Zielen der zentralen Jugendpolitik stand. Die Leugnung des Sondergruppencharakters ist u.a. damit zu erklären, daß die Vorbereitung auf die Erwachsenenrolle möglichst konfliktarm in den engen politischen und gesellschaftlichen Normen verlaufen sollte. So wurde das mit dem Jugendalter verbundene Suchen nach einer eigenen Identität als "zählebige kleinbürgerliche Ansichten und Haltungen", der Wunsch nach individueller Selbstgestaltung etwa im Freizeitbereich 1958 als "anarchistisches, eigenbrödlerisches Leben nach der Arbeitszeit" und insgesamt als "negative Begleiterscheinungen der Übergangsperiode" stigmatisiert. 10 Da eine individuelle Lebensplanung und -gestaltung nur noch partiell möglich war, wurde die geforderte Integration seit Mitte der 50er Jahre zunehmend von unterschiedlichen Bewältigungsstrategien begleitet, wie sozialen Rückzug, Resignation, Rebellion oder bis 1961 der Massenwanderung Jugendlicher in die Bundesrepublik Deutschland. Aber auch Anzeichen von Konformität und Arrangement mit der DDR-Gesellschaft waren zu erkennen. Die umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen, die sich seit Ende der 40er Jahre in der DDR vollzogen hatten, zielten auf einen politischen Wertewandel der tradierten sozialen Stellung. Die "Führungsrolle" wurde der "Arbeiterklasse" zuerkannt, zum wichtigsten Bündnispartner die "werktätigen" Bauern erklärt, neue Eigentumsformen und ein Bildungs- wie Ausbildungssystem analog dem sowjetischen Vorbild sollten soziale Ungleichheiten abbauen und den Arbeiter- und Bauernkindern jene Chancen garantieren, die bisher mehrheitlich den bürgerlichen Mittel- und Oberschichten vorbehalten waren. Doch diese Neubewertung von sozialem Status und politischen Verantwortlichkeiten mit weitreichenden Konsequenzen für den einzelnen war auch jener Generation, die zu weiten Teilen in der DDR aufgewachsen war, schwer zu vermitteln. Während allgemeine Anliegen, wie die Erhaltung des Friedens11 oder Ablehnung einer militärischen Wiederaufrüstung 9
Vgl. ebenda, IV 2/16/68. Protokoll der Sitzung der ZK-Jugendkommission im März 1958.
10
Vgl. ebenda.
11 Im Zeitraum von 1958 bis 1959 meldeten sich 35.358 männliche Jugendliche zum freiwilligen Dienst in der NVA. Das waren nicht einmal 50 Prozent der geforderten Rekrutenzahl. Vgl. dazu ebenda, FDJ A 2623.
176
Kerstin Thons
in beiden deutschen Staaten, für alle Jugendschichten relevant waren, stieß die Forderung nach aktiver politischer Partizipation in den Gremien der FDJ, SED oder der Gewerkschaft wie die Akzeptanz der Klassengesellschaft auf Desinteresse bzw. strikte Ablehnung. So wollte die Mehrheit der Arbeiterjugend weder eine politische Verantwortung übernehmen noch freiwillig das ihr zugestandene Bildungsprivileg einlösen.12 Nicht anders war die Meinung der jungen Landbevölkerung, deren starke Bindung an den elterlichen Besitz bis 1960 die Lebensplanung bestimmte. Jugendliche aus dem Bildungsbürgertum betrachteten den "Sozialismus als schmerzlichen Eingriff in ihr persönliches Leben und ihre persönliche Freiheit." 13 Vor allem die ungleiche Behandlung bei der Vergabe von Studienplätzen und das offizielle Argument, "daß jede Arbeit, die für die Gesellschaft nützlich auch eine Sache der Ehre" sei 14 , förderte diese Haltung. Und so schien es, daß jene, die sich nicht mit dem politischen System arrangieren wollten und zudem über ein hohes Maß an Mobilität verfügten, in diesen Jahren den ostdeutschen Teilstaat in Richtung Westen verließen. Trotz eines jährlichen Geburtenüberschusses von ca. 65.000 hatte die DDR von 1954 bis 1959 einen absoluten Bevölkerungsrückgang von rund 700.000 zu verzeichnen. Darunter befanden sich 77,9 Prozent Menschen im arbeitsfähigen Alter. Wesentlichste Ursache für diesen Rückgang war die Abwanderung in die Bundesrepublik. Im selben Zeitraum verließen 611.356 DDR-Bürger ihre Heimat, davon mehr als ein Drittel im Alter von 14 bis 25 Jahren.15 In Tabelle 3 ist die Abwanderung Jugendlicher in die Bundesrepublik für die Jahre 1956 bis 1960 dargestellt.
Tabelle 3 DDR-Flüchtlinge im Alter von 14 bis 25 Jahren für den Zeitraum 1956 bis 1960
1956
1957
1958
1959
1960
65.405
123.80316
60.727
42.647
60.747 17
12
Vgl. SAPMO-BArch., ZPA IV 2/1/214.
13
Vgl. ebenda.
M
Vgl. ebenda.
15
Vgl. ebenda, IV 2/16/230. Bericht des Ministeriums des Innern an die ZK- Jugendkommission.
16 Vgl. ebenda, FDJ A 5728. Bericht des Sekretariats des FDJ-Zentralrates zur Republikflucht Jugendlicher. 17
Vgl. BAP, C-4 1105. Bericht des Amtes für Jugendfragen zur Republikflucht Jugendlicher.
DDR-Jugend auf "sozialistischem Kurs"
177
Im 1. Quartal 1961 lag die Zahl der jugendlichen Flüchtlinge in die Bundesrepublik um 42 Prozent über der Abwanderung im Vergleichszeitraum von I960. 18 Die Frage nach den Fluchtursachen ist, wie in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung bereits dargestellt, nicht ausschließlich mit politischer Opposition zu beantworten, 19 wie Analysen und "Tiefeninterviews" mit jungen SBZ-Flüchtlingen Mitte der 50er Jahre in der Bundesrepublik ausweisen. Im Jahr 1959 ließ die SED erstmalig nach Motiven jugendlicher Westwanderer forschen. 20 Die wohl eher "verdeckten" Ermittler recherchierten unter Jugendlichen in Notaufnahmelagern, kleinen Betrieben und Familien. Die prozentual größte Gruppe der Befragten gab als Grund vor allem materielle Überlegungen an: "volle Schaufenster", "Job und Geld", der Lehrplatz nach Wunsch. Der zweiten Gruppe unterstellten die Befrager eher "Abenteuerlust": den anderen Teil Deutschlands kennenlernen, etwas erleben wollen, aber auch Flucht vor privaten, schulischen oder beruflichen Problemen. Die dritte und "kleinste Gruppe" rekrutierte sich nach Meinung der SED-Rechercheure aus der politischen Opposition; das waren vor allem Jugendliche mit höherer Bildung. Wiederholtes Werben für den Dienst in der NVA, der Polizei und Staatssicherheit, politischer Druck durch Lehrer und Hochschuldozenten zum Eintritt in die SED oder FDJ wurden als signifikante Fluchtursachen ermitteln. Nach Ansicht der Ost-Befrager waren somit 1959/60 nur drei Prozent dem Status von politischen Flüchtlingen zuzuordnen.21 So verschieden sich Beschreibung wie Zuordnung der Abwanderungsmotive in den Befragungen West und Ost auch darstellten, so sehr bürokratische Prozeduren im Westen und politische Absichten im Osten differenziertere Analysen nicht zuließen, war dennoch eine Gemeinsamkeit kaum zu übersehen: dominant waren soziale und wirtschaftliche Überlegungen und damit implizit politische Gründe. So erklärt sich zumindest partiell auch der Rückgang des Anteils jugendlicher Westwanderer (vgl. Tabelle 3) und die leicht steigende Zahl sogenannter Rückkehrer bzw. Zuziehender: im Jahr 1958 waren das 24.253 und 1959 mehr als 25.900.22 Diese Entwicklung vollzog sich vor dem Hintergrund einer kurzzeitigen Konsolidie11
Vgl. S ΑΡΜΟ- Β Arch., FDJ A 3713.
19
Vgl. Dietrich Staritz, Siegfried Suckut , "Aufbau des Sozialismus" - Krise und Konsolidierung (1950-1961). Studienbrief 2, Deutsches Institut für Fernstudium an der Universität Tübingen 1990, S. 69ff. Hermann Weber, DDR. Grundriß der Geschichte, Hannover 1991, S. 88f. Jürgen Rühle, Gunter Holzweißig, 13. August 1961. Die Mauer von Berlin, Köln 1981, S. 18. 30 Vgl. SAPMO-BArch., ZPA IV 2/16/110. Bericht über die Ermittlungen zu Gründen der Republikflucht Jugendlicher. 21 Vgl. dazu auch: Jugend zwischen Ost und West. Eingliederungshilfen für jugendliche Flüchtlinge aus Mitteldeutschland, Bonn 1969, S. 90. 95 v.H. jugendlichen Flüchtlingen aus der DDR hatten 1960 explizit keine politischen Motive. 22
Vgl. SAPMO-BArch., ZPA IV 2/16/230.
12 Timmermann
178
Kerstin Thons
rung der DDR-Wirtschaft 1958/59. Zwar gab es auch Ende der 50er Jahre immer wieder "Engpässe", insgesamt aber verbesserte sich als Folge der wachsenden Produktivität die Versorgung stetig. Die Kurve der DDR-Industrie-Produktion schien seit 1956 stabil nach oben zu weisen. Parallel dazu stieg seit 1957 auch das Nettoeinkommen der Erwerbstätigen. Während 1956 etwa 40 Prozent der Industriearbeiter und Angestellten 400 Mark pro Monat verdienten, waren es 1959 bereits 80 Prozent; die höhere Einkommensgrenze wurde im selben Zeitraum bei ca. einem Drittel von 590 auf 758 Mark angehoben.23 Doch bereits 1960 kam es erneut zu wirtschaftlichen Komplikationen, auf die Tausende DDR-Bewohner mit Flucht in die Bundesrepublik reagierten. Es blieb ohnehin die Frage, ob ökonomische Stabilität allein ausgereicht hätte, den großen Strom der Flüchtlinge bei offener Grenze dauerhaft zu bannen. Die politische Offensive und die damit verknüpfte Forderung nach "sozialistischer Bewußtseinsbildung" hatte am Ende der 50er Jahre eine Situation hervorgebracht, in der individuelle Wünsche und Interessen der Parteinorm anzupassen waren. Das betraf alle Lebensbereiche, wurde aber in den Spannungen der aufeinander bezogenen Generationen besonders zu Fragen der Erziehung deutlich. In zahlreichen Informationsberichten an die Parteiführung wurde der "Kasernenton und -umgang" der Alten gegenüber den Jungen kritisiert. Anders als die parteigesteuerte Medienpropaganda, die die Massenabwanderung als Werk "westlicher Menschenhändler" darstellte, kritisierte Ulbricht schließlich auf der 12. ZK-Tagung im März 1961 den schroffen Ton gegenüber der Jugend und schlußfolgerte: "60 Prozent der Republikflüchtigen sind Leute, die durch Fehler bei uns weggetrieben werden. 60 Prozent!, wenn nicht noch mehr." 24 Dem Wunsch, die DDR zu verlassen, waren auch 1961 private, berufliche oder praktische Überlegungen vorausgegangen .Zahllose DDR-Bürger - und unter ihnen viele junge Menschen lebten auf Abruf. Was Ulbricht in seiner Rede allerdings nicht erwähnte, war das ungewisse Schicksal der beiden deutschen Staaten auch als Folge der außenpolitischen Ultimaten der sowjetischen Parteiführung. Angesichts der drohenden Abriegelung der DDR wuchs die Unruhe in der ostdeutschen Bevölkerung. Und viele, die möglicherweise zu Hause geblieben wären, schlossen sich der allgemeinen "Torschlußpanik" an. Der Strom der Flüchtlinge wirkte sich auf die innenpolitische Stabilität der DDR bis kurz nach dem Mauerbau nicht nur nachteilig aus. Er reduzierte die Konfliktpotentiale, was mehrheitlich auch für die nachwachsende Generation zutreffend war.Dennoch zeigten sich hier im Vergleich zu den Erwachsenen einige Unterschiede, deren Ursache möglicherweise in der repressiven Erziehungspolitik von 23
Vgl. ebenda, IV 2/1/252. Bericht an die 12. Tagung des Zentralkomitees der SED.
24
Ebenda, IV 2/1/255. Bericht an die 12. Tagung des des Zentralkomitees der SED.
DDR-Jugend auf "sozialistischem Kurs"
179
SED und FDJ zu finden sind. Die steigende Jugendkriminalität seit Mitte der 50er Jahre belegt vorhandene Friktionen zwischen geforderter Konformität mit dem politischen System und individuellem Verhalten, was seit der Verschärfung des politischen Strafrechts besonders deutlich wurde. Nach den Bestimmungen des Strafrechtsergänzungsgesetzes vom 11. Dezember 195725 lag eine Straftat schon dann vor, wenn eine Handlung als gesellschaftsgefährdend und politisch-moralisch verwerflich angesehen wurde. 26 In den Jahren 1960 bis Juli 1961 wurden insgesamt 6.465 bzw. 8.817 "Verfahren wegen Hetze und Staatsverleumdung" eingeleitet. Darunter befanden sich auch 2.977 Verfahren wegen "faschistischer Schmierereien" und 595 Fälle "antisemitischer Hetze". Der überwiegende Teil strafbarer Handlungen bezog sich aber auf den Empfang "hetzerischer Rundfunk- und Fernsehsendungen", "Aufwieglung gegen" und "Verleumdung der sozialistischen Staatsordnung und ihrer Repräsentanten".27 Die ebenfalls im Dezember 1957 beschlossenen Änderungen zum Paßgesetz28 rechtfertigten Tausende Verurteilungen, sei es wegen Vorbereitung oder Versuch einer Flucht, wegen Beihilfe, wegen vollendeter Flucht in solchen Fällen, in denen sich ehemalige Flüchtlinge zu einer Reise oder Rückkehr in die DDR entschlossen hatten.29 Mit dieser umfassenden Strafverfolgung von Flüchtigen wurden nun auch Jugendliche in der allgemeinen Kriminalstatistik in der
25 Vgl. Gesetz zur Ergänzung des Strafgesetzbuches (Strafrechtsergänzungsgesetz) vom 11.12. 1957, Gesetzblatt I, S.673. Als Erweiterung zum "Besonderen Teil" des Strafgesetzbuches wurden hier drei große Komplexe genannt: Verbrechen gegen den Staat und die Tätigkeit seiner Organe; Verbrechen gegen das sozialistische Eigentum; Verbrechen gegen die militärische Disziplin. 26 Vgl. Karl-Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1979, S. 372. 27 Vgl. SAPMO-BArch., ZPA I I V 2/2/775, Bl. 28f. Bericht des Ministeriums des Innern zur Entwicklung der allgemeinen Kriminalität in der DDR. Vgl. auch BSTU 101156. Erläuterung zur Verbesserung der Abwehrarbeit gegen die politisch-ideologische Diversion und Untergrundtätigkeit im Gebiet der DDR, 21.11.1960. Unter Punkt fünf wurden folgende "Delikte" als "Staatsgefährdende Propaganda und Hetze - mündlich" aufgeführt: Hetze faschistischen und militaristischen Charakters; Hetze antisemitischen Charakters - Rassenhetze; Völkerhetze; Hetze gegen Partei und Regierung, gegen örtliche Organe der Staatsmacht, gegen die sozialistische Entwicklung der DDR, gegen die sozialistische Entwicklung der Landwirtschaft, gegen die genossenschaftliche Entwicklung in Handwerk und Gewerbe; Hetze mit sektiererischen und sozialdemokratischen Tendenzen; Hetze verbunden mit revanchistischen Forderungen; Hetze durch Verbreitung von Nachrichten westlicher Medien; Verleumdung und Entstellung von staatlichen Einrichtungen und gesellschaftlichen Organisationen; Verleumdung und Verächtlichmachung von Bürgern wegen ihrer staatlichen und gesellschaftlichen Tätigkeit; Gerüchte Verbreitung; Verleumdung allgemeiner Art; Einschleusung und Verbreitung von Hetzschriften. 28 Vgl. Gesetz zur Änderung des Paßgesetzes vom 11.12. 1957, Gesetzblatt I, S. 650. Hier wurde festgelegt, daß jeder, der ohne erforderliche Genehmigung das Gebiet der DDR verläßt oder betritt oder die ihm vorgeschriebenen Reiseziele, Reisewege und Reisefristen oder sonstige Beschränkungen der Reise oder des Aufenthaltes hierbei nicht einhält, mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft werden kann. Ebenso bestraft wurde, wer für sich oder andere infolge falscher Angaben eine Genehmigung zum Verlassen oder Betreten der DDR erreichen wollte. Auch Versuch und Vorbereitung dazu wurden kriminalisiert.
® Vgl. Karl-Wilhelm 12*
Fricke, Politik und Justiz der DDR, a.a.O., S. 418.
180
Kerstin Thons
Rubrik "Täter" erfaßt. 30 Tabelle 4 gibt Auskunft über die Anzahl der Delinquenten und den Anteil der Jugendlichen in den Jahren 1957 bis 1959, wobei nur jene Gruppe gesondert aufgeführt wurde, der nach geltendem DDR-Recht eine strafmildernde Schuldfähigkeit zuerkannt wurde. Tabelle 4 Anzahl der Straffälligen unter Berücksichtigung von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren 31 1957
1958
1959
105.518
135.317
111.458
(Personen ab 18 Jahren)
90.574
115.908
94.193
davon Jugendliche 14-17 Jahre
14.944
19.405
17.265
Prozentualer Anteil der Jugendlichen
14,1%
14,3%
15,5%
alle Straftäter (Personen ab 14 Jahren) erwachsene Straftäter
(1) Im Vergleich dazu betrug der Anteil jugendlicher Straftäter 1950 12.191 (2) Die Anzahl strafbarer Handlungen durch Kinder betrug 1957: 3.956; 1958: 3.930; 1960:3.743. Auf 100 00 Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren entfielen 1957 217 strafbare Handlungen. Die häufigsten Delikte waren Brandstiftung, Unzuchthandlungen an anderen Kindern sowie Fahrraddiebstähle. Während die Delinquenz insgesamt von 1958 zu 1959 rückläufig war, zeigte die Kurve der jugendlichen Straftäter nach oben. Im Jahre 1959 entfielen auf 100.000 erwachsene Personen ab 18 Jahren 727 Straftaten, während der Anteil Jugendlicher 1.667 betrug. 32 Im Verhältnis der Straffälligen zur Einwohnerzahl gerieten doppelt so viele Jugendliche als Erwachsene mit den Gesetzen in Konflikt, was Tabelle 5 ausweist.
30 Vgl. SAPMO-BArch., ZPA I V 2/16/230. Bericht des Ministeriums des Innern zur Entwicklung der Kriminalität in der DDR. 31
Vgl. ebenda.
32
Vgl. ebenda.
181
DDR-Jugend auf "sozialistischem Kurs"
Tabelle 5 Delinquenz in der Relation von 100.000 Einwohnern zur jeweiligen Altersgruppe im Jahre 1959 Anteil der Jugendl. ist höher um das
erw. Straftäter (ab 18 Jahren)
jugendl. Straftäter (14 bis 17 Jahren)
322
818
2,5-fache
Sexualdelikte
59
136
2,3-fache
Wirtschaftsdelikte
80
126
1,6-fache
Körperverletzung
91
105
1,2-fache
Verbrechen gegen den Staat
64
65
1,0-fache
Brandstiftung
13
16
1,2-fache 33
Delikte
Eigentumsdelikte
Der Bevölkerungsanteil der 14- bis 25jährigen lag 1959 bei 21,6 Prozent; über 48 Prozent aller Straftäter rekrutierten sich seit 1957 aus dieser Altersgruppe. Am häufigsten wurden Straftaten bei den 18- bis 21jährigen registriert (45 Prozent), es folgten die 21- bis 25jährigen (25 Prozent) und schließlich die Gruppe von 14 bis 18 Jahren (20 Prozent). 34 Im Jahr 1960 ging die Zahl der jugendlichen Straftäter auf 13.587 zurück und erreichte damit fast den Stand von 1950.35 Diese Tendenz läßt sich vor allem mit dem erneuten Anwachsen der Republikflucht erklären (Vgl. Tabelle 3). In den Quellen fehlen differenzierte Analysen über mögliche soziale und politische Zusammenhänge, sozialen Status und Bildungsgrad der straffällig gewordenen Jugendlichen. Als Ursachen für jugendliche Delinquenz wurden bis 1961 der "Klassenkampf und der "gegnerische Einfluß des Imperialismus" ermittelt, der Täterkreis als "geistig und politisch zurückgeblieben, arbeitsscheu" und "ohne geordnetes Familienleben" beschrieben.36 Diese simplifizierte Sicht sollte wohl vor allem die neuen präventiven Methoden und Maßnahmen zur Bekämpfung von Jugendkriminalität legitimieren. Im Sommer 1959 wurde eine sogenannte "polizeiliche Jugendschutzkartei" angelegt, die innerhalb von acht Wochen 7.414 Jugendliche erfaßte, "von denen auf Grund ihres gesamten Verhaltens, rowdyhafte Handlungen 35
Vgl. ebenda.
34
Vgl. ebenda.
* Vgl. ebenda, IV 2/2/775. 36
Vgl. ebenda, IV 2/16/230.
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Kerstin T h n s
zu erwarten" waren.37 Jede Form jugendlicher Subkultur schien den Ordnungshütern so verdächtig, daß sie auch Mitglieder einer Romy-Schneider-Gruppe, die "Eckensteher von Grevesmühlen" oder die RockvnRoll-Tänzer auf dem Platz des Friedens in Dresden als potentiell Kriminelle registrierten und "Erziehungsmaßnahmen zumrichtigenFreizeitverhalten" unter Einbeziehung der Staatsanwaltschaft veranlaßten.38 Die nun unter Aufsicht einer "sozialistischen Brigade", einer FDJGruppe, einem Wohngebietsverband der Nationalen Front, dem DTSB oder der GST gestellten Jugendlichen sollten zu dauerhafter Anpassung erzogen werden. Daneben gab es eine kleinere Anzahl delinquenter, konflikt- und gewaltorientierter Gruppierungen mit unterschiedlicher Sozialstruktur hinsichtlich der Organisationsform, einer eigenen Symbolwelt und Hierarchisierung. Auffällig waren hier illegaler Waffenbesitz, Sexualverbrechen, Einbrüche und Diebstähle, vorsätzliche Körperverletzung, unbefugtes Benutzen von Kraftfahrzeugen, Brandstiftung und Störung der öffentliche Ruhe und Ordnung. Von insgesamt 415 der Polizei bekannten Jugendgruppen im Jahr 1959 wurden 250 mit ca. 2.200 Mitgliedern gewaltsam aufgelöst, gegen 1.182 Jugendlichen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und davon wiederum 585 festgenommen. 39 Als Ursachen für diese offenbar gewalttätigen Gruppenbildungen wurden wie für Einzeltäter die "Verherrlichung der westlichen Lebensweise" und fehlende Bindung an den Jugendverband oder einer anderen politischen Organisation genannt. Insgesamt waren diese Zahlen wenig dramatisch und rechtfertigten kaum die repressiven Erziehungsmaßnahmen. Aber die autoritäre Staatsgewalt, mit ihren haupt- wie ehrenamtlichen Strukturen, verfügte nun über ein umfassendes Instrumentarium der Kontrolle. Über den vermeintlichen Zusammenhang zwischen Jugendkriminalität und individuellen Freizeitinteressen wurde außerdem in der FDJ-Tageszeitung "Junge Welt" geschrieben, auf Jugendforen und in FDJ-Versammlungen diskutiert. Dabei war nicht zu übersehen, daß sozialer Wandel, Industrialisierung und verstärkte Urbanisierung, Wanderungsbewegung und ideologische Erziehung in der jungen Generation bereits Spuren hinterlassen hatten. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Heranwachsenden schien trotz mancher Kritik, offiziell die Normen der kommunistischen Ordnung zu akzeptieren, auch wenn die Mehrzahl politisch wohl eher indifferent war. 40 In den Jahren 1958/59 waren 48 Prozent aller Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 25 Jahren in der FDJ organisiert. 41 Die Beitrittsmotive entsprangen oftmals der Erwartung vom sozialen Aufstieg. So waren die Chancen 71
Vgl. ebenda, I V 2/16/90. Bericht über Aufbau und Auswirkungen der Jugendschutzkartei.
38
Vgl. ebenda.
* Vgl. ebenda, I V 2/16/230. 40
Hermann Weber, DDR. Grundriß der Geschichte, a.a.O., S. 88.
41
Vgl. SAPMO-BArch., FDJ A 5697 I.
DDR-Jugend auf "sozialistischem Kurs"
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auf einen Platz in der Abiturstufe oder an einer Hoch- bzw. Fachschule für Mitglieder der FDJ ungleich günstiger. Demzufolge stieg der Organisationsgrad dieses Teils der Jugendlichen 1958 auf 91 Prozent. Mehrheitlich wurde die FDJ-Mitgliedschaft vor allem in den traditionalen Ober- und Mittelschichten folglich als "Teilstufe für die weitere Entwicklung" wahrgenommen.42 Im Jahre 1959 rekrutierten sich ca. die Hälfte aller Studierenden und 65 Prozent der Abiturienten aus diesen sozialen Gruppen, da Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien vorerst wenig Neigung an einem höheren Bildungsweg zeigten.43 Laut FDJ-Mitgliederstatistik folgten die jungen Beschäftigten in Volkseigenen Gütern der Landwirtschaft mit über 90 Prozent, Jugendliche im MTS-Bereich mit 74 Prozent und junge Arbeiter in staatseigenen Betrieben mit 52 Prozent. 44 Eine Ausnahme bildeten die jungen LPG-Mitglieder, von denen 1959 lediglich 18 Prozent dem Jugendverband angehörten, während der FDJ-Anteil bezogen auf alle jungen Bäuerinnen und Bauern sogar nur 0,6 Prozent betrug. 45 Ebenso vermochte es die FDJ nicht, die von ihr beanspruchten Jahrgänge in privaten und genossenschaftlichen Produktionsstätten zu überzeugen. In den 16.000 Privatbetrieben des Bezirkes Magdeburg gab es sieben und in den 82 handwerklichen Genossenschaften eine Grundeinheit der FDJ. Im privaten Handwerk und Einzelhandel der DDR waren lediglich 0,3 Prozent aller jungen Beschäftigten in der Mitgliederkartei des Jugendverbandes registriert. 46 Der tatsächlich "aktive Kern" der FDJ reduzierte sich fast ausschließlich auf die hauptamtlichen Funktionäre. 47 Auch seine Aufgabe als Kaderreservoir der SED konnte der Jugendverband in diesen Jahren kaum erfüllen. Nur etwa 10 Prozent aller Mitglieder waren in der Führungspartei organisiert. 48 In den Quellen finden sich dennoch weitere Indizien dafür, daß die Bereitschaft zu einem stillen Arrangement mit der DDR gerade gegen Ende der 50er Jahre größer wurde und alternative Formen der Jugendarbeit, wie die der Kirchen, an Einfluß verloren. Folgt man einer Information an das Politbüro aus dem Jahre 1959, so waren die Mitgliederzahlen in den Jungen Gemeinden ebenso wie der von Jugendlichen in der katholischen Kirche rückläufig. Lediglich 3,5 Prozent der Jugendbevölkerung 42
Vgl. ebenda, ZPA IV 2/1/218, S. 260.
43
Vgl. ebenda.
44
Vgl. ebenda, I V 2/16/4.
45
Vgl. ebenda, IV 2/1/214, S. 239.
46
Vgl. ebenda, I V 2/16/4.
41
Vgl. ebenda, I V 2/1/247, S. 67. Rede Hans Modrows auf der 11. ZK-Tagung im Dezember 1960.
41
Vgl. ebenda, FDJ A 3712. Die Angaben beziehen sich auf das 1. Halbjahr 1961.
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gehörten (oder bekannten sich öffentlich) zu den Jungen Gemeinden, und die 25 evangelischen Studentengemeinden zählten 2.630 Mitglieder, die sich fast ausschließlich aus den Theologischen Fakultäten rekrutierten. 49 Für die Jungen Gemeinden bedeutete das im Zeitraum von 1955 (125.279 "Mitglieder") bis zum ersten Halbjahr 1959 (104.656 "Mitglieder") ein Rückgang um 20.623. 50 Allerdings müssen diese Angaben kritisch betrachtet werden, denn Zugehörigkeit wie Teilnahme waren in den Kirchen im Gegensatz zur FDJ eher unverbindlich. Es wurde weder eine Mitgliederkartei geführt noch hatten die jungen Gemeindeglieder Beiträge zu entrichten. Eine Alternative für aktive junge Christen boten offensichtlich auch die kleinen, von den politischen Institutionen bis dahin weniger beachteten Religionsgemeinschaften. Von 1958 bis 1959 verdoppelte sich z.B. die Zahl der Gläubigen in der Neuapostolischen Gemeinde im Bezirk Halle. 51 Weitaus dramatischer verlief für die evangelische Kirche ab 1958 der Konfirmandenschwund. Seit Einführung der "sozialistischen Jugendweihe" Mitte der 50er Jahre verringerte sich die Teilnehmerzahl trotz massiven Einspruchs seitens der Kirche stetig. Die Entscheidung, ob Jugendweihe oder Konfirmation, wurde in den Familien zunehmend von sozialen und damit implizit politischen Überlegungen beeinflußt, zumal die Karriere der Jugendlichen jetzt auch von der Haltung des Elternhauses gegenüber der DDR abhing. Ein gemeinsames Papier des Ministeriums für Volksbildung und des Staatssekretariates für Hochschulwesen bestimmte seit Frühjahr 1958 verbindliche Kriterien für die Aufnahme an eine Universität oder Hochschule. Neben der Bewertung der gesellschaftlichen Arbeit der Abiturienten außerhalb der Schule, bei Produktionseinsätzen und während der Ferien, mußten nun die "erzieherischen Einflüsse des Elternhauses, von der Bewertungskommission" berücksichtigt werden.52 Etwa 80 Prozent der 14jährigen beteiligten sich 1959 an der Jugendweihe, davon wiederum 20 Prozent zusätzlich an der Konfirmation. 53 Anhand dieser Daten wird deutlich, daß sich seit Mitte der 50er Jahre neue Anpassungsmuster entwickelten, die zwar im wesentlichen auf die Verbesserung der Wirtschaftslage zurückzuführen waren, diese Veränderungen wohl aber nicht hinreichend erklären. Der radikale Wertewandel von einer Aufbaugesellschaft, in der neue Orientierungen zwar partiell akzeptiert, aber stets an der noch möglichen Einheit Deutschlands gemessen wurden, hin zu einem "sozialistischen Teilstaat", der nach politischem Engagement und festen Überzeugungen verlangte, führte in Erwä49
Vgl. ebenda, A 1411.
30
Vgl. ebenda.
51
Vgl. ebenda.
52
Vgl. BAP, R-2-5836.
53
Vgl. SAPMO-BArch, ZPA IIV/2/3A/5836.
DDR-Jugend auf "sozialistischem Kurs"
185
gung sozialer Konsequenzen zu einem Arrangement mit dem politischen System. Zu den häufigen Erfahrungen der 50er Jahre gehörte es auch, daß jede Form unangepaßten Verhaltens, sei es aus Enttäuschung über nicht eingelöste Versprechen oder dem Willen nach grundlegenden Reformen, mit dem Verlust der sozialen Stellung bestraft oder gar kriminalisiert wurde. Auch diese negativen Erlebnisse einer ganzen Generation intendierten einen Wandel im Umgang mit den offiziellen gesellschaftlichen Normen. Der oft angeführte Hinweis, daß Mehrheiten das System innerlich ablehnten, passiv blieben und Widerstand leisteten, läßt sich zumindest für die zweite Hälfte der 50er Jahre nur anhand weniger Quellen belegen. Andererseits wird im folgenden deutlich, daß es hier eine große "Grauzone" gab. Da empirisch-soziologische Untersuchungen zu Haltungen und Meinungen Jugendlicher erst in den 60er Jahren erfolgten, muß auf eine nicht veröffentlichte Umfrage der SED-Tageszeitung "Neues Deutschland" zurückgegriffen werden. Hierbei handelte es sich um den ersten Versuch der Parteiführung, nach ihrem Jugendkommuniquè vom Februar 1961, die "verschiedensten Lebens- und Interessengebiete der Jugend" partiell zu ermitteln. In diese Umfrage wurden 2.500 Jugendliche entsprechend ihrer sozialen Größenordnung einbezogen: 53 Prozent Arbeiterjugend; 11 Prozent junge Angestellte; 6 Prozent Landjugend; 15 Prozent Schülerinnen und Schüler sowie Studierende; 1 Prozent junge Intelligenz; 2 Prozent junge Beschäftigte im Handel; 6 Prozent "Sonstige".54 Zu spontanen Weigerungen, sich an der Meinungserhebung zu beteiligen, kam es in den Kamera- und Kinowerken Dresden. Als wesentliche Ursachen wurden genannt: Daß eine kritische Meinung sofort von Funktionären als Feindschaft ausgelegt würde, eine Delegierung zum Studium zurückgezogen oder eine geplante Westreise nicht genehmigt werden könnten. Ein ebenso oft angeführtes Argument war: "Was hat das für einen Sinn, es ändert sich sowieso nichts." Weite Teile der Landjugend werteten diese Umfrage am Ende der Zwangskollektivierung als politische Provokation, die die Menschen "nur herauslocken" solle. Angehörige der jungen Intelligenz verhielten sich zögerlich und betrachteten die Erhebung als "Einmischung in ihre persönliche Freiheit". Insgesamt beteiligten sich 35 Prozent von 2.500 Jugendlichen an dieser Befragung, davon ein Fünftel anonym. Auf die Eingangsfrage, ob dem Jugendlichen die Zeit in der er lebe gefalle, antworteten 41 Prozent mit "ja". Soziale Sicherheit und Fürsorge waren für diese Bewertung ausschlaggebend. Politische Bewegungen wie der Ost-West-Konflikt, der Konföderationsvorschlag der SED als Voraussetzung für die deutsche Einheit wurden zwar interessiert verfolgt, aber entweder nicht verstanden oder mit dem Hinweis versehen, daß "beide Teile in ihren Forderungen zurückstecken" müßten. Hingegen äußerten 22 Prozent, daß sie lieber später leben würden, wenn die Einheit Deutschlands vollendet sei: "So etwa in 50 Jahren". Weniger als zwei Drittel glaub54
Vgl. ebenda, FDJ A 6173.
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ten 1961 an den "Sieg des Sozialismus", ein Drittel verneinte dies und der Rest befand sich nach eigenen Angaben in einem "Prozeß des Suchens", während das "Feindbild vom imperialistischen Gegner in Westdeutschland" von einer großen Mehrheit abgelehnt wurde. In ihren allgemeinen Grundsätzen wurde eine "sozialistische Entwicklung" aber durchaus begrüßt. Wiederum standen die "soziale Sicherheit" und das Versprechen "auf ein gutes Leben" im Zentrum. Der "politische Kampf zur Durchsetzung dieser Ziele" stieß auf Ablehnung. Jeder zweite der befragten Jugendlichen kritisierte zudem den evidenten Widerspruch zwischen "sozialistischer" Realität und gelehrter Theorie. Unsicherheit über den Ausgang des "Experiments" ließ auch die wiederholt gestellte Gegenfrage erkennen: "Was wird aus der DDR und mir im Falle einer Wiedervereinigung?" Sieben Prozent der Jugendlichen wollten lieber im Kommunismus leben, was sie mit der Vorstellung von einem "gemütlichen Leben ohne Klassenkämpfe" verknüpften. Der größere Teil der Befragten sah offenbar mehr negative Bezugspunkte in der wahrgenommenen Lebensqualität: "Zu hohe Anforderungen", "zu unruhig", "zuviel Politik", geringer Lebensstandard und ewige Versorgungslücken. Schließlich mußte die SED-Führung konstatieren, daß "viele Jugendliche mit den Schwierigkeiten der Übergangsperiode nicht fertig werden." 55 Lediglich für sechs Prozent war der "sozialistische Aufbau" eine "Lebensaufgabe", wobei auch hier persönliches Glück und berufliches Vorwärtskommen dominierten. Innere Verbundenheit mit der DDR-Gesellschaft oder gar Vertrauen in die SED-Politik waren mehrheitlich nicht vorhanden. Jugendliche nutzten die sozialen Vorteile ohne sich mit dem politischen System zu identifizieren. Vor allem der erlebte Widerspruch zwischen "Ideal und Wirklichkeit einer sozialistischen Gesellschaft" wirkte kontraproduktiv auf eine DDR-Identität, was folgende Aussagen belegen: wenn gehalten würde, was man versprach; wenn alles so wäre, wie man es lehrt; man kann seine Meinung nicht frei sagen. Diese Äußerungen lassen sich an folgenden Haltungen konkretisieren. Auf die Frage, wem sich der Jugendliche in Konfliktsituationen anvertrauen würde, wurden Freunde, Eltern, vereinzelt auch der Meister oder Kollege genannt. Der Lehrer, das Schul- oder Arbeitskollektiv, der FDJ- oder Parteisekretär wurden nicht ins Vertrauen gezogen. Sehr distanziert verhielten sich Mehrheiten auch bei der Wahl eines Vorbildes. Elf Prozent lehnten dies energisch ab und meinten, es gäbe keine fehlerfreien Menschen, man sei schließlich alt genug, um selbst das Richtige zu entscheiden; ein Vorbild zu haben sei Personenkult. Etwa 42 Prozent hatten ein Vorbild, wovon 15 Prozent politische Personen der Geschichte anführten: Ernst Thälmann, Karl Marx, Friedrich Engels, Lenin, Rosa Luxemburg und Arthur Becker. SED- und Staatsfunktionäre wurden nicht genannt. Für elf Prozent waren die Eltern - hier vor allem der Vater - Vorbild. Weitere 16 Prozent glaubten an die Vorbild35
Vgl. ebenda, ZPA IV 2/16/91.
DDR-Jugend auf "sozialistischem Kurs"
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Wirkung von Sportlern, wie Radrennfahrer Gustav Adolph Schur oder Leichtathlet Hans Grondetzky. Für 15 Prozent waren es sogenannte bürgerliche Humanisten, Forscher oder Schriftsteller, am häufigsten wurde Albert Schweitzer genannt. Die Haltung gegenüber der DDR blieb indifferent, politische Verantwortung wollte kaum einer der Befragten übernehmen. Ebenso spielte die Jugendorganisation eine marginale Rolle, da es ihr bislang nicht gelungen war, sich spezifischen Jugendinteressen zu öffnen. Auch die neuen Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten wurden vielfach nur soweit genutzt, wie sie für die berufliche Entwicklung mit entsprechendem Entgelt relevant schienen. Und schließlich beschäftigte sich lediglich ein Prozent aus eigenem Antrieb mit Werken des Marxismus. Zu diesem Abschnitt gab es signifikante Unterschiede im Meinungsbild der weiblichen und männlichen Jugendlichen, obwohl gerade die 50er Jahre angesichts des Mangels an Arbeitskräften vornehmlich im Zeichen der Integration möglichst vieler Mädchen und Frauen in die Arbeitswelt standen,56 was auch in den politischen und ökonomischen Konzepten der SED einen hohen Stellenwert hatte. Weder die berufliche Entwicklung noch eine Berufstätigkeit als langfristige Perspektive standen im Lebenszentrum der meisten Mädchen und jungen Frauen. Im Jahre 1960 hatten 80 Prozent aller Industriearbeiterinnen keine abgeschlossene Berufsausbildung. 57 Bei der Berufswahl setzte sich die Geschlechterpolarisierung trotz bildungspolitischer Chancengleichheit fort; der weibliche Anteil an den bestandenen Facharbeiterprüfungen 1960 war vor allem in weniger gut bezahlten Industrie- bzw. Dienstleistungsbereichen im Vergleich zu den männlichen Absolventen auffallend hoch: in der papierverarbeitenden Industrie, der Textilherstellung und -Verarbeitung, in kaufmännischen Berufen, im Gesundheitswesen und Bildungsbereichen, in Verwaltungs- und Büroberufen. 58 Etwa 31 Prozent der Studierenden - mit rückläufiger Tendenz (1959 waren es 39,8 Prozent) - an Hochschulen und Universitäten waren Frauen.59 Ein ähnlicher Trend wie bei Facharbeiterberufen ist auch bei der Wahl der Studienrichtung zu erkennen. In der Medizin, den Geisteswissenschaften, in Kunst und Musik, in der Pädagogik waren jeweils die Hälfte der Studienplätze mit Frauen besetzt, in Technik- und Naturwissenschaften nur knapp ein Viertel. 60 Ebenso lehnten Mädchen und junge Frauen ein politisches Engagement weitaus häufiger ab und ließen stärkere religiöse Bindungen erkennen als ihre männlichen Altersgefährten. 56 Vgl. Frauen in Deutschland 1945-1992, Hrsg. Gisela Hellwig, Hildegard Maria Nickel, Bundeszentrale für politische Bildung 1993, S. 10. 57
Vgl. SAPMO-BArch., FDJ A 3744.
51
Vgl. ebenda, ZPA IV 2/16/115, S. 83.
59
Vgl. ebenda, IV 2/16/4.
* Vgl. ebenda, IV/16/115, S. 85.
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Die Rollenvorstellungen und -erwartungen waren zu diesem Zeitpunkt noch mehrheitlich auf Familiengründung und ihre Patriachalstruktur fixiert. Mit Eheschließung, spätestens aber bei Geburt des ersten Kindes, wollten die jungen Frauen ihre Berufstätigkeit einstellen. Auch auf die Frage nach den besonderen Höhepunkten im Leben, waren es eher traditionale Erfahrungen und eine enge Familienbindung : Hochzeit, Taufe des Kindes und ein fester Zusammenhalt des Familienverbundes wurden am häufigsten genannt.61 Als stabilste Form der Partnerbeziehung wurde die Ehe angesehen, schien sie doch ein stärkeres soziales Sicherheitsgefühl zu vermitteln und mehr Beständigkeit im persönlichen Leben zu garantieren. Der Anteü der Eheschließungen der 18- bis 25jährigen Frauen betrug 1958 knapp 68 Prozent, der der Männer im gleichen Lebensalter 57 Prozent. 62 Im Durchschnitt heirateten Frauen 1960 im Lebensalter von 22,7 Jahren, die Männer zwei Lebensjahre später. Etwa 51 Prozent aller Geburten entfielen Ende der 50er Jahre auf Mädchen bzw. Frauen im Alter zwischen 14 und 25 Jahren (1957: 143.821), ebenso 75 von 100 nichtehelich geborenen Kindern. 63 Keine Unterschiede gab es hingegen im Freizeitverhalten und bei den Interessen. Von den kulturpolitischen Absichten der SED, mittels neuen Bewußtseins "auf sozialistische Weise zu arbeiten, zu lernen und zu leben"64, hatte sich die heranwachsende Generation kaum beeindrucken lassen. Auch zwei Jahre nach dem "Bitterfelder Weg" (1959), der wichtige Impulse für eine "sozialistische Nationalkultur" geben wollte, zeigten Mädchen wie Jungen kaum Neigung für Werke der neuen Kunst und Literatur .Wenn überhaupt gelesen wurde,dann fast ausschließlich Reisebeschreibungen und Kriminalromane. Lediglich bei Kinofilmen fiel das Urteil im Sinne der Partei "positiver" aus: der "Thälmann-Film", Scholochows verfilmtes "Menschenschicksal", "Die Ballade vom Soldaten", "Kraniche ziehen", "7 Patronenhülsen", "Septemberliebe" oder "Rosen für den Staatsanwalt" gehörten zu den behebtesten Filmen unter Jugendlichen, die hier offenbar jene revolutionäre Romantik erlebten, die dem DDR-Alltag längst abhanden gekommen war. Größte Bedeutung für alle Befragten hatte die Schlagermusik. Weit über 70 Prozent forderten mehr "Westmusik" in den DDR-Medien, fast jeder erklärte 1961 obwohl offiziell verboten - Radio Luxemburg zu hören. Auch auf die Frage, was man besonders vermisse, wurden mehrheitlich "flotte Tanzmusik", mehr Tanzlokale und Dorfklubs genannt, gefolgt von besseren Sportmöglichkeiten außerhalb eines strengen Trainingsbetriebes. Und schließlich gab es da noch die spezifischen Kon61
Vgl. ebenda, FDJ A 2631.
c
Vgl. ebenda, ZPA IV 2/16/115, S. 93.
63
Vgl. ebenda, FDJ A 1125.
64
Vgl. Tribüne, Tageszeitung des FDGB, 3.1.1959. Aufruf der Jugendbrigade "Nikolai Mamai" im VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld.
DDR-Jugend auf "sozialistischem Kurs"
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sumbedürfnisse und den Ärger über ewige Engpässe. Doch Wünsche nach farbenprächtigen Stoffen, modernen Schuhen, einfallsreicher Konfektion, nach ausreichend Butter und Käse oder gar preiswerten Motorräder bzw. Autos, mehr und billigeren Auslandsreisen ließen sich auch in den folgenden Jahrzehnten nur sehr unzureichend realisieren. Insgesamt mußte die vorliegende Analyse zu jugendlichen Interessen und Sichtweisen die Parteiführung wohl in Unruhe versetzen, drohte doch ihr wirtschaftliches Modernisierungsprogramm - wie auf dem V. Parteitag 1958 beschlossen -, ohne Leistungsbereitschaft und Engagement der Jüngeren zu scheitern. Die repressive Hochschulpolitik hatte in den zurückliegenden Jahren nur mangelhaft Innovationsreserven im technischen und wissenschaftlichen Bereich erschließen können. Die "junge Intelligenz", vorausgesetzt sie war in der DDR geblieben, sorgte sich eher um soziale Absicherung und einen günstigen Karriereverlauf. Die Reform im Bildungswesen wurde von Eltern wie Kindern aller sozialen Schichten eher skeptisch betrachtet, zumal die Kriterien für die Auswahl der neuen geistigen Elite je nach Bewerbungssituation gehandhabt und nie öffentlich gemacht wurden. Mit Desorientierung und Landflucht reagierte die junge Dorfbevölkerung auf den "sozialistischen Frühling", eine Entwicklung, die weit in die 60er Jahre reichen sollte und maßgeblich viele Versorgungslücken auch als Folge eines Defizits an jungen Arbeitskräften hervorbrachte. Die neue Offensive der Kulturpolitik blieb unverstanden und reduzierte sich ebenso wie die von der SED vorgegebenen neuen Wertorientierungen auf die sachliche Beurteilung von Lebensqualität entsprechend dem Lebensstandard. Die Haltung der nachwachsenden Generation war vielfach resignativ und vor allem desinteressiert. Dieses mehrheitlich indolente Verhalten trug zwar zur Stabilisierung des politischen Systems in der DDR bei, Wagnis und Risiko für innovative Impulse waren aber so kaum zu erwarten. Damit blieb fraglich, ob die von der SED beschlossene wirtschaftliche Modernisierung in der DDR durch Leistungs- und Lernwille der Heranwachsenden zu realisieren war. Politische Apathie und Partizipationsverweigerung der Jugend wurden von der Partei-Spitze durchaus wahrgenommen. Zwar vernmied sie eine "Fehlerdiskussion", in grundsätzlichen Stellungnahmen des Politbüros wurde auf die Problemlagen zumindest implizit verwiesen. So konstatierte der Beschluß "Zu Problemen der Jugend" vom Februar 1961 einerseits den "vollen Tatendrang" für den Sieg des Sozialismus", kritisierte aber zugleich die nur "formale" Einstellung der Jugendlichen zur FDJ und wollte Wege weisen zu einem "sozialistischen Lebensstil".65 Adäquat der programmatischen Erklärung, die Ulbricht in seiner neuen Funktion als Staatsratsvorsitzender der DDR am 4. Oktober 1960 abgegeben hatte, und in der er um mehr Vertrauen der Bevölkerung warb 66 , 65
Vgl. SAPMO-BArch., ZPA IV 2/16/91.
" Vgl. Der Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik 1960-1970. Dokumentation, Berlin
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zielte auch der Jugendbeschluß auf eine Beruhigung bzw. Eindämmung der krisenhaften Situation vor allem hinsichtlich der bedrohlich anwachsenden Abwanderung. Als es jedoch nicht gelang, die Lage zu kanalisieren, entschloß sich die Parteiführung zur Abriegelung der DDR. Der "Mauerbau" in der Nacht zum 13. August 1961 setzte für die Austragung und Entwicklung von Konflikten neue Rahmenbedingungen, auch in der Jugendpolitik. Jetzt galt es für die SED, das System funktionsfähig zu machen. Dazu war zweierlei nötig: Sachverstand und ein Minimalkonsens mit der Bevölkerung. 67 Als die SED-Führung im Frühjahr 1957 daranging, ihr jugendpolitisches Konzept zu ändern, folgte sie der Überlegung, die unterschiedlichen Probleme mit ihren jeweils eigenen Implikationen zu einer Strategie, nämlich Stärkung der Parteiautorität und des gesamten Apparates, zu bündeln. In einem Grundatzpapier forderte die Parteispitze eine Wende in der gesamten Jugendpolitik, deren Ausgangspunkt zwar eine kritische Reflexion der politischen Erziehung in den einzelnen Jugendschichten büdete, die in der Konsequenz aber zu der fatalen Schlußfolgerung führte, die Heranwachsenden ohne jegliche Rücksicht ihrer individuellen Interessen, Wünsche oder familiären Traditionen in das politischen System zu integrieren und ihnen einen spezifischen DDR-Patriotismus zu vermitteln. Flankiert von wirtschaftlichen Engpässen, wahrgenommenen Widersprüchen zwischen Programm und Realität, einer restriktiven Erziehungskonzeption der Funktionärseliten - was alles im Gegensatz zu den partiellen Wahrnehmungen der westlichen Gesellschaft stand - entwikkelte sich zunehmend widerstrebiges Verhalten in der jungen Generation, die nach eigenen Artikulations- und Aktionsformen suchte. Republikflucht, aktive Auflehnung gegen die Staatsgewalt, sozialer Rückzug und kleine, eher zum Selbstverständnis geeignete Protesthaltungen waren für den Beginn der zweiten Hälfte der 50er Jahre signifikant.Diese Stimmungen wurden von der SED und ihrer Jugendorganisation durchaus wahrgenommen. Doch anstatt mit modifizierten, jugendgemäßen Konzepten eine Konfliktregulierung herbeizuführen, erstarrte das politische System und plädierte für Ideologisierung bzw. Repression. Die neuen offiziellen Normen, deren Rahmenbedingungen seit 1958 dem Leitbild der "sozialistischen Persönlichkeit" folgten, implizierten einen scheinbaren Haltungswandel in der Jugend. Ihr stilles Arrangement mit dem Partei-Staat war aber ebenfalls nur Projektion der restriktiven Erziehungspolitik, die für sich gleichermaßen Strafen und Belohnen mit weitreichenden persönlichen Konsequenzen beanspruchte. Unter diesen Bedingungen blieb die Forderung nach jugendlichem Engagement in der Wissenschaft, der Wirtschaft, Kultur oder gar Politik ein frommer Wunsch. (Ost) 1970, S. 83f. Hier betonte Ulbricht, daß staatliche Leitung nicht "Ausübung administrativer Kommandogewalt, sondern Führung des Menschen auf dem Weg des bewußten Kampfes für den Sieg des Sozialismus" sei. 67 Hermann Weber, Geschichte der SED, in: Die SED in Geschichte und Gegenwart, Hrsg. Ilse Spittmann, Köln 1987, S. 28.
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Von "Begeisterung und Tatkraft" für eine sozialistische DDR waren die Heranwachsenden am Ende der 50er Jahre ebenso weit entfernt, wie von dem Wunsch nach einem ostdeutschen Teilstaat. Doch vieles deutete darauf hin, das Gleichmut und Gleichgültigkeit im Umgang mit der Parteipolitik auch innerhalb der DDRGesellschaft Konflikte entschärften. Es blieb jedoch fraglich, ob dieser Zustand ausreichen würde, die ostdeutsche Gesellschaft zu modernisieren.
Die Funktionen der Freien Deutschen Jugend im politischen System der DDR Von Michael Walter Wie in den meisten sich sozialistisch nennenden Staaten existierte mit der FDJ auch in der DDR eine monopolistische Massenorganisation der Jugend. In Abstimmung mit den jugendpolitischen Zielsetzungen der herrschenden Partei wurden ihr bestimmte, im folgenden näher zu analysierende Aufgaben zugedacht. Bemerkenswert erscheint aus der Retrospektive die Diskrepanz zwischen den positiven Beurteilungen der Wirksamkeit der Verbandsarbeit in offiziellen Erklärungen und ihrem Versagen angesichts der existentiellen Krisensituation im Herbst 1989, was seinen Ausdruck in einem rapiden Verfall des Jugendverbandes fand. 1 Eine auf das nun zugängliche Material gestützte funktionale Analyse2 der Aufgaben und Aktivitäten sowie der jeweiligen Wirksamkeit des Jugendverbandes soll die Frage beantworten helfen, inwiefern die FDJ ihre systembildende und -stabilisierende Leistung über vier Jahrzehnte lang erbringen konnte und aus welchen Gründen auch ihr subsystemischer Herrschaftsbereich schließlich zusammenbrach. Mit der Öffnung der Archive bietet sich die Chance einer seriösen Aufarbeitung der Geschichte der DDR. Auch im Bereich der Jugendforschung konnte der bisherige Wissensstand schon beträchtlich ergänzt und frühere Ergebnisse überprüft und korrigiert werden.3 Dies ermöglicht vor allem die Erschließung des ehemaligen FDJZentralarchivs durch das Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung (IzJ) in 1 Vgl. Stephan, G.R. : "Die Führung der FDJ und die Krise in der DDR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre", in: Gotschlich, H. (Hrsg.): "Links und links und Schritt gehalten...". Die FDJ: Konzepte-Abläufe-Grenzen, Berlin 1994, S.311-325, Freiburg , Α.: "Die FDJ nach Honecker. Chronik eines Abgangs", in: Deutschland Archiv (DA) 23 (1990), S.517-520 u. Walter, M: "Freie Deutsche Jugend: Schnee von gestern?", in: DAS PARLAMENT Nr. 15 v. 15.4.1994. 2 Der Begriff der "Funktion" bezeichnet in diesem, an Dürkheim und Merton orientierten Verständnis die manifeste, von den Trägern des Systems erwünschte und beabsichtigte Leistung für die Etablierung, die Stabilisierung, d.h. die Bestandsicherung und die Steuerung des politischen Systems sowie die entsprechende latente, d.h. nicht intendierte oder in ihrer Bedeutung erkannte Leistung. S. Merton, R.K. : Social Theory and Social Structure, Glencoe, III. 1957, S.22-21, Dürkheim, E. : Die Regeln der soziologischen Methode. Hrsg. v. R. König, Frankfurt a.M. 1984, bes. S.181 u. 193. 3 Vgl. zum Forschungsstand den Beitrag von Ulrich Mählert sowie ders.: Die Freie Deutsche Jugend 1945-1949. Von den "Antifaschistischen Jugendausschüssen" zur SED-Massenorganisation: Die Erfassung der Jugend in der Sowjetischen Besatzungszone, (Diss.) Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, S.14-18.
13 Timmermann
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Berlin. Die Akten wurden inzwischen der Stiftung "Archiv der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv" (SAPMO) in Berlin übergeben. Für die Analyse der Perzeption der FDJ-Funktionen in der SED-Spitze ist es erforderlich, Materialien der SED (ebenfalls SAPMO) und des Ministeriums für Staatssicherheit im Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) auszuwerten.
A. Theoretische Einordnung Da "am Anfang aller Überlegungen" zur FDJ "die Tatsache (steht), daß der sozialistische Jugendverband eine Massenorganisation" war 4, gilt es zunächst, den immanenten Status dieser Organisationen zu untersuchen, um die entsprechenden Funktionen der FDJ einordnen zu können. Unter Berufung auf Forderungen von Marx und Lenin sollten die "Massenorganisationen" bzw. "gesellschaftliche Organisationen" als "freiwülige Zusammenschlüsse von Bürgern zur Wahrnehmung ihrer politischen, ökonomischen, geistig-kulturellen, sportlichen, beruflichen, sozialen u.a. Interessen und zur Verwirklichung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten" bestimmte Aufgaben im politischen System der SBZ bzw. der DDR übernehmen.5 Ebenso wie die Parteien gehörten diese Organisationen der Nationalen Front der DDR an. Nach Artikel 3 der Verfassung von 1974 sollte hier "das Bündnis aller Kräfte des Volkes (...) seinen organisierten Ausdruck" finden und "die Parteien und Massenorganisationen alle Kräfte des Volkes zum gemeinsamen Handeln für die Entwicklung der Gesellschaft" vereinigen. Eine weitere Aufgabe der Nationalen Front war die Verwirklichung des "Zusammenleben(s) aller Bürger in der sozialistischen Gemeinschaft nach dem Grundsatz, daß jeder Verantwortung für das Ganze trägt". 6 Das politische System der DDR ließ statt einer Vielfalt staatsunabhängiger Verbände mit jeweils spezifischen Funktionen lediglich eine begrenzte Zahl reglementierter Organisationen zu, denen bestimmte herrschaftsrelevante Funktionen zugewiesen waren. Erlaubt war nach Artikel 29 der Verfassung nur die Gründung von Organisationen, deren Interessen "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen 4 Parson, W.: "Der marxistisch-leninistische Begriff der sozialistischen Massenorganisation der Jugend", in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock 25 (1976), S.21-28, S.22; Hervorhebung im Original. 5 S. Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hrsg.): Die gesellschaftlichen Organisationen in der DDR, Berlin (Ost) 1980, S.17-26, S.18, dies.: Handbuch gesellschaftlicher Organisationen in der DDR, Berlin (Ost) 1985, Mampel, S.\ Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Kommentar, Frankfurt a.M. 21982, S.190f., Süss, W. : "Gesellschaftliche Interessen und gesellschaftliche Organisationen in der DDR", in: Weidenfeld, W./H. Zimmermann·. DeutschlandHandbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Bonn 1989, S.152-164. 6
S. Mampel 1982, S.5, vgl. S.190-194.
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und Zielen der Verfassung" standen, die also auch den in Artikel 1 verfassungsrechtlichfixierten Führungsanspruch der SED in ihren Statuten anerkannten.7 Die führende Rolle der Staatspartei erstreckte sich sowohl auf die "politische Orientierung" als auch auf "Erziehung, Auswahl und Verteilung der Kader, insbesondere in den leitenden Organen der gesellschaftlichen Organisationen".8 Zur Gewährleistung dieser Ansprüche wurden kleinere Parteigruppen in die Verbände integriert. Deren Kontrolle hatte "sich vor allem darauf zu erstrecken, daß die zumeist im engen lokalen Rahmen gebildeten Vereine und Gruppen nicht zu einem bequemen Unterschlupf für Feinde der neuen demokratischen Ordnung" werden konnten.9 Als 'Transmissionsriemen" im Sinne Lenins hatten die gesellschaftlichen Organisationen die Aufgabe, die Beschlüsse der SED in ihren spezifischen Wirkungsbereichen umzusetzen. Dabei wurden drei Hauptbetätigungsfelder unterschieden, die "sich wechselseitig durchdringende Aufgaben" 10 beinhalteten: - die politisch-ideologische Arbeit, - die Mitwirkung an der "Lösung ökonomischer Aufgaben" und - die Steuerung des Freizeitverhaltens der Bevölkerung im Rahmen "kulturpolitischer Aufgaben". 11 Der FDJ fielen entsprechende Aufgaben im jugendpolitischen Bereich zu. Die theoretische Grundlage lieferten die Klassiker des Marxismus-Leninismus mit ihren Aussagen zur Rolle der Jugend beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft. Ausgehend vor allem von den Ausführungen Lenins zur revolutionären Jugendpolitik und Organisation der Jugend im Sozialismus verstand sich die FDJ bis zum Januar 1990 als "einheitliche sozialistische Massenorganisation der Jugend der Deutschen Demokratischen Republik".12 Da vorausgesetzt wurde: "Erstens kann die Jugend (...) ihre Rolle als Träger der kommunistischen Zukunft nur erfüllen, wenn sie durch die Kommunisten entsprechend vorbereitet wird. Und zweitens kann die Jugend ihre Lebensinteressen nur an der Seite und unter der Führung der revolutionären Arbeiterbewegung verwirklichen" 13,
1
Vgl. Mand, R./C. Schulze: "Gesellschaftliche Organisationen, Interessen und Grundrechtsverwirklichung. Gedanken zur Entfaltung der Triebkräfte des Sozialismus", in: Staat und Recht 34 (1985), S.125f. I
Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft 1980, S.22.
9
Ebda., S.25.
10
5. Parson 1976, S. 127.
II
S. ebda. u. S.134ff.
u S. Statuten der FDJ, abgedruckt in: Freiburg, AJChr. Mahrad: FDJ. Der sozialistische Jugendveiband der DDR, Opladen 1982, S.280ff., hier S.343.
1*
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ordnete sich auch der Jugendverband dem Führungsanspruch der SED unter. Programm und Beschlüsse der Partei bildeten die Grundlage und die "wissenschaftlich begründete Orientierung" für die Tätigkeit der FDJ. Zu den jugendpolitischen Beschlüssen der SED gehörten eine Vielzahl von Grundsatzdokumenten, so die Jugendgesetze von 1950,1964 und 1974 und die zu ihrer Durchführung erlassenen Rechtsvorschriften, verschiedene Gesetze mit Jugendbezug zum Staatsplan, rechtliche Einzelbestimmungen etc.14 Formal erfolgte die Mitgliedschaft im Jugendverband "auf freiwilliger Grundlage".15 Dadurch unterschied sich die FDJ beispielsweise von der Hitlerjugend. Auch das aktive Engagement im Jugendverband der DDR war im Unterschied zur Dienstpflicht in der HJ formal stets freiwillig. Wenn schließlich der Reichsjugendführer der NSDAP zugleich "Jugendführer des Deutschen Reiches" in der Stellung einer dem "Führer und Reichskanzler" unmittelbar unterstellten Obersten Reichsbehörde war, so unterschied sich auch dieser rechtliche Status deutlich von dem des Ersten Sekretärs des Zentralrats der FDJ, dessen Amt weder eine staatliche Instanz noch eine offizielle Funktion der Partei darstellte. 16 Diese Unterschiede sind jedoch, so die hier aufgestellte Ausgangsthese, weitgehend theoretischer Natur, da im Alltag der rechtliche Status der FDJ ihrem gesellschaftspolitischen untergeordnet wurde: die herrschende marxistisch-leninistische Ideologie sah auch innerhalb der Jugend keinen Interessenpluralismus vor, weshalb die FDJ den Anspruch erhob, die gesamte Jugend der DDR zu repräsentieren und die Durchsetzung ihrer Interessen zu gewährleisten. Es bietet sich daher an, auf das methodologische Instrumentarium der Totalitarismusforschung zurückzugreifen, da dies eine differenziertere Analyse der FDJ als Indoktrinations- und Machtsicherungsinstrument erlaubt. Aus den Ausführungen der Totalitarismustheorie zu Jugendorganisationen und ihren Funktionen17 läßt sich folgender forschungsleitender Funktionenkatalog ableiten: 13 Jahnke, K.H./G. Naumann: "Zu einigen theoretischen Grundlagen der Jugendpolitik der SED", in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock 25 (1976), S.5-12S.6. 14 S. ausführlicher: Schönfeldt, H.-A.: "Die Freie Deutsche Jugend im Rechtssystem der DDR", in: Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung, Jahresbericht 1992, Berlin 1992, S.103-127, S.108f. 15
S. Statut, Abschnitt I, a.a.O., S.343.
16 Vgl. Hasenclever, Chr.: Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900, Göttingen 1978, S.127142, bes. S.137f., Schönfeldt 1992, S.106. 17 S. Carlton C.J.H. Hayes: "Der Totalitarismus als etwas Neues in der Geschichte der westlichen Kultur" (1940), in: Seidel, B./S. Jenbier (Hrsg.): Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1974, S.86-100, bes. S.90 u. S.97, Thomas Woody: "Prinzipien totalitärer Erziehung" (1940), ebda., S.100122, bes. S.107f., Gerhard Leibholz: "Das Phänomen des totalen Staates" (1946), ebda., S.123-132, bes. S.126, MartinDrath: "Totalitarismus in der Volksdemokratie" (1958), ebda., S.310-358, bes. S.338-341 u.v.a. Carl Joachim Friedrich: Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957, bes. Kapitel 8 "Die Jugend und die Zukunft der Diktatur", S.75-81 u. Kapitel 12 "Erziehung als Propaganda", S.112-122.
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Als Hauptaufgabe der Jugendorganisationen im totalitären System gilt die politisch-ideologische Erziehung der jungen Generation.18 Der Totalitarismus ist demzufolge erst dann an seinem Ziel angelangt, wenn über die Etablierung eines politischen und sozialen Systems hinaus auch die Menschen die ihm zugrundeliegenden Ideologien und Normen verinnerlicht haben. Der Indoktrination und "einheitlichen geistigen Formung" 19 der jungen Generation, der Heranbildung eines "neuen Menschen" kommt eine existentielle Bedeutung für die Zukunft des totalitären Systems zu. Entscheidend ist daher die Sozialisationsfunktion ("welche Bedeutung hatte die FDJ als komplementäre Sozialisationsinstanz zum staatlichen Bildungssystem bei der Erziehung 'sozialistischer Persönlichkeiten'?"). Weiterhin beinhaltet der Katalog die Kontrollfunktion ("welchen Beitrag leistete die FDJ als Hilfsorgan des Repressionsapparates zur Überwachung ihrer Zielgruppe?") und die Partizipationsfunktion ("welche Möglichkeiten hatte die FDJ, über die Besetzung personeller Positionen an der Formulierung politischer Ziele mitzuwirken und diese umzusetzen?"). Aus der Nutzung der Jugendorganisation "als Exerzierplatz und Rekrutenschule für die Partei" 20 ergibt sich die Rekrutierungsfunktion ("welche Rolle spielte der Jugendverband bei der Auswahl und Ausbildung einer Elite für Partei, Staat und Gesellschaft sowie bei der Gewinnung neuer Mitglieder für die SED?"). Da - wie Friedrich zeigt21 - die monopolistischen Jugendverbände auch als Mobilisierungsagenturen zur Realisierung ökonomischer Aufgaben dienen, soll schließlich die wirtschaftliche Mobilisierungsfunktion untersucht werden ("welchen Beitrag leisteten die ökonomischen Aktivitäten der FDJ für die Stabilisierung des politischen Systems?").
B. Die Sozialisationsfunktion Laut Programm der SED bestand "die wichtigste Aufgabe des sozialistischen Jugendverbandes darin, klassenbewußte Kämpfer für den gesellschaftlichen Fortschritt heranzubilden und dafür zu wirken, daß alle Jugendlichen die Möglichkeiten nutzen, Arbeit, Studium und Freizeit, ihr gesamtes Leben sinnvoll zu gestalten, daß sie zu aktiven Erbauern und standhaften Verteidigern des Sozialismus und Kommunismus werden". 22 11
Vgl. Friedrich
1957., S.81.
19
Auweiler, O. : "Totalitäre Erziehung? Eine vergleichende Untersuchung zum Problem des Totalitarismus" (1964), in: SeideUJenkner 1974, S.513-531, S.527. 10
Friedrich
21
Ebda., S.80.
22
Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, "1989, S.60.
1957, S.81.
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Die gleichen Zielsetzungen finden sich im Bildungs- und im Jugendgesetz sowie in den Statuten des Jugendverbandes. Die Hauptaufgabe der FDJ bestand deshalb darin, "klassenbewußte sozialistische Persönlichkeiten im Sinne des MarxismusLeninismus" auszubilden. Eine solche "sozialistische Persönlichkeit", sollte als "allseitig entwickelte Persönlichkeit, die über umfassende politische, fachliche und allgemeinwissenschaftliche Kenntnisse verfügt, einen festen, von der marxistischleninistischen Weltanschauung geprägten Klassenstandpunkt besitzt, sich durch hohe geistige, physische und moralische Qualitäten auszeichnet, vom kollektiven Denken und Handeln durchdrungen ist... aktiv, bewußt und schöpferisch den Sozialismus mitgestalte(n)". 23
Während bei älteren Generationen das Überbleiben bürgerlicher Verhaltensweisen noch erklärbar war, sollten die im Sozialismus Geborenen zu "neuen Menschen" werden. Da man davon ausging, daß sich das politische Weltbild eines Menschen in entscheidender Weise im Kindes- und Jugendalter entwickelt und somit noch stark beeinflussen läßt24, hatte die FDJ durch Aktivitäten in allen gesellschaftlichen Bereichen nach Möglichkeit sämtliche Jugendlichen anzusprechen und in das politisch-gesellschaftliche System zu integrieren. Die Absicht, Kinder und Jugendliche zu "sozialistischen Persönlichkeiten" zu formen, kam, obgleich Ziel sämtlicher Aktivitäten der FDJ, nirgends so deutlich zum Ausdruck wie im Bildungsbereich. Der Jugendverband und die Bildungseinrichtungen waren institutionell und personell eng miteinander verflochten, die jeweüigen Konzepte und Programme aufeinander abgestimmt, die Verbandsaktivitäten ähnlich verpflichtend wie der Lehrplan. 25 Mißt man den Erfolg der Sozialisationsfunktion der FDJ bei Schülern, Studierenden und Auszubildenden an deren hohem Organisationsgrad, so könnte man davon ausgehen, daß eine entsprechende Leistung erbracht worden wäre. Immerhin waren zwischen 1946 und 1985 durchschnittlich 50% der 14- bis unter 26jährigen Mitglieder des Jugendverbandes, wobei mit nur 12,6% im Jahr der Verbandsgründung der niedrigste, im letzten exakt überprüfbaren Jahr 1985 mit 60,8% der höchste Anteil ausgewiesen wurde. 26 Allerdings hätte dies freiwilligen Beitritt zur Voraussetzung. Tatsächlich aber lassen bereits die pädagogischen Bewertungen der Verbandszugehörigkeit als einer 23 Wörterbuch zur sozialistischen Jugendpolitik, Berlin (Ost) 1976, S.249. Vgl. §§ 1-7 d. Jugendgesetzes v. 1974. 24
S. z.B. Parson 1976, S.21-28.
25 Vgl. Freiburg, Α.: "Schüler, Ordnung und Disziplin", in: Hille, B./W. Jaide (Hrsg.): DDR-Jugend. Politisches Bewußtsein und Lebensalltag, Opladen 1990, S.276-322, S.299. 24 S. Schulze, E.\ "Jugend in der DDR - ausgewählte Zahlen und Fakten", in: Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung, Jahresbericht 1993, S.171-223, S.218.
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"Grundbedingung (der) sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung" und einem "objektiv notwendige(n) und wesentliche(n) bewußtseinsbildende(n) Faktor im Jugendalter" den tatsächlich bestehenden Druck erkennen.27 Wie eine repräsentative Umfrage des Instituts für zeitgeschichtliche Jugendforschung, in der Mehrfachnennungen möglich waren, ergab, war nur eine Minderheit der Jugendlichen aus echter Überzeugung in der FDJ. So waren - 76,0 % der Mitglieder im Verband, "weil das für die schulische und berufliche Entwicklung notwendig war", - 62,5 % "weil fast alle Mitglied waren", - 59,9 % weil sie "keinen Ärger wollte(n)", - 44,9 % weil sie "gerne unter Gleichaltrigen" waren, - 30,4 % "weil hier eine interessante Freizeitgestaltung möglich war", - 29,5 % "weil die FDJ (ihre) Interessen vertrat und 20,6 % "weil interessante politische Diskussionen möglich waren." 28 In der gleichen Umfrage gaben nur 2,6% der Befragten an, daß sie "sehr gern" im Jugendverband waren, 16,6% "mit gewissen Einschränkungen" und ein Drittel "teils, teils". 23,3% äußerten sich ablehnend.29 Gebeten, den Satz "Die alte FDJ war für mich..." zu vervollständigen, assozüerten 81,4% der befragten Jugendlichen negative und lediglich 18,6% positive Aussagen. Negative Satzergänzungen wie "eine Zwangsorganisation, "ein notwendiges Übel", "langweilig, uninteressant, überflüssig, sinnlos", verbanden stärker ältere und berufstätige Jugendliche mit dem Jugendverband. Schüler und Studierende hatten dagegen eher positive oder ambivalente Beurteilungen wie "nicht schlecht", "war normal", "alle sind in der FDJ gewesen", "man war mit anderen zusammen".30 Daß die überwiegend negative Beurteilung des Jugendverbandes kein Nach-Wende-Phänomen ist, bestätigen weitere Untersuchungen. Der Anteil der Jugendlichen, die sich mit den politischen Zielen der FDJ identifizierten, nahm seit den ersten erfaßten Umfragen Mitte der siebziger Jahre stark ab.31 27 Quitt, W. : "Funktion der Freien Deutschen Jugend bei der Verwirklichung der sozialistischen Jugendpolitik", in: Friedrich, W. u.a. : Jugend - FDJ - Gesellschaft Beiträge zur sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung junger Arbeiter und Studenten in der DDR, Berlin (Ost) 1975, S.64-82, S.74 u. S.75. 21 S. Zilch, D.\ "Die FDJ - Mitgliederzahlen und Strukturen", in: Jugend werk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend '92, Bd.3, Opladen 1992, S.61-80, S.63. 29 12,6% machten keine Angabe. Ebda., S.64. u. "Rückblick auf FDJ und Junge Pioniere", in: Jugendwerk der Deutschen Shell 1992, S. 111-114, S.112.
®Ebda., S . l l l f . 31
S. Förster, Ρ JG. Roski: DDR zwischen Wende und Wahl. Meinungsforscher analysieren den Umbruch, Berlin 1990, S.43f.
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Die umfassende Organisierung der Jugendlichen ist demnach kein Indikator für einen Sozialisationserfolg der FDJ. Zweckmäßiger ist es, deshalb zu untersuchen, welchen Erfolg hinsichtlich der Übernahme zentraler ideologischer Werthaltungen die Erziehung zur "sozialistischen Persönlichkeit" hatte. Für die Beantwortung dieser Frage sind insbesondere die Erkenntnisse über die Entwicklung weltanschaulicher Grundpositionen Jugendlicher in der DDR, ihre Identifikation mit dem Marxismus-Leninismus, ihre Beurteilung der historischen Perspektive des Sozialismus sowie ihre Identifikation mit der SED und der DDR aufschlußreich. Langzeitstudien des Zentralinstituts für Jugendforschung ergeben folgendes Bild: In bezug auf weltanschauliche Grundpositionen bezeichnete sich die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen in Einklang mit der marxistisch-leninistischen Ideologie als "atheistisch", mit steigender Tendenz bei den Studierenden, stagnierend bei den Lehrlingen. 32 Allerdings stieg der Anteil derjenigen, die sich als "religiös" bezeichneten, bei letzteren seit Mitte der achtziger Jahre an. Die Identifikation mit dem Marxismus-Leninismus fand immer weniger statt. So nahm der Anteil der Lehrlinge, die sich "stark" mit dem Marxismus-Leninismus identifizierten, seit 1975 ab, während der Prozentsatz derjenigen, die sich "kaum" oder "nicht" zur herrschenden Ideologie bekannten, ständig zunahm. Ähnliche Tendenzen weist die Entwicklung unter den Studierenden auf, allerdings auf einem im Sinne der Machthabenden sehr viel günstigeren Niveau. Der Meinung, daß sich der Sozialismus in der ganzen Welt durchsetzen werde, waren sowohl immer weniger Lehrlinge als auch Studierende. Ähnliche Entwicklungen sind auch bei der Identifikation mit der SED und der DDR zu verzeichnen. Mit der Einheitspartei "stark" identifizieren konnte sich im untersuchten Zeitraum stets nur eine Minderheit. Gleichzeitig nahm der Prozentsatz derjenigen zu, die sich "kaum" oder "nicht" zur Partei bekannten. Mit dem ostdeutschen Staat schließlich identifizierten sich "sehr stark" oder "stark" im Oktober 1988 nur noch 18% der Lehrlinge und 19% der jungen Arbeiter, im Februar 1989 noch 34% der Studierenden.33 Weitere Untersuchungen belegen, daß selbst die staatslegitimierende Erziehung zum Antifaschismus Gegeneffekte zeitigte.34 Als Ergebnis kann festgehalten werden, daß das Sozialisationsziel der "sozialistischen Persönlichkeit" bei keiner der untersuchten soziostrukturellen Gruppen erreicht wurde. Die tatsächliche Sozialisation war dabei weitaus heterogener als intendiert.
32
Leider nennt die Studie keine entsprechenden Daten für die Schüler.
33
S. Friedrich, W.: "Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR", in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) Β 16-17/90, S.25-37, Förster/Roski 1990, S.38-49. 34 S. z.B. Pfahl-Traughber, 4/1993, S.l 1-22, bes.S.13-17.
Α.: "Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern", in: APuZ Β 3-
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C. Die Sozialisationsfunktion der FDJ im Freizeitbereich Wie Martin Drath betont, beschränkt sich die Sozialisation im totalitären Staat nicht auf das staatliche Bildungswesen, sondern dehnt sich auch auf die Sphäre des Privaten aus.35 Der in den FDJ-Statuten verankerte Pflichtenkatalog verlangte vom einzelnen Mitglied, "seine Freizeit sinnvoll zu gestalten, sich kulturell und künstlerisch zu betätigen, seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten auszubilden und seine Gesundheit durch Körperkultur, Sport, Touristik und Wehrertüchtigung zu stärken" 36.
Mit entsprechenden Angeboten sollten auch nichtorganisierte Jugendliche angesprochen werden. Dabei besaß die Organisation eines breiten und zum Teil durchaus attraktiven Spektrums von Freizeitgestaltungsmöglichkeiten eine unmittelbare politische Dimension. "Freizeit" wurde nicht als Sphäre des Privaten verstanden, über dessen Gestaltung der einzelne weitgehend autonom entscheiden konnte, sondern als "Bereich, in dem gesellschaftliche und individuelle Bedürfnisse und Interessen realisiert werden". 37 Da dies Konsequenzen für die Stabilität des politischen Systems hatte, wurde die Entwicklung des Freizeitverhaltens "nicht dem Selbstlauf überlassen, sondern zum Gegenstand gesellschaftswissenschaftlicher Planung und politischer Kontrolle gemacht".38 Daß jedoch die Planbarkeit des Freizeitverhaltens auf Grenzen stieß, mußte auch die Forschung einräumen. 39 Dennoch verzichtete man nicht auf den Anspruch, "die grundlegenden ideologischen Orientierungen" sowie "die materiellen, organisatorischen und sonstigen Voraussetzungen dafür" vorzugeben und verankerte dies auch im Jugendgesetz von 1974.40 Damit waren die Aufgaben der FDJ festgelegt. Orientiert an den traditionellen Schwerpunkten jugendspezifischer Freizeitgestaltung konzentriert sich die Untersuchung im folgenden beispielhaft auf die Bereiche der Kultur und der Touristik.
D. Die Funktion der FDJ im Bereich der Kultur Zur umfassenden Ausbildung der "sozialistischen Persönlichkeit" zählte im Rekurs auf Marx und Lenin auch ihre kulturelle Vervollkommnung. Den geeigneten Rahmen dafür hatte die Kulturpolitik zu schaffen, auch wenn deren Vorgaben sich 35
S. Drath 1974, S.340f.
36
Statut der FDJ, a.a.O., S.346.
17
Vgl. Voß, P. u.a.: Die Freizeit der Jugend, Berlin (Ost) 1981, S.53.
31
Ebda., 1981, S.31.
39
Ebda., S.27.
40
Ebda., S.53. Vgl. Jugendgesetz der DDR 1974, Kap. V.
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zeitlich, regional und institutionell sehr unterschiedlich präsentierten. Ein DDRspezifisches, "sozialistisch-realistisches" kulturelles Angebot sollte die Identifikation der Bürger mit ihrem Staat stärken, die "Kulturnation DDR" von der Bundesrepublik abgrenzen und eine "sozialistische deutsche Nationalkultur" gegen die in den Worten des damaligen Irrsten Sekretärs der FDJ Egon Krenz "leutselige Beschwörungsformel von der 'einheitlichen deutschen Kulturnation"' setzen.41 Da sich die SEDFührung von der identitätsstiftenden Wirkung kultureller Werte speziell unter den Jugendlichen Erfolge erhoffte, überließ man die gewünschte Entwicklung nach Möglichkeit weder Initiativen der Kulturschaffenden noch den Kulturverwaltungen. Mit der Umsetzung der Vorgaben wurden insbesondere die Massenorganisationen beauftragt. Aus diesem Grund war auch die FDJ Initiatorin und institutionelle Trägerin zahlreicher Interessengemeinschaften und Veranstaltungen, mit denen sowohl den Bedürfnissen der Jugendlichen nach kreativer künstlerischer Betätigung als auch nach konsumtiven Kulturgenuß entsprochen und beides sukzessive in die politisch gewünschten Bahnen gelenkt werden sollte. Exemplarisch nachvollziehen lassen sich diese Versuche, das Kulturleben zentralstaatlich zu monopolisieren und ihr Scheitern im musikalischen Bereich, der traditionell die dominante Rolle im Freizeitverhalten Jugendlicher spielt. Das Wohlwollen des Jugendverbandes als wichtigstem institutionellen Träger der Jugendunterhaltung war notwendige Voraussetzung für Musiker, ihrem Hobby oder Beruf nachzugehen, sofern sie ihren Wirkungsradius nicht auf kirchliche oder private Schutzräume beschränken wollten. Daß die Künstler sich jedoch einem beinahe unüberschaubaren Komplex von weiteren Institutionen gegenübersahen, die vor allem in politisch-ideologischer Hinsicht Vorgaben lieferten, trug nicht dazu bei, Kreativität zu fördern und etwa die "sozialistische Rockkultur" attraktiver zu machen. Im Gegenteil provozierten entsprechende Eingriffe in die künstlerische Freiheit neben der Flucht in subkulturelle Nischen geradezu eine verstärkte Hinwendung der Jugendlichen zu westlicher Unterhaltungsmusik. Durch private Kassettenaufzeichnungen von Titeln, die in bundesdeutschen Hörfunkprogrammen gespielt wurden, war die DDR-Jugend "up to date", was die internationalen Musiktrends betraf. 42 Trotz der Furcht vor einem Abgleiten "in westliche Unkultur" veranlaßte dies die SED dazu, der FDJ kostspielige Großveranstaltungen mit international
41 Zit. nach Mohr, H.: "Das gebeutelte Hätschelkind". Literatur und Literaten in der Ära Honecker", in: Glaeßner, G.J. (Hrsg.): Die DDR in der Ära Honecker. Politik - Kultur - Gesellschaft, Opladen 1988, S.609-632, S.623. 42 S. F eiber, H.\ "Erscheinungsformen des Musikgebrauchs DDR-Jugendlicher Ende der achtziger Jahre", in: Hennig/Friedrich 1991, S. 105-113, bes. S . l l l . Die Rolle der Musik als "Vorreiter der Wiedervereinigung" belegt auch die IBM-Jugendstudie '92. S. Institut für Empirische Psychologie (Hrsg.): Die selbstbewußte Jugend. Orientierungen und Perspektiven zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, Köln 1992, S.71.
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populären Musikern wie Bruce Springsteen zu gestatten.43 Um dabei nicht die Kontrolle zu verlieren, lag die Verantwortung für die Programmkonzeptionen und den Kartenverkauf bei der FDJ. Zur Bedingung wurde gemacht, daß sich die Künstler nicht kritisch äußerten. Andernfalls erfolgte - wie 1984 im bekannten Fall der Kölner Gruppe BAP - ein Auftrittsverbot. 44 Die kulturpolitische Arbeit der FDJ litt hauptsächlich an ihrer bedingungslosen Unterordnung unter die politischen Ziele der SED. Indem der Verband junge Künstler einer Bevormundung und Zensur unterwarf und zu wenig auf die tatsächlichen Interessen der Jugendlichen einging, mußte sich eine Kluft zwischen Funktionären und Basis auftun. Wo dagegen FDJ-Funktionäre den Wünschen Jugendlicher entgegenkamen, wurden entsprechende Angebote auch angenommen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der seit 1980 der FDJ unterstellten Jugendklubs. Die je nach Einrichtung unterschiedlich vielfältigen Angebote wurden von über der Hälfte aller Jugendlichen in der DDR genutzt - und dies nicht nur wegen fehlender Alternativen. Bei aller vorhandenen Attraktivität des Angebotes kann jedoch nicht ignoriert werden, daß auch die Jugendklubs institutionell und programmatisch in das Sozialisationskonzept der SED eingebunden waren: "Mit ihren spezifischen Mitteln und Möglichkeiten" hatten die Jugendklubs dazu beizutragen, "die marxistischleninistische Weltanschauung und sozialistische Ideologie in großen Gruppen der Jugend nachhaltig zu fördern und zu entwickeln".45 Die Dominanz der FDJ durfte daher ebensowenig infrage gestellt werden wie die gewünschte politisch-ideologische Orientierung. So war es mancherorts nonkonformen Jugendlichen nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich, am Veranstaltungsprogramm der Jugendklubs zu partizipieren.
E. Die Funktion der FDJ im Bereich des Tourismus Wer als Jugendlicher in der DDR die ohnehin enggesteckten Reisemöglichkeiten nutzen wollte, war weitgehend auf die FDJ angewiesen. Reisen war in den Augen der Staats- und Verbandsführung nicht einfach ein individuelles Freizeitvergnügen, sondern eine politische Tätigkeit: Die Reiseprogramme des Jugendverbandes waren
43 Daß die FDJ in der Durchführung solcher Großveranstaltungen besonders leistungsfähig war, bewies nach ihrem Zusammenbruch eine neugegründete "Video-Sound"-GmbH, der einige hohe Ex-Funktionäre angehörten. 44 Zum deutsch-deutschen Politikum wurde auch der "Fall" Udo Lindenberg. S. Rauhut ; M.·. "Schalmei und Lederjacke. Der Fall' Udo Lindenberg", in: IzJ 1993, S.275-289, S.284 u. Eckert, EJTh. Groß: "Udo und Honi oder: Wo ist die Lederjacke? Die Akte Lindenberg", in: BADISCHE ZEITUNG v. 22-/23.1.1994. 45
Voj31981,S.159.
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deshalb ein "feste(r) Bestandteil der politischen Massenarbeit und der internationalen Tätigkeit der FDJ (...) M . 46 Wenn freilich das Hauptinteresse des einzigen Reisebüros darin zu bestehen hatte, den eigenen Anteil "an der kommunistischen Erziehung der Jugend, der Ausprägung ihres patriotischen und internationalistischen Denkens und Handelns sowie der Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der Jugend und der Ausstrahlungskraft des Jugendverbandes zu vergrößern" 47, wird verständlich, welch große Rolle die Reisefreiheit in den Forderungen gerade der Jugendlichen spielte. Bereits Anfang der achtziger Jahre hatte die Jugendforschung in der DDR darauf hingewiesen, daß Reisen der meistgenannte Freizeitwunsch der Jugendlichen war und das Interesse an touristischen Aktivitäten ständig zunahm.48 Der Wille, Urlaubsziele und -gestaltungsformen künftig selbst bestimmen zu können, wurde zu einem zentralen Anliegen der friedlichen Revolution 1989: "Das Faß üef über, weil es auslaufen wollte...".49 Angesichts der allzulange eingeschränkten Mobilität wurde für zahlreiche Jugendliche die erste Reise nach Öffnung der Grenzen zu einer Reise ohne Rückkehr.
F. Die Kontrollfunktion der FDJ Um bei der Durchführung von FDJ-Veranstaltungen "Ordnung und Sicherheit, Disziplin und Sauberkeit sowie die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen" zu gewährleisten, wurden seit 1959 sogenannte "FDJ-Ordnungsgruppen" gebildet. Als "Helfer der Staats- und Sicherheitsorgane" war ihr Wirken insbesondere "darauf gerichtet, politisch wachsam ideologische Diversion sowie alle anderen Machenschaften des Gegners zu erkennen und (...) offensiv dagegen aufzutreten". 50 Allerdings kritisierte eine an der Juristischen Hochschule des MfS eingereichte Qualifikationsarbeit das fehlende Engagement der FDJ-Leitungen.51 Da die Erfolge der FDJ-Sicherheitsorgane hinter den Erwartungen der SED zurückblieben, unternahm die Parteiführung im Februar 1988 einen neuen Versuch, den Repressionsapparat zu stärken. Nach einem Beschluß des Politbüros wurde durch die Schaffung von 46
JA lzJ, K30/53/88, Jahresplan 1989 des Reisebüros der FDJ 'Jugendtourist', S.l.
47
Ebda.
48 S. Voß 1981, S.17, Schmidt, H.\"Jugend und Tourismus", in: Hennig, W./W. Jugend in der DDR, Weinheim/München 1991, S.121-123. 49
Friedrich
(Hrsg.):
Ebda., S.l22.
50 "Die Aufgaben der Leitungen der FDJ für die Bildung, die Führung und den Einsatz von 'Ordnungsgruppen der FDJ"' (Beschluß des Zentralrats v. 15.3.1988, Ja lzJ, Κ 6/16/88), S.3. 51 S. Schirmer, U. : Erfahrungen und Anforderungen an das politisch-operaüve Zusammenwirken der Kreisdienststellen des MfS mit gesellschaftlichen Organisationen, insbesondere der Kreisleitung der FDJ, zur offensiven Abwehr des feindlichen Mißbrauchs gesellschaftswidriger Verhaltensweisen Jugendlicher" (BStU-MfS-ZA-JHS 770/85), B1.16.
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205
"Sonderformationen" eine noch intensivere Kooperation von Ordnungsgruppen und Sicherheitsapparat angestrebt.52 Bei der Bekämpfung der "Gefahren politischer Diversion" arbeiteten die Verantwortlichen der FDJ eng mit dem Ministerium für Staatssicherheit und der Volkspolizei zusammen. Innerhalb der hauptamtlichen FDJ-Leitungen sorgten Mitarbeiter des MfS für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung. 53 Verflechtungen zwischen FDJ und Stasi existierten außerdem durch FDJ-Grundorganisationen, die im MfS "ihrer Funktion als Helfer und Kampfreserve der Partei ehrenvoll gerecht" wurden, wie Armeegeneral Mielke zufrieden feststellte. 54 Auch der Leiter der Berliner Bezirksverwaltung des MfS bestätigte: "Es gibt in der Tat kaum eine Aufgabe unseres Ministeriums, an deren Lösung unsere FDJler nicht aktiv und erfolgreich teilnehmen".55 Bereits 1987 äußerten allerdings auch einige FDJ-Mitglieder im MfS Kritik an den ihnen zugewiesenen Aufgaben, indem sie Sicherungseinsätze ablehnten und aus dem Jugendverband austraten.56 Mit der Gruppe "Brotvögel" bildete sich im Sommer 1989 offensichtlich sogar innerhalb der Hochschule des MfS eine ca. 40 Personen starke Gruppierung, die "Denk- und Verhaltensweisen (entwickelte), die mit der Zugehörigkeit zur Partei und zum MfS nicht vereinbar" waren. 57 Die in den "Ordnungsgruppen" und "Sonderformationen" am leichtesten identifizierbare Kooperation zwischen der FDJ und der Staatssicherheit darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Einbindung des Jugendverbandes in das staatliche Überwachungssystem in der Regel sehr viel subtiler erfolgte. Für die Betroffenen war dies unter Umständen mit umso leidvolleren Konsequenzen verbunden. Die in den Archiven gefundenen Berichte zeigen jedenfalls, "daß die perfidesten Denunziationen nicht vom MfS kamen, sondern über die SED und die FDJ. Während das Mß gehalten war, seine Informationen für sich zu behalten, neigten die Parteifunktionäre und die sogenannten staatlichen Leiter dazu, sie öffentlich breitzutreten. Es wäre ein falscher Eindruck, zu glauben, es hätte in der 52 S. Schell, MJW. Kaiinka: Stasi und kein Ende. Die Personen und Fakten, Bonn/Frankfurt a.M./Berlin 1991,S.122. 33
S. Schirmer 1988 (BStU-MfS-ZA-JHS 770/85), B1.14.
54 "Referat auf der Funktionärskonferenz der FDJ im Ministerium für Staatsicherheit" (6.5.1982), S.6 (BStU, ZA-VVS-MfS O008-30/82), Bl. 6. ' 55 Z i t nach Gerhardt, U. : Die Entwicklung der FDJ-Grundorganisation "Albeit Kuntz" der Bezirksverwaltung Berlin im Zeitraum von 1976 bis 1986 (DC. bis XI. Parteitag der SED) - Theoretische Grundlagen und praktische Erfahrungen bei der Entwicklung und Befähigung junger Tschekisten, als Kernstück der Verbandsarbeit im MfS (BStU-ZA-JHS-VVS 21301), B1.52. 56
S. "Zusammenkunft mit den Stellv. Sekretären der Grundorganisationen zur Auswertung der Beratung der Koordinierungskommission der SED-Kreisleitung zur Vorbereitung und Durchführung des Umtausches der Parteidokumente" v. 29.9.1987, (BStU-MfS-ZAIG-8224, Bl.80-84), B1.83f. 57 "Beratung der SED-KL (Gen. Scheffel) mit den 2. Sekretären der PO und stv. Sekretären der GO", Berlin, 6.7.1989 (BStU-MfS-ZA-ZAIG-8224, Bl.85-89), Bl.87/88.
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Michael Walter DDR eine Bipolarität existiert - auf der einen Seite die Staatssicherheit und auf der anderen Seite der Rest der Gesellschaft, der vom MfS bespitzelt, kontrolliert und unterdrückt wurde. Spitzeleien, Denunziationen, Zuträgereien gehörten zum Wesen der sozialistischen Gesellschaft". 58
Festzuhalten ist, daß der FDJ auch im Freizeitbereich eine wesentliche Rolle bei der Lenkung und Kontrolle der Jugend zugedacht war. Der Verband griff damit in einen Bereich ein, der den staatlichen Instanzen direkt kaum zugänglich war, was den Totalitätsanspruch des Systems belegt. Wie eine Untersuchung des Instituts für Jugendforschung 1983 ergab, erfüllte die Mehrzahl der Jugendlichen freilich nicht die an sie gestellte Forderung, ihre Freizeit "sinnvoll zu gestalten". Nur "4 bis 5 Prozent ihrer wöchentlichen Freizeit" - also etwa zwei Stunden - brachten die Jugendlichen für "gesellschaftliche Aktivitäten" auf. Weitaus mehr Raum, nämlich 60 % der Freizeit, nahm dagegen das "Gammeln" ein - was immer damit gemeint sein mochte.59 Wo immer dies möglich war, nutzten die Jugendlichen die ihnen verbleibenden Freiräume. Wenngleich unter normativen Gesichtspunkten heute Erleichterung darüber herrscht, daß mit der SED-Herrschaft auch die Reglementierung der Freizeit beseitigt und die grundsätzliche Basis für eine Ausdifferenzierung des Freizeitangebotes geschaffen wurde, so ist doch nicht zu übersehen, daß mit den Aktivitäten der FDJ auch Angebote verbunden waren, deren Verlust vielerorts bedauert wird.
G. Die Partizipationsfunktion Zu den proklamierten Rechten und Pflichten der Jugend, "an der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung verantwortungsbewußt teilzunehmen"60, zählte ihre umfassende Einbindung in die Tätigkeiten der legislativen Organe aller Ebenen, in denen die FDJ als "Interessenvertreterin der Jugend" fungierte. Obwohl der Anteil jugendlicher Abgeordneter Mitte der achtziger Jahre stark zurückgegangen war, besaßen 1989 noch fast 22.000 FDJ-Mitglieder Mandate in den Volksvertretungen.61 Über die Mitarbeit in parlamentarischen Arbeitsgruppen und Kommissionen war der Jugendverband zumindest formell an der Gesetzgebung und staatlichen Machtausübung beteiligt.
5e
Mitter, A JS. Wolle: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S.398. 59 S. Gafron, G.: "Kampfreserve der Partei. Jugendorganisationen der DDR", in: Gesamtdeutsches Institut 1988, S.70-75, vgl. Lemke, Chr. : Die Ursachen des Umbruchs 1989, Opladen 1991, S.141.
" A r t . 20, Abs. 3, Satz2 d. Verf. 61
S. JUNGE WELT v. 9.10.1989 u. Statistisches Jahrbuch der DDR '89, S.401-411.
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Mit der Auswahl der Kandidaten beauftragte der Zentralrat die Leitungen der Kreise und Bezirke. Bei ihrer Suche nach geeigneten Verbandsmitgliedern hatten diese eine Reihe von Kriterien zu beachten. So sollten sich die Vorgeschlagenen nicht nur durch politische Linientreue und Engagement im Jugendverband auszeichnen, sondern auch bestimmten Quotenregelungen entsprechen. Diese hatten "einen angemessenen Anteil Jugendlicher unter 25 Jahren sowie weiblicher Kandidaten" ebenso zu sichern wie die Repräsentation bestimmter Berufsgruppen. Auch sollten unter den Kandidaten einige Mitglieder der Blockparteien sein. In den Bezirksorganisationen Dresden und Cottbus war darüber hinaus die sorbische Minderheit zu berücksichtigen 62, der keine eigene Jugendarbeit gestattet war. Die für die Volkskammer vorgeschlagenen Kandidaten wurden von der Abteilung Kader im Zentralrat überprüft, von den Zentralratsmitgliedern bestätigt und entsprechende Listen dem Politbüro vorgelegt. Dieses wiederum informierte die Bezirksleitungen über die Kandidaten ihres Verantwortungsbereiches. 63 Analog verlief die Kandidatenrekrutierung für die Wahlen zu den übrigen Volksvertretungen. Da auch die Koordination für die Volkskammerwahlen letzlich durch die Abteilung Jugend im Zentralkomitee der SED erfolgte, konnte die Parteiführung stets sicherstellen, daß nur Kandidaten nominiert wurden, die die Politik der SED unterstützten. So befanden sich unter den Abgeordneten der FDJ nur wenige, die nicht Mitglied der Partei (und somit auf deren Beschlüsse verpflichtet) waren. 64 Vergleicht man die zahlenmäßige Stärke der FDJ-Fraktionen mit den Anteilen der Abgeordneten im Jugendalter, ergibt sich zweierlei: Zum einen weisen die Differenzen zwischen den jeweiligen Fraktionsstärken der FDJ und den Anteilen der Abgeordneten zwischen 18 und 25 Jahren darauf hin, daß der Jugendverband in den Parlamenten keineswegs das Monopol auf die Jugend der DDR besaß, sondern vor allem Abstriche an den FDGB machen mußte. Zum andern zeigen z.B. die Zahlen für die 9. Volkskammer, daß längst nicht alle FDJ-Abgeordneten wirklich Jugendliche waren.65 Am Wahltag waren bereits elf von 37 Abgeordneten über 26 Jahre alt, davon sechs sogar älter als 30 Jahre.66 Da ein Teil der Listenplätze für bewährte Zentralratssekretäre reserviert war, wurde der "Jugend"-Begriff sehr großzügig ® Vgl. Die Aufgaben der Leitungen der FDJ in Vorbereitung und Durchführung der Wahlen zu den Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen am 7. Mai 1989 (JA lzJ, Κ 28/50/88), Zit. S.8. ° S. Protokoll Nr. 13 der Sitzung des Politbüros vom 1.4.1986 (SAPMO-BArch-JIV 2/2A/2871). M S . Brandt, H.-J.: Die Kandidatenaufstellung zu den Volkskammerwahlen in der DDR, Berlin 1983, S. 132-146, Brandt, H.-JJM. Dinges: Kaderpolitik und Kaderarbeit in den "bürgerlichen" Parteien und in den Massenorganisationen in der DDR, Berlin 1984, S.52 u.: Statistische Übersicht über die Zusammensetzung der FDJ-Fraktion der Volkskammer der DDR in der 9. Wahlperiode (JA IzJ, A 11035).
" S. Statistisches Jahrbuch der DDR 1989, S.401ff. 66
S. JA IzJ, A 11035, S.4.
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gefaßt: Mitunter trugen sogar noch Volkskammerabgeordnete der Altersgruppe zwischen 40 und 50 Jahren das Blauhemd der FDJ. 67 Im Normalfall jedoch sorgte eine auch altersbedingte hohe Fluktuationsquote dafür, daß die Abgeordneten den Jugendverband meist nur eine Legislaturperiode vertraten. Wenn die dabei geleistete Arbeit von den Leitungen der FDJ positiv gewertet wurde, konnten ausscheidende Abgeordnete anderen Mandatsträgern vorgeschlagen werden. Ehemalige FDJ-Abgeordnete wechselten deshalb bisweilen in andere Fraktionen über. 68 Das diesbezüglich prominenteste Beispiel gab Erich Honecker, der von 1949 bis 1958 der FDJ-Fraktion angehörte und anschließend Mitglied der SED-Fraktion wurde. Daß die Partizipation der FDJ am politischen Prozeß zumindest auf höherer Ebene letztlich rein formal war, zeigt auch der vergleichende Blick auf die Repräsentanz des Jugendverbandes in den tatsächlichen Entscheidungsgremien. Dem Politbüro gehörte kein Vertreter der FDJ mehr an, seit Egon Krenz 1983 Vollmitglied des Politbüros geworden war. Mit Eberhard Aurich als dem Repräsentanten der FDJ im Staatsrat zählte lediglich ein Mitglied des Jugendverbandes zum erweiterten politischen Führungskern. Selbst unter den zuletzt 215 Mitgliedern des Zentralkomitees, das ohnehin nur Akklamationsaufgaben besaß, befanden sich lediglich drei Repräsentanten der FDJ. Diese drei Personen waren im Herbst 1989 die einzigen Vertreter des Jugendverbandes in der gesamten politischen Elite der DDR. 69
H. Die Elitenrekrutierungsfunktion Als "Kampfreserve" und "Kaderreservoir" der SED zählte es von der Verbandsgründung an zu den Grundfunktionen der FDJ, über die ideologische Massenschulung hinaus gezielt an der systematischen Auswahl und Qualifikation einer Führungselite für Partei, Staat und Gesellschaft mitzuwirken. 70 Den Rahmen für die Rekrutierung dieser Eliten bildete das Kader- und Nomenklatursystem der SED, an dessen Strukturen und Inhalten auch das FDJ-Schulungssystem ausgerichtet war. Für den gesamten Prozeß der Kaderauswahl waren das Ernennungs- bzw. Kooptationsverfahren kennzeichnend, mit dessen Hilfe die jeweils übergeordneten Gremien der SED und der FDJ Funktionärskarrieren steuerten sowie die zunehmende 61
Zuletzt traf dies auf E. Aurich, W. Poßner, G. Schulz u. V. Voigt zu.
68
S. z.B. JA IzJ, A 11035, S.4.
® Vgl. Meyer, G. : Die DDR-Machtelite in der Ära Honecker, Tübingen 1991, S.73-78. 70 Vgl. Weber, H.\ "Freie Deutsche Jugend (FDJ)", in: M. Broszat/H. Weber (Hrsg.): SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945-1949, München 1990, S.665-690, S.677.
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politisch-ideologische, personelle und institutionelle Verklammerung der Funktionsträger des Jugendverbandes mit der SED. Letztere garantierte die ständige Kontrolle der Partei auf die Kaderpolitik und Kaderarbeit der FDJ. Die idealtypische Verbandskarriere begann mit einer ehrenamtlichen Funktionärstätigkeit in einer Grundorganisation, setzte sich fort - begleitet von diversen Kaderschulungsprogrammen - über hauptamtliche Tätigkeiten in Kreis- und Bezirksleitungen und konnte bis zum Aufstieg in den Zentralrat der FDJ bzw. in dessen Büro oder Sekretariat führen. Die Sekretariatsebene erreichten von 1946 bis 1989/90 insgesamt 121 Kader, angesichts des großen Zeitraumes und der ansonsten hohen Fluktuation der FDJ-Funktionäre also nur relativ wenige Mitglieder des Jugendverbandes.71 Wer als Erster Sekretär schließlich an die Spitze des Jugendverbandes gelangte, bestimmte das Politbüro. 72 Wie die Protokolle von Zentralratssitzungen zeigen, führte der Weg vom Zentralrat häufig in Spitzenpositionen der SED oder anderer Massenorganisationen.73 Der ständige Abfluß von Spitzenkadern stellte die FDJ vor allem in ihrer Gründungsphase vor erhebliche Probleme. Ein interner Bericht des Zentralrates sprach von einer "bedeutende(n) Schwächung", die der "Abgang tausender Freunde zur Polizei, zu den einzelnen Parteien, Organisationen, zur Verwaltung und Wirtschaft, (darunter viele Spitzenfunktionäre) mit sich" brächte. 74 Dieser personelle Aderlaß hatte umso gravierendere Folgen, als sich die Schulungsarbeit der FDJ in ihrer Frühphase als wenig effektiv erwies. Immer wieder finden sich in Berichten von Funktionären aller Verbandsebenen Hinweise darauf, daß die Ausbildungsziele nicht erreicht wurden. Neben organisatorischen Schwierigkeiten kritisierte man die fehlende Verbindung der theoretischen Arbeit zur Praxis, die Auswahl ungeeigneter Lehrkräfte und die Delegierung unqualifizierter Teilnehmer. Die entscheidende Rolle, die die FDJ bzw. bereits die antifaschistischen Jugendausschüsse als Vorläufer des Jugendverbandes für die Rekrutierung der politischen Elite spielte, wird deutlich, wenn man die Karrierebiographien der Spitzenpolitiker von Honecker bis Modrow betrachtet. Ein großer und in seiner personellen Kontinuität erstaunlich stabiler Teil der Führungselite rekrutierte sich aus dem Kreis der
71 Zahl nach Gotschlich, H.\ "Allgemeine Rückschau auf die Entwicklung des Instituts für zeitgeschichtliche Jugendforschung e.V. 1992", in: IzJ 1992, S.7-39, S . l l . 72 S. z.B. Protokoll Nr. 16 der Sitzung des Politbüros vom 23.4.1985 (SAPMO-BArch J IV 2/2A/2750). 73
S. z.B. Stenographisches Protokoll der 11. Tagung des Zentralrats der FDJ am 24.6.1989 in Berlin (JA IZJ, A 11.561), S.153, S.154 u. S.157. 74 Abschlußbericht der Abteilung Personalpolitik vom 15.1.1949. Zit. nach Noack, G.: "Das Führungspersonal der FDJ zwischen 1945 und 1955", in: IzJ 1992, S.91-102, S.94. Vgl. Andert/Herzberg: Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör, Berlin/Weimar 3 1991, S.230.
14 Timmermann
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FDJ-Spitzenfunktionäre der Vor- und Gründungsphase der DDR. 75 Obwohl die FDJ als Elitenrekrutierungsinstanz an Bedeutung verlor, da in den wichtigsten Positionen relativ selten ein Austausch stattfand, zeigt sich an den Beispielen der nach dem Sturz Erich Honeckers neu in das Politbüro aufgenommenen Hans Modrow, Jochen Willerding und Wolfgang Herger sowie an der Ernennung von Egon Krenz zum neuen Generalsekretär, daß die FDJ ihre Funktion als Kaderreservoir über die "Wende" hinaus erfüllte, insofern die Genannten lange als Sekretäre des Jugendverbandes tätig waren. Wie aus den Aussagen der Protagonisten hervorgeht, spielte diese "FDJ-Garde" eine entscheidende Rolle beim Sturz Honeckers. 76 Ehemalige FDJ-Funktionäre der Ären Krenz und Aurich bildeten auch den personellen Rückhalt bei der personellen Erneuerung der SED und teilweise auch bei dem Übergang zur PDS. 77
I. Die Rekrutierung des Mitgliedernachwuchses für die SED Ebenso wie die FDJ als Agentur zur Rekrutierung der politischen und gesellschaftlichen Elite unentbehrlich war, bildete der Jugendverband zugleich das Rekrutierungsfeld für die einfache Mitgliederbasis der SED. Laut Statut betrachtete die FDJ es "als Ehre, ihre besten Mitglieder für die Aufnahme als Kandidaten in die Reihe der SED vorzubereiten". 78 Innerhalb des Jugendverbandes verdoppelte sich der Anteil der Kandidaten und Mitglieder der SED an der Gesamtmitgliederzahl von 1971 bis 1985. Waren 1971 erst 7,9% der FDJ-Mitglieder in der Partei, so waren es 1976 bereits 10,6% und 1985 16,1%. Unter den Mitgliedern im Parteieintrittsalter von 18 Jahren und darüber lagen die entsprechenden Anteile naturgemäß noch höher, nämlich bei 17,1 (1971), 21,9 (1976) und 26,1 (1985)%. Damit war Mitte der achtziger Jahre beinahe jedes sechste Mitglied des Jugendverbandes in der SED und unter den volljährigen FDJlern etwa jeder vierte. Untersuchungen des Zentralinstituts für Jugendforschung zeigen am Beispiel der Lehrlinge, daß die Bereitschaft bei Jugendlichen, Mitglied der Partei zu werden, abnahm. Gaben 1970 noch 15% der Auszubildenden an, "bestimmt" der SED beizutreten, so waren es 1986 nur noch sechs und im 75
S. Noack 1992, S.92 sowie die Tabelle ebda. S.99.
76 S. Schabowski, G.\ Das Politbüro, hrsg. v. F. Sieren u. L Koehne, Reinbek 1990, S.76, S.84 u. S.128, Krenz, E.\Wenn Mauern fallen, Wien 1990, S . l l , S.13, S.23, S.28 u. S.114 u. Gysi, G./Th. Falkner: Sturm aufs Große Haus. Der Untergang der SED, Berlin 1990, S.37. Daß gemeinsame FDJErfahrungen auch informelle Kommunikationswege eröffneten, belegen die Aussagen ehemaliger SEDFunktionäre in: Zimmermann, B./H.D. Schutt: Ohnmacht. DDR-Funktionäre sagen aus, Berlin 1992, z.B. S.71.
" S . Bortfeld, 78
H. : Von der SED zur PDS, Bonn/Berlin 1992, S.l 18-139, Gysi/Falkner
Statut, Abschnitt I, a.a.O., S.344.
1990, S.128.
Die Funktionen der Freien Deutschen Jugend im politischen System der DDR
211
Oktober 1989 nur noch ein Prozent. 79 Diese Zahlen sind besonders aufschlußreich, da man stets versucht hatte, insbesondere unter den jungen Werktätigen neue Mitglieder zu rekrutieren, um dem Selbstverständnis der Arbeiterpartei zu entsprechen. Unter den Funktionären der FDJ stieg der Anteil der Mitglieder und Kandidaten der SED von 12,8% im Jahr 1971 bis 1985 auf 26,7%. Berücksichtigt man wiederum nur die FDJ-Funktionäre im Parteialter, so nahm der Prozentsatz der SEDMitglieder zwischen 1977 und 1985 sogar von 36 auf 46 zu. 80 Daß der Verband in seiner Mitgliederrekrutierungsfunktion zuletzt unter erheblichem Erfolgsdruck stand, zeigten die Werbungsaktionen im Sommer 1989.81 Angesichts des wachsenden Unmuts in der Bevölkerung, der zu diesem Zeitpunkt durch das Bekanntwerden der Fälschungen bei der Kommunalwahl noch verstärkt wurde, bereitete es erhebliche Schwierigkeiten, genügend Kandidaten zu finden. 82
J. Die wirtschaftliche Leistungsfunktion Die Wirtschaftswissenschaft geht davon aus, daß die politisch-gesellschaftliche und die ökonomische Ordnung eines Systems eine gegenseiüge Abhängigkeit aufweisen. Demnach büdeten Zentralverwaltungs- oder Kommandowirtschaften, wie sie etwa Carl Joachim Friedrich als charakteristisch für totalitäre Systeme versteht 83, die notwendige wirtschaftspolitische Grundlage für die politischen Systeme der ehemaligen RGW-Staaten. Über die Festlegung von Prioritäten in der ökonomischen Zielsetzung konnten die Machthaber Einfluß auf soziale Kommunikations-, Modemisierungs- und Individualisierungsprozesse nehmen, letztlich jedoch deren Entwicklung in eine systemgefährdente Richtung nicht verhindern. 84 Die Mobilisierung der Jugend zur Übernahme ökonomischer Aufgaben war von Anfang an eine der wichtigsten Funktionen der FDJ. Alle diesbezüglichen Aktivitäten hatten zum Ziel, in Zusammenarbeit mit staatlichen, betrieblichen und gewerkschaftlichen Gremien für die Umsetzung der jeweiligen wirtschaftlichen Strategien 79
S. Förster/Roski
10
S. Zilch 1992, S.76-78.
1990, S.44.
11 Stenographisches Protokoll der 11. Tagung des Zentralrats der FDJ (JA lzJ, A 11.561), S. 13 u. Maßnahiren des Zentralrates der FDJ zur Unterstützung der Leitungen der FDJ bei der Aufgabe, viele der besten FDJ-Mitglieder als Kandidaten der SED vorzuschlagen (Beschluß des Büros des Zentralrats der FDJ v. 11.7.1989, JA lzJ, Z.3/22/89), S.4. c
S. DER SPIEGEL 21/1989, S.50/51. Vgl. auch Lemke 1991, S.141.
° S. Friedrich
1957, S.173ff.
M S . Gutmann, G. : "Der Einsatz der Volkswirtschaft der DDR für das Erreichen politischer Ziele der DDR", in: DA 26 (1993), S.496-503, S.496.
14*
212
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bei der Jugend zu sorgen und dadurch die ökonomische Entwicklung in der DDR voranzutreiben - beziehungsweise den Rückstand gegenüber dem Westen aufzuholen. Konkret beinhaltete dies die ständige Mobilisierung der Jugendlichen zur mengenmäßigen (Über-) Erfüllung des Plansolls, zur Steigerung von Qualität und Effektivität etc. Ökonomische Verpflichtungen der Jugendlichen erfolgten in der Regel nicht aus freier Entscheidung, sondern auf Druck der FDJ. Deren Kampagnen besaßen einen derart obligatorischen Charakter, daß sich ihnen wenigstens offiziell kaum ein Mitglied verweigern konnte.85 Wenn etwa ein pseudo-sportlicher "Wettbewerb" um beste Produktionsergebnisse inszeniert wurde, war es - wie in den Tagen Adolf Henneckes - das erklärte Ziel, "die Leistungen der Besten zum Maßstab aller zu machen und Bestleistungen in Dauerleistungen umzuwandeln".86 Das Wissen darum, daß entsprechende "Bestleistungen" angesichts einer veralteten Technologie und ständiger Engpässe in der Materialversorgung nicht zu erbringen waren, mußte die Unzufriedenheit der jungen Arbeiter noch verstärken. Da aber die Arbeiterjugend aus ideologischen Gründen als "Kern der Freien Deutschen Jugend"87 betrachtet wurde, waren Erfolge für die FDJ in dieser Mitgliedergruppe besonders notwendig. Zwar leistete die FDJ zweifellos einen beträchtlichen Beitrag zur Erfüllung der Pläne und somit zur Verbesserung der ökonomischen Bilanzen. Da aber gerade auf dem wirtschaftlichen Sektor und hier wiederum insbesondere in den "Brennpunkten", in denen die FDJ als Feuerwehr zu fungieren hatte, die Widersprüche zwischen Propaganda und realer Lebenswelt viel zu offensichüich waren, um die jungen Arbeiter dauerhaft disziplinieren zu können oder gar zu echtem Engagement zu gewinnen, ist der Jugendverband in seiner Sozialisationsfunktion hier am deutlichsten gescheitert: Mitte der achtziger Jahre lehnte fast jeder zweite Lehrling bzw. junge Arbeiter den Marxismus-Leninismus ab. 1988 erwarteten lediglich noch 6 bis 10% einen Siegeszug des Sozialismus.88 Ein Viertel der jungen Werktätigen hielt Ende 1987 sogar eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten für möglich. 89
85 Vgl. Mahrad, Chr. : "Der Jugendverband FDJ und die gesellschaftliche Erziehung in der DDR", in: APuZ Β 27/86, S.21-34, S.31. 86 Braun, H. : "Zum Beitrag der Jungen Welt zur Führung ökonomischer Initiativen der FDJ in den siebziger Jahren. Ein historischer Abriß", in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. 35 (1986), S.124-132, S.132. Vgl. Wießner, R. : "Die Jugend an die Spitze aller Wettbewerbe", in: Zentralrat der FDJ (Hrsg.): Deutschlands Junge Garde, Bd. 2. Erlebnisse aus der Geschichte der Freien Deutschen Jugend vom Jahre 1945 bis zur Gegenwart, Berlin (Ost) 1959, S.150-158. 87
S. Statut, Abschnitt I, a.a.O., S.344.
88
S. Friedrich
89
1990, S.28.
S. Stephan, G.-R: "Die Reflexion des Zustands der DDR-Gesellschaft durch Studien des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre", in: IzJ 1993, S.225-258, S.234.
Die Funktionen der Freien Deutschen Jugend im politischen System der DDR
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K. Fazit Die Aktivitäten des staatlich eingebundenen Subsystems FDJ prägten in hohem Maße den Sozialisationsprozeß der Jugend in der DDR und dadurch das gesamte gesellschaftliche und politische Leben. Dies gilt umsomehr, als im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen oder Massenorganisationen der Eintritt in den Verband de facto weder fakultativ noch von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe abhängig, sondern allein aufgrund des Alters obligatorisch war. Obgleich sich insbesondere in der Aufbauphase des Verbandes zweifelsohne viele Jugendliche mit der FDJ identifizierten, bewährte sie sich letztlich lediglich als Mittel zur Beeinflussung der Verhaltensweisen der Jugendlichen, nicht aber deren Denkens im Sinne der Schaffung "sozialistischer Persönlichkeiten". Mit zunehmend nachlassender Tendenz funktionierte die FDJ als Instrument der Herrschaftssicherung bis zur Implosion 1989, insofern es die Mehrzahl der abhängigen Jugendlichen in den Schulen, Hochschulen und Betrieben aus Furcht vor Repressionen nicht wagte, sich dem Jugendverband und seinen von der SED diktierten Ansprüchen zu verweigern. Während aufstiegsorientierte Jugendliche die Funktion der FDJ als Karrierevehikel durchaus zu nutzen wußten, waren gesellschaftliche Gruppen, die im politischen System der DDR keine Aufstiegsperspektive sahen, für die aktive Mitarbeit im Jugendverband weit weniger zu mobilisieren. Die FDJ scheiterte in ihrem Ziel, die Jugend ideologisch in den SED-Staat einzubinden, u.a. daran, daß es ihr nicht gelang, die Loyalität dieser Gruppen zu gewinnen. Zu ihnen gehörten vor allem die Lehrlinge und die jungen Arbeiter. In den Schulen und Hochschulen dagegen hätte die FDJ mit frühzeitigen Reformen sicherlich eine stärkere Legitimationsbasis aufbauen können. Doch obwohl die FDJ-Führung nicht zuletzt durch die Einbindung des Verbandes in den Kontrollapparat genügend Informationen über die tatsächliche Stimmung in der jungen Bevölkerung besaß, die die Notwendigkeit einer Kurskorrektur entsprechend der realen Interessenlage der Jugend anzeigten, erwies sie sich als unfähig zur selbstkritischen Analyse struktureller Defizite des Herrschaftssystems. Wie ihre Ansprechpartner im ZK unterließ sie es bis zuletzt, Reformmaßnahmen einzuleiten. Die DDR scheiterte demnach auch daran, daß es ihren Herrschenden in vierzig Jahren immer weniger gelang, sich von überholten Dogmen zu lösen und nach überzeugenden Wegen zur Überwindung der Mängel des "real existierenden Sozialismus" zu suchen. Dagegen standen die von der Partei ausgegebenen und vom Jugendverband weiterverbreiteten propagandistischen Phrasen und "Erfolgsmeldungen" - insbesondere im ökonomischen Bereich - zu offensichtlich im Widerspruch zu den täglich erfahrenen Realitäten. Der Ansatz des Einheitsjugendverbandes mochte in einer bestimmten historischen Phase, nämlich der des antifaschistischen Widerstandes, taktisch sinnvoll gewesen sein. Für die langfristige Entwicklung der DDR war er jedoch kontraproduktiv: Das
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beharrliche Festhalten an jugendpolitischen Homogenisierungskonzepten aus den dreißiger Jahren, die organisatorische Alternativen und einen daraus resultierenden Verbandswettbewerb ausschlossen, verhinderte die notwendige politisch-ideologische und organisatorische Anpassung an eine sich in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht gewandelte Gesellschaft. Die kontinuierliche Vorenthaltung elementarer Bürgerrechte wie der Meinungsund der Vereinigungsfreiheit, verbunden mit einer ständigen Repressionsdrohung im beruflichen und privaten Leben, zerstörten die Bereitschaft zu Eigeninitiative und inhaltlichem Engagement. Neue Ideen oder gar Reforminitiativen wurden schon allein durch die hierarchisch strukturierte Verbandsbürokratie im Keim erstickt. Problematisch war der Anspruch, im sozialistischen Jugendverband einerseits die "Masse" der Jugendlichen, andererseits zugleich aber auch eine politische und gesellschaftliche "Avantgarde" zu organisieren. Im Gegensatz zur SED-Treue des FDJ-Führungszirkels führte die autoritär-zentralistische Jugendpolitik bei der großen Mehrheit der Jugendlichen zwangsläufig zu einem Orwellschen "Zwiedenken" aus äußerlichem Opportunismus und innerer Distanzierung, bis hin zum Umschlag in Verweigerung, Flucht- und Widerstandsbereitschaft. Wo noch Idealismus bestand, wurde er mißbraucht, nicht zuletzt auch für ökonomische Zwecke. Als das bedeutsamste Erbe der FDJ dürften die psychologischen Probleme angesehen werden, die sich aus der allumfassenden Reglementierung der Jugendlichen in der DDR und der daraus resultierenden "Erziehung zur Unmündigkeit" (Freya Klier) für ihr gegenwärtiges gesellschaftliches und politisches Verhalten ergeben: Eine deutliche Politikverdrossenheit, die sich nicht nur bei Skinheads, "Faschos" und Hooligans in einer rechtsextremen Radikalisierung und Gewaltbereitschaft entlädt, korreliert bei vielen Jugendlichen mit einer mangelnden Eigeninitiative.
Wer war die FDJ? Untersuchungen zur demographischen, sozialen und politischen Struktur der Mitglieder des Jugendverbandes der DDR - einschließlich seiner Funktionäre
Von Dorle Zilch Die Freie Deutsche Jugend war integraler Bestandteil der DDR-Gesellschaft und damit auch in die Herrschaftsstrukturen eingebunden. Dies wurde und wird in der Literatur auf der Grundlage der allgemein zugänglichen Quellen und zunehmend auch der Auswertung der Archive beschrieben, ohne daß jedoch wesentliche Basisdaten bisher bekannt sind.1 Es herrscht vor allem über die inneren Strukturen der Mitgliedschaft und die inneren Mechanismen des Verbandes weitgehend Unkenntnis. Wenn man aber davon ausgeht, daß Herrschaft nicht eine abstrakte Größe darstellt sondern einen spezifischen Aspekt gesellschaftlicher Organisation, in dem Individuen sowie Gruppen, Klassen, Schichten zueinander in Beziehung treten, dann folgt daraus die Notwendigkeit, eben diese inneren Strukturen der Mitgliedschaft und des Jugendverbandes aufzudecken, um Herrschaftsmechanismen zu verstehen. Es ist also die Frage nach den FDJlern, den Mitgliedern selbst zu stellen! Bleiben sie für die historische Forschung die amorphe "blaue Masse" der bekannten Fahnenaufmärsche, oder existierten innere Strukturen ebenso wie Strukturen der Einbindung des Verbandes in die DDR-Herrschaftsstrukturen? Hierzu werden nachstehend einige Ergebnisse aus dem seit 1990 laufenden Projekt "Millionen unter der blauen Fahne - Zahlen - Fakten - Tendenzen" vor- und damit zugleich zur Diskussion gestellt.2 Aber zunächst eine kurze Charakterisierung der FDJ: Sie war die einzige in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR von 1946 bis 1989 zugelassene Jugendorganisation. Die bei Gründung verkündeten Prinzipien der Unabhängig1 Zum Forschungsstand vgl.: Mählert, Ulrich, Bilanz der zeitgeschichtlichen FDJ-Forschung, in vorliegendem Band. 2 Es handelt sich um erste Ergebnisse meiner kurz vor der Veröffentlichung stehenden Publikation: Millionen unter der blauen Fahne. Oie FDJ: Zahlen - Fakten - Tendenzen, Band 2: Strukturen der FDJMitgliedschaft einschließlich ihrer Funktionäre von 1946 bis 1989. Bereits erschienen: Band 1: Mitgliederbewegung der FDJ von 1946 bis 1989, Rostock 1994. - Alle Daten basieren auf statistischen Berichten der Landes- bzw. Bezirksleitungen und des Zentralrates der FDJ, einigen internen Statistischen Jahrbüchern der FDJ und für die 80er Jahre vor allem auf Vorlagen der Abteilung Verbandsorgane zu Sekretariatssitzungen des Zentralrates, alles aus dem Bestand "FDJ" in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR beim Bundesarchiv (nachstehend: SAPMO-BArch).
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keit und Überparteilichkeit verriet sie sehr schnell und spielte - etwa seit 19483 ihren Part für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands im Reigen der Massenorganisationen. Von der anfänglich wenigstens noch nach außen gewahrten Unabhängigkeit ganz offen zum Instrument der SED gewandelt, fiel der FDJ die Aufgabe der Durchsetzung der Jugendpolitik der führenden Partei zu. Dennoch war die FDJ für viele junge Menschen Anziehungspunkt, für andere notwendiges Übel, um die eigene Biographie in die gewünschte Richtung lenken zu können. Attraktivität einerseits und gesellschaftlicher Druck bzw. die Akkumulation der "Macht der Gewohnheit" andererseits waren in der 44jährigen Geschichte des Jugendverbandes unterschiedlich ausgeprägt und führten zu verschiedenen Graden der organisatorischen Einbindung der Jugend in den Verband. Bis 1949/50 etwa - mit größeren Einbrüchen 1948 - gelang es der FDJ bereits, zum Einmillionenverband zu avancieren und damit rund ein Drittel der jungen Menschen organisatorisch an sich zu binden. In den 50er und 60er Jahren verlief die Entwicklung wellenartig, stagnierte über Jahre, und erst in der zweiten Hälfte der 60er Jahre hatte die Hälfte der DDR-Jugend zum Verband gefunden. In den 70er und 80er Jahren erhöhte sich der Organisierungsgrad - abgesehen von ganz geringen Schwankungen - kontinuierlich und betrug Mitte der 80er Jahre etwa zwei Drittel. Danach stieg er bis zum Ende der DDR nochmals leicht an. 1978, 1979 und 1985 wurden mit über 2,3 Millionen die höchsten Mitgliederzahlen erreicht. 4 - Die FDJ war nach dem Territorial- und Produktionsprinzip aufgebaut, d.h. dort, wo die Haupttätigkeit der Jugendlichen anfiel, sollte das Verbandsleben stattfinden - also in den Schulen, Berufsschulen, in den Betrieben, staatlichen Einrichtungen, in der Armee usw. Der organisatorische Aufbau des Verbandes folgte diesem Prinzip. 5 Das bedeutete, daß die FDJ allgegenwärtig war. Wer waren nun diese Millionen junger Menschen, die das Verbandsleben gestalteten? Welcher Altersgruppe gehörten sie verstärkt an, waren eher die Jungen oder die Mädchen dominant im Verband, welche sozialen Schichten verkörperten sie vorwiegend, und wie waren sie parteipolitisch orientiert?
3 Zur Einschätzung des Verhältnisses von FDJ und SED durch die Parteiführung vgl. Entscheidungen der SED 1948. Aus den stenographischen Niederschriften über die 10. bis 15. Tagung des Parteivorstandes, hrsg. von Friedrich, Thomas und anderen, Berlin 1995. (Lag bei Redaktionsschluß noch nicht vor.) 4 Eine vollständige Zahlenreihe über die Mitgliederbewegung in: Zilch, Dorle, Mitgliederbewegung, Band 1, S. 10f. 5 Vgl. die Statuten der FDJ, in denen ab dem 3. Statut (der " Verfassung der Freien Deutschen Jugend" von 1952) dies auch explizit formuliert wurde. Die Texte abgedruckt bei Freiburg, Arnold/Mahrad, Christa, Freie Deutsche Jugend. Der Sozialistische Jugendverband der DDR, 0.0.(0pladen 1982), S. 280-357 (= Studien zur Sozialwissenschaft, Band 51).
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A. Altersstruktur der FDJler Das offizielle Jugendalter lag in der DDR in der Regel zwischen 14 und 25 Jahren.6 Und wenn es nach Partei- und FDJ-Führung gegangen wäre, hätten sie die Jungen und Mädchen möglichst einen langen Abschnitt ihres Jugendalters im Verband gewußt. Tatsächlich erreichten diese in den 70er Jahren aber durchschnittlich nur knappe vier Jahre FDJ-Mitgliedschaft. Indizien weisen darauf hin, daß diese Zeitdauer in den 80er Jahren noch etwas anstieg. Dennoch muß daraus die Schlußfolgerung gezogen werden, daß sich die jungen Menschen die meiste Zeit ihres Jugendalters dem Verband verweigerten! Am stärksten vertreten in den 70er und 80er Jahren waren die jeweiligen Jahrgänge der 14- bis 19jährigen, am höchsten organisiert die 15jährigen Jugendlichen (zwischen 80 und 93 Prozent - 1970 bis 1988). Das Durchschnittsalter lag im Jugendverband in den 70er und 80er Jahren zwischen 18 und 19einhalb Jahren.7 - Dem stand auf den höheren Ebenen des Verbandes ein dem Jugendalter weitgehend entwachsener Funktionärskörper gegenüber. 48 Prozent aller ersten Sekretäre der Kreisleitungen waren zum Beispiel 1983 31 Jahre und älter 8. Das Durchschnittsalter der Mitglieder und Kandidaten des Zentralrates der FDJ - der höchsten gewählten Vertreter des Jugendverbandes betrug im Juli 1989 gut 29 Jahre9, und im Apparat des Zentralrates der FDJ waren Mitte 1987 über 70 Prozent aller politischen Mitarbeiter 31 Jahre und älter, lediglich acht Prozent vertraten noch das Jugendalter. Im selben Zeitraum waren zwei Drittel der Nomenklaturkader im Verlag "Junge Welt", also dort, wo eine jugendgemäße Publikationstätigkeit erfolgen sollte, älter als 40 10 . Es ist schwer vorstellbar, daß mit dieser Riege lang gedienter Berufsfunktionäre an die Interessen von jungen Menschen, besonders der Jüngsten im Jugendverband, angeknüpft werden konnte.
B. Sozialstruktur der FDJ-Mitgliedschaft Die Frage nach der Altersstruktur korrespondiert stark mit der Frage nach dem Anteil der einzelnen Schichten der jugendlichen Bevölkerung im Verband. Ver6 Vgl. zum Beispiel das (3.) Jugendgesetz: "Junge Bürger im Sinne dieses Gesetzes sind alle Bürger der Deutschen Demokratischen Republik bis zum vollendeten 25. Lebensjahr." (Gesetz über die Teilnahme der Jugend an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und über ihre allseitige Förderung in der Deutschen Demokratischen Republik - Jugendgesetz der DDR - vom 28.1.1974, GBl. I, S. 45, § 57(1). Dazu auch das Stichwort "Jugend" im offiziösen "Wörterbuch zur sozialistischen Jugendpolitik", Berlin 1975, S. 103f. 7
Siehe zum Beispiel: SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), Nr. 8992, 8656, 8656/1, 9470, 11492, 11538.
•Ebenda, Nr. 10194. 9
Ebenda, Nr. 11691.
10
Ebenda, Nr. 11422.
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Dorle Zilch
gleicht man das Gründungsjahr 1946 mit dem Ende der 80er Jahre, so hat sich die FDJ von einer Organisation mit Dominanz der arbeitenden Jugend in Richtung Mehrheit der lernenden Jugend entwickelt. Dies ist zum einen der Veränderung der Struktur innerhalb der gesamten Gesellschaft geschuldet, also insbesondere auf längere Büdungswege zurückzuführen. Zum anderen war es der FDJ-Führung nicht gelungen, die berufstätige Jugend - diese hatte zahlenmäßig das Übergewicht innerhalb der jugendlichen Wohnbevölkerung - eben im gleichen Maße wie die lernende Jugend für den Verband anzusprechen. Solange die jungen Menschen in festgefügten Organisationsstrukturen integriert waren, wie sie in der Schulklasse, im Lehrlings- und Studentenkollektiv - mit ihren autoritären Leitungen - bestanden, waren die Möglichkeiten sowohl für die Gewinnung dieser Jugendlichen für den Verband als auch für die Gestaltung eines aktiven FDJ-Lebens günstig. Auch hielten es diese Jugendlichen aus taktischen Gründen - wie noch beschrieben wird, für ratsam, bis zum Erreichen des Berufsziels der FDJ die Treue zu halten. Sobald dies aber für die eigene Biographie nicht mehr notwendig schien, verabschiedeten sich viele aus dem Verband. Dies schlug für die FDJ in sehr hohen sog. Ummeldeverlusten 11 zu Buche, wenn also Jugendliche den Übergang zum Beispiel von der Lehre oder dem Studium zu ihrem neuen Betrieb dazu nutzten, sich nicht wieder beim Verband anzumelden. Anfang der 80er Jahre verließen über 40 Prozent der FDJler den Verband mittels Standortwechsel innerhalb ihrer Bezirksorganisation, ebenso viele waren es beim Abschied aus den "Bewaffneten Organen" (insbesondere nach dem Armeedienst). Die Dimension der Unterschiede zwischen dem Organisierungsgrad der lernenden und der berufstätigen Jugend verdeutlichen folgende Zahlen: 1988 waren über 99 Prozent aller Schüler, über 91 Prozent aller Studenten und 85 Prozent aller sich in der Berufsausbildung befindenden Jugendlichen Mitglied im Verband, aber nur rund 59 Prozent aller Berufstätigen unter 26 Jahren 12. Dabei konnte die FDJ bei den Schülern der achten Klassen an einen hohen Organisierungsgrad in der Pionierorganisation anknüpfen. 1980 betrug dieser in den siebenten Klassen, dem Jahr vor dem Eintritt in den Jugendverband, 99 Prozent 13. Der fast hundertprozentige Organisierungsgrad der Schüler bestätigt zumindest für die zweite Hälfte der 80er Jahre die in politischen Diskussionen vielfach verwandte Aussage, daß nahezu jeder Jugendliche einmal Mitglied im DDR-Jugendverband war. Dies darf aber nicht als durchgehende Mitgliedschaft im Alter von 14 bis 25 Jahren interpretiert werden, denn es handelte sich zumeist nur um eine relativ kurze Lebensphase von einigen Jahren.
11
Vgl. Zück, Dorle, Mitgliederbewegung, Band 1, S. 84f., Tabelle 55 und Graphik.
12
Vgl. SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), Nr. 11492.
13 SAPMO-BArch, D Y 24 (FDJ), ohne Signatur, Statistisches Handbuch des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend 1980. - Erarbeitet und zusammengestellt von der Abteilung Verbandsorgane des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend - , Bl. 72.
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Es ist leider aufgrund der Quellenlage nahezu unmöglich, den Organisierungsgrad der einzelnen Gruppen der Berufstätigen explizit auszuweisen. Fest steht aber, daß die Arbeiterjugend, der in der FDJ - wie der Arbeiterklasse in der gesamten Gesellschaft - eine Sonderrolle zugemessen wurde 14, ein geringes, wahrscheinlich das geringste Interesse an einer Mitgliedschaft zeigte. Analysiert man die Angaben, die für einige Großbetriebe vorliegen, waren Organisierungsgrade von nur 30 oder gar 20 Prozent keine Seltenheit15. Damit wurden die jungen Arbeiter ihrer postulierten Vorbildrolle und der ihnen zugewiesenen Funktion als Zugpferd für die Jugend nicht gerecht. Die Bildung von Jugendbrigaden sollte unter anderem auch dazu beitragen, den Anteil der FDJler unter der Arbeiterjugend zu erhöhen.16 Tatsächlich betrug der Organisierungsgrad in den Jugendbrigaden in der Industrie und im Bauwesen in den 80er Jahren ca. 90 Prozent 17. Aber auch Arbeiterjugendkongresse, bereits seit 1948 18 , und weitere vielfältige Initiativen und Aktivitäten des Jugendverbandes zielten darauf ab, einerseits den Zuspruch der Arbeiterjugend zu bekommen und andererseits das Bild des jungen Arbeiters in der Gesellschaft aufzuwerten. Die FDJ drang aber auch direkt in Prozesse ein, die zu Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur führten. So unterstützte sie in den 50er Jahren und dann vor allem 1960 die Herausbildung einer neuen Sozialstruktur auf dem Lande durch die Stärkung der Schicht der Genossenschaftsbauern und Arbeiter in der Landwirtschaft mit der Großinitiative: "Der Sozialismus siegt -10 000 unserer Besten gehen in das vollgenossenschaftliche Dorf' 19 . Ebenso förderte die FDJ von Anfang an die Brechung traditioneller Bildungsprivilegien und setzte sich später dafür ein, daß in großer Zahl junge Arbeiterinnen und Arbeiter sowie junge Genossenschaftsbauern 14
Vgl. das Stichwort "Arbeiterjugend" im "Wörterbuch zur sozialistischen Jugendpolitik", S. 17.
15
Vgl. zum Beispiel Angaben zum Organisierungsgrad der Arbeiterjugend (ohne Lehrlinge) in einigen Großbetrieben des Jahres 1977: Im Bezirk Frankfurt/Oder das Bau- und Montagekombinat mit 19 Prozent und das Verkehrs- und Tiefbaukombinat mit 33 Prozent sowie 38 Prozent Organisierungsgrad bei den jungen Arbeitern im Industriebaukombinat Schwerin. Vgl. SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), Nr. 9521/1 und 9470. 16 In der 1979 vom Zentralrat der FDJ und dem Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED veröffentlichten Arbeit "Jugendbrigaden. Grundlagen und Erfahrungen ihrer Leitung" (O.O.) war zum Beispiel ein Abschnitt überschrieben: "Jugendbrigaden als politisch- organisatorische Basis der FDJ in der Arbeiteijugend" (S. 97-102). - Auch: Treffen der Jugendbrigadiere. Zeitz, 9. April 1988. Dokumente, Berlin 1988. 17 1984 = 92,4 Prozent und 1989 = 90,9 Prozent. Vgl. SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), ohne Signatur, Statistische Information über den Monat März 1984, Abteilung Verbandsorgane, Bl. 14, Statistische Informationen - Stichtag: 30.9.89, Abteilung Verbandsorgane, Bl. 16. 11 Der (1.) Jungaktivistenkongreß in Zeitz am 10. und 11.4.1948 - vgl. Geschichte der Freien Deutschen Jugend. Chronik. Berlin o.J. (1976), S. 43. 19 Vgl. Aufruf des Zentralrates der FDJ zum Aufgebot der FDJ "Der Sozialismus siegt - 1 0 000 unserer Besten gehen in das vollgenossenschaftliche Dorf' vom 5.4. 1960, in: Dokumente zur Geschichte der Freien Deutschen Jugend, 4. Bd.: Vom April 1957 bis Januar 1961, Berlin 1963, S. 504 -506.
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und -bäuerinnen, die die entsprechenden Voraussetzungen mitbrachten, für ein Hochschulstudium gewonnen wurden. Zu diesem Zweck wurde eigens ein "FDJStipendium" gestiftet. 20 Auch diese Bemühungen hatten Konsequenzen für die soziale Zusammensetzung der Gesellschaft, insbesondere für die Herausbildung einer neuen Intelligenz. Aussagen zur sozialen Herkunft des Funktionärskörpers der FDJ sind, insbesondere was den Anteil der Arbeiter betrifft, mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Diese liegen vor allem in der DDR-eigenen Praxis, den Anteil der dem herkömmlichen Sinne nach tatsächlichen Arbeiter zu verschleiern, in dem ihnen solche Berufsgruppen wie Angehörige der "Bewaffneten Organe" oder Berufspolitiker, oftmals gern in kommunistischer Tradition als Politarbeiter bezeichnet, zugeordnet wurden. Aussagekräftig dagegen ist die Frage nach dem Anteil derjenigen, die vor Aufnahme ihrer hauptamtlichen Tätigkeit in der FDJ in der materiellen Produktion tätig waren. Ende 1987 waren dies in allen Bezirksorganisationen der FDJ 48 Prozent. Mit nur 41 bzw. 42,5 Prozent lagen die Sekretäre der Bezirksleitungen und die ersten Kreissekretäre relativ stark unter diesem Durchschnitt. 21
C. Geschlechterstruktur der FDJ-Mitgliedschaft Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen veränderte sich im Verlaufe der 44jährigen Geschichte des Jugendverbandes zu Gunsten der weiblichen Mitgliedschaft. Bis dahin wurde jedoch - insbesondere in den 40er und 50er Jahren zäh von Seiten der Verbandsführung auf allen Ebenen um diesen Teil der DDRJugend gerungen - ging es doch darum, eben einen wesentlichen Teil der Jugend (ca. 50 Prozent der jugendlichen Wohnbevölkerung, bis 1953 darüber), der traditionell als unpolitisch galt, in die Herrschaftsstrukturen der FDJ einzubinden. Gemessen am Anteil der weiblichen jugendlichen Wohnbevölkerung waren die Mädchen/jungen Frauen in der FDJ anfänglich deutlich unterrepräsentiert. Diesen Umstand thematisierte Edith Baumann, stellvertretende Vorsitzende des Zentralrates der FDJ und erste Frau Erich Honeckers, bereits Ende 1946. Sie forderte, der "Mädelarbeit" mehr Aufmerksamkeit zu schenken, in dieser Frage beweglicher zu sein und nicht an "starren Formen" festzuhalten. 22 Das blieb kein leeres Gerede, 20 Vgl. den Beschluß Kl8/38/76 des Sekretariats der FDJ v. 30.6. 1976 "Stipendium der FDJ zur Förderung junger Arbeiter und Genossenschaftsbauern im Direktstudium - FDJ-Stipendium", in: SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), Nr. 12053. Das Stipendium wurde bis 1989 verliehen - vgl. SAPMOBArch DY 24 (FDJ), Nr. A A 480, Bl. 86, Protokoll Nr. 166 der Sekretariatssitzung vom 25. 7. 1989. TOP 8: Bestätigung der Vorschläge zur Auszeichnung mit dem "FDJ-Stipendium" für das Studienjahr 1989/90. 21
SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), Nr. 11422.
22 Vgl. Bericht des Zentralrates auf seiner 4. Tagung vom 21. (28.) bis 30.11. 1946, Berichterstatter, Edith Baumann, in: SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ) Nr. 2102, S.5.
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sondern bereits zu dieser Zeit nahm sich die FDJ der neuen Rolle der Mädchen und Frauen in der Gesellschaft an, initiierte zum Beispiel thematisch relevante Diskussionsabende an der Basis23, führte später "Mädchenkonferenzen" 24 durch und in den 60er Jahren auch Untersuchungen in Großbetrieben, um unter anderem den Stand der Durchsetzung der Gleichberechtigung der Mädchen und jungen Frauen im Arbeitsprozeß und die Situation der weiblichen Jugend generell zu ermitteln 25. Das blieb nicht ohne Wirkungen: Die Thematisierung der Mädchenfrage innerhalb der FDJ und darüber hinaus sowie das Bemühen, mädchenspezifische Interessen in der Verbandsarbeit zu berücksichtigen, führten dazu, daß ab 1953, trotz sinkenden Anteils der Mädchen an der jugendlichen Bevölkerung, der weibliche Anteil im Jugendverband stieg und am Ende der DDR sogar proportional über dem der Jungen lag. Das heißt, es gelang, den Grad der Organisiertheit der weiblichen Jugend generell zu erhöhen. Er hatte sich 1988 gegenüber 1953 verdoppelt. War 1953 etwas mehr als ein Drittel aller Mädchen Mitglied des Verbandes, waren es 1988 fast drei von vier (demgegenüber nur zwei von drei Jungen). Hatten bis Mitte der 50er Jahre die Jungen noch einen höheren Organisiertheitsgrad als die Mädchen, kehrte sich das Verhältnis danach um. Trotz des hohen Organisierungsgrades der Mädchen und jungen Frauen insgesamt, gab es von Seiten der FDJ-Leitungen häufig Hinweise, daß junge Frauen, die heirateten und eine Familie gründeten, fortan der FDJ fernblieben. 26 Außer Appellen: "Auch die Mädchen und jungen Frauen zwischen 20 und 25 könnten stärker in der FDJ vertreten sein"27 - sind jedoch aus den 70er und 80er Jahren keine Konzepte zum spezifischen Umgang mit dem weiblichen Teil der Mitgliedschaft bekannt.
23 Vgl. zum Beispiel das Schulungsmaterial für den Diskussionsabend in der Jugendgruppe, Heft 2: Gleichberechtigung der Frauen und Mädchen, hrsg. von der Provinzleitung FDJ Sachsen-Anhalt, Halle (Saale), o.J. (1946?), 11 Seiten. 24 Zum Beispiel am 12./13. Juni 1958 in Schkopau mit über 500 Teilnehmern. Vgl. Geschichte der Freien Deutschen Jugend. Chronik, Berlin'o.J. (1976), S. 144. 25 Vgl. zum Beispiel den Beschluß des Sekretariats des Zentralrates der FDJ vom 9.1. 1969: Konzeption zur Teilnahme der FDJ-Kontrollposten an der Massenkontrolle der A B I über die Verwirklichung der "Anordnung über die Aus- und Weiterbildung der Frauen für technische Berufe und ihre Vorbereitung für den Einsatz in leitenden Tätigkeiten" vom 7.7.1966, Bl. 15-18, in: SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), Nr.
12028. 26 Zu den Gründen für Austritte aus der FDJ in den 70er und 80er Jahren siehe Zilch, Dorle, Mitgliederbewegung, Band 1, S. 87ff. 27 So zum Beispiel Aurich, Eberhard, Diskussionsbeitrag auf der 9. Tagung des Zentralrates der FDJ. Zweiter Beratungstag, 1.7.1988, SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), 11559, S. 148.
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Dennoch ist die Frage zu stellen, warum gerade die Mädchen und jungen Frauen bei sinkender Gesamtzahl der Mitglieder in den 80er Jahren28, einem geringeren Anteil an der jugendlichen Wohnbevölkerung und bei zunehmend krisenhaften Erscheinungen in der Gesellschaft - ihren Anteil innerhalb des Verbandes erhöhten und wesentlich stärker organisiert blieben als die Jungen. Teilweise Aufschluß darüber können Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage unter ostdeutschen Jugendlichen vomFrühjahr 1991 geben29. Sie reflektiert vor allem die FDJ der 80er Jahre: Die von mir gestellte Frage "Warst Du gern Mitglied der FDJ?" beantworteten positiv wesentlich mehr Mädchen als Jungen. Auch bei der Bewertung der Motive für eine Mitgliedschaft im Jugendverband gab es signifikante Unterschiede. An erster Stelle der Motivskala stand bei beiden Gruppen, die Mitgliedschaft als eine notwendige Voraussetzung für die schulische und berufliche Entwicklung zu sehen bei den Mädchen aber war dies in höherem Grade der Fall als bei den Jungen. Entschieden mehr Mädchen als Jungen waren auch im Verband, "weil fast alle Mitglied waren". Deutlich am Ende bei der Bewertung der Motive für eine FDJMitgliedschaft lag bei Jungen und Mädchen die Bewertung der inhaltlichen Arbeit des Jugendverbandes. Dennoch: Jedes dritte Mädchen, aber nur jeder vierte Junge nahm in der FDJ eine interessante Freizeitgestaltung wahr. In dem genannten gleichen Verhältnis (3:4) sahen Jungen und Mädchen in der FDJ ihre Interessenvertretung. - Aus diesem Antwortspektrum wird deutlich, daß bei den Mädchen mehr als bei den Jungen Anpassung an gesellschaftliche Normen, aber auch stärker Miüäufertum und Gewohnheitsdenken - FDJ-Mitgliedschaft gehörte zu einer normalen DDR-Biographie - ausgeprägt waren. Daneben hatte die FDJ in ihrer eigenständigen Funktion, Interessenvertreter der Jugend zu sein, und im Teilbereich der Freizeitgestaltung, größere Ausstrahlung auf den weiblichen als auf den männlichen Teil ihrer Mitglieder. Das schlug sich aber nicht in gleichem Maße auf die Präsenz in den Leitungen des Verbandes nieder. Man kann jedoch einschätzen, daß es den Mädchen und jungen Frauen im Verlaufe der historischen Entwicklung gelungen war, auf allen Ebenen der Hierarchie stärker vertreten zu sein. Anhand ausgewählter Beispiele soll die Situation der 80er Jahre kurz skizziert werden: Überproportional traf man die Mädchen in den Leitungen der unteren Ebene an, also dort, wo das eigentliche FDJLeben stattfand und - von geringen Ausnahmen abgesehen - ehrenamtlich organisiert werden mußte. Dies betraf also besonders die Basisgruppen, wie zum Beispiel eine Schulklasse, eine Studentengruppe oder ein Lehrlingskollektiv, und die Grundorganisationen da- FDJ, was unter anderem Schulen, Betriebe oder Sektionen an den 28
Zur Mitgliederentwicklung in den 80er Jahren siehe Zilch, Dorle, Mitgliederbewegung, Band 1,
S.ll. 29 Zilch, Dorle, FDJ - eine Erinnerung wert?, in: Jugend nach der Vereinigung. Repräsentative Befragung Jugendlicher zwischen 14 und 25 Jahren auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Erster thematischer Überblick, Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung, Berlin 1991, S. 51-60.
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Universitäten waren. Unter den rund 643000 Funktionären dieser Ebene im Jahre 1988 waren rund 335000 weiblich 30 . Diese Tatsache, daß sich besonders Mädchen und junge Frauen in Funktionen direkt an der Basis engagierten, also den Jugendverband aktiv erlebten, kann auch eine wesentliche Ursache dafür sein, daß sie im Nachhinein, wie o.g. Untersuchung zeigte, ihre Mitgliedschaft im Jugendverband positiver beurteilten als die Jungen. Es liegt die Feststellung nahe, daß die FDJ auf der Ebene des einfachen Mitgliedes einer der Bereiche mit tatsächlicher Gleichberechtigung war. Die FDJ bildete demnach auch eine Schule für emanzipatorische Versuche, die für die weitere biographische Entwicklung von Bedeutung sein konnten. Viel ungünstiger stellte sich das quantitative Verhältnis von Männern und Frauen bei da* wesentlich geringeren Anzahl (es handelt sich hier um eine Größenordnung von ca. achteinhalbtausend in der zweiten Hälfte der 80er Jahre) hauptberuflicher Funktionäre auf den höheren Ebenen dar. Im letzten Jahrzehnt der DDR war hier jeder fünfte bis vierte 1. Sekretär der FDJ-Kreisleitungen eine Frau, bei den übrigen Sekretären auf Kreisebene etwa jeder Dritte. In der gesamten Geschichte des Jugendverbandes gab es nur 14 weibliche erste Bezirkssekretäre 31, der Anteil der übrigen weiblichen Sekretäre der Bezirksleitungen lag in den 80er Jahren zwischen 20 und 25 Prozent 32. Die höchste Ebene, auf der zwischen den Parlamenten alles entschieden und inhaltlich-konzeptionell gearbeitet wurde, war das Sekretariat des Zentralrates der FDJ. Niemals stand ihm eine Frau als Vorsitzende vor, und unter den 9 bis 13 Sekretären in den verschiedenen Wahlperioden waren mal eine Frau oder auch mal zwei Frauen.33 Resümierend bedeutet das: Die FDJ wurde gegründet und in der Anfangsperiode im wesentlichen geprägt von Männern. Später fanden die Mädchen und jungen Frauen an der Basis in der FDJ in gewissem Grade eine Schule der Emanzipation. Andererseits widerspiegelte sich auch in der FDJ ein gesamtgesellschaftliches Problem: das patriarchalische Prinzip in den Leitungsstrukturen. Frauen hatten kaum Einfluß auf die FDJ-Arbeit, soweit es sich um zentrale Entscheidungen bis hin zur mittleren Ebene handelte. Zugleich hatten Frauen dadurch weniger Chancen, in höhere Funktionen in Partei, Staat und Gesellschaft zu gelangen, da der Weg hierfür in der Regel über eine hauptamtliche Funktion im Jugendverband führte.
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SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), Nr. 11538.
31 Vgl. die Namensliste in: Herbst, Andreas / Ranke, Winfried / Winkler, Jürgen, So funktionierte die DDR, Band 1, Lexikon der Organisationen und Institutionen, O.O. (Reinbeck bei Hamburg 1994), S. 303f., Stichwort "Freie Deutsche Jugend" (= rororo Handbuch 6350). 32 Ermittelt aus den Protokollen der Sekretariatssitzungen von 1950 bis 1987, auf denen die Zustimmung zu den Kandidatenvorschlägen der Bezirke beschlossen wurde. 33
Vgl. die entsprechenden Wahlergebnisse in den veröffentlichten Parlamentsprotokollen.
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D. Politische Struktur Für die SED war die FDJ von Anfang an auch jene Organisation, aus der sie stets neue Mitglieder schöpfen und Kader für sich und andere wesentliche Funktionen staatlicher und gesellschaftlicher Bereiche gewinnen konnte34. Ebenso versprach ein starker SED-Kern innerhalb des Verbandes, gezielter die Interessen der Partei umsetzen zu können.35 Die Bemühungen um die Parteimitgliedschaft der Jugend waren in der historischen Entwicklung aber von unterschiedlichem Erfolg gekrönt. Waren in den 40er Jahren bereits 10 Prozent der FDJler in der SED, ging dieser Anteil in den 50er und 60er Jahren drastisch zurück. Rechneten am 1. Juli 1950 noch 113295 Genossen auch zum Jugendverband, was einem Anteil von 12,4 Prozent entsprach, zählte man drei Jahre später, am 9.10. 1953, nur noch 59351, die allein 5,6 Prozent der FDJler repräsentierten. 36 Erst ab Mitte der 70er wurde der Stand der 40er Jahre wiedererreicht, und von dieser Zeit an nahm die Zahl der SED-Mitglieder in der FDJ kontinuierlich zu. Dies muß im Zusammenhang mit dem gesamtgesellschaftlichen Klima gesehen werden. Die 70er Jahre waren aus verschiedener Sicht hoffnungsvolle Jahre für die DDRBürger und ihre Jugend: Zum einen begann sich die DDR nach außen zu öffnen. Hunderttausende FDJler trafen im Sommer 1973 anläßlich der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten auf junge Menschen aus 140 Ländern zu vielfältigem Meinungs- und Kulturaustausch; mit dem Reisebüro der FDJ konnten ab Mitte der 70er Jahre erstmals größere Gruppen von FDJlern auch in nichtsozialistische Länder reisen; die DDR wurde völkerrechtlich anerkannt und war Mitunterzeichner der Schlußakte von Helsinki - die Abschlußdokumente wurden der Bevölkerung umfassend zugänglich gemacht. Zum anderen führte eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik zu einem höheren Lebensstandard größerer Teile der Bevölkerung, und ein ganzer Komplex sozialpolitischer Maßnahmen brachte besonders jungen Menschen, jungen Familien und Frauen enorme Erleichterungen. All dies führte bei nicht wenigen von ihnen zu einem hohen Grad an Übereinstimmung mit der Politik der SED und ließ eine Mitgliedschaft für sie sinnvoll erscheinen. Ebenso muß aber auch bedacht werden, daß eine SED-Mitgliedschaft 34 So notierte Wilhelm Pieck für eine Besprechung mit Botschafter Wladimir Semjonowitsch Semjonow am 12.12.1949: "Jugend, FDJ, stärker unterstützen, damit mehr Kader für Partei" (zit. nach: Wilhelm Pieck - Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945 - 1953, hrsg. von Rolf Badstübner und Wilfried Loth, O.O. (Berlin 1994), S. 319, Dok. Nr. 87).
* Von besonderer Bedeutung war der Beschluß des Politbüros der SED vom 16.8.1949 "Schaffung von Parteiorganisationen im Apparat der Partei und Massenorganisationen", in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen des Partei Vorstandes, des Zentralsekretariats und des Politischen Büros, Band II, Berlin 1950, S. 270-272. 36
SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), Nr. 9162, 7964.
Wer war die FDJ?
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bereits in jungen Jahren berufliche Vorteile bringen konnte. - In den 80er Jahren war jeder vierte bis fünfte FDJler im Alter ab 18 Jahren Mitglied der SED.37 Wesentlich größere Schwierigkeiten hatten dagegen die anderen Parteien, in der FDJ Fuß zu fassen. Hatten sie Anfang der 50er Jahre noch jeweils einige Tausend Mitglieder im Jugendverband, schmolzen diese bis Anfang der 60er Jahre auf einige hundert zusammen. 1963 waren in der Christlich-Demokratischen Union (CDU) noch 439, in der liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) noch 292, in der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) noch 785 und in der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) noch 1364 Parteimitglieder im Jugendverband. Ihnen standen zum gleichen Zeitpunkt ca. 95 000 SED-Mitglieder gegenüber 38. Wahrscheinlich wegen der zunehmenden Bedeutungslosigkeit wurde die Mitgliedschaft in diesen Parteien danach von der FDJ-Führung statistisch nicht mehr erfaßt. Ein ähnliches Bild ergibt die Analyse der Entwicklung des hauptamtlichen Funktionärskörpers. In den 60er Jahren wurde der Prozeß zu seiner hundertprozentigen SED-Mitgliedschaft forciert; sie kann für die 70er und 80er Jahre als gegeben angesehen werden39. Auch waren bereits Anfang der 60er Jahre unter den gewählten Mitgliedern (in der Mehrheit ehrenamtlich wirkend) der Kreis- und Bezirksleitungen sowie des Zentralrates - also unter den höchsten Vertretern der FDJ der jeweiligen Ebene - Repräsentanten von Blockparteien kaum noch auszumachen40. 1961 waren es auf Kreisebene insgesamt noch drei und auf Bezirksebene noch 17. Auch hier ist der Trend zur Bedeutungslosigkeit für die folgenden Jahrzehnte erkennbar. Wie sah es nun an der Basis aus? Bei den FDJ-Gruppen, deren Mitglieder 18 Jahre und älter waren, war in den 80er Jahren etwa jeder zweite Gruppensekretär in der SED, bei den übrigen Leitungsmitgliedern der Gruppe ca. jeder Dritte. Zur Ergänzung sei hinzugefügt - und das ist besonders wichtig für die FDJ-Gruppen der lernenden Jugend unter 18 Jahren, also die Schulklassen und Lehrlingskollektive daß die Zirkelleiter im Studienjahr der FDJ in den 80er Jahren zu 90 Prozent Genossen waren. Das FDJ-Studienjahr stellte die Hauptform der politischen Büdung innerhalb des Jugendverbandes dar und war eine Pflichtveranstaltung für jedes Mitglied. Ebenso engagierten sich besonders die Genossen bei sog. Patenschaften der FDJ-Gruppen der lernenden Jugend mit Brigaden aus der Wirtschaft, mit staatlichen Verwaltungskollektiven oder auch zu Einheiten der sog. bewaffneten Organe. 71 SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), ohne Signatur, Statistische Angaben der Freien Deutschen Jugend über das Jahr 1985 und zu den FDJ-Wahlen 1985, Abteilung Verbandsorgane, April 1986, Bl. 3; Statistischer Jahresbericht 1983, Formblatt S5, Bl. 3.
* SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), Nr. 8412. 39
SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), Nr. 10893.
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SAPMO-BArch, DY 24 (FDJ), Nr. 8412, 8414, 8803.
15 Timmermann
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Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß über die FDJ die jungen Menschen frühzeitig an die allgegenwärtige Präsenz der SED gewöhnt wurden. Hier wurden Erfahrungsmuster im Verhältnis von Individuum und Partei vermittelt und geprägt, die für die gesamte Gesellschaft Gültigkeit hatten, die die jungen Menschen auf ihrem gesamten weiteren Lebensweg begleiten würden und die sie als selbstverständlich hinnehmen sollten. Nicht zuletzt hatten die Genossen im Jugendverband die Aufgabe, die ideologische Geschlossenheit unter der Jugend zu wahren, unorthodoxe Gedanken - wie sie vor allem ja auch Jugendliche formulieren - abzuwehren, systemkonform zu paralysieren und etwaige Versuche von Sektierertum oder das Aufkommen von oppositionellen Keimzellen zu unterbinden. Als Fazit ist festzuhalten, daß eine Analyse der Mitgliedschaft der FDJ nach demographischen, sozialen und politischen Kriterien auf der Basis der überlieferten, ehedem als streng geheim behandelten Mitgliederstatistik nicht nur ermöglicht, innere Strukturen der Mitgliedschaft und des Jugendverbandes aufzuzeigen, sondern auch den Grad der Einbindung der DDR-Jugend - in ihrer Gesamtheit, aber auch gegliedert nach einzelnen Gruppen und Schichten - in die Herrschaftsstrukturen der DDR zu bestimmen.
Unter der Hegemonie der SED Kein ganz normaler Parteitag der LDPD im Mai 1953
Von Ulf Sommer
A. Vorbemerkungen 1 Die Ausrichtung der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) auf die Politik der Sowjetischen Militär Administration in Deutschland (SMAD) und zunehmend der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) begann 1945 mit der Abfassung des manipulierten Gründungsaufrufes. Fortan sah sich die LDPD einem Anpassungsprozeß ausgesetzt, der 1950 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, als die Liberalen ihre Zustimmung zur Einheitsliste bei den anstehenden Volkskammerwahlen gaben. Dabei standen funktionale und inhaltliche Veränderungen in ständiger Wechselwirkung mit der Umformung der SED zur 'Partei neuen Typus' (1947/48). Am häufigsten griffen die Besatzungsmacht und die von ihr protegierten Sozialisten durch erzwungene Rücktritte und Verhaftungen in die personellen Strukturen der Liberaldemokraten ein. Schon 1948 wurden Berufungen in öffentliche Ämter nur genehmigt, wenn sich die Betroffenen zur Zusammenarbeit im 'Block' der Parteien und Massenorganisationen bereit erklärten. Als sich die LDPD 1952 zur Hegemonie der SED bekannte und versprach, alle Beschlüsse der Regierung zu befürworten, transformierten die Liberaldemokraten in eine Unterorganisation der SED und besiegelten damit ihre politische Selbstaufgabe. Zu keinem Zeitpunkt mehr widersetzte sich - nach außen hin sichtbar - die Blockpartei den Herrschaftspraktiken in der DDR. Sieben Jahre nach der hoffnungsvollen Gründung und raschen Etablierung wäre deshalb die Auflösung der sich bis 1948 beinahe zu einer Volkspartei entwickelnden LDPD konsequent gewesen - so wie es örtliche Verbände auch häufig forderten. Die SED hielt jedoch an dem Fortbestand des Mehrparteiensystems fest, in dem es ihrer ideologischen Vorstellung nach keine Opposition mehr gab. Die weitere Existenz der Parteien entsprach der Strategie, nach außen ein sozialistisches und demokratisches System vorzuführen, diente tatsächlich aber vor allem der Einbindung von anfangs über 500.000 Mitgliedern in den sozialistischen Staat sowie 1 Der Verfasser hat 1995 eine Dissertation über die Liberaldemokraten in der DDR verfaßt, die demnächst veröffentlicht werden soll.
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derfrühzeitigen Bekämpfung virulenter Konfliktherde. An Entscheidungen, die über das innerparteiliche Leben hinausgingen, blieben die Liberaldemokraten wie die übrigen Blockparteien unbeteiligt und wirkten lediglich dabei mit, die Beschlüsse der SED propagandistisch zu erläutern oder - wie im Falle der Verstaatlichungen hilfreich zu unterstützen. Anders als es die Literatur bis zum Beginn der neunziger Jahre suggeriert, waren die Liberaldemokraten während der fünfziger Jahre keineswegs 'gleichgeschaltet' im Sinne einer personellen oder organisatorischen Assimilierung an die Prämissen der SED bzw. einer monolithisch ausgerichteten LDPD. So entwickelte sich beispielsweise im Gefolge der 2. Parteikonferenz der SED (1952) und dem Beschluß zum 'planmäßigen Aufbau des Sozialismus' innerhalb des engeren LDPD-Vorstandes ein für die Öffentlichkeit nicht sichtbarer Führungskampf, in dem sich auf der einen Seite der Vorsitzende Hans Loch, sein Stellvertreter Johannes Dieckmann und der Fraktionsvorsitzende in der Volkskammer, Ralph Liebler, (anfangs) weigerten, den 'Appell' der LDPD zum Sozialismus zu unterzeichnen. Die Akten geben indes weder einen Hinweis darauf, warum die Kritiker schließlich nachgaben, noch aus welchen Motiven beispielsweise Dieckmann auch in späteren Situationen (so rief der stellvertretende Vorsitzende anläßlich des 'Neuen Kurses' seine Kollegen zu mehr Initiative auf und stellte wesentliche Grundlagen der Regierungspolitik in Abrede) immer wieder zurücksteckte und, wie die übrigen Vorstandsmitglieder, keine Unterschiede zur Hegemonialpartei erkennen ließ. Opportunismus und der Drang, die LDPD als Organisation mit ihren inzwischen abgestorbenen historischen Wurzeln vor der Zwangsauflösung zu bewahren, dürften seine Entscheidung maßgeblich beeinflußt haben. Auf der anderen Seite wollten führende Mitglieder um den späteren Generalsekretär und Vorsitzenden Manfred Gerlach mit einer neuen Politik beginnen, die sich an der zum Stalinismus deformierten Ideologie des Marxismus-Leninismus orientierte. Dabei kristallisierten sich Führungspersonen heraus, die in einer Mischung aus übertriebenem Pflichtbewußtsein und Karrierismus versuchten, die LDPD in eine zentralistische Kaderpartei nach dem Vorbild der SED umzuwandeln und auf diese Weise jeglichen Bezug zu ihren Mitgliedern einbüßten. So erarbeitete der stellvertretende Vorsitzende Gerlach bis zum Januar 1953 ein Programm zur 'Reinigung der Partei von feindlichen Kräften' und verlangte den Ausschluß aller inaktiven Mitglieder. Eine Verwirklichung der Gedanken hätte der LDPD zwar den - auch aus Sicht der SED - nötigen organisatorischen Halt gegeben, doch Gerlach übersah, daß innerhalb von wenigen Wochen nur noch ein kleiner Kreis aus überzeugten SEDAnhängern übriggeblieben wäre. Dementsprechend zeigte sich die SED über das Ansinnen derart schockiert, daß sie die Thesen verwarf und vom LDPD-Vorstand ein behutsameres Vorgehen verlangte.
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Indes hielten die SED und das von ihr instrumentalisierte Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unbeirrt an ihrem bisherigen Kurs fest, nichtangepaßte Liberaldemokraten auszuschalten. Wiederholt mußten vornehmlich in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre Ortsgruppen reihenweise aufgelöst werden, weil ihre Mitglieder zwangsausgeschlossen oder verhaftet wurden. Die SED beschränkte sich jedoch nicht nur auf punktuelle und für jedermann sichtbare Interventionen, sondern installierte bis 1952/53 ein weitverzweigtes Überwachungsnetz, mit dem sie unliebsame Personen ausschaltete und loyale Mitglieder für ihre Ziele einsetzte. So gelangten seit 1948 SED-hörige Kräfte wie z.B. der Vorsitzende Hans Loch und der stellvertretende Vorsitzende Willi-Peter Konzok in Positionen, die sie allein der SED und nicht dem Votum der Mitglieder zu verdanken hatten. Mitarbeiter des 1952 auf der Zentral-, Bezirks- und Kreisebene geschaffenen SED-Sektors 'Befreundete Organisationen' leiteten die liberaldemokratischen Funktionäre an und erteilten ihnen detaillierte Anweisungen in allen programmatischen und personellen Bereichen. Die regelmäßigen Besprechungen zwischen den Funktionären beider Parteien und die zusätzlichen Einsatzfahrten der Instrukteure in ausgewählte Verbände ermöglichten es der SED, hinreichend über den Zustand der LDPD informiert zu sein, um - falls nötig - jederzeit intervenieren zu können. Das engmaschige und verdeckte Verbindungssystem ersetzte aber auch in dem Maße spektakuläre Verhaftungswellen wie es gelang, den Widerspruch prophylaktisch zu unterdrücken. Doch auch die bereits SED-loyale Führung der LDPD zeichnete sich im Aufspüren oppositioneller Kräfte aus. Besonders mit Hilfe der 1952 von der DDRRegierung beschlossenen Verwaltungsreform gelang es dem LDPD-Vorstand mit Hilfe und unter Anleitung der SED, auch in der mittleren Führungsebene linientreue Liberaldemokraten einzusetzen: In den neu eingerichteten Bezirken, die an die Stelle der aufgelösten Länder traten, durften die gewählten Kreis- und Bezirksvorsitzenden nur weiterarbeiten, wenn sie das Vertrauen der Leitung genossen. Als jedoch nur wenig später der populäre Vorsitzende Karl Hamann im Dezember 1952 verhaftet wurde, beschleunigte sich der Zerfall der LDPD, die innerhalb von zwei Jahren bereits ein Drittel ihrer Klientel verloren hatte. Die von der Staatssicherheit koordinierte Aktion stand im Zusammenhang mit den Vorbereitungen von Schauprozessen in der DDR, die nach dem Vorbild der osteuropäischen Staaten verlaufen und die Bevölkerung von potentieller Opposition abhalten sollten. Da Hamann unablässig den Sozialismus befürwortet und sich frühzeitig an die SED angelehnt hatte, konnte sich niemand mehr sicher fühlen, nicht auch festgenommen und ein Opfer der stalinistischen Willkürherrschaft zu werden. Mitten in dieser Phase des politischen Tiefpunktes für die LDPD stand der 5. zentrale Parteitag in Dresden an. Dieser steht für die endgültige Anpassung der Liberaldemokraten an die zentralistischen Strukturen der SED. Keine Tagung der LDPD wurde jemals so intensiv geplant und kontrolliert wie die vom 28. bis 31. Mai
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1953. Die detaillierte Einflußnahme der SED dürfte in der 45jährigen Geschichte der LDPD einmalig gewesen sein. Sie läßt auf ein starkes Mißtrauen gegenüber der politischen Standfestigkeit der LDPD schließen, welches auf der Einschätzung basierte, sich politisch nicht auf deren Vorstand verlassen zu können. Keine Minute des Parteitages sollte dem Selbstlauf überlassen bleiben. Für zusätzliche Verunsicherung in dieser Zeit sorgten die Veränderungen in der Sowjetunion im Frühjahr 1953 und die anschließenden Richtungskämpfe im Politbüro der SED. Der Tod Stalins am 5. März 1953 hatte vorübergehend ein politisches Vakuum entstehen lassen. Niemand wußte zu diesem Zeitpunkt, in welche Richtung die künftige Politik lief.
B. Organisatorische und personelle Vorbereitungen unter der Leitung der SED M i t Hilfe einer eigens für den Parteitag eingesetzten Überprüfungskommission hofften die SED und die LDPD-Spitze, politisch loyale Delegierte für die erste Großveranstaltung nach der Verhaftung des Vorsitzenden Hamann zu finden. Alle Parteibeauftragten auf der Zentral- und Bezirksebene wurden von März 1953 an politisch, fachlich und charakterlich durchleuchtet. Als Kriterien galten neben der Bereitschaft, die Entscheidungen der SED mitzutragen, auch die Befürwortung der deutsch-sowjetischen Freundschaft und die Beteiligung in den gesellschaftlichen Massenorganisationen der DDR. Dennoch blieb der Dresdener Parteitag ein risikoreiches Unternehmen: Die Stimmungsberichte signalisierten, daß die Mehrheit der Mitglieder, aber auch der örtlichen Funktionäre, die jüngsten Entscheidungen der LDPD-Spitze ablehnten. Dazu gehörten in erster Linie der Parteiausschluß des Vorsitzenden Hamann und die Zustimmung zur 'Mitarbeit am Aufbau des Sozialismus' unter der Hegemonie der SED. Wenn die Liberaldemokraten im SED-Staat noch eine Zukunft haben und nicht die Zerschlagung der Partei in Kauf nehmen wollten, dann durften sie zu diesem Zeitpunkt auf keinen Fall das Risiko eingehen, demokratisch gewählte Abordnungen ungeprüft öffentlich auftreten zu lassen. Die Interessen der Beteiligten waren angesichts dieser Ausgangslage klar verteilt: Während viele Mitglieder ihren Unmut über die vergangenen Entwicklungen artikulieren wollten oder zumindest in dem entsprechenden Verdacht standen, verfolgten sowohl die SED als auch die LDPD-Führung die Absicht, jegliche Form des Widerspruchs zu unterdrücken, wobei nur die Motivationen unterschiedlich begründet lagen. Die Sozialisten wollten ihre Machtvollkommenheit demonstrieren und noch weiter ausbauen. Sie zerschlugen deshalb die letzten Reste pluralistisch-demokratischer Strukturen und erließen in den Wochen vor der Dresdener Großveranstaltung entsprechende Anordnungen, die auf die vollkommene Entmachtung der einst
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konkurrierenden Partei hinausliefen. Damit handelten sie (schon längst) in Einklang mit ihren liberaldemokratischen Befehlsempfängern, die nur noch als verlängerter Hebel für den Zugriff auf die Mitgliedschaft dienten. Der Vorstand um Loch, Dieckmann, Konzok und Täschner trachtete einerseits nach den Parteiposten. Andererseits wollten die Repräsentanten aber auch das Überleben der LDPD sichern - dies allerdings um den Preis ihrer Selbstaufgabe. Bis unmittelbar vor Beginn der Versammlung stand nie sicher fest, wann und vor allem in welcher Form die Delegierten zusammenkommen dürften. 2 War in einem Brief des SED-Sektors 'Befreundete Organisationen' an Ulbricht vom 19. Dezember 1952 noch der 16. Februar 1953 als Termin für den Parteitag festgelegt worden 3, so gab Generalsekretär Täschner am 3. Februar die Zeit vom 16. bis zum 19. April bekannt4, und nur eine Woche später bestimmte die SED die Spanne vom 14. bis zum 17. Mai als neue Tagungszeit5. Die Ursache für die "unter den Regeln der Geheimhaltung"6 vollzogenen Verschiebungen lag in den innerparteilichen Problemen begründet: So mußten die gerade abgeschlossenen Bezirksparteitage ausgewertet, d.h. die dort gewählten Vorsitzenden und Sekretäre eingehend auf ihre politische Zuverlässigkeit hin überprüft werden.7
2 Der bis zum 5. Parteitag amtierende stellvertretende Vorsitzende Geriach wies 1991 in einem Gespräch darauf hin, daß der Parteitag im März und April 1953 im Verborgenen, fast in der Illegalität, vobereitet werden mußte. Nach dem Tod Stalins sei es dann wenige Tage vor Beginn des Parteitages zu einer Kehrtwendung seitens der Behörden gekommen, als Plakate und andere Werbung zugelassen wurden. In dieser Phase seien ihm - so Gerlach nach der 'Wende' in der DDR - die ersten Zweifel an der Richtigkeit des sozialistischen Kurses in der DDR gekommen (Gespräch mit Manfred Gerlach v. 02.05.1991 in Ostberlin). Vgl. auch die 'offizielle' Version über die Vorbereitungen: Kurt Wünsche: Organisatorische Vorbereitungen für den 5. Parteitag, in: LDPD-Informationen 9/1953, S. 168-169. Wünsche schreibt von "umfangreichen Verhandlungen mit den verschiedensten Stellen" (ebd., S. 168) und von der "ständigen und planmäßigen Anleitung aller Presseorgane der Partei" (ebd.). 3 Vgl. SAPMO/ZPA (=Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv/Zentrales Parteiarchiv) DY 30/1V 2/15/2, Schreiben des SED-Sektors 'Befreundete Organisationen' an Walter Ulbricht v. 19.12.1952. 4 ADL/LDPD (=Archiv des Deutschen Liberalismus/Bestand Liberal Demokratische Partei Deutschlands), 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 03.02.1953, Bl. 17/2. 3
Vgl. SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/73, Schreiben v. 11.03.1953.
4 ADL/LDPD, 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentral Vorstandes der LDPD v. 19.03.1953, Ausführungen von Generalsekretär Herbert Täschner, Bl. 17/1. 7 Vgl. ADL/LDPD, 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 24.03.1954, Bl. 4/2; ADL/LDPD, 20014, Beschluß 1158/53, Verschiebung des 5. Parteitages. Vgl. auch ADL/LDPD, 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 03.02.1953, Bl. 17/2.
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Zudem stand die oben bereits erwähnte Überprüfungskommission vor großen organisatorischen Schwierigkeiten bei der Kontrolle der in den Kreisverbänden nominierten Delegierten, aber auch des künftigen Zentralvorstandes und des Politischen Ausschusses, deren Mitglieder in Dresden gewählt werden sollten.8 Den endgültigen Termin (28.-31. Mai) teilte die SED dem Führungsgremium der LDPD erst am 5. Mai 1953 mit. 9 Mit dieser 'Hinhaltetaktik' verdeutlichte die SED ihrer 'Schwesterpartei' eindrucksvoll, in welchem Abhängigkeitsverhältnis diese zu ihr stand. Unberechenbarkeit und Undurchschaubarkeit kennzeichneten in dieser Phase die zentralistische Politik der SED, die ihren 'Blockpartner' zu einer handlungsunfähigen Organisation degradiert hatte. Sogar die Losung des Parteitages, "Für Frieden, Einheit, demokratischen und sozialen Fortschritt" 10, legte die SED fest. In einer kleinen Kontroverse mit dem SED-Sektor 'Befreundete Organisationen' wollte der Liberaldemokrat Täschner unbedingt den Begriff 'Sozialismus' in das programmatische Leitwort miteinbringen, wurde dabei aber von der SED-Führung gebremst. 11 Diese hielt eine so offen bekundete Übernahme des sozialistischen Gedankengutes für nicht opportun und hoffte durch die von ihr gewählte sprachliche Formulierung, potentielle Auseinandersetzungen auf dem Parteitag zu entschärfen. Die SED wollte die LDPD nicht innerhalb weniger Monate zu einer sozialistischen Partei umfunktionieren und dies womöglich auch noch in aller Öffentlichkeit bekunden. Die SED-Führung erteilte nicht nur die zeitliche Vorgabe, sondern sie delegierte auch die personell-organisatorischen Vorbereitungen, den Ablauf und die Auswertung des 5. Parteitages. Sie wählte die Referenten aus, zensierte deren Ausführungen und änderte die Satzung nach ihren Vorstellungen. Auch bestimmte sie die Wahl des Vorstandes sowie der Beisitzer, nachdem sie zuvor jedes Mitglied hat politisch charakterisieren lassen. Am 4. Mai 1953 stellte die SED beruhigt fest: "Entsprechende Einflußnahme und Kontrolle der einzelnen Referate durch den Sektor ist gewährleistet. " n
8 Generalsekretär Täschner kritisierte die Bezirksverbände, daß sie nicht termingerecht ihre Vorschläge für den künftigen Zentral vorstand und Hauptausschuß eingereicht hätten. "Durch diese nachlässige Erledigung der Termine ist die 'Überprüfungskommission bei der Parteileitung' in ihrer Arbeit außerordentlich erschwert und kann ihre Aufgabe, wie sie durch den Beschluß 1131/53 festgelegt ist, nicht einmal termingemäß erledigen" (ADL/LDPD, 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 24.03.1953, Bl. 4/7). 9 Vgl. ADL/LDPD, 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentral Vorstandes der LDPD v. 05.05.1953, Ausführungen von Herbert Täschner, Bl. 9/15. 10 SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/65, Schreiben des SED-Sektors 'Befreundete Parteien' v. 04.05.1953, Bl. 1. 11 Vgl. SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/73, Schreiben des SED-Sektors 'Befreundete Organisationen v. 17.02.1953. Der SED-Sektor hielt die Entscheidung über die Losung für den Parteitag für so wichtig, daß er den Generalsekretär Walter Ulbricht und den Kaderchef Karl Schirdewan in die Debatte miteinbezog. 12
Ebd. Bl. 7.
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Zur Vorbereitung des Parteitages gehörte die Neuorganisation der liberaldemokratischen Führungsspitze. Anstelle "eine[s] oder zwei gleichberechtigten [...] Parteivorsitzenden" 13 sah die neue Satzung nur noch einen Partei Vorsitzenden14 vor. Dadurch wurden die Entscheidungsvorgänge noch weiter auf den von den Sozialisten protegierten Hans Loch gebündelt. Der bei den Mitgliedern wenig angesehene und 1951 nur infolge der Doppelwahl mit Hamann in den Vorstand gehievte Loch führte nach der Verhaftung seines Partners (1952) das Amt allein weiter und wurde nun offiziell inthronisiert. Ein alleiniger Vorsitzender - und dazu noch ein SEDhöriger Funktionär - lag im Interesse der SED, da es ihr die direkte Anleitung der Blockpartei erheblich erleichterte. Die SED nahm den Parteitag auch zum Anlaß, den Hauptausschuß - das höchste LDPD-Organ zwischen den Parteitagen - abzuschaffen. Dessen 90 Mitglieder beschlossen bislang die Arbeitsanweisungen für den Zentralvorstand und standen ihm übergeordnet voran. Noch in der Sitzung des Politischen Ausschusses vom 24. März 1953 forderte Generalsekretär Täschner die Bezirksverbände auf, umgehend Vorschläge für die künftige Zusammensetzung dieses Gremiums einzureichen.15 Doch bereits sechs Wochen später ordnete die SED die sofortige Auflösung des "Sammelbecken[s] von reaktionären Kräften" 16 an. Täschner blieb es in der nachfolgenden Sitzung vorbehalten, seine eigene Version zu revidieren und die neue SED-Anweisung gegenüber seinen Vorstandskollegen durchzusetzen.17 Dabei verhehlte er nicht die politische Dimension dieser Direktive: Er meinte, daß "die auf dem letzten Parteitag von den damaligen Landesverbänden unterbreiteten Kandidatenvorschläge nicht sorgfältig geprüft wurden, so daß im Laufe der Zeit fast lß der Mitglieder des Hauptausschusses zum größten Teil aus politischen Gründen ausschied. Der Vorsitzende des Hauptausschusses [Hans Meier] verließ bekanntlich illegal das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik. 1,18
Wie diese Bemerkung schon intendiert, wurde der Hauptausschuß aufgelöst, weil er aus Sicht der SED ein Nährboden für die liberaldemokratische Opposition darstellte und aufgrund seiner heterogenen Zusammensetzung den ungehinderten Einfluß auf die Gesamtpartei versperrte. Angesichts der zahlenmäßigen Größe des 13 ADL/LDPD, 86, Satzungen der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, Fassung gemäß Beschluß des 4. Parteitages [1951], § 9. 14
Vgl. ADL/LDPD, 1250, Satzungen der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands [1953], § 10.
15
ADL/LDPD, 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentral Vorstandes der LDPD v. 24.03.1953, Bl. 4/7. 16 SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/65, Vorlage an das Sekretariat des ZK der SED v. 04.05.53, betr. Vorbereitung 5. Parteitag, Bl. 3. 17
Vgl. ADL/LDPD, 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD, Ausführungen von Herbert Täschner, Bl. 9/35. " Ebd. Hans Meier, Oberbürgermeister von Jena, flüchtete im März 1953 in die Bundesrepublik.
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Gremiums und der Reputation vieler Mitglieder verzichtete die SED auf spektakuläre personelle Zwangsauswechselungen und entschied sich deshalb für die 'kalte Liquidierung'. Die Position des Hauptausschusses übernahm künftig der Zentralvorstand. 19 Dieser entwickelte sich wie das ZK der SED 20 zu einem bloßen Deklamationsforum im Sinne der "Zur-Schau-Stellung geleisteter Arbeit" 21 und des Vortragens politischer Richtlinien, die anschließend in der Presse publiziert wurden 22, sowie zu einem Akklamationsorgan 23, das drei- bis viermal jährlich tagte und alle Entscheidungen der LDPD-Spitze (einstimmig) bestätigte. Auf diese Weise gewannen der Politische Ausschuß als Pendant zum Politbüro der SED und vor allem das Kollegium - der engere Vorstand der Partei - sowie das Sekretariat die politisch-organisatorische Macht in der LDPD. Auch die Zerschlagung der Betriebs- und Hochschulgruppen der LDPD fiel in die Zeit des 5. Parteitages. Mit Hüfe der Betriebs- und Hochschulgruppen hatten sich die Liberaldemokraten seit 1945 politisches Gehör in den Fabriken, Unternehmen und Universitäten verschafft. 24 Die Hintergründe dieser von der SED aufgezwunge19
Vgl. ADL/LDPD, 1250, Satzungen der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands [1953], § 10.
20
Das Zentralkomitee (ZK) wurde 1950 auf dem 3. Parteitag der SED institutionalisiert und ersetzte hinsichtlich seiner Befugnisse den bisherigen Parteivorstand'. Die SED orientierte sich dabei eng an den Strukturen der KPdSU: Bereits auf dem I. Parteikongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) 1898 in Minsk wählten die Delegierten ein Zentralkomitee als Vollzugsorgan des Kongresses, das seit dem ΙΠ. Parteikongreß 1905 in London zum alleinigen Führungsorgan der Partei avancierte. Mit der Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse auf die vom ZK gebildeten Gremien, das Politische Büro, das Organisationsbüro und das Sekretariat, gelang es Lenin und anschließend Stalin zunehmend, das Zentralkomitee zu entmachten - ein Prozeß, der mit der Wahl Stalins zum Generalsekretär einen ersten Höhepunkt erreichte und sich nach dem Tod Lenins (1924) fortsetzte. Spätestens seit 1929 kann das ZK nur noch als Akklamationsorgan bezeichnet werden. Vgl. Helmut Alt: Die Stellung des Zentralkomitees der SED im politischen System der DDR, Köln 1987, S. 40-42. 21
Ebd., S. 102.
22
Ebd.
23 Akklamation soll hier im Sinne des Anerkennens der zuvor getroffenen Entscheidungen verstanden werden. Vgl. Alt (1987), S. 90-92. 24 Während ihrer Blütezeit (1946/47) stellten die Hochschulgruppen in den parlamentarischen Ausschüssen gemeinsam mit der CDU die Mehrheit der Abgeordneten und wurden deshalb von der SED als unmittelbare Bedrohung ihres Machtanspruches empfunden. Seit 1948 erzwang die SED die Zurilckdrängung der bürgerlichen Studentenvertreter durch die Absetzung der gewählten Vertreter, durch die Manipulation der Wahlen und auch durch Verhaftungen. Anders als die LDPD unterlagen die Hochschulgnippen nicht einer schrittweisen Integration in das sozialistische Gesellschaftssystem der SED, sondern widersetzten sich solange den Repressionen, bis sie zwangsweise aufgelöst wurden. Vgl. Hans-Uwe Feige: Aspekte der Hochschulpolitik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (19451948), in: Deutschland Archiv 11/1992, S. 1169-1180; Jürgen Louis: Die LDP-Hochschulgruppe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in: Bürgerliche Parteien in der SBZ/DDR, Zur Geschichte von CDU, LDP(D), D B D und NDPD 1945 bis 1953, hg. v. Jürgen Frölich, Köln 1994, S. 143-174; Liberale Studenten im Widerstand, hg. v. Bundesvorstand des Liberalen Studentenbundes Deutschland (LSD),
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nen Entscheidung lagen in der Verhaftung des Parteivorsitzenden Hamann und in der vorangegangenen Zustimmung der LDPD-Spitze zur Mitarbeit am 'Aufbau des Sozialismus' - zwei wesentliche Politikfelder, die von vielen Betriebsgruppen abgelehnt wurden.25 Schon seit Monaten diffamierte Ulbricht die Basiseinheiten26, so daß die anschließende Anordnung des Politbüros nicht überraschte: "Die Abteilung Leitende Organe wird beauftragt, geeignete Maßnahmen zur raschen Liquidierung der Betriebsgruppen der anderen Parteien einzuleiten. " 2?
Folgsam beschloß die LDPD-Führung am 24. Februar 1953, keine neuen Betriebsgruppen mehr zu gründen, "die aktiven fortschrittlichen Parteifreunde aus den Betriebsgruppen den Ortsgruppen zuzuführen" 28 sowie die "Betriebsgruppen, in denen feindliche oder reaktionäre Tendenzen aufgetreten sind und auftreten" 29, aufzulösen. Mit diesem Schritt entledigte sich die SED einerseits der oppositionellen Quellen bei den Liberaldemokraten, andererseits auch der Gefahr einer Redemokratisierung der gesamten Partei mittels ihrer untersten Gruppen. Derartige 'Gefahren' sah die SED im Gefolge des 'Neuen Kurses' und des Aufstandes vom Juni 1953, woraufhin sie die endgültige Beseitigung der noch bestehenden Betriebsgruppen forcierte. 30
Bonn O.J. [1962]. Vgl. zur Opposition in den Hochschulen der DDR: Waldemar Krönig/Klaus-Dieter Müller: Anpassung - Widerstand - Verfolgung, Hochschule und Studenten in der SBZ und DDR 19451961, Köln 1994. 25 Vgl. ADL/LDPD, 2729, Aufbau des Sozialismus, Stellungnahmen von Verbänden und Parteifreunden [der LDPD], Auszüge aus Argumentationen, positiv und negativ getrennt, o.J. [09/1952]; ADL/LDPD, 23489, 31127, 25366, 23388, 21708, 9194, 25060, 31926, 21708, 25060, Stimmungsberichte aus den [LDPD-] Bezirksverbänden zum Aufbau des Sozialismus, 1952; SAPMO/ZPA D Y 30/IV 2/15/78, Stimmungsberichte und Analysen über den Fall Dr. Hamann, 12/1952 und 01/1953; SAPMO/ZPA DY 30/JIV 2/2/260, Sitzung des Politbüros des ZK der SED v. 03.02.1953, 'Blockarbeit'; SAPMO/ZPA D Y 30/IV 2/15/3, Bericht über die Lage in den anderen Parteien nach der II. Parteikonferenz, 16.08.1952; SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/7, Stimmung zum Aufbau des Sozialismus, o.J. [08/1952]. 26 Auf der 2. Parteikonferenz im Juli 1952 richtete Ulbricht heftige Angriffe gegen die LDPD-Betriebsund Hochschulgruppen, die seiner Meinung nach "fast alle Verbindung zur amerikanischen Gestapo" (Walter Ulbricht: Die gegenwärtige Lage und die neuen Aufgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Aus dem Referat auf der II. Parteikonferenz der SED v. 9. bis 12. Juli 1952, in: Ders.: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Aus Reden und Aufsätzen, Bd. 4 (1950-1954), Ostberlin 1958, S. 422) unterhielten. 27 SAPMO/ZPA D Y 30/IV 2/15/3, Schreiben der 'Abteilung Leitende Organe der Parteien und Massenorganisationen' der SED v. 28.01.1953, Vorlage an das Politbüro des ZK der SED, betr. Durchführung der Blockarbeit 21 ADL/LDPD, 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 24.02.1953, Bl. 22/8-22/11; ADL/LDPD, 15770, Beschluß 1150/53 zur Betriebsgruppenarbeit. 29
ADL/LDPD, 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 24.02.1953, Bl. 22/10.
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Die SED griff nicht nur restriktiv in die Parteistrukturen der Liberaldemokraten ein, sondern lenkte auch die unmittelbare organisatorische Vorbereitung des 5. Parteitages. So genehmigte bzw. änderte sie die Tagesordnung, Redner und Referate für die Tagung.31 Hinsichtlich der Wahl des LDPD-Zentral Vorstandes wollte die SED kein politisches Risiko eingehen und sich nicht auf die Kontrolle der gerade erst geschaffenen liberaldemokratischen Überprüfungskommission verlassen, sondern selbst auf das Votum Einfluß nehmen. Die Überlegung, ständig mit den potentiellen Funktionären in Verbindung stehen zu können, spielte bei der Auswahl eine große Rolle. Gesucht wurden beeinflußbare, konforme Liberaldemokraten, die uneingeschränkt die Politik der SED befürworteten. Um dies zu erreichen, forderte das ZK der SED von seinem Sektor 'Befreundete Organisationen' eine präzise politische Charakterisierung aller 36 Mitglieder des Zentralvorstandes an. Über die geheim zu wählenden Funktionäre, die zehn Beisitzer sowie die Vorstandsmitglieder hieß es vier Wochen vor dem Parteitag: "Hinsichtlich der Vorsitzenden und des Generalsekretärs der LDP bestehen bei Generalsekretär Täschner, sowie Herrn Dr. Loch [Vorsitzender] und Konzok [Stellvertreter] die Voraussetzungen einer ständigen Kontrolle ihrer Politik. Da Dr. Dieckmann [Stellvertreter] einen starken Einfluß auf breite Mitgliederkreise hat, ist es zweckmäßig diesen Einfluß zu benutzen, um die Positionen von Dr. Loch, Konzok und Täschner, die teilweise äußerst schwach sind, zu festigen. Diese Lösung verpflichtet den Sektor, die politische Tätigkeit von Dr. Loch, Staatssekretär Konzok, Generalsekretär Täschner noch stärker zu kontrollieren und den Einfluß von Dr. Dieckmann auf diesen Personenkreis zu beobachten. " 32
Wie Marionetten klassifizierte die SED den Vorstand, kontrollierte ihn, leitete ihn an und setzte diesen für ihre Politik sein. Loch, Täschner und Konzok mußten überwacht werden, weil sie als 'schwach' eingestuft wurden. Doch gerade diese 'Auszeichnung' empfahl die Funktionäre für herausgehobene Positionen in der Blockpartei. Eine zentrale Stellung in den Überlegungen der SED nahm Johannes Dieckmann ein, wie im folgenden noch dargelegt wird. Ihn beließ die SED im Amt, weil er einen 'starken Einfluß' auf die LDPD ausübte. Beruhigt resümierte der Sektor 'Befreundete Organisationen' dreieinhalb Wochen vor Beginn der Tagung, daß die neue liberaldemokratische Spitze "die Gewähr einer fortschrittlichen Tätigkeit"33 bieten würde: 30 Vgl. SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/7, Die Bedeutung der Arbeit des demokratischen Blocks bei der Verwirklichung des neuen Kurses, o.J. [1953], Bl. 32-33. 31 Vgl. exemplarisch SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/73, Besprechung zwischen dem Sektor 'Befreundete Organisationen' der SED und dem Generalsekretär Täschner v. 20.02.1953. 32 SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/65, Vorlage an das Sekretariat des ZK v. 04.05.1953, betr. Vorbereitung des 5. Parteitages der LDP, Bl. 4. 33
Ebd., Bl. 6.
Unter der Hegemonie der SED
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"Aufgrund der vorhandenen Verbindungen zum Generalsekretär der LDP, dem Vorsitzenden und dem stellvertretenden Vorsitzenden Konzok sowie über Frau Schirmer-Pröscher" 34
hielt die SED den Einfluß auf die Politik der LDPD für ausreichend.
C. Personalpolitik der SED: Die 'Fälle* Ralph Liebler und Johannes Dieckmann Wie sehr die SED mit hochrangigen Funktionären der LDPD jonglierte, um sie für eigene Interessen zu instrumentalisieren, offenbarte sich eindrucksvoll im Vorfeld des 5. Parteitages. Anhand des unterschiedlichen Umgangs mit dem stellvertretenden Vorsitzenden, Johannes Dieckmann, und dem Fraktionsvorsitzenden der Liberaldemokraten in der Volkskammer, Ralph Liebler, soll diese nach außen unberechenbare Funktionalisierung verdeutlicht werden. Bei der Charakterisierung der Vorstandsmitglieder setzte die SED Liebler auf die 'schwarze Liste' und urteilte im Vorfeld der LDPD-Großveranstaltung in Dresden: "Von diesen 23 [Vorstands-] Mitgliedern liegen bei 19 bereits Einschätzungen vor: 14 davon werden als zuverlässig eingeschätzt, bei 4 handelt es sich um schwankende Elemente, 1 ist nachweislich reaktionär. In drei Fällen der schwankenden Elemente ist der Abzug aus ihrer gegenwärtigen Funktion bereits vorbereitet und wird bis zum 30.6.53 durchgeflhrt. Bei dem einen reaktionären Element handelt es sich um Dr. Ralph Liebler, Vorsitzender der Volkskammerfraktion, bei dem Verdacht auf weitgehendste Westverbindung besteht. Der Abteilung 'M' [Postkontrolle 35] wurde das entsprechende Material zugeleitet. " 36
Um den eigenwilligen Vorsitzenden der LDPD-Volkskammerfraktion gab es seit Monaten Schriftwechsel zwischen dem Sektor 'Befreundete Organisationen', dem ZK der SED und dem MfS. Da Liebler sich im Juli 1952 geweigert hatte, den Appell zur Mitarbeit am Aufbau des Sozialismus' zu unterschreiben, galt er für die SED als nicht mehr vertrauenswürdig. Der 'Staatssicherheit' und dem SED-Sektor lagen politisch bedenkliche Äußerungen Lieblers und angebliche Beweise für dessen Westkontakt vor. 37 «Ebd. 33 Vgl. Unabhängiger Untersuchungsausschuß Rostock: Arbeitsberichte über die Auflösung der Rastocker Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit, Rostock 1990, S. 225. Die Abteilung M zeichnete für die Postkontrolle von Gegnern der SED-Politik verantwortlich. In die Beobachtung und Durchsicht wurden "Brief- und Kleingutsendungen sowie Telegramme" (ebd.) einbezogen. 36 SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/65, Vorlage an das Sekretariat des ZK der SED v. 04.05.1953, betr. Vorbereitung des 5. Parteitages der LDP, Bl. 5. 37 Vgl. SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/2, Schreiben v. 27.02.1953; BStU MfS (=Bundesstaatsarchiv filr die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR) Erfurt AÖP 30/53, Bd. 1-4.
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Anfangs harmlose Verdachtsmomente - Liebler rauchte nach den Ermittlungen des MfS "Westzigaretten"38 und hörte den Westberliner Radiosender RIAS- 39 erhärteten sich aus Sicht der Behörde zu Beginn der fünfziger Jahre. Öffentlich setzte sich Liebler zwar mehr denn je für die Politik der SED ein und polemisierte gegen die Bundesrepublik und Adenauer als "Vertreter der monopolkapitalistischen Kreise" 40 . Intern äußerte er jedoch seine Unzufriedenheit über die Entwicklungen in der DDR und seine Skepsis gegenüber der Arbeitsweise der 'Staatssicherheit', wie die Recherchen des MfS ergaben.41 Insbesondere Lieblers Vorbehalte als thüringischer Justizminister gegenüber den Willkürurteilen der Gerichte 42 und den Deportationen entlang der innerdeutschen Grenze43 veranlaßten die Behörde, den damaligen Staatssekretär Erich Mielke mit der weiteren 'Behandlung' des Fraktionsvorsitzenden der LDPD zu betrauen44. Unter dem Decknamen "Luntemann" 45 setzte das Ministerium mehrere Informelle und Offizielle Mitarbeiter auf Liebler an, die ihn monatelang überwachten. Auch der Sektor 'Befreundete Organisationen' interessierte sich inzwischen für den brisanten Fall und ließ sich von Generalsekretär Täschner über Liebler informieren. Dieser bezichtigte seinen Parteikollegen als 'Agenten', der die Presse der Bundesrepublik mit Berichten aus den Sitzungen des Politischen Ausschusses der LDPD versorgen würde. 46 Basierend auf Informationen des Sektors 'Befreundete Organisationen' und des MfS stufte die SED Liebler deshalb im Vorfeld des 5. Parteitages als politisch untragbar ein und ordnete seine Absetzung an:
* Vgl. BStU MfS Erfurt AÖP 30/53, Bd. 1, Bl. 119. * Vgl. ebd., Bd. 2, Bl. 19. 40 Ralph Liebler: Fort mit Adenauer! Der Völkerkongreß ruft!, in: Thüringische Landeszeitung v. 13.12.1952, S. 1. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: ebd., S. 1-2; Ders.: Wetterleuchten, Ein Beitrag zu LDPD und Kritik 1 , in: Der Morgen v. 30.03.1952, S. 2; BStU MfS Erfurt AÖP 30/53, Bd. 4, Bl. 54, betr. Ralph Liebler, 12.10.1950. 41 Vgl. BStU MfS Erfurt AÖP 30/53, Bd. 2, Bl. 73-74, Leitauszug aus dem Vorgang 'Luntemann' v. 24.01.1952; vgl. ebenfalls ebd., Bd. 4, Bl. 38, 41 und 186. 41 Vgl. ebd., Bd. 2, Bl. 73-74, Leitauszug aus dem Vorgang 'Luntemann' v. 24.01.1952; vgl. auch ebd., Bd. 2, Bl. 23, Bericht über den Treff mit I M 'Reinhard' v. 05.12.1951; ebd., Bd. 2, Bl. 28-29, Auszug aus der Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 19.12.1951. 43 Vgl. ebd., Bd. 2, Bl. 114-116, Auszug aus dem Protokoll über die Arbeitsbesprechung mit den Kreisvcrsitzendenund -Sekretären des Landesverbandes Thüringen der LDPD am 13.06.1952 in Weimar. 44
Vgl. ebd., Bd. 1, Bl. 122, Aktennotiz v. 16.05.1953.
45
Ebd., Bd. 2, Bl. 38, Plan zur weiteren Bearbeitung des Vorganges 'Luntemann', 24.01.1952.
46
Vgl. SAPMO/ZPA D Y 30/IV 2/15/73, Besprechung v. 11.03.1953 zwischen dem Sektor 'Befreundete Organisationen' und dem Generalsekretär Herbert Täschner.
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"Liebler soll weder in leitende Funktion im Bezirk noch in die zentrale Leitung der LDP. Da Liebler noch starken Anhang unter den LDP-Kreisen hat, wäre es zweckmäßig, wenn er durch Dr. Loch veranlaßt würde, selbst eine Erklärung abzugeben, daß erz-Tt. von einer leitenden ehrenamtlichen Funktion befreit sein möchte. So wird seinen Anhängern die Möglichkeit genommen, für ihn zu argumentieren, und unsere Sicherheitsorgane gewinnen Tjeit, sich gründlich mit der Person Liebler zu beschäfti„ . „
»47
gen.
Liebler wurden jedoch neben seinen kritischen Bekenntnissen auch unangepaßte Verhaltensweisen und offen verkündete Mutmaßungen über Verbindungen der LDPD zur SED sowie zur sowjetischen Administratur zum Verhängnis. In Gegenwart der Vorstandsmitglieder bezichtigte der bisweilen exzentrische und extrovertierte Fraktionsvorsitzende 48 den stellvertretenden Vorsitzenden Dieckmann der 'reaktionären Arbeit'. Er warf diesem Verbindungen zur SED, und zu den sowjetischen Offizieren vor, denen Dieckmann das Amt nach Ansicht Lieblers verdankte. 49 Lieblers Anschuldigungen gipfelten in dem Verdacht, daß Dieckmann Untersuchungen des MfS gegen ihn veranlaßt habe.50 Hintergrund dieser Attacken bildete ein seit Monaten aus persönlicher Abneigung schwelender Streit zwischen dem Volkskammerpräsidenten und dem FraktionsVorsitzenden der LDPD. 51 Derartige Unstimmigkeiten innerhalb des liberaldemokratischen Vorstandes potenzierten bei der SED und der 'Staatssicherheit' noch den Argwohn gegen den bei den Mitgliedern beliebten und geachteten Liebler. Als dem MfS auch noch Hinweise auf mögliche Verbindungen Lieblers zum westlichen Ausland52 und über eine geplante Flucht vorlagen53, entschied sich die SED für eine drastischere Variante und beschloß in enger Abstimmung mit dem MfS, sich dieses unbequemen 47
SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/73, Probleme zur Behandlung mit Herrn Dr. Loch [sie], o.J. [03/1953]. 41 In den Auseinandersetzungen mit Johannes Dieckmann (1952) nahm Liebler wiederholt 'kein Blatt vor dem Mund* und ließ sich des öftern zu stilistisch bemerkenswerten, zum Teil auch sarkastischhaßerfüllten Äußerungen gegenüber Dieckmann hinreißen. Vgl. exemplarisch ADL/LDPD, 28800, 28801, [Zusammenstellung der Auseinandersetzungen in der LDPD um 'Kritik' und 'Selbstkritik' 1952]. 49
Vgl. ADL/LDPD, 28800, Stellungnahme von Ralph Liebler v. 15.04.1952, Bl. 1-12.
50
Vgl. ADL/LDPD, 20016, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 21.05.1952, Äußerungen von Ralph Liebler, Bl. 19/1. 51 In der LDPD-Spitze entbrannte 1952 ein heftiger Streit um die Übernahme der SED-Prinzipien von der 'Kritik und Selbstkritik'. Vgl. ADL/LDPD, 28800, 28801, [Zusammenstellung der Auseinandersetzungen in der LDPD um •Kritik' und 'Selbstkritik' 1952] ; vgl. bes. Hans Loch: LDPD und Kritik, in: Der Morgen v. 07.03.1952, S. 2; Johannes Dieckmann: Antwort von Dr. Dieckmann, LDPD und Kritik, in: Der Morgen v. 11.03.1952, S. 2. 52
Vgl. BStU MfS Erfurt AÖP 30/53, Bd. 2, Bl. 158, o.J. [1953].
33 Ebd. Der Verdacht, daß Liebler in die Bundesrepublik flüchten könnte, bestand auch schon 1950: Vgl. ebd., Bd. 4, Bl. 53, betr. Ralph Liebler, 15.09.1950.
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Risikofaktors zu entledigen. Die SED revidierte deshalb ihre vorherige Entscheidung und entzog der LDPD die Kompetenz für die Ablösung des Thüringers: "Liebler soll, nach Festlegung des Zeitpunktes durch uns, als stellvertretender zender des Bezirksrates abgezogen werden. " u
Vorsit-
Drei Wochen nach dieser Ankündigung erkrankte der 52jährige Fraktionsvorsitzende plötzlich 55 und starb am 22. November 1953 im Stralsunder Kreiskrankenhaus. Die Ursachen seines Todes wurden nie zweifelsfrei geklärt. 56 Für die SED besaß eine in sich geschlossene LDPD oberste Priorität. Mögliche Divergenzen über den politischen Kurs der Partei durften ausschließlich mit der SED und nicht im wenig kontrollierbaren internen Rahmen ausgetragen werden. Der Umgang mit Liebler verdeutlicht aber auch, daß die SED mögliche Argumente und Auseinandersetzungen innerhalb der liberaldemokratischen Partei durch ihre willkürliche Macht ersetzte. Die SED fürchtete die LDPD trotz ihrer politischen Selbstaufgabe und der von außen hineingetragenen Manipulation immer noch als eine politisch unkalkulierbare Größe und befreite sich deshalb der möglichen Kritiker. Im Widerspruch zur 'Affäre Liebler' stand der Umgang mit dem stellvertretenden Vorsitzenden Dieckmann. Bei der geplanten Wahl des Vorstandes hielt die SED ungeachtet aller Versuche seitens der LDPD-Führung, den Volkskammerpräsidenten auszuschalten, an dem streitbaren und häufig eigensinnigen Dieckmann fest. 57 Die Führung um Loch, Täschner, Konzok und Gerlach - und bis unmittelbar vor seiner Verhaftung auch Hamann - war seit 1952 nicht länger bereit, Dieckmann als Vorstandskollegen zu tolerieren, weil er ihrer Meinung nach der liberaldemokratischen Entwicklung zum Sozialismus im Wege stand. Zu häufig schützte Dieckmann angebliche 'Reaktionäre', sperrte sich gegen Parteiausschlüsse und verwarf die Gedanken zur zentralistischen Umgestaltung sowie die Idee einer elitär-stalinistischen LDPD. Die Auseinandersetzung mit Dieckmann zeigt, daß sich die übrige LDPD-Spitze in größerem Maße eine SED-orientierte Politik abverlangte, als es die SED jemals forderte und aus taktischen Gründen gutheißen konnte.
54
SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/73, Schreiben v. 19.03.1953.
55
Vgl. ADL/LDPD, 12215/1, Schreiben von Ralph Liebler an die Parteileitung v. 08.04.1953.
56
Die Vermutung, daß Liebler auf gewaltsame Weise den Tod fand und auf diese Weise von seinen Ämtern 'abgezogen' wurde, liegt nahe, kann jedoch nach Auswertung der umfangreichen Aktenbestände nicht erhärtet werden. Unkommentiert vermerkte das Ministerium für Staatssicherheit 1955, daß die westdeutsche Organisation 'Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit' (KgU) einen Mord des MfS vermutete. Vgl. BStU MfS A I M 3302/62 A, Akte "Westphal" [IM Herbert Täschner], Bericht "Westphal" v. 05.02.1955, Bl. 51. 57 Vgl. SAPMO/ZPA D Y 30/IV 2/15/73, Schreiben v. 16.05.1952; SAPMO/ZPA D Y 30/IV 2/15/2, Schreiben v. 19.12.1952; ebd., Schreiben v. 09.04.1953.
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Dieckmann stand seit langem im Verdacht, die sozialistische Entwicklung aufhalten zu wollen und Sympathisanten seiner Auffassung zu fördern. Derartige Anschuldigungen entbehrten durchaus nicht der Grundlage, wie die engen Kontakte des stellvertretenden Vorsitzenden zu einzelnen Widersachern der Parteiführung belegen.58 Schon im Frühjahr 1952 schien die parteipolitische Karriere Dieckmanns vor dem Ende zu stehen, als dieser - gegen den Widerstand seiner Partei - die SED-Prinzipien über die 'Kritik und Selbstkritik' zur Ausschaltung unbequemer Opponenten öffentlich ablehnte.59 In dieser Phase rettete allein das Eingreifen von Ministerpräsident Grotewohl Dieckmann in seinem Amt. 60 Nur wenig später bemühte sich Generalsekretär Täschner erneut, Dieckmann auszuschalten, als er dem SED-Sektor am 16. Mai 1952 vorschlug, Kritik gegen Dieckmann an der Basis systematisch zu entwickeln, "um auf diese Weise die Frage zu lösen"61. Als Dieckmann im Juli 1952 nur zögernd dem Sozialismus-Appell 51 Im Bezirks-und Kreis verband Dresden rebellierten 1952/53 zahlreiche Funktionäre und Mitglieder der LDPD gegen die zenlralistische Politik ihrer Führung. Die Widersacher entwickelten alternative Ideen zur Poliükgestaltung, verabschiedeten entsprechende Resolutionen und arbeiteten nach ihrem Parteiausschluß solange im Untergrund weiter, bis sie von der 'Staatssicherheit' verhaftet wurden. Johannes Dieckmann stand dabei in Verbindung zu einzelnen Oppositionellen, denen er aus der Zeit gemeinsamer politischer Tätigkeit freundschaftlich verbunden war. Die Vorgänge in Dresden werden ausführlich in der in Kürze veröffentlichten Dissertation des Verfassers behandelt. 59 Mit der Weiterentwicklung von Kritik und Selbstkritik' verfolgte die LDPD-Spitze genauso wie die SED das Ziel, jene Mitglieder auszuschließen, die sich den Parteibeschlüssen zum Sozialismus widersetzten. Orts- und Kreisverbände wurden aufgefordert, dem Bezirksverband verdächtige Mitglieder in bezug auf eine mögliche Störung der Parteidisziplin zu melden - sie zu kritisieren -, um die 'Reinheit' der Partei zu erhalten bzw. wieder herzustellen. Generalsekretär Täschner definierte: "Kritik und Selbstkritik soll [...] doppelzüngige, reaktionäre, staatsfeindliche Elemente entlarven, die uns bei der Konzentrierung auf die große Aufgabe hinderlich sind [...]. Solche Menschen wie Dr. Hamann, die bewiesen haben, daß sie Schädlinge und Verbrecher sind [...], müssen ausgemerzt werden" (Herbert Täschner: Wachsamkeit verstärken, Kritik und Selbstkritik entwickeln, Voraussetzung für die erfolgreiche Arbeit der LDPD im nationalen Kampf, in: LDPD-Informationen 21/24/1952, S. 447^48). Vgl. zum Streit innerhalb der LDPD-Führung um die Anwendung von 'Kritik und Selbstkritik': Hans Loch: LDPD und Kritik, Schonungslos Fehler aufdecken und sie mit schöpferischen Ideen beseitigen, in: Der Morgen v. 07.03.1952, S. 2. Vgl. auch: Antwort von Dr. Dieckmann, LDPD und Kritik, in: Der Morgen v. 11.03.1952, S. 2. Vgl. die umfangreichen Aktenbestände über die Affäre zwischen Hans Loch und Johannes Dieckmann: ADL/LDPD, 28000 und 28001. Vgl. hier bes. ADL/LDPD, 28800, Beschluß 1064/52 des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 02.04.1952; ebd., [Stellungnahmen aller Mitglieder des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD zum Streit über die 'Kritik und Selbstkritik'] ; ADL/LDPD, 28801, Schreiben von Johannes Dieckmann an Karl Hamann v. 02.04.1952, 04.04.1952 und v. 07.04.1952. Vgl. auch ADL/LDPD, 20016, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 02.04.1952; ebd., Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 21.05.1952, Tagesordnungspunkt 2: Kritik und Selbstkritik, Angelegenheit Dr. Loch - Präsident Dieckmann; ADL/LDPD, 18512, Schreiben von Johannes Dieckmann an den Politischen Ausschuß des Zentralvorstandes der LDPD v. 22.04.1952 [vermutlich nicht abgesendet].
® Vgl. ADL/LDPD, 18512, Aktennotiz von Johannes Dieckmann v. 04.04.1952 aus der Unterredung mit Karl Hamann. 61
SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/73, Schreiben v. 16.05.1952. "Täschner wünscht nach Möglichkeit
16 Timmermann
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zustimmte, startete die LDPD-Spitze Anfang 1953 einen dritten Versuch, den bei den Mitgliedern populären und bei der SED einflußreichen Liberaldemokraten loszuwerden, indem sie sich im Vorfeld des Parteitages darauf einigte, nur noch einen stellvertretenden Parteivorsitzenden, nämlich Konzok, wählen zu lassen.62 Hintergrund hierfür bildeten erneute Vorwürfe, Dieckmann schütze politisch unzuverlässige Kräfte. 63 Hans Loch warnte seinen Kollegen "zum letzten Male vor dem Unterfangen, Sand in das Getriebe der Parteimaschinerie zu werfen. Ich glaube, daß der Politische Ausschuß auch die Machtmittel besitzt, um jeden einzelnen Parteifunktionär zur Räson zu bringen und ihn zu der kollektiven Zusammenarbeit zu zwingen. " 64
Derartige Anschuldigungen richteten sich gegen Dieckmanns Vorbehalte an den Ausschlüssen zahlreicher oppositioneller Mitglieder im Bezirksverband Dresden. 65 Anfang 1953 erreichten die Dissonanzen derartige Dimensionen, daß sich Dieckmann sogar öffentlich weigerte, auf den Kreisparteitagen in Großenhain66 und in Görlitz 67 die offizielle Linie der Partei im Zusammenhang mit den Vorgängen um den verhafteten Hamann zu vertreten. 68 In dieser Zeit schien Dieckmann nicht länger bereit zu sein, die Umstrukturierung der LDPD in eine sozialistische Kaderpartei und die SED-hörige Haltung seiner Kollegen zu tolerieren. Im Gegensatz zur LDPD-Führung stellte sich die SED stets schützend vor Dieckmann, weü sie nicht auf dessen Dienste verzichten wollte: nämlich die sich passiv zu am Mittwoch nächster Woche unsere Meinung hierüber", ebd., vermerkte der SED-Sektor 'Befreundete Organisationen' in seinem Bericht an Hermann Matern. c Vgl. ADL/LDPD, 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 24.02.1953, Bl. 22/5; ADL/LDPD, 20014, Beschluß 1145/53 des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD, betr. Struktur des Zentral Vorstandes der LDPD nach dem 5. Parteitag. Nach dem Votum der Ausschmußmitglieder sollte nur Konzok sein Amt behalten, wohingegen Dieckmann - neben Gerlach und Sasse - auszuscheiden hatte. ö Vgl. ADL/LDPD, 20017, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 13.01.1953, Ausführungen von Helmut Müller, Bl. 8/1 und Ausführungen von Manfred Gerlach, Bl. 19/1. M
Ebd., Ausführungen von Hans Loch, Bl. 1/12.
65
Vgl. ebd., Ausführungen von Johannes Dieckmann, Bl. 25/1.
66 Vgl. ADL/LDPD, 20059, Schreiben von Johannes Dieckmann an den Kreisverband Großenhain v. 10.01.1953. a Vgl. ADL/LDPD, 20017, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD v. 13.01.1953, Ausführungen von Hans Loch, Bl. 7/2. Loch verlas einen entsprechenden Brief Dieckmanns, in dem dieser seine Absage auf dem Görlitzer Parteitag ebenso wie in Großenhain begründete. Da der anwesende Dieckmann den Ausführungen nicht widersprach, dürfte es sich bei dem von Loch zitierten Brief um ein authentisches Schreiben gehandelt haben. w Vgl. ADL/LDPD, 20059, Schreiben von Johannes Dieckmann an den Kreisverband Großenhain v. 10.01.1953.
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den Beschlüssen der Parteüeitung verhaltenden Mitglieder geduldig an den Kurs der SED und der LDPD-Führung heranzuführen. Deshalb lehnte sie die Ansinnen der LDPD-Spitze zur Ausschaltung Dieckmanns ab.69 Allerdings nahm die SED in dieser sensiblen Frage keine geschlossene Haltung ein und zeigte sich über die 'weitere Behandlung' des Volkskammerpräsidenten zerstritten. 70 So schlug sich der SED-Sektor 'Befreundete Organisationen' auf die Seite Täschners und empfahl die allmähliche Zurückdrängung Dieckmanns aus der Partei und dessen Abwahl vom Amt des stellvertretenden Vorsitzenden: "Da D. [Dieckmann] eine unehrliche Position einnimmt und mehrfach versuchte, unter den fortschrittlichen Kräften der Parteiführung und des Politischen Ausschusses Unsicherheit bei getroffenen Maßnahmen unserer Regierung zu entwickeln (es liegt genügend Material vor), wird dieser Vorschlag [Nominierung Dieckmanns] von uns [SED-Sektor] abgelehnt. " 71
Doch bevor Ulbricht das Schreiben empfing, fügte der Leiter des SED-Sektors 'Befreundete Organisationen', Hermann Matern, den handschriftlichen Vermerk "nicht befürwortet" 72 hinzu. Er lehnte damit die negative Haltung seiner eigenen Mitarbeiter gegenüber Dieckmann ab und präjudizielle die anschließende Entscheidung der SED-Spitze zugunsten Dieckmanns: "Ausgehend von dem starken Einfluß, den Dr. Dieckmann auf die Mitgliederkreise der LDP hat [...], der eine Sprengung des Parteitages zu Folge haben [könnte und aufgrund] der positiven Tätigkeit, die Dr. Dieckmann in den letzten Monaten in der gesamtdeutschen Arbeit leistete und unter Berücksichtigung seiner veränderten Haltung sowie seines Einflusses auf die LDP schlagen wir vor, daß Dr. Dieckmann neben Staatssekretär Konzok als stellvertretender Vorsitzender zur Wahl gestellt wird." 73
® Im August 1952 berichtete Täschner dem SED-Sektor, Dieckmann habe den Standpunkt vertreten, "daß die Mitgliedschaft [der LDPD] weich und geduldig über die Schwelle [Appell zum Aufbau des Sozialismus] hi η wegzuführen sei" (SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/2, Notiz über eine Besprechung mit Generalsekretär Täschner v. 14.08.1952). 70 Vgl. SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/73, Schreiben des Sektors 'Befreundete Organisationen" an Hennann Matern v. 16.05.1952; SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/2, Schreiben des SED-Sektors 'Befreundete Organisationen' an Hermann Matern v. 19.12.1952. 71 SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/2, Schreiben des SED-Sektors 'Befreundete Organisationen' an Hermann Matern v. 19.12.1952.
16*
72
Ebd.
73
SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/2, Schreiben v. 09.04.1953.
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Ulbricht und Matern hielten ungeachtet ihrer Vorbehalte an Dieckmann fest. 74 Seinen günstigen Einfluß auf die Mitgliedschaft bewertete die SED höher als dessen mögliche Kritik an der Politik seiner liberaldemokratischen Kollegen. Diese hatten vollkommen die Interessen ihrer Klientel aus den Augen verloren und wollten im Gegensatz zu Dieckmann einseitig die Linie der SED durchsetzen. Der LDPDFührung gelang es trotz einhelliger Meinung nicht, Dieckmann aus ihren Reihen zu verdrängen.75 Sie mußte sich vielmehr dem Votum und den taktischen Interessen der SED beugen, d.h. einen aus ihrer Sicht unzuverlässigen, SED-kritischen und Sozialismus-hemmenden Funktionär 'mitdurchziehen'. Niemand in der LDPD vermochte seinerzeit das Ansinnen der SED zu durchschauen, die Dieckmann deshalb im Amt beließ, um die LDPD vor ihrer Selbstauflösung infolge des Mitgliederschwunds zu bewahren. Nach Hamanns Verbannung hätten die Liberaldemokraten das Ausscheiden eines weiteren ehemaligen bürgerlich-demokratischen Politikers, des früheren sächsischen Landtagsabgeordneten und Generalsekretärs der Deutschen Volkspartei (DVP), vermutlich nicht mehr verkraftet. Die Mehrheit der Mitglieder hielt den Volkskammerpräsidenten als den letzten übriggebliebenen Vertreter der Generation aus den Gründungsjahren. Dies belegen zahlreiche Zuschriften 76, in denen sich Ortsgruppen auf die Seite Dieckmanns stellten und viele Mitglieder gegen dessen Diffamierung in der Öffentlichkeit 77 protestierten bzw. vereinzelt den Rücktritt Lochs forderten. 78 Dieckmanns Isolation blieb allein auf die Führungsebene beschränkt. Diese sah sich angesichts der SED-Weisung schließlich veranlaßt, den Beschluß zur Ausschaltung ihres Widersachers zu revidieren und nun doch zwei gleichberechtigte Vorsitzende - neben Konzok auch Dieckmann - wählen zu lassen.79
74 Zuvor hatte sich Dieckmann gegen eine Wahl Konzoks zum alleinigen stellvertretenden Vorsitzenden ausgesprochen und der SED angedeutet, auf dem Parteitag gegebenenfalls und nach eigener Entscheidung gegen Konzok anzutreten. Vgl. ebd. 75 In der westlichen Historiographie ist bislang die Meinung vertreten worden, die SED habe Dieckmann ausschalten wollen und für dieses Ansinnen den LDPD Parteivorsitzenden Loch vorausgeschickt Vgl. Wolf gang Mleczkowski: Bewegung im Monolith, Das 'sozialistische Mehrparteiensystem' in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 16-17/1984, S. 12. 76 Vgl. ADL/LDPD, 28801 und 18512: Schreiben, Eingaben und Resolutionen der Grundeinheiten zum Artikel des Vorsitzenden Hans Loch im 'Der Morgen' v. 07.03.1952. 77 Vgl. Hans Loch: LDPD und Kritik, Schonungslos Fehler aufdecken und sie mit schöpferischen Ideen beseitigen, in: Der Morgen v. 07.03.1952, S. 2. Lochs Polemiken gipfelten in der Bezeichnung des Volkskammerpräsidenten als "lächelnder Buddha" (ebd.), der über den Wolken schwebe. 78 Vgl. ADL/LDPD, 28801, Schreiben der Ortsgruppe Grimma im Landesverband Sachsen, o.J. [1952]. 79 ADL/LDPD, 20018, Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentral Vorstandes der LDPD v. 05.05.1953, Beschluß 1168/53 v. 05.05.1953.
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D. Verweigerung und Protest der Delegierten auf dem Parteitag Angesichts der generalstabsmäßigen Vorbereitung des Parteitages schien die LDPD-Veranstaltung in Dresden fest in Händen der SED zu liegen, die sich vor Überraschungen gefeit wähnte. Trotz aller Manipulationen dokumentierte die Tagung jedoch, daß die LDPD nicht nur aus der SED-hörigen Spitze bestand. Die 395 stimmberechtigten und zuvor gründlich-akkurat ausgesuchten Delegierten sorgten für zum Teil kontroverse Diskussionen, ohne dabei jedoch den Grundsatzbeschluß der LDPD zur 'Mitarbeit am Aufbau des Sozialismus' unter der Hegemonie der SED in Frage zu stellen. Gemeinsam mit der LDPD-Führung hatte die SED dennoch große Mühe, die Veranstaltung wie gewünscht ablaufen zu lassen. Dabei blieben dem Sektor 'Befreundete Organisationen' die passive Verweigerung und Proteste vieler Liberaldemokraten nicht verborgen. Heftige Unruhe entstand unter den Abgeordneten, als die Vorsitzende des Bezirksverbandes Halle, Gertrud Sasse, ihre begeisterte Zustimmung zum Sozialismus erläuterte und zugleich die Freiheit und Überlegenheit der sowjetischen Wissenschaft unter Stalin hervorhob. Hans Loch unterbrach die in Mitgliederkreisen auch als 'Rote Nelke' titulierte Rednerin: "Ich stelle aber fest, daß unter den Gastdelegierten einige sind, die - ich möchte sagen - diese Bewußtseinsentwicklung noch nicht durchgemacht haben und glauben, daß wir 1947 schreiben. Ich glaube, daß es dieses Hinweises nur bedarf, damit unsere Parteifreundin Sasse ihr Referat in Ruhe und unter der Aufmerksamkeit der Delegierten zu Ende führen kann. " so
Loch bezog sich mit seiner drohenden Äußerung zweifellos auf die Zeit der heftigen Auseinandersetzungen zwischen der LDPD und der SMAD/SED um den künftigen Kurs in der SBZ. Die Zeiten, öffentlich Protest zu erheben, waren 1953 endgültig vorbei, wollte man nicht das Risiko der Verhaftung eingehen. Die SED beanstandete in ihrer Analyse derartige Zwischenfälle. Sie kritisierte aber auch den "sehr bescheidenen Beifall" 81 für den Parteivorsitzenden Loch und den Generalsekretär Täschner, "den schwächsten Beifall" 82 für den stellvertretenden Vorsitzenden Konzok sowie den "Beifallssturm" 83 für Dieckmann und ausgerechnet für den als 'Reaktionär' eingestuften Liebler. Nicht die SED-hörigen, sondern die SED-kritischen Funktionäre wurden von den Delegierten mit Sympathie bedacht.
10 ADL/LDPD, 2937, Stenographische Niederschrift des 5. Parteitages der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands v. 28.-31.05.1953 in Dresden, Äußerung von Hans Loch, Bl. 187.
" SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/65, Einschätzung des 5. Parteitages der LDP, o.J. [06/1953], Bl. 1. c
Ebd.
83
Ebd.
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Die LDPD-Führung stand den unvorhergesehenen Ereignissen hilflos gegenüber, so daß sich der bei den Delegierten angesehene Dieckmann gezwungen fühlte, kontroverse Diskussionen kurzerhand zu unterbinden: "Wir müssen und wollen den ersten Tag unseres Parteitages nun in Ordnung und Disziplin zu Ende führen. In Anbetracht dessen, was ich Ihnen vorhin als Programm für den Schluß der heutigen ersten Tagung vorstellte, bitte ich Sie, davon Kenntnis zu nehmen, daß wir [...] darauf verzichten müssen, heute noch zu diskutieren. Ich glaube, wir sind nicht aufnahmefähig genug dafür. "* 4
Der Verlauf des Parteitages spiegelte eindrucksvoll die Kluft zwischen der LDPD-Spitze und den Beauftragten aus den einzelnen Verbänden wider: Die Mitglieder ließen sich nicht auf die präsentierten Politikfelder ein, die ausschließlich auf die Befürwortung der SED-Politik hinausliefen. Der Volkskammerpräsident stand dabei politisch zwischen den Auffassungen der Delegierten und denen der Führungsspitze. Gerade diese Konstellation eröffnete ihm die Möglichkeit, unter den divergierenden Interessen zu vermitteln und auf diese Weise - wie es sich die SED wünschte - die Ziele der Einheitspartei durchzusetzen. Dadurch lief Dieckmann jedoch ständig Gefahr, von der SED als Marionette eingesetzt zu werden. 85 Die Kür des Vorstandes rief tumultartige Szenen hervor. Als ein Leipziger Parteimitglied die Wahl per Akklamation vorschlug, äußerten viele Liberaldemokraten lautstark ihren Unmut und beriefen sich auf die erst tags zuvor verabschiedete Satzung, derzufolge die Wahlen geheim vonstatten gehen mußten. Der Partei Vorsitzende Loch meinte daraufhin in weiser Voraussicht: "Wir [sind] noch nicht soweit, offen zu wählen, ohne irgendeine Hemmung, wir werden einmal dorthin kommen. "* 6
14 ADL/LDPD, 2937, Stenographische Niederschrift des 5. Parteitages der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands v. 28.-31.05.1953 in Dresden, Äußerung von Johannes Dieckmann, Bl. 88. I m Tagungslokal machte sich Unruhe breit, als Dieckmann eine Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS verlas, wonach am 29.05.1953 die Sowjetische Kontrollkommission in Deutschland aufgelöst und statt dessen das Amt eines Hohen Kommissars der UdSSR in der DDR geschaffen werden sollte (vgl. Auflösung der Sowjetischen Kontrollkommission und Schaffung des Amtes eines Hohen Kommissars am 28. Mai 1953, abgedruckt in: Dokumentation zur Deutschlandfrage, Von der AtlantikCharta 1941 bis zur Berlin-Sperre 1961, Hauptband I, Zusammengestellt von Heinrich von Siegler, Zweite erg. u. erw. Aufl. in drei Bänden, Bonn/Wien/Zürich 1961, S. 171). Aus dem Protokoll des Parteitages geht nicht hervor, ob die Mitglieder die Einsetzung des sowjetischen Kommissars kritisierten, ironisch bzw. höhnisch beklatschten oder ob sie möglicherweise über die formal-rechtliche Änderung des faktisch nach wie vor geltenden Besatzungsstatuts begeistert waren. 95 Die Intentionen Dieckmanns bleiben verschwommen und unergründet, solange nicht der Einfluß der sowjetischen Offiziere geklärt ist. Daß Dieckmann hinreichend Verbindungen zur Besatzungsmacht besaß, darf nach den Hinweisen im ADL/LDPD und im SAPMO/ZPA - Andeutungen durch Dieckmann selbst, aber auch durch den Fraktionsvorsitzenden Liebler - angenommen werden. Nähere und schlüssige Hinweise fehlen jedoch in den Dokumenten der SED, des MfS und der LDPD.
" ADL/LDPD, 2937, Stenographische Niederschrift des 5. Parteitages der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands v. 28.-31.05.1953 in Dresden, Äußerung von Hans Loch, Bl. 422.
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Volkskammerpräsident Dieckmann bekräftigte voller Sarkasmus: "Es ist gleichgültig, ob wir geheim oder offen unseren Parteivorsitzenden wählen." 97
einstimmig
Die Unruhe steigerte sich daraufhin derart, daß sich die Parteiführung gezwungen sah, die Versammlung zu unterbrechen und anschließend über den Wahlmodus abstimmen zu lassen. 199 Delegierte stimmten für eine geheime und 155 Delegierte für eine offene Entscheidung.88 Die aus den Verbänden entsandten Abordnungen bestanden nach wie vor auf der Einhaltung demokratischer Grundprinzipien, die die Spitze längst aufgegeben hatte. Ihre Reaktionen klangen nur noch zynisch und resignativ. Vor allem Dieckmanns Anmerkung zu den Wahlen symbolisierte dessen oben geschilderte ambivalente Einstellung. Der Sektor 'Befreundete Organisationen' registrierte neben vereinzelten Protesten vor allem Desinteresse "beim Referat von Dr. Loch"89, das sich durch Zeitunglesen, laute Unterhaltungen, allgemeine Unruhe, oder durch Verlassen des Saales bemerkbar machte. Nach den Ermittlungen der SED wagte zwar niemand der Anwesenden, "offen gegen die neue Satzung zu stimmen"90, allerdings habe die Parteiführung die Tagesordnung kurzfristig ändern müssen, "damit die reaktionären Kräfte gehindert wurden, ihre Diskussion für die Satzung entsprechend vorzubereiten." 91 Große Verärgerung lösten bei den SEDBeobachtern die Vorstandsmitglieder Täschner und Dieckmann aus, weil sie vorzeitig den Saal verlassen hatten, um sich der Abstimmung über die neue Geschäftsordnung und Satzung zu entziehen. Ob sie durch dieses Verhalten ein Zeichen des passiven Protestes setzten, wie es die SED vermutete, bleibt zweifelhaft - bei Dieckmann ist es eher zu vermuten als bei dem stets SED-loyalen Generalsekretär. Die SED warf der LDPD-Führung nach Abschluß des Parteitages ungeschicktes Verhalten vor. 92 So habe sich Dieckmann durch "überflüssige Äußerungen" und durch sein provozierendes Eintreten für offene Wahlen den Unwillen 'negativer Kräfte' zugezogen. Die Sozialisten beanstandeten aber auch das eigenmächtige Vorgehen Konzoks, der sich nicht genau an den zuvor abgesprochenen Redetext hielt und statt dessen "die Delegierten mit einer Fülle revolutionärer Phrasen" [...] überschüttete" 93. Wie eine willenlose Figur wurde der stellvertretende Vorsitzende bewertet:
17
Ebd., Äußerung von Johannes Dieckmann, Bl. 425.
" Vgl. ebd. Bl. 428. • SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/65, Einschätzung des 5. Parteitages der LDP, o.J. [06/1953], Bl. 2. 90
Ebd., Bl. 4.
91
Ebd.
* Vgl. ebd., Bl. 1-7. " E b d . Bl. 2.
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Ulf Sommer "Wir mußten feststellen, daß Konzok unsere Hinweise nicht beachtete. Statt sich in seinem Diskussionsbeitrag auf die Aufgaben des Fünfjahrplanes und die Verantwortung der Staatsfunktionäre und Abgeordneten der LDP zu beschränken, dehnte er seinen Diskussionsbeitrag über eine Stunde aus und wollte somit offenbar ein Gegenreferat zu Dr. Dieckmann halten. Sein in jeder Weise ungeschicktes Auftreten löste auch unter den positiven Kräften Unzufriedenheit und Unruhe aus. Während seiner Ausführungen hielten sich bei der zweiten Hälfte seines Diskussionsbeitrages über 200 Besucher außerhalb des Konferenzsaales auf. [...] Durch das Organisieren mehrerer Diskussionssprecher, die sich positiv auf die Ausführungen Konzoks bezogen, wurde erreicht, den ungünstigen Eindruck seiner Diskussionsrede abzuschwächen. " 94
Auf der anderen Seite verstand es nach Ansicht des Sektors 'Befreundete Organisationen' der gescholtene Dieckmann am geschicktesten, die "schwankenden Kreise der Delegierten im positiven Sinne"95 zu beeinflussen: "Sein Referat und das Schlußwort zu seinem Referat war für die Besucher des Parteitages, die ein negatives Auftreten von Dieckmann erwartet hatten, ein schwerer Schlag. Diese Kreise wagten nicht mehr offen wie auf früheren Parteitagen, ihre feindlichen Ansichten zu verbreiten, sondern beschränkten sich durch Desinteresse und wachsende Unaufmerksamkeit bei besonders fortschrittlichen Diskussionssprechern" 96.
Genau diese diplomatische Gewandtheit schätzte die SED an Dieckmann und belohnte ihn deshalb mit der (erfolgreichen) Verteidigung gegen seine Widersacher innerhalb der LDPD. Allein der Volkskammerpräsident wurde dem Auftrag der Liberaldemokraten gerecht, die Mitglieder in der Partei zu halten, ohne sie mit 'sozialistischen Phrasen' zu überschütten - wie die SED den liberaldemokratischen Vorstandskollegen treffend vorwarf. In dem Maße wie Dieckmann 'schwankende Elemente' in die LDPD einzubinden vermochte, duldete die SED dessen zum Teil vom Kurs der Regierung abweichenden Meinungen - immer vorausgesetzt, die sozialistische Entwicklung wurde nicht grundsätzlich in Frage gestellt.
E. Ausblick Die LDPD befand sich nach dem Parteitag in einem desolaten Zustand: Viele hundert Mitgliedern verließen Monat für Monat die Partei und in fast allen Verbänden lag die Arbeit brach. Die in Dresden noch im Zeichen Stalins auf die sowjetische Politik eingeschworenen Delegierten wurden zudem vor ungeahnte Probleme gestellt, als sie nur wenige Wochen später dem 'Neuen Deutschland' den 'Neuen Kurs' der SED entnahmen. Zu keinem Zeitpunkt stand die LDPD ihrer Selbst* Ebd. Bl. 3. * Ebd. Bl. 2. 96
Ebd. Bl. 1.
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auflösung näher als in dieser labilen Phase, die bekanntlich in den 17. Juni und damit in den ersten Volksaufstand der DDR mündete. Erst als Manfred Gerlach 1954 zum Generalsekretär gewählt wurde, begann sich die Partei organisatorisch zu festigen. Wie seine beiden Sekretariatskollegen, der MfS-Informant Kurt Wünsche (laut Aktenlage des Bundesstaatsarchivs für die Unterlagen des MfS) und der Parteiideologe Rudolf Agsten, der sich vergeblich um die Aufnahme in die SED bemüht hatte,97 brauchte Gerlach kein liberales Gedankengut aus vergangenen Zeiten abzustreifen, weil er es nie zu erkennen gegeben hatte. Mit Billigung bzw. mit dem Beistand der SED, des MfS und (vermutlich) der sowjetischen Offiziere drängte das Sekretariat den um fast eine Generation älteren engeren Vorstand der LDPD zurück, dem fälschlicherweise das Odium anhaftete, altes Denken nicht überwunden zu haben, sondern Resten parlamentarisch-demokratischer Ziele anzuhängen. Mit Gerlach nahm auch in den unteren Ebenen der LDPD eine neue "Aufsteigergesellschaft" 98 der 20- und 30jährigen die Geschicke in die Hand, die der Partei eine neue und von der SED nicht mehr zu unterscheidende Identität auf Kosten der Anschauungen aus den vierziger Jahren verliehen. In den Bezirks- und Kreisverbänden verfuhr das Sekretariat nach der in der DDR üblichen Praxis, anstelle der Traditionsmitglieder' die aufstrebenden und infolge des Nationalsozialismus orientierunglosen Staatsbürger zu protegieren, die sich im Einklang mit ihrer Karriere leicht für das sozialistische Gesellschaftssystem formen ließen. Dabei bildete sich ein kleiner Teil von staatsbejahenden Mitgliedern heraus, der die DDR uneingeschränkt anerkannte und öffentlich verteidigte. Die meist jungen, noch formbaren Politiker wurden nicht durch die Partei, sondern im Staats- und Wirtschaftsapparat erzogen und fühlten sich weniger der LDPD als vielmehr der von der SED getragenen Regierung verbunden. Allein 1955 wurden mit Hüfe intensiv vorbereiteter Jahreshauptversammlungen rund die Hälfte aller Vorstandsmitglieder ausgetauscht. Anders als noch zu Beginn der fünfziger Jahre beschränkte sich die SED diesmal auf den kontrollierenden Einfluß, ohne in der Regel selbst aktiv zu werden. Der Sektor 'Befreundete Organisationen' übertrug schrittweise seine Kompetenzen auf politisch zuverlässige Liberaldemokraten, sofern es diesen gelang, die öffentlichen Proteste innerhalb der Partei gegen das Staatssystem zu minimieren.
97 Vgl. SAPMO/ZPA DY 30/IV 2/15/78, Vermerk der SED-Bezirksleitung Leipzig über eine Aussprache mit Rudolf Agsten am 25.09.1953. Vgl. auch Siegfried Suckut: Die Gespräche zwischen FDP und LDPD im Jahre 1956 - Vorgeschichte, Verlauf, DDR-interne Erwartungen und Reaktionen, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Naumann-Stiftung hg. v. Hans-Georg Fleck, Jürgen Fröhlich u.a., Baden-Baden 1992, S. 104. 98
Lutz Niethammer: Erfahrungen und Strukturen, Prolegomena zu einer Geschichte der DDR, in: Sozialgeschichte der DDR, hg. v. Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr, Stuttgart 1994, S. 104.
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Auch die einfachen Mitglieder blieben von der politischen 'Reinigung' nicht verschont: In immer ausgedehnteren Brigadeeinsätzen überprüften LDPD-Instrukteure jeweils ausgewählte Verbände und sorgten gegebenenfalls für die Neubesetzungen der Vorstandsposten. Parallel dazu mußten alle Mitglieder (nach dem Vorbild der SED aus dem Jahr 1951) ihre Parteiausweise gegen ein neues Dokument eintauschen und sich dabei politisch überprüfen lassen. Mit diesen Maßnahmen erzwang die LDPD-Leitung die politische Wende: In der Partei schwand die Bereitschaft, Widerspruch zu erheben und Repressalien in Kauf zu nehmen, so daß die Mitglieder künftig weitgehend auf Proteste verzichteten und sich mit den Gegebenheiten abfanden. Dabei wandelte sich die Motivation, Mitglied einer SED-treuen Organisation zu werden. Standen anfangs politische Bekenntnisse und das Verlangen nach einem Gegenpol zur SED im Vordergrund, so lagen seit 1952 die Ursachen für den Beitritt bzw. für den Verbleib in der Suche nach persönlichen Vorteilen, aber auch in der Absicherung gegenüber den Anwerbungsversuchen der SED. Als Mitglied einer staatstragenden Partei bewies jeder Liberaldemokrat seine Nähe und gleichzeitige Distanz zum Regime, so daß die Möglichkeiten einer begrenzten beruflichen Karriere offenblieben. Der SED gelang es allerdings nie, die LDPD zu einem wirklichen bündnispolitischen 'Partner' zu instrumentalisieren. Zu tief blieb die Kluft zwischen den Mitgliedern und ihrer Führung, die sich einzig den Interessen der SED verbunden fühlte, so daß die SED treffend von Offizieren ohne Armee" 99 sprach. Sie kritisierte damit den mangelnden Rückhalt der Parteispitze und wies auf die Sinnlosigkeit aller Beteuerungen im Hinblick auf die Unterstützung des Staatssystems hin. Ungeachtet aller Disziplinierungen lehnte die Mehrheit der Mitglieder elementare Prämissen ihrer Repräsentanten ab. Dazu gehörten die Wahlen per Einheitsliste und die verordnete deutsch-sowjetische Freundschaft ebenso wie die SED-Hegemonie und die von der LDPD tolerierte sozialistische Entwicklung. Allein die Einsicht in die Unausweichlichkeit der von der Sowjetunion (militärpolitisch) geschützten Verhältnisse, lähmte das Potential der Opposition. Nach dem Mauerbau und der Erkenntnis, dem scheinbar stabilen System nicht mehr entfliehen zu können, begannen die meisten Mitglieder, sich mit der SED-Herrschaft zu arrangieren, ohne sich mit ihr zu identifizieren.
w SAPMO/ZPA D Y 30/IV 2/15/7, "Die Bedeutung der Arbeit des demokratischen Blocks bei der Verwirklichung des neuen Kurses", o.J. [1953], Bl. 28.
"Wir brauchen den ständigen Dialog1' Die Beziehungen zwischen FDP und LDPD in den achtziger Jahren
Von Carsten Tessmer
A. Einleitung Fünf Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit wird immer noch heftig diskutiert über die Deutschland- und Entspannungspolitik der Bundesrepublik vor allem in den Jahren seit dem Beginn der Neuen Ostpolitik. Und das ist gut so, will man die Geschichte beider deutscher Staaten und ihrer Beziehungen zueinander aufarbeiten. Allerdings fühlt man sich beim Blick auf die Debatten namentlich im politischen Raum zeitweise zurückversetzt in die siebziger Jahre, als die Unionsparteien gegen die Vertragspolitik der Regierung Brandt/Scheel und ihrer Nachfolgerin zu Felde zogen. Post factum werden die alten Grabenkämpfe wieder aufgenommen. Ungut ist, daß dabei aktuelle parteipolitisch motivierte Opportunitätserwägungen die Debatte dominieren. Der Komplexität des Gegenstandes wird dies nicht gerecht. Hier sind "diejenigen, die Jacob Burckhardt als terribles simplificateurs charakterisierte, [...] wieder oder immer noch am Werk." 1 Zwei Aspekte sind dabei für den politisierenden Umgang mit dem Thema in Deutschland kennzeichnend. Zum einen werden der Zusammenbruch der DDR und die Vereinigung beider deutscher Staaten oftmals zum Ausgangspunkt jeder Rückschau auf die deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte gemacht, die konkreten historischen Bedingungen, unter denen die politischen Akteure jener Tage zu handeln hatten, aber ausgeblendet. Daraus resultierend, konzentriert sich zum zweiten die Debatte seit 1989/90 auf die Frage, wer denn in den siebziger und achtziger Jahren überhaupt noch auf die Einheit gesetzt habe. Für Historiker ist dieser Ansatz - Ausnahmen2 bestätigen diese Regel - eigentlich nicht sonderlich spannend und wenig erkenntnisfördernd, fragt er 1
Timothy Garton Ash: Rückblick auf die Entspannung, in: APuZ (1994) 14, S. 3.
1 Jens Hacker. Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin 1992; Konrad Low:... bis zum Verrat der Freiheit. Die Gesellschaft der Bundesrepublik und die "DDR", München 1993.
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doch nach einer Art "Glaubensbekenntnis" der Politiker, das sich ohnehin im nachhinein kaum mehr rekonstruieren lassen dürfte, "nicht zuletzt weil die Vereinigung einen so transformatorischen Effekt auf das Gedächtnis vieler hatte."3 Tatsächlich kreisen die Auseinandersetzungen weniger um die praktizierte Deutschlandpolitik als vielmehr um in der Öffentlichkeit herausgestellte Positionen. Ein genauer Blick auf die operativen Politiken von CDU/CSU, FDP und SPD gegenüber der DDR in den achtziger Jahren offenbart, 4 daß sie sich weniger voneinander unterschieden, als es der Streit - zumal in Wahlkampfzeiten - und die Kritik vor allem an der sogenannten "zweiten Phase" der sozialdemokratischen Ostpolitik glauben lassen möchten.5 Diese Schieflage in der öffentlichen Diskussion läßt sich u.a. auch darauf zurückführen, daß viele Verhandlungen, die Wolf gang Schäuble, Franz-Josef Strauß, Egon Bahr, Wolfgang Mischnick und andere westdeutsche Politiker mit Gesprächspartnern zwischen Elbe und Oder führten, inoffizieller Natur waren. Die Inhalte der Unterredungen und die Form des Umgangs miteinander wurden seinerzeit nicht öffentlich gemacht, was der Legendenbildung heutzutage - zumal vor dem Hintergrund des 3. Oktober 1990 - Vorschub leistet. Dies gilt im selben Maße für die auf der nicht-gouvernementalen Ebene angesiedelte Dialogpolitik der Parteien. Der Historiographie kommt daher die Aufgabe zu, Licht in das Dunkel dieses Kapitels deutsch-deutscher Geschichte zu bringen und - jenseits aller parteiischen Interessenkalküle - nach Formen und Inhalten dieser innerdeutschen Kontakte, nach den dahinterstehenden Konzeptionen und ihrer Realisierung zu fragen. 6 3 Timothy Garton Ash : Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München/Wien 1993, S. 199. 4 Vgl. ebd., S. 148ff., S. 457ff.; Heinrich Potthoff: Die "Koalition der Vernunft". Deutschlandpolitik in den 80er Jahren, München 1995, S. 42ff.; Dieter Blumenwitz/Gottfried Zieger (Hg.): Die deutsche Frage im Spiegel der Parteien, Köln 1989 (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 7); Rudolf Horst Brocke: Deutschlandpolitische Positionen der Bundestagsparteien. Synopse, Erlangen 1985 (Erlanger Beiträge zur Deutschlandpolitik, Bd. 1); Matthias Zimmer: Nationales Interesse und Staatsräson. Zur Deutschlandpolitik der Regierung Kohl 1982-1989, Paderborn u.a. 1992 (Studien zur Politik, Bd. 18); Die Ost- und Deutschlandpolitik der SPD in der Opposition 1982-1989. Papiere eines Kongresses der Friedrich-Ebert-Stiftung am 14. und 15. September 1993 in Bonn. Hg. von Dieter Dowe, Bonn 1993 (Gesprächskreis Geschichte, Heft 4); Klaus Moseleit: Die "Zweite" Phase der Entspannungspolitik der SPD 1983-1989. Eine Analyse ihrer Entstehungsgeschichte, Entwicklung und der konzeptionellen Ansätze, Frankfurt am Main/Bern/New York 1991 (Europäische Hochschulschriften: Reihe XXXI, Bd. 180); Peter Juling: Deutschlandpolitik der FDP, in: Werner Weidenfeld/Hans-Rudolf Körte: Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1992, S. 202ff., bes. 204ff.; Carsten Tessmer: Innerdeutsche Parteienbeziehungen vor und nach dem Umbruch in der DDR, Erlangen 1991 (Analysen und Berichte, Nr. 5), S. 76ff. 5 Deutlich wird das etwa beim gleichzeitigen Bemühen von Union und SPD-Opposition in Verhandlungen mit den SED-Oberen, den Zustrom von Asylsuchenden einzudämmen, die über Ost-Berlin in die Bundesrepublik einreisten. Vgl. Potthoff\ "Koalition der Vernunft", S. 28ff. Kritisiert werden in der öffentlichen Auseinandersetzung allein die SPD und ihr damaliger Kanzlerkandidat, Johannes Rau. Vgl. z.B. Jürgen Engert: Ein seltsames Protokoll, in: Rheinischer Merkur vom 4. Februar 1994. 6 Für die achtziger Jahre liegen bislang ausschließlich Untersuchungen der Beziehungen zur SED vor. Vgl. Ash, Im Namen Europas, S. 148ff., S. 457ff. Besonders hinzuweisen ist auf den ausführlichen
"Wir brauchen den ständigen Dialog"
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Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, die Beziehungen zwischen FDP und LDPD in den achtziger Jahren bis zum revolutionären Herbst 1989 in der DDR zu analysieren. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Stellenwert der Kontakte im Zeitverlauf. Zu prüfen ist vor allem, welche Absichten und Erwartungen sich auf beiden Seiten mit ihnen verbanden. Nur kurz wird darauf einzugehen sein, welche Auswirkungen der Dialog zwischen west- und ostdeutschen Liberalen auf ihre enge Zusammenarbeit und schließlich Fusion während der "Wende" und im Vorfeld der staatlichen Vereinigung hatte.7 Die Beziehungen dieser beiden Parteien zueinander8 zu untersuchen, erscheint vor allem deswegen besonders reizvoll, weil zum einen ihre historischen Wurzeln in die im Kaiserreich entstandene Parteienlandschaft zurückreichen und sie mithin ein gemeinsames Erbe verband; zum anderen können beide Parteien für sich in Anspruch nehmen, daß in den Jahren der Teilung "nirgendwo so relativ gute und kontinuierliche politische Verbindungen" 9 bestanden. Eingesehen werden konnten Überlieferungen der LDPD, in geringerem Umfang auch Akten aus der Hinterlassenschaft der SED. Die Aufzeichnungen, Berichte und Konzeptionen aus dem Fundus der DDR-Parteien, denen aufgrund ideologisch motivierter Stilisierungen generell mit Vorsicht zu begegnen ist, 10 werden ergänzt durch Aussagen bis 1990 führender LDPD-Funktionäre aus der Nach-"Wende"-Zeit. Dokumententeil bei Potthoff\ "Koalition der Vernunft", S. 94ff., zumal der Autor "korrespondierende Unterlagen und Notizen" (ebd., S. 91) - leider nur einiger - westdeutscher Gesprächspartner der SEDGeneralsekretäre Honecker und Krenz präsentieren kann. Ausschließlich Quellen aus der Hinterlassenschaft der DDR offeriert die Dokumentation von Nakath, Detlef/Stephan, Gerd-Rüdiger. Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980-1987, Berlin 1995, S. 43ff. Ohne Rückgriff auf Archivquellen urteilt Low, Verrat der Freiheit, über die Kontaktpolitik der Parteien beider deutscher Staaten, S. 66ff. (bes. S. 93ff. und 11 Iff.). 7
Vgl. hierzu Tessmer, Innerdeutsche Parteienbeziehungen, S. 172ff.
1 Seit 1987 war auch die Einbeziehung der parteinahen Friedrich-Naumann-Stiftungen in die Kontakte zur LDPD im Gespräch, sie wurde aber vor der "Wende" nicht Realität. Vgl. Notiz der Abteilung Internationale Arbeit des Partei vorstandes der LDPD über das Gespräch mit Torsten Wolfgramm (FDP) am 26. Oktober 1987, in: Archiv des Deutschen Liberalismus (im weiteren: ADL), LDPD 31736. 9 Manfred Gerlach: Mitverantwortlich. Als Liberaler im SED-Staat, Berlin 1991, 101. Wenn Gerlach davon spricht, daß FDP und LDPD "von ihrer Gründung an bis zu ihrer Vereinigung im August 1990 die einzigen Parteien - außer den Kommunisten - waren, die ständig Verbindung hielten" (ebd.), unterschlägt er allerdings, daß es zu Beginn der fünfziger Jahre, vor allem aber nach 1967 größere "Sendepausen" im Dialog von hüben nach drüben gegeben hat. Vgl. auch Gespräch mit Rudi Müller am 5. April 1995. Zur Geschichte der Kontakte zwischen beiden Parteien in der "Inkubationsphase der deutsch-deutschen Entspannung" vgl. Roger Engelmann: Brüchige Verbindungen. Die Beziehungen zwischen LDPD und FDP 1956-1966, in: ders./Paul Erker. Annäherung und Abgrenzung. Aspekte deutsch-deutscher Beziehungen 1956-1969, München 1993 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 66), S. 13ff. (Zitat: S. 13). 10 Vgl. Klaus-Dietmar Henke: Mielkes Geheimdienst war mehr als ein Spitzelapparat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Dezember 1993; Heinrich Potthoff : Zum Umgang mit Akten eines diktatorischen Systems, in: Deutschland-Archiv 27 (1994), S. 337ff.
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Die nach dem Bundesarchivgesetz übliche Sperrfrist von dreißig Jahren erschwerte den Zugang zu korrespondierenden Quellen der FDP. Einen gewissen Ausgleich dieser Asymmetrie verspricht die Befragung beteiligter Akteure aus den Reihen der bundesdeutschen Liberalen. 11 Die weitgehende Unzugänglichkeit entsprechenden Aktenmaterials zu Zeiten deutscher Zweistaatlichkeit, aber auch die nach Abschluß der Transformation des ostdeutschen Parteiensystems nachgeordnete Bedeutung von Ost-CDU und LDPD sowie der SED-Gründungen DBD und NDPD haben das Interesse an einer eingehenden Betrachtung ihrer Rolle auf der politischen Ebene deutsch-deutschen Miteinanders vergleichsweise schmal gehalten12 und auch zu manch falscher Einschätzung geführt. 13 Ausführlicher untersucht werden kann sie erst seit Öffnung der DDR11 Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Archivs des Deutschen Liberalismus in Gummersbach, vor allem Herrn Sandler, sowie der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv in Berlin für ihre freundliche Unterstützung. Mein Dank güt weiter dem ehemaligen Vorsitzenden der LDPD (1967-1990), Manfred Gerlach, dem Leiter der Abteilung "Internationale Arbeit" im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD (1958-1990), Rudi Müller, und dem Parteihistoriker Manfred Bogisch sowie dem langjährigen Vorsitzenden der FDPBundestagsfraktion, Wolfgang Mischnick, seinem Vize (1983-1990), Uwe Ronneburger, seinem persönlichen Referenten, Horst Dahlmeyer, und dem damaligen Leiter der Abteilung "Internationale Politik und internationale Beziehungen" beim Parteivorstand der FDP, Hans-Jürgen Beerfeltz, für ihre Bereitschaft, sich meinen Fragen zu stellen. Die Interviews mit den FDP-Politikern sind um so interessanter, als sie in drei unterschiedlichen Phasen der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte (vor dem Umbruch in der DDR, während der "Wende" und fünf Jahre nach der Vereinigung) geführt wurden. n Hingewiesen auf die Kontakte zwischen westdeutschen Parteien und den "befreundeten Parteien" der Einheitspartei haben vor 1989 z.B. Hans-Georg Fleck: Liberale an einen Tisch? Die Weimarer Gespräche zwischen FDP und LDPD im Oktober 1956, in: Deutschland-Archiv 20 (1987), S. 67ff.; Peter Juling: Dialog mit großen Pausen (FDP-LDPD), in: Liberal-Demokratische Korrespondenz, Sonderausgabe (Juli) 1975; ders.: Offen und überall mit der DDR reden, in: Liberal 24 (1982), S. 637ff. A m Rande wurden sie behandelt von Dietrich Staritz: Die National-Demokratische Partei Deutschlands. Ein Beitrag zur Untersuchung des Parteiensystems der DDR, Diss., Berlin 1968, S. 86ff.; Josef Haas: Die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD). Geschichte, Struktur und Funktion einer DDR-Blockpartei. Diss., Erlangen 1987, S. 150ff. (bes. S. 162ff.); Peter Joachim Lapp: Die "befreundeten Parteien" der SED. DDR-Blockparteien heute, Köln 1988, S. 108ff.; Michael Richter: Die Ost-CDU 1948-1952. Zwischen Widerstand und Gleichschaltung, 2., korrigierte Aufl., Düsseldorf 1991 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 19), S. 334ff.; Brocke, Deutschlandpolitische Positionen, S. 190ff.
In der DDR fand dieses Thema gleichfalls nur wenig Beachtung. Vorgelegt wurde aber immerhin eine Untersuchung, die sich explizit - wenn auch nur mit Bezug auf eine Partei und einen recht schmalen Zeitraum - diesem Problemkreis widmete. Vgl. Benno Götzke: Die Bemühungen der Parteien des Demokratischen Blocks für die friedliche Vereinigung beider deutscher Staaten auf demokratischer Grundlage und ihre Ausstrahlung nach Westdeutschland, dargestellt am Beispiel der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (Anfang 1950 bis Mitte 1951), Diplomarbeit, Berlin (Ost) 1968. Darüber hinaus streiften auch einige Dissertationen über das Verhältnis der SED zu ihren "Blockfreundinnen" deren gesamtdeutsches Engagement. Vgl. z.B. Monika Kaiser. Die Politik der SED zur Vertiefung der Zusammenarbeit mit den anderen Parteien der DDR im Rahmen des Demokratischen Blocks und der Nationalen Front vom V. Parteitag der SED bis zur Bildung des Staatsrates (Juli 1958 bis September 1960), Diss., Berlin (Ost) 1982, S. 48 ff. *Lapp irrt, wenn er für die Blockparteien feststellt: "Die 'Westarbeit' aller vier Blockparteien gegenüber der Bundesrepublik ist praktisch zum Erliegen gekommen, innerdeutsche Aktivitäten' der Block-
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Archive. Doch auch jetzt noch konzentriert sich das Interesse der Forschung weitgehend auf die Kontakte der und zu den ostdeutschen Kommunisten.14 Lediglich die Beziehungen zwischen LDPD und FDP in den fünfziger und sechziger Jahren sind bislang eingehender untersucht worden. 15 Diese Forschungslücke ist auch ein Resultat der Fixierung auf die auf der Regierungsebene angesiedelte "große Politik" und zugleich einer Fehleinschätzung dessen, was - namentlich nicht durch Regierungsverantwortung gebundene - Parteien auf dem Feld der innerdeutschen Beziehungen zu leisten imstande waren. 16 Der Bedeutung deutscher-deutscher Parteienbeziehungen im allgemeinen soll daher zunächst der Blick gelten.
B. Zum Stellenwert deutsch-deutscher Parteienbeziehungen Trotz der Auseinanderentwicklung der beiden deutschen Staaten und ihrer Parteiensysteme im Zuge der Ost-West-Spaltung Europas befanden sich die Parteien in Deutschland seit ihrer Wiederzulassung und Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg über die Zonengrenze und später über die deutsch-deutsche Grenze hinweg in Kontakt zueinander. Zwar waren die offiziellen Beziehungen immer wieder durch mehr oder weniger große Pausen unterbrochen, doch wurde diese "Brücke" auf der inoffiziellen Ebene17 nie ganz abgebrochen, selbst als die Entwickparteien sind heute (in den achtziger Jahren, CT) nicht mehr erwünscht." Lapp, Die befreundeten Parteien', S. 112. 14
Vgl. Anm. 6. Für die fünfziger und sechziger Jahre vgl. Paul Erker: "Arbeit nach Westdeutschland". Innenansichten des deutschlandpolitischen Apparates der SED 1959-1969, in: Engelmann/Erker, Annäherung und Abgrenzung, S. 133ff.; Michael Lemke: Eine neue Konzeption? Die SED im Umgang mit der SPD 1956 bis 1960, in: Jürgen Kocka (Hg.): Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993 (Zeithistorische Studien, Bd. 1), S. 36Iff.; ders.: Kampagnen gegen Bonn. Die Systemkrise der DDR und die West-Propaganda der SED 1960-1963, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993), S. 153ff.; Jochen Staadt: Die geheime Westpoliük der SED 1960-1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation, Berlin 1993; Carsten Tessmer: Zur Deutschlandpolitik und Westarbeit der DDR/UdSSR, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 3 (1995), S. 37 Iff. 15 Vgl. Engelmann, Brüchige Verbindungen, S. 13ff.; Siegfried Suckut: Die Gespräche zwischen FDP und LDPD im Jahre 1956 - Vorgeschichte, Verlauf, DDR-interne Erwartungen und Reaktionen, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 4 (1992), S. 85ff. 16 So hat etwa der zwischen SPD und SED getroffene "Rahmen für ein Abkommen zur Bildung einer von chemischen Waffen freien Zone in Europa" (vgl. Chemische Abrüstung. Modell für eine chemiewaffenfreie Zone in Europa. Ein von SPD und SED entwickelter Rahmen, in: Aktuelle Informationen der SPD [1985] 6), "wie Angehörige des Auswärtigen Dienstes bestätigen, die [entsprechenden] Verhandlungen in Genf beeinflußt". So Egon Bahr: Die Deutschlandpolitik der SPD nach dem Kriege, in: Ostund Deutschlandpolitik der SPD in der Opposition, S. 24. 17 "Eng an Vertrauenspersonen gebunden, [...] sind in diesem deutschlandpolitischen Vorfeld [...] jene Kanäle verankert, in denen - politisch zuweilen heikle - informelle Informationen fließen können sowie
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lung mit der Gründung der Bundesrepublik und der DDR die Hoffnungen auf eine schnelle Herstellung der staatlichen Einheit zunichte machte und in der Zeit des Kalten Krieges eine Art Kampfklima das gegenseitige Verhältnis prägte. Sei es über Mittelsmänner und -frauen aus Drittstaaten - die SPD nutzte z.B. ihre Verbindungen zu den italienischen Kommunisten - oder durch Begegnungen am Rande internationaler bzw. nicht-politischer Veranstaltungen - CDU-Mitglieder trafen sich mit Parteikollegen aus der DDR am Rande von Kirchentagen18 - hielt man die Verbindung zueinander aufrecht. Bis in die sechziger Jahre hinein stand die deutsche Frage im Vordergrund der deutsch-deutschen Parteiengespräche. 19 Seit der faktischen Anerkennung der Zweistaatlichkeit Deutschlands im Zuge der Neuen Ostpolitik stellten sie den Bereich dar, in dem der deutsch-deutsche Dialog in Phasen verschärfter Ost-West-Konfrontation bzw. stagnierender deutsch-deutscher Beziehungen oder in Zeiten der Unsicherheit über den deutschlandpolitischen Kurs der jeweiligen Regierung mit primär politischem Inhalt weitergeführt werden konnte. Besonders deutlich wurde dies zu Beginn der achtziger Jahre, als sowohl die Konfrontation zwischen den Supermächten einen neuen Höhepunkt erreichte wie auch die als "Wende" angekündigte Ablösung der sozialliberalen Koalition durch eine CDU/FDP-Regierung eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich des künftigen Bonner deutschlandpolitischen Kurses erzeugte. Schließlich hatten doch die Unionsparteien in den siebziger Jahren die um Entspannung bemühte Ost- und Deutschlandpolitik der Regierungen Brandt/Schmidt auf das Schärfste bekämpft. In der Tat waren die innerdeutschen Parteienbeziehungen mit Beginn des letzten Jahrzehnts in bis dahin unbekanntem [...] Plattformen installiert [sind], die dem mehr experimentellen, politisch-riskantem Gedanken- und Erfahrungsaustausch dienen." Brocke, Deutschlandpolitische Positionen, S. 190. w Vgl. z.B. Bericht über das Gespräch mit [Ernst Lemmer] am 7. Juli 1954 in Leipzig, in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik (im weiteren: ACDP) νΠ-013-3309. 19 Vgl. den Bericht über die Besprechungen zwischen Vertretern der LDPD und der FDP vom 20. bis zum 23. Juli 1956 in Garmisch-Partenkirchen sowie die Berichte über die Gespräche zwischen beiden Parteien vom4. bis zum7. Oktober 1956 in Weimar, in: ADL, LDPD, 31734. Sowohl der Generalsekretär als auch der Vorsitzende der LDPD sprachen sich in Briefen an FDP-Politiker dafür aus, diese "Besprechungen über den Weg zur demokratischen Wiedervereinigung Deutschlands [...] fortzusetzen." SoGerlach an Döring, 4. Dezember 1956, in: ebd.; vgl. auch Schreiben Lochs an Dehler, 12. Dezember 1956, in: ebd., 13478. Ebenso auf unterer Ebene hatte das Thema "Wiedervereinigung" Konjunktur: "Unsere Partei ist bemüht, die Verständigung der Deutschen untereinander zu fördern, um dadurch die friedliche Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu erreichen [...]." Brief des LDPD-Kreis Verbandes Mühlhausen/Thüringen an den Kreisverband Witzenhausen der Deutschen Jungdemokraten, 17. November 1956, in: ebd., 28853a. Auch die zehn Jahre später stattfindende Podiumsdiskussion zwischen beiden liberalen Parteien kreiste noch um die Frage der Wiedervereinigung, obwohl die offizielle Linie der SED-Politik bereits durch das Ziel völkerrechtliche Anerkennung der DDR bestimmt war. So erklärte der Erfurter LDPD-Bezirksvorsitzende Heinicke: "Wir sind der Meinung, wir sollten gemeinsam die Wiedervereinigung anpacken [...]." Gesamtdeutscher Disput in Bad Homburg. Wortlaut der Podiumsdiskussion zwischen FDP und LDPD am 31. März 1966. Hg. vom LDP-Bundesbeirat der FDP, Bonn 1966, S. 31.
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Maße intensiviert worden;20 wie für FDP und LDPD zu zeigen sein wird, handelte es sich dabei nicht nur um eine quantitative Steigerung, sondern auch um eine qualitative Neubestimmung des Parteiendialogs. Der Stellenwert der Parteikontakte ergab sich zudem aus der Bedeutung der ihn tragenden Parteien im jeweiligen politischen System: Auf der einen Seite die das politische Leben zwischen Rhein und Elbe beherrschenden bundesdeutschen Parteien21, die, egal ob in der Regierungsverantwortung oder in der Opposition, mittelbare Teilhaber an Macht und die bestimmenden Faktoren im Prozeß der politischen Willensbildung sind. Auf der anderen Seite die SED als - zumindest intentional alles bestimmende Kraft in der DDR sowie die Blockparteien als permanente Regierungsparteien, die trotz ihrer nur formalen Eigenständigkeit doch gewisse Einflußmöglichkeiten hatten. Die Bedeutung der Parteikontakte läßt sich aber auch an den beteiligten Akteuren ablesen, ließen es sich doch die Parteispitzen selbst nicht nehmen, den Dialog von hüben nach drüben und umgekehrt maßgeblich mitzugestalten. Dennoch war der Maßstab, den man in den bundesdeutschen Parteien anlegte, um die Substanz des deutsch-deutschen Parteiendialogs in den achtziger Jahren bis zum Umbruch in der DDR zu messen, in Erkenntnis des in der anderen deutschen Republik vorhandenen und immer wieder aktivierten Abgrenzungspotentials namentlich auch auf der Parteiebene bescheidener: Ihnen galt die Existenz des Kontaktes an sich als Wert selbst und das nicht nur im Sinne des in der Phase der erneuten Konfrontation der Supermächte verständlichen, wenn auch in der konkreten Situation sicherlich übertriebenen Diktums "Wer miteinander spricht, schießt nicht aufeinander". In diesem Sinne begriff man die Parteienbeziehungen in erster Linie als ein Mittel, um durch Kontakte die Gegenseite besser kennenzulernen und politische Voreingenommenheiten abzubauen. Es ging um: "Auflockerung, gegenseitige Besuche, die Möglichkeit, daß in den Delegationen, die (aus der DDR in die Bundesrepublik, CT) kamen, nicht nur SED-Leute waren, um mit den Kontakten auch eine gewisse Breitenwirkung zu erzielen." 22 FDP und LDPD konnten angesichts der eindeutigen Machtverteilung zugunsten der SED nicht "große Politik" machen. Doch trotz politisch wenig substantieller 20 Auch CDU und CSU unterhielten inoffizielle Beziehungen zur Union in der DDR. Vgl. die entsprechenden Materialien in: ACDP, VII-012-3456. Zu den Kontakten der Grünen zur DDR-Opposition vgl. Tessmer, Innerdeutsche Beziehungen, S. 127ff. 21
"In der Tat werden in der Bundesrepublik alle politischen Entscheidungen durch Parteien und ihre Vertreter getroffen; es gibt in der deutschen Demokratie keine politischen Beschlüsse von Bedeutung, die nicht an die Parteien herangetragen, von ihnen vorbereitet und schließlich von ihnen gefällt werden." Kurt Sontheimer: Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 12., völlig überarb. Aufl., München 1989, S. 176. 22
Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995.
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Ergebnisse stellten die Kontakte mehr dar als nur ein Mdeutschlandpolitische[s] Pfadfinderspiel". 23 Die Liberalen zwischen Elbe und Oder suchten, bei aller Abhängigkeit von den Vorgaben der kommunistischen Hegemonialpartei ihre Kontakte in die Bundesrepublik auch zur Steigerung des eigenen Ansehens und zur Erarbeitung größerer Spielräume zu nutzen. Für die Freien Demokraten war der Dialog mit der Ost-"Schwester" zum einen ein Mosaikstein im von ihr mitgetragenen Konzept "Wandel durch Annäherung",24 zum anderen bot er aber auch eine Möglichkeit, sich nach dem Ende der sozialliberalen Koalition 1982 als Garantin einer Fortsetzung des deutschlandpolitischen Entspannungskurses zu profilieren. Im folgenden sollen FDP und LDPD darauf befragt werden, was für sie über dieses allgemeine Motiv hinaus Anlaß für die Intensivierung ihrer deutsch-deutschen Kontakte zu Beginn der achtziger Jahre gewesen ist und welche Erwartungen sie im einzelnen damit verbanden. Von Interesse ist dabei vor allem die Frage nach Formen und Inhalten der Beziehungen, aber auch nach den Ergebnissen dieser besonderen deutsch-deutschen Kooperationsform. 25 Eine angemessene Beurteilung der Ursprünge des Parteiendialogs über den Eisernen Vorhang hinweg und der mit ihm verbundenen Erwartungen ist nur unter Berücksichtigung der Entwicklung der Ost-West-Beziehungen im Untersuchungszeitraum möglich. Sie soll zunächst dargestellt werden.
C. Die Kontakte zwischen FDP und LDPD in den achtziger Jahren I. Rahmenbedingungen Die internationale "Großwetterlage" mit ihren Implikationen für das deutschdeutsche Verhältnis bildete den Bezugsrahmen, in den die innerdeutschen Parteienbeziehungen bis zur Lösung der deutschen Frage, genauer eines Teilaspekts, der staatlichen Einheit, eingebettet waren. Sie wurde in den achtziger Jahren bestimmt durch einen radikalen "Klimaumschwung".
23 So das Urteil über die Gespräche 1956 von Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949-1957, Stuttgart 1981 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2), S. 311. 24 Die FDP habe ihre Beziehungen zur LDPD "in der Überzeugung" unterhalten, "daß der Zeitpunkt kommt, an dem eine Veränderung stattfindet." Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995. 25
Vgl. zu den verschiedenen Ebenen deutsch-deutscher Zusammenarbeit Manfred Rexin: Koexistenz auf deutsch. Aspekte der deutsch-deutschen Beziehungen; in: Gert-Joachim Glaeßner (Hg.): Die DDR in der Ära Honecker: Politik, Kultur, Gesellschaft, Opladen 1988 (Schriften des Zentralinstituts für Sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 56), S. 50ff.
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Die Wiederbelebung des Kalten Krieges im Zuge der sowjetischen Aufrüstung im Mittelstreckenbereich und des Nato-Doppelbeschlusses sowie nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan ging einher mit einer Veränderung der Nuklearstrategie beider Supermächte, die weniger auf die Abschreckungswirkung der Nuklearpotentiale baute, sondern vielmehr einen Atomkrieg, so er denn nicht zu vermeiden wäre, als "taktischen" begrenzen wollte. 26 Angesichts dieser Europäisierung des Atomkriegsrisikos kann es nicht verwundern, daß sich die europäischen Verbündeten Moskaus und Washingtons bei aller Loyalität gegenüber ihren Vormächten bemühten, den Dialog über die Blockgrenzen hinweg in Gang zu halten und den durch die Sprachlosigkeit zwischen den Supermächten entstandenen Schaden zu begrenzen. Nicht nur aufgrund ihrer Frontstellung im Ost-West-Konflikt gingen beide deutsche Staaten hier besonders engagiert zu Werke. Trotz dieser Konzentration der europäischen Entspannungsbemiihungen auf Bonn und Ost-Berlin wiesen die sicherheits- und vor allem deutschlandpolitischen Ansätze der maßgeblichen politischen Kräfte in beiden deutschen Staaten nicht über die Ebene nachbarschaftlicher Kooperation, etwa auf einen "Prozeß nationaler Angleichung",27 hinaus. Die Intensivierung des deutsch-deutschen Dialogs auf allen Ebenen zu Beginn der achtziger Jahre wurde vielmehr getragen von der Einsicht, daß es bei aller Unterschiedlichkeit, ja Gegensätzlichkeit der Gesellschaftssysteme gemeinsame Interessen gebe, die eine intersystemare Zusammenarbeit gebieten. Mit dem Amtsantritt Gorbatschows setzte sich diese Erkenntnis auch in der Außenpolitik der UdSSR durch. Dies ermöglichte eine Wiederannäherung zwischen den Supermächten. Im Zuge der fortschreitenden Entspannung zwischen Moskau und Washington geriet das deutsch-deutsche Verhältnis zunehmend in den Schatten der wiederbelebten Supermachtsbeziehungen. Dies lag vor allem daran, daß die DDR nur auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik mit dem "neuen Denken" in der Sowjetunion mithielt, aber im Bereich innerstaatlicher Politik weit hinter "perestrojka" und "glasnost" zurückblieb. Zwar geriet der innerdeutsche Dialog zunächst nicht ins Stocken, doch bot er immer weniger Ansatzpunkte für substantielle Verbesserungen im deutsch-deutschen Verhältnis: Während Gorbatschow sich (anders als seine Amtsvorgänger) dem mit der neuen Entspannungsphase wirksam werdenden, aus dem Legitimationsgefälle zwischen West und Ost resultierenden Reformdruck stellte und damit wesentlich zum Abbau des Ost-West-Konflikts beitrug, grenzte sich die DDR in "altbewährter" Manier nach Westen und angesichts 24 Vgl. Mathias Jopp/Berthold Meyer/Norbert Ropers/Peter Schlotter: Deutsch-deutsche Beziehungen im Ost-West-Konflikt: Beiträge beider deutscher Staaten zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung, in: Die beiden deutschen Staaten im Ost-West-Verhältnis. Fünfzehnte Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 1. bis 4. Juni 1982, Köln 1982, S. 24; ebenso Wilfried Loth: Europa zwischen den Weltmächten, in: ders.: Ost-West-Konflikt und deutsche Frage. Historische Ortsbestimmungen, München 1989, S. 199. 27 Wilfried von Bredow/Thomas Jäger: Die Stabilität der europäischen Staatenordnung und die nationale Einheit der Deutschen, in: Deutschland-Archiv 21 (1988), S. 752.
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der Demokratisierungsprozesse in der UdSSR, in Polen und Ungarn auch nach Osten ab. Doch, wie selbst Otto Reinhold feststellte, konnte der SED-Staat trotz seiner selbstgewählten Isolation den Legitimationsverlust kommunistischer Herrschaftssysteme um ihn herum und damit die faktische Auflösung des östlichen Bündnisses, in dem er in Krisenmomenten stets Halt gefunden hatte, nicht überleben.28 Die hier nur angedeutete Differenz der Legitimation politischer Herrschaft zwischen West und Ost 29 kam u.a. in der Unterschiedlichkeit der Parteiensysteme der Bundesrepublik und der DDR zum Ausdruck. Sie bildeten gewissermaßen den institutionellen Rahmen der Parteienbeziehungen. Der verfassungsmäßig garantierten Gleichheit politischer Parteien in der Bundesrepublik stand ein hierarchisch gegliedertes Parteiensystem in der DDR gegenüber: an dessen Spitze die allmächtige Staatspartei SED, dann die zu deren Transmissionsriemen degradierten Blockparteien (und Massenorganisationen) sowie schließlich, bereits außerhalb des offiziellen Systems, die "staatsfeindlichen" Oppositionsgruppen. Alle Parteikontakte von hüben nach drüben und umgekehrt standen unter dem Vorbehalt dieser Rangordnung des "sozialistischen Mehrparteiensystems". Sie schlug sich nicht nur in der Andersartigkeit des Selbstverständnisses der DDRParteien und ihrer faktischen Funktionen innerhalb des politischen Systems nieder, die den Parteiendialog zwischen West und Ost a priori nur oberhalb dieses Grunddissenses möglich machte. Darüber hinaus waren die West-Parteien, wollten sie mit den Kontakten greifbare Ergebnisse erzielen, "gezwungen", die führende Rolle der SED zu akzeptieren. Wer das, wie die Grünen, einige Sozialdemokraten und (noch weniger) Unionspolitiker nicht uneingeschränkt tat, 30 mußte mit Sanktionen rechnen. Die hierarchische Ordnung der Parteienlandschaft der DDR bestimmte selbst die Form der Kontakte, die von konspirativen Treffen mit Oppositionsgruppen über Arbeitsbesuche bei den Blockparteien bis hin zu stilvollen Empfängen durch die SED-Spitze reichte.
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Vgl. Otto Reinhold: 40 Jahre DDR, in: Einheit 44 (1989), S. 668; ders.: Die Gestaltung des entwickelten Sozialismus in Theorie und Praxis, in: ebd., S. 895f. 29 Vgl. Georg Brunnen Legitimitätsdoktrinen und Legitimierungsverfahren in östlichen Systemen, in: Peter Graf Kielmansegg/Ulrich Matz (Hg.): Die Rechtfertigung politischer Herrschaft. Doktrinen und Verfahren in Ost und West, Freiburg/München 1978, S. 155ff. 30 In den genannten Parteien gab es vereinzelt Politiker, die auch Beziehungen zu unabhängigen Gruppen der DDR-Friedens-, Menschenrechts- und Umweltbewegung unterhielten. Für Bundespartei und Bundestagsfraktion der FDP konnte eine einschlägige Studie solche Kontakte nicht nachweisen. Vgl. Wilhelm Knabe: Westparteien und DDR-Opposition. Der Einfluß der westdeutschen Parteien in den achtziger Jahren auf unabhängige politische Bestrebungen in der ehemaligen DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland". Hg. vom Deutschen Bundestag, Bd. 7/II, Baden-Baden/Frankfurt a.M. 1995, S. l l l O f f . (zur FDP: S. 1174ff.).
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Allerdings bleibt festzuhalten, daß das ostdeutsche Parteiensystem in den achtziger Jahren durchaus in Bewegung geriet, sich mit Blick auf die Gorbatschowschen Reformen in der UdSSR, aber auch unter Berufung auf die von der SED im Streitpapier mit der SPD gemachten Zusagen namentlich in der LDPD Tendenzen zeigten, die "Vormundschaft" der SED abzustreifen und einen eigenständigeren Beitrag zur Gestaltung der Staatstätigkeit zu leisten.31 Dies galt auch bis zu einem gewissen Grade für die Ausgestaltung der Beziehungen der Liberal-Demokraten zu ihrer bundesdeutschen "Schwesterpartei". Allerdings war der Dialog zwischen FDP und LDPD bei weitem nicht so politisch substantiell wie die SPD-SED-Kontakte. Dies lag schon daran, daß die LDPD im politischen System der DDR nur eine Partei zweiter Ordnung war, allenfalls dazu "berechtigt", die Politik der SED zu unterstützen. Das, was diese Kontakte jedoch auszeichnet, ist ihre lange Geschichte, auch wenn sie immer wieder durch Pausen unterbrochen wurden. Ihr gilt daher zunächst die Aufmerksamkeit.
Π. Dialog mit großen Pausen? Zur Geschichte der Beziehungen zwischen FDP und LDPD Die Geschichte der Beziehungen zwischen West- und Ost-Liberalen reicht zurück bis zur Entstehung beider Parteien unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie waren ursprünglich geprägt von dem gemeinsamen Bemühen, über die Zonengrenzen hinweg Zusammenarbeit mit dem Ziel zu organisieren, eine gesamtdeutsche liberale Partei ins Leben zu rufen. In der Tat gelang es im Nachkriegsdeutschland einzig den Liberalen, dieses Ziel mit Gründung der Demokratischen Partei Deutschlands (DPD) 1947 zu realisieren. Die DPD krankte jedoch von Anbeginn nicht nur an eklatanten organisatorischen Schwächen und fehlenden, für alle Unterorganisationen verbindlichen programmatischen Aussagen,32 die eine Fortsetzung der Zersplitterung des deutschen Liberalismus nach dessen organisatorischer Fusion in programmatisch-regionale Fraktionen hätten verhindern können. Zusätzlich erschwerten eklatantes Mißtrauen zwischen west- und ostdeutschen Liberalen sowie
31 So erinnert sich der damalige LDPD-Chef Gerlach an eine Unterredung mit dem für die Blockparteien zuständigen Abteilungsleiter im ZK der SED, Karl Vogel, aus dem November 1987: "Es ging um innenpolitische Freiräume. Das 'neue Denken' Gorbatschows und das SED/SPD-Papier hätten doch Auswirkungen nach außen und nach innen. Deshalb, so begann ich die Darlegung meiner Forderungen, müsse die LDPD in die Vorbereitung von Entscheidungen auf allen Ebenen stärker einbezogen werden. [...] Schließlich sei die Ausdehnung der internationalen Arbeit vonnöten." Gerlach, Mitverantwortlich, S. 201. Tatsächlich war der LDPD-Vorsitzende bei aller ihm bescheinigten Loyalität zur DDR im Apparat der Staatspartei seit langem "dafür bekannt [...], daß er immer offen seinen Standpunkt darlegt". So die damalige Leiterin der ZK-Abteilung Befreundete Organisationen, Köhler, am 15. Januar 1962 an Ulbricht, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv (im weiteren: SAPMO-BArch), DY 30/IV 2/15/2. 32
Vgl. Gespräch mit Manfred Gerlach am 30. März 1995.
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eine eher "restriktive Tolerierung" 33 durch die Besatzungsmächte das Dasein der gesamtdeutschen Partei. Der schnelle Bruch der DPD ein Jahr nach ihrer Gründung war mithin nicht nur eine Folge des aufbrechenden Ost-West-Konflikts und einer entsprechenden Poliük der Besatzungsmächte, sondern auch eine Konsequenz aus parteiinternen Unzulänglichkeiten und unterschiedlichen, namentlich deutschlandpolitischen, Vorstellungen sowie daraus abgeleiteter politischer Kalküle ihrer einzelnen Verbände. 34 Nach Büdung beider deutscher Staaten und Umwandlung der LDPD in eine SEDtreue Blockpartei wehrten die Freien Demokraten zunächst jeden Annäherungsversuch der DDR-Liberalen ab. "Mit Leuten, die Jahr und Tag zum Willensvollstrecker fremder Machthaber wurden und sich damit gegen Deutschland entschieden, haben wir nichts zu tun." 35 Zeigte man den Liberal-Demokraten auch nach außen hin die kalte Schulter, so gab es aber doch immer auch FDP-Mitglieder - etwa Thomas Dehler oder Wolfgang Döring -, die einen Dialog mit der LDPD befürworteten. Sie waren maßgeblich mit dafür verantwortlich, daß man 1956 - sowohl auf zentraler als auch auf mittlerer und unterer Ebene36 - gezielt Kontakt zur LDPD suchte, die sich mit Billigung der SED (und Moskaus) gesprächsbereit zeigte. Entscheidend für den Vorstoß der FDP war zum einen, daß der Bruch 1948 und die Auseinanderentwicklung beider Parteien nicht so schmerzhaft gewesen waren, als daß man auf eine erneute Annäherung zumal im Dienste der deutschen Einheit verzichten wollte. Zum anderen suchten die in die Opposition geratenen bundesdeutschen Liberalen, sich unter dem Eindruck der forschen Westpolitik Adenauers als Garanten der deutschen Einheit zu profilieren. Die Kontakte zur liberalen "Schwester" in der DDR galten ihnen als Mittel, nach außen hin ihr Festhalten an der staatlichen Einheit zu demonstrieren, sowie als praktiziertes Beispiel deutsch-deutschen Miteinanders. Ihre ostdeutschen Gegenüber verfolgten die Absicht, "die westdeutschen Gesprächspartner mit dem einzig möglichen Weg zur Wiedervereinigung (Regierungserklärung) vertraut" zu machen "mit dem Ziel, daß sie sich in den ihnen zugängigen [sie] Kreisen für die Verwirklichung dieser nationalen Forderung einsetzen."37 In der Tat ging es in den 1956 stattgefun-
33 Manfred Koch/Werner Müller/Dietrich Staritz/Siegfried Suckut: Versuch und Scheitern gesamtdeutscher Parteibildungen 1945-1948, in: Die beiden deutschen Staaten im Ost-West-Verhältnis, S. 104. 34
Vgl. ebd., S. 105ff.
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So der FDP-Vorsitzen de Franz Blücher 1952, zitiert nach: Juling> Offen und überall mit der DDR reden, S. 643. 36 Vgl. Zusammenstellung des Sekretariats D über Verbindungen auf mittlerer und unterer Ebene zwischen FDP und LDPD nach dem Stand vom 23. November 1956, in: A D L , LDPD 28821. 37
S. 1.
Vgl. Plan für die Westarbeit der LDPD im Jahre 1956, 9. Dezember 1955, in: A D L , LDPD 28819,
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denen Treffen - offiziell nennt die FDP nur die Weimarer Begegnung38 - darum zu prüfen, ob offizielle Beziehungen zwischen beiden Parteien aufgenommen werden konnten und "ob es [...] gemeinsame Berührungspunkte [gab]". 39 Themen der Gesprächsrunden waren Möglichkeiten zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit und Vorstellungen über die Ausgestaltung des politischen Systems eines zukünftigen Gesamtdeutschlands, aber auch vor dem Hintergrund der Remilitarisierung der Bundesrepublik und der Aufrüstung in beiden deutschen Staaten Fragen der Rüstungsbegrenzung. Daß man über das Stadium des Meinungsaustausche - im Vergleich zur sonst vorherrschenden deutsch-deutschen Sprachlosigkeit in der Ära Adenauer war dies allerdings schon unerhört viel - nicht hinauskam, lag an den "stark [divergierenden] Auffassungen in Fragen der geistigen und politischen Grundlagen der Parteien.40 [... Dennoch] ergab sich eine Reihe gemeinsamer Vorstellungen über praktische Wege zur Förderung der Wiedervereinigung. [...] In diesem Zusammenhang kamen die Vertreter beider Parteien überein, den öffentlichen Meinungsaustausch zwischen beiden Teilen Deutschlands über die inneren Voraussetzungen der Wiedervereinigung zu unterstützen."41 Einen von der FDP in diesem Sinne vorgeschlagenen Redneraustausch hatte die LDPD auf Drängen der SED jedoch abzulehnen. Tatsächlich sahen sich die Liberal-Demokraten heftiger Kritik ausgesetzt und mußten ihre Pläne für eine Fortsetzung der Gespräche mit der West-"Schwester" * So heißt es etwa bei Juling (ebd.): "Geradezu über Nacht kam es auf Initiative der LDPD zu einem erneuten gesamtdeutschen Gespräch. A m 7. Oktober 1956 sprachen in Weimar drei Vertreter der FDP [...] mit drei Vertretern der LDPD [...]." In Wirklichkeit ging der unmittelbare Anstoß von der FDP aus. Wolfgang Döring war im Frühsommer zwei Mal in der LDPD-Zentrale in Ost-Berlin gewesen, um eine Kontaktaufnahme zu forcieren. Zudem war den Gesprächen in Weimar bereits eine Begegnung im Juli 1956 in Garmisch-Paitenkirchen vorangegangen, auf der das Treffen in der Goethe- und Schiller-Stadt vereinbart wurde. Vgl. Bericht über die Besprechungen zwischen Vertretern der LDPD und der FDP vom 20. bis zum 23. Juli 1956 in Garmisch-Partenkirchen, in: ADL, LDPD, 31734; Aktennotiz des Sekretariats der Parteileitung der LDPD für Gerlach, 24. Juli 1956, in: ebd., 5422/1; Gespräch mit Manfred Gerlach am 30. März 1995; Gerlach, Mitverantwortlich, S. 90ff.; Engelmann, Brüchige Verbindungen, S. 20ff. Beide Begegnungen in Berlin sowie die in Gartnisch fehlen auch in der von der FDP herausgegebenen Chronik ihrer Deutschlandpolitik sowie in einer Auflistung Mischnicks. Vgl. Deutschlandpolitik der FDP. Hg. von der Bundesgeschäftsstelle der FDP, Bonn 1972, S. 7; Wolfgang Mischnick. "Niemals, niemals!" Deutsch-deutscher Dialog der Liberalen. Masch., o.O.u. J. (1994). Das Manuskript wurde dem Verfasser freundlicherweise vom Büro Mischnick zur Verfügung gestellt. 39 Bericht über die Besprechungen zwischen Vertretern der LDPD und der FDP vom 20. bis zum 23. Juli 1956 in Garmisch-Partenkirchen, in: ADL, LDPD, 31734, S. 33. 40 "Döring warf (an die LDPD-Vertreter gewandt, CT) dazwischen: 'Wo ist eigentlich in ihrer politischen Haltung der Begriff liberal gerechtfertigt? Ihre Auffassung von der Wirtschaftsform hat mit liberal nichts mehr zu tun.' [...] Wir (die LDPD-Vertreter, CT) wiesen daraufhin, daß [...] wir die Bindung des Begriffes liberal an das kapitalistische System entschieden ablehnen, worauf Döring dazwischen warf: 'Dann sind Sie also Liberalsozialisten.'" Kurz-Bericht über die offiziellen Gespräche vom 4. bis zum 6. Oktober 1956 zwischen Vertretern von FDP und LDPD in Weimar, 6. Oktober 1956, in: ADL, LDPD, 31734, S. 6. 41
So das in Weimar verabschiedete gemeinsame Kommuniqué, zitiert nach: ebd., S. 1.
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zurückstutzen.42 Ebenso geriet die Dialogpolitik der FDP vor dem Hintergrund der Ungarn-Krise unter Druck. Dies galt um so mehr, als auch Vertreter der LDPD den Einsatz der Sowjetarmee zur Niederschlagung der Reformbewegung begrüßt hatten.43 Eine Fortsetzung der Gespräche wurde zunächst auf Eis gelegt. Mit der Rückkehr der FDP in die Bundesregierung 1961 und der damit verbundenen Festlegung auf die auf Abgrenzung abzielende deutschlandpolitische Linie Adenauers schrumpfte ihr Spielraum für eine eigenständige Dialogpolitik gegenüber der DDR weiter. Zwar wurden die Gespräche nie durch einen Beschluß des Parteivorstandes der Freien Demokraten abgebrochen, aber offizielle Kontakte galten vorerst als ausgeschlossen. Allerdings kann von einer "großen Pause", anders als die "FDP-Geschichtsschreibung" suggeriert, 44 im Dialog zwischen Freien und LiberalDemokraten keine Rede sein. Auf inoffizieller Ebenerissen die Beziehungen nicht ab, allenfalls kleinere Unterbrechungen - etwa nach dem Bau der Mauer 1961 waren hier zu verzeichnen.45 Zu einem offiziellen Gespräch zwischen Vertretern beider Parteiführungen kam es im März 1966 in Bad Homburg. "Zur Unterstützung der nationalen Mission der DDR [...] unter [...] Führung der Partei der Arbeiterklasse", 46 d.h. als flankierende Maßnahme zum offenen Brief der SED an die SPD und den von beiden Arbeiterparteien anvisierten Redneraustausch, intensivierte die LDPD 1966 ihre Bemühungen, Kontakte zu den bundesdeutschen Liberalen herzustellen. Der LDPD - und der SED im Hintergrund - ging es dabei um "die direkte Einflußnahme auf Kreise der FDP, einschließlich maßgeblicher Politiker der FDP-Führung, zur Erläuterung und Verbreitung der im offenen Brief enthaltenen Grundfragen unserer Nation", 47 sprich 42 Vgl. Stenografische Niederschrift (unkorrigiert) der Sitzung des Blocks der antifaschistisch-demokratischen Parteien und Massenorganisationen, in: BArch, Abteilungen Potsdam, DZ-3/20, Bl. 152ff. Zu den Vorhaben der LDPD vgl. Entwurf des Rahmenarbeitsplans für das 1. Halbjahr 1957. Vorlage für die Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstands am 17. Dezember 1956, in: ADL, LDPD 20000. 43 Vgl. Bericht Werthmanns über sein Gespräch mit Döring am 19. Dezember 1956, in: ADL, LDPD, 31734, S. 2f. 44 Vgl. Juling, Dialog mit großen Pausen, S. 1; ders., Offen und überall mit der DDR reden, S. 644; Deutschlandpolitik der FDP, S. 8; Wolf gang Mischnick: Deutschlandpolitik bleibt zähflüssiger Prozeß; in: Liberal 28 (1987), S. 4. 45 Vgl. Engelmann, Brüchige Verbindungen, S. 49ff.; Gespräch mit Rudi Müller am 5. April 1995; Einige Aspekte in der Geschichte der Kontakte zwischen der LDPD und der FDP (undatiert), in: ADL, LDPD 31511, S. 2. 46 Konzeption des Sekretariats des Zentralvorstands der LDPD über die weitere Westarbeit der LDPD (Beschluss Nr. 7/66 des Politischen Ausschusses vom 8. Februar 1966), 10. Februar 1966, in: ebd., 31734, S. 2. 47 Diskussionsgrundlage für die Aussprache am 14. März 1966 über eine Sekretariatsvorlage für Maßnahmen zur Unterstützung des offenen Briefs des ZK der SED an die westdeutsche Sozialdemokratie (undatiert), in: ebd., S. 1.
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der deutschlandpolitischen Vorstellungen der SED-Führung in Ost-Berlin. Durch gezielte Ansprache einzelner, als "realistisch denkend" eingestufter FDP-Politiker sowie durch Kontaktaufnahme mit Landes-, Bezirks- und Kreisverbänden suchte man, den 'Differenzierungsprozeß innerhalb der FDP einerseits und der FDP gegenüber den Ultras (gemeint waren CDU und CSU, aber auch Teile der SPD, CT) andererseits [sowie...den] Erkenntnisprozeß über die einzig gangbare Lösung der nationalen Frage auf der Grundlage der Vorstellungen der Regierung der DDR" 4 8 zu fördern. Insofern war es auch nicht "bemerkenswert", wie Juling meint, wenn in Bad Homburg die Vertreter der LDPD von "Wiedervereinigung auf demokratischer, auf friedlicher Grundlage"49 sprachen. Dies entsprach durchaus der Diktion der Einheitssozialisten. Bemerkenswerter waren hingegen Äußerungen zum Procedere der Wiedervereinigung. Die Forderung, daß sich beide deutsche Staaten "einander angleichen müssen", die Zustimmung zu gesamtdeutschen "technischen" Kommissionen und die Befürwortung gesamtdeutscher Wahlen auf der Grundlage des Wahlgesetzes der Weimarer Republik standen kaum mehr im Einklang mit dem deutschlandpolitischen Konzept der DDR-Staatspartei und den eigenen Vorgaben. 50 Inwieweit sie tatsächlich auf von der SED-Linie abweichende deutschlandpolitische Vorstellungen der Liberal-Demokraten hinweisen, bleibt zweifelhaft. Deutlich wurde jedoch, daß die LDPD wesentlich aufgeschlossener und mit mehr Nachdruck das Gespräch mit dem Westen suchte als die Kommunisten. Trotz massiver Kritik am Auftreten der ostdeutschen Liberalen gegenüber dem "Klassenfeind" 51 aus der Bundesrepublik war sie gewült, in erster Linie zur Steigerung des eigenen Ansehens in der DDR den Dialog fortzusetzen. 52 Nach dem Scheitern des RedneraustauschProjekts zwischen SED und SPD war dafür jedoch kein Spielraum mehr vorhanden. Dies galt um so mehr, als der VU. SED-Parteitag 1967 in Reaktion auf die flexiblere Ost- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition in Bonn die bis dahin in verschiedenen Varianten verfolgte gesamtdeutsche Strategie endgültig zu Grabe trug. Die Ost-Liberalen machten den Schwenk der Staatspartei mit und setzten wie die
48
Ebd., s. 4.
49
Heinicke, zitiert nach: Gesamtdeutscher Disput, S. 6.
50
Ebd., S. 6, 9f. und 36.
51
Ulbricht selbst kritisierte, daß "die Erfurter LDPD-Vertreter [...] einen uns unverständlichen Standpunkt vertraten", und verfugte eine strenge Genehmigungspflicht für die "Weiterführung des Gesprächs von Blockparteien mit westdeutschen Parteien". Mitteilung Ulbrichts an Norden, 2. April 1966, in: SAPMO-BArch, NL Ulbricht NY 4182/1305, Bl. 68f.; vgl. Information Heinickes über ein Gespräch mit dem Ersten Sekretär der Bezirksleitung der SED, Bräutigam, (undatiert), in: ADL, LDPD 28822. 52 Vgl. Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995; Gespräch mit Manfred Gerlach am 30. März 1995; Mitteilung Köhlers an Matern, 15. Oktober 1966, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV A 2/15/4.
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SED verstärkt auf "klare und konsequente Abgrenzung" 53 (sowie forcierte Integration in den sozialistischen Block). Gesamtdeutsches hatte weder in Rhetorik noch in Programmatik oder der politischen Praxis der DDR Platz. Die Westarbeit der Blockparteien wurde erheblich reduziert, Gesprächswünsche aus dem Westen galt es zurückzuweisen;54 nach dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker 1971 beschränkte man sich in den "befreundeten Parteien" auf Geheiß von oben fast ausschließlich auf die bloße Beobachtung und Deutung der Politik der einstigen Gesprächspartner. Tatsächlich ist zwischen der LDPD und der FDP, den beiden (bis dahin) wohl dialogfreudigsten deutsch-deutschen "Schwester"-Parteien, zwischen 1971 und 1982 nur ein Treffen aktenkundig. Diese eine Begegnung zwischen Wolfgang Mischnick und Manfred Gerlach am 31. Mai 1973 scheint darüber hinaus auch nur deswegen zustande gekommen zu sein, weil sie westdeutsche Vorbedingung für das Treffen des Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfraktion und seines Amtskollegen von der SPD, Herbert Wehner, mit Erich Honecker Ende Mai 1973 war. 55 Anders als der interne Bericht und die Veröffentlichung über dieses Gespräch vermuten lassen,56 wurde "dabei [ebenso! die Frage angesprochen [...], ob man denn nicht versuchen könnte, im Gespräch zu bleiben."57 Auch die LDPD war wohl weiteren Gesprächen auf zentraler Ebene nicht abgeneigt, allein sie durfte nicht.58 Erst zu Beginn der achtziger Jahre, parallel zur Intensivierung der Beziehungen zwischen SED und SPD, entspannte sich auch das Verhältnis zwischen west- und ostdeutschen Liberalen. Vor dem Hintergrund der Wechsel vollen Geschichte der 53
So Gerlach, zitiert nach: Einschätzung der 12. Sitzung des Zentralvorstandes der LDPD am 12. Januar 1971, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV A 2/2028/64. 54 "In dem Falle, daß Vertreter der FDP das Gespräch mit uns (LDPD, CT) suchen, ist klar herauszuarbeiten, daß es keine Gemeinsamkeiten zwischen der LDPD und der FDP gibt, daß in der gegenwärtigen Situation gemeinsame Aussprachen oder Diskussionen unmöglich sind." Umlaufvorlage des Sekretariats des Zentralvorstands der LDPD, 24. Februar 1967, in: ADL, LDPD 28708. 55 Vgl. Klaus Wiegrefe/Carsten Tessmer: Deutschlandpolitik in der Krise. Herbert Wehners Besuch in der DDR, in: Deutschland-Archiv 27 (1994), S. 607 (Anm. 55). 56 "Wir haben also mit Wolfgang Mischnick keine Parteiengespräche geführt. Unser Meinungsaustausch - ein Treffen zwischen Politikern von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, wie sie bei uns fast täglich stattfinden - war ganz normal; in diesem Fall sozusagen ein Vorgriff auf den Grundlagenvertrag, nachdem ohnehin Konsultationen über Fragen von beiderseitigem Interesse, insbesondere über solche, die für die Sicherung des Friedens in Europa von Bedeutung sind, durchgeführt werden sollen." So Manfred Gerlach, zitiert nach: Auch wir trugen bei zur guten DDR-Bilanz, in: Der Morgen vom 6. Juni 1973; Ausfuhrungen Wolfgang Mischnicks im Gespräch mit Dr. Manfred Gerlach beim Zentralvorstand der LDPD, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV Β 2/2028/28, Bl. 60ff. Gerlach hatte seinen Gesprächspartner davon unterrichtet, daß in der Verlautbarung nicht von Parteigesprächen die Rede sein werde. Vgl. Gespräch mit Manfred Gerlach am 30. März 1995 sowie Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995. 57
Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995.
51 Vgl. Mitteilung der ZK-Abteilung Befreundete Parteien an Norden, 28. März 1974, sowie die hs. Notiz dazu, 1. April 1974, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV Β 2/2028/28, Bl. 76f.
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Beziehungen zwischen FDP und LDPD stellt sich zunächst hier die Frage nach den Motiven für die neue Dialogbereitschaft beider Parteien. Im folgenden soll daher versucht werden, die deutschlandpolitischen Interessenlagen der LDPD/DDR 59 und der FDP in den achtziger Jahren nachzuzeichnen.
ΙΠ. Die Interessenlagen von LDPD/DDR und FDP in den achtziger Jahren 1. Die Sicherheits- und Deutschlandpolitik der DDR: Verantwortungsgemeinschaft und Neues Denken
In der DDR löste die mit dem NATO-Nachrüstungsbeschluß und dem Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan 1979 einsetzende Verschärfung des Ost-WestKonflikts verstärkte Bemühungen aus, zumindest im deutsch-deutschen Verhältnis einen Rückfall in die Zeit des Kalten Krieges zu verhindern und "den (durch die Verschlechterung des internationalen Klimas entstandenen, CT) Schaden möglichst zu begrenzen [...]." 60 Bedeutete dies für ihre Westpolitik zunächst vor allem die Bewahrung der bewährten Handlungsmuster der antagonistischen Kooperation, suchte sie schließlich vor allem unter dem Eindruck des Bahrschen Konzepts der gemeinsamen Sicherheit61 - nach einer Neufassung ihres sicherheits- und damit auch deutschlandpolitischen Ansatzes, der den Bedingungen des "nuklear-kosmischen Zeitalters" Rechnung tragen sollte. Die DDR-Führung ging von einer für die Menschheit "einzigartigen existentiellen Scheidewegsituation"62 aus, die durch die Anhäufung und Perfektionierung (in ihren Auswirkungen) kaum noch kontrollierbarer nuklearer Waffensysteme entstanden
59 Da die LDPD nach eigenem Bekunden auch auf diesem Politikfeld (nicht einmal unwillig) der großen Linie der SED folgte - "Praktisch waren die Westarbeit, die gesamtdeutschen Initiativen und Deutschlandpolitik der LDP immer nur ein Teil der Konzeption der SED" (Gespräch mit Manfred Gerlach am 30. März 1995) -, werden deren deutschlandpolitische Positionen in den achtziger Jahren kurz vorgestellt Soweit eigene Interessen der Liberal-Demokraten am Dialog mit den West-Liberalen zu erkennen sind, werden sie im Abschnitt C.IV. behandelt
"SoErich Honecker vor dem ZK der SED, zitiert nach: In kampferfüllter Zeit setzen wir den bewährten Kurs des X. Parteitages für Frieden und Sozialismus erfolgreich fort, in: Neues Deutschland vom 26.121. November 1983. 41 Vgl. Egon Bahr/Dieter S. Lutz (Hg.): Gemeinsame Sicherheit. Idee und Konzept, Bd. 1, BadenBaden 1986 (Militär, Rüstung, Sicherheit, Bd. 40).
® Max Schmidt/Wolfgang Schwarz: Frieden und Sicherheit im nuklear-kosmischen Zeitalter, Teil I, in: IPW-Berichte (1986) 9, S. 1; vgl. zu den Bestimmungsfaktoren dieser "prinzipiell neuen Situation" ebd., S. 2ff. (Zitat aus: Otto Reinhold: Den Frieden miteinander sichern, in: Horizont [1986] 4, S. 3).
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war und es folglich notwendig machte, "daß sich alle, die das Abgleiten der Menschheit in eine nukleare Katastrophe verhindern wollen, zu einer Koalition der Vernunft zusammentun sollten, um beruhigend auf die internationale Lage einzuwirken." 63 Im Vordergrund dieses Neuen Denkens in Kategorien einer intersystemaren "Koalition der Vernunft" oder auch "Verantwortungsgemeinschaft" stand die Erkenntnis, daß sich (angesichts der Gefahr der Selbstvernichtung) jegliche Politik dem Interesse der Friedenswahrung und der Lösung anderer globaler, friedensgefährdender Probleme unterzuordnen habe. Wandte man sich Ende der siebziger Jahre in der DDR noch gegen die Auffassung, "der Raketenkernwaffenkrieg wäre auch keine Fortsetzung der Politik der kämpfenden Klasse mehr, sondern nur noch atomares Inferno", 64 schied mit der Wahrnehmung und Akzeptanz "klassenunabhängiger", existentieller Überlebensinteressen der gesamten Menschheit Krieg als Mittel des internationalen Klassenkampfes und der Politik absolut aus. In der Tat wandelte sich das bis dahin eher konfrontative Verständnis von "friedlicher Koexistenz" zu einer eher auf Kooperation abzielenden Konzeption des Nebeneinanders von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen. "Ein Export der sozialistischen Revolution war, ist und bleibt für Marxisten-Leninisten absolut ausgeschlossen."65 Der Antagonismus der Systeme als bislang bestimmendes Element kommunistischer (Außen-)Politik sollte damit hinter einen globalen, auf Zusammenarbeit angelegten Denk- und Handlungsansatz von Politik zurücktreten, ohne ihn deswegen aber als hinfällig zu betrachten. Vielmehr sollten die nach wie vor weiter bestehenden ideologischen Unterschiede und Gegensätze in einem friedlichen Systemwettbewerb namentlich im Bereich der Ökonomie ausgetragen werden. "Es kann keinen Zweifel geben, daß im Kampf zwischen Sozialismus und Imperialismus [...] der siegen wird, der in der Lage ist, die gesellschaftlichen Probleme der wissenschaftlichen Revolution, die Probleme der Zukunft des ganzen Volkes, im Interesse der Menschen zu lösen."66 Im Zentrum dieser neu bestimmten Sicherheits- und Außenpolitik der DDR stand die Bundesrepublik. Sie wurde damit zum Hauptadressaten für "Koalitionsvor63 Schreiben Erich Honeckers an Bundeskanzler Helmut Kohl, in: Neues Deutschland vom 10. Oktober 1983. 64 So der damalige DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoff mann 1978, zitiert nach: Christiane Rix: Neue Ansätze in der Sicherheitspolitik der DDR, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (1987) 8, S. 752. 65 Reinhold, Frieden sichern, S. 4. Allerdings muß man das "war" in Reinholds Aussage bezweifeln; ansonsten wurde ihre Richtigkeit für die Gegenwart (und Zukunft) auch durch das Fehlen des früher bei Definitionen von "friedlicher Koexistenz" üblichen Merkmals "wichtige Form des internationalen Klassenkampfes" in entsprechenden Publikationen bestätigt. Vgl. z.B. die letzte Ausgabe des Kleinen Politischen Wörterbuchs. Neuausgabe 1988, Berlin (Ost) 1989, S. 295ff. 66 So Otto Reinhold 1985, zitiert nach: Rudolf Horst Brocke/Clemens der Systemkonkurrenz; in: Glaeßner (Hg.), Ära Honecker, S. 171.
Burrichter:
"Neues Denken" in
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schlage" aus Ost-Berlin. Dies gilt um so mehr, als die drei Komponenten Neuen Denkens, nämlich "Kooperation", "Wettbewerb" und "ideologische Auseinandersetzung", durchaus auch den deutschlandpolitischen Interessen der SED entsprachen. Zum einen garantierten sie die Fortsetzung der deutsch-deutschen Zusammenarbeit mit ihren positiven Implikationen für Wirtschaft und Handel der DDR, zum zweiten stellten sie die von bundesdeutscher Seite angemahnte Lösung der offenen deutschen Frage hintan und zum dritten eröffneten sie die, wenn auch in ferner Zukunft angesiedelte Perspektive, über den Systemwettbewerb, den man ja zu gewinnen trachtete, dem Tag nahezukommen, "an dem die Werktätigen der Bundesrepublik an die sozialistische Umgestaltung der Bundesrepublik Deutschland gehen".67 Daß - neben der westdeutschen Sozialdemokratie - namentlich die FDP als besonders "koalitionsfähig" angesehen wurde, hing zum einen mit nahezu deckungsgleichen sicherheitspolitischen Interessen zusammen. Zum zweiten galt der OstBerliner Spitze "die Beteiligung der FDP an der neuen Koalition in Bonn stets als ein stabüisierendes Element für die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten".68 Obgleich die Staats- und Parteiführung jenseits der Elbe hinter der Ost- und Deutschlandpolitik der Liberalen oft nur Profilierungssucht vermutete,69 war sie dennoch gleichermaßen bestrebt, den Dialog mit den Freien Demokraten auch als ein Mittel zu nutzen, Einfluß auf deren Meinungsbildung und damit auf die Entscheidungsfindung innerhalb der Bundesregierung auszuüben: "Kontakte und politischer Dialog mit den Koalitionsparteien sind zielstrebig weiterzuentwickeln. Dabei kommt den Kontakten mit führenden Vertretern der FDP, insbesondere mit Genscher, Bangemann und Mischnick besondere Bedeutung zu." 70 Daß sich die andere deutsche Republik dialogbereit zeigte, begründete sich auch durch das ihrer Friedenspolitik, zumal wenn sie auf deutsch-deutscher Ebene angesiedelt war, innewohnende legitimatorische Potential, das ihrer Vertrauensbasis in der eigenen Bevölkerung - zumindest vor der Ära Gorbatschow - eine breitere Grundlage verschaffte. Zudem waren Gesprächspartner in der Bundesrepublik für 61 So Erich Honecker 1981, zitiert nach: Gottfried Deutschlands 1949-1987, Köln 1988, S. 237.
Zieger: Die Haltung von SED und DDR zur Einheit
a So Erich Honecker im Gespräch mit Wolfgang Mischnick am 5. März 1984, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/1/620, zitiert nach: Potthoff,\ "Koalition der Vernunft", S. 248. I m selben Gespräch betonte der FDP-Fraktionschef das "übereinstimmende Interesse, [...] alle Möglichkeiten zu nutzen, um in den Bündnissen Mißverständnisse abzubauen, sie gar nicht zuzulassen, das gegenseitige Vertrauen zu verstärken" und ein Verbot chemischer Waffen zu befürworten. Ebd., S. 249.
® "Durch die betonte Befürwortung verbesserter Beziehungen zu den sozialistischen Ländern versucht sich die FDP von der CDU/CSU, mit der sie zusammen regiert, abzuheben und Wähler zu gewinnen." Vorlage (vermutlich Honeckers) mit dem Titel "Nunmehr zu den Beziehungen der DDR zur BRD" zur Politbüro-Sitzung am 17. August 1984, in: SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2 A/2677, zitiert nach: Nakath/Stephan, Von Hubertusstock nach Bonn, S. 199f. 70 Aus Bericht Honeckers an den Ministerrat, 16. September 1987 (Maschinen-Diktat), in: ADL, LDPD 31736, S. 3.
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die SED "unentrinnbare 'Normalisierungspartner'", 71 ließ sich doch durch den deutsch-deutschen Dialog der Anschein "normaler" zwischenstaatlicher Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten suggerieren. 72 Faßt man zusammen, waren die politischen Kontakte, die die DDR und ihre Parteien in den achtziger Jahren in die Bundesrepublik suchten, primär sicherheitsund außenpolitisch motiviert. Auch wenn sie nie vergaßen, die in ihren Augen noch ungelösten "politischen Grundfragen" (DDR-Staatsbürgerschaft, Erfassungsstelle in Salzgitter, Elb-Grenze) anzusprechen, galt für sie doch: "Kernfrage bleibt Friedenssieht ",73 Dabei machte es die dem Ost-Berliner Regime aus Bonn signalisierte "Defacto-Zuerkennung einer Art von Legitimität"74 der DDR-Spitze allerdings auch einfacher, Meinungsverschiedenheiten in anderen Bereichen hintanzustellen. Sie ermöglichte aber ebenso der Bundesrepublik, die "Politik der kleinen Schritte" fortzusetzen, humanitäre Erleichterungen für die Menschen zwischen Elbe und Oder durchzusetzen und den Eisernen Vorhang durchlässiger zu machen. 2. Die Deutschlandpolitik und die Interessen der FDP in den achtziger Jahren
Die FDP verfolgte ein deutschlandpolitisches Konzept, das Deutschlandpolitik eng mit Sicherheits- und Europapolitik verband. Sie übernahm dabei den von der SED ins Spiel gebrachten Begriff der Verantwortungsgemeinschaft, sah mithin das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten durch - im Nuklearzeitalter zwangsläufig - gemeinsame Gefährdungslagen bestimmt und begriff Deutschlandpolitik als Mittel, in Partnerschaft mit der DDR mögliche, aus dem Ost-West-Konflikt resultierende Konflikte zu reduzieren. Kurz- und mittelfristig ging es den bundesdeutschen Liberalen vor dem Hintergrund der konfrontativen Supermachtbeziehungen zu Beginn der achtziger Jahre und der Europäisierung des Atomkriegsrisikos darum, einen Rückfall in den Kalten Krieg zu vermeiden. Langfristig strebten sie die Überwindung der brisanten Blockkonfrontation durch einen Prozeß der wechselseitigen Vertrauensbildung und verstärkter intersystemarer Kooperation an. Er sollte die Blöcke zwar nicht obsolet werden lassen,75 wollte sie aber in ein gemeinsames 71 Bernard von Plate: Die Außenpolitik und internationale Einordnung der DDR, in: Werner Weidenfeld/HartmutZimmermann (Hg.): Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Bonn 1989 (Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 275), S. 599. 72 So rechtfertigte der SED-Generalsekretär 1984 auch gegenüber der KPdSU seine Pläne für einen Besuch der Bundesrepublik. Vgl.'Nunmehr zu den Beziehungen der DDR zur BRD", in: Nakath/Stephan, Von Hubertusstock nach Bonn, S. 198f. 73 Hs. Notizen Krenz' über die Auswertung des Honecker-Besuchs in Bonn im SED-Politbüro, 15. September 1987, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2039/303, zitiert nach: ebd., S. 337. 74
Potthoff;
"Koalition der Vernunft", S. 24.
75 In der FDP gab es jedoch eine Minderheitenmeinung - vertreten u.a. auch von Graf Lambsdorff -, die die Einheit Deutschlands der NATO-Zugehörigkeit der Bundesrepublik überordnete. Vgl. Detlef Kühn:
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europäisches Friedenssystem integrieren. "In ihm wäre eine internationale und nationale Lage denkbar, die zu einer deutschen Konföderation und womöglich eines Tages zur staatlichen Wiedervereinigung führen könnte."76 Die Deutschlandpolitik der FDP in den achtziger Jahren war folglich darum bemüht, durch Verbesserungen im deutsch-deutschen Verhältnis Spannungen abzubauen. Eine aktive Wiedervereinigungspolitik verbot sich ihr damit von selbst, obgleich sie nach außen am Grundgesetzgebot der deutschen Einheit festhielt. 77 In der Praxis aber zielte ihr Handlungsansatz primär auf substantielle Verbesserungen in den deutsch-deutschen Beziehungen, wobei sie vor allem das Schicksal der Menschen in der anderen deutschen Republik im Auge hatte. Dabei betonte sie "die Notwendigkeit der Anerkennung der machtpolitischen Verhältnisse und die Berücksichtigung der gegenwärtigen intersystemaren Probleme [...] so sehr, daß sie zum Wohle der Menschen in Deutschland und des Offenhaltens der deutschen Frage in einer fernen Zukunft bereit [war], nicht nur auf eine destabilisierende Politik gegenüber der DDR zu verzichten, sondern diesen Aspekt im deutschlandpolitischen Ziel/Mittelbereich sogar positiv zu wenden".78 Die Akzeptanz der DDR-Führung sollte mit deutschlandpolitischen Mitteln in der DDR-Bevölkerung erhöht werden, so daß die Ost-Berliner Staatsführung "es sich dann erlauben könnte, mit dem für sie dergestalt kalkulierbar und erträglich gemachtem politischen Risiko größere persönliche Freiheiten zuzulassen und die Grenze zu öffnen." 79 Aus dieser breit angelegten, sowohl friedens- als auch deutschlandpolitisch motivierten Stabilisierung des deutsch-deutschen Verhältnisses leiteten die Freien Demokraten zwei Handlungsprämissen für das innerdeutsche Miteinander ab. Zum einen sollten sich die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten aus dem Interesse beider entwickeln, sollten sie für beide von Nutzen sein, mußten sie den existierenden Gegensätzen Rechnung tragen und die jeweils andere Seite nicht überfordern. Dabei bezogen sie die Forderung nach Akzeptanz der Realitäten im deutsch-deutschen Verhältnis durchaus nicht nur auf ihr eigenes Handeln, sondern sie verlangten dies der DDR, z.B. im Hinblick auf die Existenz der deutschen Die FDP und die Deutschlandpolitik; in: Blumenwitz/Zieger Parteien, S. 85ff. (bes. S. 86).
(Hg.), Deutsche Frage im Spiegel der
76
Wege zum deutschen Ausgleich. Vorschläge der Berliner FDP für eine Deutschlandpolitik der achtziger Jahre, zitiert nach: Brocke, Deutschlandpolitische Positionen, S. 66. 77 "Unser Ziel bleibt die Einheit Deutschlands." So Ronneburger im Tagesdienst der Freien-Demokratischen Korrespondenz vom 27. Januar 1987. Der damalige Parteivorsitzende Genscher distanzierte sich so ein SED-Gesprächsbericht - allerdings im selben Jahr von der Ansicht, die deutsche Frage sei offen. Vgl. Information Reinholds an Honecker über ein Treffen mit Genscher am 31. August 1987, in: SAPMO-BArch, DY 30/J IV/J 126, zitiert nach: Nakath/Stephan, Von Hubertusstock nach Bonn, S. 332. 71
Brocke, Deutschlandpolitische Positionen, S. 151.
79
Ebd., S. 152.
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Nation, genauso ab. Zum anderen galt es, verstärkt die Bereiche, in denen ein gemeinsames Interesse bestand, nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit auszuloten, wobei die FDP "vor allem [...] auf die Einbindung der Einzelbereiche in den Gesamtkontext [...] im Sinne ihrer Akzentuierung als Einzelelemente einer notwendigen, erfolgreichen Friedens- und Entspannungspolitik in Europa" 80 abzielte. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Bedeutung, die die FDP dem Parteiendialog im Kontext der deutsch-deutschen Beziehungen zusprach. Sie begriff ihn als "eine zusätzliche Möglichkeit des intensiven Gesprächs über die Grenze hinweg"81, als Versuch, "im Interesse des Öffnens von Mauern und des Bauens von Brücken jede Gelegenheit zu nutzen [...], um im Sinne des Stichworts 'menschliche Erleichterungen' [...] Grenzen zu überwinden." 82 Ihm kam zudem die Funktion zu, den Willen zur Zusammengehörigkeit auf beiden Seiten der Elbe zu erhalten. "Je mehr die Menschen Kontakt miteinander haben, je mehr einsichtig wird, daß es auf beiden Seiten der Grenze Deutsche gibt, um so größer ist die Chance für eine Überwindung der Grenze." 83 In diesem Sinne galten der FDP die Kontakte zur liberalen Ost-"Schwester" als Stück "Normalisierung" des deutsch-deutschen Verhältnisses, so wie es der Grundlagenvertrag vorsah. Darüber hinaus war die FDP nicht bereit, den deutsch-deutschen (Parteien-)Dialog allein der SPD zu überlassen und auf die Möglichkeit zu verzichten, sich namentlich nach dem Regierungswechsel in Bonn 1982 als Garant für die Fortsetzung der Ostpolitik in der Regierung zu profilieren. Dies galt um so mehr, als sie in der sozialliberalen Koalition im Schatten der "Väter der Neuen Ostpolitik", Brandt und Bahr, deutschlandpolitisch in die Defensive geraten war. Auch der SED fiel auf, "daß die FDP offenkundig bemüht ist, auf dem Gebiet der Beziehungen zur DDR als Partei selbst aktiv zu werden, um damit auch ihr politisches Profil im Hinblick auf kommende Entwicklungen zu stärken". 84 Namentlich ihre zu Beginn der achtziger Jahre reaktivierten Kontakte zur DDR-"Schwesterpartei" begriff sie daher als Möglichkeit, ihre in den fünfziger und sechziger Jahren unbestrittene deutschlandpolitische Kompetenz von den Sozialdemokraten zurückzuerobern. "Es war eindeutig ersichtlich, daß die FDP der SPD nicht allein die 'Gesprächsbereitschaft' zu überlassen beabsichtigte und eine 'Vorreiter-Rolle' in der 'Ostpolitik' und für die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten deutlich machen 10
Ebd., S. 153.
81
Gespräch mit Uwe Ronneburger am 12. Dezember 1987.
82 Gespräch mit Hans-Jürgen Beerfeltz am 29. März 1990. So auch Wolfgang Mischnick: Verbesserte Reisemöglichkeiten sollen uns nicht ruhen lassen; in: FDP-Tagesdienst vom 3. September 1987. 13
Gespräch mit Uwe Ronneburger am 12. Dezember 1987.
84 Information Häbers über ein Gespräch mit Mischnick am 5. Mai 1982 in Dresden, in: SAPMOBArch, D Y 30/J IV/1002/12, S. 3.
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möchte. Wahltaktische Überlegungen spielen u.E. dabei keine untergeordnete Rolle" 85 - so sah es die LDPD. Tatsächlich kann es nicht verwundern, daß die FDP getreu der Forderung von Wolfgang Mischnick "Wir brauchen den ständigen Dialog" 86 über traditionell gute Kontakte zur DDR verfügte. Auch wenn sie stets bemüht war, diese in einen Kontext mit den Beziehungen zur Demokratischen Partei in Polen, zur Sozialistischen Partei in der CSSR und zur Bauernpartei in Bulgarien zu stellen,87 nahmen ihre "ausgesprochen bemerkenswerten Beziehungen"88 zur LDPD doch eine Sonderrolle ein. Deren Entwicklung in den achtziger Jahren soll im Mittelpunkt der weiteren Betrachtung stehen.
IV. Der Dialog: Verlauf, Inhalt, Ergebnisse Der wiederaufgenommene Dialog zwischen FDP und LDPD zu Beginn der achtziger Jahre wurde wesentlich mitbestimmt durch die bisherige Geschichte ihrer Beziehungen zueinander. Die entscheidenden Ausgangspositionen für die Reaktivierung der Kontakte waren aus Sicht der FDP zum einen die gemeinsame liberale Tradition - die LDPD galt aufgrund der, wenn auch nur kurzen gemeinsamen Vergangenheit "als der natürliche Bündnispartner der Freien Demokraten" 89 in der DDR. Zum anderen war es die Tatsache, daß "wir in der Freien Demokratischen Partei der Bundesrepublik eine ganze Reihe von Mitgliedern haben, die früher einmal in der DDR Mitglieder der LDPD gewesen sind" 90 , so z.B. Wolfgang Mischnick und Hans-Dietrich Genscher. Darüber hinaus waren aber auch die Erfahrungen der FDP mit der SED-treuen liberal-demokratischen "Blockflöte" aus den fünfziger und sechziger Jahren, das ständige Wechseln zwischen Annäherung und Abgrenzung, Faktoren, die den Umgang der bundesdeutschen Liberalen mit ihrer DDR"Schwester" prägten. In der Erkenntnis, daß die beschworene liberale Gemeinsamkeit "durch das Selbstverständnis der LDP in einem sozialistischen Staat" als einer staatstragenden, an der Regierung beteiligten und der Suprematie der SED unterge* Bericht des Sekretariats des Zentralvorstands der LDPD über die Teilnahme von Gästen der FDP als Beobachter am 13. Parteitag der LDPD, 14. April 1982, in: ADL, LDPD, 31734, S. 3. Bestätigt wird dies aber auch aus den Reihen der FDP selbst, so etwa von Kühn, FDP und Deutschlandpolitik, S. 87. 86 Wolfgang Mischnick: "Wir brauchen den ständigen Dialog", in: Liberal-Demokratische Korrespondenz (1973) 7/8. 17
Vgl. Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995.
u
Brocke, Deutschlandpolitische Positionen, S. 199. Potthoff attestiert ihnen "eine besondere Qualität". Potthoff, "Koalition der Vernunft", S. 64. ® Juling, Offen und überall mit der DDR reden, S. 637. 90
Gespräch mit Uwe Ronneburger am 12. Dezember 1987.
18 Timmermann
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ordneten Partei nur begrenzt sein konnte und "die LDP [...] eine andere Richtung verfolgt" 91 als die FDP, setzte man auf seiten der FDP auch keine übergroßen Erwartungen in den Dialog mit den Ost-Liberalen. "Es wurde [...] deutlich, daß sie (die Vertreter der FDP, CT) die Erwartungen [...] sehr tief angesetzt hatten. Allein schon der 'Dialog', das offene und freimütige Gespräch mit führenden Vertretern der LDPD 'würde Hoffnungen wecken'."92 Zum anderen war man darum bemüht, im Interesse einer kontinuierlichen Kommunikation die Beziehungen nicht durch ein Übermaß an Forderungen zu überfrachten und die LDPD durch eine offensive Gesprächstaktik zu überfordern, nachdem man sie endlich aus dem "Schneckenhaus" der von der SED verordneten Abgrenzung gelockt hatte. Um die Gespräche nicht zu gefährden, verzichtete man wohl auch auf Kontakte zur DDR-Opposition. Die Neuaufnahme der Gespräche zu Beginn der achtziger Jahre ging zurück auf eine Initiative Wolfgang Mischnicks, der, wie stets im Vorfeld eines Parteitags der LDPD, auch 1982 über die ständige Vertretung der DDR in Bonn Interesse bekundet hatte, in Weimar Gast des liberal-demokratischen Parteikonvents zu sein. Über diesen Weg - oder zusätzlich über einen direkten Kanal - ließ der FDP-Politiker auch die SED-Spitze von seinem Wunsch wissen.93 Dies mag mit bewirkt haben, daß anders als in den siebziger Jahren die Reaktion aus Ost-Berlin dieses Mal positiv war: "Ich entspreche [...] gern dieser Bitte (Mischnicks, CT) und lade im Namen des Zentralvorstandes der Liberal-Demokratischen Partei zwei bis drei Persönlichkeiten der Freien Demokratischen Partei als Gäste zu unserem 13. Parteitag ein [...]." 94 Daß die LDPD den Gesprächs Vorschlag aus dem Dehler-Haus nach Jahren der Abgrenzung positiv beantwortete, beruhte weniger auf ihrer eigenen Entscheidung als auf einer entsprechenden Vorgabe der SED. Auf der Basis des oben beschriebenen neuen sicherheitspolitischen Ansatzes wertete sie den Kontaktwunsch der Freien Demokraten als Bemühen, "in Verbindung mit einer partnerschaftlichen Haltung in der Friedensfrage auch mehr Normalität in den Beziehungen zwischen der DDR und 91
Ebd.
91 Bericht des Sekretariats des Zentralvorstands der LDPD über die Teilnahme von Gästen der FDP als Beobachter am 13. Parteitag der LDPD, 14. April 1982, in: ADL, LDPD, 31734, S. 3. 93 In einem Bericht Häbers an Honecker erwähnt er die "Bitte" Mischnicks, die dieser "im Zusammenhang mit dem LDPD-Parteitag an uns herangetragen hatte." Mischnick "bedanke sich für die sehr schnelle und positive Entscheidung und für die Möglichkeit, daß Politiker der FDP als Beobachter an diesem Parteitag teilnehmen konnten." Vgl. Information Häbers über ein Gespräch mit Mischnick am 5. Mai 1982 in Dresden, in: SAPMO-BArch, DY 30/J IV/1002/12, S. 4. Mischnick hingegen betont: "Daß wir die SED um Genehmigung baten, um mit der LDPD zu sprechen - so etwas gab es nicht." Dies schließt allerdings nicht aus, daß entsprechende Gesprächswünsche auch gegenüber der Ost-Berliner Staatsfuhrung signalisiert wurden. Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995.
* Brief Gerlachs an Genscher, 18. März 1982, in: ADL, LDPD 31734. Mischnick selbst verzichtete allerdings auf eine Teilnahme, da der FDP keine Gelegenheit zu einem Grußwort eingeräumt wurde. Vgl. Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995.
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der BRD zu ermöglichen". 95 Da die westdeutschen Liberalen ähnlich den Sozialdemokraten aufgrund ihrer - zumindest im linksliberalen Flügel - eher kritischen Haltung zur Nachrüstung und ihrer nicht-"revanchistischen" Deutschlandpolitik als potentielle Sicherheitspartner in Betracht kamen, galt es aus DDR-Sicht, sie in "eine breite Koalition des Realismus und der Vernunft" zur "Entwicklung der friedlichen Koexistenz" zwischen der Bundesrepublik und der DDR einzubinden. Daß die Kontakte zwischen beiden liberalen Parteien aus Sicht der Staatsführung dazu dienten, "den Differenzierungsprozeß in den politischen Parteien (der Bundesrepublik, CT) mit dem Ziel der Zurückdrängung entspannungsfeindlicher und revanchistischer Kräfte voranzutreiben", 96 machte auch Gerlach in einer - gewissermaßen an die Gäste von der FDP gerichteten - Passage seiner Parteitagsrede 1982 deutlich: "Einerseits ändert sich nichts an den Grundpositionen des Großbürgertums in der BRD, andererseits ist bei nicht wenigen prominenten Vertretern der BRD aus Politik und Wütschaft - auch in der SPD/FDP-Koalition - ein realistisches Herangehen an die Probleme zu erkennen. Im Verhältnis zwischen eigenen Interessen der BRD und blinder Gefolgstreue gegenüber den USA zeichnen sich neue, andere Prioritäten ab. Die wütenden Attacken führender Vertreter der CDU/CSU dagegen und manche Ungereimtheiten in der Politik der Bundesregierung machen deutlich, daß es eine Reihe nicht unerheblicher Meinungsunterschiede gibt, die sich quer durch die Parteien ziehen. Das und vieles andere mehr haben wir stets bei unserem Streben in Rechnung zu stellen, mit der BRD dem Frieden dienende normale und gegenseitig vorteilhafte Beziehungen der friedlichen Koexistenz zu unterhalten." 97 Hierbei kam der LDPD die Aufgabe zu, die sicherheitspolitischen und deutschlandpolitischen Positionen der DDR (Staatsbürgerschaft, Salzgitter, Elb-Grenze) gegenüber der FDP plausibel zu machen, für sie um Sympathie zu werben und diesbezüglich "realistische" Auffassungen in der FDP aufzuspüren sowie zu fördern. 98 Dazu gehörte auch, sich in den Gesprächen mit den bundesdeutschen 95 Erich Honecker, zitiert nach: Beratung des Sekretariats des Zentralkomitees der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen; in: Neues Deutschland vom 13./14. Februar 1982. Auch die LDPD selbst bezieht sich zur Begründung ihrer Gesprächsbereitschaft mit der FDP auf diese Rede Honeckers. Vgl. Konzeption des Sekretariats des Zentralvorstands der LDPD für den Aufenthalt der am 13. Parteitag der LDPD teilnehmenden Gäste der FDP, 31. März 1982, in: ADL, LDPD, 31734, S. 6. 96
Aus Bericht Honeckers an den Ministerrat, 16. September 1987 (Maschinen-Diktat), in: ADL, LDPD 31736, S.2f. 97 So Manfred Gerlach vor dem 13. Parteitag, zitiert nach: Bericht des Zentralvorstandes der LDPD an den 13. Parteitag, Berlin (Ost) 1982, S. 14. In der Tat ist diese "Botschaft" von den FDP-Vertretern vernommen worden: "Wichtig sei für sie die eine Passage im Bericht gewesen, in der Dr. Gerlach 'Gesprächsangebote an alle gutwilligen Kräfte im Westen' gemacht habe. Diese Stelle sei von ihnen 'rot angestrichen' worden. Dies entspräche ihrer Mission." Zusammenfassung von Meinungsäußerungen zur Kenntnis und zur Vervollständigung des Bildes über die beiden FDP-Vertreter (Fritz Fliszar und Herbert Schmülling, CT) (undatiert), in: ADL, LDPD, 31734, S. 1. 9e
18*
Vgl. Konzeption des Sekretariats des Zentralvorstands der LDPD für den Aufenthalt der am 13.
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liberalen Informationen aus erster Hand über Veränderungen der politischen Linie und über personelle Umbesetzungen sowohl in der Partei als auch in der Bundesregierung zu verschaffen. Offensichtlich ging es im direkten Kontakt mit den WestPolitikern jedoch nicht nur darum, ihren persönlichen politischen Standpunkt und die politische Marschrichtung der FDP bzw. der Koalition zu erkunden, sondern auch darum, Persönlichkeitsprofile der Gesprächspartner zur "weiteren Verwendung" zu erstellen." Anders als in den fünfziger und sechziger Jahren verfolgten die Liberal-Demokraten mit ihren Gesprächskontakten zu den bundesdeutschen Liberalen jedoch nicht ein Konzept aküver Westarbeit und gezielter "operativer Einsätze" in der Bundesrepublik. Vielmehr vermitteln die Akten aus dem LDPD-Archiv den Eindruck einer vorerst bloß auf die Vorschläge aus dem Westen - mal zustimmend, mal abschlägig reagierenden Partei, die von sich aus keinerlei Kontakt zur FDP suchte.100 Dies mochte damit zusammenhängen, daß auf seiten der LDPD zunächst eigene Erwartungen an die Gesprächskontakte mit den Freien Demokraten zurückgestellt wurden. Zunächst überwogen wohl Berührungsängste, schien man für die Partei selbst negative Folgen des Dialogs zu befürchten. Hatte sie sich noch 1966 zur "Schaffung Parteitag der LDPD teilnehmenden Gäste der FDP, 31. März 1982, in: ADL, LDPD, 31734, S. 2ff.; s. auch die Ausarbeitung der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD "Welche Bedeutung und Stellenwert haben in der internationalen Arbeit der Partei die Gespräche mit Vertretern der FDP und wie geht es weiter?", 5. September 1988, in: ADL, LDPD, 31737. 99 So heißt es z.B. über einen FDP-Politiker: "In seinem persönlichen Verhalten ist er sehr leger. Sdüacksig, unpünktlich, Langschläfer, auch in seinen Familienverhältnissen nimmt er es nicht so genau. Er ist 'kleinen Aufmerksamkeiten' sehr zugänglich. Trinkt gem." Vermerk der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD über eine Abstimmung, 2. April 1982, in: ADL, LDPD, 31734, S. 2. Inwieweit hier Verbindungen zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bestanden, läßt sich anhand der Parteiakten nur bedingt nachweisen. Allerdings finden sich Andeutungen, die diese Möglichkeit bei aller gebotenen Vorsicht zumindest nicht als unwahrscheinlich erscheinen lassen. So ist z.B. von einem "V-Mann zum Präsidium (der FDP, CT)" die Rede, der die LDPD mit internen Informationen aus dem Dehler-Haus versorgte. Vgl. Anmerkungen der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD aus einem längeren Abstimmungsgespräch über FDP, 25. November 1983, in: ebd., 31735, S. 1. An einer anderen Stelle heißt es, daß "wir (die LDPD, CT) [...] bis zur Reise [...] Einsichtnahme in die aktuelle Operativinformation zur Lage in der FDP' und 'Informationsfragen' vom Stellvertreter des Ministers MfS [erhalten]." Interne Diskussionsgrundlage der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD für die Konzeption der geplanten Reise des Parteivorsitzenden in die BRD im September 1988, 25. März 1988, in: ebd., 31737, S. 1. Auch die Tätigkeit einiger Funktionäre der Parteileitung als Inoffizielle Mitarbeiter für das MfS - etwa der zeitweilig für die Westarbeit zuständigen Sekretäre, Kurt Wünsche und Gerhard Lindner - lassen eine im weitesten Sinne nachrichtendienstliche Nutzung der Parteikontakte in die Bundesrepublik als plausibel erscheinen. Vgl. Siegfried Suckut: Ost-CDU und LDPD aus der internen Sicht von SED und MfS, in: Jürgen Frölich (Hg.): "Bürgerliche" Parteien in der SBZ/DDR. Zur Geschichte von CDU, LDP(D), DBD und NDPD 1945 bis 1953, Köln 1994, S. 103ff. 100 Wolfgang Mischnick beschreibt die Reaktionen der Liberal-Demokraten auf Gesprächsangebote der FDP als "manchmal zurückhaltend, manchmal offener". Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995. Für die anfängliche Zurückhaltung der LDPD spricht auch, daß ihr Vorsitzender in seinen Erinnerungen die Anwesenheit von FDP-Vertretern beim 13. LDPD-Parteitag nicht für berichtenswert hält oder vergessen hat. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 166f.
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neuer und ausbaufähiger, qualifizierter Kontakte" mit den ihr von der SED zugewiesenen "Schichten und Gruppen der westdeutschen Bevölkerung" 101 verpflichtet, reagierte sie in den achtziger Jahren auf Gesprächs wünsche aus der Bundesrepublik vorerst äußerst zurückhaltend. Zum einen befürchtete sie nach den Erfahrungen der Jahre 1956 und 1966 wohl, durch zu intensive West-Kontakte den Unwillen der SED hervorzurufen; zum anderen trieb sie auch die Sorge um, daß namentlich in der Parteibasis westlich-liberales Gedankengut wiederbelebt werden könnte. Die anfängliche Beschränkung der Kontakte auf die oberste Parteiebene erfolgte daher nicht nur auf Order der SED, sondern entsprach vorerst durchaus auch der Sorge der LDPD-Spitze vor einer "Unterwanderung" 102 aus dem Westen. Wie groß die Reserve und die Berührungsängste der Liberal-Demokraten anfangs gegenüber der West-"Schwester" waren, vermitteln zum einen die von der Parteispitze an die Delegierten ihres 13. Parteitags ausgegebenen detaillierten Verhaltensmaßregeln, wie - angefangen von der Lautstärke des Begrüßungsbeifalls bis zur "Gesprächstaktik" - mit den Gästen aus der Bundesrepublik zu verfahren sei. Daß es ihr - angesichts einiger Repräsentanten ihres ehemaligen liberalen Partners vielleicht auch aus einem gewissen Minderwertigkeitsgefühl heraus - primär darauf ankam, sich in ein positives Licht zu rücken, aber auch möglicherweise auf Seiten der FDPVertreter vorhandenen Illusionen liberaler Gemeinsamkeiten beider Parteien vorzubeugen und entsprechende "Unterwanderungsversuche" zu verhindern, verdeutlicht vor allem die Vorgabe an die Delegierten, bei einem Kontaktversuch der FDPGäste "einen parteilichen Standpunkt [zu] vertreten, Stolz [zu] zeigen, als Bündnispartner der Arbeiterklasse und ihrer Partei, einen geachteten Platz in der sozialistischen Gesellschaft der DDR einzunehmen und einen schöpferischen eigenständigen Beitrag zur politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Stärkung des Sozialismus in der DDR zu leisten [...]." 103 Zum zweiten läßt sich aber auch aus der Vehemenz, mit der die LDPD-Führung lange Zeit die Ausdehnung der Parteienbeziehungen auf die mittlere und untere Parteiebene abblockte, ihre Zurückhaltung gegenüber den Freien Demokraten ablesen. Nicht nur daß man unter Vortäuschung falscher Tatsachen - "Wir (die LDPD, CT) sind [...] unter Berücksichtigung der Urlaubssituation nicht in der Lage [...], Gespräche mit Vertretern der LDPD zu organisieren." 104 -, und schließlich mit der Standardformel, "daß die Frage von 101 Diskussionsgrundlage für die Aussprache am 14. März 1966 über eine Sekretariatsvorlage für Maßnahmen zur Unterstützung des offenen Briefs des ZK der SED an die westdeutsche Sozialdemokratie (undatiert), in: ADL, LDPD, 31734, S. 18f. 1(E
Gespräch mit Manfred Bogisch am 6. März 1990.
103 Vgl. Konzeption des Sekretariats des Zentralvorstands der LDPD für den Aufenthalt der am 13. Parteitag der LDPD teilnehmenden Gäste der FDP, 31. März 1982, in: ADL, LDPD, 31734, S. 7. Zu den "Verhaltensmaßregeln" für die Parteitagsdelegierten gegenüber den Gästen von der FDP ebd., S. 6f. 101 Vermerk über Kontaktbemühungen seitens der FDP zu Mitgliedern der LDPD, 3. August 1983, in: ebd., 31735.
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Beziehungen zwischen der LDPD und der FDP unsere Leitungskompetenzen überschreitet und in direktem Kontakt zwischen den zentralen Parteiführungen zu regeln ist", 105 Gesprächswünsche von Landes-, Bezirks- und Kreisverbänden der Freien Demokraten im Vorfeld zurückwies; darüber hinaus wurden auch die eigenen Unterorganisaüonen angewiesen, Kontaktversuche aus der Bundesrepublik vor Ort abzuwehren.106 Das Bemühen der LDPD-Führung, die Basis der Parteienbeziehungen mögüchst schmal zu halten, ging so weit, daß man FDP-Delegationen bei DDRReisen beobachten ließ, um unerwünschte Kontaktaufnahmen zu unterbinden, mindestens aber zu registrieren. "Bei deren (deutschlandpolitischer Arbeitskreis der FDP, CT) Reise in die DDR [...hat] kein einziger nachweisbarer Versuch, Kontakte aufzunehmen (auch bestehende, aber kontrollierbare - und kontrollierte! - Privatkontakte nicht wahrgenommen!), [stattgefunden]." 107 Kam es doch zu Begegnungen und sei es nur per Zufall -, reagierte die Parteiführung mit Disziplinarverfahren gegen ihre zu kontaktfreudigen Mitglieder. Anlaß für die Abgrenzungsbemühungen waren aber nicht nur eigene Berührungsängste, sondern auch entsprechende Vorgaben der SED, die ihren "befreundeten" Parteien nur begrenzten Raum zur außenpolitischen Profilierung überlassen und darüber hinaus der Bundesrepublik möglichst wenig Ansatzpunkte liefern wollte, deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten wachzuhalten und "massenweise Begegnungen [...] zu organisieren", 108 die nicht ihrer direkten Kontrolle unterlagen. Doch auch auf seiten der FDP bestanden zunächst gewisse, wenn auch nicht so ausgeprägte Berührungsängste. Diese resultierten jedoch weniger aus konkreten Vorbehalten gegenüber den Ost-Liberalen. Vielmehr wollte man im Vorfeld der 1983 zur Abstimmung im Bundestag anstehenden Frage der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen der DDR möglichst wenig Gelegenheiten bieten, Einfluß auf den diesbezüglichen Entscheidungsfindungsprozeß der Freien Demokraten zu nehmen. Anders als sonst üblich - besonders nach dem Parteitagsbesuch in Weimar - erfolgte keine Gegeneinladung an die Adresse der LDPD, am "Stationierungsparteitag" der FDP teilzunehmen.
103 So in dem Entwurf der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD für ein standardisiertes Antwortschreiben an FDP-Organisationen, 21. Dezember 1983, in: ebd. 106 So wurde etwa der Bezirksverband der LDPD in Erfurt, den eine Abordnung der FDP-Fraktion i m Landtag von Niedersachsen besuchen wollte, angewiesen "sicherzustellen, daß sowohl im BV Erfurt als auch in eventuellen 'Anlauf-Kreisverbänden [...] Kontaktversuche [...] 'abgeblockt' werden." Vgl. Aktenvermerke der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD i m Zusammenhang mit Anrufen von Dr. Matthiesen, 3. August 1983, in: ebd. 107 Anmerkungen der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD aus einem längeren Abstimmungsgespräch über FDP, 25. November 1983, in: ebd., S. 2. 101 So Peter Lorf, zitiert nach: Vermerk des Sekretariats D des Zentralvorstands der LDPD über ein Gespräch mit dem stellvertretenden Minister für Kultur, Peter Lorf, 30. Oktober 1987, in: ebd., 31736.
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Obwohl 1982 in Weimar zwischen beiden Parteien die Aufnahme offizieller Beziehungen vereinbart worden war, kam es bis 1984 lediglich zu einem inoffiziellen Treffen zwischen Gerlach und Genscher im Mai 1982 in Halle. 109 Für den damaligen Parteivorsitzenden der Freien Demokraten mag die Begegnung so etwas wie ein "Versuchsballon" gewesen sein. Mit Honecker selbst - ein Treffen mit dem SED-Generalsekretär hatte Genscher zunächst selbst angeregt - wollte er bei seinen ersten politischen Gesprächen auf dem Boden der DDR wohl nicht zusammentreffen. 110 Die Begegnung mit dem Vormann der LDPD diente daher auch dazu, "seinen (Genschers, CT) Standpunkt an die 'DDR-Führung' heranzutragen, da er (Genscher, CT) überzeugt sei, daß dieses Gespräch 'nicht geheim' bliebe." 111 Vielleicht mahnte Genscher auch deshalb in Halle offensiver als in seinen späteren direkten Gesprächen mit der SED-Spitze '"konkrete, greifbare Ergebnisse für die Menschen in beiden deutschen Staaten'" an. Nicht nur weil die LDPD dem westdeutschen Außenminister hier "Paroli" bieten mußte, zeigte sie sich sichtlich enttäuscht von der Begegnung beider Parteivorsitzender. Schwerer wog für sie, daß der Bundesaußenminister "trotz mehrfacher Versuche von Dr. Gerlach es strikt ablehnte, über das Gespräch auch nur die einfachste und kürzeste Mitteilung an die Massenmedien zur Veröffentlichung zu geben" und über die weiteren Kontakte zwischen beiden Parteien zu sprechen. Für eigene Zwecke - Steigerung der eigenen Attraktivität und Betonung eines eigenen Profils - ließ sich aus Sicht der Liberal-Demokraten das Hallenser Treffen nicht nutzen. Das mag mit dazu beigetragen haben, daß der Dialog beider Parteien erst zwei Jahre später fortgesetzt wurde. Ermuntert von Honecker, 112 begann in der Folgezeit ein vor allem durch Initiativen der FDP in Gang gehaltener, äußerst zähflüssiger Prozeß des gegenseitigen Kennenlernens, in dessen Verlauf jedoch die namentlich 109 Vgl. Information des Sekretariats des Zentralvorstands der LDPD über den Verlauf eines Gesprächs von Geriach mit Genscher am 27. Mai 1982 sowie Nachtrag zur Information, 1. Juni 1982, in: SAPMOBArch, DY 30/J IV 2/1002/20. Genscher selbst ist die Begegnung nicht sonderlich im Gedächtnis geblieben. In seinen Erinnerungen heißt es lapidar: "1982 traf ich ihn (Gerlach, CT) in Halle zum ersten Mal." Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 721. 110 Mischnick hatte die SED von Genschers Wunsch nach politischen Gesprächen informiert und mitgeteilt, "am liebsten wäre es ihnen, wenn Genscher die Möglichkeit hätte, mit dem Generalsekretär des ZK der SED, Erich Honecker, zusammenzutreffen." Information Häbers über ein Gespräch mit Mischnick am 5. Mai 1982 in Dresden, in: SAPMO-BArch, DY 30/J IV2/1002/12, S. 4. Daß die Begegnung nicht zustandekam, begründete der damalige FDP-Generalsekretär Verheugen damit, "daß Genscher Angst vor der eigenen Courage bekommen habe." Information Häbers über seinen Aufenthalt in der BRD, 22. Juni 1982, in: ebd., DY 30/J IV2/1002/13, S. 6. 111 Dies und die folgenden Zitate aus: Information des Sekretariats des Zentralvorstands der LDPD über den Verlauf eines Gesprächs von Gerlach mit Genscher am 27. Mai 1982, in: ebd., DY 30/J I V
2/1002/20.
10 Mit Blick auf die Kontakte zwischen FDP-Bundestags- und LDPD-Volkskammerfraktion "regt[e] Generalsekretär Honecker an, daß auch die FDP Verbindung aufnehmen solle." Vermerk Dahlmeyers über ein Gespräch Mischnicks mit Honecker am 5. März 1984, abgedruckt in: Potthoff s\ "Koalition der Vernunft", S. 247.
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auf seiten der DDR-Liberalen vorhandenen Vorbehalte gegenüber ihrem westlichen "Pendant" zunehmend abgebaut werden konnten. Dies lag nicht nur daran, daß sich die FDP-Vertreter hinsichüich deutschlandpolitischer Positionen der DDR durchaus kompromißbereit zeigten und z.T. Forderungen ihrer Gesprächspartner übernahmen,113 zudem auf jedwede "Provokation" - "'Mauer', 'Schießbefehl' und andere gängige 'Anschuldigungen' gegen die DDR fanden in dem Gespräch keine Erwähnung. Lediglich am Rande fiel einmal das Wort 'Menschenrechte'."114 - und auf Austragung gegensätzlicher Standpunkte verzichteten - "Nach Darlegung der grundsätzlichen (gegenteiligen) Standpunkte der DDR zu diesen Fragen durch Prof. Dr. Manfred Gerlach wehrten beide (Vertreter der FDP, CT) [...] ab, denn das würde 'zu Streit führen' und dies sei ihrerseits nicht Anliegen dieses Gesprächs."115 -, sondern war auch eine Folge der in der Führung der Liberal-Demokraten gewachsenen Erkenntnis, daß ihre West-Kontakte durchaus ein Mittel sein konnten, sich an der Parteibasis sowie in der Bevölkerung größere Legitimation zu verschaffen und dem "L" im Parteinamen scheinbare Berechtigung zu verleihen. Dies galt um so mehr, als in dem durch die Wandlungstendenzen des DDR-Parteiensystems ausgelösten Wettbewerb der Blockparteien um Sympathie in der eigenen Bevölkerung Kontakte in die Bundesrepublik durchaus von Vorteil waren. So war man beispielsweise in der LDPD darum bemüht, die Vermittlung einer Städtepartnerschaft zwischen einer liberal- und einer frei-demokratisch regierten Stadt selbst herbeizuführen, um sie nach außen werbewirksam als eigene politische Leistung darstellen zu können. Nachdem mehrere Vorstösse beim für die Blockparteien zuständigen ZK-Sekretär, Joachim Herrmann, der sich bereits als Staatssekretär für gesamtdeutsche, später westdeutsche Fragen in den sechziger Jahren als Befürworter eines strikten Abgrenzungskurses gegenüber der Bundesrepublik geriert hatte, ohne Ergebnis geblieben waren, sollte das Problem direkt dem Ersten Mann im Staate vorgetragen werden. 116 Schützenhilfe erhielt die LDPD dabei vom Gesprächspartner aus dem 113 So machte sich die FDP die Forderung nach Schließung der zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter und nach Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen Bundestag und Volkskammer zueigen. Vgl. Relikt des Kalten Krieges in Salzgitter beseitigen, in: Neues Deutschland vom 7. Januar 1986; Gespräch bei H. Sindermann, in: Der Morgen vom 11./12. April 1987; Information Reinholds an Honecker über ein Treffen mit Genscher am 31. August 1987, in: SAPMO-BArch, DY 30/J IV/J 126, zitiert nach: Nakath/Stephan, Von Hubertusstock nach Bonn, S. 332. 114 Information der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD über das Gespräch des Vorsitzenden der LDPD mit Heinrich Jürgens (FDP Niedersachsen) am 19. November 1987, 20. November 1987, in: ADL, LDPD, 31736, S. 2. Laut Akten der LDPD hat nur Graf Lambsdorff Repressionen gegen Oppositionelle in der DDR angesprochen. "Er tat dies jedoch zurückhaltend, ohne Zuspitzung". Information der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD über das Gespräch Gerlachs mit Lambsdorff am 4. Februar 1988, S. 4. Vgl. auch Potthoff\ "Koalition der Vernunft", S. 67. 115 Information der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD über das Gespräch Gerlachs mit Rasch am 11. November 1987, in: ADL, LDPD, 31736, S. 4. 116 Vgl. Brief Gerlachs an Herrmann, 6. Oktober 1987, in: ADL, LDPD, 31736. "'Es' wird die Frage gestellt, ob nicht auch von uns (der LDPD, CT) eine solche 'politische' Entscheidung (Verabredung einer
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Westen: Mischnick "hatte damals Erich Honecker gesagt, daß es [ihm] auf Dauer etwas komisch vorkomme, daß nur Partnerschaften mit Städten in der Bundesrepublik zustande kämen, in denen die SPD den Oberbürgermeister stelle. [...] Darauf kam das Angebot Dessau oder Meißen." 117 Darüber hinaus betrachtete der Parteivorstand der Ost-Liberalen die Beziehungen zur FDP namentlich nach Verabschiedung des SPD-SED-Papiers und unter dem Eindruck der Gorbatschowschen Reformen durchaus auch als Feld, 118 auf dem man sich von der Vormundschaft der SED wenigstens etwas lösen konnte. So waren die Intensivierung der Kontakte zur FDP im Umfeld des Honecker-Besuchs in der Bundesrepublik, besonders deren (nun) angestrebte Ausdehnung auch auf untere Parteiebenen, die FDP-"nahe" Naumann-Stiftung und Organisationen der Parteiklientel - gedacht war an Kontakte zwischen FDP- bzw. LDPD-geführten Handwerkskammern - durchaus nicht (nur) auf Anweisung der SED erfolgt, sondern sie wurde auch von der LDPD gegenüber der SED eingefordert. 119 Die verstärkte Einbeziehung der West-Berliner FDP in die Gespräche, die jahrelang von der Staatspartei blockiert worden war, konnte die LDPD im Herbst 1987 durchsetzen, indem sie sich "auf Initiativen Wolfgang Mischnicks und das SED/SPD-Dokument [...] bezog."120 Auch inhaltlich, zumal seit "perestrojka" und "glasnost" unter Gorbatschow in der Sowjetunion, versuchten zumindest einige Vertreter aus der liberal-demokratischen Führungsriege sich in vertraulichen Gesprächen mit der FDP von der SED abzusetzen (ohne freilich das politische und gesellschaftliche System der DDR dabei in Frage zu stellen). Trotz politischer "Anleitung" durch die Kommunisten - Erich Honecker selbst ließ es sich nicht nehmen, Manfred Gerlach vor dem Gespräch mit Genscher 1982 und Mischnick 1987 "einzuweisen"121 - nutzte na"liberalen" Städtepartnerschaft, CT) herbeigefühlt werden kann durch einen Brief des Parteivorsitzenden an Erich Honecker oder aber - da hier Joachim Herrmann 'umgangen' wird - durch eine persönliche Bemerkung gegenüber E.H. bei passender Gelegenheit." Interne Diskussionsgrundlage der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD für die Konzeption der geplanten Reise des Parteivorsitzenden in die BRD im September 1988, 25. März 1988, in: ebd., 31737, S. 6. 117
Vgl. Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995.
111
Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 200; Gespräch mit Manfred Bogisch am 6. März 1990; Gespräch mit Hans-Jürgen Beerfeltz am 29. März 1990; Gespräch mit Horst Dahlmeyer am 2. April 1990. 119 Interne Diskussionsgrundlage der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentral Vorstandes der LDPD iür die Konzeption der geplanten Reise des Partei Vorsitzenden in die BRD im September 1988, 25. März 1988, in: ADL, LDPD, 31737, S. 2ff.; Anhang zur Vorlage der Abteilung Internationale Arbeit für das Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD, 17. Oktober 1988, sowie Vermerk Gerlachs, 24. August 1988, in: ebd. Vgl. auch die Briefe Gerlachs an Herrmann, 29. April 1987 und 6. Oktober 1987, in: ADL, LDPD, 31736. 120
Gerlach, Mitverantwortlich, S. 200.
m Auf einer Mitteilung Häbers vom 14. Mai 1982 (in: SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/1002/13), daß er "mit Manfred Gerlach Fragen der Argumentation und des Verhaltens für den Fall, daß er mit Genscher
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mentlich der LDPD-Vorsitzende die Begegnungen mit dem Chef der FDP-Bundestagsfraktion, diesen zu informieren und "ihm vieles zu sagen, von dem er genau wußte, daß das nicht SED-Standpunkt ist". 122 Daß die Liberal-Demokraten wirklich darum bemüht waren, ihre Vorstellungen gegenüber der SED durchzusetzen, zeigen einerseits die von Manfred Gerlach beharrlich seit 1985 bei der SED eingeforderte Erlaubnis zu einem Besuch der Bundesrepublik und andererseits die Suche nach dem jeweils günstigsten Zeitpunkt, um ihre westpolitischen Konzeptionen mit Aussicht auf Erfolg der SED zur "Absprache" vorzulegen. 123 Zudem hatte man erfolgreich nach Mitteln und Wegen gesucht, den deutschlandpolitischen Bremser im ZK, Herrmann, bei der Genehmigung von Begegnungen mit FDP-Politikern auszuschalten. Die entsprechenden "Anträge" ließ die LDPD nicht mehr über den SED-Apparat laufen, sondern statt dessen über den Leiter der Abteilung "BRD" im DDR-Außenministerium, Seidel, zu Außenminister Fischer - "ein sehr aufgeschlossener Mann in den Fragen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD" mit einem "sehr guten Draht zu Erich Honecker" - und von dort direkt zum Staatsratsvorsitzenden. 124 So sehr die ostdeutschen Liberalen zunehmend ihr Eigeninteresse an einem Dialog mit der West-"Schwester" wahrnahmen und mit taktischem Geschick gegenüber der SED durchzusetzen suchten, so deutlich blieb aber gleichzeitig, wie äußerst knapp die Grenzen ihres Freiraums auf diesem Gebiet bemessen waren. So konnten die Kommunisten im Herbst 1988 unter Angabe fadenscheiniger Gründe ohne weiteres und ohne Gegenwehr der LDPD Gerlach die bereits genehmigte und der FDP zugesagte Reise nach Bonn verbieten. Das für den Chef der Ost-Liberalen vorgesehene Besuchsprogramm 125 mit Gesprächen beim Bundespräsidenten, Bundeskanzler, Bundestags- und Bundesratspräsidenten sowie weiteren führenden westdeutschen Politikern drohte aus Sicht der SED den Erfolg der Honecker-Visite 1987 im nachhinein zu schmälern, die LDPD zusammenkommen sollte, besprechen" werde, notierte Honecker: " A m besten ist, wenn ich [...] Gerlach kurz spreche." Vgl. auch Empfehlungen für das Gespräch mit Wolfgang Mischnick am 10. April 1987, in: ADL, LDPD 31736. m
Gespräch mit Manfred Gerlach am 30. März 1995. Mischnick bestätigt dies. Vgl. Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995. m '"Es* wurde der Hinweis gegeben, die offizielle Konzeption noch nicht [...] zur Bestätigung an das ZK [...] zu geben, da z.Z. [...] eine 'restriktive' Bewertung der Konzeption vorgenommen werden würde." Interne Diskussionsgrundlage der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD iîlr die Konzeption der geplanten Reise des Parteivorsitzenden in die BRD i m September 1988, 25. März 1988, in: A D L , LDPD, 31737, S. 9 (Anm.). 124
Vgl. Gespräch mit Rudi Müller am 5. April 1995.
125 Vgl. Vorlage der Abteilung Internationale Arbeit für das Sekretariat des Zentral Vorstandes der LDPD, 17. Oktober 1988, in: ADL, LDPD 31737.
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über Gebühr aufzuwerten und die "führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse" in Frage zu stellen.126 Die seit 1984 intensivierten Beziehungen zwischen FDP und LDPD dürfen jedoch nicht als Indiz für wiederentdeckte "liberale Gemeinsamkeiten" oder "gleiche politische Grundlinien" 127 bewertet werden, wie sie die FDP zur Rechtfertigung ihrer DDR-Kontakte nach außen nicht erst nach der "Wende" in der DDR zwischen beiden Parteien zu sehen vorgab. Nachfragen, worin sich denn der liberale Charakter der LDPD ausgedrückt habe, blieben so auch von FDP-Seite stets unbeantwortet. Vielmehr handelte es sich um "zwei grundverschiedene Parteien". 128 Anders als zwischen SPD und SED wurden diese prinzipiellen Unterschiede jedoch nicht zum Gegenstand der Gespräche oder gar eines politisch-ideologischen Disputs gemacht. Sie tauchten höchstens in Form von Informationsfragen auf. 129 Dementsprechend fanden die Gespräche oberhalb dieses durch das unterschiedliche Selbstverständnis beider Parteien begründeten Grunddissenses statt, erlaubten mithin auch nur die Behandlung von Themen, die auf beiden Seiten von Interesse waren, faktisch aber von den Liberal-Demokraten respektive der allmächtigen SED im Hintergrund vorgegeben wurden. Hierbei handelte es sich primär um aktuelle Fragen der Abrüstung, Rüstungsbegrenzung und Friedenssicherung sowie der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten. Sofern hier unterschiedliche Standpunkte bestanden, beschränkte man sich auf deren Darlegung, verzichtete aber auf eine vertiefende Diskussion.130 Versuche der FDP, z.B. auch das Thema Umweltschutz zur Sprache zu bringen, ließ die LDPD ins Leere laufen. Eine bereits 1984 von Mischnick vorgeschlagene internationale Konferenz liberaler Parteien unter Beteiligung der LDPD zur Ökologieproblematik wurde in Ost-Berlin so lange verzögert, bis man sich schließlich 1988 auf eine sicherheitspolitische Tagung einigte.131 m
Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 235ff.; Gespräch mit Rudi Müller am 5. April 1995.
127
Gespräch mit Uwe Ronneburger am 12. Dezember 1987. Vgl. ebenso Gespräch mit Horst Dahlmeyer am 2. April 1990. m
Gespräch mit Manfred Bogisch am 6. März 1990.
129
Information des Sekretariats des Zentralvorstands der LDPD über die Betreuung der Delegation der FDP zum 14. Parteitag der LDPD, 22. April 1987, in: ADL, LDPD, 31736, S. 3. 130 Vgl. z.B. Information der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD über die Begegnung Gerlachs mit Mischnick, am 8. April 1987, in: ebd. 131 Vgl. Bericht der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD über das Gespräch Gerlachs mit Mischnick am 5. März 1984, in: ebd., 31735, S. 3; Interne Diskussionsgrundlage der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD für die Konzeption der geplanten Reise des Parteivorsitzenden in die BRD im September 1988,25. März 1988, in: ebd., 31737, S. 2f.; Anhang zur Vorlage der Abteilung Internationale Arbeit für das Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD, 17. Oktober 1988, in: ebd., S. 2.
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Konkrete Ergebnisse der gegenseitigen Beziehungen beschränkten sich auf die Vermittlung einiger weniger Städtepartnerschaften sowie auf Hilfen der LDPD in "humanitären Fragen". 132 In der Regel war es jedoch so, daß sich die FDP in diesen Punkten bereits zuvor des Einverständnisses Honeckers versichert hatte.133 Geplant war auch, ähnlich den sicherheitspolitischen Vereinbarungen zwischen SPD und SED, ein gemeinsames Papier zu Fragen der Friedenssicherung vorzulegen. 134 Das wichtigste Ergebnis der Kontakte vor der "Wende" scheint mir darin zu liegen, daß sich beide Parteien gegenseitig besser kennenlernten und dadurch den Prozeß der deutsch-deutschen Vertrauensbildung und Normalisierung förderten, auch wenn sie dies sicherlich mit unterschiedlichen Intentionen verbanden. Dies zeigte sich schon darin, daß zum ersten Mal in der Geschichte beider Parteien über einen längeren Zeitraum hinweg, sieht man von der relativ kleinen Gesprächspause zwischen 1982 und 1984 ab, kontinuierlich das Gespräch gesucht und geführt wurde. Auch die Atmosphäre, in der die Kontakte stattfanden, hat sich im Laufe der Gespräche seit 1982 wesentlich verbessert: "Ich meine, [...] daß die Kontakte auch aufgeschlossener geworden sind, intensiver, auch dadurch leichter, daß wir in [...] freundschaftlicher Atmosphäre Gespräche geführt haben [...]." 135 Diese Klimaverbesserung fand ihren Ausdruck zudem darin, daß seit 1982 - mit Ausnahme des FDP-Parteitags 1983 - Delegationen der einen Partei auf den Parteitagen der jeweils anderen zugegen waren. Ein anderes Umgehen miteinander läßt sich auch im Rahmen der gegenseitigen Parteitagsbesuche feststellen. Während auf dem 13. Parteitag der LDPD 1982 die bundesdeutschen Gäste "buchstäblich an letzter Stelle eines langen Begrüßungsprotokolls" 136 genannt worden waren, sie auch keine Gelegenheit 132 "Richtig ist, daß Gerlach auch in Fällen von Familienzusammenführungen half [...], auch mit Erfolg." Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995; Gerlach, Mitverantwortlich, S. 435. In der Tat fanden sich auch in den LDPD-Akten Hinweise auf Vorstösse Mischnicks zur Lösung von "Ausreisefragen". Vgl. Vermerk der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD über das Ergebnis des Gesprächs mit Dahlmeyer am 18. November 1988, in: ADL, LDPD, 31737, S. 4; Wolfgang Mischnick: Wir konnten viele humanitäre Fragen lösen, in: FDPTagesdienst vom 7. September 1987. 133 "[· 1 bei den Gesprächen, die Herr Mischnick mit Herrn Honecker geführt hat, hat er von ihm die Einwilligung geholt. Wenn er (Honecker, CT) das interessant fand, war das praktisch abgesegnet." Gespräch mit Horst Dahlmeyer am 2. April 1990. 134 Interne Diskussionsgrundlage der Abteilung Internationale Arbeit im Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD für die Konzeption der geplanten Reise des Parteivorsitzenden in die BRD im September 1988, 25. März 1988, in: A D L , LDPD, 31737, S. 3f. 135
Wolfgramm in der DDR; in: Monitor-Dienst (Rias-Berlin) vom 28. Oktober 1987.
136 Karl Wilhelm Fricke: So liberal wie eigenständig. Der 13. Parteitag der LDPD in Weimar, in: Deutschland-Archiv 15 (1982), S. 465. Diese stiefmütterliche Behandlung der FDP-Delegation entsprach durchaus der Konzeption der Gastgeber: "Die FDP-Gäste nehmen als 'Beobachter' am Parteitag teil, sie sind nicht 'den Delegationen' der mit uns befreundeten Parteien [...] gleichzustellen." Konzeption des Sekretariats des Zentralvorstands der LDPD für den Aufenthalt der am 13. Parteitag der LDPD teilnehmenden Gäste der FDP, 31. März 1982, in: A D L , LDPD, 31734, S. 6 (Hervorhebung durch CT).
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zu einem Grußwort erhalten hatten und ihre Delegation in der DDR-Presse mehr als nur stiefmütterlich behandelt worden war, 137 rückten die auf dem 14. Parteitag anwesenden FDP-Politiker nicht nur in der Hierarchie der Begrüßungsrede weit nach oben, es wurden ihnen zudem mehrere Artikel im Morgen gewidmet - stets auf den ersten zwei Seiten -, selbst die Grußadresse des damaligen FDP-Vorsitzenden Bangemann erschien im Parteiorgan. 138 In der Tat muteten am Vorabend der Revolution in der DDR "die Beziehungen fast familiär an." 139 Die langjährigen Kontakte der FDP zu den Liberal-Demokraten haben es den bundesdeutschen Liberalen aber nicht nur einfach gemacht, die Beziehungen nach der "Wende" in der DDR fortzusetzen. Denn man wußte, daß man es eben nicht mit einer liberalen Partei zu tun hatte, sondern mit einer "Schwester", die man erst von ihrer sozialistischen "Schminke" befreien mußte, um sie wieder in den "Kreis der Famüie" aufnehmen zu können. Das, was zu Beginn der Revolution zwischen Rostock und Dresden eine Fortsetzung der Beziehungen gerechtfertigt hatte, nämlich das Reformpotential, das in der LDPD zu stecken schien, erwies sich jedoch, je weiter die Umwälzungen im anderen deutschen Staat voranschritten, als nicht so groß wie vermutet. War die von ihrem Vorsitzenden Gerlach noch vor der "Wende" erhobene Forderung, neue Entwicklungen nicht zu blockieren, 140 geradezu sensationell, blieb die Spitze der "liberalen" Blockpartei durch ihr Festhalten an der führenden Rolle der SED, 141 am Sozialismus als Staatsprinzip, an der Planwirtschaft und an der Zweistaatlichkeit Deutschlands142 bald schon hinter der realen Entwicklung in der DDR zurück und geriet gegenüber den anderen politischen Formationen - mit Ausnahme der SED, der DBD und NDPD - ins Hintertreffen. Damit rückte auch die "Blockflöten-Vergangenheit" der DDR-Liberalen wieder in den Blickpunkt, die man in der FDP zuvor unter dem Eindruck der Reform-Vorstösse Gerlachs nicht so deutlich wahrgenommen hatte.
137
Vgl. Gäste der FDP zum 13. Parteitag; in: Der Morgen vom 8. April 1982.
138 Prof. Dr. Gerlach empfing Wolfgang Mischnick; in: Der Morgen vom 10. April 1987; Grußadresse der FDP an den 14. Parteitag; in: ebd.; Pressegespräch mit Wolfgang Mischnick; in: ebd. 139 Horst Dähn/Dietnch Staritz/Siegfried Suckut: Tendenzen des Wandels im politischen System der DDR, in: Die DDR im vierzigsten Jahr. Geschichte, Situation, Perspektiven. Zweiundzwanzigste Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 16. bis 19. Mai 1989, Köln 1989, S.
20. 140 Vgl. Manfred Gerlach: Die DDR ist das Ergebnis tiefgreifender gesellschaftlicher Umwälzung, in: Der Morgen vom 20. September 1989. 141 "Man kann die allgemeingültige Gesetzmäßigkeit von der führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei nicht deshalb in Frage stellen, weil sie in bestimmten Punkten in der Geschichte schlecht ausgeübt wurde." Manfred Gerladi, zitiert nach: Bündnispolitik, in: Der Morgen vom 1. November 1989. 142
Leitsätze liberal-demokratischer Politik heute, in: Der Morgen vom 16. November 1989.
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Es ginge zu weit, den Freien Demokraten zu unterstellen, sie hätten "illusionäre Vorstellungen [...] über die Rolle der LDPD im Herrschaftssystem" 143 der DDR gehabt. Schließlich gab es in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre durchaus Anlaß, der Gerlach-Truppe den Willen zu Reformen à la Gorbatschow zu konzedieren. 144 Den West-Liberalen galt es, diese Reformbereitschaft zu fördern. Die Aufwertung der DDR-Partei durch die Kontakte sollte dazu beitragen. Natürlich spielte dabei auch die vage Hoffnung eine Rolle, die Ost-"Schwester" könnte in einer reformierten DDR politisch an Gewicht gewinnen.145 Tatsächlich war damals durchaus vorstellbar - vorausgesetzt, auch die Spitze der Staatspartei wäre zu politischem, sozialen und ökonomischem Wandel bereit gewesen -, daß die Liberal-Demokraten das von ihnen eingeforderte Mehr an (Mit-)Gestaltungsmöglichkeiten hätten erhalten können. Vor dem Hintergrund der Reformunwilligkeit der Altherrenriege im SEDPolitbüro überschätzte die FDP allerdings ganz offensichtlich den Grad des Veränderungswillens ihrer Gesprächspartner jenseits der Elbe. Tatsächlich waren die Freien Demokraten überrascht und enttäuscht, daß es Manfred Gerlach und seinen Mannen im revolutionären Herbst 1989 "nicht gelungen ist, voll umzuschalten" und sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, als sie "endlich als Liberale tätig sein konnten, was wir innerlich immer gewollt hatten."146 Es offenbarte sich, was das MfS schon zuvor festgestellt hatte: Eine Rolle als "Oppositionspartei oder 'Forderungspartei"' strebte die LDPD nicht an, der Hegemonialanspruch der SED wurde nicht in Frage gestellt.147 In der Tat: Das System als solches stand für die Ost-Liberalen seit den fünfziger Jahren nicht (mehr) zur Disposition. Die Partei hatte sich selbst, je mehr sie sich seit Gründung der DDR auf die Politik der SED eingelassen hatte, an das Schicksal des ostdeutschen Staates gebunden. Kein Wunder also, wenn sie sich auch 1989 nach wie vor weithin als systemloyale Kraft gab. An dieser Stelle offenbart sich das Dilemma liberaler Dialogpolitik: War sie einerseits Mittel, Wandel in der DDR anzuregen, ohne das Regime zu destabilisieren, gab sie dem Dialogpartner eine offizielle Bestätigung, die er eigentlich nicht verdient hatte. Diese Ambivalenz ließ sich nur so lange rechtfertigen, wie Wandel, sei er auch noch so minimal, nicht auf anderem Wege erreicht werden konnte und 143
Potthoff,;
"Koalition der Vernunft", S. 65.
144 Dem MfS zufolge hatte die LDPD-Führung im Spätsommer 1988 beschlossen, sich stärker "als Interessenvertreter ihrer Mitglieder und ihr nahestehender sozialer Schichten [zu] profilieren" sowie "im Vorfeld politischer Entscheidungen mit größerer Selbständigkeit ihre Standpunkte sichtbar zu machen und konstmktiv-kriüsch wirksam zu werden". Zitiert nach: Suckut, Ost-CDU und LDPD, S. 113. 145 Auch die LDPD erhoffte sich, daß '"sich dann auch eine andere politische Konstellaüon ergeben würde und daß dann die Rolle der einzelnen Parteien, insbesondere der LDP, wieder eine andere sein könnte'". So Kurt Wünsche in der Rückschau, zitiert nach: Engelmann, Brüchige Verbindungen, S. 96. 146
Gespräche mit Wolfgang Mischnick am 26. und 29. November 1995.
147
Vgl. Suckut, Ost-CDU und LDPD, S. 113ff. (Zitat nach: ebd., S. 113).
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die Stabilität des Systems im Interesse der Friedenssicherung lag. Für die Kontakte zur halsstarrigen SED galt dies um ein vielfaches mehr, zumal die Wandlungsprozesse in der UdSSR seit Gorbatschow sowie in Polen und in Ungarn den Maßstab, der an das Reformpotential kommunistischer Herrschaftssysteme zu legen war, neu definiert hatten. Nicht von ungefähr spielten die Gesprächspartner aus der Vor-"Wende"-Zeit in der Umbruchphase 1989/90 kaum mehr eine Rolle im Kalkül der West-Liberalen. Zwar brach man den Kontakt zur LDPD nicht ab, 148 suchte dort jedoch vor allem das Gespräch mit unteren Parteigliederungen, das vor der "Wende" verwehrt worden war. 149 Zudem nahm man Verbindung mit Vertretern der Bürgerbewegungen, die man bis dahin vernachlässigt hatte, und zu den sich Ende 1989/Anfang 1990 neu konstituierenden Parteien, vor allem zur DDR-FDP, auf. In der Tat erwiesen sich die alten Kontakte zur LDPD in der Umbruchphase eher als Hindernis. 150 Als letzte der Bundestagsparteien gelang es ihr erst Mitte Februar 1990, nur noch vier Wochen vor den Volkskammerwahlen, in der DDR ein Wahlbündnis, den Bund Freier Demokraten aus LDPD, Ost-FDP und Deutscher ForumPartei, zu schmieden, dessen Wahlerfolg zudem eher bescheiden ausfiel. Auch nach der Vereinigung zu einer gesamtdeutschen FDP im Sommer 1990 konnte die Partei keinen Nutzen aus ihren langen Beziehungen zu den DDR-Liberalen ziehen. Zwar verdreifachte sich der Mitgliederstand der West-Liberalen nahezu; zudem konnte sie sich Hoffnungen auf das Vermögen der Blockpartei machen. Doch nur fünf Jahre später ist die FDP zu einer fast reinen "West"-Partei verkommen. In den neuen Bundesländern haben Mitglieder und Wähler der Partei in Scharen den Rücken gekehrt; zum Teil haben ganze Ortsverbände ihren Austritt erklärt. Damit sind der Rückhalt im Wahlvolk und der organisatorische Unterbau 141 Die Fortsetzung der Kontakte zur belasteten Blockpartei LDPD war - anders als vor dem Umbruch in der DDR - unter den West-Liberalen nicht unumstritten: "Die neue Situation (in der DDR, CT) verlangt von der FDP eine faire, eine wirkliche Partnerschaft mit den demokratischen Gruppen in der DDR und vor allem natürlich mit den liberal Gesonnenen jenseits der Elbe. [...] Ob und wieweit die Führung der LDPD dabei unser wichtigster Ansprechpartner ist und bleibt, kann heute niemand sagen. W i r sollten weder die Rolle vergessen, die sie in der Vergangenheit spielte, noch die hoffnungsvollen Anzeichen für einen Aufbruch übersehen." Cornelia Schmalz- Jacobsen: Ein wirkliches Deutschland, in: Liberal 30 (1989), S. 5. 149 Daß die FDP dennoch eine Zusammenarbeit mit den Liberal-Demokraten nicht kategorisch ausschloß, begründete sie nach außen mit dem Wissen um "Zehntausende, die über Jahr und Tag versucht hätten, in der LDPD wenigstens das zu tun, was möglich war." Wolf gang Mischnick, zitiert nach: Die FDP will in der DDR als Partner nur "Freie Demokraten" unterstützen, in: Die Welt vom 26. Januar 1990. 130 Sie waren vielleicht nur insofern nützlich, als man angesichts des bevorstehenden Wahlkampfs zu den Volkskammer-Wahlen am 18. März 1990 auf den Apparat der LDPD und ihr flächendeckend vorhandenes Organisationsnetz Zugriff hatte. "Wichtig war doch, auch bei uns klar zu machen [...], daß wir den Apparat, den die LDP ja nun einmal hatte, nutzen sollten." Gespräch mit Horst Dahlmeyer am 2. April 1990.
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zwischen Elbe und Oder weggebrochen, ohne die es für die ohnehin arg gebeutelte FDP noch schwieriger wird, auf Bundesebene zu bestehen. Die "aus den gemeinsamen Wurzeln erwachsene Sonderbeziehung zwischen den beiden Parteien überlebte" bis zum Ende der DDR zwar "alle Rückschläge und Desülusionierungen."151 Überhaupt stellten die innerdeutschen Parteienbeziehungen eines der wichtigsten Felder dar, auf dem deutsch-deutsche Gemeinsamkeit praktiziert wurde (oder werden sollte). Doch auch für die "Sonderbeziehungen" zwischen FDP und LDPD gilt, daß sie sich als nicht tragfähig genug erwiesen, um dem Zusammenwachsen beider Partei-"Hälften" oder gar beider deutschen Gesellschaften entscheidende Impulse verleihen zu können.
151
Engelmann, Brüchige Verbindungen, S. 15.
Das Ministerium für Staatssicherheit und der Terrorismus in Deutschland Von Tobias Wunschik
A. Johannes Weinrich in Ost-Berlin Mit 25 Kilogramm Sprengstoff im Gepäck landete der deutsche Terrorist Johannes Weinrich im Mai 1982 auf dem Ost-Berliner Flughafen Schönefeld. Diese 'Einfuhr von Sprengmitteln" hätte nach geltendem DDR-Recht mit mindestens zwei Jahren Haft bestraft werden müssen (§ 206 StGB). Doch Weinrich brauchte nichts zu befürchten, schließlich war das SED-Regime dem früheren Mitglied der bundesdeutschen Revolutionären Zellen durchaus wohlgesonnen. Ein Mitarbeiter der zuständigen Abteilung X X I I des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nahm ihn umgehend in Empfang. Der Terrorist durfte mitsamt seiner Schußwaffe unbehelligt einreisen, nur der Sprengstoff wurde vorsorglich beschlagnahmt. Weinrich hatte das explosive Material indes nicht zufällig mitgeführt, sondern wollte es gegen den Westen einsetzen und bemühte sich deshalb bei wiederholten Reisen nach OstBerlin um die Rückgabe. Den Auftrag dazu erhielt er vermutlich von dem international gesuchten "Top-Terroristen" "Carlos", dessen Freundin Magdalena Kopp zuvor in Paris verhaftet worden war und die nun durch Anschläge auf öffentliche Einrichtungen Frankreichs im In- und Ausland freigepreßt werden sollte.1 Vor diesem Hintergrund verweigerte das Ministerium für Staatssicherheit lange Zeit die Rückgabe des für gewöhnlich der Sabotage dienenden Sprengstoffs. Das MfS fürchtete, Weinrich könne von Ost-Berlin aus im Westteil der Stadt zur Tat schreiten und dadurch die DDR in den Augen der Weltöffenüichkeit dem - nicht unberechtigten - Vorwurf aussetzen, sie würde den internationalen Terrorismus unterstützen. Der ostdeutsche Geheimdienst verlangte deswegen von Weinrich die Zusicherung, den Sprengstoff keinesfalls in der Bundesrepublik oder in West-Berlin einzusetzen. Da der Terrorist versprach, so vorzugehen, daß keinerlei Verdacht auf Ost-Berlin zurückfallen werde, und "Carlos" zeitweilig sogar auf weitere Anschläge verzichtete (weü er die Freüassung seiner Komplizin auf dem Verhandlungswege zu 1 Vgl. Fritz Schmaldienst und Klaus-Dieter Matschke : Carlos-Komplize Weinrich. Die internationale Karriere eines deutschen Top-Terroristen, Frankfurt a. M. 1995. Wie so oft in diesem Bereich ist auch diese journalistische Veröffentlichung "mit heißer Feder" geschrieben und bedarf daher einer kritischen Lektüre. Zu "Carlos" vgl. u.a. David A. Yallop: Die Verschwörung der Lügner, München 1993; Wilhelm Dietl: Carlos. Das Ende eines Mythos, Bergisch-Gladbach 1995.
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erreichen hoffte), erlahmte der Widerstand des MfS. Als Weinrich zusicherte, den Sprengstoff nicht selbst zu verwenden, sondern an eine "Befreiungsbewegung" weiterzuleiten, gab die Staatssicherheit seinem Drängen schließlich nach - obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt war, daß Weinrich sich in nächster Nähe schon ein konkretes Anschlagsziel ausgesucht hatte, nämlich die in West-Berlin gelegene Kultureinrichtung "Maison de France". Sogar den genauen Ort innerhalb des Gebäudes, an dem die Zeitbombe plaziert werden sollte, hatte das Ministerium - durch heimlich angefertigte Kopien von Weinrichs persönlichen Unterlagen - in Erfahrung gebracht. Doch das MfS begnügte sich fahrlässigerweise mit Weinrichs Zusicherung und händigte am Nachmittag des 16. August 1983 den Sprengstoff wieder aus. Weinrich deponierte diesen verabredungsgemäß bei einem syrischen Diplomaten in Ost-Berlin, dessen Regierung seinerzeit ihre schützende Hand über die "Carlos"Bande hielt. Doch eine Woche später wurde das hochbrisante Material nicht etwa an Dritte weitergereicht (geschweige denn unschädlich gemacht), sondern der deutsche Terrorist selbst ließ sich den Sprengstoff selbst wieder aushändigen. Noch am gleichen Tag detonierte im "Maison de France" die mittels Zeitzünder gesteuerte Sprengladung; eine Person starb und weitere 21 wurden zum Teil schwer verletzt. Zusammen mit anderen "Carlos"-Anhängern gilt heute gemeinhin Johannes Weinrich als der Täter. 2 Die duldsame Haltung des MfS gegenüber Weinrich war kein Einzelfall. Von Anfang an verhielt sich das MfS auch gegenüber anderen bundesdeutschen Linksterroristen passiv und ließ die im Westen steckbrieflich gesuchten Täter auf ihrem Weg in den Nahen Osten unbehelligt die Grenzen passieren. Darüberhinaus veranlaßtedas MfS sogar die Freilassung von Angehörigen der terroristischen Organisation Bewegung 2. Juni, nachdem diese in der Tschechoslowakei verhaftet worden waren. "Am 27. Juni 1978 wurden die Viett, Siepmann und Nicolai in Prag durch tschechische Sicherheitsorgane festgenommen und dem MfS übergeben. In der Zeit vom 28. Juni bis 12. Juli 1978 waren sie in der DDR in einem konspirativen Objekt untergebracht und wurden anschließend unter operativer Kontrolle nach Bagdad/Irak ausgeflogen." 3 Die Verhafteten an die westlichen Strafverfolgungsbehörden zu übergeben, kam der Staatssicherheit offenbar nicht in den Sinn. Der bundesdeutschen Fahndung machte das MfS abermals einen Strich durch die Rechnung, als es prüfte, ob die gefälschten Reisepässe von ÄAF-Terroristen den westlichen Sicherheitsbehörden schon bekannt waren und gegebenfalls vor der weiteren Verwendung 2 Weinrich wartet daher Anfang 1996 in bundesdeutscher Haft auf die Eröffnung der Hauptverhandlung. Alle für das Verfahren einschlägigen Unterlagen des MfS unterliegen einem Sperrvermerk der Staatsanwaltschaft und sind der wissenschaftlichen Forschung derzeit nicht zugänglich. 3 Information des Ministerium für Staatssicherheit vom 3.5.1979 zu Aktivitäten von Vertretern der palästinensischen Befreiungsorganisation in Verbindung mit internationalen Terroristen zur Einbeziehung der DDR bei der Vorbereitung von Gewaltakten in Ländern Westeuropas; Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), Zentralarchiv (ZA), Hauptabteilung (HA) X X I I 18613, Bl. 277-292, hier Bl. 287.
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dieser Pässe warnte. Die "RAF-Stasi-Connection"4 erreichte ihren ersten Höhepunkt im Oktober 1980, als acht steckbrieflich gesuchte RAF-Angehörige, die den Untergrund verlassen und aussteigen wollten, in der DDR eine neue Identität erhielten. Später durften noch zwei weitere ΛΑ/7-"Pensionäre", von der Abteilung X X I I betreut, in den "Arbeiter- und Bauernstaat" nachfolgen. Sie alle wurden mit großem Aufwand vor der westdeutschen Fahndung abgeschirmt; als in ihrem privaten Umfeld dennoch Gerüchte über ihre wahre Vergangenheit aufkeimten, organisierte die Staatssicherheit für einige von ihnen abermals eine neue Arbeitsstelle, eine neue Wohnung und vor allem einen neuen Namen. Das MfS verlangte von einer der Aussteigerinnen sogar, sich einer Gesichtsoperation zu unterziehen, um eine erneute Wiedererkennung in jedem Fall auszuschließen.5 Bisweüen kam es sogar zu einer regelrechten Kooperation mit aktiven Terroristen aus dem Westen: zwischen 1980 und 1982 beherbergte die Abteilung ΧΧΠ zweibis dreimal jährlich RAF-Angehörige, gab ihnen reichlich Zeit und Gelegenheit zu ideologischen Grundsatzdiskussionen und trainierte sie (im Zusammenhang mit dem Attentat auf US-General Frederik Kroesen) im Umgang mit Waffen. 6 In die gleiche Richtung gingen die von Spionagechef Markus Wolf kolportierten Gedankenspiele Erich Mielkes, im Fall eines militärischen Konflikts die RAF sogar in die Sabotageplanungen des MfS gegenüber dem Westen einzubeziehen.7
B. Die politischen Prioritäten des SED-Regimes Das MfS zeigte generell also wenig Neigung, die westdeutsche Fahndung nach diesen Straftätern zu unterstützen. Verschiedene Motive und Perzeptionsmuster trugen mit dazu bei, daß die Staatssicherheit den linksrevolutionären und palästinensischen Terrorismus lieber stillschweigend duldete und ihn bisweilen sogar protegierte. Absicht des Staatssicherheitsdienstes der DDR war zuallererst die lückenlose Aufklärung der terroristischen Szene. Dieses klassische nachrichtendienstliche Anliegen hatte oberste Priorität, denn nur auf der Grundlage genauer Kenntnisse konnte der ostdeutsche Geheimdienst etwaige terroristische Gefahren für die DDR 4
Vgl. Andreas Müllerund
Michael Kanonenberg: Die RAF-Stasi-Connection, Berlin 1992.
5 Vgl. Tobias Wunschik: "Denn es war ja Krieg." Der Prozeß gegen Silke Maier-Witt, in: Uwe Backes und Eckhard Jesse (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 4. Jahrgang, Bonn 1992, S. 146-156. 4 Vgl. Helmut Voigt·. "Es ging um Schmidt/Strauß", in: Der Spiegel Nr. 26/1991, S. 94 f.; Der Spiegel Nr. 14/1991, S. 22-26. Wegen des nicht sicher festzustellenden Zeitpunkts dieser Übungen (und der damit verknüpften strafrechtlichen Relevanz) wurde das diesbezügliche Ermittlungsverfahren gegen Erich Mielke und sechs seiner Mitarbeiter am 16. September 1994 eingestellt. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 17./18.9.1994, S. 2. 7
19*
Vgl. Interview mit Markus Wolf, in: Tageszeitung (taz) vom 25.8.1994, S. 10.
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abwehren bzw. die jeweilige Organisation "zielgerichtet bearbeiten", was auch immer sich im einzelnen dann dahinter verbergen mochte. Daher lautete der Auftrag des MfS, die Mitglieder extremistischer Gruppen linker wie rechter Couleur im Westen zu identifizieren, ihre Absichten zu erkunden, ihren personellen "Rückverbindungen" nach Ostdeutschland nachzuspüren und die vermutete Steuerung dieser Gruppen durch westliche Geheimdienste aufzudecken. 8 Gerade bei der Aufnahme der &4F-"Pensionäre" in die DDR stand eindeutig das Aufklärungsinteresse des MfS im Vordergrund. Hiervon versprach sich der Staatssicherheitsdienst aktuelle Auskünfte über die bundesdeutsche sowie die internationale Terrorszene. Auch "Carlos" und Weinrich wurden während ihrer DDRAufenthalte als Informationsquellen genutzt - teilweise offen, indem der Staatssicherheitsdienst in langen Gesprächen ihr Wissen "abschöpfte", teilweise verdeckt, indem er heimlich ihre Post kontrollierte, Telefongespräche abhörte sowie persönliche Unterlagen und "Tagebücher" unbemerkt kopierte. 9 Die Gastfreundschaft des MfS besonders gegenüber verschiedenen palästinensischen Gruppen war aber nicht zuletzt auch ein Ausdruck politischer Sympathie. Es entsprach der grundsätzlichen Linie der Ostblockstaaten, die "fortschrittlichen Kräfte", d.h. die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt sowie etliche "junge Nationalstaaten", als Verbündete im Kampf gegen den "Imperialismus" zu betrachten und sie dementsprechend zu fördern. Gegenüber den offenkundig militanten Kräften innerhalb dieses Lagers grenzte sich Ost-Berlin nicht deutlich ab, so daß die massive Hilfe, etwa für den Süd-Jemen,10 der offen mit der palästinensischen Terrororgansiation PFLP paktierte, einer indirekten Förderung des weltweiten Terrorismus gleichkam. Auch gegenüber der bundesdeutschen RAF bestand eine "unübersehbare Geistesverwandschaft", 11 insbesondere was die gemeinsame Frontstellung gegenüber dem "Imperialismus" betraf. Auch wenn das SED-Regime den /MF-Terrorismus förmlich ablehnte,12 beabsichtigte die Staatssicherheit doch "ein Abgleiten links-
8 Vgl. Befehl 17/79 vom 8.12.1979 zur Aufklärung, vorbeugenden Verhinderung und Bekämpfung subversiver Pläne, Absichten und Maßnahmen linksextremistischer und trotzkistischer Organisationen, Gruppen und Kräfte; BStU, ZA, Dokumentenstelle (DSt) 102619; Dienstanweisung 1/81 vom 16.3.1981 zur Aufklärung, verbeugenden Verhinderung, operativen Bearbeitung und Bekämpfung von Terror- und anderen operativ bedeutsamen Gewaltakten; BStU, ZA, DSt 102735. 9
Vgl. Der Spiegel Nr. 35/1994, S. 133.
10
Vgl. u.a. die Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik und dem Komitee für Staatssicherheit der Volksdemokratischen Republik Jemen vom 25.11.1980; BStU, ZA, DSt. 11
12
Uwe Backes: Bleierne Jahre. Baader-Meinhof und danach, Erlangen 1991, S. 200.
Vgl. u.a. Stellungnahme des Präsidiums der DKP zum Terroranschlag in Köln, abgedruckt in: Unsere Zeit vom 7.9.1977, S. 2.
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terroristischer Kräfte in das Lager des Gegners zu verhindern". 13 Gleichgerichtete politische Intentionen und identische Feindbilder spiegeln sich besonders in den eingangs genannten Phantastereien Mielkes über einen gemeinsamen "Pakt" im Kriegsfall. Ferner wollte der Staatssicherheitsdienst durch sein Entgegenkommen seine gewaltbereiten Gäste zu politischem Wohl verhalten gegenüber Ost-Berlin bewegen. Würde man restriktiver vorgehen, so die Befürchtung, könnten die Mitglieder palästinensischer Gruppierungen aus Verärgerung über den entzogenen Beistand heraus gegen die DDR aktiv werden. Keinesfalls jedoch wollte das Mielke-Ministerium sich diese Terrorgruppen zum Feind zu machen - lieber behandelte es seine palästinensischen Gäste überaus zuvorkommend und duldete stillschweigend deren Aktivitäten gegenüber dem Westen. Eine terroristische Bedrohung der DDR glaubte das MfS wohl am besten zu verhindern, indem es eine terroristische Bedrohung der BRD zuließ.14 Trotz der gegenseitigen Sympathie von SED-Regime und mancher "Befreiungsbewegung" mußte gerade das Ministerium für Staatssicherheit stets die objektiven Sicherheitsbelange der DDR im Auge behalten und alle Eventualitäten einkalkulieren. Der spektakuläre Terroranschlag palästinensischer Terroristen während der Olympischen Spiele in München im Jahre 1972 beispielsweise gab Anlaß zu der Befürchtung, so etwas könne sich während der Weltjugendfestspiele in Ost-Berlin im Folgejahr wiederholen. Deswegen begegnete das MfS den verschiedenen militanten Gruppen immer auch mit Mißtrauen - trotz aller Gastfreundschaft wurden die hochkarätigen palästinensischen Terroristen während ihrer DDR-Aufenthalte permanent überwacht und in Operativen Vorgängen "bearbeitet". Angesichts der ideologischen Ausrichtung dieser Kräfte war die Befürchtung, die genannten Gruppen könnten die Fronten wechseln und sich gegen die DDR wenden, natürlich weitgehend irreal. Doch zumindest der ideologisch wenig dogmatische und in seinen Handlungen letztlich unberechenbare "Carlos" stellte ein gewisses potentielles Sicherheitsrisiko dar. Daß Ost-Berlin die internationalen Terroristen nicht vorbehaltslos unterstützte, resultierte aus diesen Sicherheitsproblemen, gewissen taktischen Überlegungen und einer ideologisch begründeten Skepsis gegenüber bestimmten Formen des "individuellen Terrorismus". Dessen Stoßrichtung gegen den Westen registrierte das MfS zwar mit Wohlwollen, hielt jedoch die "Kampfform" für kritikwürdig oder - im 13 Erfahrungen der Abteilung X X I I bei der Organisierung der vorbeugenden Terrorabwehr vom März 1988; BStU, ZA, HA X X I I 5538, Bl. 127-145, hier Bl. 140. 14 "Solange es gelang, im Kontakt mit Terroristen eine Verschonung der DDR [vor terroristischen Anschlägen] zu erreichen, war alles legitim, was an Duldung und Förderung [des internationalen Terrorismus] in Kauf genommen werden mußte." Peter Siebenmorgen : "Staatssicherheit" der DDR. Der Westen im Fadenkreuz der Stasi, Bonn 1993, S. 206.
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Sinne einer längerfristigen Strategie - gar für kontraproduktiv. 15 Der subtilen Neigung der SED, dem bundesdeutschen "Imperialismus" durch die Förderung des Linksterrorismus vielleicht den ein oder anderen Schlag zu versetzen, standen vor allem die wirtschaftlichen Interessen Ost-Berlins entgegen.16 Als nachteilig für das MfS erwiesen sich auch die durch den ÄAF-Terrorismus in den siebziger Jahren ausgelösten polizeilichen Fahndungswellen und die in diesem Zuge verstärkten allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen der Bundesrepublik. 17 Dies konnte die MfSMitarbeiter im "Operationsgebiet" gefährden sowie - in der Optik der SED - dem Westen zur "Unterdrückung" der "demokratischen Kräfte" unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung dienen.18 Der mit Abstand wichtigste Grund aber, die zu Gewalthandlungen neigenden Gäste immer wieder zur Mäßigung anzuhalten und sie nicht offen zu unterstützen, war die rein taktisch bedingte Sorge des MfS vor außenpolitischen Komplikationen. Dies kam in der eingangs geschilderten unentschossenen Haltung der Staatssicherheit vor dem "Maison de France"-Anschlag deutlich zum Ausdruck. In den Augen der Weltöffentlichkeit der Unterstützung der weltweiten Terrorszene überführt zu werden, hätte dem SED-Regime schweren politischen Schaden zugefügt. 19 Deswegen hielt das MfS die Terroristen dazu an, sich auch innerhalb der DDR konspirativ zu bewegen und aus dem gleichen Grund wurde die immer schwerer zu verbergende Unterstützung des internationalen Terrorismus 20 ab 1984 deutlich reduziert. 15
So beschrieb eine 1983 in die DDR aufgenommene Ex-Terroristin die seinerzeitige Position der MfS-Mitaibeiter wie folgt: "Einerseits fanden sie die terroristische Praxis falsch und schädlich, andererseits respektierten sie die revolutionäre Moral der RAF und ihre antiimperialistische Überzeugung". Inge Viett: Wahr bleibt..., in: Konkret Nr. 3/1992, S. 28 f. 16 So behaupten die genannten Autoren Andreas Müller und Michael Kanonenberg, das MfS habe im Jahre 1982 im Zuge des anstehenden Milliardenkredites an die DDR für eine Beendigung der Zusammenarbeit mit der RAF gesorgt, indem es die Verhaftung führender RAF-Mitglieder in der Bundesrepublik ermöglichte und Bonn damit einen wichtigen Fahndungserfolg bescherte. Ein ehemaliger Mitarbeiter des MfS hat dagegen versichert, Christian Klar sei vor dem Aufsuchen des Depots ausdrücklich gewarnt worden. Vgl. Wolfhard Klein, "Nix, oder wie's war" in: Konkret Nr. 10/1992, S. 32 f. 17 Vgl. u.a. Schreiben Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten vom 7.4.1977 über politisch-operative Maßnahmen nach dem Attentat auf den Generalbundesanwalt Buback; BStU, ZA, SdM 1931, Bl. 276280. 18 Vgl. u.a. Einschätzung der Abteilung X X I I vom 14.11.1978 zu rechtlichen Regelungen zur Terrorismusbekämpfung in der BRD; BStU, ZA, HA XXII777, Bd. 4, Bl. 2-4. 19 Vgl. hierzu auch die offiziellen Konsultationen der DDR und der USA zu Fragen der Terrorismusbekämpfung vom Februar 1988; BStU, ZA, H A XXII18138. 20 Den westlichen Regierungen blieben die Unterstützungsleistungen der DDR nicht verborgen. So benannten mehrere in den Westen übergesiedelte DDR-Bürger übereinstimmend Kothen bei Halle als den Wohnort der ehemaligen Terroristin Susanne Albrecht. Vgl. Butz Peters: RAF. Terrorismus in Deutschland, Stuttgart 1991, S. 21. Und "Carlos" gab mittels eines in Ost-Berlin aufgegebenen Bekennerschreibens dem Westen angeblich sogar persönlich von seinem Aufenthalt in Ost-Berlin Kenntnis. Vgl. David A. Yallop: Die Verschwörung der Lügner, München 1993, S. 515. In Anbetracht der insgesamt lückenhaften Beweiskette und im Interesse der innerdeutschen Beziehungen wurden diese Zusammenhän-
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Da in diesem Zeitraum auch der Aufenthalt da* "Carlos"-Bande nicht mehr geduldet wurde, 21 ist offenkundig, daß sich die Staatssicherheit sogar dieses gefährlichen Zeitgenossen erwehren konnte. Die DDR von terroristischer Gewalt frei zu halten, wäre also auch anders möglich gewesen, als die weltweit gesuchten Gewalttätern durch Duldung und Unterstützung zu Wohlwollen gegenüber Ost-Berlin zu bewegen. Noch deutlicher wird der wahre Charakter der "Terrorabwehr" des MfS in der Absicht der Abteilung ΧΧΠ, die Terrorismusbekämpfung der demokratischen Staaten nicht etwa zu unterstützen, sondern aufzuklären und zu "bearbeiten". In mindestens einem Fall sollten aktive Maßnahmen des MfS das Kölner Bundesamt für den Verfassungsschutz bei dessen Aufklärung des Terrorismus behindern und verunsichern. 22 In den Augen der nutznießenden Gäste blieb die Unterstüzung des MfS natürlich ungenügend. Sie hätten es wohl am liebsten gesehen, wenn sich ihre Gastgeber auf eine richtiggehende politische Allianz eingelassen hätten. Der ÄAF-Terrorist Helmut Pohl, der gegen Ende seiner Schießübungen in Ostdeutschland ebenfalls die zunehmend restriktive Linie des MfS zu spüren bekam, mußte etwas resigniert konstatieren: "Je länger der Kontakt dauerte, desto schwieriger wurde es. Gegen Ende ist für uns nicht viel mehr übriggeblieben als das Risiko der Hin- und Rückreise [von der BRD in die DDR]. Wir hatten den Eindruck, da ist nur noch Defensive, nur Behauptung und Rechtfertigung, eben 'Sicherung des Sozialismus' und Friedenspolitik. Wir hätten - statt mit ihnen zu reden - auch das 'Neue Deutschland' lesen können, so aufgesetzt, so phrasenhaft war das."23
C. Die Abteilung X X I I des Ministeriums für Staatssicherheit Zu Beginn der siebziger Jahre hatte der Westen eine spürbare Zunahme der politisch motivierten Gewalt registirieren müssen. Als radikalisiertes Zerfallsprodukt der "Außerparlamentarischen Opposition" entstanden in der Bundesrepublik Organisationen wie die ÄAF, die Bewegung 2. Juni oder die Revolutionären Zellen} 4 Die ge von der Bundesregierung allerdings nicht thematisiert S.a. Heribert Prantl: Die Paten des Terrors, in: Süddeutsche Zeitung vom 29.3.1991, S. 4. 21 Vgl. Jahresplan 1985 der Abteilung X X I I vom 20.12.1984; BStU, ZA, HA X X I I 5778, Bl. 630675, hier Bl. 640. 22 Vgl. Vorschlag von Oberst Horst Franz vom 12.2.1985 zur Durchführung einer Offensivmaßnahme gegen das Bundesamt für den Verfassungsschutz (OV "Reiter"); BStU, ZA, HA XXII5619, Bl. 3 f. Nach Einschätzung des MfS wurde der "gegnerische Nachrichtendienst erheblich und mit Langzeitwirkung desinformiert und verunsichert". Wesentliche Ergebnisse der Erfüllung der Plan- und Kampfaufgaben der Abteilung X X I I vom 18.7.1985; BStU, ZA, HA Χ Χ Π 5601, Bl. 233-238. 23
Vgl. Interview mit Helmut Pohl, in: Frankfurter Rundschau vom 2.7.1991, S. 7 f.
24
Vgl. Iring Fetscher und Günter Rohrmoser: Ideologien und Strategien, Opladen 1981; Herbert
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mit ihnen verbündeten palästinensischen Gruppen verstärkten im gleichen Zeitraum ihre Aktivitäten beträchtlich. Auf diese Entwicklung reagierte das MfS mit der Gründung einer eigenen Diensteinheit zur "Terrorabwehr". 25 Die 1975 formierte Abteilung ΧΧΠ 2 6 wurde zunächst von Oberst Harry Dahl geleitet, ab 1985 von Horst Franz. Bis 1980 wuchs die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter auf fast 140 Personen, doch auch mit 248 Mitarbeitern im Jahre 1988 zählte die Abteilung noch zu den kleineren Diensteinheiten im Ministerium für Staatssicherheit. Durch die im März 1989 erfolgte Vereinigung mit der für die unmittelbare militärische Bekämpfung von Gewalttätern zuständige Abteilung ΧΧΙΠ erhöhte sich die Zahl der Mitarbeiter auf zuletzt 878 Personen (Stand 31. Oktober 1989).27 Der Abteilung ΧΧΠ kam die "Federführung" bei der Beobachtung, Bekämpfung und gegebenenfalls auch der Unterstützung des internationalen Terrorismus zu.28 Anders als die Bezeichnung des Aufgabengebietes "Terrorabwehr" vermuten läßt, umfaßte ihr Tätigkeitsfeld aber auch die vorsorgliche und umfassende Beobachtung des politischen Extremismus in der Bundesrepublik sowie die Aufklärung von anonymen Drohungen gegen das SED-Regime. Verantwortlich war die Abteilung X X I I immer dann, wenn die Staatssicherheit glaubte, beim "Gegner" eine BereitJäger, Gerhard Schmidtchen und Lieselotte Süllwold: Lebenslaufanalysen, Opladen 1981 ; Wanda von Baeyer-Katte, Dieter Ciaessens, Hubert Feger und Friedhelm Neidhardt (Hrsg.): Gruppenprozesse, Opladen 1982; Ulrich Matz und Gerhard Schmidtchen: Gewalt und Legitimität, Opladen 1983; Fritz Sack und Heinz Steinert: Protest und Reaktion, Opladen 1984 (=Analysen zum Terrorismus Bd. 1-3,4/1 u. 4/2, hrsg. v. Bundesministerium des Inneren) sowie Henner Hess (Hrsg.): Angriff auf das Herz des Staates Bd. 1, Frankfurt a.M. 1988; Heiner Geißler (Hrsg.): Der Weg in die Gewalt. Geistige und gesellschaftliche Ursachen des Terrorismus und seine Folgen, München 1978; Hans-Dieter Schwind (Hrsg.), Ursachen des Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978; Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex, Hamburg 1986; Hans Josef Horchern: Die verlorene Revolution. Terrorismus in Deutschland, Herford 1988; Jillian Becker: Hitlers Kinder? DerBaader-Meinhof-Terrorismus, Frankfurt a.M. 1978; sowie die Autobiographien von Michael (Bommi) Baumann: Wie alles anfing, Berlin 1975, und Hans-Joachim Klein: Rückkehr in die Menschlichkeit. Appell eines ausgestiegenen Terroristen, Reinbek 1979. 25 Vgl. Gesprächskonzeption für Mielke zu einer Unterredung mit Honecker vom März 1983: Die Organisation einer wirksamen Terrorabwehr in der DDR als Konsequenz aus der aktuellen Entwicklung der internationalen Klassenkampfsituation; BStU, ZA, HA X X I I 1182, Bl. 228-235, hier Bl. 229. 26 Zu Aufgaben und Struktur der Abteilung X X I I sowie für weitere Quellenhinweise s. Tobias Wunschik: Hauptabteilung XXII: "Terrorabwehr" (Klaus-Dietmar Henke, Siegfried Suckut, Clemens Vollnhals, Walter Süß und Roger Engelmann (Hrsg.): Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur, Methoden. MfS-Handbuch, Teil III. 16), BStU, Berlin 1995. S.a. Peter Siebenmorgen: "Staatssicherheit" der DDR. Der Westen im Fadenkreuz der Stasi, Bonn 1993, S. 201-235. 27 Vgl. Jens Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS (MfS-Handbuch, Teil IV. 1), BStU, Berlin 1995. M Vgl. Dienstanweisung 1/81, S. 8 und 22. Siehe auch Protokoll der Beratung des Leiters der Hauptabteilung X X I I vom 4.4.1989; BStU, ZA, HA X X I I 884, o. Pag.; Geheime Verschlußsache 4/85 vom 15.2.1985: Bekämpfung feindlicher Stellen und Kräfte im Operationsgebiet, die subversiv gegen die DDR und andere sozialistische Staaten tätig sind (außer imperialistische Geheimdienste und kriminelle Menschenhändlerbanden); BStU, ZA, DSt 103142.
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schaft zur Ausübung von Gewalt gegen die DDR erkennen zu können: "Entscheidendes Kriterium dafür, daß sich die Abteilung ΧΧΠ der Aufklärung, operativen Kontrolle und Bearbeitung von Stellen und Kräften des Operationsgebietes zuwendet, ist ein Terror- bzw. anderer operativ bedeutsamer Gewaltbezug."29 Im Visier der Abteilung ΧΧΠ standen die militanten Gruppen im palästinensischen bzw. arabischen Lager (wie der bereits erwähnte "Carlos" oder die Abu-NidalGruppe), die bereits genannten linksterroristischen Organisationen in der Bundesrepublik sowie die "autonome" und "antiimperialistische" Szene in West-Berlin. 30 Prophylaktisch beobachtete die Diensteinheit auch noch weitere westeuropäische Terrorgruppen (wie die italienischen Roten Brigaden, die baskische ETA oder die irische IRA).31 Ferner richtete die Abteilung ΧΧΠ ihre Aufmerksamkeit auf den weitaus weniger militanten politischen Linksextremismus in der Bundesrepublik. 32 Zielgruppen waren alle deutlich links von der SPD stehenden Gruppierungen mit DDR-kritischer bis feindlicher Ausrichtung (wie die Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten mit ihrer Sektion DDR oder der Kommunistische Bund Westdeutschlands). Im Verständnis des Mielke-Ministeriums handelte es sich hierbei um "trotzkistisch" oder "maoistisch" inspirierte Abweichungen vom SED-Sozialismus.33 Des weiteren befaßte sich die Abteilung ΧΧΠ mit der Tageszeitung (taz) 34 , bei der sie wertvolle Erkenntnisse über die bundesdeutsche linksterroristische Szene zu gewinnen hoffte. Die Abteilung ΧΧΠ operierte aber auch gegen die neonazistische und rechtsextreme Szene in der Bundesrepublik (wie die Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten, die Kampfgruppe 29 Vgl. Thesen zur Auswertung der multilateralen Beratung zu Problemen des sogenannten internationalen Terrorismus in Varna o.D. [Anfang Dezember 1987]; BStU, ZA, HA XXII18118, Bl. 23-93, hier Bl. 28. Als Gewaltandrohungen betrachtete die Staatssicherheit "demonstrative Bekundungen bzw. Ankündigungen von Terror- und anderen operativ bedeutsamen Gewaltakten, insbesondere Attentate, Morde, Geiselnahmen, Entführungen, Erpressungen, Überfälle, Sprengstoffanschläge, Explosionen, Brände, sogenannte 'Bombenlegungen' und andere Gemeingefahren." 5. Durchführungsbestimmung zur Dienstanweisung 1/81 vom 12.7.1984, 22 S.; BStU, ZA, DSt 102735. 30 Vgl. Jahresplan 1987 der Abteilung X X I I vom 30.12.1986; BStU, ZA, HA X X I I 5778, Bl. 263325, hier Bl. 277 f. 31 Vgl. Entwurf einer Präzisierung der operativen Verantwortlichkeiten (Arbeitsgegenstände) der Referate 1 und 3 der Abteilung XXII/8 vom 28.6.1988; BStU, ZA, HA X X I I 5479, Bl. 1-8; Vorgaben des Leiters der Abteilung XXII/8, Helmut Voigt, für die Jahresplanung 1989 des Referat 1 vom 27.10.1988; BStU, ZA, HA X X I I 5479, Bl. 9-11. 32
Vgl. Befehl 17/79.
33 Vgl. hierzu u.a. Auskunftsbericht der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) vom 25.10.1979 zu linksextremistischen und trotzkistischen Organisationen, Gruppen und Kräften und ihre gegen die DDR gerichteten Aktivitäten (Band I); BStU, ZA, ZAIG 8104; Ergebniszusammenfassung und Inhaltsverzeichnis der Forschungsarbeit 'Wesen und Rolle in der BRD und Westberlin existierender pseudorevolutionärer linksextremistischer Kräfte und Gruppen' der Juristischen Hochschule Potsdam (JHS) vom 7.8.1975; BStU, ZA, JHS 21860, 83 S. 34
Vgl. Tageszeitung (taz) vom 28. bis 31.12.1992 (Serie), S. 5.
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Priem und die Wehrsportgruppe Hoffmann). Hinzu kamen noch verschiedene militante Exilorganisationen (wie exilafghanisch-islamische Kräfte oder auch die türkischen rechtsextremen Grauen Wölfe) sowie einige dezidiert antikommunistische Gruppen (wie das Brüsewitz-Zentrum und die Arbeitsgemeinschaft 13. August - Haus am Checkpoint Charlie). Zur Aufklärung der genannten Personen und Organisationen bediente sich das Mielke-Ministerium seiner Inoffiziellen Mitarbeiter (IM). Der Staatssicherheitsdienst beabsichtigte, geeignete "überörtlich einsetzbare IM" zu gewinnen und sie in das terroristische Milieu einzuschleusen.35 Das Anforderungsprofil an die I M im linksextremen Bereich zielte auf "Szenekenner" aus dem Westen, von denen sich die Staatssicherheit den besten Überblick über die verschiendenen militanten Organisationen versprach (wie etwa Rechtsanwälte von inhaftierten Terroristen). Werbungen aus dem eigentlichen terroristischen Milieu sollten nur unter bestimmten Bedingungen und unter größter Vorsicht vorgenommen werden. Gefragt waren auch DDRBürger, die an "Berührungspunkten" mit den verschiedenen terroristischen Organisationen eingesetzt werden konnten (insbesondere ostdeutsche Verwandte von bundesdeutschen Linksextremisten). Darüber hinaus wurden ostdeutsche Partnerinnen von den in der DDR lebenden Arabern gezielt für eine Zusammenarbeit geworben. Da auch Vorteile in der Konspiration dafür sprachen, Inoffizielle Mitarbeiter innerhalb Ostdeutschlands zu werben, kamen von den 161 Inoffiziellen Mitarbeitern der gesamten Abteilung ΧΧΠ lediglich 35 aus dem Westen, vornehmlich aus der Bundesrepublik. 36 Auffällig ist auch der in dieser Diensteinheit hohe Anteil Inoffizieller Mitarbeiter mit direktem "Feindkontakt" (1MB). 37 Von dieser Kategorie setzte allein die Abteilung ΧΧΠ gegen die einzelnen palästinensischen und arabischen Gruppierungen bis zu sechs Mitarbeiter ein (etwa gegen Abu Nidal). 38 Zur Aufklärung der französischen Action Directe war lediglich ein 1MB im Einsatz, nämlich der ehemalige &4F-Anwalt Klaus Croissant. 39 Der ehemalige 35 Vgl. Entwurf einer Dienstanweisung von 1977 zur vorbeugenden Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung von Terror- und anderen schwerwiegenden Gewaltakten; BStU, ZA, H A XXII865, o. Pag. 36 Die Zahl umfaßt 1MB (Inoffizieller Mitarbeiter mit Feindkontakt), IME ( I n o f f i z i e l l e r Mitarbeiter für besondere Einsätze) und IMS (Inoffizieller Mitarbeiter für Sicherheit). Vgl. Analyse der Abteilung X X I I vom 24.4.1987 zur Einschätzung der Wirksamkeit der IM-Arbeit in der Abteilung X X I I ; BStU, ZA, HA XXII17846, Bl. 12-29, hier Bl. 21. 37 Die 1MB machten ein Drittel aller Inoffizieller Mitarbeiter der "Terrorabwehr" aus (der Kategorien 1MB, IME und IMS), während ihr Anteil im gesamten Staatssicherheitsdienst (allerdings ohne HV A) nur 3,6 Prozent betrug. Vgl. Helmut Müller-Enbergs: IM-Statistik 1985-1989 (BF informiert 3/1993. Hrsg. vom BStU, Abt. Bildung und Forschung), Berlin 1993, S. 9. 38 Vgl. Analyse des Leiters der Abteilung XXII/8, Oberstleutnant Helmut Voigt, vom 22.2.1989 zur IM-Arbeit auf der Grundlage der 1988 erzielten Ergebnisse bei der Qualifizierung und Erweiterung des IM-Bestandes in den Kategorien IMB/IMS; BStU, ZA, HA XXII521, o. Pag. 39
Vgl. Tageszeitung (taz) vom 5.1.1993, S. 1 und vom 12.2.1993, S. 2.
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Angehörige der Bewegung 2. Juni Till Meyer 40 war dem MfS genauso zu Diensten wie der Ex-Terrorist und DDR-Bürger Werner Lotze.41 Im Umfeld der genannten rechtsextremen Zielgruppen hatte die Abteilung ΧΧΠ jeweils maximal drei I M plaziert. 42 Als sehr ergiebig erwies sich dabei der direkte "operative Kontakt" zu dem RechtsteiToristen Odfried Hepp.43 Die politische Brisanz des Arbeitsgegenstandes erforderte immer wieder Rückendeckung "von oben". Insbesondere das Vorgehen gegenüber den bundesdeutschen Linksterroristen erfolgte unter direkter Kontrolle des Leiters der Abteilung X X I I und auf Bestätigung durch die oberste Leitungsebene im Ministerium. 44 Die Auswahl der zu bearbeitenden "Zielobjekte" und die Grundkonzeption der in diesem Zusammenhang zu tätigenden "Treffs" benötigten die Zustimmung des Stellvertreter des Ministers Gerhard Neiber oder sogar von Mielke selbst.45 Daß auch Honecker über die "RAF-Stasi-Connection" im Bilde war, kann nach heutigem Kenntnisstand als wahrscheinlich gelten, läßt sich aber nicht sicher belegen. Der Kreis der Eingeweihten, die im Ministerium um die Duldung des internationalen Terrorismus wußten, wurde sehr klein gehalten; mit anderen MfS-Diensteinheiten arbeitete die Abteilung ΧΧΠ deswegen legendiert zusammen.46 Diese strikte Konspiration führte vermutlich dazu, daß die Unterstützung des bundesdeutschen Linksterrorismus außerhalb der Abteilung X X I I im MfS kaum publik wurde. Zugleich profitierte die Abteilung ΧΧΠ von der Zusammenarbeit mit der Auslandsspionage HV A (besonders die "Bearbeitung" des palästinensischen Terrorismus betreffend). Hinsichtlich der Beobachtung des politischen Extremismus in der Bundesrepublik lag die "Federführung" grundsätzlich bei der Abteilung ΧΧΠ. Sie war zuständig für die Informationssammlung und -auswertung, während der HVA das "gezielte Eindringen" in die jeweilige Organisation oblag. Dabei notwendige 40
Vgl. Tageszeitung (taz) vom 27.1.1992, S. 3.
41
Vgl. Tobias Wunschik: Biographisches Porträt: Werner Lotze, in: Uwe Backes und Eckhard Jesse (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 5. Jahrgang, Bonn 1993, S. 177-189. 42 Vgl. Analyse der Abteilung XXII/1 vom 17.10.1988 zum neonazistischen Potential des Operationsgebiet; BStU, ZA, HA XXII1189, Bl. 6-50. 43
Vgl. Der Spiegel Nr. 47/1991, S. 137-144.
44 Vgl. u.a. Wichtige sicherheitspolitische Erkenntnisse der Abteilung X X I I vom 13.6.1978 zu aktiven DDR-Rückverbindungen des zum "führenden Kern" der anarchistisch-terroristischen "Bewegung 2. Juni" in West-Berlin gehörenden Till Meyer; BStU, ZA, HA XXII1191, Bl. 2-6, hier Bl. 6. 45 Vgl. Referat von Gerhard Neiber vom 25.1.1983 auf der Zentralen Dienstkonferenz des Arbeitsbereich Neiber; BStU, ZA, HA XXII5842, Bl. 458-680, hier Bl. 565. Mielke bestätigte beispielsweise auch, daß die RAF-Aussteigerin Inge Viett für das Jahr 1983 als I M zu werben sei. Vgl. Jahresplan 1983 der Abteilung X X I I vom 23.12.1982; BStU, ZA, HA XXII5778, Bl. 1296-1338, hier Bl. 1304. 46 Vgl. Entwurf einer Präzisierung der operativen Verantwortlichkeiten (Arbeitsgegenstände) der Referate 1 und 3 der Abteilung ΧΧΠ/8 vom 28.6.1988; BStU, ZA, HA XXII5479, Bl. 1-8, hier Bl. 5.
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"politisch-operative Maßnahmen" sollten gemeinsam abgestimmt werden. 47 Da die "Carlos"-Anhänger häufiger noch als in Ost-Berlin in diversen anderen osteuropäischen Metropolen weilten, kam auch der Kooperation mit den "Bruderorganen" ein hoher Stellenwert zu.48 Darüber hinaus hatte die bereits erwähnte Abteilung ΧΧΙΠ (neben Pflichten bei der praktischen Bekämpfung von Gewalttätern) auch die Aufgabe, Personen aus den "jungen Nationalstaaten" für den "illegalen bewaffneten Kampf auszubüden. Wichtigste delegierende Organisation sollte beispielsweise im Jahre 1989 der Afrikanische Nationalkongreß (ANC) sein.49 Allein durch die Abteüung ΧΧΠΙ - bis 1988 hieß sie AGM/S - waren seit 1970 in 164 Lehrgängen 1895 Personen aus 15 Staaten in dieser Weise geschult worden. 50
D. "Terrorismus" in Deutschland Die Duldsamkeit gegenüber den deutschen Linksterroristen und das Selbstverständnis der Abteüung ΧΧΠ als "Abwehr"-Diensteinheit spiegeln die Sorge des MfS wider, der westliche Terrorismus könne auf den Osten Deutschlands "überschwappen". 51 Zumindest der Rechtsextremismus, in der DDR vertreten durch einige "Kampfsportgruppen" von Jugendlichen, die in der Endphase des Regimes einen gewissen Organisationsgrad erreichten und eine beachtliche Militanz zeigten,52 stellte ein Problem für beide deutschen Staaten dar. Grundsätzlich jedoch entwickelte sich der gewaltbereite politische Extremismus vor allem in der liberalen Gesellschaftsordnung des Westens und richtete sich auch fast ausschließlich gegen die demokratischen Staaten.53 Militanter Widerstand mit revolutionärer Zielsetzung wie im Westen war innerhalb des stark repressiven politischen Systems der DDR undenkbar. 54 Insbesondere die Motivation des Täterpotentials unterschied den Terro47
Vgl. Befehl 17/79, S. 3 f.
48 Vgl. Gesprächskonzeption für Mielke zu einer Unterredung mit Honecker vom März 1983: Die Organisation einer wirksamen Terrorabwehr in der DDR als Konsequenz aus der aktuellen Entwicklung der internationalen Klassenkampfsituation; BStU, ZA, HA XXII1182, Bl. 228-235, hier Bl. 231. 49 Vgl. Lageeinschätzung der Abteilung 7 der Hauptabteilung X X I I vom 9.10.1989; BStU, ZA, H A X X I I 5934, Bd. 2, Teil 1, Bl. 165-176. 50 Vgl. Referat von Klaus Bützow in Anwesenheit von Horst Franz aus Anlaß der Bildung der Hauptabteilung vom 28.2.1989; BStU, ZA, HA XXII884, o. Pag. 51 S. a. Rudolf Maerker: Angst vor dem Überschwappen des Terrorismus? Die DDR und der Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutschland Archiv Nr. 12/1977, S. 1248-1250. 52 Vgl. u.a. Walter Süß: Zu Wahrnehmung und Interpretation des Rechtsextremismas in der DDR durch das MfS (Analysen und Berichte, Reihe Β 1/93, hrsg. vom BStU, Abt. Bildung und Forschung), Berlin 1993. 53
54
Vgl. u.a. Paul Wilkinson : Terrorism and the liberal state, Basingstoke 1986. Soweit es in Einzelfällen dennoch zu politisch motivierter Gewalt kam, wurde dies seinerzeit
Das Ministerium für Staatssicherheit und der Terrorismus in Deutschland
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rismus im Westen deutlich von den Formen politisch motivierter Gewalt, die es auch im Osten Deutschlands gab. So versuchten einzelne DDR-Bürger, durch die Geiselnahme von untergeordneten Parteifunktionären ihre Ausreise in den Westen zu erzwingen. 55 Ferner ereigneten sich in den vierzehn Bezirken der DDR und in OstBerlin beispielweise im Jahre 1985 rund 350 Vorkommnisse, die als "Androhung von Terror" aufgefaßt wurden. 56 Diese anonymen oder Pseudonymen Drohungen, fernmündlich oder schriftlich vorgetragen, betrafen verschiedene staatliche und gesellschaftliche Institutionen der DDR und bisweilen auch führende staatliche Repräsentanten. Hintergrund waren oftmals die zurückgewiesenen Ausreiseanträge der Betreffenden; daneben befanden sich auch politische "Wirrköpfe" und übermütige Jugendliche unter den Tätern. Weitergehende politische Ziele verfolgten sie in der Regel nicht. Selbst der spektakulärste "Gewaltakt", das vermeintliche "Honecker-Attentat" vom 31. Dezember 1982, resultierte in Wirklichkeit aus der rein zufälligen Konfrontation eines "waffenvernarrten", alkoholisierten Autofahrers mit der Wagenkolonne des Staatsratsvorsitzenden. 57 In ihrer Erscheinungsform dem internationalen Terrorismus noch am ähnlichsten war die Luftpiraterie. Zwischen 1962 und 1973 unternahmen ostdeutsche Bürger insgesamt vierzehnmal den Versuch einer Flugzeugentführung. Viermal waren sie erfolgreich - so bemächtigten sich Einzelpersonen zweier kleinerer Flugzeuge ohne Passagiere in den Jahren 1964 und 1965 sowie einer Militärmaschine im Jahre 1969. Im gleichen Jahr entführten zwei DDR-Bürger gemeinsam ein polnisches Passagierflugzeug nach Berlin-Tegel. Alle anderen Täter wurden überwältigt bzw. von den Piloten über den Ort der Landung (innerhalb der DDR und nicht, wie gefordert, im Westen) getäuscht. Ein Marinesoldat beging im Jahre 1970 nach einer geflissentlich verschwiegen, weil dies nicht zu der Vorstellung der "entwickelten sozialistischen Gesellschaft" paßte. Im Nachhinein jedoch ziehen die ehemaligen Mitarbeiter des MfS diese "Gewalthandlungen" gerne heran, um die Existenz von Kräften zur Terrorismusbekämpfung zu rechtfertigen. Vgl. Interview mit Gerhard Neiber, in: Neues Deutschland vom 23./24.6.1990, S. 9. 55 Vgl. Referat Gerhard Neibers vom 25.1.1983 auf der Zentralen Dienstkonferenz des Arbeitsbereich Neiber; BStU, ZA, HA Χ Χ Π 5842, Bl. 458-680, hier Bl. 624 und 627. 56 Der genaue Zeitraum war der 1.10.1984 bis zum 30.9.1985. Vgl. Einschätzung der Abteilung ΧΧΠ/2 vom 4.10.1985 zur politisch-operativen Lage im Zeitraum vom 1.10.1984 bis 30.9.1985; BStU, ZA, H A X X I I 1734, Bl. 68-77. Übersicht'der Abteilung XXII/2 über anonyme Drohanmfe im Monat Juni 1988; BStU, ZA, HA X X I I 5601, Bl. 92 f. Diese "Gewaltdrohungen" wurden nur in seltenen Ausnahmefällen umgesetzt Von den anonymen und Pseudonymen Drohungen konnte das MfS - etwa auf der Grundlage von Stimmenvergleichen bei aufgezeichneten Anrufen - rund ein Viertel aufklären. Vgl. Material zum Referat des Leiters der Delegation des MfS, Gerhard Neiber, auf der multilateralen Beratung der Bruderorgane vom 24.-27.11.1987 in Varna/Volksrepublik Bulgarien; BStU, ZA, HA ΧΧΠ 18605, Bl. 40-248, hier Bl. 157. Möglicherweise war diese Zahl gegenüber den Vertretern anderer sozialisüscher Geheimdienste geschönt worden, denn vier Jahre zuvor hatte Neiber noch eine Aufklärungsquote von lediglich 15 Prozent genannt. Vgl. Referat Gerhard Neibers vom 25.1.1983 auf der Zentralen Dienstkonferenz des Arbeitsbereich Neiber; BStU, ZA, HA X X I I 5842, Bl. 458-680, hier Bl. 588. 57
Vgl. Jan Eik: Besondere Vorkommnisse. Politische Affairen und Attentate, Berlin 1995, S. 155-187.
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Tobias Wunschik
solchermaßen vereitelten Flucht zusammen mit seiner Ehefrau Selbstmord. "Bei allen Flugzeugentführungen und Terrorhandlungen verfolgten die Täter das Ziel, die DDR ungesetzlich zu verlassen"58 - keiner der Entführer hatte weitergehende politische Ambitionen. Um Entführungsversuche von Maschinen der DDR-Luftfahrtsgesellschaft Interflug von vornherein zu unterbinden, waren dann spätestens in den achtziger Jahren bei jedem Flug nach Polen, Ungarn und in die Tschechoslowakei zwei legendierte Mitarbeiter der Staatssicherheit mit an Bord. 59 Die Motivation dieser Täter beschränkte sich auf die Absicht, der DDR persönlich den Rücken zu kehren. Anders als die linksrevolutionären Terroristen im Westen beabsichtigten sie nicht das politische System als solches zu destabilisieren. Soweit politisch motivierte Gewalttäter innerhalb der DDR überhaupt präsent waren, wurden sie entweder durch das MfS selbst geduldet (wie die palästinensischen Terroristen) oder aber sie waren durch die zeitweise restriktive Ausreisepraxis des SED-Regimes60 in gewisser Weise erst zur Gewalt angestiftet worden (wie einige wenige Ausreisewillige). Daß all dies mit der terroristischen Bedrohung, der sich die westliche Welt zu erwehren hatte, nicht zu vergleichen war, zeigt auch der Umstand, daß bei kaum einem Vorfall ostdeutsche Bürger Schaden an Leib oder Leben nahmen. Soweit die Staatssicherheit ernsthaft ein "Terrorismusproblem" für die DDR vermutete, trug ihr überzogenes Sicherheitsdenken zweifellos hypochondrische Züge.
58 Einschätzung der Hauptabteilung V I über geplante, versuchte und gelungene Anschläge auf den zivilen Luftverkehr vom 12.2.1973; BStU, ZA, HA V I 1432, Bl. 190-245, hier. Bl. 190. Siehe auch Focus Nr. 34/1995, S. 58f; Andreas Schmidt: Alarm in Ost-Berlin. Interflug-203 entführt. Tatsachenroman über die erste Flugzeugentführung in der DDR, Böblingen 1989. 59
Vgl. 6. Durchführungsbestimmung zur Dienstanweisung 1/81 vom 8.8.1985; BStU, ZA, DSt 102735. 60 Vgl. u.a. Bernd Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe. Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung (MfS-Handbuch, Teil III. 17), BStU, Berlin 1995.
Zum Verhältnis von Staatssicherheit und SED in den sechziger Jahren Eindrücke nach ersten Archivrecherchen
Von Siegfried Suckut Der folgende Beitrag stützt sich vor allem auf die überlieferten etwa sechzig Akten der Abteilung für Sicherheitsfragen beim ZK der SED aus diesen Jahren und auf einzelne Archivalien anderer sicherheitsrelevanter Bereiche des Parteiapparates. Er ist ein erstes Forschungs-Zwischenergebnis im Rahmen eines Projektes, das zum Ziel hat, eine Entwicklungsgeschichte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in den Jahren 1961 - 1971 zu schreiben. Diese Untersuchung ist eines des auf über dreißig Kapitel angelegten MfS-Handbuches, das derzeit in der Abteilung Bildung und Forschung erarbeitet wird. Erste Resultate des Großprojektes sind in einer speziellen Schriftenreihe der Abteilung bereits vorab publiziert worden.1 Sich an dieser Stelle bereits mit noch vorläufigen Ergebnissen zu Wort zu melden erscheint vertretbar und sinnvoll, weil es sich bei dem behandelten Zeitraum um einen relativ veränderungsreichen, interessanten Abschnitt der MfS-Geschichte handelt und die in diesen Jahren auftretenden Probleme für das Verhältnis MfS SED in vielem typisch sein dürften, es andererseits aber auch zeitbedingte Besonderheiten gibt, die es reizvoll machen, sich gerade diesen Jahren zuzuwenden. Ich möchte mich mit zwei Fragenkomplexen auseinandersetzen: 1. Wie beurteilte die SED-Führung die Tätigkeit des MfS in diesen Jahren? Welche Aufgaben stellte die Partei ihrem "Schild und Schwert"? 2. Wie funktionierte die Zusammenarbeit zwischen Partei und Geheimdienst im konkreten? Wie übte die SED ihre "führende Rolle" aus?
1 Es handelt sich um folgende Titel: Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989, bearbeitet von Roland Wiedmann (Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur, Methoden. MfS-Handbuch, hrsg. von Klaus-Dietmar Henke, Siegfried Suckut, Clemens Vollnhals, Walter Süß und Roger Engelmann, Teil III/7), Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU), Berlin 1995; Jens Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS-Handbuch, IV/1), BStU, Berlin 1995; Bernd Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe: Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung (MfS-Handbuch, III/17), BStU, Berlin 1995; Tobias Wunschik: Die Hauptabteilung XXII: "Terrorabwehr" (MfS-Handbuch, III/16), BStU, Berlin 1995.
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Siegfried Suckut
Im Mittelpunkt meiner Ausführungen soll eine Analyse der SED-Führung zur Arbeit des MfS stehen, die als 28-seitiges Manuskript ohne Verfasserangabe im Bestand Büro Ulbricht überliefert ist.2 Es handelt sich offensichtlich um eine Ausarbeitung der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen zur 2. Kreisdelegiertenkonferenz der SED im MfS, die Mitte Dezember 1962 stattfand. Hauptvertreter der Parteiführung auf dieser Versammlung war Hermann Matern, der, offenbar gestützt auf dieses Papier, einen langen Diskussionsbeitrag hielt, der als 23-seitige stenographische Mitschrift überliefert ist.3 Diese Matern-Ausführungen wurden von der ZK-Abteüung vervielfältigt und Anfang Januar 1963 an die Bezirks Verwaltungen des MfS und die Abteilungen für Sicherheitsfragen bei den Bezirksleitungen der SED versandt.4 Das 28-seitige Papier faßte in erstaunlicher Offenheit die Beanstandungen der Partei an der Arbeitsweise des Staatssicherheitsdienstes zusammen und kam zu bemerkenswerten Ergebnissen. Die Kritik konzentrierte sich auf zwei Punkte: 1. Das MfS überschreite häufig seine Kompetenzen und widme sich Aufgaben, die ihm nicht zugewiesen seien. 2. Es komme immer wieder zu Gesetzesverletzungen in der Ermittlungs- und Untersuchungsarbeit des Ministeriums. Das MfS wende z.T. Methoden an, die "zu Störungen der Beziehungen mancher Bürger zu unserem Staat"5 führen könnten. Der Geheimdienst berücksichtige ungenügend den "Prozeß der Festigung des sozialistischen Bewußtseins" der Bürger, der sich vollzogen habe und "daß unsere Menschen, vor allen Dingen im Prozeß der sozialistischen Arbeit und im gesamten sozialistischen Leben einen großen Umwandlungsprozeß durchmachen". Es war im Grunde die Kritik einer Parteiführung, die nach dem Bau der Mauer ihre sozialistischen Träume reifen wähnte und die zugleich auf die zweite Entstalinisierungsdiskussion in der Sowjetunion adäquat zu reagieren versuchte.
2 Manuskript ohne Titel, Verfasser und Datum: "Die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit...", Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO), Büro Ulbricht, Akte IV 2/202/62, ohne Paginierung. Den Hinweis auf dieses Dokument verdankt der Verfasser Silke Schumann, Forschungsmitarbeiterin in der Abteilung Bildung und Forschung der Behörde des Bundesbeauftragten. 3 Vgl. Anlage zur SED-Hausmitteilung der Abteilung für Sicherheitsfragen an Honecker vom 3. Januar 1963, SAPMO, Akte IV A2/12/128, ohne Paginierung. 4
Vgl. ebenda: Hausmittel lung mit handschriftlichen Bemerkungen Erich Honeckers.
5
"Die Organe des Ministeriums ..." (Anm. 2), S. 2 (auch für die folgenden Zitate).
Staatssicherheit und SED
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Detailliert wurden vor allem die Rechtsverstöße des MfS geschildert. Das Ministerium mache gesetzliche Ausnahmebestimmungen zur Regel, so das Fazit. Beschuldigte Personen etwa würden "größtenteils ohne richterlichen Haftbefehl festgenommen", Hausdurchsuchungen "in der Regel ohne Anordnung des Staatsanwaltes durchgeführt". 6 Inhaftierte würden oft zum Verzicht auf Rechtsmittel gedrängt.7 Den Staatsanwälten sei das bekannt, doch duldeten sie diese Praxis. Zwischen ihnen und den MfS-Untersuchungsorganen herrsche oft eine "prinzipienlose Freundschaft". 8 Grund dafür sei, daß die für politische Delikte zuständigen Staatsanwälte der Abteilungen I nur mit Bestätigung des MfS berufen würden und zudem wisse jeder dort, daß der Geheimdienst die Staatsanwaltschaften durch Inoffizielle Mitarbeiter konspirativ überwache.9 Folge der Kompetenzüberschreitungen des MfS sei es, daß der Kreis der Bürger, über die Ermittlungen geführt würden "sehr groß" sei und die MfS-Aktivitäten "in vielen Fällen nichts mit der Aufdeckung und Liquidierung der Feindtätigkeit"10 zu tun hätten. So fertige der Geheimdienst Analysen über den Krankenstand in der Republik an,11 überprüfe selbst die Lagerhaltung der VEB 1 2 und nehme Einfluß auf Kaderentscheidungen im Staats- und Wirtschaftsapparat. 13 In der Gemeinde Döbbrick, Kreis Cottbus, sei sogar ein Bürgermeister auf Drängen des MfS entlassen worden. Doch hätten für die erhobenen Anschuldigungen keine Beweise vorgelegt werden können. Walter Ulbricht, an den sich der Gemaßregelte beschwerdeführend wandte, habe ihn wieder eingesetzt.14 Die in dem Papier getroffenen Schlußfolgerungen lauteten militärisch knapp: "Die Kontrollen und Ermittlungen über Bürger der Republik sind einzuschränken und in der Hauptsache zur Aufdeckung und Liquidierung der Feindtätigkeit zu
6
Ebenda, S. 3.
7
Vgl. ebenda.
' Ebenda, S. 5. 9
Vgl. ebenda, S. 6.
10
Ebenda, S. 13.
11
Vgl. ebenda, S. 10.
12
Vgl. ebenda, S. 12.
13
Vgl. ebenda, S. 13.
14
Vgl. ebenda, S. 14.
20 Timmermann
Siegfried Suckut
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führen" 15 und: "Mit der Einflußnahme der Organe für Staatssicherheit auf Kaderveränderungen, Beförderungen, Prämiierungen usw. im Staatsapparat und in der Wirtschaft ist Schluß zu machen."16 Völlig unzutreffend, so die Kritik weiter, sei die MfS-Einschätzung der sicherheitspolitischen Auswirkungen des Mauerbaus. Die Kreisdelegiertenkonferenz des MfS habe in einem ersten Resolutions-Entwurf bedauernd hervorgehoben, es sei nun den "vielen feindlichen und unzufriedenen Elementen die Möglichkeit erschwert worden, die DDR zu verlassen'1.17 Diese Personenkreise aber seien "besonders die Basis der gegnerischen Untergrundtätigkeit in der DDR" 1 8 , so die MfS-interne Analyse. Diese Sichtweise ignoriere die Stabilisierung der DDR, die nach dem 13. August erreicht worden sei und - damit zusammenhängend - die weitere "Entwicklung des sozialistischen Bewußtseins vieler Bürger" 19, hieß es dazu im SED-Papier. Die Einschätzung setze zudem Unzufriedene mit Feinden gleich. Hermann Matern präzisierte später: Das MfS gehe in seinen Lehrmaterialien immer noch davon aus, daß sich die DDR in einer "Periode verschärften Klassenkampfes" 20 befinde und der Geheimdienst neige zudem dazu, sich als Kontrollorgan gegenüber dem übrigen Staatsapparat und als "Organ der SED" 21 zu sehen. Das aber sei völlig falsch, das Ministerium für Staatssicherheit, so definierte er unmißverständlich, sei "ein zentral geleitetes staatliches Organ, ein Teil des Staatsapparates, dem von Partei und Regierung festumrissene Aufgaben gestellt"22 würden. Es wäre geschichtswissenschafüich von besonderem Reiz gewesen, hätte die SED diese Kursänderung tatsächlich vollzogen und beibehalten: Der Unterdrückungsapparat Mielkescher Prägung auf dem Wege zu rechtskonformer Selbstbeschränkung. Schwer vorstellbar, daß ein solcher Wandel möglich gewesen wäre.
15
Ebenda,S. 16.
16
Ebenda.
17
Ebenda, S. 18.
" Ebenda. 19
Ebenda.
20
Anlage zur SED-Hausmitteilung (Anm. 3), S. 20.
21
Ebenda, S. 17 f.
22
Ebenda, S. 18.
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Zunächst aber übte die MfS-Führung Parteidisziplin, widersprach nicht der Kritik und gelobte, sie zu beachten, vermutlich auch in der Hoffnung, daß das zweite "Tauwetter" so rasch enden würde wie das erste und das differenzierte Feindbild wieder retouchiert und in den vertrauten Schwarz-Weiß-Tönen gehalten, dem MfS also seine bisherige Rolle wieder zugestanden werden würde als gleichsam institutionalisiertes Mißtrauen der Partei gegenüber der Bevölkerung. Inwieweit sich tatsächlich etwas änderte in der Arbeit des MfS, bedarf noch genauer Analyse. Unverkennbar aber ist, daß grundlegender Wandel nicht eintrat, auch nicht nachhaltig von der SED gefordert wurde. Schon bald war wieder Altvertrautes aus dem ZK-Apparat zu vernehmen. So mahnte der Leiter der Sicherheitsabteilung des ZK, Walter Borning, im April 1965 in einem Schulungsreferat, es genüge nicht, Staatsverbrechen aufzuklären, es gelte, "vorbeugende Arbeit in dieser Richtung"23 zu leisten. Ein weites, nahezu unbegrenztes Arbeitsfeld. Spionage gegen die DDR, so Borning weiter, sei zwar nach dem Mauerbau nicht mehr so leicht möglich. Dafür seien die Arbeitsmethoden der westlichen Geheimdienste aber "raffinierter und gefährlicher" 24 geworden. Es gelte nach jenen zu suchen, die bereits vor dem Bau der Mauer langfristig angeworben worden seien.25 Auch mit diesem Auftrag dürfte das MfS sehr einverstanden gewesen sein, denn er erforderte großflächige Überwachung und mahnte, mißtrauisch zu sein. Das berüchtigte 11. Plenum des ZK 1965 und schließlich der Einmarsch in die CSSR und seine innenpolitischen Folgen waren weitere Etappen des Rückzuges der Partei zur Repressionspolitik alten Stils, die das MfS in der Praxis ohnehin nicht aufgegeben hatte. Was an Kritikpunkten blieb, war die stete, mitunter hämisch vorgetragene Schelte der ZK-Beauftragten, dem Geheimdienst mangele es an der notwendigen "Wissenschaftlichkeit" in seiner Arbeit. Ein Vorwurf, der ernst genommen werden mußte, da Wissenschaftlichkeit in diesen Jahren eine zentrale Forderung der Partei, auch an den Staatsapparat war und gerade vom SED-Chef Ulbricht immer wieder propagiert wurde. Die Antwort Mielkes auf diesen Vorwurf verriet Ratlosigkeit, war aber nicht ungeschickt: "Wir arbeiten schon immer wissenschaftlich, das zeigen unsere Erfolge." 26 23 Lektion an der Parteihochschule "Karl Marx", gelesen von Walter Borning am 6. April 1965, S. 59, S ΑΡΜΟ, Akte IV A2/12/11.
20*
24
Ebenda, S. 60.
25
Ebenda.
26
Anlage zur Hausmitteilung der Abteilung für Sicherheitsfragen vom 6. Oktober 1967, Information
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Siegfried Suckut
Erhalten blieb zudem die Kritik der ZK-Abteilung an der inneren Verfassung des Staatssicherheitsdienstes. Alkoholprobleme und "unmoralisches Verhalten" waren nach den Befunden der ZK-Funktionäre weit verbreitet, Konsequenzen blieben aber oft aus.27 Im Wachregiment seien Ende der 50er Jahre mehr als die Hälfte der Soldaten disziplinarisch vorbestraft gewesen, zumeist wegen Urlaubsüberschreitung. 28 Folgt man den Berichten in den SED-Archivalien, so gewinnt man den Eindruck, daß aus der Sicht der Kontrolleure im ZK-Apparat die MfS-Mitarbeiter gleichsam die "Genossen für's Grobe" gewesen seien: sie gingen oft zu forsch vor, verstießen gegen geltendes Recht, zeigten sich überfordert, "wissenschaftlichen" Erkenntnissen zu folgen, verhielten sich häufig undiszipliniert und mißachteten die Gebote "sozialistischer Moral". Statt wissenschaftlich-planvoll handelten die Mitarbeiter praktizistisch-pragmatisch: '"mit Geld und Weibern machen wir alles'" sei eine typische Einstellung, wenn es darum gehe, wie das MfS die Bildung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften unterstützen könne.29 Zum 2. Themenkomplex, zur Frage, wie die Zusammenarbeit zwischen MfS und SED konkret funktionierte. Trotz der Irritationen in den ersten Jahren nach dem Mauerbau war der Staatssicherheitsdienst offensichtlich ein willfähriger Diener der SED. Bestätigt findet man die These, der Geheimdienst sei nicht das Instrument der Partei insgesamt, sondern allein der Parteiführung und des Parteiapparates gewesen.30 Doch sucht man vergeblich nach genauerer Information, wie die Parteiführung mit diesem Instrument - um im Bilde zu bleiben - hantierte. Etwa nach konkreten Anweisungen der SED-Führung an Erich Mielke. Es gab Richtlinien wie schon allein die Ausführungen Materns bestätigen -, aber sie ergingen nur sporadisch und manche klingen wie ein eher unverbindlicher, moralischer Appell, nicht wie ein Parteibefehl. vom 6. Oktober 1967 über die Parteiaktivtagung der SED-Kreisorganisation im MfS am 3. Oktober 1967, S. 3; SAPMO, Akte IV A2 /12/128. 27 Vgl. Bericht: "Die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit..." (Anm. 2), S. 19 f. und Diskussionsbeitrag von Hermann Matern (Anm. 3), S. 16 f. Vgl. zu den Disziplinarmaßnahmen im MfS generell und ausführlich: JensGieseke (Anm. 1), S. 72-81, insbesondere S. 72-76. Der übermäßige Alkoholgenuß blieb danach ein Problem bis zur Auflösung des Ministeriums.
* Vgl. SAPMO, Akte IV 2/12/120, Blatt 74. 29 Protokoll über die außerordentliche Sitzung der Zentralen Parteileitung der Bezirks Verwaltung Neubrandenburg am 11.10.60, S. 4, SAPMO, Akte IV 2/12/106. 30 Sie wurde von Walter Süß formuliert, vgl. ders.: "Schild und Schwert". Das Ministerium für Staatssicherheit und die SED, in: Klaus-Dietmar Henke und Roger Engelmann (Hrsg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, Berlin 1995, S. 83 - 97, hier: S. 84.
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Bedenkt man die Bedeutung dieses Machtinstruments für die SED, so hätte eine weitaus größere Kommunikationsdichte dokumentiert sein müssen. Beim Studium der SED-Akten gewinnt man den Eindruck, solche Kommunikation ist nicht nur nicht schriftlich überliefert, es hat sie in größerer Intensität in diesen Jahren wahrscheinlich nicht gegeben. Das gilt insbesondere für die zweite Hälfte der sechziger Jahre, als die Partei sich offenbar damit abfand, daß das MfS so blieb, wie es war. Eine Hypothese, die zu überprüfen ist. Walter Ulbricht wußte, daß er sich auf diese Geheimpolizei rückhaltlos verlassen konnte. Dafür bürgte allein schon die Person Erich Mielkes.31 Die SED konnte dem MfS in diesen Jahren nahezu blind vertrauen und sie wollte wohl auch nicht so ganz genau hinschauen, m e dort gearbeitet wurde. Die zitierte Kritik an der rechtswidrigen Praxis des Ministeriums belegt jedenfalls, daß diese Verstöße schon seit langem bekannt, aber verdrängt oder stillschweigend toleriert worden waren. Die SED-Spitze, so scheint es, vertraute darauf, daß der Geheimdienst eigenverantwortlich den Parteikurs hielt und ihre Politik unterstützte. Solange es die traditionelle, auf Repression und Kontrolle setzende Linie war, und das galt ja nachgerade für die gesamte DDR-Geschichte, konnte sie sich auch darauf verlassen. Trotz der ausgeprägten Folgebereitschaft des MfS gibt es in den Akten allerdings zahlreiche Belege für selbstbewußtes, mitunter widerspenstiges Verhalten Erich Mielkes gegenüber den ZK-Funktionären. Ein aufschlußreiches Beispiel dafür ist der Konflikt um die interimistische Neubesetzung der Position des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung im Ministerium für Staatssicherheit Anfang 1965. Eine Entscheidung war notwendig, weil der bisherige Funktionsinhaber, Oberst Heidenreich, für längere Zeit einen Lehrgang in der Sowjetunion besuchte. Die Abteilung für Sicherheitsfragen schlug Honecker als zuständigem ZK-Sekretär in einer Hausmitteüung vor, den Instrukteur im Sektor MfS der Abteilung, Appelfeller, zu nominieren. Honecker schrieb sein "einverstanden/" quer. 32 Die Sache schien erledigt. Doch wenige Wochen später wandte sich die Abteilung erneut an Honecker: "Ohne stichhaltige Gründe hervorzubringen", so die Mitteilung, sei "Genosse Mielke für unseren Vorschlag nicht zugänglich"33 gewesen. Mielke habe statt dessen den Parteisekretär der Hauptabteilung Personenschutz des MfS vorgeschlagen, den Genossen Hauk. Der aber, so das Urteil der ZK-Abteilung, wäre als 1. Sekretär der Kreisleitung überfordert. Er besitze nicht die "not-
31
Hier folge ich wiederum Walter Süß, vgl. ebenda, S. 87.
2
Vgl. Hausmitteilung der Abteilung für Sicherheitsfragen an Honecker vom 29. Januar 1965; S ΑΡΜΟ, Akte IV A2/12/128. Ώ
Hausmitteilung der Abteilung für Sicherheitsfragen an Honecker vom 9. März 1965, ebenda.
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wendigen kämpferischen Eigenschaften" 34. Die Abteilung empfahl Honecker, dem ZK-Sekretariat den alten Kandidaten einzureichen und sich über Mielkes Intervention hinwegzusetzen.35 Der weitere Diskussionsverlauf ist nicht dokumentiert, wohl aber das Endergebnis: Mielkes Kandidat wurde Ende März 1965 von der Kreisleitung einstimmig gewählt.36 Offenbar wagte Honecker nicht, von seiner Entscheidungskompetenz, die er gleichsam als oberster Sicherheitsbeauftragter der Partei in diesem Fall eindeutig hatte, gegen den Willen Mielkes Gebrauch zu machen. Ähnlich widerspruchsbereit verhielt sich Mielke zwei Jahre später auf einer Parteiaktivtagung im Ministerium. Die Funktionäre der ZK-Abteüung für Sicherheitsfragen hatten wieder die Forderung nach mehr "Wissenschaftlichkeit" in der Arbeit des Staatssicherheitsdienstes vorgetragen. Mielke - so der Bericht der Kontrolleure - habe die Kritik entschieden zurückgewiesen: "Dabei wurde er in seinen Ausführungen sehr heftig und unsachlich und polemisierte gegen Probleme, die von uns nicht dargelegt wurden." 37 Mielke habe dann die weitere Diskussion in diesem Rahmen verweigert. 38 - Auch dieser Auftritt blieb offenbar folgenlos. Vermutlich war Mielkes zuweilen schroffes Verhalten gegenüber den ZK-Beauftragten auch darauf zurückzuführen, daß es sich hier zumeist um frühere MfSOffiziere, also ehemalige Untergebene, handelte, von denen er sich keine Vorschriften machen lassen wollte. Unzufrieden äußerte sich die ZK-Abteilung über die Informationspolitik des MfS. Man liefere dem Geheimdienst mehr als man von dort erhalte, lautete sinngemäß ein Vorwurf, 39 und manche Statistik, etwa die über die Zahl der republikflüchtigen MfS-Mitarbeiter im Bezirk Suhl werde selbst gegenüber der Partei geheimgehalten.40 Immerhin nutzte die SED-Führung zuweilen sogar demonstrativ ihre Möglichkeiten gegenüber ihrem wichtigsten Machtinstrument. Etwa, wenn sie wegen moralischer Verfehlungen Anfang 1962 an allen MfS-Instanzen vorbei die Absetzung des 34
Ebenda.
35
Vgl. ebenda.
36
Vgl. Hausmitteilung der Abteilung für Sicherheitsfragen an Honecker vom 30. März 1965, ebenda.
37
Hausmitteilung der Abteilung für Sicherheitsfragen an Honecker vom 6. Oktober 1967, S. 4.
31
Vgl. ebenda.
39 Vgl. Beschlußprotokoll Nr. 48 der Sekretariatssitzung vom 1. Dezember 1960 zur Lage im Bezirk Suhl, S. 3; SAPMO, Akte IV 2/12/106. 40
Vgl. ebenda.
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Kreisdienststellen-Leiters in Freienwalde durchsetzte41 oder den Leiter der Bezirksverwaltung Leipzig direkt zum Rapport darüber bat, warum ein Sportler in den Westen habe fliehen können.42 In einem anderen Fall dagegen ignorierte das MfS die Parteikriük an Führungskadern. So war die ZK-Abteüung bei der Überprüfung der Bezirksverwaltung Potsdam zu einem vernichtenden Urteil über die bisherige Leitungstätigkeit dort gelangt. Innerdienstliche Intrigen behinderten massiv die Arbeit. Der Leiter der Untersuchungsabteüung sei mit einer früher Inhaftierten liiert, die Parteiorganisation in der Bezirksverwaltung "mehr oder weniger ausgeschaltet"43 worden. Der Chef der Bezirksverwaltung, Oberst Mittig, war gerade in die MfS-Zentrale versetzt und von Mielke als Perspektiv-Kader mit der Leitung der neuen Hauptabteilung X V I I I (Volkswirtschaft) beauftragt worden. Er avancierte schließlich zum Generaloberst und Stellvertreter des Ministers. Die SED-Kritik an seiner Arbeit in Potsdam scheint von Mielke schlicht ignoriert worden zu sein. Das MfS wurde in den 60er Jahren von der SED an eher langer Leine geführt; es war dennoch mit der Partei fest verbunden, nutzte aber gleichwohl und mitunter selbstbewußt die Führungsschwächen der SED, um eigene Interessen durchzusetzen. Stets widerspruchslos respektiert hat Mielke in diesen Jahren vermutlich nur Anordnungen des jeweiligen Parteichefs. Sein Selbstbewußtsein gegenüber den ZK-Funktionären dürfte, nach der Berufung ins Politbüro 1971, eher noch gewachsen sein. Direkte Anweisungen Ulbrichts bzw. des ZK-Sekretärs für Sicherheitsfragen scheinen überwiegend informell und eher selten erteilt worden zu sein. Die in den ZK-Akten überlieferten Berichte belegen, daß der Parteiapparat gut informiert war über die Arbeitsweise des MfS, aber gegen Normverletzungen nicht konsequent anging. Die innenpolitische Bedeutung des Geheimdienstes entwickelte sich offenbar antizyklisch zur jeweiligen Verfassung der SED: In Phasen relativer politischer Stabilität trat die Partei selbstbewußt auf und gab sich gern volksverbunden. Das MfS wurde dann eher in den Hintergrund gedrängt und mußte befürchten, politisch in die Defensive zu geraten. 41 Bericht der Abteilung für Sicherheitsfragen vom 7. Februar 1962 über die Mitgliederversammlung der Grundorganisation der MfS-Kreisdienststelle Freienwalde, S. 1 - 6, SAPMO, Akte IV 2/12/18. 42 Vgl. Schreibender Abteilung für Sicherheitsfragen vom 12. Oktober 1961 an die Bezirks Verwaltung Leipzig des MfS, SAPMO, Akte IV 2/12/113. 43 Vgl. Hausmitteilung der Abteilung für Sicherheitsfragen an Honecker vom 10. April 1963, SAPMO, Akte I V A2/12/130.
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Je deutlicher das Legitimationsdefizit der SED-Herrschaft dagegen spürbar war, desto stärker wurde die Position des MfS im politischen System, desto mehr wurde es von der Partei als machtsichernder Faktor geschätzt.44 Hätte es das MfS tatsächlich erreicht, die DDR zu einem dauerhaft stabilen Staat werden zu lassen, es hätte sich tendenziell selbst abgeschafft. Zugespitzt formuliert: Das Ministerium lebte davon, daß es erfolglos blieb. Doch war dauerhafte Stabilität mit geheimpolizeilichen Mitteln nicht zu erreichen. Dazu hätte es einer anderen Politik bedurft. Für die aber war die SED zuständig.
44 Das zeigte sich besonders deutlich nach dem 17. Juni 1953, als die SED-Spitze das Versagen der eigenen Geheimpolizei als um so gravierender empfand und den formal zum Staatssekretariat herabgestuften Staatssicherheitsdienst nun rasch ausbaute und zu reformieren versuchte. Aus der Sicht der Parteiführung reichte von nun an im Grunde der Hinweis auf den 17. Juni zur Legitimation des aufgeblähten Sicherheitsapparates.
Der Staatssicherheitsdienst im Herbst 1989 Von Walter Süß
In einer Analyse des Untergangs der SED-Diktatur hat der amerikanische Sozialwissenschaftler Albert Hirschmann konstatiert, es gebe "eine wichtige Nicht-Entscheidung [...], die großteils noch immer der Erklärung harrt. Warum folgte das härteste und rigideste kommunistische Regime des Ostens nicht dem chinesischen Beispiel, das es vor nur wenigen Wochen noch begrüßt hatte?"1 Auch wenn diese Charakterisierung - denkt man Ceausescus Regime in Rumänien - wohl nicht ganz zutrifft, ist die Frage doch berechtigt: Warum haben SED und Staatssicherheitsdienst, der Entmachtung der kommunistischen Partei und der Zerschlagung des Sicherheitsapparates keinen Widerstand geleistet? Warum hat das überdimensionale, schwerbewaffnete, militärisch geschulte und mit einer militanten "tschekistischen" Ideologie versehene MfS im Spätherbst 1989 kampflos kapituliert? Daß es zu einer solchen Entwicklung kommen könnte, schien einige Monate zuvor noch unvorstellbar, dennoch lagen dem krisenhafte Prozesse zugrunde, die spätestens Mitte der 80er Jahre begonnen hatten. Sie an dieser Stelle nachzuzeichnen, ist nicht möglich;2 die Darstellung wird sich auf die Zeit zwischen dem 9. Oktober und dem 4. Dezember 1989 beschränken. Anfang Oktober war die Krise der SED-Diktatur eskaliert; die Frage, ob es zu einem gewaltsamen Restaurations versuch des alten Regimes kommen würde, war noch offen. Am 9. Oktober fand dann die berühmte Leipziger Demonstration statt, ohne daß es zu der befürchteten "chinesischen Lösung" kam. Am 4. Dezember, dem Schlußpunkt der Darstellung, wurde mit der Besetzung von Kreisdienststellen und Bezirks Verwaltungen für Staatssicherheit durch aufgebrachte Bürger der Scheitelpunkt zu einer friedlichen Lösung überschritten. Um zu erklären, wie es dazu kommen konnte, sollen drei Problemfelder herausgegriffen werden: Erstens die Befehle zum Umgang mit der Demokratiebewegung, die die Diensteinheiten der Staatssicherheit in den Wochen vor der Besetzung der Kreis- und Bezirksämter durch die beiden höchsten Entscheidungsträger, den 1 Albert O. Hirschmann : Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik, in: Leviathan, 20. Jg. (1992), S. 330-358, hier S. 353. 2 Zur politischen Entwicklung in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, allerdings ohne besondere Berücksichtigung des Sicherheitsapparates, siehe Konrad Jarausch: Die unverhoffte Einheit 1989-1990, Frankfurt / M. 1995; Sigrid Meuschel·. Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt a. M. 1992.
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Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates (NVR), in Personalunion Generalsekretär der SED, und den Minister für Staatssicherheit erhalten haben. Zweitens soll in einigen Thesen die Stimmungslage unter den MfS-Mitarbeitern und die Überlegungen, die dort angestellt wurden, skizziert werden. Und drittens wird noch kurz auf den Ablauf der Geschehnisse am 4. und 5. Dezember einzugehen sein.
A. Zur Befehlslage Am 9. Oktober in Leipzig war deutlich geworden, daß die SED-Führung vor einer blutigen Verteidigung ihres Machtmonopols zurückschreckte, obwohl sie im Vorfeld des 40. Jahrestages die Möglichkeit gewaltsamer, seleküver Repression zumindest in Erwägung gezogen hatte.3 Logistische Vorbedingungen dafür existierten in Form der Mobilmachungsplanung seit den 60er Jahren.4 Vom 4. bis 8. Oktober in Dresden und am 7. und 8. Oktober in Berlin und einigen anderen Städten war diese Handlungsvariante in Ansätzen tatsächlich auch realisiert worden.5 Doch handelte es sich dabei noch um die Zerschlagung der Proteste von einigen tausend Demonstranten mit polizeilichen Mitteln. Die Situation am 9. Oktober in Leipzig unterschied sich in einem grundsätzlichen Aspekt von den vorangegangenen Tagen. Die Sicherheitskräfte standen einer Menge von etwa 70.000 entschlossenen Bürgern aus allen Teilen der DDR-Gesellschaft gegenüber.6 Gegen sie gewaltsam vorzugehen, hätte wahrscheinlich den Beginn einer Eskalation bedeutet, die niemand mehr unter Kontrolle gehabt hätte. Deshalb wich die SED-Führung zurück. Der Leiter der Leipziger Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Generalleutnant Hummitzsch, berichtete am Abend dieses Tages in einem Fernschreiben nach Berlin: "Die vorbereiteten Maßnahmen zur Verhinderung und Auflösung einer Demonstration kamen aufgrund der Gesamtlage und entsprechend zentraler Entscheidung nicht zur Anwendung."7 Das besagt: 1. Es waren - wie auch von vielen Augenzeugen berichtet wird - Vorbereitungen zur Zerschlagung der Demonstration getroffen wor3 I n einem Fernschreiben an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der SED hatte Honecker am 22.9.1989 in Vorbereitung auf den 40. Jahrestag der DDR dekretiert, "daß feindliche Aktionen i m Keime erstickt werden müssen". BStU (Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR), ZA (Zentralarchiv), SDM 664, Bl. 61. 4 Vgl. Thomas Auerbach: Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Isolierungslager des MfS, hrsg. von der Abteilung Bildung und Forschung (BF) beim BStU, Reihe Β Analysen und Berichte, Nr. 1/95. 5 Vgl. Eckhard Bahr: Sieben Tage im Oktober. Aufbruch in Dresden, Leipzig 1990; Und diese verdammte Ohnmacht. Report der Unabhängigen Untersuchungskommission zu den Ereignissen vom 7./8. Oktober 1989 in Berlin, Berlin 1991. 6
Vgl. Neues Forum Leipzig (Hg.): Jetzt oder nie - Demokratie, Leipzig 1989.
7 BVfS Leipzig, Generalleutnant Hummitzsch, an MfS Berlin, cfs 278, "Information über eine nichtgenehmigte Demonstration im Stadtzentrum von Leipzig am 9.10.1989"; BStU, ZA, Neiber 617, Bl. 100-106, hier 101.
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den. 2. Die "Gesamtlage" verhinderte ihre Realisierung, das heißt wahrscheinlich die Masse der Demonstranten und ihre Friedfertigkeit. 3. Die Entscheidung, nicht gewaltsam einzuschreiten, ist in Berlin gefallen. Möglich wenn nicht sogar wahrscheinlich ist, daß es sich - im Sinne von Hirschmann - um eine "Nicht-Entscheidung" handelte: In Leipzig wurde auf einen Befehl zum Handeln aus Berlin gewartet, der nicht gegeben worden ist. Vier Tage nach der ersten großen Niederlage des alten Regimes gab Honecker am 13. Oktober seinen letzten Befehl als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates an die Bezirks- und Kreiseinsatzleitungen8 heraus. In dem Befehl Nr. 9/89 forderte Honecker, "alle Maßnahmen vorzusehen, um geplante Demonstrationen im Entstehen zu verhindern". 9 Zugleich aber machte er eine Einschränkung, die vor dem 40. Jahrestag noch nicht explizit gemacht worden war: "Der Einsatz der Schußwaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten." Honecker wurde fünf Tage nachdem er diesen Befehl erteilt hatte, gestürzt. Sein Nachfolger Egon Krenz war bemüht, sich das Image eines dialogfreudigen Reformers zu verschaffen, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen und das Machtmonopol der SED zu retten. Als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates erteilte Krenz am 1. und am 3. November zwei weitere Befehle zum Verhalten gegenüber Demonstranten, die Befehle Nr. 10/89 und 11/89.10 In diesen Befehlen wird die Forderung nicht wiederholt, Demonstrationen zu verhindern. Das nämlich hätte die neue Linie von vornherein diskreditiert und war zudem illusorisch geworden. In diesen Befehlen findet sich erneut der Schlüsselsatz, daß der Einsatz der Schußwaffe bei Demonstrationen verboten ist. So weit zur Befehlslage seitens des Nationalen Verteidigungsrates. 11 Dieser Institution nachgeordnet war der Minister für Staatssicherheit, bis Mitte November Erich Mielke. Er hat sich mehrfach zu diesem Problem geäußert. Auf einer Besprechung mit den MfS-Generälen am 21. Oktober erklärte er, "daß gewaltI In diesen Einsatzleitungen trafen auf regionaler Ebene die Spitzen der SED und der Sicherheitsapparate regelmäßig zusammen. 9 Befehl Nr. 9/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) vom 13.10.1989; Bundesarchiv, Militärisches Zwischenarchiv Potsdam, Α Ζ Ν 30922. 10
II
Ebenda.
Der in einer einschlägige Serie im "Spiegel" erwähnte Befehl 12/1989 des NVR vom 10.11.1989 bezog sich nicht unmittelbar auf das Vorgehen gegen Demonstranten oder gegenüber jenen DDRBürgern, die sich am Tag nach dem Fall der Mauer gen Westen in Bewegung setzten. Es ging um die interne Kommunikationsstruktur des Sicherheitsapparates: Die einzelnen Institutionen NVA, M d l und MfS sollten künftig gebündelt über einen Operativen Führungsstab unter Leitung des Sekretärs der NVR, Generaloberst Streletz, an die SED-Führung berichten. Vgl. Befehl 12/1989 des Vorsitzenden des des Nationalen Verteidigungsrates über die Bildung einer operativen Führungsgruppe des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 10.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 14392, Bl. 14-16; Hans Halter: A m Rande Bürgerkriegs, Teil I, in: Der Spiegel 40/1995, S. 40-63, hier S. 48.
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same Mittel nur dann angewendet werden, wenn eine unmittelbare Gefährdung von Personen, Objekten und Sachen vorliegt und anders nicht abzuwenden ist", denn: 'Die Partei läßt sich von der festen Überzeugung leiten, daß alle Probleme in unserer Gesellschaft politisch lösbar sind."12 Diese Anweisung folgte der politischen Vorgabe der SED nach dem 9. Oktober. 13 Als in der zweiten Oktoberhälfte immer mehr Demonstrationen an den Kreisdienststellen vorbeiführten, erteilte Mielke einen Befehl zur "Abwehr von Versuchen des gewaltsamen Eindringens in die Dienstobjekte". Darin werden die Diensteinheiten angewiesen, ein solches Eindringen zu verhindern, jedoch "grundsätzlich ohne Anwendung der Schußwaffe". 14 So weit zur Befehlslage hinsichtlich des Umgangs mit Demonstrationen und Besetzungsversuchen. Mitarbeiter der Staatssicherheit, die gewaltsam oder gar mit der Schußwaffe gegen friedlich demonstrierende Bürger vorgegangen wären, hätten sich über diese Befehle hinwegsetzen müssen.
B. Situation im MfS Hätte vor Ort die Bereitschaft bestanden, aus eigener Initiative gewaltsam gegen die Demonstranten vorzugehen? Wie war die Stimmungslage unter den MfS-Angehörigen? Aufschluß darüber ermöglichen Diskussionsprotokolle und Schreiben von MfS-Mitarbeitern an die Leitung der Staatssicherheit. Insgesamt ergibt sich ein Bild, das ich in elf Thesen zusammenfassen möchte: 1. Der gesellschaftliche Aufbruch im September / Oktober 1989 war an den Angehörigen der Staatssicherheit keineswegs spurlos vorübergegangen. Auch von ihnen wurde nun offen Unzufriedenheit über bestimmte Aspekte der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit der DDR geäußert, wie etwa die schlechte Versorgungslage und - weit wichtiger - die geradezu absurde offizielle Propaganda.15 2. Der Staatssicherheitsdienst hatte sich immer als "Schild und Schwert der Partei" verstanden, weniger pathetisch formuliert: als verlängerter Arm der SED-Führung. 16 Mit der Proklamierung einer Politik der "Wende" durch die SED war 12 Rede des Ministers auf der Dienstbesprechung am 21.10.1989; BStU, ZA, ZAIG 4885, Bl. 1-79, hier 21 u. 27. 13 Der Schlüsselsatz in der Antrittsrede von Krenz als Generalsekretär der SED lautete: "Wir lassen uns von der festen Überzeugung leiten, daß alle Probleme in unserer Gesellschaft politisch lösbar sind." In: Neues Deutschland 19.10.1989. 14 Schreiben Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten vom 31.10.1989; W S MfS 84/89; BStU, ZA, Dokumentenstelle 103125. 15 Vgl. Abteilung Parteiorgane der SED-Kreisleitung im MfS: Information über Stimmungen und Meinungen zu aktuell-politischen Ereignissen aus den PO/GO auf der Grundlage der Monatsberichte 1989 und zur gegenwärtigen politischen Lage, 13.9.1989; BStU, ZA, SED K L 512, Bl. 317-324.
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nicht mehr klar, was und wohin die Parteiführung wollte. So war es durchaus zutreffend, als der Nachfolger Mielkes, Generalleutnant Schwanitz, Mitte November auf einer Dienstbesprechung des MfS erklärte: "Die führende Rolle der Partei ist nicht mehr gegeben."17 Die Kreisleitung der SED im MfS konstatierte damals in einem Bericht zur Sümmungslage unter den Mitarbeitern: "Es muß erklärt werden, was das MfS eigentlich will und für was es da ist." 18 Es gab niemanden, der das hätte erklären können. An der Spitze des politischen Systems stand als neuer Ministerpräsident Hans Modrow, der - obwohl selbst zuvor SED-Bezirkssekretär - auf erkennbare Distanz zum SED-Apparat ging. 19 Zugleich forderte er, den Staatssicherheitsdienst dem Ministerrat unterzuordnen, gab aber in den entscheidenden beiden Wochen zwischen der Regierungsumbildung Mitte November und der Besetzung der MfS-Gebäude Anfang Dezember keine klare Neuorientierung für das Amt. 20 Die Mitarbeiter der Staatssicherheit waren auf Unterordnung unter die Partei konditioniert, die jedoch führte sie nicht mehr. Eine neue Autorität aber war nicht in Sicht. 3. Das Feindbild der Staatssicherheit war durch die Politik der "Wende" zerstört worden. Bis dahin war ihren Mitarbeitern gesagt worden, die "Vorzüge des Sozialismus" in der DDR würden nur "feindlich-negative Kräfte" im Dienst "ausländischer Diversionszentralen" leugnen. Nun aber war nicht mehr zu übersehen, daß die Kritik von innen, aus der DDR, kam; daß die Mehrheit des Volkes im Gegensatz zum "real existierenden Sozialismus" stand; und daß seine vorgebliche "historische Überlegenheit", seine angeblichen "Vorzüge", zu großen Teilen aus propagandistischem Geschwätz bestanden. Diese Erkenntnisse hinterließen selbst in der Führung der Staatssicherheit ihre Spuren: Von "ausländischen Diversionszentralen" war nicht mehr die Rede und selbst das Wort "feindlich-negativ" wurde nun aus dem Vokabular der Staatssicherheit gestrichen. Die Generalität, die wie die SED-Führung um ein besseres Image bemüht war, sprach statt dessen plötzlich von "Andersdenkenden", die es 16 Vgl. Walter Süß: "Schild und Schwert". Das Ministerium für Staatssicherheit und die SED, in: Klaus-Dietmar Henke u. Roger Engelmann (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, Berlin 1995, S. 83-97. 17
Hinweise für Dienstbesprechung am 15.11.1989; BStU, ZA, ZAIG 8682 Bl. 1-23, hier 5.
11
SED-Kreisleitung im MfS, Abteilung Parteiorgane: Auszüge aus den Monatsberichten der PO/GO Oktober 1989 zur Arbeit des SED-Kreisleitung und der Tätigkeit des MfS und im MfS, 9.11.1989; BStU, ZA, SED K L 1072, Bl. 287-296, hier 294. 19
30
Vgl. die Regierungserklärung Modrows vom 17.11.1989, in: Neues Deutschland 18/19.11.1989.
Die einzige Rede, die Modrow, anläßlich der Amtseinführung von Schwanitz am 21.11.1989, vor der Staatssicherheitsgeneralität hielt, erschöpfte sich weitgehend in allgemeinen politischen Erwägungen und der Feststellung, daß die "Erneuerung" auch um das Amt für Nationale Sicherheit keinen Bogen machen werde. Modrows Rede in: BStU, ZA, ZAIG 4886, Bl. 4-30; Nachdruck in: Gerd-Rüdiger Stephan: "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988/89, Berlin 1994, S. 253-267.
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zu respektieren gelte. Bekämpfen wollte man künftig angeblich nur noch "Verfassungsfeinde". In einer "Erklärung" hatte das MfS-Kollegium, in dem die Führung der Generalität versammelt war, am 6. November verkündet: "Im Innern der DDR setzt das MfS seine Kräfte und Mittel zur Verhinderung und Bekämpfung verfassungsfeindlicher Aktivitäten ein. Das schließt Maßnahmen gegen Andersdenkende aus."21 Gewiß war das eine verlogene Selbstdarstellung, als Orientierung für künftige Aktivitäten jedoch mußte sie die Angehörigen der Staatssicherheit in beträchtliche Zweifel stürzen, denn niemand wußte genau, was sich hinter dem Begriff "Verfassungsfeinde" verbarg, weil die Verfassung selbst, insbesondere Artikel 1 über die "führende Rolle der Partei", zur Debatte stand.22 4. Der Verlust des alten Feindbildes vertiefte sich im Laufe der Novemberwochen noch, als die "Tschekisten" eine für sie überraschende Entdeckung machten: In der demokratischen Volksbewegung hielten gerade die noch kurz zuvor als "feindlich-negative Kräfte" denunzierten Bürgerrechtler an der Fortexistenz der DDR als Staat fest. 23 Die schweigende Mehrheit dagegen, der bis dahin vom MfS zumindest duldende Loyalität gegenüber dem System unterstellt worden war, skandierte auf Massendemonstrationen die Parole "Deutschland einig Vaterland". In völliger Verkennung der politisch-moralischen Situation glaubten manche MfS-Angehörige in den Bürgerrechtlern einen potentiellen Bündnispartner zur Rettung der DDR gefunden zu haben. Selbst Schwanitz meinte in seiner Antrittsrede: Anzustreben ist "die Sicherheitspartnerschaft mit Kräften im Neuen Forum usw., die ebenfalls für einen demokratischen Sozialismus sind, wo wir also doch einen gewissen Konsens finden können und wo dann solche operativen Aussagen [z. B. über "faschistische Losungen" - WS] eine große Rolle spielen können. [...] Wir müssen mit diesen Kräften reden und erreichen, daß sie uns als Partner akzeptieren, sich mit uns gemeinsam für die Gewährleistung staatlicher Sicherheit engagieren [...] und daß wir erreichen, daß sie sich mitverantwortlich für die Sicherheit dieses Landes fühlen. 1,24 21
BStU, ZA, SDM 1573, Bl. 1-9.
22 Selbst Modrow hatte in seiner Rede vor den MfS-Generälen den Führungsanspruch der SED rein politisch - nicht mehr institutionell - definiert und erklärt, die "Erneuerung" werde "geführt von der Partei, nicht mit Machtanspruch, den man in der Verfassung hat, aber mit der Gesellschaftskonzeption, die man besitzt und die man vertritt, die reifer sein muß als die der anderen." Rede vom 21.11.1989, Bl. 25. 23 Vgl. beispielhaft den Appell "Für unser Land" vom 26.11.1989, zu dessen Erstunterzeichnern u. a. die bekannten Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil, Ulrike Poppe, Friedrich Schorlemmer und Konrad Weiß gehörten. Dokumentiert in Charles Schüddekopf (Hg.): "Wir sind das Volk!" Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution, Reinbek 1990, S. 240-241. 24 "Dienstbesprechung anläßlich der Einführung des Gen. Generalleutnant Schwanitz als Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit durch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Gen. Hans Modrow 21.11.1989 (Tonbandabschrift)"; BStU, ZA, ZAIG4886, Bl. 31-48, hier 40.
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Die Perspektive einer solchen "Sicherheitspartnerschaft" war illusorisch, aber dennoch hilfreich: Sie leistete einen Beitrag zum Abbau von Haß und Gewaltbereitschafi und führte zu einer zusätzlichen Einengung der Handlungsspielräume der Staatssicherheit. Das AfNS hat sich jedoch keineswegs allein darauf verlassen: Die Kehrseite dieser vermeintlichen "Partnerschaft" war das Bemühen, die neuen "Sammlungsbewegungen" unter Kontrolle zu halten und sie durch Inoffizielle Mitarbeiter zu unterwandern und zu manipulieren. Mielke hatte dazu bereits im Oktober, in seiner zuvor zitierten Rede, die Parole ausgegeben: "Es sind neue Überlegungen anzustellen, wie wir mit den vorhandenen operativen Kräften in die in jüngster Zeit entstandenen Gruppierungen eindringen und diese gründlich aufklären können, dort so Fuß zu faßen, daß wir die Kontrolle über sie behalten." 25
Sein Nachfolger Schwanitz behielt diese Orientierung bei: "Die operative Arbeit ist darauf auszurichten, Verfassungsfeinde zu erkennen. Genossen, wir müssen in dieser Richtung unsere IM-Arbeit wieder aktivieren." 26 Zumindest der Versuch der Unterwanderung war keineswegs erfolglos, wie die Beispiele einiger bekannter I M (Inoffizieller Mitarbeiter) zeigen: Wolfgang Schnur alias I M "Torsten" alias "Dr. Schirmer" hat im Demokratischen Aufbruch und später in der Allianz für Deutschland eine bedeutende Rolle gespielt. Sein Pendant auf Seiten der SPD war Manfred Ibrahim Böhme alias I M "Paul Bonkarz". Es gäbe noch weitere Beispiele. Allerdings ist zu fragen, ob diese I M dauerhaft an der Leine ihrer Führungsoffiziere geblieben sind. Gerade ihre blitzartige Karriere auf herausragende Positionen widersprach nicht nur generell geheimdienstlichen Arbeitsmethoden, die mehr auf manipulative Steuerung aus dem Hintergrund angelegt sind, sondern auch einer expliziten Anordnung der Leitung der Staatssicherheit. Mielkes Stellvertreter Mittig hatte in einem von Schwanitz bestätigten Papier die "Übernahme von Führungsfunktionen in antisozialistischen Sammlungsbewegungen" durch Inoffizielle Mitarbeiter ausdrücklich untersagt.27 So ist zu fragen, ob treibendes Motiv solcher I M Gehorsam gegenüber Anweisungen von MfS-Offizieren war oder nicht doch eher persönliche Eitelkeit und Karrierismus. Die Politik, die diese Inoffiziellen Mitarbeiter im Winter 1989/90 betrieben haben, spricht nicht für erfolgreiche geheimdienstliche Steuerung: Schnur war vor seinem Sturz ein Protagonist der Kooperation mit
25
Rede auf der Dienstbesprechung am 21.10.1989, Bl. 38.
26
Rede auf der Dienstbesprechung am 21.11.1989, Bl. 39.
27
Schreiben von Generaloberst Mittig an Generalleutnant Schwanitz vom 7.11.1989; BStU, ZA, SDM 2148, Bl. 4 u. 5-7, hier 6.
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der CDU und einer der lautstärksten Vertreter einer schnellen Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Auf der anderen Seite des Spektrums verfolgte Böhme eine zwar vorsichtigere aber doch ähnlich gerichtete Politik. Wenn jedoch die Staatssicherheit in diesen Monaten etwas vermeiden wollte, dann war es die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die ihr buchstäblich den Boden unter den Füßen wegziehen würde, und in deren Vorbereitung die Kooperation zwischen bundesdeutschen und DDR-Parteien. So muß hinsichtlich der Frage, welche Rolle Inoffizielle Mitarbeiter des MfS in der Umbruchphase spielen sollten und gespielt haben, noch manches offen bleiben. 5. Das Selbstwertgefühl der "Tschekisten" war durch die immer lauter werdende moralische Ächtung ihres Tuns auf Dutzenden von Demonstrationen beschädigt. Einen zusätzlichen Schlag erhielt es durch Mielkes Volkskammerauftritt am 13. November, bei dem er bekanntlich verkündete: "Ich liebe doch alle, alle Menschen."28 Mielke hat mit dieser Rede die Staatssicherheit lächerlich gemacht. Das war für eine Institution, deren Macht vor allem auf Einschüchterung beruhte, geradezu vernichtend. Sein Auftritt löste offene Proteste der Mitarbeiter aus. Selbst die SED-Kreisleitung im MfS distanzierte sich von dem noch amtierenden Minister. 29 6. Mielke repräsentierte die alte Generalität. Deren Stellung wurde nun kritisiert. Angeprangert wurden die Privilegien der Generalität und ihr autoritärer Leitungsstil. Auf Dienstkonferenzen wurde von einer "Kluft" zwischen "der oberen Leitung und dem einfachen Mitarbeiter" gesprochen und auch davon, daß kein "Vertrauen" mehr zu den Vorgesetzten bestehe.30 7. Die Verunsicherung der MfS-Angehörigen wurde durch die im November beginnende Auflösung der Kreisdienststellen und die Aktenvernichtung noch verstärkt. Beides konnte nur als Teil eines Rückzugsmanövers mit unbekanntem Ziel verstanden werden. 8. Die Staatssicherheit sollte in Anpassung an die neuen Verhältnisse reformiert werden. Doch die "Erneuerung" lag in den Händen der alten Generalität, die kein Wort über die düstere Vergangenheit dieses Repressionsapparates verlor. Der alten Generalität wurde die Fähigkeit zu einer wirklichen Änderung auch von den MfS-Angehörigen schon deshalb nicht zugetraut. Tatsächlich strebte die Generalität eine verkleinerte Staatssicherheit an, die noch konspirativer als bisher schon arbeiten sollte.31 24
Text in: Deutschland Archiv, 23. Jg. (1990) H. 1, S. 121.
29 Schreiben des SED-Kreisleitung an die Sekretäre der Parteiorganisationen im MfS vom 14.11.1989; BStU, ZA, SED K L 512, Bl. 180. 30 Vgl. Protokoll der Delegiertenkonferenz aller SED-Grundorganisationen im MfS am 2.12.1989; BStU, ZA, SED K L 570, Bl. 867-935. 31 Dazu ausführlich Walter Süß\ Entmachtung und Verfall der Staatssicherheit. Ein Kapitel aus dem Spätherbst 1989, in: Deutschland Archiv, 28. Jg. (1995) H. 2, S. 122-151, hier S. 136-139.
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9. Für einfache Mitarbeiter wurde im Zusammenhang mit dieser "Erneuerung" vor allem eines deutlich: Es würde Personal abgebaut werden. Unklar war, welche Mitarbeiter die Entlassungen treffen würden. Zu der politischen Verunsicherung kam so auch noch soziale Existenzangst. Diese Angst wurde vor allem in kleineren Orten verstärkt durch wachsende soziale Isolation und Anfeindungen, denen die in der Bevölkerung bekannten MfS-Mitarbeiter und ihre Angehörigen ausgesetzt waren. 10. In den Regionen, gerade in kleineren Orten, gingen viele hauptamtliche Funktionäre, die um ihr eigenes politisches Überleben bemüht waren, auf Distanz zur Staatssicherheit. Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS schilderte Mitte November die Atmosphäre in den Regionen: Die Mitarbeiter des MfS "zeigen sich [...] sehr beunruhigt darüber, daß insbesondere die leitenden Partei- und Staatsfunktionäre auf den Ebenen der Bezirke und Kreise bis auf wenige Ausnahmen nicht oder nicht wirksam zu eskalierenden Angriffen aus der Bevölkerung gegen die Schutz- und Sicherheitsorgane Stellung beziehen und sich in der Öffentlichkeit nicht hinter das Mß und seine Mitarbeiter stellen. Dadurch vertiefe sich der Eindruck, daß das MfS und seine Mitarbeiter verantwortlich gemacht würden für die entstandene Krisensituation, obwohl in zurückliegender Zeit von dem gleichen Personenkreis stets die hohe Einsatzbereitschaft und vorbildliche Pflichterfüllung der Mitarbeiter des MfS gewürdigt worden sei. " n
Das war durchaus typisch für die damalige Zeit. Andere Institutionen des Sicherheitsapparates verfielen entweder in Lähmung, wie die "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" und die Nationale Volksarmee, oder grenzten sich immer deutlicher von der Staatssicherheit ab, wie "Volkspolizei" und Staatsanwaltschaft. Schon damals wurde die Tendenz erkennbar, den Staatssicherheitsdienst, der ein Teil der Diktatur gewesen war, als pars pro toto für das Ganze verantwortlich zu machen. 11. Diese vielfältigen Verunsicherungen der MfS-Mitarbeiter verstärkten sich gegenseitig. Im Ergebnis funktionierte der Grundmechanismus des Gewaltapparates nicht mehr: Der von jedem "Tschekisten" im "Fahneneid" geforderte "unbedingte Gehorsam"33 begann sich aufzulösen. Der Leiter der Hauptabteilung Kader und Schulung, Generalleutnant Möller, klagte: "Es ist heute zur Mode geworden, über jede Dienstanweisung, über jeden Befehl zu diskutieren. Das geht so weit, daß es in den Dienstkollektiven im Grunde schon Verweigerungen gibt." 34 32 Hinweise auf beachtenswerte Reaktionen von Mitarbeitern des MfS auf die gegenwärtige Lage, 14.11.1989; BStU, ZA, S D M 2336, Bl. 14-16. 33 Text in: David Gillu. Ulrich Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des MielkeImperiums, Berlin 1991, S. 27. 34 Protokoll der Sitzung der SED-Kreisleitung im AfNS am 18. November 1989; BStU, ZA, SED K L 570, Bl. 782-865, hier 829.
21 Timmermann
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Der innere Zerfall der Staatssicherheit in jenen Wochen war die eine Seite. Zugleich muß man jedoch auch einen anderen Aspekt betonen: Der feste Glauben an die Fortexistenz der Institution Staatssicherheit. Diese Illusion ist nicht so verwunderlich, wenn man bedenkt, daß inzwischen zum Vorbild vieler MfSMitarbeiter die Perestrojka in der Sowjetunion geworden war. Dort aber hatte der KGB die demokratische Öffnung unbeschadet überstanden.35 Eine solche Perspektive bedeutete natürlich auch, daß die Staatssicherheit zumindest äußerlich gegenüber der "Wende" anpassungsfähig erscheinen mußte.
C. Die Besetzung regionaler Dienststellen am 4. und 5. Dezember In den Tagen vor Besetzung von Kreis- und Bezirksdienststellen durch Demonstranten am 4. und 5. Dezember war durch Enthüllungen über die Privilegien der Politbürokratie in der Volkskammer und durch den Rücktritt der gesamten SEDFührung am 1. bzw. am 3. Dezember das alte Machtsystem kopflos geworden war. Zugleich steigerte sich die allgemeine Empörung, als ruchbar wurde, daß Akten vernichtet wurden. Und dann flüchtete auch noch Alexander Schalck-Golodkowski am 3. Dezember in die Bundesrepublik. 36 In dieser Situation war es am Morgen des 4. Dezember in Erfurt zu der ersten gewaltfreien Besetzung einer Bezirksverwaltung durch Demonstranten gekommen.37 Aus Sicht der Leitung des Amtes für Nationale Sicherheit sollte Erfurt kein Modellfall werden. Schwanitz schickte am Nachmittag des gleichen Tages mehrere Telegramme in die Bezirks- und Kreisdienststellen. Die Schreiben von Schwanitz enthielten drei Kernaussagen: sofortiger Stopp der Aktenvernichtung; kein Schußwaffengebrauch; aber Einsatz aller anderen polizeilichen Mittel, um eine Besetzung durch Demonstranten zu verhindern. 38 Tatsächlich sind jedoch in fast zwei Dutzend Kreis- und Bezirksdienststellen Demonstranten eingedrungen. Sie wurden von Dienststellenleitern eingelassen, die damit gegen einen expliziten Befehl verstießen. Wie war das möglich? Es gab dafür mehrere Gründe: 1. Die ruhige Entschlossenheit der meisten Demonstranten, denen verunsicherte und demoralisierte Staatssicherheits-Kader gegenüberstanden, spielte sicherlich eine bedeutende Rolle.
* Vgl. Wadim Bakatin: Im Innern des KGB, Frankfurt a. M. 1993. 36 Zur Situation in diesen Tagen vgl. Christoph Links u. Hannes Bahrmann: Wir sind das Volk. Die DDR im Aufbruch - eine Chronik, Berlin u. a. 1990, S. 155-169. 71 Vgl. Eberhard Stein: Agonie und Auflösung des MfS. Streiflichter aus einem Thüringer Bezirk, (Erfurt 1995) S. 27-29. 31
Vgl. Süß: Entmachtung, S. 141-150.
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2. Es tauchte ein Akteur auf der Bühne des Geschehens auf, mit dem bis dahin niemand gerechnet hatte: die Staatsanwaltschaft. In all den Telegrammen, die Schwanitz am 4.12. hinausgeschickt hat, war die Staatsanwaltschaft nicht erwähnt worden. Der Generalstaatsanwalt jedoch hat an diesem Tag die Fortsetzung der Aktenvernichtung verboten. 39 Das war Teil des Versuchs, den eigenen Posten und die eigene Institution durch Distanzierung vom MfS in die neuen Verhältnisse hinüberzuretten. So kam es, daß die Staatsanwälte gemeinsam mit den Demonstranten Einlaß forderten und, daß die Dienststellenleiter der Staatssicherheit sie einließen. Es war damit ein Modus gefunden, der beiden Seiten ermöglichte, Angst abzubauen, mit der Situation umzugehen und Vernunft zu bewahren. Erst am folgenden Tag, am 5. Dezember, wurde von der Leitung der Staatssicherheit dieses Vorgehen bestätigt. 3. Die Aggression der Mitarbeiter richtete sich nicht nach außen, also nicht gegen diejenigen, die ihre Bürgerrechte einforderten, sondern nach oben, gegen die eigene Führung. Eine Reihe von Protestschreiben traf in Berlin ein. Um nur ein Beispiel zu zitieren. Es stammt aus der Kreisdienststelle für Nationale Sicherheit in Leipzig-Stadt und ist datiert vom 4. Dezember. "Auf der Grundlage einer falschen Sicherheitsdoktrin [...] wurde die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung der Sicherheitsorgane mit dem Volk heraufbeschworen [...] Es ist notwendig, die Arbeit des Amtes für Nationale Sicherheit auf eine neue Grundlage zu stellen [...] Dazu muß kurzfristig die Arbeit des ehemaligen Mß analysiert werden, um künftig einen Mißbrauch des AfNS als Repressionsorgan gegen das eigene Volk, Überschreitungen von Machtbefugnissen und die Schaffung ungerechtfertigter Privilegien unmöglich zu machen. Dazu ist es erforderlich alle leitenden Kader des AfNS, die sich der Politik der Erneuerung widersetzen, [...] aus ihren Funktionen zu entfernen.
Die Protestschreiben auch aus anderen Diensteinheiten besagten im Kern fast alle das Gleiche: Sofortiger Rücktritt der alten Führung, weil mit ihr das Amt nicht mehr zu retten sei. A m folgenden Tag trat die alte MfS-Generalität - mit wenigen Ausnahmen tatsächlich zurück. Aber es war bereits zu spät. In der Geschichte des Sturzes der Diktatur steht der 4. Dezember in einer Reihe mit dem 9. Oktober in Leipzig und der Mauer-Öffnung am 9. November. Seine besondere Bedeutung liegt darin, daß die Tabuzone der Macht verletzt wurde, ohne daß die bisherigen Machthaber das verhindern konnten, weil der innere Zerfallsprozeß des Sicherheitsapparates bereits zu weit vorangeschritten war. ® Schreiben von Generalstaatsanwalt Wendland an den Leiter des AfNS, Generalleutnant Schwanitz, vom 4.12.1989; BStU, ZA, S D M 2294, Bl. 39. 40 AfNS KA Leipzig-Stadt: Standpunkt aller Mitarbeiter des Kreisamtes Leipzig-Stadt zur inkonsequenten Durchsetzung der Erneuerung der Arbeit im Amt für Nationale Sicherheit gerichtet an den Ministerpräsidenten, Genossen Hans Modrow, und den Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit, Genossen Generalleutnant Schwanitz, Leipzig, 4. Dezember 1989; BStU, ZA, SDM 2336, Bl. 114-116.
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Damit war der Weg geöffnet zu einer demokratischen Überwindung des alten Systems, obwohl die Zentrale des Staatssicherheitsdienstes noch fünf weitere Wochen existierte und eine Reihe von Angehörigen des ehemaligen MfS mit mehr oder weniger großem Geschick ihren individuellen Übergang in ein neues Wirtschaftssystem organisierten. Die Institution Staatssicherheitsdienst vermochte das nicht zu retten, im Gegenteil, es beschleunigte noch deren Niedergang. Der Kopf der Krake lebte noch, aber sie hatte keine Arme mehr.
Zu einer elementaren MfS-Dienstvorschrift der achtziger Jahre für das Grenzregime Von Frank Petzold
A. Vorbemerkungen Die Planer, Erbauer und Bewacher der innerdeutschen Grenze ließen seit 1952 die gesamte DDR-seitige Grenzregion systematisch und aufwendig zu einem strikt abgeschotteten Fluchthindernis ausbauen. Der Schlüssel für die Beweggründe vieler Menschen, die DDR in Richtung Westen verlassen zu wollen, lag in der Machtfrage - doch gerade darüber ließ die Führung der diktatorisch regierenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) nicht mit sich reden. Stattdessen hatte sich die SED zur Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruches ein eigenes Repressionsinstrument geschaffen: das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit (MfS), dem in der letzten Auflage eines DDR-offiziösen politischen Wörterbuchs im Unterschied zu allen vorherigen Ausgaben zusätzlich die „Mitwirkung an der Gewährleistung eines hohen Maßes an Ordnung, Sicherheit und Disziplin in allen gesellschaftlichen Bereichen der DDR" 1 als eine von vier genannten Hauptaufgaben zugewiesen worden war. Diesen Aufgabenkomplex hatten die MfS-Mitarbeiter natürlich gerade auch im Hinblick auf den militärisch-festungsartigen Ausbau der Grenze durch die Konsolidierung entsprechender Rahmenbedingungen zu erfüllen, da dieser Aspekt eine (ja vielleicht sogar: die) Grundvoraussetzung für das vierzigjährige Überleben der DDR und den Machterhalt der SED war. Andere Aspekte wie beispielsweise die Unterstützung durch die sowjetischen Truppen hätten niemals solch ausschlaggebende Bedeutung gehabt, wären die Grenzen permanent und ohne größere Schwierigkeiten zu überwinden gewesen. Doch näheres oder gar konkretes über die staatlichen Tätigkeiten zur Grenzsicherung zu erfahren, war nahezu ausgeschlossen. Daher regelte ein geheimes, zuletzt im Jahre 1985 überarbeitetes MfS-internes Wörterbuch ganz genau, was unter einem solchen Grenzregime zu verstehen war. Von vornherein sei an dieser Stelle betont, daß die im folgenden wörtlich zitierte Grenzregime-Definition daher auch als Grundlage für dieses Referat verwendet werden soll.
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Stichwort 'Staatssicherheit'; in: Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin (Ost)71988, S. 954.
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Das Grenzregime war demnach die „Gesamtheit der spezifischen Rechtsnormen des Staates zur Regulierung der Verhältnisse an der Staatsgrenze sowie des Verkehrs und der Kommunikation über sie und das darauf begründete Tätigwerden der zur Sicherung eingesetzten / handelnden Staatsorgane und gesellschaftlichen Kräfte. Gegenstand des Grenzregime sind demzufolge: - die allseitige Sicherung der Staatsgrenze (dazu gehören vorrangig die Demarkation des Grenzverlaufs und des Grenzgebietes, der Ausbau und die Instandhaltung der Sicherungsanlagen und -einrichtungen, die Einrichtung und Unterhaltung der Grenzübergangsstellen und Kontrollstellen, die unmittelbare Sicherung der Staatsgrenze durch den Einsatz von Kräften und Mitteln der zur Sicherung der Staatsgrenze eingesetzten Organe sowie gesellschaftlicher Kräfte), - das Leben und die Arbeit in den Grenzgebieten (dazu gehören vor allem die Regelungen zur Einreise sowie zum Aufenthalt im Grenzgebiet aus den verschiedensten Gründen, über das Wohnrecht, über Sport und Erholung sowie über die Durchführung sonstiger Veranstaltungen), - der grenzüberschreitende Verkehr (umfaßt insbesondere die staatlichen Normative über die Aus- bzw. Einreise, die Ordnung über das Benutzen von Fahrzeugen im grenzüberschreitenden Verkehr, über die Abwicklung des Transitverkehrs sowie das Regime der Kontrolle und der Abfertigung von Personen, Fahrzeugen und Gütern an den Grenzübergangsstellen) (...)."2 Wie an diesen konkret aufgeführten Tätigkeitsfeldern gezeigt wurde, verstand das MfS seine Tätigkeit im Grenzregime demnach keinesfalls nur als reinen Beitrag zur Grenzsicherung. Vielmehr wurde den MfS-Mitarbeitern aufgegeben, das gesamte Lebensumfeld der Menschen in den Grenzgebieten zu bearbeiten. Als Grundlage für diese Aufgaben waren MfS-intern Befehle, Richtlinien und Anweisungen erlassen worden, die natürlich auch zu den 'spezifischen Rechtsnormen der handelnden Staatsorgane' zählten, obgleich diesen Normen ein gänzlich anderer Rechtsbegriff zugrunde lag als etwa in der Bundesrepublik Deutschland. Im Zuge weltpolitischer Veränderungen, die ihren Ausgang in der UdSSR genommen hatten, nahmen die Bürger der DDR ihre Geschicke im Herbst 1989 selbst in die Hand. Dies führte u.a. zum Ende des Grenzregimes, und infolgedessen ein knappes Jahr später auch zum Ende der DDR, die sich damit nur als eine 41 Jahre währende Episode der deutschen Geschichte erwies. Seit diesem Zeitpunkt stehen die aus gutem Grunde zuvor geheimgehaltenen MfS-Bestimmungen jedermann relativ offen zur Verfügung. Folglich können sie nun auch dem interessierten Historiker einen Einblick gewähren, wie konkret das MfS dabei in das Leben der gesamten Grenzregion eingriff. 2 Stichwort 'Grenzregime 1; in: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.), Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen des MfS zur „politisch-operativen Arbeit" (= Reihe Dokumente, Nr. 1/93), Berlin 21993, S. 145.
Zu einer elementaren MfS-Dienstvorschrift für das Grenzregime
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Daher soll in diesem Referat eine zentrale Dienstanweisung für die achtziger Jahre vorgestellt werden, in der die grundlegenden Anordnungen zu den spezifischen Aufgaben der MfS-Angehörigen bei der Grenzsicherung erlassen worden waren. Natürlich gab es auch schon vorher entsprechende Anweisungen, doch soll hier nicht näher darauf eingegangen werden. Ein weiterer Bereich, der in dieser Arbeit ebenfalls nicht näher besprochen werden soll, ist die in der Öffentlichkeit teilweise heftig und kontrovers diskutierte Tätigkeit der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des MfS. Dafür seien zwei Gründe angeführt: erstens unterschied sich die praktische Durchführung ihrer Spitzeltätigkeit trotz der den grenzspezifischen Bedingungen angepaßten Aufträge konkret natürlich kaum von der im Landesinneren ausgeübten Informandentätigkeit, was sich dann zweitens dementsprechend zumindest in den hier zu besprechenden Grundsatzdokumenten niederschlug: die inhaltlichen Aufgaben für I M im Grenzgebiet wurden dort bis auf eine Ausnahme so gut wie überhaupt nicht erwähnt. Allein in einem Folgedokument zu einem erst drei Jahre vor Ende des Grenzregimes erlassenen Befehl, mit dem das Amt des MfS-Grenzbeauftragten geschaffen wurde, waren auf einer knappen Seite die wichtigsten grenzspezifischen IM-Aufgaben aufgeführt worden. 3 Da diese aber letzten Endes ohnehin nur die noch zu beschreibenden 'offiziellen' Aufgaben des MfS unterstützen sollten, soll auf eine gesonderte Darstellung des IM-Komplexes in dieser Arbeit verzichtet werden. Die Aufgabe der Sichtung, Archivierung und Verwaltung sämtlicher MfS-Dokumente obliegt nach den Bestimmungen des sog. Stasi-Unterlagen-Gesetzes vom 20.Dezember 1991 der Behörde des 'Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik' (BStU)4, der diese Quellen nach Möglichkeit und insbesondere unter Berücksichtigung von datenschutzrechtlichen Bestimmungen auch der Forschung (u.a. in eigenen Publikationen) zugänglich macht. Der Bestand der Stasi-Unterlagen ist allerdings dermaßen umfangreich, daß er bislang noch nicht einmal vollständig gesichtet 3 Vgl. Vorläufige Grundsätze für die Arbeit der Grenzbeauftragten des Ministeriums für Staatssicherheit in den Grenzkreisen an der Staatsgrenze der DDR zur BRD, vom 20. Januar 1986 ( W S o0087/86), [Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (künftig: BStU), Zentralarchiv (künftig: ZA), Dokumentenstelle (künftig: DSt) 103253], S. 40. Dort heißt es u.a.: „Die im einheitlich geführten Grenzsicherungssystem eingesetzten I M und GMS... haben neben der Gewinnung operativ bedeutsamer Informationen für die Lageeinschätzung vor allem einen Beitrag zu leisten zur -Qualifizierung der Führungs- und Leitungsprozesse der GT und der DVP bzw. der örtlichen Staatsorgane, -Sicherstellung des aufgabenbezogenen Zusammenwirkens mit dem Mitarbeiter für Grenzfragen beim Rat des Kreises, (...) -Durchsetzung von vorbeugenden Maßnahmen im Grenzgebiet, insbesondere zur Verhinderung ungesetzlicher Grenzübertritte, (...) -Verwirklichung der Verantwortung der DVP für die Verhinderung des unberechtigten Eindringens in das Grenzgebiet, (...) -Vervollkommnung des Bestandes an freiwilligen Helfern der GT und der DVP (...), Qualifizierung der Zusammenarbeit mit den örtlichen Partei- und Staatsorganen sowie der Bevölkerung des Grenzgebietes." Damit sind im Grunde auch bereits wesenUiche Aufgaben des MfS im Grenzregime benannt worden. Zu den Abkürzungen: GT - Grenztruppen, DVP - Deutsche Volkspolizei. 4
Abdruck des Gesetzes in: Deutschland-Archiv 2/1992, S. 203-221.
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werden konnte5, so daß jegliche Forschung zur Arbeit des MfS momentan nur vorläufige Erkenntnisse erbringen kann, was natürlich auch für das hier vorliegende Referat gelten muß. Daher muß an dieser Stelle auch konsequenterweise angemerkt werden, daß sich die Ausführungen in dieser Arbeit zur Tätigkeit des MfS in der Hauptsache auf bislang unveröffentlichtes Quellenmaterial stützen. Bei der Bewertung der MfS-Quellen ist zwingend zu berücksichtigen, daß sie einen für die Zukunft angestrebten Soll-Zustand beschreiben, aber offensichtlich keinen schon vorhandenen Ist-Zustand (denn eine derart ausführliche befehlsmäßige Festschreibung von evtl. bereits existierenden Zuständen und Arbeitsweisen würde andernfalls kaum einen Sinn ergeben), wenngleich man zweifellos auf in der Vergangenheit gemachte Erfahrungen zurückgegriffen hat. Weiterhin gilt es implizit die jeweiligen politischen Hintergründe für die Befehlsgebung sowohl im Grenzregime als auch im MfS zu berücksichtigen (als Beispiel seien nur die Konsequenzen des Milliardenkredits von 1983 für die Grenzsicherung erwähnt), da diese ex pressis verbis in den Quellen natürlich nicht genannt werden, wohl aber implizit in der befehlsmäßigen Ausgestaltung ihren Niederschlag finden mußten. Ebenfalls nicht außer acht lassen darf man bei der Quellenkritik, daß die Unterlagen häufig in einem Spannungsfeld zwischen Opportunismus und Realität angelegt waren. Der Systemzwang bewirkte z.B. in Parteiberichten aus den Grenzkreisen schöngefärbte Darstellungen über die angeblich fest mit den sozialistischen Zielen der Staats- und Parteiführung verbundene Bevölkerung. 6 Die Mitarbeiter des MfS hingegen hatten die Stimmung in der Bevölkerung primär nicht zu bewerten, sondern über diese realistisch zu recherchieren und zu informieren. Doch natürlich konnte dem einzelnen Mitarbeiter das Abfassen von (seinem Vorgesetzten) wohlgefälligen Berichten auch einen Karrieresprung einbringen, so daß die Bewertung der Quellen des MfS als einem der SED nachgeordneten Dienstleistungsunternehmen sehr wohl auch unter diesem Gesichtspunkt kritisch angelegt sein muß.7 5 Das MfS hinterließ eine gesicherte Länge von 177,95 km Gesamtumfang der Schriftgutbestände, wobei noch das in der Wendezeit vernichtete sowie das in Auslandsarchive (z.B. zum KGB) verbrachte Material hinzugerechnet werden müßte. Vgl. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.), Erster Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1993, S. 25. In diesem Bericht finden sich auch weitere Angaben zur Erschließungsarbeit des BStU. 6 Vgl. dazu z.B. Barm, Werner, Achtung Sperrgebiet! Insider-Report: Staatsterror an der „Staatsgrenze West", Aussiedlungen, Stasi-Überwachung, „Schwarze Listen", Birken-Honigessen 1990, S. 112f, der diese'Analysen' zurecht als „doppelte Buchführung" bezeichnete, da jeder Funktionär um die Verlogenheit dieser Berichte wußte. 7
Zu diesem Komplex erschien 1993 ein aufschlußreicher und daher verdienstvoller Aufsatz, der auf wesentliche Grundsätze bei der Bewertung von MfS-Quellen hinwies. Vgl. Schröter, Ulrich, Die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz. Interpretationsregeln. Zum Umgang mit MfS- und SED-
Zu einer elementaren MfS-Dienstvorschrift für das Grenzregime
B. Kurzdarstellung des Grenzregimes in den achtziger Jahren Mit dem Abschluß des Grundlagenvertrages 1973, der Aufnahme in die Vereinten Nationen 1974 und der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte 1975 war der internationale politische Druck auf die DDR spürbar angewachsen, so daß jeder Todesfall an der innerdeutschen Grenze die DDR in unangenehme und größere Rechtfertigungsnöte für ihr Menschenleben verachtendes Grenzregime brachte. Solche durch die westlichen Medien häufig dankbar aufgegriffenen Vorfälle führten in der ständig nach internationaler Anerkennung ringenden Staats- und Parteiführung der DDR zu Überlegungen, wie man Fluchtversuche an der 'Staatsgrenze West' möglichst unspektakulär unterbinden könnte, ohne dabei auch nur ansatzweise eine Beeinträchtigung der Gesamteffektivität des Grenzregimes in Kauf nehmen zu müssen. Daraus erwuchsen zwangsläufig Erwägungen, die bislang praktizierte sog. lineare Grenzsicherung (also Fluchtversuche erst unmittelbar innerhalb des Grenzgebietes oder gar frühestens vor dem letzten Grenzzaun im Schutzstreifen zu verhindern) durch verstärkte Kontrollmaßnahmen bereits im weiträumigen Vorfeld des Grenzgebietes zu ersetzen. Dazu wurden die im Laufe der Jahre festgestellten Fluchtbewegungsrichtungen genauestens analysiert, um auf diese Weise Anhaltspunkte z.B. über vermutliche Anmarschwege zu den 'Eingängen' des Grenzgebiets zu gewinnen, die man dann konspirativ überwachen mußte. Derart erhoffte man sich, zumindest einen Teil der Flüchtlinge bereits vor den eigentlichen Grenzgebieten festnehmen zu können. Folglich güt es zu konstatieren, daß das eigentliche Zielgebiet des Grenzsicherungssystems der achtziger Jahre demnach das DDR-seitige Hinterland der Grenzgebiete war, in dem die Sperrbrecher quasi schon in der Etappe 'bekämpft' werden sollten, zumal die Grenzanlagen als ursprünglich propagierte Verteidigungslinie gen Westen militärisch ohnehin nahezu wertlos waren und man realistischerweise kaum mit Fluchtversuchen von West nach Ost rechnen brauchte. Deshalb wurde dieser Hinterlandsicherung der Grenzgebiete fortan allerhöchste Priorität eingeräumt, während technische Verbesserungen an den Grenzanlagen oder mit abschreckender Wirkung gefällte politische Urteile gegen festgenommene Flüchtlinge stattdessen eine diesem Ziel eindeutig untergeordnete Bedeutung hatten. Für die DDR-Führung war der wichtigste anzustrebende Punkt, daß die Grenze vor der Weltöffentlichkeit weniger blutig wirkte. Daß der Versuch, die Grenzsperren zu überwinden, gleichwohl nach wie vor mit Lebensgefahr verbunden blieb, war zwar bekannt, aber nun nicht mehr so anprangernswert, da zumindest die dazugehörigen optischen Eindrücke angesichts der 'fehlenden' Flüchtlinge verwischt werden konnten.
Schrifttum; in: Zwie-Gespräch 16. Beiträge zur Aufarbeitung der Staatssicherheits-Vergangenheit, Berlin 1993, S. 22-39; in leicht überarbeiteter Fassung auch in: Horch und Guck 11, Berlin 1994, S. 67-74.
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Anfang der achtziger Jahre wurde dann das veränderte, nunmehr vor allem tiefengestaffelte Grenzüberwachungssystem eingeführt. Grundlage des neuen Überwachungssystems war das bereits existierende Grenzregime. 3 bis 5 km landeinwärts der martialisch ausgebauten 'Staatsgrenze West' untersagten Verbotsschilder Unbefugten das Betreten des zur Sperrzone erklärten Gebietes bis zur Grenze, und Volkspolizisten kontrollierten die Sperrschranken an den in das bzw. aus dem Gebiet führenden Straßen. 200 bis 500 m vor der eigentlichen Grenze begann dann der von den Grenztruppen bewachte und kontrollierte 'Schutzstreifen', der durch den nicht unmittelbar auf der Grenze errichteten, sondern etwas dahinter liegenden doppelreihigen Sperrzaun gen Westen begrenzt war. Doch die Sperranlagen waren nur das vermeintlich letzte Hindernis für DDR-Flüchtlinge auf dem Weg nach Westen, denn sie konnten noch zwischen dem Sperrzaun und der eigentlichen Grenze von besonders linientreuen Grenzaufklärern festgenommen werden. Der Schutzstreifen durfte nur mit einer zusätzlichen Sondergenehmigung betreten werden und war vom übrigen Grenzgebiet durch einen mit Schwachstrom geladenen Grenzsignalzaun (GSZ) abgetrennt, der bei Berührung unmerklich elektrische Signale an die Führungsstellen der diensthabenden Grenztruppen-Einheiten aussandte. Dies hatte vor allem psychologische Gründe: die Flüchtlinge sollten sich nach dem Übersteigen des GSZ unentdeckt wähnen, um sich dann entsprechend mehr Zeit auf ihrem Weg zur Grenze lassen, während die Alarmposten bereits konkret nach ihnen fahnden konnten. Daraus resultierend erhöhte sich dann auch die Wahrscheinlichkeit, daß Einheimische die ortsfremden Flüchtlinge entdecken und an die Grenzsicherungsorgane weitermelden würden. Ebenso wurde dadurch verhindert, daß der Großteil der Verfolgungsjagden im Grenzgebiet von der Bundesrepublik aus registriert werden konnte. Letztlich kam dem GSZ somit entscheidende Bedeutung zu, da er eine rechtzeitige Alarmierung der Sicherungsposten und folglich eine aussichtsreiche 'Bekämpfung' flüchtender DDR-Bürger von der Grenze aus in Richtung Hinterland ermöglichte. Im Ergebnis dieser veränderten Strategie sollte zugleich der internationalen Öffentlichkeit bewiesen werden, daß es sich bei der innerdeutschen Grenze um eine ganz 'normale' Grenze zwischen zwei souveränen Staaten handelte, die nur durch den Umstand, daß sie zugleich die Trennungslinie zwischen den beiden Militärblöcken büdete, in militärischer Hinsicht von den Grenztruppen verschärft bewacht werden mußte. Im Zuge der veränderten Bedingungen in bezug auf die Grenzsicherung hatte sich das MfS einen erheblichen Machtzuwachs innerhalb des Grenzregimes verschaffen können: durch das 1986 geschaffene Amt eines 'Grenzbeauftragten' oblag dem MfS nun eine offizielle Koordinierungsfunktion für alle grenzsichernden Maßnahmen. D.h., es wirkte fortan nicht mehr ausschließlich konspirativ in den Grenzgebieten, sondern trat nun auch mehr oder minder offen als grenzsicherndes Organ in Er-
Zu einer elementaren MfS-Dienstvorschrift für das Grenzregime
scheinung. Doch sollen die Aufgaben der Grenzbeauftragten in diesem Referat nicht ausführlicher dargestellt werden.
C. Zur Dienstanweisung 10/81 Auf der Grundlage von intern ausgearbeiteten Vorschlägen zu einer neuen Grenzkonzeption wurde 1981 eine grundlegende Dienstanweisung von Minister Mielke erlassen8, die durch letztlich fünf dazugehörige Durchführungsbestimmungen für bestimmte Teilbereiche noch präzisiert wurde. Da die Dienstanweisung und deren Folgedokumente einen durchaus zentralen Charakter für die Arbeit des MfS im Grenzregime der achtziger Jahre aufwiesen, sollen sie nun im folgenden näher dargestellt und erläutert werden. Zunächst einmal wurden die grundsätzliche Ziele für das MfS in bezug auf das Grenzregime vorgegeben. Demzufolge bestand die Hauptaufgabe seiner Mitarbeiter darin, „vor allem die staatliche Sicherheit in den Grenzgebieten unter allen Lagebedingungen zu gewährleisten und allen subversiven Angriffen des Gegners und feindlich-negaüver Kräfte auf die Staatsgrenze der DDR, auf die zu ihrem Schutz handelnden Kräfte, auf die Organe und Einrichtungen im Grenzgebiet sowie auf die Grenzbevölkerung zur Vermeidung jeglicher Überraschungen wirksam vorzubeugen sowie sie rechtzeitig aufzudecken, zu bekämpfen bzw. zu verhindern." (S. 6) Diese Formulierung war gleich in mehrfacher Hinsicht für die MfS-Mitarbeiter aufschlußreich. Denn beispielsweise verdeutlichte die Zuordnung der Flüchtlinge (= 'feindlich-negative Kräfte') zu den 'subversiven Kräften' einmal mehr, daß das MfS sie als Kriminelle betrachtete.9 Oder: die den MfS-Angehörigen befohlene 'Vermeidung von Überraschungen' ließ darauf schließen, daß man bei Fluchtversuchen weder von den Grenztruppen noch von den Einheimischen - im Gegensatz zu den offiziellen Verlautbarungen, aber offenbar durch Erfahrungen in der Vergangenheit eines besseren belehrt - sofort die als selbstverständlich empfundene Einleitung entsprechend angemessener Maßnahmen zur Fluchtverhinderung erwarten durfte, so 1 Vgl. MfS-Dienstanweisung 10/81 über die politisch-operativen Aufgaben bei der Gewährleistung der territorialen Integrität der DDR sowie der Unverletzlichkeit ihrer Staatsgrenze zur BRD und zu Westberl i n und ihrer Seegrenze, vom 4.Juli 1981 ( W S o008-38/81), [BStU, ZA, DSt 102773]. Da sich das gesamte folgende Kapitel überwiegend auf diese angeführte Dienstanweisung bezieht, seien die daraus entnommenen Zitate oder sinngemäßen Äußerungen nicht mittels Fußnoten, sondern durch in Klammern gesetzte Seitenzahlen im Haupttext dieser Arbeit belegt 9 Vgl. Stichwort'Subversion'; in: Das Wörterbuch der Staatssicherheit ( A n m 2), S. 365-367: demnach wurden „gewaltsame Angriffe gegen die Staatsgrenze" zu den „wichtige(n) Erscheinungsformen subversiver Tätigkeit" gerechnet, deren Mittel und Methoden den „Tatbeständen der allgemeinen Kriminalität entsprechen, wie Erpressung, aktive und passive Bestechung, schwerer Einbruch, Urkundenfälschung", usw. Solche Handlungen mußten bei Fluchtversuchen zwar nicht in jedem Falle vorkommen, aber konnten immerhin ja doch geschehen, so daß die Flüchtlinge vom MfS eben bereits a priori pauschal kriminalisiert wurden. Auf diesem Wege hatte man zugleich quasi eine 'interne Legitimation' für die Bearbeitung von Flüchtlingen ge- (um nicht zu sagen: er-)funden.
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daß sich alleine das MfS dazu berufen sah, solche Situationen zuverlässig zu 'bearbeiten'. Wohl auch deshalb wurden die unterschiedlichen Aufgaben der operativ an der Grenze zum Zuge kommenden MfS-Einheiten bereits ganz am Anfang der Dienstanweisung aufgeführt. Prinzipiell hatten alle beteiligten Diensteinheiten demnach zunächst einmal zu gewährleisten, daß ihre jeweiligen Aufgaben zur Grenzsicherung „insbesondere durch den differenzierten Einsatz der I M und GMS,... durch konzentrierte Bearbeitung Operativer Vorgänge und Durchführung von OPK sowie durch die zweckmäßige Nutzung aller geeigneten offiziellen Möglichkeiten gelöst werden" konnten.10 (S. 11) Natürlich wurden in der Dienstanweisung auch alle MfS-internen Verantwortlichkeiten und Aufgaben bei „der politisch-operativen Sicherung der Staatsgrenze der DDR" festgelegt. Äußerst interessant und erstaunlich war in diesem Zusammenhang die Feststellung, daß die Hauptabteilung V I (Paßkontrolle) bzw. die an sie gestellten konkreten Anforderungen im Zusammenspiel mit den anderen Struktureinheiten (bis auf einige wenige Ausnahmen) dabei so gut wie keinerlei Erwähnung fand(en). Dies erscheint um so erstaunlicher, als daß eigens für die HA V I eine noch zu besprechende Durchführungsbestimmung erlassen worden war, die ihre Zusammenarbeit mit den anderen an den Grenzübergangsstellen (künftig abgekürzt: GÜSt) tätigen staatlichen Organen (wie z.B. den Grenztruppen) regelte. Die Verantwortung für die zentrale Koordinierung der gesamten MfS-Arbeit im Grenzgebiet trug in den achtziger Jahren Generalmajor Neiber, dem dazu sinnvollerweise auch die wichtigsten der dort wirkenden Struktureinheiten unterstellt waren. 11 Zu diesem Zweck hatte er mindestens einmal im Jahr eine mit Mielke abzusprechende zentrale MfS-Dienstkonferenz zur Situation der Grenzsicherung durchzufuhren, auf der die grundsätzlichen Orientierungen überprüft, gegebenenfalls neu ausgegeben und die Arbeit der einzelnen Struktureinheiten aufeinander abgestimmt werden sollten. (S. 49) Auf den nachgeordneten Befehlscbenen hatten die Leiter der für die Grenze zuständigen Bezirksverwaltungen (zukünftig abgekürzt: BV) und Grenzkreisdienststellen (zukünftig abgekürzt: KD) ebenfalls solche Koordinierungsberatungen durchzuführen. Während der Teilnehmerkreis für die zentrale Beratung von Neiber 10 Zu den verwendeten Abkürzungen: I M = Inoffizielle Mitarbeiter; GMS = Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit; OPK = Operative Personenkontrolle. 11 Dr. jur. Gerhard Neiber, geb. am 24.April 1929, war von 1953-1961 Abteilungsleiter in der BV Schwerin und danach Leiter der BV Frankfurt/Oder gewesen, ehe er 1980 zu einem der Stellvertreter Mielkes ernannt wurde. Da er diese Funktion bis zum Ende des MfS 1989 ausübte, ist sein Name untrennbar mit der Arbeit des MfS im Grenzregime der achtziger Jahre verbunden. Seit Februar 1970 Generalmajor des MfS, hatte er im gleichen Jahr über ,£>ie Planung der politisch-operativen Arbeit im MfS" (mit der Bewertung 'summa cum laude') promoviert
Zu einer elementaren MfS-Dienstvorschrift für das Grenzregime
persönlich je nach Bedarf festgelegt wurde, war für alle anderen (nachgeordneten) Zusammenkünfte jeweils ein fester Teilnehmerstamm vorgeschrieben gewesen, der aber entsprechend den Erfordernissen auch erweitert werden konnte. Diese vorgegebene Zusammensetzung der Runden sei kurz vorgestellt, da auf den Beratungen die Arbeitsschwerpunkte für die jeweiligen Bezirks- bzw. Kreisdienststellen festgelegt wurden, so daß sich dadurch im Nachhinein relativ exakt die Verantwortlichkeiten im MfS-internen System der Grenzsicherung aufzeigen lassen können. Zugleich ist es recht aufschlußreich, welchen Abteilungen man dabei auf den untergeordneten Ebenen besondere Bedeutung zuteil werden ließ. Auf Bezirksebene hatten regelmäßig an den Treffen teilzunehmen12: von der Hauptabteilung I (Sicherung der Grenztruppen) der Leiter der Abteilung Grenzkommando sowie die Bereichsleiter von Abwehr und Aufklärung; die Leiter der Abteilungen Π (Spionageabwehr), V I (Paßkontrolle), VII (Sicherung des Innenministerium (zukünftig abgekürzt: Mdl)) einschließlich des Leiters des Referats Grenzsicherung, IX (Vorkommnisuntersuchung) sowie des Referates ΙΠ (Funkaufklärung); die Leiter der Grenzkreisdienststellen des jeweiligen Bezirkes und schließlich die Leiter der Bezirkskoordinierungsgruppe sowie der Auswertungs- und Kontrollgruppe. Auf Kreisebene hatten an diesen Koordinierungsberatungen ständig teilzunehmen: der bzw. die Leiter der Paßkontrolleinheit(en); von der Hauptabteilung I die Leiter der Unterabteilungen Abwehr und Aufklärung; und von der Grenzkreisdienststelle die Leiter der Arbeitsgruppen Grenzsicherung sowie Auswertung und Information. (S. 50) Unabhängig von diesen Beratungen waren Neiber von den Leitern der Hauptabteilungen I und V i l (unter Mithilfe der Bezirksverwaltungschefs) regelmäßig Situationsberichte zur Lage in den Grenzgebieten bzw. zur Situation der Grenzsicherung vorzulegen. Darin mußten zugleich auch Schlußfolgerungen aus der bisher geleisteten Arbeit sowie Vorschläge zur weiteren Verbesserung des Grenzregimes enthalten sein.13 (S. 58) Dazu waren den grenzsichernden Mitarbeitern des MfS zuvor ganz allgemein sieben verschiedene Schwerpunkte für ihre Tätigkeiten gesetzt worden. (S. 11-13) 12 Die grenzspezifischen Arbeitsschwerpunkte der nachfolgend aufgezählten Diensteinheiten werden in diesem Kapitel noch eingehender beschrieben. 13 Gemäß den MfS-Festlegungen zur Einschätzung der politisch-operativen Lage an der Staatsgrenze und in den Grenzgebieten zur BRD und zu Westberlin sowie an der Seegrenze der DDR und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und ihrer Führung und Leitung, vom 8.November 1984 ( W S 0ΟΟ8-121/84), [BStU, ZA, DSt 103108], kam es Neiber vorrangig darauf an, einerseits „tatsächlich neue Erkenntnisse zur politisch-operativen Lage herauszuarbeiten, besonders der seit der letzten Einschätzung eingetretenen Lageveränderungen", und andererseits „den Stand und die Wirksamkeit der Durchsetzung der in der vorherigen Einschätzung aufgezeigten Schlußfolgerungen, Aufgaben und Maßnahmen sichtbar zu machen." (Ebenda, S. 2.)
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Zunächst einmal galt es, die Pläne und Maßnahmen sowie die entsprechenden Mittel und Methoden „des Gegners" aufzuklären, die sich gegen die Grenze und/oder die sie sichernden Einheiten und Objekte, oder aber gegen die in den Grenzgebieten heimische Bevölkerung richteten. Der Dienstanweisung zufolge handelte es sich dabei allerdings nur um eine reine Aufklärungstätigkeit gegen die auf dem eigenen Gebiet wirkenden feindlichen Geheimdienste usw., so daß dieser Aufgabenkomplex im Grunde den Bereich der klassischen Spionageabwehr, in diesem Falle gegen die Grenzsicherung, abdeckte. Da in diesem Passus von einzuleitenden Gegenmaßnahmen aber keine Rede war, und es darüber hinaus für die eigentlichen Aufklärungseinheiten der Hauptabteilung I ohnehin eine gesonderte Durchführungsbestimmung gab (s.u.), sollten diese angeführten Aufgaben nicht mit denen der Grenzaufklärung verwechselt werden. Kurzgesagt lautete die erste Prämisse für die Angehörigen des MfS also: Spionageabwehr zum Schutz von Grenztruppen und Bevölkerung im Grenzgebiet. Der zweite grundsätzliche Aufgabenkomplex forderte von den MfS-Mitarbeitern u.a. die hinlänglich bekannte „Vorbeugung, Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung von feindlich-negaüven Angriffen" gegen die Grenze, „insbesondere des widerrechtlichen Passierens der Staatsgrenze der DDR". Konkretisierend wurde dazu ausgeführt, daß damit vor allem die „Einleitung aller erforderlichen politischoperativen Maßnahmen zu ihrer wirkungsvollen Verhinderung bereits im Innern der DDR" gemeint war. Dieser letztgenannte Passus war im Vergleich zu den Anweisungen der siebziger Jahre neu und basierte offensichtlich auf den bereits beschriebenen Überlegungen, die fluchtverhindernden Maßnahmen - aufgrund des kritischen Blicks der westlichen Öffentlichkeit auf die eigentliche Grenze - bereits im Vorfeld des Grenzgebietes anzusetzen. Ebenfalls erstmalig tauchte in diesem Zusammenhang die Anordnung auf, Maßnahmen zur „operativen Bearbeitung von Personen, die die Staatsgrenze widerrechtlich passiert haben, sowie deren operativ bedeutsamen Rückverbindungen", einzuleiten. D.h., wem eine Flucht in den Westen geglückt war, konnte sich dort noch lange nicht vor der weiteren 'Bearbeitung' durch das MfS sicher fühlen. 14 Zumindest aber wurden seine bzw. ihre 'Rückverbindungen' (sprich: die zurückgelassenen Angehörigen, Freunde oder Arbeitskollegen) in der DDR fortan überwacht, oder mit dem offen zu erkennenden Ziel der (erzwungenen)
14 Insbesondere übergelaufene Grenztruppenoffiziere dürften erheblichem psychischen, evtl. sogar physischen Druck des MfS ausgesetzt gewesen sein, wie zwei Fälle einer freiwilligen (?) DDR-Rückkehr von Grenzregiments-Kommandeuren vermuten lassen: der am 2.Juni 1981 in die Bundesrepublik geflohene Oberstleutnant Klaus-Dieter Rauschenbach ging bereits zwei Tage später wieder in die DDR zurück; und auch der am 31.August 1986 geflüchtete Oberstleutnant Dietmar Mann blieb nur bis zum 11.April 1987 in der Bundesrepublik, um anschließend wieder in die DDR zurückzukehren. Da beide natürlich wußten, welche Strafen Fahnenflüchtigen dort drohten, dürfte ihre Rückkehr schwerlich nur aus eigenem Entschluß erfolgt sein. Vgl. Fricke, Karl Wilhelm, Rätsel um DDR-Rückkehrer. Der Fall des Oberstleutnants Dietmar Mann; in: Deutschland-Archiv 5/87, S. 450f.
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Rückkehr des Flüchtlings sogar mehr oder minder offen vom MfS bearbeitet. 15 Vermutlich erhoffte man dadurch u.a. Informationen über den Fluchtweg oder über mögliche Fluchthelfer erhalten zu können, um die auf diese Art und Weise festgestellten Lücken in der Grenzsicherung dann schnellstens schließen zu können. Möglicherweise sollte eine solche Bearbeitung in der DDR darüber hinaus aber auch eine abschreckende Wirkung auf andere Fluchtwillige ausüben, um diesen klarzumachen, daß sie ihre Angehörigen im Falle einer Flucht unabwägbaren Konsequenzen aussetzen würden. Konnte diese angeführte Aufgabenstellung das Grenzregime ja immerhin noch direkt betreffen, da es dort ebenso wie im Landesinneren permanent Fluchtwillige gab, so berührte die nächste den Mitarbeitern des MfS übertragene Aufgabe das Grenzgebiet von ihrer konkreten Umsetzung her wirklich nur noch peripher. Denn die „Einleitung und Realisierung der erforderlichen politisch-operativen Kontrollmaßnahmen zu Personen, bei denen Anhaltspunkte für die Einschätzung als potentielle Täter für feindlich-negative Angriffe gegen die Staatsgrenze" vorlagen, sollte Flüchtlinge gerade vom Grenzgebiet fernhalten und ging daher konkret von der Situation im Landesinneren aus. Wer also vom MfS durch irgendwelche Umstände (wie z.B. durch Spitzelberichte über Äußerungen innerhalb seines persönlichen Umfeldes, aber evtl. auch durch mutwillige Verleumdungen) als potentieller Flüchtling eingeschätzt worden war, sollte bereits an seinem Heimatort von den zuständigen Abteilungen bearbeitet werden. Ein nützlicher Nebeneffekt bei der Erfüllung dieses Auftrages war die dadurch erzielte Entlastung der Diensteinheiten im Grenzgebiet, außerdem konnte man auf diese Weise zugleich eine größere Überschaubarkeit in der Grenzregion gewährleisten. Doch das hauptsächliche Arbeitsgebiet des MfS war in diesem Falle eben das Landesinnere der DDR, so daß das eigentliche Grenzregime von dieser spezifischen Tätigkeit nur relativ gering betroffen war. Im Grunde ähnlich verhielt es sich mit einem weiteren Schwerpunkt der Arbeit für die MfS-Angehörigen. Denn die „Übermittlung aller operativ bedeutsamen Informa15 Selbstredend nutzte das MfS bei Bedarf auch die jeweils vorherrschende politische Situation zwischen beiden deutschen Staaten zu einer solchen Bearbeitung aus, wie die Flucht des Oberstleutnants Rauschenbach bewies: nach dem Übertritt des GT-Kommandeurs in den Westen wurde man im Bundeskanzleramt vorstellig und forderte (erfolgreich!) eine Verbindungsaufnahme zu dem Flüchtling, um die innerdeutschen Beziehungen im Vorfeld des DDR-Besuchs von Bundeskanzler Schmidt nicht zu gefährden. Auf diese Weise konnte das MfS die Ehefrau des Flüchtlings nach München schicken, um ihren Gatten zur Rückkehr in die DDR zu bewegen. Bei diesem Gespräch dürfte Rauschenbach dann „mit dem 'Hinweis' von seiten der DDR bzw. seiner Ehefrau konfrontiert gewesen sein, daß - wenn er bei seinem Fluchtentschluß bliebe - seine Familie in der DDR vor Schwierigkeiten stehen würde und er diese sobald nicht wiedersehen könne." Nach diesem Gespräch kehrte Rauschenbach dann in die DDR zurück. (Zitiert aus: Lapp, Peter Joachim, Frontdienst im Frieden - Die Grenztruppen der DDR. Entwicklung, Struktur, Aufgaben, Koblenz21987, S. 155. Interessanterweise findet sich diese Passage allerdings nur in der ersten Auflage des Buches von 1986, während der Exkurs zum Fall Rauschenbach bereits ein Jahr später in der 2., „überarbeiteten und aktualisierten Auflage" ohne nähere Angabe von Gründen nicht mehr auftauchte! Sollte dabei möglicherweise der Honecker-Besuch in der Bundesrepublik im gleichen Jahr eine Rolle gespielt haben?)
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tionen über Mangel, Schwächen und Lücken im System der Grenzsicherung an die Hauptabteilung I, die Hauptabteilung VE und die Bezirksverwaltungen mit Staatsgrenze" konnte und sollte durchaus auch aus dem Landesinneren kommen. Abgefangene Briefe oder abgehörte Telefonate nach geglückten Fluchten konnten beispielsweise solche (das Grenzregime betreffenden) Hinweise ergeben, ebenso wie mögliche Berichte von sich auf Urlaub befindlichen redseligen Grenzsoldaten. Ohnehin hatte Stasi-Minister Mielke in diesem Zusammenhang die Gewinnung und Weitergabe „operativ bedeutsamer Informationen gemäß meinem Befehl Nr. 1/75" verlangt, durch den hauptsächlich die Tätigkeit der - im MfS verhaßten - Fluchthelfer unterbunden werden sollte16: deren Wirkungsfeld umfaßte zwangsläufig natürlich auch die Grenze, doch die zur Ausführung des Fluchtversuchs notwendigen Vorbereitungshandlungen mußten üblicherweise im Landesinneren vorgenommen werden. 17 Im übrigen fällt erneut das Fehlen der HA V I bei dieser Aufzählung der an der Grenze wirkenden Einheiten auf. Eine denkbare Erklärung könnte in diesem Falle gewesen sein, daß die Tätigkeit der HA V I im Gegensatz zu den anderen Diensteinheiten auf einen äußerst eng begrenzten, fest umrissenen Raum unmittelbar vor dem 'Gegner' beschränkt war, man das Problem der Flüchtlinge aber nach Möglichkeit bereits - räumlich gesehen - bis zu den Grenzübergangsstellen erledigt haben wollte. Ein fünfter Aufgabenschwerpunkt zur Sicherung der Grenze umfaßte die „Auswahl, politisch-operative Aufklärung und Bestätigung geeigneter und zuverlässiger Kader für die Grenztruppen der DDR", und war somit ebenfalls nicht direkt oder unmittelbar im Grenzgebiet angesiedelt, da die entsprechenden Weinpflichtigen aus dem gesamten Landesinneren rekrutiert wurden. In diesem Zusammenhang wurde 1984 eine eigene Dienstanweisung erlassen, die hier aber nicht näher dargestellt werden soll. 18 Auch auf das Genehmigungsverfahren im Zuge der Anträge auf „Einreise aus persönlichen Gründen in das Grenzgebiet" nahm das MfS erheblichen Einfluß. Jeder, für den ein entsprechender Antrag gestellt worden war, mußte operativ bearbeitet und überprüft sein, ehe er eine solche Genehmigung erhielt. Auf diese Art und Weise konnte das MfS sowohl festlegen, wer legal in das Grenzgebiet einreisen 16 Vgl. MfS-Befehl 1/75 zur Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassene der DDR und Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels, vom 15.Dezember 1975 (VVS 0O8-1118/75), [BStU, ZA, DSt 102092]. Durch diesen Befehl wurden die Zentrale Koordinierungsgruppe (ZKG) bzw. analog dazu auf der Ebene der Bezirksverwaltungen die Bezirkskoordinierungsgruppen (BKG) ins Leben gerufen. Zu ihren Aufgaben zählte u.a. die Abstimmung der Maßnahmen gegen Fluchthilfe Organisationen oder Fluchtwillige. 17
Vgl. z.B. Bath, Matthias, 1197 Tage als Fluchthelfer in DDR-Haft, Berlin 1987, S. 15-18.
18 Vgl. MfS-Dienstanweisung 7/84: Die politisch-operative Sicherung der Wehrkommandos der N V A und die im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Wehrkommandos der NVA zu lösenden politischoperativen Aufgaben, vom 9.0ktober 1984 (VVS o008-96/84), [BStU, ZA, DSt 103104].
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durfte, als auch gleich anschließend Maßnahmen zur ununterbrochenen Beobachtung dieser Person(en) im genehmigten Zeitraum einleiten. D.h., das MfS hatte seinen Einfluß auf das Grenzregime für dieses Aufgabenfeld dahingehend auszunutzen, daß der Personenkreis, der sich überhaupt dem Grenzregime zu unterwerfen hatte, überschaubar und damit kontrollierbar blieb. Dies geschah allerdings wiederum und ausschließlich bereits im Vorfeld der Grenzgebiete, so daß die unmittelbare Arbeit des MfS im Grenzgebiet davon nur indirekt betroffen war, gleichwohl aber wesentliche Auswirkungen auf diese hatte. Aufgrund der Bedeutsamkeit dieses Komplexes erließ MfS-Chef Mielke daher mit gleichem Datum eine eigene Durchführungsbestimmung, die (etwas weiter unten in diesem Kapitel) ebenfalls noch gesondert besprochen werden soll. Zu guter letzt konnte und sollte sich die Einflußnahme des MfS auf die Auswahl dieses Personenkreises natürlich nicht nur auf die (üblicherweise mit den Einheimischen verwandten) Besucher beschränken, sondern - nach den grundsätzlichen Aufgaben für die MfS-Diensteinheiten - darüber hinaus auch auf die „aus beruflichen bzw. gesellschaftlichen Gründen zum Einsatz im Grenzgebiet... vorgesehenen Beschäftigten der staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe, der Kombinate, Betriebe und Einrichtungen sowie Vertreter gesellschaftlicher Organisationen" erstrecken. Primär wurde in diesem Fall das Ziel verfolgt, „den Einsatz unzuverlässiger Personen bzw. solcher mit Unsicherheitsfaktoren zu verhindern". Einmal mehr wurden hier also Aufgaben angeführt, die vom MfS nicht unmittelbar in der Grenzregion zu erfüllen waren, sondern bereits im Landesinneren, die sich dann aber wiederum auf das Grenzgebiet auswirken konnten, oder die man aber im Vorfeld zumindest dergestalt regeln konnte, daß sie dann im Grenzgebiet möglichst problemlos erledigt werden konnten. Die Kriterien zur Festlegung der beruflich für eine Einreise in Frage kommenden Personen wurden übrigens in der gleichen Durchführungsbestimmung geregelt, die auch zur Bearbeitung der Antragsteller aus persönlichen Gründen erlassen worden war. Hatte ein Antragsteller eine solche Erlaubnis erhalten, so mußten die MfS-Mitarbeiter aus dem Grenzgebiet „Maßnahmen zur abwehrmäßigen Sicherung" seiner Tätigkeit einleiten, also dessen Überwachung bei der Arbeit sicherstellen. Damit sind bis zu dieser Stelle sämtliche „grundsätzliche(n) Aufgaben aller operativen Diensteinheiten bei der politisch-operativen Sicherung der Staatsgrenze der DDR" aufgeführt worden. Betrachtet man sie nun noch einmal in ihrer Gesamtheit, so fällt auf, daß das unmittelbar betroffene Grenzgebiet - bis auf die Aufklärung gegnerischer Aktivitäten - eben so gut wie überhaupt nicht direkt von diesen Maßnahmen betroffen war, sondern daß fast sämtliche Aktivitäten des MfS bereits im Vorfeld der Grenzregion angesiedelt sein sollten. Soviel kann daher bereits an dieser Stelle festgehalten werden: der Schwerpunkt der Tätigkeit des MfS zur Verhinderung von Fluchten über die innerdeutsche Grenze hinweg lag in den achtziger Jahren eindeutig außerhalb des dafür geschaffenen Grenzregimes. Dadurch wurde 22 Timmermann
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die Arbeit des MfS für fluchtwillige DDR-Bürger in jedem Falle unkalkulierbarer (und somit auch gefährlicher), oder auch andersherum betrachtet: für das MfS in der Grenzregion erfolgversprechender. Gleichwohl arbeiteten die MfS-Einheiten im Grenzgebiet (von dieser Feststellung zwar nicht ganz unberührt) natürlich dennoch weiter wie bisher. Man konnte, wollte und durfte sich keinesfalls nur auf die Vorfeldsicherung verlassen, so daß die grundlegenden Arbeitsfelder für die im Grenzgebiet wirkenden Struktureinheiten auch weiterhin fest umrissen bleiben mußten. Daher wurden in der Dienstanweisung ebenfalls die Aufgaben dieser MfS-Grenz-Einheiten geregelt. Hier seien nur die wichtigsten der in der Dienstanweisung genannten Punkte angeführt. Demnach hatte die Hauptabteüung I u.a. die Grenztruppenangehörigen auszuwählen, und deren Sicherung, also die Abwehr „insbesondere von Fahnenfluchten und anderen feindlich-negativen Handlungen Angehöriger der Grenztruppen" vorzunehmen; Spionageabwehr zu betreiben; das Grenzvorfeld in der Bundesrepublik Deutschland aufzuklären; mögliche Schleusertätigkeiten durch das Grenzgebiet zu verhindern; usw. (S. 14-17) Für einen bestimmten Aufgabenbereich der HA I war aber nun im Gefolge dieser Dienstanweisung eine eigene Durchführungsbestimmung erlassen worden, in der die konkreten Aufgaben für die Aufklärungseinheiten der HA I festgelegt wurden. 19 Diese sollten „durch eine zielgerichtete und schwerpunktmäßige politisch-operative Aufklärungstätigkeit ... zur Gewährleistung einer ständigen aktuellen Beurteilung der militärischen Lage und operativ bedeutsamer Aspekte im Grenzvorfeld der BRD bis zu einer Tiefe von 30 km" beitragen, also z.B. befürchtete militärische Schläge aus dem Westen rechtzeitig erkennen und weitermelden. Da das DDR-Grenzgebiet aber nur als Ausgangspunkt für die (ausschließlich in der Bundesrepublik durchzuführenden) Operationen diente und demzufolge nur indirekt von der Arbeit dieser Einheiten betroffen war, sollen die dabei zu verrichtenden Aufgaben hier nur in groben Zügen skizziert werden. Die Hauptaufgaben der Aufklärungs-Diensteinheiten bestanden demnach in der Erkundung des Systems der westlichen Grenzüberwachung 20, des in Grenznähe eingesetzten westlichen Militärs 21 und seiner Einrichtungen, in der vorbeugenden
19 Vgl. 2.Durchführungsbestimmung zur MfS-Dienstanweisung 10/81: Politisch-operative Aufgaben der Aufklärungseinheiten der Hauptabteilung I/KGT, vom 18.Mai 1982 (GVS o008-48/82), [BStU, ZA, DSt 102773]. Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen daraus die in den folgenden Absätzen angeführten Zitate. 20 Aufzuklären waren u.a. deren strukturelle Gliederung und personelle Stärke, die Bewaffnung und Ausrüstung, die Einsatzbereitschaft, das Alarmsystem, usw. Besondere Schwerpunkte bildeten dabei die Stäbe, Verbände und Einheiten des Bundesgrenzschutzes, die Inspektionen und Stationen der Bayrischen Grenzpolizei, oder die Bereiche des Zolldienstes (jeweils ausschließlich der Grenzkontrollstellen!). Vgl. ebenda, S. 4f.
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Verhinderung oder nachträglichen Feststellung von Anschlägen auf die Grenze 22, oder in der Aufklärung der allgemeinen westlichen „Regimeverhältnisse" an der Grenze.23 Auch Schleusungsvorgänge über die Grenze hinweg sollten aufgeklärt und bearbeitet werden.24 Gleichzeitig jedoch hatte das MfS seinerseits eigene Personen-, Material- und technische Schleusen zur Aufrechterhaltung der operativen Verbindungen gen Westen zu schaffen und zu nutzen.25 Damit möglichst wenig Personen von diesen Schleusungsaktivitäten Kenntnis erhielten, wurden die regulären Grenztruppenangehörigen zu diesem Zweck zeitweise von der Bewachung der unmittelbaren Grenzanlagen abgezogen und konspirativ durch MfS-Angehörige ersetzt. Die 21 Aufzuklären waren dabei besonders die „in das System der gegnerischen Grenzüberwachung/Grenzsicherung bzw. in das System der gegnerischen militärischen Aufklärung" integrierten militärischen Kräfte und deren Ordnung, Organisation und Koordination (vor allem mit den Grenzüberwachungskräiten der Gegenseite). Insbesondere jedes „Anzeichen akuter Aggressions vorbereitungen" mußte bei dieser Tätigkeit sofort weitergemeldet werden. Vgl. ebenda, S. 6. 22 Interessanterweise war nicht etwa die Hauptverwaltung A als das Auslandsspionageorgan des MfS für die westseitige Aufklärung der Grenze zuständig, sondern die HA I: „Die Aufklärungsdiensteinheiten der Hauptabteilung I/KGT sind für die Meldung, die politisch-operative Untersuchung, Bearbeitung und analytische Auswertung von erfolgten subversiven Angriffen und operativ bedeutsamen Störhandlungen hauptverantwortlich." Die Erarbeitung solcher - möglichst beweiskräftigen - Dokumentationen verfolgte u.a. eindeutig propagandistische Zwecke, denn sie sollten der „Durchführung bzw. Unterstützung von politisch offensiven Maßnahmen der DDR zur Einhaltung vertraglicher Vereinbarungen durch die Regierung der BRD" dienen. Besonderen Wert legte man dabei auch auf Informationen über die „Beteiligung der gegnerischen Grenzüberwachungsorgane oder anderer staatlicher Institutionen ... in Form der direkten Teilnahme, des Förderns bzw. des Duldens" an solchen (als Angriff auf die Grenze empfundenen) Aktionen. Diese begannen nach den überzogenen Vorstellungen des MfS allerdings bereits mit den organisiert durchgeführten westlichen Grenzbesichtigungen. Vgl. ebenda, S. 7-9. 23 Allein der Begriff von den 'gegnerischen Regime Verhältnissen' deutete bereits darauf hin, daß man i m MfS implizit von der Existenz eines westlichen Grenzregimes - analog zu den Bedingungen in der DDR - ausging. Dieser Eindruck wurde durch die konkret vorgegebenen Erkundungsaufträge noch verstärkt: aufzuklären waren die Gebiete des westlichen „Sicherheitsregimes, des Kontroll- und Fahndungsregimes, des Reiseregimes und des Grenzregimes". Vgl. ebenda, S. 10. Ganz eindeutig orientierte sich das MfS dabei also an seinen eigenen Vorstellungen, wie die westliche Sichemng der innerdeutschen Grenze auszusehen hätte. Zugleich wies diese Formulierung daraufhin, weshalb man in der 'offiziellen' DDR soviel Schwierigkeiten mit der passiven westdeutschen Grenzsicherung hatte: man hielt diese schlicht und ergreifend für einen billigen Propagandatrick, auf den es nicht hereinzufallen galt. 24
Dazu war den Aufklärungseinheiten der HA I auch „bei der planmäßigen und zielgerichteten Suche, Feststellung und politisch-operativen Bearbeitung feindlicher Personen- und Materialschleusen über die Staatsgrenze der DDR, einschließlich der Errichtung und Ausnutzung von Tunnelobjekten sowie anderer unterirdischer Kommunikationen durch den Gegner" die volle Verantwortung übertragen worden. Vgl. ebenda, S. 9. 25 Diese heikle Aufgabe durfte allerdings ausschließlich von besonders überprüften, absolut linientreuen MfS-Mitarbeitern verrichtet werden, denn nur „die zum Bestand der Aufklärungsdiensteinheiten der Hauptabteilung I/KGT gehörenden Offiziere für Sonderaufgaben' " waren zur Durchführung solcher Tätigkeiten berechtigt. Vgl. ebenda, S. 10. Zur Konkretisierung der Aufgaben dieser Elite-Mitarbeiter war eine weitere Durchführungsbestimmung zur besprochenen Dienstanweisung erlassen worden. Vgl. 5.Durchfühningsbestimmung zur MfS-Dienstanweisung 10/81: Sicherung des Verbindungswesens über operative Grenzschleusen an der Staatsgrenze der DDR zur BRD und zu Berlin (West), vom 26.Juni 1987 (GVS O008-7/87), [BStU, ZA, DSt 1027731. Da in ihr aber nur sehr spezielle - das Grenzregime nicht direkt betreffende - Aktivitäten bei der Grenzschleusung geregelt wurden, soll diese Bestimmung hier nicht näher vorgestellt werden.
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Grenzsoldaten hatten dann das Hinterland dieser Übertrittsstellen abzusichern, die im allgemeinen in unübersichtlichem Gelände lagen. Charakteristisch für diese Schleusungsstellen war außerdem, daß an solchen Abschnitten die Schrauben des Grenzsicherungszaunes immer eingefettet waren, um sie schnell für einen Übertritt lösen zu können. Schließlich sollte die Grenze für diese letztgenannte Aufgabe tatsächlich ausnahmsweise „die Konsistenz eines Schweizer Käses besitzen".26 Nur eine den Aufklärungseinheiten der HA I übertragene Aufgabe mußte sich notwendigerweise ausschließlich im DDR-seitigen Grenzgebiet vollziehen: die „Befragung und Bearbeitung von Personen, die wegen ungesetzlichen Grenzübertrittes aus Richtung BRD bzw. Westberlin festgenommen wurden". Das bedeutete, daß alle Bundesbürger, die das Gebiet der DDR außerhalb der offiziellen Übergangsstellen (ob unbeabsichtigt oder aus welchen Gründen auch immer) betreten hatten und dabei von Grenztruppenangehörigen festgenommen worden waren, zuerst ausschließlich von den Mitarbeitern der HA I verhört werden sollten.27 Daß die regulären Grenzsoldaten solche Personen folglich nur aufgreifen, aber nicht verhören durften, hatte allerdings auch einen sehr MfS-spezifischen Grund: „Alle Grenzverletzer, deren Festnahme durch die Grenztruppen der DDR außerhalb der Bereiche der Grenzübergangsstellen erfolgte, sowie Angehörige der Bundeswehr und der Grenzüberwachungsorgane der BRD, die in den Bereichen der Grenzübergangsstellen der DDR ungesetzlich auf das Territorium der DDR übertraten, sind ohne vorherige Befragung sofort den zuständigen Aufklärungsdiensteinheiten der Hauptabteilung I/KGT zu übergeben und von diesen auf die Möglichkeiten der operativen Nutzung zu überprüfen." Einen operativen Nutzen hätten die Verhafteten vor allem dann gehabt, wenn sie sich möglicherweise zu einer Zusammenarbeit mit dem MfS bereit erklärt hätten. Daran allerdings war wohl in aller Regel kaum zu denken; doch schon im Verhör gewonnene Informationen über das westliche Grenzgebiet konnten sich (sowohl für die Aufklärungs- als aber auch Abwehreinheiten) bereits als nützlich für die eigene Arbeit erweisen.28 Erst „im Falle der Nichteignung 76 Sélitrenny, 1991, S. 68.
Rita; Weichert,
Thilo, Das unheimliche Erbe. Die Spionageabteilung der Stasi, Leipzig
27 Den Grenztruppen-Angehörigen war diesbezüglich befohlen worden, „die von ihnen festgenommenen Personen ... (unverzüglich bzw. innerhalb von 6 Stunden), an den zuständigen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit... zu übergeben". Dies galt für alle Personen, „die die Staatsgrenze aus Richtung BRD, BERLIN (WEST) bzw. des offenen Meeres widerrechtlich passiert haben". Zitiert aus: MfNV-Befehl 36/86 über das Zusammenwirken der Grenztruppen der DDR mit den Kräften des Ministeriums für Staatssicherheit und des Ministeriums des Innern zum Schutz der Staatsgrenze, vom 31.März 1986 ( W S A 456908), [Bundesarchiv-Militärisches Zwischenarchiv Potsdam, Strbg 30954, Bl. 1-43], S. 15.
™ Vgl. Stichwort 'Nutzeffekt, politisch-operativer 1; in: Das Wörterbuch der Staatssicherheit (Anm. 2), S. 269: „Die Spezifik des N. der politisch-operativen Arbeit besteht darin, daß die Sicherheit in dem Verhältnis Aufwand - Nutzen das Primat hat." Und ihre Sicherheit sah die DDR natürlich zuerst an ihrer Grenze zur Bundesrepublik bedroht, so daß es durchaus plausibel erscheint, wenn solche 'Grenzverletzer' zuerst von Mitarbeitern der MfS-HA I verhört wurden.
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für eine operative Nutzung" waren „die Grenzverletzer an die zuständigen Diensteinheiten zu übergeben." Das 'Erstverhör' dieser Verhafteten wurde also prinzipiell immer von 'Aufklärungs'-Mitarbeitern der Hauptabteilung I mit dem Ziel durchgeführt, eine größtmögliche Zahl von operativ nutzbaren Informationen zu gewinnen, während die Feststellung des Tatherganges stattdessen eine nur völlig untergeordnete Rolle spielte.29 Dies wird den Betroffenen allerdings so gut wie nie gewärtig gewesen sein, denn ihre Vernehmer präsentierten sich ihnen üblicherweise in Grenztruppen-Uniformen. Aber trotz dieser letztgenannten Aufgabe lag das Hauptarbeitsfeld für die Aufklärungseinheiten der HA I eindeutig auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Offenbar um daraus möglicherweise resultierende Rivalitäten oder Kompetenzüberschneidungen mit der Auslandsspionage zu vermeiden, ordnete MfS-Minister Mielke daher am Schluß dieser Durchführungsbestimmung unzweideutig an, daß die Zusammenarbeit mit anderen operativen Diensteinheiten „auf der Grundlage von Koordinierungsvereinbarungen, insbesondere mit der Hauptverwaltung A, zu organisieren" sei, wodurch ein ständiger und aktueller Austausch von operativ interessanten Informationen garantiert werden sollte. Damit ist zugleich erwiesen, daß die HV A keinesfalls isoliert von den übrigen Struktureinheiten arbeitete, wie es ihr langjähriger Chef, Generaloberst Markus Wolf sowie weitere seiner Mitarbeiter nach der politischen Wende 1989/90 Glauben machen wollten. Ein weiterer Arbeitsbereich des MfS im Grenzgebiet, den die zentrale Dienstanweisung 10/81 einer Struktureinheit zugewiesen hatte, bestand hauptsächlich in der Sicherung der Organe und Angehörigen des Innenministeriums. (S. 17-19) Diesen Aufgabenkomplex hatte die Hauptabteilung VII zu bearbeiten. Durch ihre Tätigkeit sollte zugleich die Zusammenarbeit mit dem Mdl verbessert werden, wovon sich das MfS parallel dazu (natürlich nicht uneigennützig denkend) erleichterten Zugang zu den durch die entsprechenden Organe gewonnenen Erkenntnisse und Daten versprach. Mielke begründete dieses Einwirken formell allerdings als einen notwendigen Akt der Fürsorge: schließlich sollten die Mdl-internen Arbeitsprozesse „zur Erreichung einer hohen Wirksamkeit" bei der Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit „entsprechend den spezifischen Sicherheitserfordernissen in den Grenzgebieten" unterstützt werden, in Wirklichkeit aber sollte dadurch natürlich nur die Effektivität der fluchtverhindernden Maßnahmen noch weiter erhöht werden. Offenbar traute die MfS-Führung den Mdl-Organen das Erreichen einer solchen (zumindest ausreichenden) Wirksamkeit ohne die eigene hilfreiche Unterstützung jedenfalls nicht zu. Interessanterweise sollte dieses Einwirken (zur
29 Vgl. MfS-Befehl 31/72 über die Grenzaufklärung der Hauptabteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit, vom 14.Juli 1972 (GVS o08^19/72), [BStU, ZA, DSt 100682], S. 4: „Bei der Durchführung der Erstbefragung sind strafprozessuale und kriminalistische Gesichtspunkte'4 nur „insoweit zu berücksichtigen, als sie der Absicht der operativen Gewinnung nicht entgegenstehen."
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konkreten Grenzsicherung) allerdings nicht nur auf die Organe des M d l (also hauptsächlich der Deutschen Volkspolizei) beschränkt bleiben, sondern gleichzeitig galt es in diesem Zusammenhang, „analoge Aufgabenstellungen ... für das politischoperative Zusammenwirken mit der Hauptverwaltung Zivilverteidigung der DDR und mit dem Generalsekretariat des DRK der DDR" zu realisieren. Natürlich erfolgte die operative Einflußnahme auf die Staatsorgane und sonstigen im Grenzgebiet tätigen Institutionen auch deshalb, um ihre Zusammenarbeit vor allem unter dem Aspekt der weitestgehenden Ausschaltung von Fluchtversuchen ständig zu intensivieren. Auf der Grundlage der bei ihrer Arbeit erzielten Ergebnisse hatte die HA V I I sodann eine „ständige Einschätzung der politisch-operativen Lage ..., insbesondere der Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und ihrer Führung und Leitung, zur Gewährleistung der staatlichen Sicherheit in den Grenzgebieten" abzuliefern. 30 D.h., vomUrteü ihrer Mitarbeiter über die Effizienz und die allgemeine Situation sowohl innerhalb der anderen staatlichen Organe als auch in den MfS-internen Einheiten hingen die weiteren Arbeitsschwerpunkte und das Vorgehen des MfS in den eigentlichen Grenzgebieten entscheidend mit ab. Aus diesem Grunde sollte man die Tätigkeit der MfS-Abteilungen VII für die Grenzgebiete keinesfalls unterschätzen, denn durch den Auftrag zur Erstellung einer Lageeinschätzung im allgemeinen und speziellen spielte sie zwangsläufig auch eine bedeutsame Rolle im gesamten MfSinternen Grenzsicherungssystem: die Berichte der HA V I I wirkten sich im Grenzgebiet sowohl auf alle anderen dort tätigen staatlichen Institutionen als auch auf sämtliche MfS-Einheiten entscheidend aus. Die konkreten Einschätzungen der Abteilungen V I I für die Grenzkreise liefen übrigens in den Abteilungen V I I der MfS-„Bezirksverwaltungen mit Staatsgrenze zur BRD" auf. Die Aufgaben der Bezirksverwaltungen in bezug zur Grenzsicherung wurden ebenfalls durch die Dienstanweisung geregelt. (S. 20-21) Allgemein hatten die Β V zunächst die Tätigkeiten für die operativ arbeitenden Abteilungen sowie für die Kreis- bzw. Objektdienststellen festzulegen und deren konsequente Ausführung zu beaufsichtigen. Je nach der entstandenen Lage hatten die BV dann die Schwerpunkte für die Arbeit der operativen Einheiten im Grenzgebiet zu bestimmen. Den Bezirksverwaltungen kam dadurch eine Koordinierungsfunktion für die Arbeit des MfS im Grenzsicherungssystem zu. In diesem Zusammenhang waren die BV zugleich für die Gewährleistung einer ständig ausreichenden Personalstärke in den operativen Einheiten auf Kreisebene verantwortlich gewesen. 30 Hierzu hatte Neiber ein Jahr nach dem Inkrafttreten der besprochenen Dienstanweisung den dafür für notwendig erachteten Informationsbedarf konkret festgelegt. Vgl. Zentrale Vorgabe für die gemäß MfS-Dienstanweisung Nr. 10/81 des Genossen Minister von der Hauptabteilung V I I zu fertigenden periodischen Gesamteinschätzung der politisch-operativen Lage in den Grenzgebieten der DDR zur BRD, zu Westberlin bzw. der Seegrenze unter besonderer Beachtung der Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und ihrer Führung und Leitung, vom 30.0ktober 1982 ( W S o008-69/82), [BStU, ZA, DSt 1027731.
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Ende 1975 waren zur konkreten Abstimmung der durchzuführenden operativen Maßnahmen die Bezirkskoordinierungsgruppen (BKG) errichtet worden. Sie sollten über die Koordinierung der operativen Arbeit hinaus z.B. über „sich möglicherweise herausbildende politisch-operative Schwerpunktbereiche in den Grenzgebieten" anhand der erkannten Hauptfluchtrichtungen informieren; d.h., sie hatten u.a. geglückte Fluchtversuche und deren Umstände zu analysieren, um die daraus zu ziehenden Schlüsse im vorbeugenden Sinne an die operativen Einheiten weiterleiten zu können. Von gleicher Bedeutung war die den BV allgemein aufgetragene „Gewährleistung der qualifizierten politisch-operativen Untersuchung, Bearbeitung und Auswertung von operativ bedeutsamen Handlungen, Vorkommnissen und Erscheinungen im Grenzgebiet", denn die dabei ermittelten Untersuchungsergebnisse wirkten sich häufig ebenfalls auf das weitere Vorgehen der operativen Einheiten aus. Das konkrete Untersuchungsorgan des MfS stellte in diesem Zusammenhang die jeweils zuständige Abteilung V I I der BV dar. Diesen war beispielsweise die „zielstrebige Aufdeckung bzw. operative Bearbeitung von Stützpunkten, Anlaufstellen bzw. Zielpersonen des Gegners, von Verstecken und Unterschlupfmöglichkeiten sowie von möglichen Lande- bzw. Startplätzen für Luftfahrzeuge ... zur Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung ungesetzlicher Grenzübertritte" aufgetragen worden. (S. 22-24) Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sollten dann zur unterstützenden Anleitung der operativen Einheiten der Grenzkreisdienststellen Verwendung finden. Selbstredend wurden in dieser Dienstanweisung daher auch die Aufgaben der MfS-Kreisdienststellen der Grenzgebiete geregelt (S. 24-28), deren Mitarbeiter letzten Endes die konkret anfallenden Arbeiten 'vor Ort' zu verrichten hatten. Ihr Aufgabenschwerpunkt lag eindeutig in der vorbeugenden Verhinderung von Fluchtversuchen, die sich aus der grenzspezifischen Lage und Situation hätten ergeben können. Beispielsweise gehörte zu diesen spezifischen Aufgaben die „politisch-operative Sicherung von Start- und Landeplätzen für Luftfahrzeuge des Betriebes Agrarflug, der GST und des DRK im Grenzgebiet". Diese Formulierung dürfte nicht ganz korrekt gewesen sein, da die Einheiten wohl weniger die Flugplätze an sich als vielmehr deren Mitarbeiter und vor allem das zum Einsatz kommende fliegende Personal überwachen sollten. Die Maßnahmen zur Lösung dieser Aufgabe konnten natürlich nicht erst an den Flugplätzen vor Ort einsetzen, sondern begannen spätestens bei der Erteilung von Einreiseerlaubnissen für Piloten in das Grenzgebiet. 31 31 Die vom MfS durchgeführten Maßnahmen zur Verhinderung von Fluchten über die Luftgrenze hinweg sollen in dieser Arbeit nicht näher erläutert werden, da sie ihren Ausgangspunkt in aller Regel nicht im Grenzgebiet hatten. Zudem hätten solchen Fluchtvorhaben im Grenzgebiet technische Probleme im Weg gestanden, wie eine MfS-Information der ZKG über Erkenntnisse zur Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR mittels Fluggeräten, vom 15.November 1984 ( W S o008-122/84), [Dokumentationszentrum Berlin], feststellte. Denn da die Fluggeräte erheblichen Transportraum in
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Schließlich war auch für Tätigkeiten aus beruflichen Gründen in der Grenzregion eine plausible Begründung notwendig, und obwohl das fliegende Personal der DDR in jeder Hinsicht vom MfS bereits mehrfach überprüft worden war, schien eine nochmalige gesonderte Bearbeitung dieser Antragsteller offensichtlich notwendig zu sein. Anscheinend hatte das MfS schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit sammeln müssen, indem Piloten ihre Fluggenehmigungen für die Grenz- und Küstenregionen zu einer Flucht in den Westen ausgenutzt hatten. Generell hatten die Mitarbeiter - bis auf die (ohnehin gesondert überwachten) Grenztruppensoldaten - alle „Personen, die aus beruflichen Gründen im Grenzgebiet zum Einsatz kommen", und auch diejenigen, die aus persönlichen Gründen in das Grenzgebiet einreisen wollten, zu bearbeiten und abzusichern. Für beide Personengruppen galt jedoch: wer überhaupt in die Grenzregion gelangen wollte, mußte zuvor einen Antrag gestellt haben. Daher mußte sich das MfS den entscheidenden Einfluß auf dieses Genehmigungsverfahren sichern, um den sich im Grenzgebiet befindlichen Personenkreis auf diesem Wege überschaubar (und folglich kontrollierbar) zu halten, aber auch, um unsichere 'Kandidaten', die möglicherweise eine Fluchtabsicht hegten, gar nicht erst in Grenznähe gelangen zu lassen. Um diese Einflußnahme auf das Antrags- und Prüfverfahren gewährleisten zu können, war im Gefolge der Dienstanweisung eine eigene Durchführungsbestimmung erlassen worden, die insbesondere die diesbezügliche Arbeit der zuständigen Grenzkreisdienststellen betraf. 32 Offiziell gelangten sämtliche Einreisegesuche aus dem Landesinneren der DDR an die zuständigen örtlichen Volkspolizei-Kreisämter ( VPKÄ) der Grenzgebiete, die
Anspruch nahmen, konnte man sie kaum in das gut bewachte Grenzgebiet schleusen, ohne damit aufzufallen. Aber selbst wenn es einmal gelungen wäre, einen Kfz-Anhänger o.ä. unkontrolliert in das Grenzgebiet einzuschleusen, hätte man das Fluggerät erst vor Oit zusammenbauen müssen. Die Gefahr, dabei entdeckt zu werden, war aber ungleich höher als im Landesinneren. Außerdem verzichteten die meisten 'Luft-Flüchtlinge' aus gutem Grund nicht auf einen Probeflug unter möglichst realistischen Bedingungen. Gerade diese Versuche aber wurden im - durch die militärische Luftsicherung besonders überwachten - Grenzgebiet so gut wie immer entdeckt. 32 Vgl. 1.Durchführungsbestimmung zur MfS-Dienstanweisung 10/81: Politisch-operative Aufgaben im Rahmen des Antrags-, Prüflings- und Entscheidungsverfahrens zur Erteilung von Erlaubnissen für den Aufenthalt in den Grenzgebieten, vom4.JuIi 1981 (VVS o008- 39/81), [BStU, ZA, DSt 102773]. Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen daraus die im folgenden angeführten Zitate. In diesem Dokument findet sich übrigens auf S. 13 ein recht eindeutiger Hinweis für die Einflußnahme des MfS auf die Gesetzgebung der DDR: die Bestimmung sprach (bereits im Juli 1981) vom „Erlaß des Grenzgesetzes", obwohl dieses (samt Folgebestimmungen) erst im Mai 1982 in Kraft trat. Der diesbezügliche Entwurf war der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt aber noch gar nicht bekannt, sehr wohl aber, wie der Passus beweist, dem MfS, das infolgedessen die notwendigen Anweisungen noch vor der Verabschiedung des Gesetzes erlassen konnte. Der im März 1982 in die Volkskammer eingebrachte Gesetzentwurf mußte sich dann nur den MfS-Anweisungen und -Bestimmungen 'anpassen'. Das Grenzgesetz richtete sich also eindeutig an den Besümmungen und Anordnungen des MfS aus (nicht etwa umgekehrt!), und muß daher in seiner Bedeutung auf jeden Fall relativiert und inhaltlich auf eine formal-juristische Begründung gegenüber dem Ausland für das Bestehen des Grenzregimes reduziert werden.
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dann über eine Einreiseerlaubnis zu entscheiden hatten.33 So sahen es jedenfalls die rechtlichen Bestimmungen vor. Nirgendwo war dabei von einer formellen Ein- oder Mitwirkung des MfS an diesem Entscheidungsprozeß die Rede gewesen. Doch ganz unverhohlen wurde in der internen Durchführungsbestimmung angeordnet, wie die Praxis tatsächlich auszusehen hatte: das MfS nahm für sich selbstverständlich ein „Einspruchsrecht zur Gewährleistung und Durchsetzung der politisch-operativen Interessen" in Anspruch. Mit der Wahrung dieses Postulats waren konkret die Kreisdienststellen beauftragt worden, die insbesondere in solchen Fällen gegen mögliche Einreisegenehmigungen Einspruch zu erheben hatten, in denen die betreffende Person „durch staatsfeindliche oder feindlich-negative Handlungen in Erscheinung getreten ist bzw. im Verdacht steht, solche zu begehen", oder wenn „der Mißbrauch der Grenzerlaubnis durch diese Person zur Durchführung strafbarer Handlungen, u.a. für die Organisierung des staatsfeindlichen Menschenhandels oder des ungesetzlichen Grenzübertritts, nicht ausgeschlossen werden" konnte. Es reichten demnach bereits vage Verdachtsmomente gegen die Antragsteller aus, um ihnen den Zutritt zum Grenzgebiet zu verweigern. Konkrete Gründe für die Ablehnung eines Antrags brauchten die MfS-Mitarbeiter der Volkspolizei gegenüber ohnehin nicht anzugeben, wie Mielke beschlossen hatte: „eine Begründung des Einspruchs gegenüber den VPKÄ ist nicht erforderlich." Die Überprüfung der beantragenden Personen konnte dabei natürlich nicht die Grenzkreisdienststelle vornehmen, da die Antragsteller ja aus dem Landesinneren kommen mußten. Daher war man auf die Berichte der für den Hauptwohnsitz der Personen bzw. für den Betrieb oder die Organisation zuständigen Kreisdienststelle angewiesen. Diese wußten allerdings sehr wohl, daß sie bei 'Mißerfolgen' (sprich erfolgreichen Fluchten oder auch nur Fluchtversuchen von genehmigten Antragstellern) in jedem Falle zur Verantwortung gezogen wurden, so daß sie - um jedes Risiko nach Möglichkeit auszuschalten - nicht absolut sicher zum Staat stehenden Bürgern von vornherein kaum eine Erlaubnis erteilt haben dürften. War ein Bürger hingegen bereits im zentralen Speicher des MfS erfaßt (aus welchen Gründen auch immer), so war für die Antrags-Entscheidung diejenige operative Diensteinheit zuständig, die den Vorgang eingeleitet hatte oder ihn aktuell bearbeitete. Diese Einheiten werden aus dem selben Grunde ebenso häufig von ihrem Einspruchsrecht Gebrauch gemacht haben.
33 Allerdings durfte niemand einen Antrag an die VPKÄ direkt stellen: die rechtlichen Bestimmungen sahen bereits im Vorfeld eines Antrags einen ersten Kontroll-Filter vor, indem Anträge aus persönlichen Gründen ausschließlich von den zu besuchenden (also im Grenzgebiet wohnhaften) Bürgern an ihre heimischen Kreisämter gestellt werden durften; und Anträge aus beruflichen Gründen konnten nur von vorgesetzten Leitern der Betriebe oder Organisationen der Antragsteller bei den jeweils im Landesinneren zuständigen VPKÄ eingereicht werden. Diese hatten die Anträge nach einer gründlichen Überprüfung ihrerseits an die Grenzkreisämter weiterzureichen. Die dazu geltende Rechtsgrundlage fand sich in der Grenzordnung (zum Grenzgesetz vom 25.März 1982), § 11, Abs. 2 und 3. Deren Bestimmungen orientierten sich also ebenfalls an den Vorgaben des MfS.
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Dieses aufwendige Prozedere zog jedoch noch lange nicht die Konsequenz nach sich, daß, falls ein Bürger die Aufenthaltsgenehmigung tatsächlich erhielt, er somit etwa unbeobachtet im Grenzgebiet blieb. Auch für die dazu vom MfS durchzuführende Überwachung wurde den bis dato zuständigen operativen Einheiten aus dem Landesinneren die entscheidende Verantwortung übertragen, da diese (und nicht etwa primär die Grenzkreisdienststellen!) „die erforderlichen politisch-operativen Maßnahmen zur politisch-operativen Sicherung dieser Person, insbesondere zur vorbeugenden Verhinderung eines Mißbrauchs der Grenzerlaubnis, einzuleiten" hatten. Allerdings ergab sich dabei natürlich eine enge Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Diensteinheiten aus dem Landesinneren und den Grenzgebieten beinahe von selbst. Doch die Kreisdienststellen des MfS wirkten nicht nur allgemein als selbsternannte 'gleichberechtigte Partner' der VPKÄ am Genehmigungsverfahren für Einreisen in das Grenzgebiet mit. Zunächst einmal nutzten sie ihren indirekten Einfluß im Rahmen der Absicherung der VPKÄ dahingehend aus, auf diesem Wege überhaupt erst Kenntnis von den gestellten Einreiseanträgen zu erhalten, weil diese bei den VPKÄ aufliefen. Doch da die eingesetzten Kräfte der DVP in den Grenzgebieten ohnehin bereits besonders vom MfS abgesichert (also unterwandert und überwacht) worden waren, gab es im Zusammenspiel zwischen den VPKÄ und den Kreisdienststellen des MfS diesbezüglich wohl kaum größere Schwierigkeiten im Zuge des weiteren gemeinsamen Bearbeitungsverfahrens. Dennoch wurde MfS-intern natürlich nichts dem Zufall überlassen. Daher war jede Person, für die ein entsprechender Aufenthaltsantrag zum Betreten des Grenzgebietes vorlag, erst einmal „in den Informationsspeichern der Kreisdienststellen sowie in der Abteilung ΧΠ des MfS zu überprüfen." (Die Abteilung ΧΠ war die zentrale Speicher- und Informationseinheit des MfS.) Stellte sich dabei heraus, daß diese Person bereits von einer im Landesinneren tätigen Diensteinheit operativ bearbeitet wurde, so war diese Einheit durch die Grenzkreisdienststelle von dem Antrag zu informieren, damit entsprechende Schritte eingeleitet werden konnten. So hatten sämtliche am Überprüfungsprozeß beteiligten operativen Diensteinheiten „alle erforderlichen poliüsch-operaüven Maßnahmen zu realisieren, in deren Ergebnis eine Entscheidung über die Notwendigkeit eines Einspruchs gegen die Erteilung einer Grenzerlaubnis getroffen werden" konnte. D.h., die bearbeitenden Diensteinheiten bekamen quasi einen Freibrief zur eingehenden Auskundschaftung des Antragstellers. Da bei der Einholung der ihn betreffenden Informationen kein Lebensbereich außer acht gelassen werden durfte, mußten die für die Arbeitsstelle oder einen möglichen Nebenwohnsitz zuständigen operativen Diensteinheiten natürlich ebenfalls verbindlich mit in den Entscheidungsprozeß einbezogen werden. Doch dies waren Aufgaben, die nicht von den im Grenzgebiet arbeitenden Einheiten verrichtet wurden, weshalb hier auch nicht näher darauf eingegangen werden soll.
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Dennoch waren den Grenzkreisdienststellen in diesem Überprüfungsprozeß ebenfalls spezifische Tätigkeiten zugewiesen worden, da die getroffenen Entscheidungen zur Einreise in das Grenzgebiet schließlich auch Konsequenzen für deren konkrete Arbeit nach sich ziehen konnten. Zweckmäßigerweise unterschied man dabei nach den angegebenen Gründen für eine potentielle Einreise in das Grenzgebiet. Da Besucher aus persönlichen Gründen einen Antrag auf Einreise nur auf dem Wege über einen Verwandten oder Bekannten aus der Grenzregion, aber nicht direkt an die zuständigen Stellen richten konnten, löste dies im MfS zwei Bearbeitungsvorgänge aus. Denn nach dem Eingang eines solchen Antrags bei den Grenz-VPKÄ hatten die zuständigen Einheiten nicht etwa zunächst eine Durchleuchtung des möglichen Besuchers in Gang zu setzen, sondern erst einmal „alle erforderlichen politisch-operativen Überprüfungen zum Antragsteller (aus dem Grenzgebiet!, F.P.) sowie insbesondere zum Verhältnis zwischen dem Antragsteller und der Person, für die eine Einreise beantragt wurde,... durchzuführen". Lagen gegen diesen Antragsteller aus dem Grenzgebiet dann auch noch Zweifel an dessen unbedingter Loyalität zu seinem Staat vor, war „bereits gegenüber dem Grenz-VPKA gegen die Einreise Einspruch zu erheben." D.h., ein beantragter Besuch im Grenzgebiet wurde bereits dann abgelehnt, wenn die zu besuchende Person den im Grenzgebiet arbeitenden MfS-Einheiten nicht absolut zuverlässig erschien, mochte der mögliche Besucher auch noch so sehr über jeden Zweifel erhaben sein. Bestanden aber hingegen a priori nicht solche operativen Ablehnungsgründe, waren die Grenzkreisdienststelle und die den möglichen Besucher bearbeitende KD zu einem wechselseitigen Austausch von Informationen über Besucher und zu Besuchenden verpflichtet, um daraus Rückschlüsse über die Besuchsmotive zu erfahren und auf diesem Wege wohl auch gegebenenfalls mögliche Fluchtabsichten aufzudecken. Wohnte der einheimische Antragsteller gar im Schutzstreifen, so waren im Genehmigungsverfahren „besonders strenge Maßstäbe an die politisch-operativen Überprüfungen und Entscheidungen zu stellen." Deshalb waren dann über die »Aufklärung der Person im Arbeitsbereich und am vorhandenen Nebenwohnsitz" hinaus auch „Überprüfungsmaßnahmen zu den Verwandten ersten Grades und den zum Haushalt gehörenden Personen" vorzunehmen. Die Entscheidung, ob ein im Schutzstreifen lebender Bürger Besuch aus dem Landesinneren bekommen durfte, hing also keinesfalls nur von seinem eigenen Verhalten und dem des Besuchers ab, sondern konnte im Zweifelsfalle bereits durch die Anwesenheit einer nicht einmal zur Familie gehörenden, nur im Hause des Antragstellers lebenden unzuverlässig erscheinenden Person negativ entschieden werden. Aufgrund der unterschiedlichen Antrags verfahren galten für die Grenzkreisdienststellen bei der Bearbeitung von Personen, die aus beruflichen oder sog. gesellschaftlichen Gründen in das Grenzgebiet einreisen wollten, andere Arbeitsschwer-
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punkte. Da Anträge für solche Personen nur von den Leitern ihrer Betriebe bzw. Organisationen gestellt werden konnten, begann die operative Einflußnahme des MfS auf das Verfahren bereits auf dieser Ebene. Dazu hatten die den jeweiligen Betrieb bzw. die Organisation sichernden Einheiten von vornherein darauf zu achten, daß ihnen kein diesbezüglich geplanter Antrag entging, um die MfS-internen operativen Überprüfungen noch vor der eigentlichen Antragstellung in Gang setzen zu können. Konkret sollten die Betriebs- bzw. Organisationsleiter vom MfS dahingehend beeinflußt werden, „Genehmigungen bei der Volkspolizei erst nach (sie!) entsprechender Abstimmung mit den zuständigen operativen Diensteinheiten" zu beantragen. Zudem hatten die zuständigen Diensteinheiten im Landesinneren darauf hinzuwirken, daß die Leiter der Betriebe bzw. Organisationen nur für politisch absolut zuverlässige Mitarbeiter Passierscheine zum Betreten des Grenzgebietes beantragten, und dies auch höchstens „im für die Erfüllung der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Aufgaben unbedingt notwendigen Umfang". Aber trotz dieser massiven Einflußnahme des MfS auf das Antragsverfahren hob die Durchführungsbestimmung gleichwohl fast schon süffisant hervor, daß die jeweiligen Leiter solche Anträge nur „unter konsequenter Wahrnehmung ihrer Eigenverantwortung" stellen durften. Damit war unmißverständlich gemeint, daß die Betriebs- bzw. Organisationsleiter für unvorhergesehene 'Pannen' (also Fluchtversuche ihrer Mitarbeiter) voll und ganz zur Verantwortung gezogen werden würden. Diese Drohung dürfte seitens der Leiter in der Praxis tatsächlich zu einer betriebsinternen Selektion über die in Frage kommenden Kandidaten noch vor Stellung eines solchen Antrags geführt haben, von der die Betroffenen allerdings natürlich kaum etwas ahnen konnten.34 Besondere Risiken bargen des weiteren notwendige Arbeiten im Schutzstreifen in sich, weshalb die hierzu gestellten Anträge besonders streng vom MfS überprüft werden mußten. Zu diesem Zweck waren sämtliche im Vorfeld festgestellten möglichen Unsicherheitsfaktoren und Risiken absolut zweifelsfrei aufzuklären, wenn nötig auch „im Rahmen einer operativen Personenkontrolle" (OPK), bei der das MfS durchweg alle ihm zur Verfügung stehenden operativen Mittel anwandte, um si34 Gemäß einer eigens dazu erlassenen Durchführungsbestimmung (zur besprochenen Dienstanweisung) galten diese genannten Vorgaben selbstverständlich auch für hauptamtliche MfS-Mitarbeiter, die das Grenzgebiet aus dienstlichen Gründen betreten mußten. Vgl. 4.Durchführungsbestimmung zur MfSDienstanweisung 10/81: Die Beantragung und Ausgabe von sowie der Umgang mit Berechtigungen zum Betreten bzw. Befahren des Grenzgebietes an der Staatsgrenze der DDR zur BRD und zu Westberlin durch Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit zur Durchführung politisch-operativer und anderer dienstlicher Aufgaben, vom ll.August 1982 (VVS o008-56/82), [BStU, ZA, DSt 102773]. Demnach mußten sämtliche Anträge Mielke persönlich zur Bestätigung vorgelegt werden, und darüber hinaus auch eine ganze Reihe von Auflagen eingehalten werden. Dies alles wird auf die Sicherheitshysterie im MfS nach der Flucht des Oberleutnants Werner Stiller von 1979 zurückzuführen sein; offenbar konnte man insgeheim die Flucht von weiteren MfS-Angehörigen nicht ausschließen, weshalb man jegliches Risiko so gering wie möglich halten wollte. Interessanterweise mußten außerdem Sondergenehmigungen zum Betreten des Brockenplateaus im Harz beantragt werden - anscheinend durfte man den sowjetischen 'Freunden' nicht zu nahe treten.
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cherheitsrelevante Fragen kurzfristig zu klären. 35 Das bedeutete, das auf den vorgesehenen Kandidaten u.ä. I M und GMS angesetzt werden konnten, die alle Lebensbereiche des Betroffenen möglichst intensiv auszuforschen hatten. Diese Maßnahmen waren darüber hinaus prinzipiell auch für alle Personen vorgesehen, die „feindwärts der Grenzsicherungsanlagen bzw. im Rahmen getroffener Vereinbarungen auf dem Gebiet der BRD zum Einsatz kommen" sollten oder „zur Unterhaltung von Arbeitskontakten mit gegnerischen Grenzsicherungskräften berechtigt" waren, weil sie durch ihre Tätigkeit „Einblicke über größere Bereiche der Staatsgrenze erhalten" würden, die ihnen möglicherweise Erkenntnisse über mögliche Schwachstellen im Grenzsicherungssystem hätten verschaffen können. Dies betraf z.B. Kartographen, Vermessungstechniker, Angehörige der Grenzkommission usw. Bei diesen Kräften durfte sich das MfS keinen Fehler erlauben, da sie sich angesichts ihrer Sondervollmachten relativ unkontrolliert vor Ort bewegen konnten und somit für die Grenzkreisdienststellen nur sehr schwer zu überwachen waren. Ergo wurden in diesen Fällen selbst nach einer erteilten Genehmigung „zielgerichtet geeignete I M " eingesetzt, die diesen Personenkreis möglichst lückenlos bei ihren Tätigkeiten überwachen sollten. Für die Instruierung dieser (üblicherweise nicht aus dem Grenzgebiet stammenden) I M waren die jeweiligen Grenzkreisdienststellen bzw. Diensteinheiten der HA I zuständig, wobei sie „bei operativer Zweckmäßigkeit" untereinander „eine zeitweise Übergabe von I M zu vereinbaren" hatten. Soweit die Darstellung der Maßnahmen zur Absicherung der in das Grenzgebiet einreisenden Personen. Ein weiterer zentraler Punkt bei der Tätigkeit der Grenzkreisdienststellen, die im Rahmen der ständigen „Vervollkommnung der operativen Grenzsicherungsmaßnahmen" besonders an der „schnellen Schließung erkannter Lücken in den Sicherungssystemen an der Staatsgrenze der DDR" mitzuwirken hatten, stellte die Überwachung der gesamten Grenzbevölkerung dar. Dazu hatten die KD-Mitarbeiter die für die Aufgabenstellung des MfS zentrale und somit für die gesamte Arbeit charakteristische „Klärung der Frage 'Wer ist wer?' bei den im Grenzgebiet wohnhaften bzw. tätigen Personen" vorzunehmen. (S. 25) Gemäß dem Motto von MfS-Chef Mielke: „Wir können zwar nicht alles selbst bearbeiten, müssen aber als MfS über alles Bescheid wissen"36, wurden die Bewohner in den * Grundlage für diese Tätigkeit bildete die MfS-Richtlinie 1/81 über die Operative Personenkontrolle (OPK), vom 25.Februar 1981 (GVS 0OO8-IO/8I), [BStU, ZA, DSt 102737]. Demnach sollte eine OPK detaillierte Informationen über die zu bearbeitende Person verschaffen und konnte - je nach den dabei gewonnen Erkenntnissen - u.U. zu einem „Operativen Vorgang" des MfS führen, oder gar zu einem Ermittlungsverfahren, aber groteskerweise auch zu einem Versuch der Anwerbung als Inoffizieller Mitarbeiter GM) für das MfS. 36 So Mielke auf einer Dienstkonferenz im Dezember 1978; zitiert nach: Dokumentation zur politischhistorischen Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS, Berlin (Ost) 1990, S. 47. (Diese Dokumentation wurde im Auftrag des damaligen DDR-Innenministers Diestel vom 'Staatlichen Komitee zur Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS' erstellt, aber letztendlich nicht veröffentlicht.)
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(wegen ihrer räumlichen Nähe zum Westen besonders sensiblen) Grenzgebieten durch ein möglichst engmaschiges Netz von I M bespitzelt, um frühzeitig mögliche Fluchtabsichten aufdecken und entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Es versteht sich von selbst, daß diese Aufgabe eines der wichtigsten Tätigkeitsfelder des MfS im Grenzregime darstellte, denn die einheimische Bevölkerung brauchte ja um so weniger Sperrelemente überwinden, je näher sie an der Grenze wohnte. Hinzu kam noch die Tatsache, daß die Bewohner den so verlockenden Westen permanent vor Augen hatten - ein langes Aufhalten auf der Suche nach möglichen Fluchtmotiven konnte es da für das MfS nicht geben. In den Grenzgebieten mußte das MfS bei beabsichtigten Fluchten besonders schnell zugreifen können, so daß die Spitzeltätigkeit der I M zwangsläufig eine besondere Rolle im Grenzregime spielte. Unter der Prämisse, über die Vorgänge in der Grenzregion lückenlos informiert zu sein, durfte das MfS keine unüberschaubare Situation an der Grenze entstehen lassen, da diese die Gefahr eines unbemerkten Fluchtversuches vergrößert und die Chancen zu dessen Vereitelung verkleinert hätte. Von besonderer Bedeutung im Zusammenhang mit der Kontrolle über die einheimische Bevölkerung war deshalb natürlich auch die Zusammenarbeit mit den VPKÄ, da diese schließlich ebenfalls für die „Gewährleistung einer hohen öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Grenzgebiet" verantwortlich waren. Folglich hatten die KD-Mitarbeiter in gleicher Weise auf die „konsequente Wahrnehmung der ihr übertragenen Verantwortung (gemeint ist die DVP, F.P.) bei der Grenzsicherung" absichernden Einfluß zu nehmen. (S. 26) Denn die Volkspolizisten agierten bei ihren - für die Grenzsicherung tatsächlich nicht unwichtigen - Tätigkeiten in aller Regel 'sichtbar' für die Einwohner, also in Uniform, während die MfS-Mitarbeiter als solche üblicherweise nicht zu erkennen waren. 37 Und obwohl die Furcht vor dem MfS in der Bevölkerung ungleich höher war als vor der DVP, verkörperte diese doch durch ihre Uniformierung immerhin sichtbar die Staatsmacht, so daß das MfS trotz der ohnehin schon vorhandenen konspirativen und/oder offenen Einwirkung auf die Volkspolizei deren Autorität auf jeden Fall unterstützen mußte.38 37 Ungeachtet dessen wußten oder ahnten die Einheimischen natürlich häufig, wer aus ihrer Nachbarschaft beim MfS hauptamtlich im Sold stand. Und da es sich bei den Grenzgebieten fast ausschließlich um ländliche Gebiete mit kleinen und - vom MfS so gewollt - überschaubaren Dörfern handelte, sprachen sich diese 'Erkenntnisse' auch schnell unter der Hand in den entsprechenden Gebieten herum. (Damit aber lief die konspirative Arbeit des MfS zugleich Gefahr, zur Farce zu werden - wenn jeder über jeden Bescheid wußte, waren I M eigenüich überflüssig!) 38 Gleiches galt daher im Grunde auch für die Zusammenarbeit mit den ebenfalls einen Ordnungsfaktor darstellenden Grenztruppen, wobei sich die MfS-Kreisdienststellen zweckmäßigerweise mit den für Sicherungsmaßnahmen innerhalb der Grenztruppen zuständigen Einheiten der Hauptabteilung I abzustimmen hatten. Man sollte sich dabei allerdings auch der Tatsache gewärtig sein, daß die Grenztruppen aus Sicht des MfS hauptsächlich für die Bewachung der Grenzanlagen oder Fahndungsmaßnahmen in den ihnen zugewiesenen Abschnitten zuständig waren - für mehr aber auch nicht. Es gab gar keinen Zweifel, wer im Grenzregime das eigentliche Sagen hatte: die Grenztruppen mußten dem MfS zuarbeiten. Den geringeren Stellenwert der Grenzsoldaten selbst gegenüber der Volkspolizei verdeutlichte
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Doch dem MfS konnte es natürlich nicht genügen, durch das Einwirken auf die privaten Lebensbereiche der Einwohner oder durch die Koordinierung mit den VPKÄ und Grenztruppen zu einer möglichst hohen öffentlichen Sicherheit und Ordnung beizutragen. Vielmehr mußte man auch versuchen, die im Grenzgebiet ansässigen Betriebe und Organisationen abzusichern, um das gesamte Arbeits- und Lebensumfeld der Grenzbevölkerung zu durchdringen. Die Arbeitsplätze der Einheimischen befanden sich (u.a. wohl in der Absicht, das Grenzgebiet auch unter verkehrstechnischen Gesichtspunkten möglichst überschaubar zu halten) in aller Regel ebenfalls in der Grenzregion. Daher bestand eine wichtige Funktion der Grenzkreisdienststellen des MfS in der operativen Beeinflussung der staatlichen Kombinate, Betriebe oder sonstigen Einrichtungen des Grenzgebietes. Auch in diesem Zusammenhang galt: alle Maßnahmen sollten primär zur Verhinderung von Fluchtversuchen dienen. Dazu wurden sämtliche Vorkehrungen unternommen, die diesem Ziele in irgendeiner Form nützlich erschienen, „einschließlich einer stabilen Versorgung der Grenzbevölkerung". Denn Unzufriedenheit in der Grenzbevölkerung wegen einer nicht ausreichenden Versorgung hätte ja gerade wegen der Nähe zum verlockenden Westen so manchen Fluchtversuch eines Einheimischen heraufbeschwören können, so daß dem MfS in jedem Falle an einer ausreichenden Versorgung der Grenzgebiete gelegen sein mußte. Und für diese Aufgabe waren auf MfS-Ebene DDRweit hauptsächlich die Kreisdienststellen zuständig, wobei diese Funktion in den Grenzgebieten aus vorgenanntem Grunde eine besondere Rolle spielen mußte. Außerdem wollte man ja das Vertrauen der Grenzbevölkerung gewinnen, um die Überwachung des Grenzgebietes (einschließlich seiner Bewohner!) in jeder Form möglichst noch perfekter und damit effizienter gestalten zu können, weshalb die Versorgung dieser Regionen (zumindest bis in die achtziger Jahre hinein) trotz aller Sicherheitsauflagen und Einschränkungen nicht vernachlässigt werden durfte. Damit war keinesfalls nur die Versorgung mit Konsumgütern gemeint, sondern z.B. auch die Energie- und Wasserversorgung. Allerdings erhellen die in diesem Zusammenhang durchgeführten Tätigkeiten auch einmal mehr den wahren Charakter des genannten Auftrags, denn es galt dadurch natürlich nicht nur die Versorgung der Bevölkerung zu sichern, sondern darüber hinaus vor allem auch die Erfüllung der materiellen Forderungen der Grenztruppen und der DVP sicherzustellen. In Wahrheit sollte das Einwirken der KD auf die im Grenzgebiet angesiedelten Betriebe und Genossenschaften deshalb auch primär „zur Beseitigung von straftatbegünstigenden bzw. die Grenzsicherung beeinträchtigenden Bedingungen" führen. (S. 28)
das Verfahren nach einer erfolgten Festnahme von DDR-Flüchtlingen: diese waren unverzüglich an das zuständige VPKA zu übergeben (vgl. MfNV-Befehl 36/86 [Anm. 27], S. 15). Aufgabe der GrenztruppenAngehörigen war es folglich, sich nur mit der möglichst einwandfreien Grenzbewachung zu befassen, aber nicht, sich mit Ermittlungen o.ä. (außer bei Todesfällen) aufzuhalten, dafür waren dann das MfS und die DVP zuständig.
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Imfolgenden wurden dann die Verantwortlichkeiten für die weiteren, ebenfalls an der Grenzsicherung beteiligten operativen MfS-Diensteinheiten festgelegt. (S. 2935) Allerdings ergaben sich diese Aufgaben häufig bereits mehr oder minder zwangsläufig aus deren spezifischen Funktionen, von denen eben auch das Grenzgebiet betroffen war, so daß sie hier (bis auf eine Ausnahme) nur kurz dargestellt werden sollen. Das bedeutet allerdings ausdrücklich nicht, daß ihre Tätigkeiten im Grenzregime etwa unwichtig gewesen wären - vielmehr soll hier nur dokumentiert werden, welche Abteilungen für welche Aufgaben zur Grenzsicherung konkret zuständig waren. Die für die Spionageabwehr in der DDR zuständige HA Π und deren nachgeordneten Stellen waren für die Aufklärung und Bekämpfung der sich gegen die Grenze richtenden Aktivitäten westlicher Geheimdienste zuständig. Außerdem hatten ihre Mitarbeiter zu gewährleisten, daß die Angehörigen diplomatischer Vertretungen oder in der DDR akkreditierte Journalisten ihre Immunität und (natürlich nur relative) Bewegungsfreiheit nicht „zur Inspirierung und Organisierung bzw. zur Unterstützung von feindlich-negativen Angriffen gegen die Staatsgrenze der DDR und die zu ihrem Schutz handelnden Organe und Kräfte sowie gegen die Bevölkerung im Grenzgebiet" ausnutzten. Die Mitarbeiter der HA VDI (Beobachtung/Ermittlung) hatten außerhalb des Grenzgebietes zu verhindern, daß Angehörige westalliierter Militärmissionen unbefugt in dieses eindrangen; außerdem hatten sie Versuche westlicher Reisender zu unterbinden, von den Transitautobahnen aus (von und nach West-Berlin) in das Grenzgebiet zu gelangen. Der diesbezügliche Aufgabenkomplex der HA IX umfaßte in erster Linie die „Untersuchung aller gegen die Staatsgrenze der DDR und die staatliche Sicherheit in den Grenzkreisen gerichteten Staatsverbrechen". Ihr Aufgabenfeld umfaßte dabei keinesfalls nur tatsächlich durchgeführte Fluchtversuche, sondern begann bereits bei der Aufdeckung geplanter Fluchtvorhaben. 39 D.h., das Grenzgebiet mußte von der Tätigkeit dieser Abteilungen nicht zwangsläufig betroffen sein, da man ja die zumeist aus dem Landesinneren stammenden potentiellen Flüchtlinge nach Möglichkeit überhaupt nicht in das Grenzgebiet gelangen lassen wollte, doch natürlich konnte es auch Arbeitsgebiet für die entsprechenden Mitarbeiter sein, da unzufriedene Bewohner schließlich auch direkt in der Grenzregion lebten. Nach konkreten Fluchtversuchen hatten die Angehörigen der Β V-Abteilungen IX in Zusammenarbeit 39 Noch im Frühsommer 1989 wurde dazu von einem Mitarbeiter der Β V Magdeburg, Abteilung IX, eine MfS-Diplomarbeit an der JHS eingereicht, die lehrmethodisch aufbereitet das Vorgehen des MfS bei Verdacht auf einen möglichen Fluchtversuch genauestens von der vagen operativen Erstinformation bis zur rechtskräftigen Verurteilung des potentiellen Flüchtlings beschrieb. Vgl. Barz, Lothar, Lehrmethodische Aufbereitung eines mit spektakulären Mitteln vorgetragenen Angriffs auf die Staatsgrenze der DDR für die rechtswissenschaftliche Ausbildung in Offiziersschüler-Lehrgängen, vom 30.Mai 1989 (VVS JHS O001-403/89).
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mit den anderen zuständigen Diensteinheiten die Täter' dieser Vorkommnisse zu ermitteln sowie den Vorgang operativ auszuwerten, woraus sich fast wie von selbst eine weitere Aufgabe der Angehörigen dieser Struktureinheit ergab, nämlich die operative „Einflußnahme auf die Qualifizierung der Tätigkeit der Dezernate Π der Kriminalpolizei bei der Untersuchung und Analyse von Straftaten gemäß § 213 StGB", also des ungesetzlichen Verlassens der DDR. Eine weitere Struktureinheit, deren Aufgaben das Grenzgebiet betraf, war die HA XVin. Sie überwachte hauptsächlich die in der Grenzregion ansässigen volkswirtschaftlichen Betriebe, um die erforderliche Versorgung der Grenzbevölkerung zur Aufrechterhaltung einer stabilen Sicherheit und Ordnung vor Ort zu sichern. Die wichtige Aufgabe der Absicherung aller Bereiche des Verkehrswesens war der HA XIX übertragen worden. Diese begann bereits mit der operativen Einflußnahme auf das Ministerium für Verkehrswesen und setzte sich in dessen nachgeordneten Organen fort, die im Zuge ihrer Tätigkeit Mitarbeiter in das Grenzgebiet entsandten, also der im Grenzgebiet eingesetzten Verkehrsbetriebe, der Deutschen Reichsbahn, der Binnenschiffahrt sowie dem agrarischen Luftverkehr. Neben der bereits angesprochenen 'Verhinderung des Mißbrauchs von Agrarflugzeugen für ein ungesetzliches Verlassen der DDR' waren die Mitarbeiter der Abteilungen XIX vor allem für die ständige Verbesserung der zur Grenzsicherung installierten Sicherungstechnik auf und an den grenzüberschreitenden Straßen-, Schienen- und Wasserstrecken zuständig - ein weiteres Indiz, daß sämtliche Maßnahmen des MfS im Grenzgebiet primär der Fluchtverhinderung dienen sollten. Die Sicherheit der Grenzbevölkerung war hingegen nur soweit interessant, als daß sie nicht selber Fluchtversuche unternahm. Auch die hauptsächlich für die Bespitzelung, Unterwanderung und Bekämpfung der politischen Opposition verantwortliche HA X X hatte operative Aufgaben im Grenzgebiet zu verrichten. Allerdings beschränkte sich ihre Tätigkeit nicht alleine auf diese Überwachungstätigkeit, vielmehr hatte sie darüber hinaus auch technische Aufgaben zu erfüllen. So waren ihre Mitarbeiter z.B. in Zusammenarbeit mit dem Post- und Fernmeldedienst für die Sicherung der staatlichen Nachrichtenverbindungen einschließlich des Funk- und Fernmeldenetzes vom Landesinneren in das Grenzgebiet zuständig; ebenso für die „Schaffung und politisch-operative Sicherung von Möglichkeiten zur Unterbringung und medizinischen Betreuung von bei Vorkommnissen im Grenzgebiet verletzten Personen". Einzig die erst in diesem Abschnitt der Dienstanweisung in Erscheinung tretende HA V I hatte ausschließlich Aufgaben im unmittelbaren Grenzgebiet zu erfüllen. Wohl weniger, weil sich ihre Tätigkeit somit von denen der anderen Struktureinheiten abhob, als vielmehr wegen der Bedeutsamkeit der Grenzübergangsstellen für das gesamte Grenzregime war im Gefolge der Dienstanweisung eine eigene Durchfuhrungsbestimmung für die HA V I erlassen worden. 40 Da die Aufgaben der HA V I 23 Timmermann
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im Zuge der Paßkontrolle in diesem Referat nicht ausführlich besprochen werden sollen, mögen einige Bemerkungen genügen. Ohnehin betraf der Inhalt dieser Durchführungsbestimmung weniger die konkreten Aufgaben der Paßkontrolleinheiten (PKE) als vielmehr deren Kompetenzen sowie ihre organisatorische Abgrenzung gegenüber den anderen an den GÜSt zum Einsatz kommenden (staatlichen) Kräften. 41 Dazu war - unter Federführung des MfS - bereits im Vorfeld des Erlasses der zentralen Dienstanweisung (sowie ihrer Durchführungsbestimmungen) zwischen den an den GÜSt eingesetzten und beteiligten staatlichen Organen (also den Grenztruppen, der Volksmarine, dem MfS, der Zollverwaltung und dem Mdl) eine Vereinbarung über die Verantwortlichkeiten und die Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung und der Sicherung des Reiseverkehrs an den GÜSt getroffen worden. Drei Arbeitsschwerpunkte waren dabei festgelegt worden: gleich an erster Stelle stand „die Verhinderung von Grenzdurchbrüchen", während „die Gewährleistung einer wirksamen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs" demgegenüber eine nur untergeordnete Rolle spielen sollte, und gleiches galt dann auch für die „ständige Aufrechterhaltung einer hohen Sicherheit und Ordnung im Bereich der Grenzübergangsstellen sowie an und auf den zu ihnen führenden Verkehrswegen". Insofern war auch bereits die primäre Zielstellung der Arbeit der HA V I charakterisiert. Die Paßkontrolleinheiten sollten zunächst weniger die Gültigkeit der Reisedokumente überprüfen, wie es die ihnen gegebene Bezeichnung suggerierte, sondern vielmehr, ob nicht etwa DDR-Bürger verbotenerweise über die GÜSt in den Westen fliehen oder aber Bundesbürger zu diesbezüglichen Unterstützungshandlungen in die DDR einreisen wollten. Überspitzt ausgedrückt kann man also sagen, daß die Paßkontrolleinheiten zunächst einmal keine Paßkontrolle, sondern eine reine Personenkontrolle vornahmen. Erst nach der Umsetzung dieser Prämisse hatten die Mitarbeiter dann auch die weiteren, sonst an Grenzübergangsstellen üblichen (vorrangig regulativen) Kontrolltätigkeiten zu verrichten. Die PKE-Angehörigen, von denen übrigens Teilkräfte bei einer gefechtsmäßigen Sicherung der Grenze nach einem „überraschendem Überfall oder Einbruch gegnerischer Kräfte" zeitweilig dem Grenztruppen-Kommandanten der GÜSt unterstellt werden sollten42, waren aber natürlich nicht ausschließlich für die Aufdeckung und 40 Vgl. 3. Durchführungsbestimmung zur MfS-Diens tan Weisung 10/81: Das politisch-operative Zusammenwirken mit den Kräften der Grenztruppen der DDR bzw. den Grenzsicherungskräften der Volksmarine, der Zollverwaltung der DDR und des Mdl bei der Sicherung der Staatsgrenze und der Gewährleistung des grenzüberschreitenden Verkehrs an den Grenzübergangsstellen der DDR, vom 4. Juli 1981 ( W S O008-40/81), [BStU, ZA, DSt 102773]. Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen daraus die Zitate der folgenden Absätze. 41 So wurden in ihr z.B. die internen Aufgaben der HA V I bei der Bedienung der Lichtsignalanlagen sowie anderer Verkehrsregulierungs- und -leiteinrichtungen in den Handlungsräumen der Paßkontrolleinheiten" geregelt, oder die „Sicherung der Zugänge zu den Kontrollterritorien" (vgl. ebenda, S. 5-16); darauf näher einzugehen, erscheint für die hier besprochene Thematik allerdings entbehrlich.
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Verhinderung von Fluchtversuchen jeder Art zuständig, sondern hatten darüber hinaus auch die gesamte „Organisation und Technologie des Kontrollprozesses" für die weiteren ihnen übertragenen Aufgaben zu nutzen. So hatten die Mitarbeiter der HA V I u.a. zu garantieren, daß der Mindestumtausch von westlichen Reisenden auch tatsächlich vollzogen wurde. Ebenso waren sie für die lückenlose Überwachung der Reisenden während ihres Aufenthaltes an den GÜSt zuständig, d.h., in letzter Konsequenz durfte sich kein westlicher Besucher im Zuge der (als 'Filtrierung' bezeichneten43) systematischen Analysierung des Reiseverkehrs auch nur einen Moment lang unkontrolliert an der GÜSt bewegen. Vielmehr hatten die PKE darüber hinaus (in der Regel im Zusammenwirken mit den Zollkräften) zu sichern, daß die Reisenden keine Gegenstände mit sich führten, die dem MfS „zu staatsfeindlichen bzw. anderen schwerwiegenden kriminellen Handlungen vorgesehen oder geeignet" schienen. So mancher westliche Besucher war daher auch (gelinde gesagt) etwas verwundert, wenn von ihm Auskunft über mitgeführte „Waffen, Munition, Sprengmittel, Gifte sowie Suchtmittel, Druckerzeugnisse" usw. verlangt wurde. 44 Nebenbei bemerkt: diese Gleichsetzung verdeutlichte einmal mehr, daß das SED-Regime kritische Druckerzeugnisse mindestens ebenso stark fürchtete wie die gegen sie gerichteten Waffen! Während die Durchführungsbestimmung also vor allem die Zuständigkeiten der HA V I gegenüber den anderen Staatsorganen regelte, war die MfS-interne Zusammenarbeit innerhalb des Grenzregimes in groben Zügen durch die eigentliche Dienstanweisung festgelegt worden. Insbesondere mit den jeweils zuständigen Diensteinheiten der HA I, den Bezirksverwaltungen sowie den Grenzkreisdienststellen hatten die Mitarbeiter der HA V I ihre Tätigkeit so zu koordinieren, daß die operative „Sicherung der Zufahrtswege zu den Grenzübergangsstellen, der Flanken der Grenzübergangsstellen, der Grenzstreckenabschnitte, der Grenzgewässer sowie der Baumaßnahmen an den Grenzübergangsstellen" stets gewährleistet blieb. Da die bis dato für die Sicherung der Zufahrtsstraßen zu den GÜSt bzw. deren Flanken zuständige HA V I I in diesem Zusammenhang nicht mehr erwähnt wurde, scheint 42 Für Ausnahmesituationen waren drei abgestufte Reaktionsformen an den GÜSt vorgesehen: die „zeitweilige Unterbrechung des grenzüberschreitenden Verkehrs bei Havarien/Katastrophen", dann eine (nur durch den Verteidigungsminister anzuordnende) „zeitweilige Schließung" der GÜSt bzw. der betroffenen Verkehrswege in militärischen Ausnahmesituationen, sowie des weiteren (als nochmalige Steigerung) „den Ubergang zur gefechtsmäßigen Sicherung der Staatsgrenze mit zeitweiliger Schließung" der GÜSt. Vgl. ebenda, S. 16f. 43 Vgl. Stichwort 'Grenzübergangsstelle; Filtrierung'; in: Das Wörterbuch der Staatssicherheit (Anm. 2), S. 149f: Durch diverse Überwachungsmethoden, beispielsweise durch eine „legendierte Befragung von Reisenden auf der Grundlage realer Anlässe im Prozeß der Kontrolle und Abfertigung", oder durch die „visuelle Betrachtung und operative Einschätzung" der Reisenden (und der von ihnen mitgeführten Gegenstände und Transportmittel) sollten möglichst aussagekräftige Informationen über jeden Einreisenden bereits an der GÜSt gewonnen werden. 44
2 *
Vgl. z.B. Lapp, Frontdienst im Frieden (Anm. 15), S. 167.
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sich auf diesem Gebiet eine Verschiebung der Kompetenzen zugunsten der H A V I ergeben zu haben. Bedenkt man allerdings, daß jede GÜSt prinzipiell in streng voneinander abgegrenzte Abschnitte unterteilt war, in denen entweder nur die Grenztruppen oder aber nur die PKE die Entscheidungsbefugnis hatten45, erscheint dieser Wechsel in der Verantwortlichkeit auch nachvollziehbar. Denn da die PKEBereiche ausschließlich von Mitarbeitern der HA V I betreten werden durften woran sich selbstverständlich auch die Mitarbeiter der HA V I I zu halten hatten -, ergab es durchaus einen Sinn, wenn eben auch nur sie (und nicht die Angehörigen einer anderen Struktureinheit) die entsprechenden Zugänge (auch zu der gesamten GÜSt) absicherten. Im übrigen dürfte zu dieser Entscheidung auch die Praxis der strengen Konspiration innerhalb des MfS nicht unerheblich beigetragen haben.46 Die bislang beschriebenen Abschnitte der Dienstanweisung hatten in der Hauptsache die Zuständigkeiten der MfS-Abteilungen und Diensteinheiten für Situationen vor einem möglichen Fluchtversuch festgelegt. Wie bereits mehrfach erwähnt, waren diese Aufgaben Bestandteil des veränderten Grenzsicherungssystems der achtziger Jahre. So stellt sich dementsprechend natürlich die Frage, ob entsprechende Erfolge diese Maßnahmen auch rechtfertigen konnten. Aufschluß darüber können z. B. die jährlich von der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) zu diesem Komplex vorgelegten Dokumentationen geben. Die in diesem Zusammenhang exemplarisch betrachtete Untersuchung für das Jahr 1986 konnte in der Tat die mehrfache Unterbindung von Fluchtversuchen bereits in deren Vorbereitungsstadium feststellen. Beispielsweise erhielt eine Diensteinheit den ,»Hinweis eines IM, demzufolge sich die Verdächtigen mit dem Bau eines Fluggerätes befassen", und konnte entsprechende Gegenmaßnahmen (sprich: Verhaftungen) vornehmen; ebenso veranlaßte der Hinweis „eines Freiwilligen Helfers der DVP, demzufolge der Täter in seinem Arbeitskollektiv Äußerungen über einen Waffenfund tätigte", das MfS zu gründlichen Nachforschungen; ein Flüchtling verriet sich durch „widersprüchliche Angaben gegenüber der Transportpolizei während einer Personenkontrolle"; oder das MfS erlangte Informationen über Fluchtabsichten durch die erfolgreiche „Kontrolle der Rückverbindungen eines ehemaligen DDR-Bürgers (Grenzdurchbruch vom Januar 1986)".47 Diese angeführ45
Vgl. Koop, Volker, Ausgegrenzt. Der Fall der DDR-Grenztruppen, Berlin 1993, S. 30.
46 Möglicherweise hatten die Mitarbeiter der HA V I I bei der Sicherung der Zugänge zu den PKEAbschnitten zu viele Einblicke in die Arbeitsweise der HA V I bekommen, was dem Prinzip der strikten inneren Abschottung der MfS-Diensteinheiten absolut zuwider lief. Vgl. dazu Petzold, Frank, Überlegungen zu einer Klassifikation der geheimdienstlichen Arbeit des MfS (Teil 1); in: Zwie-Gespräch 20. Beiträge zum Umgang mit der Staatssicherheits-Vergangenheit, Berlin 1994, S. 6-21, insbesondere S. Π Ι 5. 47
Zitiert aus: MfS-Dokumentation über ausgewählte Angriffe auf die Staatsgrenze der DDR mit spektakulären, gefährlichen bzw. raffinierten Mitteln und Methoden (Zeitraum: 1986), vom April 1987 (VVS MfS O008-119/87), [BStU, ZA, DSt 103402], S. 26, 44,46, 24.
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ten Zitate belegen aber nicht nur beispielhaft die vielfältig angewandten konkreten Mittel und Methoden des MfS bei der Informationsgewinnung zur Unterbindung von Fluchtvorbereitungen (oder auch nur -vorhaben), sondern verdeutlichen darüber hinaus vor allem, daß das MfS ohne die Mitwirkung der vielen freiwilligen Helfer und inoffiziellen Mitarbeiter niemals größere Erfolge bei der Fluchtverhinderung bereits im Landesinneren hätte erzielen können. Bei diesen Maßnahmen sollten nach einer solchen Bespitzelung bereits acht Prozent aller Fluchtwilligen an ihrem Heimatort (im Landesinneren) von MfS-Angehörigen festgenommen worden sein.48 Die sich daher aufdrängende Frage nach der Schuld dieser Spitzel, die weit mehr als nur aktive Mitläufer im SED-System darstellten, ist bis heute übrigens noch so gut wie überhaupt nicht aufgeklärt worden! MfS-intern waren hauptsächlich die Mitarbeiter der Hauptabteilung IX (Untersuchungsorgan) für die „Verhinderung geplanter und vorbereiteter Angriffe gegen die Staatsgrenze der DDR bereits am Heimatort der Verdächtigen" zuständig. Vorrangig hatten sie dabei auf unzufriedene Jugendliche zu achten, weil man bei ihnen am ehesten davon ausgehen konnte, „daß ihr enger Umgangskreis zumeist Kenntnis über solche Vorhaben erlangt'*49, oder anders ausgedrückt: weil sie sich selbst oft genug vor Fluchtvorhaben prahlerisch verplauderten, und anschließend auch am leichtesten durch andere zum Reden zu bringen waren. Insofern waren viele Erfolge des MfS im Landesinneren bei der Aufdeckung von Fluchten durchaus erklärlich. Es zeigte sich, daß die veränderte Taktik der Verhinderung von Fluchtversuchen bereits im Vorfeld der eigentlichen Grenzgebiete durchaus als erfolgreich zu bezeichnen war, wobei ja noch die Erfolge der DVP auf den Anmarschwegen hinzugerechnet werden müssen, so daß es tatsächlich nur noch etwa jedem sechsten Flüchtling in den achtziger Jahren gelang, überhaupt in die Nähe der Grenzgebiete vorzudringen! 50 Insofern war die bereits beschriebene Festlegung von Zuständigkeiten für die angesprochenen Abteilungen und Diensteinheiten vor möglichen Fluchtversuchen in der zentralen Dienstanweisung 10/81 in der Tat durchaus sinnvoll gewesen. Im folgenden wurden nun auch die Verantwortlichkeiten nach erfolgten „operativ bedeutsamen Handlungen, Vorkommnissen und Erscheinungen im Grenzgebiet" festgelegt. (S. 36-44)
41 Vgl. Koop, Ausgegrenzt (Anm. 45), S. 38; allerdings gilt für diese Zahl zu sagen: sie findet sich nicht in der doit als Quelle angegebenen, an der Militärakademie „Friedrich Engels" Dresden eingereichten Grenztnippen-Dissertation (A) von: Hörnlein, Jürgen, Die Vervollkommnung der Zusammenarbeit der Kommandeure und Fühningsorgane von Truppenteilen und Einheiten der Grenztruppen der DDR mit den örtlichen Partei- und Staatsorganen, gesellschaftlichen Organisationen, Betrieben, Genossenschaften und Einrichtungen sowie der Bevölkerung zur Gewährleistung des Schutzes der Staatsgrenze, vom 30.Mai 1989! 49
Dokumentation über ausgewählte Angriffe auf die Staatsgrenze (Anm. 47), S. 6.
30
Siehe Anm. 48.
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Dazu wurden zunächst die räumlichen Kompetenzen für die Untersuchung, Bearbeitung und Auswertung solcher Ereignisse festgelegt. So waren „im Handlungsraum der Grenztruppen der DDR" grundsätzlich die konspirativ (d.h. zumeist in Grenztruppenuniformen) arbeitenden Mitarbeiter der HA I für die Ersterfassung, -aufzeichnung und -Sicherung operativ interessanter Vorfälle zuständig. Dies erscheint auch durchaus logisch, da dieser Handlungsraum im wesentlichen aus dem unmittelbar an der Grenze gelegenen Schutzstreifen bestand, für dessen Be- und Überwachung offiziell ohnehin die Grenztruppen verantwortlich waren. Nach solchen Ereignissen hatten die Angehörigen der HA I die erforderliche Zusammenarbeit mit anderen operativen Diensteinheiten zu organisieren, wobei sie vorrangig die BV bzw. KD sowie natürlich die Mitarbeiter der Hauptabteilung DC (Vorkommnisuntersuchung) hinzuzuziehen hatten. Befanden diese Mitarbeiter in Auswertung der Ereignisse die Notwendigkeit operativer Folgemaßnahmen, so wurden zunächst die weiteren Verantwortlichkeiten je nach dem räumlichen Schwerpunkt des betreffenden operativen Arbeitsfeldes festgelegt: die HA I war zuständig, wenn von dem Vorfall keine Auswirkungen über den eigentlichen Handlungsraum der Grenztruppen hinaus zu erwarten waren, wenn er seinen unmittelbaren Ausgangspunkt in diesem Gebiet gehabt hatte, oder wenn direkt Personen, Arbeitsabläufe oder Einrichtungen der Grenztruppen betroffen waren. War der Vorfall hingegen vom Innern der DDR ausgegangen, oder wirkte er sich über den Schutzstreifen hinaus auf das übrige Grenzgebiet bzw. noch darüber hinaus aus, so hatten die ΒV des betreffenden Grenzabschnittes bzw. die Grenzkreisdienststellen die weitere operative Bearbeitung zu übernehmen. Für den Fall, daß beide Verantwortungsbereiche betroffen waren, hatten die Leiter der HA I und der jeweiligen BV ihr weiteres Vorgehen miteinander zu koordinieren. (S. 37) Dies deutete bereits darauf hin, daß die Bezirksverwaltungen grundsätzlich die Verantwortung bei der die Erstbearbeitung aller Vorfälle im übrigen, nicht zum Handlungsraum der Grenztruppen zählenden Gebiet zu übernehmen hatten. Hatten im Schutzstreifen die Mitarbeiter der HA I in Zusammenarbeit mit den Grenztruppen vorzugehen, so war für das übrige Grenzgebiet analog dazu die zuständige BV im Zusammenspiel mit den Kräften des Mdl (also hauptsächlich der DVP) verantwortlich. Die Untersuchung und Analysierung von so gut wie allen bedeutenderen Vorfällen im Grenzgebiet oblag nach der Erstaufnahme durch das feststellende Organ (also Grenztruppe, DVP oder sofort die jeweils zuständigen Einheiten des MfS, die zu diesem Zweck übrigens „die Arbeit mit I M und GMS ständig zu qualifizieren" hatten) letzten Endes den Mitarbeitern der HA IX bzw. den Abteilungen IX der BV. Sie kamen z.B. im Gefolge von erfolgreichen Fluchtversuchen zum Einsatz, oder wenn diese „im Grenzgebiet verhindert und dabei Personen verletzt bzw. getötet wurden"; außerdem nach der Verhaftung von zur Fahndung ausgeschriebenen Personen, die außerhalb der Grenzgebiete wohnten, usw. (S. 39-40) Alle desglei-
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chen von solch einem Vorfall betroffenen Diensteinheiten hatten diese - zumeist (aber nicht ausschließlich) mit kriminalpolizeilichen Techniken arbeitenden Mitarbeiter während ihrer Untersuchungen zu unterstützen und abzusichern. Dies beinhaltete z.B. für die HA I die Aufgabe, in allen Grenzregimentern technisch gut ausgestattete und bestens abgesicherte geheime „Vernehmerstützpunkte" anzulegen, die zur sicheren Verwahrung und bei Bedarf zur medizinischen Erstversorgung von festgenommenen Flüchtlingen dienen konnten. (S. 41) Erfolgreiche Fluchtversuche stellten natürlich besonders schwere Vorfälle für das MfS dar, die dementsprechend umfangreich zu behandeln waren. Daher hatten alle am Ereignis operativ beteiligten Einheiten einen gemeinsamen Untersuchungsbericht zu erstellen, in dem Schlußfolgerungen und daraus resultierende Verbesserungsvorschläge für die weitere Arbeit bei der Grenzsicherung zu ziehen bzw. zu erarbeiten waren. Daß solche Berichte keinesfalls mit irgendwelchen Routineberichten gleichgesetzt werden durften, belegt die Tatsache, daß sie dem zuständigen Stellvertreter des Ministers (Generalmajor Neiber) vorzulegen waren, der daraus Konsequenzen für die Arbeit aller operativen Diensteinheiten zu ziehen hatte. (S. 42) Solche Untersuchungsberichte wurden den anderen an der Grenzsicherung beteiligten Organen im übrigen nicht übergeben oder inhaltlich mitgeteilt, selbst wenn sie erfolgreiche Fluchten zuerst durch die Grenztruppenangehörigen protokolliert worden waren. Aber auch über unbedeutendere Ereignisse im Grenzgebiet wollte das MfS letzten Endes ständig informiert sein. Wurden solche Fälle aufgrund ihrer Geringfügigkeit nicht durch die eigenen Diensteinheiten, sondern durch die Grenztruppen oder die DVP bearbeitet, war dennoch in jedem Falle „zu sichern, daß in den Untersuchungsgruppen I M eingesetzt sind", die „die zuständigen operativen Diensteinheiten über die Untersuchungsergebnisse unverzüglich zwecks politisch-operativer Einschätzung und Auswertung" zu informieren hatten. (S. 43) Diese Anweisung führte zum Ausgangspunkt jeglicher formellen Koordinierungsabsprachen oder -Vereinbarungen mit anderen Staatsorganen in bezug auf das Grenzregime zurück, denn einen Gesichtspunkt darf man nie aus dem Blickfeld verlieren: das letzte Wort bei allen Maßnahmen im Zuge der Grenzsicherung behielt sich prinzipiell (bis zum Schluß) das MfS vor. Damit es aber schon von vornherein zu einem möglichst einvernehmlichen Vorgehen aller beteiligten Stellen kam, machte das MfS seinen Einfluß bereits bei der Auswahl der ebenfalls im Grenzregime tätigen Kräfte geltend, denn die Leiter der zuständigen operativen Diensteinheiten hatten im Rahmen der Sicherung der Grenztruppen- und Mdl-Angehörigen „zu gewährleisten, daß nur überprüfte und zuverlässige Angehörige dieser Organe für das Zusammenwirken zwischen ihnen sowie zwischen ihnen und den operativen Diensteinheiten des MfS bestätigt werden." (S. 53) Konkret bedeutete dies, daß ausschließlich der Leiter der zuständigen KD eine solche MfS-interne Bestätigung
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vornehmen konnte, da nur die K D aufgrund der von ihr operativ geleisteten Arbeit und den dazugehörigen Speicher- und Informationszugangsmöglichkeiten zu einer umfassenden und somit adäquaten Antwort auf die Frage 'Wer ist wer im Grenzregime? in der Lage war. Quasi als Nebeneffekt konnte man zugleich die Gefahr von eher subjektiven Entscheidungen durch die Auswahl der sog. Partner des Zusammenwirkens entscheidend verringern. Das wohl wichtigste Ergebnis einer zusammenfassenden Betrachtung der in der Dienstanweisung 10/81 für die MfS-Mitarbeiter festgelegten Aufgabenfelder besteht mit Sicherheit darin, daß der Schwerpunkt der fluchtverhindernden Maßnahmen des MfS in den achtziger Jahren eindeutig außerhalb der eigentlichen Grenzgebiete lag. Dies war auch ganz bewußt angestrebt worden, um die politischen Vorgaben der S E D nach einer humaner wirkenden innerdeutschen Grenze bestmöglichst zu erfüllen. Doch von den Auswirkungen dieser relativ erfolgreichen tiefengestaffelten Grenzsicherung waren natürlich auch die Grenzgebiete in vielfältiger Weise direkt betroffen, denn dadurch wurde letztlich z.B. eine intensivere Überwachung der Grenzbevölkerung möglich. Infolgedessen reduzierten sich natürlich auch zugleich die Chancen von Flüchtlingen aus dem Landesinneren um ein vielfaches, vom MfS unbemerkt durch das Grenzgebiet bis an die eigentliche Grenze zu gelangen, so daß es wohl kaum verwundern konnte, wenn das MfS in den achtziger Jahren trotz der veränderten Grenztaktik aller beteiligten Organe immer noch am erfolgreichsten in den Grenzgebieten arbeitete, indem es immerhin zehn Prozent aller Flüchtlinge, die den Weg bis in das Grenzgebiet dann doch geschafft hatten, durch operative Maßnahmen festnehmen konnte und daher eine höhere Effizienz erreichte als etwa die Grenztruppen oder die Freiwilligen Grenzhelfer. 51 Insofern muß man die Dienstanweisung 10/81 tatsächlich als eines der wichtigsten Dokumente zur Einflußnahme des MfS auf das Grenzregime der D D R in den achtziger Jahren betrachten.
51
Siehe Anm. 48.
Die beiden Zwangsaussiedlungsaktionen 1952 und 1961 Von Inge Bennewitz Im Frühjahr 1990 hatten die Medien in spektakulärer Weise über die Zwangsaussiedlungen, bis dahin ein absolutes Tabuthema in der DDR, berichtet. Nachdem jedoch feststand, daß wesentlich weniger als 50 000 Menschen betroffen waren, ging das öffentliche Interesse an der Problematik merklich zurück. Umso erfreulicher ist es, hier an der Europäischen Akademie darüber berichten zu können, zumal die ersten Zwangsaussiedlungen im Jahre 1952 mit der Idee dieses Hauses in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Bevor einige Aspekte der beiden großen Aktionen von 1952 und 1961, die in dem Buch (Inge Bennewitz, Rainer Potratz. "Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze", Berlin 1994) nur sehr knapp oder gar nicht beschrieben worden sind, dargestellt werden, zunächst ein
A. Allgemeiner Überblick Innerhalb der DDR hat es eine Vielzahl politisch motivierter Zwangsumsiedlungen nach stalinistischem Vorbild gegeben, beginnend mit der Vertreibung der von der Bodenreform betroffenen Familien. Am bekanntesten sind die Aktionen von 1950/51 in Oberhof und die Aktion vom Frühjahr 1953 an der Ostsee, bekannt als "Rose". Gemeinsam war ihnen allen, daß den bis dahin völlig ahnungslosen Familien 24 Stunden zum Packen des Hausrats blieben und sie am nächsten Tag den Heimatort zu verlassen hatten - ohne jegliche wirksame Widerspruchsmöglichkeit. Eine Besonderheit sind die Aussiedlungen aus dem Grenz-Sperrgebiet an der ehemaligen Demarkationslinie in das Hinterland der DDR. Von zwei großen Aktionen - "Ungeziefer" (so der Plamingsname) im Mai/Juni 1952 und "Festigung" im Oktober 1961 - waren fast 12 000 Menschen betroffen. Daneben gab es bis 1988 eine unbekannte Zahl von Einzelfällen. Grundlage von "Ungeziefer" und "Festigung" waren Geheimbefehle, die u.a. Kategorien der auszusiedelnden Personen enthielten. Diese waren einerseits so allgemein gefaßt, daß sie auf den größten Teil der Bevölkerung zutrafen, andererseits so stark diskriminierend, daß sie eigentlich fast überhaupt nicht zutreffend sein konnten, z.B. Mörder, die ihre Haft bereits verbüßt hatten mit zwei zusätzlichen Einschränkungen.
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Nach Vorschrift dieser Befehle wurden die Opfer aus vorhandenen Unterlagen besonders der VP, z.B. "Anzeigen- und Verdächtigtenkarteien" oder "Anzeigetagebüchern" herausgesucht. Gemeinsam war den meisten, daß sie zum Mißfallen der Partei großen Einfluß in der Bevölkerung besaßen, was wiederum der Grund dafür war, daß es über sie viele Informationen gab. Die Ausgesiedelten wurden zu Unrecht auf gröbste Weise diskriminiert und diskreditiert und bekamen eine spezielle Kerbung in geheimen, polizeilichen Kerblochkarteien, durch die ihr Leben ständig beeinflußbar wurde. Was in der Chronologie eigentlich an den Schluß gehört, soll an dieser Stelle kurz erläutert werden. Alle Rechtsansprüche der Zwangsausgesiedelten werden heute im Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz geregelt. Eine Rehabilitierungsurkunde erhält aber nur derjenige, der materielle Folgeansprüche, bedingt durch Vermögensverlust, gesundheitliche oder berufliche Benachteiligung, nachweisen kann. Daraus resultiert, daß nur einem geringem Bruchteil der Opfer - weniger als 2 000 - eine moralische Rehabilitierung garantiert sicher ist. Dort wo rehabilitiert und Vermögen zurückgegeben werden kann, muß bei Restitution das Geld für damals zwangsweise Entschädigtes - sogar für Vieh, Geräte und längst abgerissene Gebäude - zurückgezahlt und an den Entschädigungsfonds abgeführt werden.1
B. Zur Aktion "Ungeziefer" Als sich im Frühjahr 1952 die baldige Paraphierung des General Vertrages (später Deutschlandvertrag) abzeichnete, verstärkten die Sowjets ihre gegen die Westintegration der Bundesrepublik gerichteten diplomatischen Bemühungen mit zusätzlichen Maßnahmen, die eine Doppelfunktion hatten. Sie waren einerseits geeignet, die beginnende (west-)europäische Integration weiter zu stören, andererseits liefen sie auf eine Abgrenzung der DDR hinaus. Am 18. April informierten die Sowjets die DDR-Führung über ein zu errichtendes, 3-fach gestaffeltes Regime an der Demarkationslinie (10-m-Kontrollstreifen, 500-m-Schutzstreifen und 5-km-Sperrzone), am 5. Mai über die Notwendigkeit von Aussiedlungen aus dem 500-m- Schutzstreifen. Alteingesessene sollten davon verschont bleiben. Die SED-Führung hat aus dem gesamten Grenzsperrgebiet ausgesiedelt und gerade Alteingesessene. Mitte Mai standen für die DDR drei aufeinanderfolgende Tage, der 11., 12. und 13., ganz imZeichen des Kampfes gegen den - wie es hieß - "Generalkriegsvertrag". 1 Inge Bennewitz, Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von von Zwangsaussiedlungen, Deutschland Archiv, 1994/5, S. 461 - 470, Inge Bennewitz, Mängel bei der Regelung der Ansprüche der Zwangsausgesiedelten im 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, Vortrag bei der Anhörung der SPDBundestagsfraktion am 12.09.1995 in Berlin, Inge Bennewitz, Defizite des 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes für die Zwangsausgesiedelten, Vortrag bei der Anhörung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen am 2.10.1995 in Berlin.
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Es gab eine folgenschwere Demonstration, eine internationale Pressekonferenz und schließlich einen Politbürobeschluß. Im Sitzungsprotokoll des SED-Politbüro vom 13. Mai befindet sich Schreiben ohne Datum und Verfasser mit einem Hinweis auf eine Demonstration: "Die Jugenddemonstration am 11. Mai soll der Auftakt sein zu großen Demonstrationen in allen Städten und Orten für einen Friedensvertrag und gegen den General vertrag ... Der Ausschuß gegen die Remüitarisierung tritt in den meisten Fällen als Organisator der Demonstrationen auf. Damit war ein Aufmarsch gemeint, der trotz Verbotes am 11. Mai in Essen stattgefunden hat. Dabei war es zu einer Schießerei zwischen Jugendlichen und der Polizei gekommen, in deren Verlauf Philipp Müller tödlich verletzt wurde. 2 Wenig später lautete eine Überschrift im Informationsblatt des "Hauptausschusses gegen die Remilitarisierung" - an dessen Gründung und Wirken die Westabteilung der SED nicht ganz unbeteiligt war. 'Das 1. Opfer des Generalvertrages wurde zu Grabe getragen.3" Trotz zahlreicher Augenzeugen ist dieser Vorfall niemals aufgeklärt worden. Die Pressekonferenz in Ostberlin vom nächsten Tag stand ganz im Zeichen von Essen und "Generalkriegsvertrag" und nahm am Dienstag zwei ganze Seiten im "Neuen Deutschland" ein. Ulbricht stieß massive Drohungen gegen den Westen aus, z.B. - der jetzt vom Westen eingeschlagene Weg werde "nicht am Ural, sondern in Ostende enden". Am selben Tag beschloß das Politbüro auf seiner regulären Sitzung die Errichtung eines besonderen Regimes an der Demarkationslinie und eine Säuberung der Grenzkreise von "feindlichen, verdächtigen, kriminellen Elementen". Unter dem Vorsitz von Wilhelm Zaisser wurde eine zentrale Regierungskommission berufen, die mit der Vorbereitung und Durchsetzung sämtlicher Maßnahmen betraut wurde. Am 26. Mai, kurz nachdem in Bonn der Generalvertrag unterzeichnet worden war, trat in Ostberlin der Ministerrat zusammen und beschloß eine Verordnung, die als "Rechtsgrundlage" auch für beide Aktionen benutzt wurde. In ihrer Präambel wird auf den "Generalkriegsvertrag" verwiesen: "... Diese Vorschläge wurden von der Bonner Adenauer-Regierung abgelehnt, die auf Weisung der amerikanischen, englischen und französischen Besatzungsmächte sich anschickt, den Generalkriegsvertrag abzuschließen, der gegen den Friedensvertrag und die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands gerichtet ist... "
2
"Blutige Demonstration in Essen", FAZ vom 12.5.1952.
3
Barch, ZPA, 2/10 D2/215 "INFORMATIONSDIENST', Nr. 66.
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Besonderes Interesse erweckt stets der Paragraph 1 der Verordnung, der nach sowjetischem Vorbild das MfS mit der Grenzsicherung beauftragt. Interessanter besonders für den Historiker - ist Paragraph 2, der deutlich ultimativen Charakter trägt: "Alle zur Durchführung dieser Maßnahmen getroffenen Anordnungen, Bestimmungen und Anweisungen sind unter dem Gesichtspunkt zu erlassen, daß sie bei einer Verständigung über die Durchführung gesamtdeutscher freier Wahlen zur Herbeiführung der Einheit Deutschlands auf demokratischer und friedlicher Grundlage sofort aufgehoben werden können." Am 29. Mai begann die besonders in Thüringen mit großer Brutalität durchgeführte Aküon, am 13. Juni waren mehr als etwa 8 000 Menschen, 2,4 % der Grenzbevölkerung, unter entwürdigenden Bedingungen vertrieben und in meist elenden Behausungen, darunter auch Scheunen und Schweineställe - das bestätigen Parteiakten - untergebracht. In Übereinstimmung mit dem Paragraphen 2 der Verordnung wurde die Maßnahme gegenüber den Opfern als vorübergehend erklärt. Die Wohnungen wurden versiegelt, die Eigentumsverhältnisse blieben zunächst unangetastet. Nach der 2. Parteikonferenz der SED kam schließlich alles anders. Im Westen ist damals über Ursachen und Sinn der Aktion gerätselt worden. Konrad Adenauer erklärte, sie sei eine Einschüchterungsmaßnahme gegenüber der DDR-Bevölkerung, die nun fester in das Satellitensystem der Sowjets eingebunden werden sollte. Die hat aber damals und auch später kaum davon gewußt. Am 18. Juni wurden die Aussiedlungen von ADN mittels einer geschickt plazierten Halbwahrheit dementiert. Am selben Tag wurden sie im Deutschen Bundestag ausgiebig debattiert: Die KPD stritt fast alles ab, die SPD warf der CDU vor, sie verursacht zu haben, die CDU wies die Vorwürfe zurück und gab den Sowjets die Schuld. Eine Abgeordnete der CDU fragte ernsthaft nach den Hintergründen und erklärte: "Der letzte Adressat dieser ganzen Maßnahmen sind gar nicht diese unglückseligen Menschen, die durch sie betroffen sind, sondern das sind wir hier in der Bundesrepublik." 4 Eindeutiges Ergebnis dieser Aktion war zweifelsohne eine beträchtliche Einschüchterung der Grenzbevölkerung, die "Zweckverhalten" (dies ist MfS-Vokabuklar) produzierte, aber den in Paragraph 1 der Verordnung ( "... ein weiteres Eindringen von Diversanten, Spionen, Terroristen und Schädlingen in das Gebiet der DDR zu verhindern.") vorgegebenen Zweck nicht erfüllte. Ein deutlicher NegativEffekt, der auch in den Parteiakten dokumentiert ist, war eine erhebliche Schädigung der Infrastruktur, unter der dieses Gebiet noch heute leidet. 4
Β Arch, ZPA IV 2/13/11 "Protokoll vom 7.6.1952".
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C. Zur Aktion "Festigung" vom 3. Oktober 1961 "Festigung" war eingebunden in die größte Aktion, die es jemals in der DDR gegeben hat und gegen die eigene Bevölkerung gerichtet war. Dies waren sämtliche, sich aus dem DDR-Ministerrats-Beschluß vom 12. August 1961 ergebenden Maßnahmen, die - wie einem Protokoll des MfS vom 12.8.61 zu entnehmen ist - den Decknamen "Rose" bekamen5. Die Aktion begann für die Opfer im gesamten Grenzgebiet schlagartig gegen 6.00 Uhr morgens, war exakt organisiert mit einem enormen Aufwand an Fahrzeugen und Personal, und eine - in Anbetracht der strengen Konspiration wichtige - bis vor kurzem offene Frage war, wie wurde dieses geschafft? In den Aufnahmeorten war sogar die "Arbeitsaufnahme" gesichert. Gegenüber der Aktion von 1952 gibt es einige Abweichungen: 1. 2.
Es sind keine sowjetischen Weisungen bekannt Das Packen des Hausrats wurde nach einigen Stunden, die Aktion nach 12 Stunden nahezu und nach 18 Stunden völlig abgeschlossen. Es gab keine mit Vorbereitung und Durchführung beauftragte zentrale Regierungskommission und ausdrücklich keine zentralen Weisungen. Eigenverantwortlich für die Vorbereitung und Durchführung waren die Bezirkseinsatzleitungen (BEL). Laut Statut war es Aufgabe dieser dem Nationalen Verteidigungsrat (NVR) nachgeordneten und unter der Führung der 1. Sekretäre der SED stehenden Organe, die Planung, Realisierung und Kontrolle der Maßnahmen der Landesverteidigung zu koordinieren.
3.
Jede BEL benutzte eigene Codenamen (von Nord nach Süd: Osten, Neues Leben, Kornblume, Blümchen, Grenze, Frische Luft). Strikte Weisung hatten jedoch alle, mit dem Auslösen der Aktion auf einen Befehl der "zentralen Einsatzleitung" zu warten. Eine gewisse Koordinierung gab es dennoch - Erich Mielke leitete sechs gemischte Arbeitsgruppen aus Offizieren von MfS, NVA und Mdl an. Dies ist auch die Ursache dafür, daß die Aktion heute sehr gut dokumentiert ist. Erste Beschlüsse für bestimmte Maßnahmen an der "Staatsgrenze West" müssen bereits vor dem 2. Juni 1961, Wochen bevor Ulbricht grünes Licht für den Bau der Mauer bekommen hatte, gefaßt worden sein.6 Am 15. August beschloß das Politbüro die Aussiedlungen. Eine Woche später fand im MfS eine erste Beratung (noch unter dem Decknamen "Rose") statt, auf der die Kategorien der auszusiedelnden Personen festgelegt wurden. Die Leitung der Besprechung hatte Oberst Scholz, Mielke3
6
Deutscher Bundestag, 219. Sitzung am 18.6.1952.
Inge Bennewitz, Zwangsausgesiedlungen - ein finsteres Kapitel DDR-Geschichte, Zwiegespräche, Beiträge zur Aufarbeitung der Staatssicherheit, Heft 18, Berlin 1993.
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Inge Bennewitz
Stellvertreter und Leiter der Arbeitsgruppe zur Vorbereitung auf den Verteidigungszustand. Der Leiter einer Kreisdienststelle des MfS notierte über die Besprechung handschriftlich: "Grundgedanke - 5-km-Streifen saubermachen."7 Zu Beginn müssen etwa 20 000 Menschen auf den Listen gestanden haben. Überraschend war, daß ausgerechnet Erich Mielke, der große "Philantroph" dafür sorgte, daß nicht wegen einem "negativen Element" eine ganze Familie ausgesiedelt und die Zahl der Personen ständig und schließlich bis auf etwa 1 % der Grenzbevölkerung reduziert wurde. Ein Maßnahmeplan der Kreisdienstelle Ludwigslust vom 21.Sept. deutet darauf hin, daß von vornherein die Absicht bestanden hat, die Aktion später nach allen möglichen Gesichtspunkten hin auszuwerten. U.a. war angewiesen, das Verhalten von Mitarbeitern der VP, der Grenzpolizei, der Partei und der Räte - die anderen zu den Einsatzleitungen gehörenden Einrichtungen - zu beobachten. A m 30. August wurden auf Beschluß der BEL aus den drei Grenzkreisen des Bezirkes Schwerin 162 Personen ausgewiesen. Kein Wort darüber findet sich in den Akten von Politbüro, ZK oder NVR. Werner Barm, 1961 Mitglied der Kreiseinsatzleitung Osterburg und später des NVR, der in den 70er Jahren in die Bundesrepublik flüchtete, berichtet, daß Stoph dies als "Probeaktion" bezeichnet hat.8 Die Vorbereitungen zur großen Aktion waren eigentlich nach dem 17. September - Wahlsonntag in beiden deutschen Staaten - soweit gediehen, daß die Aktion hätte durchgeführt werden können. Eigentlich hätte sie auch bald danach durchgeführt werden müssen - die Konspiration war schon weitgehend gefährdet. Aus dem thüringischen Raum trafen Warnungen ein, wonach die Aktion z.T. schon bekannt war, und wenn noch weiter gewartet würde, würden noch die Namen der Betroffenen durchsickern. Eine westliche Zeitungsnotiz meldete sogar, die westlichen Außenminister hätten sich mit bevorstehenden, massenhaften Aussiedlungen beschäftigt. Es wurde weiter gewartet, bis schließlich Ende September die letzten Regimenter der Grenzpolizei vom Mdl an die NVA übergeben worden waren, ein Vorgang, der ursprünglich am 15. September abgeschlossen sein sollte. Am 29. Sept. gab Mielke letzte Instruktionen an seinen Führungsstab und die sechs gemischten Arbeitsgruppen aus Offizieren von Mdl, MfS und NVA. Schließlich wurden am 3. Oktober mehr als 3 600 Menschen vertrieben und zwangsweise im Hinterland des jeweiligen Bezirkes oder dessen Nähe angesiedelt.
7 "Ihre fernschriftliche Anweisung vom 1.6.1961", Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin, BdVP 13.3, Nr. 11, Bl. 30. 1
BStU, Ast Rostock, Rep. 1, 232, Bl. 176.
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Im MfS ist noch monatelang an der Auswertung der Aktion gearbeitet und eine Dokumentation nach der anderen erstellt worden. In einer von Mielke-StellVertreter Beater stammenden Analyse heißt es: "Die Dokumentation kann als eine gute Arbeitsgrundlage in der Durchführung ähnlicher Aktionen dienen. Der Aufbau und die Anlage der Dokumentation sind als Nachschlagewerk geeignet". Nach seinen Empfehlungen wurde wiederum eine neue "Dokumentation zur Aktion 'Festigung'" erstellt. Eine Überschrift darin lautete "Gesamteinschätzung zur Aktion 'Festigung'Erarbeiteter Wert, Mängel, Schwächen, neuere Erkenntnisse". Schwächen der Aktion wurden noch einmal aufgezählt und auf ihre Ursachen analysiert. Das Verhalten der betroffenen und der nichtbetroffenen Personen sowie das der Einsatzkräfte wurde in Kategorien eingeteüt und dazu Verhaltensformen angegeben. Anschließend wurden Empfehlungen für die Vorbereitung und Durchführung "ähnlicher Aktionen" gegeben. Dazu gehören statistische Erfassungsbögen und Landkarten, die ohne Zweifel nach dem Muster von "Festigung" erstellt worden sind. Bei den Recherchen in der Gauck-Behörde fiel ein interessantes Dokument, eine Geheime Kommandosache an, in der einige Formulierungen und Festlegungen auffällig an "Festigung" erinnern. Dabei handelte es sich um eine Beschlußvorlage für den NVR mit dem Titel "Grundsätze zur Evakuierung und Dezentralisierung der Bevölkerung, wissenschaftlichen Dokumentationen, kulturellen Werte, staatlicher und gesellschaftlicher Organe, Institutionen und Einrichtungen in der Deutschen Demokratischen Republik" aus dem Jahre 1962. Danach sollten die Evakuierung und Dezentralisierung "als vorbeugende Maßnahme durchgeführt (werden), um bei der drohenden Gefahr oder im Falle der Auslösung einer imperialistischen Aggression, a) das Leben und die Gesundheit eines großen Teiles der Bevölkerung zu erhalten und zu schützen ..." Dies sollte "in der Regel auf der Grundlage der Freiwilligkeit erfolgen" und war, wenn die militärische Notwendigkeit vorläge, "zwangsmäßig durchzusetzen" (ähnlich wurde mit den Opfern der Aktion "Festigung" argumentiert). "Evakuierung" wurde definiert als " eine zeitweilige, für die Dauer des Verteidigungszustandes durchzuführende Umsiedlung eines Teils der Bevölkerung unter gleichzeitiger Loslösung aus ihren Wohnorten und ökonomischen Bindungen." (Das Eigentum der von der Aktion Festigung Betroffenen wurde nicht entzogen, um darauf Grenzschutzanlagen zu errichten, sondern um "jegliche weitere persönliche und eigentumsmäßige Verbindung zum Grenzsperrgebiet zu beseitigen"). Die Maßnahmen sollten in zwei Etappen erfolgen. In der ersten war vorgesehen, "in einem äußerst begrenzten Zeitraum kurzfristig a) Teile der wichtigsten staatlichen und gesellschaftlichen Organe, Institutionen und Einrichtungen in zur sofortigen Arbeitsaufnahme vorbereiteten Ausweichstellen zu verlegen ... ".In der zwei-
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Inge Bennewitz
ten, die sich wegen des größeren personellen Umfangs zeitlich länger ausdehnen durfte, war die Evakuierung besonders schutzbedürftige Personen vorgesehen, z.B. Mütter mit kleinen Kindern. Die Verantwortlichkeiten entsprachen denen der Aktion "Festigung" und lagen bei den Einsatzleitungen. Die BEL wurden ermächtigt, bei "unerwarteten Angriffen auf das Territorium der DDR die Durchführung der Evakuierung ... in eigener Zuständigkeit anzuordnen und alle dazu erforderlichen Maßnahmen durchzuführen". Spätestens an dieser Stelle der noch nicht abgeschlossenen Recherchen entstand der Verdacht, daß es ein Zweck der Aktion war, unter möglichst realistischen Bedingungen zu proben, ob im Falle der Mobilmachung das Zusammenspiel aller in den Einsatzleitungen vertretenen Kräfte funktionieren werden würde. Die Frage, warum die Aktion mit so enormer Hast - und in einigen Fällen bei Kranken mit gefährlicher Rücksichtslosigkeit - gnadenlos durchgezogen wurde, die manch Grenzbewohner einen Kriegsausbruch fürchten ließ, wäre damit beantwortet. Dafür spricht auch, daß das Jahr 1961 intensivst genutzt wurde, um die DDR auf das "1. Kriegsjahr", später zur Tarnung als "Berechnungsjahr" bezeichnet9, vorzubereiten und bei 1 % Betroffener von "Säuberung" nicht die Rede sein kann. Eine Frage, die vielleicht niemals zu klären sein wird ist: Wie kam die Idee zu dieser Aktion zustande und wer hatte sie. Wenn das eigentliche Ziel der Aktion darin bestand, unter realistischen Bedingungen den Ernstfall auszuprobieren, mußte sie auf jeden Fall auch zwecks Motivation der Täter anders begründet werden (mit Säuberung) und man würde kaum Tatsachenbeweise finden, denn dies wäre noch ungeheuerlicher als "Saubermachen". Die Frage, warum die Zuordnung der Kraftfahrer zu den tausenden von Fahrzeugen so reibungslos funktioniert hat, kann inzwischen beantwortet werden. In einer Beschlußvorlage für die 8. Sitzung des NVR am 28.8. 61 erklärte Hoffmann, nach Weisung des Oberkommandierenden des Warschauer Pakts müßten am 1. Tag der Mobilmachung über 10 000 LKW den sowjetischen Streitkräften in Deutschland zugeführt werden. Dazu seien "Maßnahmen eingeleitet, um die notwendigen KfZ zu registrieren und zu erfassen und die Kraftfahrer und Instandsetzer namentlich festzulegen."10 Wenn man aber bestimmten Indizien nachgeht, stößt man oft auf Hinweise über vernichtete Dokumente. In einer Geheimen Kommandosache des NVR vom 12/14.9.1962 heißt es unter "Betrifft:
9
Barm, Werner. Totale Abgrenzung, Stuttgart 1971, S. 37.
10 Wenzel, Otto. Kriegsbereit, Der Nationale Verteidigungsrat der DDR - 1960 bis 1989, Köln 1995, S. 259.
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Grundsätze über Maßnahmen im Ε-Fall auf dem Territorium der DDR: 1. Das vorgelegte Dokument ist einzuziehen und zu vernichten. 2. Durch den Minister für Nationale Verteidigung ist ein Plan über die Umsiedlung von Kindern aus den dichtbesiedelten Zentren auszuarbeiten."11 Die "Grundsätze über Evakuierung und Dezentralisierung ..." sind auf Grund von "Punkt 22 des Maßnahmeplanes des NVR für 1962" erarbeitet worden. Dieser Plan ist unauffindbar. Es gibt auch Argumente, die gegen den oben geäußerten Verdacht sprechen. Um zu zeigen, daß die Aussiedlungen eine typische Grenzmaßnahme waren, weisen einige Historiker daraufhin, daß auch andere sozialistische Staaten an ihren Grenzen solcherart "Säuberungsaküonen" durchgeführt haben, in Rumänien zum Beispiel. Das erinnert an einen vorweihnachtlichen Insektenfund von 1952 im thüringischen Grenzgebiet, der zweimal das Politbüro und zahlreiche Veterinärmediziner der DDR beschäftigt hat. Stoph erklärte schließlich, daß der Klassenfeind nicht am Werke gewesen war und das ursprünglich beängstigende Phänomen im Prinzip damit, daß die Insekten nur dort gefunden wurden, weil woanders von den bewaffneten Organen nicht so intensiv gesucht worden war. 12 Zwangsumsiedlungen sind wirkungsvolle Einschüchterungsmaßnahmen, die von totalitären Staaten auch im Landesinneren angewendet werden. Es hat sie im 3. Reich und auch in der DDR gegeben. Ein Lehrer z. B., der am 3. Oktober 1961 zwangsausgesiedelt wurde, weil er seine Fernsehantenne ständig auf den Westen ausgerichtet hatte, war bereits als Kind von den Nazis zusammen mit seiner Mutter und den Geschwistern unter ähnliche Bedingungen mitten in Deutschland zwangsumgesiedelt worden, nachdem sein Vater, ein Kommunist, zum Tode verurteilt worden war. Die AG "Regierungskriminalität" bei der Staatsanwaltschaft des Berliner Landgerichts ermittelt auch in Sachen Zwangsaussiedlungen. Die heute noch lebenden Mitglieder der Partei- und Staatsführung werden sich für die Zwangsaussiedlungen nicht vor Gericht verantworten müssen, weil ihnen zahlreiche andere, schwerwiegendere Straftaten (Tötungsdelikte) vorgeworfen werden. Trotzdem charakterisierte einer der Ermittler die Zwangsaussiedlungen als eines der "finstersten" Kapitel des SED-Regimes. Die Ermittlungsergebnisse werden an die Schwerpunktstaatsanwaltschaften in den 5 neuen Ländern abgegeben, wo sich die Mitglieder der KE- und BEL zu verantworten haben werden.
11
n
BArch, Militärisches Zwischenarchiv Potsdam, DVW 698, Bl. 11 14. Ebenda, D V W 702, Bl. 135. Inge Bennewitz, "Vaterland unter Schädlingsbefall", Neue Zeit vom 2.4.1993.
24 Timmermann
III. Gesellschaftsgeschichte
Der eine fragt, was kommt danach? Der andre fragt nur: Ist es recht? Und also unterscheidet sich Der Freie von dem Knecht. Theodor Storm
Die Einsicht in Schuld und die Freiheit, neu anzufangen Fünf Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung Von Gerhard Besier
A. Vor 50 Jahren: Die Stuttgarter Schulderklärung Am 19. Oktober 1995 wurde die Stuttgarter Schulderklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) fünfzig Jahre alt.1 Aus diesem Anlaß veranstaltete die EKD in Stuttgart einen solennen Gedenk-Akt. Er stand im Schatten eines anderen Gedenktages, mit dem er eigentümlich verbunden war: Dem der wiedererlangten Einheit Deutschlands vor fünf Jahren. Als sich das höchste Gremium der EKD an jenem 19. Oktober 1945, fünf Monate nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, entschloß, gewissermaßen stellvertretend für das ganze Volk eine Schulderklärung abzugeben, handelte es sich um keinen spontanen Akt. Deren Verfasser, im "Dritten Reich" meist tapfere Männer der Bekennenden Kirche 2, folgten auch nicht in erster Linie entsprechenden Aufforderungen einzelner Christen aus Deutschland.3 Sie sahen sich vielmehr durch die protestantischen Kirchen Europas und Amerikas zu diesem Schritt veranlaßt.4
1 Vgl. hierzu und zum folgenden: G. Besier/G. Stuttgarter Erklärung 1945, Göttingen 1985. 2
Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die
Vgl. dazu G. Besier, Evangelische Kirche und Widerstand, in: Kerygmaund Dogma, Heft 1, 1996.
3 Siehe hierzu G. Besier u.a. (Hgg.), Kirche nach der Kapitulation. Das Jahr 1945, Bd. 1: Die Allianz zwischen Genf, Stuttgart und Bethel, Stuttgart-Berlin-Köln 1989; Bd. 2: Auf dem Weg nach Treysa, Stuttgart-Berlin-Köln 1990; dies. (Hgg.), Der Kompromiß von Treysa. Die Entstehung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1945, Weinheim 1995. 4
Vgl. G. Besier/G. Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen.
Gerhard Besier
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In immer neuen Anläufen hatten Militärgeistliche und Abgesandte des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf den widerstrebenden deutschen Kirchenmännern vor Augen gestellt, daß ein offenes Aussprechen der "Unterlassungssünden des deutschen Volkes, einschließlich der Kirche" 5 erforderlich sei, um einen Neuanfang zu wagen. Zwar nicht in einem Atemzug, aber doch im selben Zusammenhang machte man den Deutschen klar, wie sehr ein solches Wort großzügige Hilfsaktionen für das deutsche Volk befördern könne. Unter der Voraussetzung, daß dann auch die Kirchen Europas und Amerikas die Schuld ihrer Völker eingestünden und daß es sich um einen innerkirchlichen Vorgang handele, von dem die Presse nichts erfahren werde, stimmte man schließlich den Erwartungen zu. Die Umstände des Zustandekommens eines Textes müssen noch nichts über seine Qualität aussagen. Von außen stimuliertes Verhalten, zu dem man dann allerdings auch stehen muß, kann bekanntlich auch Einstellungen verändern. Tatsächlich heißt es in dem Stuttgarter Wort: "Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden." 6 Es gibt auch weniger starke Passagen, abschwächende Sätze und den Blick auf die Schuld der anderen. Entsprechend den Mahnungen von außen, hatten die Kirchenleute vor allem die im besetzten Ausland begangenen Verbrechen des NS-Regimes vor Augen. Die Ermordung von Millionen deutscher und europäischer Juden, die Verfolgung von Minderheiten und von politisch Andersdenkenden findet keine Erwähnung. Zu den Stärken des Wortes gehört dagegen, daß es auf Ursachenforschung und deutende Interpretationen verzichtet. Die Erklärung beläßt es beim offenen AusSprechen begangener Schuld. Alles andere hätte die Verfasser überfordert, sie am Ende auf die Ebene des moralisierenden Urteils geführt und den "Sitz im Leben" der Erklärung - eben ein kirchliches Wort und keine historisch-politische Analyse des Geschehenen - nur verdunkelt. Das ist bis heute kaum zu vermitteln. 7 In ihrem Bemühen, nicht "pauschal", sondern möglichst "konkret" zu reden, suchte die Kirche in vielen ihrer späteren Stellungnahmen vermeintlich eindeutige Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge aufzudecken und Handlungsalternativen namhaft zu machen, die Ursachen von Leid und Schuld vermeiden helfen sollten.8 Damit provozierte sie nicht nur das Kopf3
So Visser't Hooft an Dibelius, aaO., 24.
6
AaO., 9.
7 So bemängelte der Berliner Bischof Wolfgang Huber in einer Predigt am 10.10.1995 an der Schulderklärung, sie sei "zu allgemein, zu unverbindlich" (idea Nr. 120/95 vom 18.10.1995, 5). 1 Vgl. hierzu das sog. "Darmstädter Wort" vom August 1947, sein Zustandekommen und seine Wirkungsgeschichte: G. Besier, Der SED-Staat und die Kirche, Bd. 1, München 1993, 38 ff.; ders., Zur ekklesiologischen Problematik von "Dahlem" und "Darmstadt", in: ders., Die evangelische Kirche in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Ges. Aufsätze, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 1994,143-156.
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schütteln von Fachleuten aus der Ökonomie9 und anderer Bereiche; sie setzte sich auch dem begründeten Verdacht aus, bestimmte Bilder von Wirklichkeit religiös sanktionieren zu wollen. Die Erörterung der Schuldfrage des deutschen Volkes blieb nach 1945 keine Angelegenheit allein der Kirchen. Vielmehr meldeten sich auch Literaten 10 und Philosophen zu Wort. Hannah Arendt und Karl Jaspers schrieben nicht nur international beachtete Traktate über die "deutsche Schuld"11. Das Tliema beschäftigte sie derart intensiv, daß es 1945/46 kaum einen Brief zwischen beiden gab, der diesen Komplex nicht wenigstens gestreift hätte.12 Im Diskurs überzeugte Jaspers die Philosophin von der "Banalität des Bösen", verweigerte dem Verbrechen "satanische Größe". Er beharrte darauf: "Es ist keine Idee und kein Wesen in dieser Sache. Sie erschöpft sich als Gegenstand der Psychologie und Soziologie, der Psychopathologie und der Jurisprudenz."13 Auch als ein Ergebnis dieser Überlegungen gelangt Hannah Arendt in ihrem politisch-phüosophischen Essay über die Grundlagen menschlichen Handelns unter dem Titel "Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen" zu der Erkenntnis, daß das menschliche Leben gar nicht weitergehen könnte, "wenn Menschen sich nicht ständig gegenseitig von den Folgen dessen befreien würden, was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun. Nur durch dieses dauernde gegenseitige Sich-Entlasten und Entbinden können Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen, auch in der Welt frei bleiben, und nur in diesem Maße, in dem sie 9 Vgl. z.B. Peter Schilder, Die Wirtschaft verlangt von den Kirchen mehr. Das Sozialwort der Kirchen in der Kritik der Ökonomen, in: FAZ Nr. 214 vom 14.9.1995. Der Bonner Systematiker Martin Honekker bemerkte im Rahmen der Diskussion zum Sozialpapier: "Was will die Kirche? W i l l sie etwas zum Grundsätzlichen sagen, oder will sie in die konkreten Empfehlungen hineingehen? Ich selber bin protestantisch genug, um zu sagen, ich erwarte von einem kirchlichen Gremium nur eine Grundsatzorientierung, aber nicht eine ins Konkrete gehende Handlungsanweisung. Sonst wird es uferlos" (zit. nach Michael Rutz, Nicht nur auf ethischen Prinzipien herumreiten, in: RhM Nr. 47 vom 24.11.1995,11). 10 Vgl. z. B. Thomas Mann, Ges. Werke, Bde. X I und ΧΠ: Reden und Aufsätze, Frankfurt/M. 1974, X I , 145 ff; 1126 ff; XII, 944 ff; ders., Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, Ges. Werke, Bd. VI; ders., Tagebücher 1944-1946 u. 1946-1948, hg. von Inge Jens, Frankfurt/M. 1986/89; Heinrich Böll, Werke, Bd.l: 1947-1952, erg. Neuauflage hg. von B. Balzer, Bornheim 1987; Wolf gang Borchert, Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen, Reinbek bei Hamburg 1965. Siehe insgesamt: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Die deutsche Literatur 1945-1960, 4 Bde., München 1995. 11 Vgl. K. Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946; H. Arendt, Organisierte Schuld, in: Die Wandlung 1 (1945/46), 333-344; dies., Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960; dies., Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1961. 12 Vgl. Lotte Köhler/Hans München-Zürich 2 1987. B
A a O . , 99.
Saner (Hgg.), Hannah Arendt - Karl Jaspers. Briefwechsel 1926-1969,
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gewillt sind, ihren Sinn zu ändern und neu anzufangen, werden sie instand gesetzt, ein so ungeheures und ungeheuer gefährliches Vermögen wie das der Freiheit und des Beginnens einigermaßen zu handhaben."14 Der Wille zur radikalen Entmythologisierung des nationalsozialistischen Staates im Zuge einer neuen kulturellen Konsensbildung und die beharrliche Zurückweisung einer hier und dort wieder zum Vorschein kommenden NS-Nischen-Ideologie gehörten zum Profil der Verantwortungseliten nach 1945.
B. Keine Entsozifizierung der deutschen Gesellschaft Eine ähnlich geschlossene Ablehnung ist dem realexistierenden DDR-Sozialismus erspart geblieben, zumal von vornherein lediglich die Instrumente der Diktatur, vornehmlich die Stasi-Problematik, nicht aber das Regime selbst und seine ideologischen Grundlagen einer eindeutigen Verurteilung ausgesetzt waren. Den Demokraten kam keine Emigrantenszene und kein Widerstand im Untergrund zu Hilfe. Viel stärker als nach 1945 suchten die selbst infizierten Intellektuellen zwischen dem guten Anliegen des Marxismus-Leninismus und seiner mißbräuchlichen Umsetzung zu unterscheiden. Die Alt-Kader des kommunistischen Regimes können vor Gericht und auf dem Buchmarkt für ihre Sicht der Dinge werben und von der Bundesrepublik enttäuschte Menschen verunsichern. Damit wird vielen die Freiheit, neu anzufangen, nicht nur nicht zugesprochen, sondern auch verstellt. Das Alte geistert nostalgisch in den Köpfen, ohne daß von glaubwürdigen Institutionen die Bestätigung zu erhalten wäre, welches Leid die politischen Überzeugungen und die daraus resultierenden Umerziehungsmaßnahmen der Einheitssozialisten über Widerstrebende gebracht haben. Im Gegenteil. Das böse Wort von den Leichenbergen, die der NS-Staat und den Aktenbergen, die der SED-Staat hinterlassen habe,15 charakterisierte eine beachtliche Verharmlosungskampagne im Blick auf die zweite deutsche Diktatur. In einer eigenartigen Materialisierung erschien die physische Vernichtung gravierender als die psychische. Zwar wurden - analog zu den Alliierten 1945 - die Westdeutschen bald als Besatzer geschmäht - bezogen auf die erst jetzt wahrgenommene, gegenseitige Fremdheit vielleicht mit Recht. Aber weder in Ost noch in West gab es - im Unterschied zu 1945 - eine autoritative Größe, die an die regimetreuen Politiker, Literaten und Theologen die Zumutung gerichtet hätte, sich rückhaltlos offen über ihre Vergangenheit auszusprechen.
14
Vita activa, aaO., 235.
15 So Richard Schröder, Am Schnittpunkt von Macht und Ohnmacht, in: Die Zeit Nr. 42 vom 9.10.1995, 12 f.
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Die fehlende Erwartung an die evangelische Kirche, in der schwierigen Lage ein "seeLsorgerliches, klärendes, helfendes und reinigendes Wort" 16 zu sagen, scheint diese nicht einmal beunruhigt zu haben. Vielleicht nahm sie - froh nichts sagen zu müssen - das Alarmsignal gar nicht einmal wahr. Aber nicht nur Theologen, auch viele Philosophen und Schriftsteller vermieden es, aus freien Stücken das Thema öffentlich so zu diskutieren, daß integrationsfähige Erklärungen daraus hätten erwachsen können.17 Gefangen in ihrer eigenen Biographie geriet anderen ihre Stellungnahme nicht selten zu einer Verteidigungsrede zugunsten alt-neuer Überzeugungen.18 In Günter Grass* Roman "Ein weites Feld" läßt der politisch engagierte Dichter und Gegner der deutschen Wiedervereinigung seinen Helden und "MiniaturFaust" 19 Theo Wuttke alias Fonty auf die Forderung seines Sohnes nach "klarer Offenlegung der Schuld", der er "ein wenig belustigt zugehört hatte", antworten: "Doch die Schuld ist ein weites Feld und die Einheit ein noch weiteres, von der Wahrheit gar nicht zu reden. Wenn du aber Schriftliches für deinen Verlag haben willst, könnte ich dir mit einer Auswahl meiner Kulturbundvorträge helfen; sind zwar keine Schuldbekenntnisse und Wahrheitsergüsse, handeln aber vom Leben, das mal und mal so ist." 20 Auf dieser Ebene und bei dieser Rollenverteilung - und doch bezeichnet beides treffend realexistierende Befindlichkeiten - läßt sich über Schuld kaum angemessen reden. Die Lawine der über ihre Stasi-Vergangenheit stolpernden Juristen, Theologen und Literaten 21 rollte bald an; sie mag das lähmende Schweigen oder die eifernde 16
G. Besier u.a. (Hgg.), Kirche nach der Kapitulation, Bd. 2, aaO., 18.
17
Vgl. Helmuth Kiesel, Die Intellektuellen und die deutsche Einheit, in: Die politische Meinung 36 (1991), 49-62; Gerd Langguth (Hg.), Autor, Macht, Staat. Literatur und Politik in Deutschland. Ein notwendiger Dialog, Düsseldorf 1994. Siehe aber Wolf Biermann, Der Sturz des Dädalus oder Eizes für die Eingeborenen der Fidschi-Inseln über den I M Judas Ischariot und den Kuddelmuddel in Deutschland seit dem Golfkrieg, Köln 1992; Martin Walser, Deutsche Sorgen, in: DER SPIEGEL Nr. 16 vom 28.6.1993, 40-47; Botho Strauß, Anschwellender Bocksgesang, in: H. Schwilk/U. Schacht (Hgg.), Die selbstbewußte Nation, Frankfurt/M. - Berlin 1994, 19-40; Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/M. 1993. 18
Vgl. z.B. Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Kleine politische Schriften Bd. 7, Frankfurt/M. 1990; G. Grass, Wendewut. Eine Erzählung, Hamburg 1990; ders., Ein weites Feld, Göttingen 1995 und Marcel Reich-Ranickis Brief an den Dichter, in: DER SPIEGEL Nr. 34 vom 21.8.1995, 162-169; Peter Rühmkorf, T A B U I. Tagebücher 1989-1991, Reinbek bei Hamburg 1995. 19
M. Reich-Ranicki , aaO., 166.
20
G. Grass, Ein weites Feld, 295 f.
21 Vgl. Wolf Biermann, Der Sturz des Dädalus, a.a.O.; Reiner Kunze, Deckname "Lyrik". Eine Dokumentation, Reinbek 1990; Hans Joachim Schädlich (Hg.), Aktenkundig, Berlin 1992; Peter Böthig/Klaus Michael (Hgg.), MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit, Leipzig 1993; Karl Corino (Hg.), Die Akte Kant. I M "Martin", die Stasi und die Literatur in Ost und West, Hamburg 1995 ; Christa Wolf, Auf dem Weg nach Tabu. Texte 1990-1994, Köln 1994; Hermann Vinke (Hg.), Akteneinsicht Christa Wolf: Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation, Hamburg 1993; Monika Maron, Heuchelei und Niedertracht. Scharfrichteraugen: Die selbstgerechten Spitzeljäger verkennen gern, daß Staat und
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Apologetik erklären. Hatten nach dem Zweiten Weltkrieg Stimmen aus dem Ausland den vielleicht notwendigen Anstoß zur Reflexion gegeben, durften nach 1989 die Westdeutschen diese Rolle nicht einnehmen. So fremd sie vielleicht waren, sie waren auch zu nah. Mit eingängigen Plattheiten wie der, als Westdeutscher habe man eben nicht in der DDR gelebt und man möge sich besser fragen, zu welchen Opportunismen unter den Bedingungen einer Diktatur man selbst fähig gewesen wäre, wurde der kritische Einwurf von außen immunisiert, ja denunziert. Die westliche Welt fiel nicht nur als Mahner aus, weil sie mit der deutschen Einheit ihren Besatzer-Status aufgab. Die einen galten den Ostmenschen als Repräsentanten des inhumanen "Imperialismus". Die anderen hatten ihre Hoffnungen selbst auf das "sozialistische Experiment" im östlichen Deutschland geworfen, nicht zuletzt auch auf die "Kirche im Sozialismus". Deren Auflösung wurde daher - etwa seitens der Genfer Ökumene - mit lebhaftem Bedauern quittiert 22, was kaum dazu beitragen konnte, über Fehlorientierungen nachzudenken. Ähnlich wie bei den "Selbstreinigungs"-Ausschüssen der Kirche unmittelbar nach 194523 konnte es auch 1990/91 schon einmal passieren, daß - wie in Thüringen - der Vorsitzende des Vertrauensausschusses zur Aufarbeitung der Stasi-Verstrickungen kirchlicher Mitarbeiter selbst als "Inoffizieller Mitarbeiter" der Stasi geführt worden war. 24 Wie es 1945 schwerfiel, sich von Theologen zu trennen, die mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet hatten, so bestand auch 1989/90 - bezogen auf den realexistierenden Sozialismus - an einer solchen Prozedur kein Interesse.25 Die Stasi eins waren, in: FAZ Nr. 239 vom 14.10.1995; vgl. dagegen Jürgen Fuchs, In der Stasi-Falle. Ist es Haß? Antwort auf Monika Maron, in: FAZ Nr. 241 vom 17.10.1995 ; Wolf Biermann, Verlogene Treue. Monika Marons Umgang mit ihrer Vergangenheit, in: DER SPIEGEL Nr. 43 vom 23.10.1995, 39-44; "Es waren harmlose Berichte": Interview mit Marcel Reich-Ranicki über seine Geheimdienstvergangenheit, in: DER SPIEGEL Nr. 15 vom 20.6.1994,178-183; vgl. dazu Jürgen Fuchs, Die verfluchten guten Gründe, in: taz vom 23.6.1994, 10 und Wolf Biermann, In die Falle getappt. Offener Brief an Jürgen Fuchs in Sachen Reich-Ranicki, in: DER SPIEGEL Nr. 27 vom 4.7 f 1994,134-138; Frank Schirrmacher, Verdacht und Verrat. Der Einfluß der Stasi-Vergangenheit auf die literarische Szene, in: Gerd Langguth (Hg.), Autor, Macht, Staat. Literatur und Politik in Deutschland. Ein notwendiger Dialog, Düsseldorf 1994,153-161. Zum Streit der beiden deutschen PEN-Zentren vgl. Heinz Czechowski, Falsche Zungenschläge. Bekenntnisse helfen PEN-Zentren nichts, in: FAZ Nr. 274 vom 24.11.1995. Ώ Vgl. G Besier, Der SED-Staat und die Kirche, Bd.3: Höhenflug und Absturz, Berlin - Frankfurt/M. 1995, 473; vgl. auch das Dokument "Veränderungen in den sozialistischen Ländern und Implikationen für die Kirchen und den ÖRK", ÖRK-Zentralausschußsitzung in Genf, 25.-30.3.1990, in: epd-dok 27/1990,41-55, insbes. 51. Als Beispiel für ein Segment ökumenischer DDR-Kirchenpolitik siehe Ulrich van der Heyden, Die DDR und Afrika. Zwischen Klassenkampf und neuem Denken, Münster-Hamburg 1993. 23 Vgl. dazu G. Besier, "Selbstreinigung" unter britischer Besatzungsherrschaft. Die EvangelischlutherischeLandeskirche Hannovers und ihr Landesbischof Marahrens 1945-1947, Göttingen 1986, 6699. 24 Vgl. Gerhard Besier/Stephan Wolf (Hgg.), Pfarrer, Christen und Katholiken. Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR und die Kirchen, Neukirchen-Vluyn 2 1992, 883. 25
Vgl. z.B. die Behandlung der Fälle des Konsistorialpräsidenten Hans-Martin Harder und des
Die Einsicht in Schuld und die Freiheit, neu anzufangen
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Verweigerung war ein Symptom für den Unwillen der DDR-Eliten überhaupt, auf einen sozialistisch-alternativen, besseren deutschen Staat verzichten zu müssen. Es fanden sich denn auch bis ins Frühjahr 1990 mehrfach SED-Politiker und Intellektuelle aus allen Bereichen zusammen, um öffentlich für den Fortbestand ihrer Träume zu wirken. In dem Aufruf "Für unser Land" vom 26. November 1989 warnten Theologen, Politiker und Dichter aus der DDR davor, daß "ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird" 26 . Sie appellierten - freilich vergeblich - an die Bevölkerung: "Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind." In der Berliner Erklärung vom 9. Februar 1990 forderten Theologen aus Ost und West mit verbesserlich-sozialistischer Standortbindung dazu auf, der "irreführenden Alternative von Kapitalismus und Sozialismus zu widerstehen", da "beide Systeme nicht in der Lage waren, die Frage des Überlebens der Menschheit und der Erde zu beantworten" 27. Damit wurde deutlich: Diese Kreise suchten nach keinen Modellen zur Lösung von Problemen, sondern nach einer politischen Heilslehre. 28
C. 1989/90: Keine offene Schulderklärung Als der "Handlungsdruck durch Verlautbarungen in Zeitungen und anderen Medien immer drängender" 29 wurde, wie es in einem kirchlichen Protokoll vom November 1990 heißt, redeten die in Begründungsnot Geratenen der Bevölkerung ein, die Stasi-Debatte wie alle sonstigen Fragen an das Verhalten unter der Diktatur gehörten in das Konfliktschema Sieger-Besiegte. Um einer Debatte des eigentlichen Problems - nämlich dem der unmittelbaren oder mittelbaren Stabilisierung der Diktatur - zu entgehen, suchte man krampfhaft Oberkonsistorialrats Siegfried Plath (beide Greifswald) durch die pommersche Kirchenleitung. Obwohl beide vom MfS als "Inoffizielle Mitarbeiter" geführt worden waren, Plath sogar einen Kampforden der Stasi erhalten hatte, und der Vorermittlungsausschuß der EKD ein Disziplinarverfahren vorgeschlagen hatte, verzichtete die pommersche Kirche darauf, sie disziplinarisch zu belangen. Harder wurde sogar nach vorübergehender Beurlaubung im Januar 1993 wieder in sein Konsistorialpräsidenten-Amt eingesetzt; Plath wurde zwar in den Wartestand versetzt, erhält aber weiter kirchliche Beauftragungen (idea Nr. 21/93 vom 22.2.1993; Nr. 22/93 vom 22.2.1993; Nr. 30/93 vom 15.3.1993; idea spektrum 8/93, 5). 26
Zit. nach G. Besier, Der SED-Staat und die Kirche, Bd. 3, 459.
27
Zit. nach aaO., 466. Vgl. auch die Gründung des "Komitees für Gerechtigkeit". Zu den Mitunterzeichnern des Gründungsaufnifs gehörten PDS-Politiker und kirchenleitende Persönlichkeiten (DER SPIEGEL 29/1992, 31). 2 * Vgl. dazu Hermann Lübbe (Hg.), Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1995.
* Zit. nach G. Besier, Der SED-Staat und die Kirche, Bd. 3, 477.
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die alten Links-Rechts-Schablonen, das Denken in politischen Gut-Böse-Alternativen wiederzubeleben und den "antifaschistischen Konsens" zu beschwören. Zur eigenen Absicherung wollte man die quer durch beide Gesellschaften verlaufenden Bruchlinien in Gestalt politischer Überzeugungen nutzen. Die vor allem auch in der Kirche beheimateten Betroffenheits-Attitüden nach der Erkennungsmelodie "mit Trauer, Wut und Empörung", in den 80ern überaus wirksam, sollten die Aufmerksamkeit auf alle möglichen Mißstände in der Welt lenken, um den politischen Druck daheim zu mäßigen. Eine offene Schulderklärung wurde von der Kirche ausdrücklich und früh verworfen. Das sei Wasser auf die Mühlen der Gottlosen, formulierte ein westdeutscher Bischof treffend die Vorbehalte der leitenden Geistlichen in Ost und West. Daß offene Schulderklärungen der Kirche - wie anderer mit Orientierungsanspruch auftretender Gruppierungen - in der Bevölkerung auf wenig Gegenliebe stoßen, gerade weil sie stellvertretend für das "ganze deutsche Volk" gesprochen werden und Zumutungen enthalten, war den Verantwortlichen nur zu gut bekannt. Darum hatte das Ausbleiben eines zukunftsöffnenden Wortes scheinbar auch keine negativen Konsequenzen.
D. Exkurs: Sozialpsychologische Faktoren von Geschichtspolitik Wer sich nicht an die verordnete Verschweigensgemeinschaft hielt, wurde ausgegrenzt30, diffamiert und durch Besprechungskartelle verfolgt. 31 Die sozialpsychologi30 So weigerte sich 1992 Altbischof Schönherr, unterstützt von Eberhard Bethge, gemeinsam mit dem Verf. an ein«-Podiumsdiskussion in der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand über die Kirche im "Dritten Reich" teilzunehmen. Ebenfalls auf eine Intervention Schönherrs dürfte die Ausladung des Verf. aus der Arbeitsgemeinschaft für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte zurückgehen (Schreiben Generalsuperintendent i.R. Erich Schuppan vom 11.10.1995 an Verf.), für die er einen Beitrag zur Geschichte der Bekennenden Kirche in Berlin-Brandenburg hatte schreiben sollen. Gerd Heinrich, Historiker an derFU Barlin, schrieb daraufhin an Schuppan einen fünfseitigen Brief, in dem es u.a. heißt: "Wo kein Dialog mehr möglich ist und in einer kaum glaublichen Egozentrik Fraktionspolitik getrieben wird, müssen sich die Wege trennen. Wir gehören nicht, mit Luther zu sprechen, zu den Tellerleckern' von Herrn Schönherr" (Heinrich an Schuppan vom 17.11.1995). Als der ehemalige Ausbildungsdezernent des DDR-Kirchenbundes, Oberkirchenrat i.R. Konrad von Rabenau, das Tagungsprogramm der "Forschungsgemeinschaft 20. Juli" für November 1995 sah und lesen mußte, daß Ehrhart Neubert sowie der Verf. als Referenten geladen waren, zog er seine Teilnahmezusage - mit ausdrücklichem Verweis auf die beiden Referenten - zurück. 31 Die positive Besprechung des 1. Bandes meiner dreibändigen Darstellung "Der SED-Staat und die Kirche", verfaßt von Armin Boyens (Bonn) für die EKD-offiziösen "Evangelischen Kommentare" (Heft 12/93), wurde um entscheidende Passagen auf 211 Zeilen zusammengekürzt. Den 2. Band durfte der Rezensent in den "Evangelischen Kommentaren" erst gar nicht mehr besprechen. In dem ablehnenden Schreiben des Kommentare-Redakteurs Michael Strauß an Boyens vom 26.1.1995 heißt es: "Unsere Jahresplanung ist... in großen Zügen bereits abgeschlossen, und wir müssen Sie aus diesem Grund um Ihr Verständnis bitten, daß wir im Moment nicht an eine Besprechung des Besier-Buches denken." Ungeachtet der Planungsprobleme besorgte dies - mit eindeutig negativer Akzentuierung - im Oktober-Heft 1995 der Ost-Berliner Theologe Wolf Krötke; ihm räumte das Blatt dafür 350 Zeilen ein. Eine andere Methode besteht darin, dieselbe Rezension eines Kritikers in verschiedenen kirchlichen Organen ab-
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sehen Mechanismen dieser Kampagnen sind auch darum interessant, weil sie die Grenzen der Offenen Gesellschaft beschreiben. Durch "machtgestützte" Gespräche, angedeutete Versprechungen und den Hinweis auf die bedrohte Situation der Kirche wird einer nach dem anderen aus der Gruppe der Ungehorsamen herausgebrochen, die Hartnäckigsten isoliert und durch die kirchlichen Medien mit negativen Etiketten versehen.32 Positive Stellungnahmen zu den literarischen Produkten der Kritiker werden gar nicht oder nur verstümmelt wiedergegeben, Verrisse dagegen können nicht ausführlich genug sein. Einmal unter Druck geraten, vergibt die Kirche eine Vielzahl von Forschungsaufträgen an ergebene Theologen und Historiker, die zunächst durch die gewährte Förderung, dann durch entsprechende Ergebnisse eingebunden werden. Ebenfalls sozialpsychologisch interessant ist die einigende Wirkung eines gemeinsamen Gegners für eine ansonsten höchst heterogene Subkultur. 33 Da es gefahrlos ist, sich gegen den Außenseiter zu wenden, erfüllt das kollektive Feindbild auch die Funktion individueller Entlastung von den ubiquitären Enttäuschungen einer im Scheitern begriffenen Bischofs- und Theologenexistenz.34 Überdies können nur wenige der Versuchung, zur "siegreichen" Mehrheit zu gehören, wirklich widerstehen, zumal es leicht und risikofrei ist, sich zu dieser Gruppe zu halten.
E. Die Stuttgarter Schulderklärung im Interpretationsrahmen der Versailler Schuldparagraphen Auf die Stuttgarter Schulderklärung vom Oktober 1945 folgte ein Sturm der Entrüstung. 35 Als die Deutschen - nach einer gezielten Indiskretion an die Presse das Schuldbekenntnis zu lesen bekamen, stand ihnen der Kriegsausgang von 1918 und die alliierte These von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands bedrohlich vor
zudrucken (vgl. z.B. Hans-Jürgen Röder, epd, im epd, in der Mecklenburgischen Kirchenzeitung vom 10.10.1993 und in der Kirche Nr. 37/93). Siehe auch die Besprechung von Dieter Kraft im N D vom 21.1.1994. * Auch die öffentlich-rechtlichen Medien werden beeinflußt, sobald Kirchenleute in den Aufsichtsgremien sitzen. Sie sorgen dann dafür, daß Kritiker nicht mehr zu Wort kommen. A m 19.10.1995 sagte der Direktor einer Fernsehanstalt aus dem östlichen Deutschland zum Verf.: "Sie wissen doch, im Vergleich zu Ihnen gilt Stalin in den Kirchenleitungen der ehemaligen DDR-Kirchen als Heiliger." Vgl. zu dem sozialpsychologischen Phänomen auch Berndt Zuschlag, Mobbing, Göttingen 1994. 33 Diese Mechanismen kennzeichnen schon den Protestantismus des 19. Jahrhunderts: Vgl. Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch, München 1988,154 ff. 31 Vgl. dazu G. Besier, Psychophysiologie und Oral History als Faktoren der Sozietät. Anmerkungen zur Akkuratesse von Erinnerungen, in: KZG 7 (1994), 102-116. 35 Vgl. hierzu G. Besier/G. 1945, Göttingen 1985.
Sauter , Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung
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Augen.36 In den sog. Kriegsschuldartikeln des Versailler Vertrages und vor allem in der dem Ultimatum der Alliierten und Assoziierten Mächte vom 16. Juni 1919 beigefügten Mantelnote war dem Kaiserreich vorgeworfen worden, um der Vorherrschaft in Europa willen unausgesetzt eine Politik betrieben zu haben, die auf die Erzeugung von "Eifersucht, Haß und Zwietracht" abzielte. Nach der offiziellen Interpretation aller Weimarer Regierungen war Deutschland damit zum Alleinschuldigen am Kriegsausbruch und moralisch zum "Verbrecher an der Menschheit" gestempelt worden. Obwohl diese Schuldtitel die Reparationen moralisch begründen sollten, protestierte die Republik, darin von der Kirche unterstützt, nicht nur gegen die materiellen Auswirkungen des Vertrages, sondern auch gegen die Schuldanklage selbst. Ihre Nichtannahme förderte die Idealisierung des untergegangenen Reiches und ließ die Weimarer Tristesse um so stärker hervortreten. Die Stuttgarter Schulderklärung von 1945, so fürchteten viele Deutsche, könnte zu einer Wiederholung der Vorgänge von 1919 führen, zu einer Art "Superversailles". Trotz mancher Zurückweisungen und Proteste bestritt die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung jedoch nicht, daß die "Volkskirche" zu diesem stellvertretenden Handeln berechtigt gewesen sei. Zusammen mit anderen Stimmen bildete die Stuttgarter Erklärung - zunächst gegen die öffentliche Meinung - den Grundstein für einen politischen Konsens: die allgemeine Ablehnung des Nationalsozialismus.
F. Die Inflation der Worte und das Verstummen vor aktueller Schuld 1989/90 lagen die Dinge strukturell ganz ähnlich, weil die Bereitschaft zu einer geschlossenen Ablehnung der DDR ebenfalls nicht gegeben war. Die zunächst an sich guten Aussichten auf eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung schienen den sozialistischen Hoffnungen linker Eliten in Ost und West 1990 nicht genügt zu haben. Selbst von der Utopie eines "Dritten Weges" angekränkelt37 und von den StasiEntdeckungen schwer betroffen 38, gelang dem deutschen Protestantismus der Befrei-
36 Vgl. G. Besier, Krieg - Frieden - Abrüstung. Die Haltung der europäischen und amerikanischen Kirchen zur Frage der deutschen Kriegsschuld 1914-1933, Göttingen 1982; Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983; Wolfram Weiße, Praktisches Christentum und Reich Gottes. Die ökumenische Bewegung Life and Work 1919-1937, Göttingen 1991. 71 Vgl. Norbert Sommer, Der Traum aber bleibt. Sozialismus und christliche Hoffnung. Eine Zwischenbilanz, Berlin 1992. 38
Vgl. zuletzt G Besier, Die Rolle des MfS bei der Durchsetzung der Kirchenpolitik der SED, in: K.-
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ungsschlag einer offenen Schulderklärung dieses Mal nicht. Damit hatte die evangelische Kirche - ohne es in ihrer Fixierung auf sich selbst recht zu begreifen - den Anspruch, als "Volks kirche" für die ganze Gesellschaft zu reden, aufgegeben. Das hinderte sie freilich nicht, alle möglichen Schuldbekenntnisse zu sprechen, so am 17. Juni 1991 ein "Wort der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Bundes der Evangelischen Kirchen zum 22. Juli 1941", dem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion.39 Bischof Heinz-Georg Binder, der ehemalige EKD-Bevollmächtigte in Bonn, politisch übrigens den Sozialdemokraten nahe, beklagte 1992 auf der einen Seite den Überfluß an Worten, auf der anderen das Schweigen seiner Kirche: "Die Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, die Schuld der Europäer gegenüber den ehemaligen Kolonien, die Schuld des Wohlstandsbürgers an der Zerstörung der Schöpfung. Es fällt auf, daß wir uns bei der Frage nach der Schuld der Christen gegenüber den Menschen im ehemals kommunistischen Osten Deutschlands sehr zurückhalten"; dabei gelte auch hier, "daß die Wahrheit frei macht". Zu dieser Wahrheit gehöre, daß man "nicht genau genug hingesehen und hingehört" und "zu oft und zu lange geschwiegen" habe, "daß das brutale, totalitäre System des östlichen Sozialismus zu oft verharmlost wurde" und "für beachtliche Kreise der Kirche... der Westen mit seinem 'Imperialismus', mit seinem 'Kapitalismus' und mit seiner 'Ellenbogengesellschaft', schließlich auch mit seiner NATO und seiner Abschreckungsdoktrin letzten Endes der schlimmere Feind des Menschen" gewesen sei.40 Der gegebene Zeitpunkt für das lösende Wort wurde verpaßt. Die Kirche begab sich sogar auf rechtfertigenden Gegenkurs. Die wohl wichtigste Etappe dieser Entwicklung bildete die öffentliche Diskussion über den Fall Stolpe, die wiederholten Loyalitätserklärungen der Kirche für ihren Spitzenjuristen und schließlich das Ergebnis des Vorermittlungsausschusses der EKD vom März 1995. Ein zentraler Satz des EKD-Gutachtens lautet: "Eine Trennung der Kirche von ihm [nämlich Stolpe] als einer ihrer herausragenden Vertreter wäre bei der gebotenen Gesamtschau seines Wirkens nicht zu rechtfertigen; ein Disziplinarverfahren mit dem Ziel der Entfernung aus dem Dienst kommt nicht in Betracht." Danach folgte Anfang September - gedacht als endgültiger Abschluß der Debatte - die Schrift der kirchlichen "Arbeitsgemeinschaft zur Aufarbeitung der Vergangenheit", der Prätorianer-Garde des DDR-Kirchenbundes. 41 Es konnte niemanden mehr
D. Henke/R. Engelmann (Hgg.). Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, Berlin 1995,98-117 (Lit.). 39 Vgl. dazu G. Besier, Soll die Schuld im Erfolg vernarben? Über den Schmerz alter und neuer historischer Wunden, in: KZG 4 (1991), 493-511.
" F A Z vom 6.5.1992.
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überraschen, daß sie feststellte, die Defizite und Versäumnisse des DDR-Kirchenbundes rechtfertigten keine öffentliche Schulderklärung. 42 Wie um das Maß voll zu machen, schob die EKD Ende September noch ein Wort nach - einen von den Medien kaum beachteten, 8seitigen Appell aus Anlaß der fünfjährigen Wiederkehr der deutschen Einheit an die Bevölkerung, die Vergangenheit nicht zuzudecken und die Akten für einen angemessenen Umgang und eine verantwortungsvolle Auswertung offen zu halten.43 Wie sie sich das vorstellt, hatte die evangelische Kirche Anfang desselben Monats vorgemacht. Stasi-Verwicklungen kirchlicher Mitarbeiter, heißt es denn auch hier, seien in vielen Fällen bereits geklärt, vor generellen Schuldzuweisungen wird gewarnt - eine Aussage, die nie falsch sein kann, dafür aber auch keinen Informationswert besitzt. Schließlich bekräftigt die Kirche in der Erklärung ihren Anspruch, das Bewußtsein für die geistigen und sittlichen Fundamente der Gesellschaft neu wecken zu wollen. Das hörte sich Anfang Oktober 1995 besonders merkwürdig an. Denn unmittelbar zuvor war die Bundesregierung - wie sich dann herausstellte ohne Kenntnis des Sachverhalts - wegen der Abschiebung von sieben Sudanesen der Unmenschlichkeit und "Sünde" geziehen worden. 44 Anläßlich der 35. Bundestagung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU Ende Oktober 1995 kommentierte Bundeskanzler Helmut Kohl diesen Vorgang. "Mich hat erschreckt, mit welcher aggressiven Hysterie in einigen kirchlichen Kreisen darauf reagiert wurde. Die Vorwürfe, die dabei gegen Bundesinnenminister Kanther erhoben wurden, haben sich als völlig haltlos erwiesen. Bis heute vermisse ich ein Wort des Bedauerns aus dem Munde jener Kirchen Vertreter, die ihn damals beschimpft haben. Solche Rückfälle in Freund-Feind-Denken belasten nicht nur den ethischen Grundkonsens. Sie stören auch die Balance zwischen kirchlicher und staatlicher Sphäre, wie sie sich in Deutschland historisch herausgebildet hat."45
41 Ulrich Schröter/Helmut Eddies (Hgg.), Nach-Denken. Zum Weg des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Hannover 1995. 42 Vgl. Michael J. Inacker, Evangelische Kirche: Für die Ära der SED-Diktatur kein Schuldbekenntnis, in: WamS vom 3.9.1995, 27. 43
Ein Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum 3. Oktober 1995, Hannover
1995. 44
Vgl. idea spektrum Nr. 39 vom 27.9.1995, 6.
45 Zit. nach idea Spektrum Nr. 44 vom 1.11.1995, 4. Der SPD-Parteivorsitzende, Rudolf Scharping, wies die Kritik Kohls an der evangelischen Kirche als unangemessen zurück (ebd.). Vgl. auch den Kommentar des Verf. in der WELT vom 14.11.1995. Nach der Kohl-Rede entschuldigte sich der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Peter Steinacker, für seine Angriffe auf Bundesinnenminister Manfred Kanther bei diesem (idea spektrum Nr. 47 vom 22.11.1995, 7).
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G. "Kirche im Sündenfair? Während die Konservativen vehement die Auflösung der christlichen Werteordnung beklagen und auch die bröckelnde Institution evangelische Kirche - trotz aller Bedenken - gegen massive Kritik zu stützen suchen46, stolpert diese - nicht unähnlich den Sozialdemokraten47 - immer weiter auf ihren institutionellen Autoritäts-Zusammenbruch hin. Derweil wuchern die Legenden. "Kirche im Sündenfall" titelten im Sommer 1995 Sozialisten aus dem östlichen Deutschland und klagten die Institution an, ihre Getreuen aus DDR-Tagen verraten und die Wünsche der Bevölkerung mit Füßen getreten zu haben. "Auf jeden Fall ist nicht von der Hand zu weisen, daß auch das Engagement von Sozialisten in der Kirche einen gewichtigen Teil des Vertrauens erzeugt haben wird, ist doch die Bevölkerung der DDR mehrheitlich über längere Zeit mit der Hoffnung in die Wende gegangen, einen geläuterten Sozialismus bewirken zu können... Das Gespräch von Christen und Marxisten war eine Institution geworden, die schon vor der Wende Vertrauen gestiftet hatte." Zu den Stasi-belasteten Geistlichen heißt es: "Schutzlos lieferte die Kirche viele ihrer Pfarrer und Theologen der Öffentlichkeit und den Medien aus und kühlte oft genug an ihnen ihr eigenes Mütchen." Aber auch die Repräsentanten der protestantischen Amtskirche bestehen auf ihren Legenden, ohne sich auch nur im geringsten darum zu scheren, daß diese schon längst vielfach widerlegt wurden. So konnte Johannes Hempel, bis 1993 Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens und bis heute stellvertretender Ratsvorsitzender der EKD, noch Ende Oktober 1995 schreiben: "Wir haben jedes Gespräch mit Staats Vertretern in der Gruppe vorbereitet und danach ausgewertet; wir haben Kontakte mit Staatsleuten so gut wie niemals allein wahrgenommen. Das stützte unsere innere Freiheit." 48 Diese Lesart ist eine Mär, und alle, die sich auch nur ein wenig mit der Materie befaßt haben, wissen das. Angesichts der hohen Zahl von Kirchenjuristen und Theologen in leitender Funktion, die sich zu konspirativem Handeln mit der Staatsmacht bereit fanden 49, schaden solche Selbstdarstellungen nur der Glaubwürdigkeit von Kirche. 46 Vgl. z.B. die Rede Bundeskanzler Helmut Kohls während der 35. Bundestagung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU am 28./29.10.1995 im Augustinerkloster Erfurt (FAZ Nr. 352 vom 30.10.1995). 47 Vgl. zu den strukturell wie personell ähnlichen Problemen der SPD Franz Walter, Verstaubte Fortschrittlichkeit der siebziger Jahre. Die SPD leidet unter der Dominanz einer Generation, die vor 25 Jahren zu Hunderttausenden in die Partei strömte, in: FAZ Nr. 238 vom 13.10.1995. 48
J. Hempel, Hoffnung gepredigt, in: RhM Nr. 43 vom 27.10.1995, 24.
49 Vgl. Tina Krone/Reinhard Schult (Hgg.), "Seid Untertan der Obrigkeit". Originaldokumente der Stasi-Kirchenabteilung XX/4, Berlin 1992; G. Besier/Stephan Wolf (Hgg.), "Pfarrer, Christen und Katholiken", a.a.O.; Walter Schilling u.a. (Hgg.), So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat... Die "Andere Geschichte", Erfurt 1993; G. Besier, Der SED-Staat und die Kirche, Bd. 3, aaO., 916-918.
25 Timmcrmann
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H. Kulturelle Konsensbildung und konstruktiver Kompromiß Vor dem Hintergrund der Diskussionen um eine Amnestie - wie immer sie auch heißen wird -, dem Scheitern vieler Bemühungen um eine juristische Ahndung des SED-Unrechts50 und nicht zuletzt angesichts des unübersehbaren Desinteresses der Öffentlichkeit an dem ganzen Komplex stellt der Herbst 1995 eine Zäsur dar. 51 Was in den vergangenen fünf Jahren versäumt wurde - nämlich die Bildung eines Grundkonsenses über die zweite Diktatur wie die zweite Demokratie -, läßt sich kaum mehr nachholen. Die Folgen der Desorientierung sind unabsehbar. Eine Kultur, die nicht mehr imstande ist, epochale Umbrüche angemessen zu begleiten, die auf neue Fragen stets nur die alten Antworten weiß, leistet ihren Offenbarungseid. Das hektische Beschwören der "christlich-abendländischen Kultur" wie der Versuch, zu deren Rettung die Massen zu mobilisieren, können nur als Symptom für den moribunden Zustand des kulturellen Konsenses in unserer Gesellschaft gelten. Anstatt an Formeln und Symbolen zu hängen, die nur scheinbar noch Vergewisserung markieren und deren Überleben durch staatlich geschützte Reservate gesichert werden muß, sollten wir neu zu sagen versuchen, auf welche Grundlagen wir uns verständigen wollen. Am Ende eines solchen gesellschaftlichen Diskurses stehen keine Sieger oder Besiegte, sondern es steht ein konstruktiver Kompromiß, dessen Tragfähigkeit sich erweisen muß.
50 Seit dem Oktober 1990 leiteten bundesdeutsche Staatsanwälte über 50.000 Ermittlungsverfahren wegen SED-Unrechtstaten ein; nur in 180 Fällen erging ein Urteil, zumeist gegen Soldaten, DDR-Juristen oder Stasi-Bedienstete (vgl. DER SPIEGEL Nr. 45 vom 6.11.1995, 23). Wie der Prozeß gegen Egon Krenz, Kurt Hager, Günter Schabowski und andere hohe Politbürokraten wegen Totschlags ausgehen wird, steht dahin. 51 Vgl. dazu G. Besier, Einsicht kann nur im Blick auf Gott wachsen, in: RhM vom 28.2.1992 und ders., Neue Grundlagen der Verständigung finden, in: RhM vom 3.11.1995.
"Tue deinen Mund auf für die, die ohne Stimme sind!" (Sprüche 31,8)
Weitgehende Anpassung Die evangelische Kirche des Görlitzer Kirchengebietes 1975 - 1990
Von Roland Brauckmann
A. Das Leben mit der Lüge Der evangelischen Kirche in der DDR, bis 1990 für die herrschende Partei SED faktisch nötig als Ventil und späte Legitimationsstütze ihrer "Diktatur der Arbeiterklasse", wurde erst nach dem überraschenden Zusammenbruch dieses Systemversuchs von den Zeithistorikern jene gesellschaftliche Relevanz zugemessen, die von der SED lange geleugnet wurde. Als einzig verbliebene nichtstaatliche "Massenorganisation" mit beschränkter Autonomie waren ihre Möglichkeiten der Gradmesser von Partizipationsmöglichkeiten andersdenkender und unangepaßter DDRBürger. An der Basis erlebten wir die DDR-Wirklichkeit beim Rückzug in gesellschaftliche Nischen nicht nur als das kleine Glück in der Familie, der Datsche oder im Arbeitskollektiv. Unsere Wirklichkeit war stets auch eine Geschichte von kleinlicher Erniedrigung und der alltäglichen Heuchelei, ein Leben mit der Lüge im Staat DDR. Während im Westen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geschah, war das in der DDR andersherum. Die Partei hatte immer recht. Echte Güte und Herzenswärme wurde durch den warmen Mief des stacheldrahtgesicherten Stalles ersetzt, in dem sich die Untertanen der Partei wiederfanden. An mentalen Defekten wie Verrat, Selbstbetrug und an der fehlenden Wahrhaftigkeit ging dieses System schließlich zugrunde. Dagegen wurde in den Kirchengemeinden oft ein Refugium der Wahrheit gesetzt. Die Erwartung von Mut und Zivilcourage von Pfarrern, kirchlichen Mitarbeiter und vor allem von den evangelischen Bischöfen bedeutete Hoffnung für die Gemeindeglieder in dieser von einer atheistischen Diktatur geprägten Welt. Gemessen werden soll in diesem Beitrag die Wahrhaftigkeit der Erfüllung des kirchlichen Auftrages anhand des kirchlichen Handeln für Bürger- und Menschenrechte am Beispiel der kleinen evangelischen Kirche des Görlitzer Kirchengebietes, der jetzigen "Evangelischen Kirche der Schlesischen Oberlausitz".
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Β. Obrigkeits vert rauen contra Zivilcourage Quer durch die politischen Grundbekenntnisse standen in dieser Kirche im Südosten der DDR immer wieder Pfarrer und Laien auf, die den "Mund auftaten für die, die ohne Sümme sind". Diesen aus sehr unterschiedlichen bis gegensätzlichen Zielvorstellungen resultierenden Widerspruch zum DDR-Staat könnte man chronologisch erklären.1 Aus den 50er und 60er Jahren verbliebene "Traditionalisten" (die im grundsätzlichen Widerspruch zur marxistischen Lehre verharrten) standen neben der großen Gruppe der "Loyalisten" (die in der gouvernementalen protestantischen Tradition den status quo aufrechterhielten). Dazu bildeten sich in den 80er Jahren "Kerne des Widerstandes" (Gruppen und Personen, die am Sozialismus nicht rütteln wollten, ihn jedoch als inhaltsleer delegitimierten, indem sie 'seine' Ziele Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechte konkret einforderten). Oft fand sich in den Dokumenten der SED-Diktatur deutliche kirchliche Rücksichtnahme auf staatliche Interessen, Selbstzensur und innerkirchliche Disziplinierung von Amtsträgern, die sich für offene Jugendarbeit, Friedens- und Umweltaktivitäten oder Kritik am parteilichen Büdungssystem der DDR aussprachen. Beispielhaft für die Ermutigung von Zivilcourage standen die Pfarrer Dgner und Wähner (Görlitz), Havenstein und Maiwald (Weißwasser) und Schneider (Hoyerswerda). Die während des Bestehens der DDR von uns allen als unaufhebbar erscheinende Wechselbeziehung zwischen Staat und Kirche konnte jedoch keine Entschuldigung sein für das Stillehalten gegenüber einem preußischen Unrechtsstaat, der sich mit seinen Gesetzen selbst exculpierte und Zweifel an der Lehre der Partei wie 'Gotteslästerung' hart bestrafte. Wo durch Entgegenkommen von Kirchenführern versucht wurde, rechtsstaatliche Elemente in der DDR zu schaffen oder zu stärken, war meist der psychologisch einfühlsam arbeitende Geheimdienst schlauer. Statt des Verrates dokumentieren die meisten Görlitzer IM-Erfassungen daher eher den Irrtum oder die langfristig angelegte Zermürbung der Leitungskräfte unserer Kirche. Manche Biographien wurden allerdings vor 1989 erheblich beschädigt. Diese Opfer von Disziplinierungs-, Verunsicherungs-, Diffamierungs- und Zersetzungsmaßnahmen des DDR-Geheimdienstes MfS haben heute ein Recht auf Transparenz und Offenlegung der Ereignisse hinter den Kulissen. Die Görlitzer Kirchenleitung orientierte sich bei der Entwicklung von Vertrauen in den DDR-Staat zwischen 1974 und 1990 an der Entspannung in der weltpolitischen Lage. Das Ernstnehmen der Beschlüsse der KSZE 1975 in Helsinki, der Zusagen aus dem "Burgfriedensvertrag" zwischen Staat und Kirche beim Spitzengespräch mit Erich Honecker am 6. März 1978 und die Anerkennung der DDR durch die BRD waren Richtwerte für die Öffnung auch der Görlitzer Kirchenpolitik 1 Erhart Neubert: Überleben statt Überholen. Kirchen im Umbruch der 70er Jahre. In: Wissenschaftszentrum NRW 1994/95.
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für die Anliegen des Staates. Ausführlicheres ist nachzulesen in den bekannten Publikationen von Besier, Neubert, Pollak und Henkys.2 Nach der harschen "Kirchenkampf'-Rede des Görlitzer Bischofs Frankel im November 19733 in der Dresdner Annenkirche wurde 1977 über dessen Kursänderung vom MfS vermerkt: 4 "Fränkel... hat erkannt, daß die Nichtanerkennung der politischen Realitäten, wie seine vergangene offen feindliche Haltung zeigte, auch der Kirche schadet. Seine jetzige Haltung ist kein taktischer Zug, sondern orientiert sich an der Schlußakte der KSZE. Eine besondere Rolle spielen die Gemeinsamkeiten im Interesse von Marxisten und Christen ".
C. Die SED und das "Politisch-operative Zusammenwirken" ihrer Organe Die Quellenkritik und Zeitzeugengespräche ergaben, daß sich im wesentlichen tragische, couragierte und banale Handlungen wie in den staatlichenDokumenten protokolliert zugetragen haben. Die Archive (EZA, Staatsarchive, BStU) geben jedoch verschiedene Schwerpunkte wieder. Damit ist jedes Dokument nur eine Annäherung an die Wahrheit. Es muß durch Zeitzeugengespräche komplettiert werden. Akten lügen nicht. Der Staat hatte zwecks Übersichtlichkeit ein Interesse daran, Kirchenmitarbeiter allein in reaktionär, loyal und progressiv einzuteilen. Für eine ernsthafte Beurteüung sind die Grautöne herauszuarbeiten, ohne den Verrat, die verschiedenen Überzeugungen und teüweise hohen persönlichen Risiken im diffusen Nebel versinken zu lassen. Vor allem entlang des bis heute nicht ausdiskutierten Ausreisetabus, der Wahrnehmung des Menschenrechtes auf Freizügigkeit, entzündeten sich die Kontroversen zwischen Staat und Kirche und auch innerhalb der Kirche. Während der Ministerrat der DDR 1983 und 1988 "Verfügungen des politischoperativen Zusammenwirkens" zwischen den Staatsorganen MfS, Räte der Städte, Kreise und Bezirke und dem Staatssekretariaten beschloß,5 entwickelten führende
1 Reinhard Henkys: Die Kirchen im DDR-Staat zwischen Anpassung und Widerstand. In: Weber, Der SED-Staat Münchenl994. 3 epd Dokumentation 50/73 "Was haben wir aus dem Kirchenkampf gelernt?' Rede D. Frankels anläßlich des 8. Nov. 1973 auf Einladung des Bruderrates der "Bekennenden Kirche" in der Annenkirche Dresden. Es folgten Zersetzungsmaßnahmen des MfS im OV "Martyrium" Reg.-Nr. XII/1331/72 durch Hptm. Babucke. 4 BStU Ast Dresden, "Bruder" Reg.-Nr. XII/819/77, S. 12 ff. "Reg.-Vorschlag vom 20.10.1977" von Hpt. Babucke. 5 BStU ZKG D 2/88, W S MfS o0008/78/88 Material zur Weiterbildung in den Bezirken, Räten der kreise und der BV des MfS ... zur einheitlichen Behandlung von Ausreisefällen. Mit einer Orientierung des Obersten Gerichtes der DDR.
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Kräfte des Görlitzer Konsistoriums in einem fatalem Zusammenspiel der Interessen spätestens Anfang 1989 eine Strategie des "stillen Zusammenwirkens" mit den Staatsorganen. Nachdem der DDR-Staat im Laufe des offenen Kampfes gegen die Kirche bereits in den 50er Jahren erkannt hatte, daß das offensive Vorgehen die Gemeinden mit den Kirchenleitungen eher noch mehr zusammenschweißte, orientierte er auf eine hinterhältigere Vorgehensweise. Der sogenannte "Differenzierungsprozeß" bedeutete im Sinne des Staatssicherheitsdienstes im Rahmen des "politisch-operativen Zusammenwirkens" (POZW) nicht allein das Herausarbeiten von Differenzen unter den Geistlichen, sondern vor allem das Verursachen von Differenzen. Ab 1970 mußten die Räte der Städte, Kreise und Bezirke beim Referat Staatspolitik in Kirchenfragen des jeweiligen Rat des Bezirkes regelmäßig Monatsberichte vorlegen und im Rahmen des POZW zuarbeiten, mit welchen Kirchenvertretern mit welchem Ergebnissen gesprochen worden war. Die zuständigen Staatsvertreter, Stadträte und Referenten für Inneres und Kirchenfragen berichteten detailreich fast immer mehrfach: an die Partei und als I M an das MfS 6 . Allein die katholische Kirche verbot ihren Geistlichen Gespräche mit Staatsvertretern und bestimmte dafür einzelne Würdenträger. Sobald diese sich jedoch regelmäßig mit ihm als solchen bekannten Geheimdienstoffizieren traf, wurden sie, abhängig von individueller Zutraulichkeit und Bereitschaft zur Verschwiegenheit, ebenfalls als I M des MfS registriert 7. Gleiches geschah im Görlitzer Kirchengebiet einem Konsistorialrat und anderen hohen Kirchenführern, die sich, besonders ab Mitte der 70er Jahre, auf regelmäßige Gespräche mit Geheimdienstlern einließen und dabei Vertraulichkeit zusichern ließen8. Gleichzeitig galt jedoch grundsätzlich für Gemeindeglieder, Pfarrer, Superintendenten und kirchliche Angestellte, bei Vertretern von Staat und Geheimdienst nur zu zweit zu erscheinen. Das Gesprächsprotokoll an das Konsistorium war Pflicht. Diese Regelung Bischof Fränkels, die 1973 nach einer Anwerbung und Dekonspirations des Görlitzer Kirchenrates Helmut Reese getroffen wurde, bewahrte viele kirchliche Mitarbeiter vor einer geschickten Anwerbung. Trotzdem hielt sich
6 I M E "Lutz Walther" 1971 - 1990 (Gerhard Lewerenz, Rat des Bezirkes Dresden, Sektorenleiter Kirchenfragen) IME "Reinhardt" 1972-1990 (Werner Erbe, Rat des Bezirkes Cottbus, Sektorenleiter Kirchenfragen) F I M "Gerhard" 1969 - 1985 (Herbert Liesaus, Rat der Stadt Görlitz, Referent Inneres/Kirchenfragen) IME "Michael" 1985 - 1990 (Jürgen Werner, Rat der Stadt Görlitz, Referent Inneres/Kirchenfragen) I M E "Referent", IME "Praktikant", IME "Ernst Barthel" (Werner E., Anita D., Kohl -alle Rat des Kreises Hoyerswerda, Abt. Inneres/Kirchenfragen) u.a. 7 1MB "Dom" (Günter Hanisch), 1MB "Konstantin" (Othmar Faber). Generalvikar Birkner wurde nicht als I M geführt 8 G l "Schloß" (1961 - 1975), "Stein" (1970 - März 1989) und "Bruder" (1977 - 80). Bischof Wollstadt lehnte die vertraulichen Gespräche ab.
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ein Teil der obersten Görlitzer Kirchenspitze ab 1976 selbst nicht mehr an diese Schutzmaßnahme, weil Bischof Fränkel glaubte, "daß das MfS die Kirche nicht mehr bearbeitet". 9
D. Die "gewisse Hybris" von Kirchenführern Die geplagte Kirchenbasis hat damals von der Existenz dieser zweite Gesprächsebene an der Kirchenspitze nichts geahnt. So wie sie uns heute aktenkundig überliefert sind, stellten diese vertraulichen Geheimdienstkontakte unserer müde gewordenen Kirchenführer eher fatale persönliche Selbstüberschätzungen dar, verbunden mit peinlichen Vorteilsnahmen wie Westreisen, Bildbänden, Meißner Porzellanvase, Kristallservice und teurem Kognak. Selbst Manfred Stolpe äußerte sich nach dem Abschluß der EKD-Vorermittlungen nachdenklicher zu seiner schillernden Rolle zwischen Partei- und Kircheninteressen im DDR-Staat::10 "... Man war manchmal in der Gefahr einer gewissen Hybris und gab sich der Illusion hin, mit dem System von gleich zu gleich verhandeln zu können.... Die Kirchen müssen auch mit den schärfsten Vertretern einer Diktatur verhandeln. Aber es muß dann auch innerhalb der Kirchen eine Form der geschwisterlichen Wahrnehmung geben von dem, was ihre Unterhändler tun. Es gab in meinem Fall vielleicht dreißig Leute, die ungefähr wußten, worüber ich redete und mit wem ich mich traf - aber die wußten es nur punktuell, da gab es Kontinuitätsrisse. "
Später wurde diese Praxis der Differenzierung durch "Gespräche", vor allem mit Hilfe tiefschürfender Analysen aus der von der Staatssicherheit geleiteten Juristischen Hochschule Potsdam (JHS) immer mehr verfeinert. Um die Kirchenvertreter herum wurden durch Urlaubsplätze, Buch- und Haushaltsgeschenke sowie Reisemöglichkeiten Netze der Dankbarkeit und Abhängigkeit zum Staat gewoben. Die Psychologin Dr. Ursula Plog beschreibt diese Art Gespräche und Kontakte ostdeutscher Kirchenführer mit DDR-Staatsvertretern heute als "paranoide Kommunikation"11: "Eindeutig scheint mir belegt, daß tiefe, fundamentale, lebensnotwendige Gefühle von Menschen ausgebeutet wurden. Ihr Vertrauen wurde gewonnen und getäuscht. Institutionen, von denen man Hilfe erwartet und von denen Hilfe ausgeht, wurden zur
9 BStU Ast. Dresden Vorlauf "Freund" XII/1280/79 ( A I M Dre. 4059/81) Bischof Wollstadt, H.J. Ohne Werbung archiviert. Äußerung Hpt. Babuckes zu Bischof Wollstadt, die vom anwesenden Bischof Fränkel Wollstadt gegenüber "bestätigt wird". 10 Interview in "Publik Forum" 16/95 vom 25.8.1995, S. 6 ff. (Obwohl Stolpe vom Potsdamer Jugendpfarrer Manfred Donrös 1982 über die Inhaftierung des Autors, den die Brandenburgische Kirche als Jugendleiter ausbildete, informiert wurde, setzte er sich nicht in seinen Geheimverhandlungen für den von amnesty international betreuten politischen Häftling ein.) 11
Berliner Zeitung vom 13.7.1995, S.4 nach einer Wiedergabe von Jürgen Fuchs.
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Roland Brauckmann Zerstörung benutzt. Zerstört wurden Menschen, vor allem aber die Idee des authentischen Diskurses und des Vertrauens zwischen Menschen. Daß es keinen authentischen Diskurs gab, hatte Auswirkung auf alle DDR-Bürger. Es entstand eine paranoide Kommunikation und damit fanden pathologische Diskurse statt, die die Menschen im Sinne der Persönlichkeitsbildung beeinflußten. Bei dieser Ausbeutung der Gefühle von Menschen handelte es sich durchaus um eine 'Kolonialisierung der inneren Natur des Menschen'. Da mit den fundamentalen Bedürfnissen der Menschen nach Anerkennung, Angstreduktion und Sicherheit manipulierend gearbeitet wurde, fand eine Besetzung der Persönlichkeit statt. "
Ziel der DDR-Staatspolitik in Kirchenfragen wurde, vor allem nach der KSZEKonferenz 1975 in Helsinki, die langfristige, vertrauensvolle und persönliche Bindung evangelischer Kirchenführer an die politischen Auffassungen der SED. Damit verbunden war die Erwartung, daß die Bischöfe zu Menschenrechtsverletzungen in der DDR öffentlich schweigen und solche "Fälle" über die neu geschaffenen vertraulichen Kanäle erledigen. Parallel dazu entwickelte Bischof Fränkel als Versuch einer konfliktminimierenden Annäherungspolitik an die weltliche Obrigkeit die "Position der Kirche zwischen Akklamation und Konfrontation". Der Görlitzer Superintendent und der Landesjugendpfarrer wurden als I M geworben. Gleichzeitig setzte sich im Görlitzer Kirchengebiet der Widerstand gegen das staatlich gewünschte Schweigen als Nachwirkung der traditionellen Linie des "Kirchenkampfes" und des gesellschaftlichen "Wächteramtes der Kirche" in Kirchenkreisen wie Weißwasser und Niesky durch die dortigen Superintendenten Ulrich maiwald und Manfred Hellmann sowie Alfred Müller in Hoyerswerda fort. In der sozialistischen Musterstadt Hoyerswerda-Neustadt wurden zwischen 1970 und 1990 alle Pfarrer und Jugendmitarbeiter des "Martin-Luther-King"-Hauses aus Furcht vor linker Gesellschaftskritik als feindlich-negativ in OV und OPK bearbeitet.12 Das spätere, zutiefst menschliche Versagen Einzelner in der Görlitzer Kirchenspitze kann diesen Teil unserer Geschichte nicht verdecken, auch wenn mitunter die selben Menschen versagten, die Jahre zuvor mutig aufgestanden waren. Prägend bleiben deren klare Worte und Taten in den Zeiten der Diktatur, auch wenn sie in dieser ersten Veröffentlichung zur jüngsten Geschichte unseres Kirchengebietes nur beispielhaft dargestellt werden können. In den frühen Bischof s vorträgen D. Fränkels auf den Synoden kam dieser Mut zu deutlichen Worten immer wieder zum Vorschein. 1973 prangerte der selbst im OV "Märtyrium" vom MfS mit anonymen Schmähbriefen überzogene Kirchenführer an:13
12 Pfarrer Freyer (OV "Kontakt"), Pfarrer Schneider (OV "Prediger"), Pfarrer Haugk (OPK "Begegnung"), Pfarrer Loyal (OPK "Besinnung") sowie Diakoniehelfer Brauckmann (OV "Strohmann") und Sozialdiakon Heinke (OV "Dialog" und "Basis"). 13 Bischof Fränkel auf der Friihjahrssynode 1973 in epd-Dokumentation 17/73 hrg. von Reinhard Henkys.
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"Zur öffentlichen Verantwortung der Kirche gehört der Einsatz für die Leidenden und Entrechteten. Unkritische Akklamation für politische Zielsetzungen kann man von uns nicht erwarten. Höchst verdächtig ist der dringliche Wunsch, sich jede Störung vom Leibe zu halten, denn das führt die Kirche in eine lähmende Situation der Unwahrhaftigkeit. Die Kirche darf nicht mitregieren, sondern hilfl den Menschen, an die Macht des Schöpfers zu glauben. So wird jeder ideologische Absolutheitsanspruch relativiert. Bestehende Gegensätze dürfen nicht in unwahrhaftigem Versöhnlertum verschleiert werden, sondern müssen ausgetragen werden. Um der Liebe Gottes willen dürfen wir die Erziehung zum Haß nicht mitmachen. "
Ein Jahr später begann eine Wandlung in der Görlitzer Kirchenpolitik. "Im Synodalvortrag 1974 habe sich der Bischof bemüht, positive Anklänge zu betonen. Er hat eine gewisse Realität verstanden", so OKR Juergensohn, der damals gemeinsam mit dem Bischof im OV "Martyrium" verunsichert wurde, zu einem hohen Staats Vertreter. 14 Mag sein, daß Fränkel seines einsamen Kampfes müde wurde und die durch Ignorieren des Staates verursachte Zermürbung hinzu kam. Der Kirchenbasis ging die staatsnahe Entwicklung ihrer obersten Vertreter jedoch bald zu weit. Nachdem Bischof Fränkel Anfang 1977 durch Diskussionen mit dem Initiator eine Unterschriftensammlung in Görlitz gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann verhindert hatte, weil "die Regierung in dieser Situation freie Hand haben müsse", sei er nun15 "... von verschiedenen Seiten häßlichen Angriffen ausgesetzt. Verantwortliche Leute, nicht nur aus seiner Kirche, meinten, er sei in seinem Auftreten zu lasch geworden. Auch Hempel habe jemand ins Gesicht gesagt "Sie sind ein Verräter!". Bei der Moskauer Konferenz der Friedenskräfte plädiere er für einen Beobachterstatus, weil er vom Glauben her nicht nachvollziehen könne, daß "alle Gläubigen der einen Wahrheit dienen " würden. Ein Atheist unseres Kulturkreises stehe ihm näher als ein Buddhist. "
Bischof Albrecht Schönherr, den einflußreiche Kräfte ursprünglich 1977 als Vorsitzenden der KKL vom Cottbusser Generalsuperintendenten Forck ersetzt sehen wollten, sollte wegen seiner Teilnahme am Moskauer Weltkongreß vom sächsischen Ephorenkonvent 1974 sogar "zur Verantwortung gezogen" werden 16. Der Leipziger Superintendent Stiehl wollte wissen, ob er denn die tatsächlichen Schwierigkeiten an der Basis kennen würde und wisse, daß laut marxistischer Konzeption im Sozialismus kein Platz für die Kirche vorgesehen sei. Schönherrs Antwort war verblüffend ehrlich: Sicher wisse er um die Schwierigkeiten an der Basis und daß es dem Staat 14 Sächs. Hauptstaatsarchiv RdB 47524, S.396 ff."Gespräch OKR J. 'privat' mit Dr. Dohle beim Rat des Bezirks Dresden am 23.4.74". 15 BStU Ast. Dresden "Bruder" XII/819/77 (AIM Dre. 3374/80) Teil 1, S. 86 Krankenbesuch vom Hauptabteilungsleiter im Staatssekretariat für Kirchenfragen, Weise gemeinsam mit Lewerenz und Ullmann bei D. Fränkel in Rothenburg am 15.2.77. 16 Sächs. Hauptstaatsarchiv RdB Dre. 79-10-00 Bericht von Dr. Horst Dohle (IME "Horst") vom 7.4.1974.
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letztlich darum gehe, die Kirche zu liquidieren. Er sei aber überzeugt, daß das Evangelium stärker sei als alle anderen Mächte. Er verwandte folgendes Gleichnis: "Das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR ist das gleiche wie das von Katz und Maus. Die Maus hat nur die Möglichkeit, sich entweder ins Loch zu verkriechen oder der Katze gegenüberzutreten und sie zu überzeugen, daß es gegenwärtig nicht opportun sei, die Maus zu fressen ".
E. Reale Politik oder prophetische Worte "Die SED ist die führende Kraß in unserem Staate, die von mir auch akzeptiert wird. Wer daran rüttelt, rüttelt an der Macht in diesem Staate. Das würde ich auch nicht zulassen, wenn die Kirche die Macht hätte. Fränkel sprach von immer größer werdenden Druck der Gemeinden auf die Kirchenleitung und diese wiederum auf seine Person wegen einiger 'Fälle' meist aus dem Bereich Bildungswesen. Einige KLMitglieder würden es gern sehen, wenn die Staat-Kirche-Gespräche nicht mehr stattfinden. Der Kurs der Konfrontation habe für sie mehr Vorteile gebracht, es wären weniger 'Fälle ' aufgetaucht. Die Gemeinden und die Kirchenleitung erwarten, daß der Bischof eine schärfere Sprache sprechen soll. "
So soll Bischof Fränkel 1977 in der Pause eines Spitzengespräches in Bad Muskau mit dem Abteilungsleiter Inneres beim Rat des Bezirkes Cottbus gesprochen haben.17 Auch aus solcher Haltungsänderung erwuchsen die Bemühungen um das Spitzengespräch der Konferenz der Kirchenleitungen am 6. März 1978 mit Erich Honecker. In der Hoffnung auf Erleichterungen wurden gemeinsame Interessen mit dem Staat definiert und die Diktatur der Arbeiterklasse als Obrigkeit akzeptiert. Mit permanenten Mahnungen beschäftigte vor allem der Kreisjugendpfarrer Hennerjürgen Havenstein regelmäßig die Staatsorgane in den Bezirken Cottbus und Dresden. Unter Rückendeckung seines Weißwasseraner Superintendenten Ulrich Maiwald, der wie die Superintendenten von Niesky (Hellmann) und Hoyerswerda (Müller) vom Kirchenkampf Bischof Fränkels vor der Kursänderung geprägt waren, nahm der vom MfS in den OV "Vikar" und "Orgel" bearbeitete Theologe auf der Görlitzer Frühjahrssynode 1981 über erlebte Repressalien kein Blatt von dem Mund. Obwohl Bischof Wollstadt 'in seelsorgerischer Weise* beschwichtigte und Staatsvertreter hinwies, daß dies sei nicht die gültige Synodenmeinung sei, berichtete eine Partennformation an Hans Modrow, 1. Sekretär der SED des Bezirkes Dresden, von
17 Brand. L H A A s t Ctb. Rep. 801/B 5557 Spitzengespräch K L Görlitz mit RdB Ctb./Dre. (Deysing, Kappelt und Ullmann, Johne) im HO Stadtcafe Bad Muskau am 1.12.77; ebenso "Bruder" S. 94 ff. (Pausengespräch Deysing mit Fränkel, 3. S.) und SHStA Dresden, RdB 47515, S. 374 "Der Bischof, erklärte Dr. Winde, müsse in der K L seine ganze Autorität einsetzen, um eine Meinungsändenmg bei den Mitgl. der Kirchenleitung zu erreichen, die nicht gewillt waren, am Gespräch teilzunehmen."
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"Zustimmung und Beifall der Synodalen" für die offenen Worte des Pfarrers aus dem abgelegenen Dorf Daubitz:18 "Die Rede des Havenstein sei seit den letzten sechs Jahren das provokatorischste, was dort verkündet wurde, erklärten die Sektorenleiter für Kirchenfragen aus Cottbus und Dresden, Bezugnehmend auf die neue Schulordnung stellte er an die Kirchenleitung die Frage, ob sich sich bewußt sei, daß damit die ganze kirchliche Kinder- und Jugendarbeit zunichte gemacht werden könnte. Wenn der Staat eine gute Atmosphäre zwischen Staat und Kirche wolle, dann könne er nicht solche Gesetze erlassen. Was habe die KL außerdem getan, um den polnischen Brüdern zu helfen? Die Gesetze, die Paketsendungen verbieten, seien inhuman. Zweitens erhob er die Forderung nach freier Reise-tätigkeit und berief sich dabei auf Helsinki. 'Man behandelt uns wie Gefangene. Ich bin tief verletzt, daß ich wie in einer Erziehungsanstalt leben muß. Man muß immer wieder darauf hinweisen, daß man ein Volk nicht so behandeln kann! ' sagte er wörtlich. "
Bischof Wollstadt, der charismatischen Bewegung nahestehend, griff ein Jahr später in die Auseinander-setzung um das Tragen der Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" mit seinem Bischofsvortrag auf der Synode 1982 ein. 19 Bereits im März 1980 hatte er durch offene Worte auf einer Kirchenleitungssitzung vertrauliche Gespräche mit dem Görlitzer MfS-Major Babucke und Oberst Rolle verweigert. 20 "Jeder Vorschlag zur Verminderung der Kriegsgefahr findet unsere Unterstützung. Wenn wir heute nicht schreien, könnte es eines Tages dafür zu spät s ein. Wir erinnern an unsere wiederholte Bitte, die Durchdringung aller Lebensbereiche mit dem Militärischen zu stoppen. Dem Cottbuser SED-Sekretär Werner Walde habe ich in einen Brief geschrieben, daß er das Anliegen des 'Sozialen Friedensdienstes ' verfälscht, wenn er diesen als friedens-, Sozialismus- und verfassungsfeindlich' bezeichnet".
Daneben dokumentierten weiterhin Spitzelberichte die kritischen Haltungen vieler anderer Theologen an der Basis. So zweifelte Pfarrer Wilfried Baier, Leiter der Evangelischen Akademie Görlitz, bereits 1979 die "Ehrlichkeit des Staates" an21 und beschrieb 1986 auf einem Kirchentagskongreß in Großschönau:
11 Staatsarchiv Dresden SHStA, RdB 47515 S.103 und 122 ff (Abt. Staat und Recht, Wilke/Lewerenz an Modrow, 30.3.1981). 19
Evangelisches Zentralarchiv E K U 108/0452-1 Bd. V I auf der Frühjahrssynode 1982.
30 Vorlauf "Freund" Reg.-Nr. XII/1280/79 (AIM-Vorlauf Dre. 4059/81), Bericht des KL-Mitgliedes Erwin Walter von der Sitzung. 21 BStU Ast Dresden OV "Mission" Reg.-Nr. XII/2077/80 (AOP Dre. 734/87) Teil 1, S.165 und 175 Berichte des 1MB "Winter" (Erwin Walter, Görlitz) vom 5.3.79 und des 1MB "Eckstein" (Pfarrer Horst Ophal, Görlitz) vom 9.7.86.
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Roland Brauckmann "Die Wurzel der Krankheit unserer Gesellschaft ist die Verlogenheit. Obwohl alle wissen, daß es nicht so ist wie dargestellt, müßten alle dahinterstehen. Diese Ansatzlüge ist äußerst verwerflich. Ich bin zwar kein Staatsfeind, habe aber bei der Wahl mit 'Nein' gestimmt und meine Gemeinde zum Aufsuchen der Wahlkabine aufgefordert".
Trotzdem konnte Anfang der achtziger Jahre der Görlitzer MfS-Major für Innere Abwehr, Horst Babucke, zufrieden Treffberichte eines Konsistorialrat, zwei Mitgliedern der Kirchenleitung, des lokalen Super-intendenten, dem Landesjugendpfarrer und eines weiteren hohen Kirchenführers registrieren. Der direkte Verrat war jedoch selten. Durch besonderen Eifer und Detailreichtum zeichneten sich allein die 1MB "Winter" (KL), "Sturm" (CDU) und "Turf" (AGAS) aus. Vor allem an der Kirchenbasis widerstanden jedoch viele kirchliche Mitarbeiter, Pfarrer und Superintendenten dem Werben der Staats- und Geheimdienstvertreter mit privaten Vorteilen wie Westreisen, Urlaubsplätzen, Titeln und Geschenken.
F. Die Wahrhaftigkeit setzte sich durch In den Räumen der Görlitzer Reformierten Gemeinde traten ab Mitte der 80er Jahre kritische Liedermacher auf, in der Wochenzeitung "die Kirche" publizierten Bürgerrechtler wie Konrad Weiß, Stefan Bickhardt, Axel Noack und Stefan Berg. Ab 1987 büdeten sich neben sehr aktiven Übersiedlerkreisen, die ihr Menschenrecht auf Freizügigkeit einforderten, in Görlitz und Hoyerswerda mehrere Umweltgruppen und eine Basisgruppe der "Sozialistischen Kirche" von Diakon Heinke. Diese leisteten Widerstand, indem sie die Legitimationskerne des SED-Staates einforderten und so das Regime als hohl enthüllten. Obwohl es um Nutzung von Autonomiespielräumen und Verbesserung des Sozialismus ging, wurde aus jeder Aktion ein Sargnagel für das vergreiste, nur noch auf Machterhalt bauende System. Neben jene, die bereits vor 1975 aus konservativen, vom Glauben und der Erfahrung des Kirchenkampfes geprägten Beweggründen dem atheistischen Jubelzwang des DDR-Staates ablehnend gegenüberstanden, traten so in den achtziger Jahren Menschen, die aus progressiver Überzeugung oder einfach aus humanistischen Beweggründen die von der Obrigkeit verordnete Verlogenheit nicht mehr mitmachen wollten. Ihre selbstverständliche Aufrichtigkeit verstehen viele von ihnen bis heute nicht als besonderen Widerstand, obwohl diese Verweigerung von Verlogenheit, die selbstbewußte Absage an angepaßtes Verhalten, dem DDR-Staat die Basis nahm und den Zusammenbruch beschleunigte.
'Kirche im Sozialismus" als Kirche in einer "mündigen Welt"? Von Wolfgang Thumser
Wenn die Formel "Kirche im Sozialismus" zu Recht als Zusammenfassung des Selbstverständnisses des DDR-Kirchenbundes gilt, so darf man daraus folgern, daß der Kirchenbund der Umweltrelation der Kirche eine entscheidende ekklesiologische Relevanz zugeschrieben hat. Diese Folgerung wird bestätigt durch einen Blick auf eine Formulierung, als deren Kurzform die Formel häufig bezeichnet wurde und wird. In dem Bericht der Konferenz der Kirchenleitungen vor der Bundessynode 1971 in Eisenach heißt es programmatisch: "Es ist Aufgabe dieser Synode, einen Schritt in der Richtung zu tun, das Zeugnis und den Dienst in dieser sozialistischen Gesellschaft genauer zu beschreiben. Eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik wird ihren Ort genau zu bedenken haben: in dieser so geprägten Gesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegen sie. Sie wird die Freiheit ihres Zeugnisses und Dienstes bewahretmnüssen. "
Angesichts dieser starken Kontextrelativität der kirchlichen Selbstwahrnehmung in der DDR ist es für den Versuch des nachvollziehenden Verstehens entscheidend, zur Kenntnis zu nehmen, auf welche Art und Weise und mit welchem Ergebnis die Kirche in der DDR ihre Umwelt wahrgenommen hat.
A. Die "säkulare Gesellschaft" als "mündig gewordene Welt"? Sie hat sie zunächst und in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihres nichtchristlichen Charakters gesehen. Die Formel "Kirche im Sozialismus" symbolisierte den Konsens, als christliche Kirche in einer nichtchristlichen Umwelt einen dritten Weg neben der Konfrontation einerseits und blinder Anpassung andererseits zu gehen. Dabei war dieser dritte Weg von synchroner Vielgestalt und diachronen Wandlungen gekennzeichnet. Als Beispiel dafür möchte ich Ihnen als ein kleines Einzelkapitel aus der Theologiegeschichte der DDR den Versuch vorstellen, die Wahrnehmung der Umwelt der Kirche durch den Begriff der "Mündigkeit" kategorial zu steuern. Zur theologischen Kategorie war dieser Begriff in der Theologie des späten Bonhoeffer geworden. Eine entscheidende Wende in Bonhoeffers Theologie war
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Wolfgang Thumser
seine Erfahrung der konspirativen Zusammenarbeit mit Menschen von hohem ethischen Format, die nicht religiös motiviert waren. Diese Erfahrung führte ihn zu einer aufgeschlossenen und, wie wir sehen werden, folgenreichen Rezeption von Wilhelm Diltheys Analysen der Neuzeit und dessen These ihrer Autonomie und Mündigkeit1. Unter dem Eindruck Diltheys modifizierte Bonhoeffer seinen bislang offenbarungstheologisch bestimmten Wirklichkeitsbegriff 2 zu der These, daß die Welt ihre Wirklichkeit aus sich selbst zu schöpfen in der Lage sei. In der Folge davon mußte es auch zu einer Reformulierung seines bisherigen Verständnisses von Religion und Säkularisierung kommen. Dem bisher als ambivalente Emanzipation gewerteten neuzeitlichen Säkularisationsprozeß, den Bonhoeffer noch in seinen "Ethik"-Fragmenten als kulturelle Verfallsgeschichte beschrieben hatte3, schrieb er nun eine theologisch begründete Legitimität zu. Denn Bonhoeffer begriff die Emanzipation nunmehr ausschließlich positiv als Befreiung von der Herrschaft einer pervertierten, nämlich religiösen Gestalt des Christentums. Zu deren Kennzeichen zählte er 4 ihre funktionale Ausrichtung im Sinne der Befriedigung religiöser Bedürfnisse nach Transzendenz, ihre Tendenz zur Individualisierung, ja Privatisierung der Gottesbeziehung, ihre Lokalisierung in einen von der "Welt" abgetrennten Sonderbereich und schließlich vor allem ihre Gottesvorstellung, die Gott als allmächtigen, herrschenden Vormund erscheinen läßt, der freilich faktisch funktional degradiert wird zu einem # 1 Vgl. E. Feil, Ende oder Wiederkehr der Religion? Zu Bonhoeffers umstrittener Prognose eines "religionslosen Christentums", in: C. Gremmels/I. Tödt (Hgg.), Die Präsenz des verdrängten Gottes. Glaube, Religionslosigkeit und Weltverantwortung nach Dietrich Bonhoeffer, München 1987 (IBF7), 27-49, 35. E. Bethge notiert in Bonhoeffers Lektüreliste des ersten Halbjahrs 1944 folgende Titel von Dilthey: "Das Erlebnis und die Dichtung. 4 Aufsätze"; "Von deutscher Dichtung und Musik"; "Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation", vgl. Ders., Dietrich Bonhoeffer. Theologe - Christ - Zeitgenosse, München 51983, 973 (Anm. 175 [Literatur!!). 1953f. 2
Vgl. D. Bonhoeffer,
Ethik (DBW 6), 32-34. 43. 261f.
3
In den Ethik-Fragmenten hatte Bonhoeffer sich mit der Säkularisierungsthematik v.a. in dem im September 1940 im Zusammenhang des zweiten konzeptionellen Ansatzes entstandenen Essays "Erbe und Verfall" (Ders., Ethik [DBW 6], 93-124) befaßt. Zunächst wird hier der Ursprung der als Emanzipaüonsprozeß verstandenen Säkularisierung in der Reformation lokalisiert. Angeregt durch den Impuls der reformatorischen Zwei-Reiche-Lehre befreite sich die ratio von geistlich-klerikaler und, in Entsprechung dazu, auch von staatlicher Bevormundung. Diese Emanzipation bewertet Bonhoeffer allerdings als ambivalenten Prozeß mit der Tendenz zur Perversion seiner selbst: "Das Verlangen nach absoluter Freiheit" (a.a.O., 112), die man in der absoluten Selbstbezogenheit des mündig gewordenen Menschen zu finden erhoffte, führt nach Bonhoeffer zu Ideologien und also zu Religionssubstituten, die "in der schließlichen Selbstzerstörung, im Nichts" enden (a.a.O., 115). Denn "mit der Zertrümmerung des biblischen Gottesglaubens und aller göttlichen Gebote und Ordnungen zerstört der Mensch sich selbst Es entsteht ein hemmungsloser Vitalismus, der die Auflösung aller Werte in sich schließt" (a.a.O., 114f.). Inmitten dieser durch den Säkularisierungsbegriff gekennzeichneten Verfallsgeschichte empfängt die Kirche ihre Funktion als verantwortliche Trägerin des abendländischen Kulturerbes (vgl. a.a.O., 123). 4 Vgl. E. Bethge, a.a.O., 976-988; E. Feil, a.a.O., 39; W. Huber, Was das Christentum oder auch wer Christus für uns heute eigentlich ist" - Dietrich Bonhoeffers Bedeutung für die Zukunft der Christenheit, in: C. Gremmels/I. Tödt, a.a.O., 87-100, 95.
"Kirche im Sozialismus" als Kirche in einer "mündigen Welt"?
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Deus ex machina, einen Nothelfer und Problemloser, zu einem erkenntnistheoretischen Lückenbüßer, einer Arbeitshypothese, die schließlich irgendwann entbehrlich wird. Das Fortschrittsparadigma, das dieser Religionskritik zugrundeliegt, stellt diesen Sachverhalt als sukzessiven Vorgang vor: Je mehr Wissenslücken durch Wissenschaft und Forschung geschlossen werden, desto seltener benötigt man Gott zur Erklärung des ansonsten Unerklärlichen. Die Überwindung der so beschriebenen religiösen Gestalt des Christentums führt im Ergebnis zur religionslosen und darum mündigen Welt, die sich selbst und ihre Gesetze selbständig und vollständig erkennen5 und die auch die Kontingenzproblematik selbständig aus eigener Kraft, und das heißt für Bonhoeffer eben: nichtreligiös, bewältigen kann6. Das erste Problem, das sich hier ergibt, besteht darin, daß der sachliche Zusammenhang zwischen dem christlichem Glauben und der Säkularisierung nur negativ erhoben wird, nämlich als Überwindung der "religiösen" Verzerrung des Christentums. Damit kann jedoch noch keineswegs eine positive Beziehung der beiden Gegenseiten, also des von Bonhoeffer geforderten nicht-religiösen Christentums und einer mündig gewordenen Welt, als hinreichend begründet gelten. Diese müßte eigens gezeigt werden, und hier tauchen Probleme auf wie etwa die Frage nach dem Verhältnis von christlicher Freiheit zur Mündigkeit der säkularen Welt oder das Problem der Kompatibilität des christlichen Selbst- und Weltverständnisses, das durch den Schöpfungs und Rechtfertigungsglauben geprägt ist, mit dem Selbstverständnis einer säkularisierten "Welt". Weitere Schwächen bestehen in der abstrakten Begrifflichkeit, der Undifferenziertheit der Wertungen und des unzureichenden Religionsbegriffes, wobei die beiden letztgenannten Punkte eng miteinander zusammenhängen. Die Rede von der "Welt" als uniformem Gegenstand, dem die Attribute religiös oder religionslos alternativ zugeordnet werden können, wird der Differenziertheit religionssoziologischer Sachverhalte nicht gerecht. Fragen wie die nach dem Legitimationsproblem staatlicher Herrschaft, dem Problem der Einheit der geschichtlichen Wirklichkeit sowie dem Problem der gesellschaftlichen Integration, Fragen also, deren Bearbeitung auch in säkularen Kontexten religiöse Aspekte hat, können bei einem so groben Kategorienraster ebensowenig in den Blick kommen wie Phänomene funktionaler Substitution von Religion7.
5 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. E. Bethge. Neuausgabe, München 21977 (= WEN), 341f. 356f. 6
D. Bonhoeffer,
WEN, 341f. 413.
7 In dieser Hinsicht war in den Ethikfragmenten Bonhoeffers noch ein schärferes Problembewußtsein zu beobachten. Zur Legitimationsproblematik vgl. D. Bonhoeffer, Ethik (DBW 6), 116-118; zum Problem der Religionssubstitute a.a.O., 113f.
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Ich komme nun zur Analyse der kirchlichen Wahrnehmung ihrer Umwelt in der DDR. Die Beobachtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die Kirche in der DDR und damit auch ihre reflexive Situationsbestimmung erfolgten bis etwa Mitte der 80er Jahre fast ausschließlich und auch danach noch weitgehend unter Anwendung derjenigen Kategorien, die Bonhoeffer skizzenhaft in den Briefen aus seiner Tegeler Zelle entwickelt hatte. Ein Grund dafür könnte ihre hohe Anschlußfähigkeit an die in der DDR herrschende Semantik gewesen sein. Es gab jedenfalls wohl kaum eine These, die innerhalb der evangelischen Kirchen in der DDR so konsensfähig war wie diejenige, man befinde sich in der DDR in einem säkularisierten Staat und in einer säkularisierten Gesellschaft. Da man unter Säkularisierung in Anknüpfung an Bonhoeffer einen Emanzipationsprozeß verstand, in dessen Verlauf sich die 'Welt" von religiöser und klerikaler Bevormundung befreit, konnte man das Ergebnis dieses Vorganges, die säkulare Gesellschaft, auch als "mündige Welt" bezeichnen8. In diesem Sinne hat der langjährige Vorsitzende der Konferenz der Kirchenleitungen und Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Region Ost, Albrecht Schönherr "den Materialismus als militante Mündigkeitserklärung der Welt durch sich selbst" bezeichnet9. Dabei wurde der Vorgang der Säkularisierung keineswegs als spezifisch für die DDR oder den Sozialismus, sondern als Teil eines sich weltweit vollziehenden historischen Prozesses begriffen, der freilich in den sozialistischen Gesellschaften 8 Vgl. die Beschreibung von M. Kuske aus dem Jahr 1970: "Bonhoeffers Ausführungen über die religionslosen und mündigen Menschen und also über die anderen helfen uns, den Menschen in unserer Situation angemessen, d.h. ihrem Selbstverständnis entsprechend, zu begegnen. Daß es diese anderen gibt, ist unsere tägliche Erfahrung. Man begegnet ihnen nicht nur außerhalb der Gemeinde, die eine kleine Minderheit ist, sondern auch innerhalb der Gemeinde. Daß weiter der eine oder andere von ihnen mit Recht als religionslos und mündig bezeichnet werden kann, steht ebenso fest. Das kann man etwa daraus schließen, daß man sich, ohne viel darüber zu diskutieren, mit Bonhoeffers Urteil identifiziert, wenn man von ihm hört oder über die Sache spricht: Ja, wir sind religionslos urçd mündig; wir brauchen keinen Gott, um unser Leben zu bewältigen. Angesichts dieser ausgesprochenen oder unausgesprochenen Identifizierung kann es nicht Aufgabe kirchlichen Handelns heute sein, mit diesen anderen darüber zu diskutieren, ob das auch wirklich stimmt, sondern das ist die Aufgabe, sie in ihrem Anderssein, in ihrer Religionslosigkeit und Mündigkeit anzunehmen und ernst zu nehmen" (Ders., "Kirche für andere" in der "mündigen Welt". Die Bedeutung von "Widerstand und Ergebung" für kirchliches Handeln heute, in: W. Pabst (Hg.), Kirche für andere. Vorträge und Ansprachen im Bonhoeffer-Gedenkjahr 1970, Berlin 1973, 83-102, 87. 9 A. Schönherr, Impulse aus der Theologie Bonhoeffers für den Weg der Christen in der sozialistischen Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik (1972), in: Ders., Horizont und Mitte. Aufsätze, Vorträge, Reden 1953-1977, München 1979, 119-141, 139. Dieselbe Formulierung findet sich auch schon in Ders., Die Predigt der Kirche in der "mündigen" Welt. Gedanken Dietrich Bonhoeffers, in: ZdZ 9,1955,242-250, 245. In leichter Variation formulierte Schönherr 1976: "Der Marxismus versteht sich, wenn man Bonhoeffers Nomenklatur anwenden will, als emphatische Mündigkeitserklärung der Welt durch sich selbst. In der 'Internationale' heißt es: 'Uns hilft kein Gott, kein höheres Wesen...'" (Ders., Dietrich Bonhoeffer, in: ZdZ 30,1976, 373f., 373.) In einer 1986 entstandenen Bonhoeffer-Interpretation schrieb Schönherr: "Die 'mündige Welt' tritt uns in der DDR, die von einer marxistisch-leninistischen Partei geführt wird, in der Form des bewußten Atheismus, also der militanten Mündigkeitserklärung durch sich selbst, entgegen." (Ders., Die Religionskritik Dietrich Bonhoeffers in ihrer Bedeutung für das Christsein in der DDR, in: Ders., Abenteuer der Nachfolge. Reden und Aufsätze 1978-1988, Berlin 1988, 239-260, 240).
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als am weitesten fortgeschritten galt. Als Beleg für diese in den 60er Jahren in der DDR zuerst von Günter Jacob mit großer Resonanz aufgestellte These10 galten die Ergebnisse der zeitgenössischen Planungswissenschaften, die sich unter dem Titel "Futurologie" mit der Zukunft des "technischen Zeitalters" beschäftigten 11. Diese "futurologischen" Erkenntnisse waren z.T. in Form einer populären Prognostik kirchlicher Entwicklung weiterentwickelt worden 12, deren Tenor in der These von der Säkularisierung als eines weltweit steüg fortschreitenden, unumkehrbaren Prozesses bestand, an dessen Ende "das Absterben und das Ende aller Religionen"13 zu erwarten sei. Daß diese universale These in der Entwicklung der kirchlichen Situation in der DDR ihre Bestätigung zu finden schien, mußte unmittelbar einleuchten, zumal sie inhaltlich mit den Ergebnissen der unter Ulbricht noch hoch im Kurs stehenden Wissenschaftlichen Atheismusforschung weitgehend konvergierte. Damit aber war eine Verschiebung der Problemlage von erheblichem Ausmaß geleistet worden. Indem man nämlich "Säkularisierung" als Oberbegriff wählte, dem dann u.a. auch der Begriff "Sozialismus" und die mit ihm zusammenhängenden Themen wie Atheismus, Ideologisierung, Glaubens- und Gewissensfreiheit und also letztlich die gesamte Legitimationsproblematik der SED unterzuordnen waren, war der Weg geebnet, die damit zusammenhängenden Probleme durch eine geeignete Fassung der Säkularisierungsproblematik gleich mit lösen oder doch zumindest theologisch lokalisieren zu können14. Die der Formel "Kirche im Sozialismus" zunächst zugrundeliegende Einsicht lautete also: Als Kirche in einer säkularen Welt anerkennt die Kirche die Mündigkeit dieser Welt. Läßt man die Frage nach der Legitimität der Verschiebung der Fragestellung von "Kirche und Sozialismus" hin zu "Kirche und säkulare Welt" einmal beiseite und unterzieht diese These nur für sich selbst einer theologischen Kritik, so ergeben sich 10 G. Jacob, Die Zukunft der Kirche in der Welt des Jahres 1985, in: ZdZ 21,1967,441-451 ; abgedr. in: Ders., Umkehr in Bedrängnissen. Stationen auf dem Weg der Kirche von 1936 bis 1985, München 1985, 61-92. 11
A.a.O., 441.
12
Vgl. z.B. Λ. v. Leeuwen, Das Christentum in der Weltgeschichte, Stuttgart 1966.
13
G. Jacob, a.a.O., 441.
14 Deutlich kenntlich gemacht wird dieses Verfahren bei J. Langer, Übergang zwischen Christlichem und Weltlichem. Zu Fragen von kirchlicher Sozialgestalt und Ekklesiologie unter den Bedingungen der Säkularität in der DDR, in: BThZ 3,1986, 293-306. Langer schreibt: "Die 'Welt* begegnet uns in Gestalt des 'real existierenden Sozialismus' in der DDR, und zwar in Form aller seiner geschichtlichen Auswirkungen im für uns überschaubaren geschichtlichen Zeitraum. Dabei hat sich nicht der Sozialismus an und für sich oder in seiner atheistischen Komponente als das Problem für kirchliche Mitarbeiter herausgestellt, sondern der Sozialismus innerhalb des weltweiten Säkularisierungsvorgangs, dessen Bestandteil er ist." (300)
26 Timmermann
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als Probleme zum einen der hier zugrundeliegende Dualismus von Kirche und Welt und zum anderen die Näherqualifizierungen der "Welt" durch die Prädikate "säkular" und "mündig". Das Grundproblem der Kirche/Welt-Differenz besteht darin, daß beiden Begriffen ein hoher Grad an Unbestimmtheit eignet, dem eine Unschärfe ihrer Relation entspricht 15 . Ihre theoretische Leistungsfähigkeit ist dadurch stark eingeschränkt. Um mit ihr sinnvoll operieren zu können, wird man eine theologische Differenzierung des 'Welt"-Begriffs, wie sie etwa Gogartens Säkularisierungstheorie zugrundeliegt, mit seiner soziologischen Präzisierung kombinieren müssen. Die "Welt" wurde nun von der Kirche im Kontext der DDR-Gesellschaft, wie gesehen, im Anschluß an Bonhoeffer als "säkularisiert" näher qualifiziert. Der seiner ursprünglichen Bedeutung nach juristische Begriff "Säkularisierung" bezeichnet in diesem juristischen Sinne die Enteignung kirchlichen Gutes und seine Indienstnahme für profane Zwecke, also einen Akt der Konfiskation. In seinem weithin üblich gewordenen Gebrauch bedeutet "Säkularisierung" dann allgemeiner den Übergang von einem kirchlichen, religiösen in einen profanen, weltlichen Kontext. Das Prädikat "säkularisiert" oder "säkular" kann sinnvoll also nur auf einen im weitesten Sinne kirchlichen Sachverhalt angewandt werden. Der Ausdruck "säkulare Welt" dagegen ergibt einen Sinn allenfalls unter der Voraussetzung einer Präzisierung der beiden verwendeten Begriffe. Setzt man nämlich an die Stelle des Globalbegriffes "Welt" präzisere Begriffe wie Staat und Gesellschaft, so liegt die Vermutung nahe, daß mit da* Prädizierung ihrer Säkularität ihre Unterscheidung von einem religiös legitimierten Staat bzw. einer religiös integrierten Gesellschaft ausgesagt werden soll, und zwar im Sinne eines historischen Übergangsprozesses. Für diesen Prozeß gilt: Er vollzieht sich, ist beobachtbar und beschreibbar, er hat jedoch kein Subjekt, keinen Handlungscharakter, kein Ziel. Genau hier aber hat die wohl irreführendste Verwendung des "Welt"-Begriffes ihren Ort, die gerade in den ekklesiologischen Problemzusammenhängen der Kirche in der DDR folgenreich gewesen ist. Denn wie man an zahllosen Beispielen zeigen kann, wurde der hypostasierte Begriff "Welt" in aller Regel als Subjekt des Säkularisierungsprozesses eingesetzt. Pars pro toto soll hier als Beispiel der bereits genannte Satz von Albrecht Schönherr als Beleg genügen, in dem der "Materialismus als militante Mündigkeitserklärung der Welt durch sich selbst" bezeichnet wird 16 . Die
15
16
Vgl. M. Honecker, Art. "Kirche und Welt" in: TRE 18, 1989, 405-421,405-408.
S. o. Anm. 9. Die Hypostasierung des "Welt"-Begriffes findet sich auch bei D. Bonhoeffer, der in seinem Brief vom 8.6.1944 schreibt: "Die zum Bewußtsein ihrer selbst und ihrer Lebensgesetze gekomnrene Welt ist ihrer selbst in einer Weise sicher, daß uns das unheimlich wird; Fehlentwicklungen und Mißerfolge vermögen die Welt an der Notwendigkeit ihres Weges und ihrer Entwicklung doch nicht irre zu machen; sie werden mit männlicher Nüchternheit in Kauf genommen [...]. Gegen diese Selbstsicherheit
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"Welt" 17 schüttelt fremde Vorherrschaft ab, erkämpft sich ihre Autonomie und erlangt so ihre Mündigkeit. Ein formaler Vergleich dieses Gedankenganges mit dem marxistisch-leninistischen Historizismus macht die Konvergenz unübersehbar. In beiden Fällen wird ein über-historisches Subjekt am Werk gesehen, das die geschichtliche Entwicklung steuert und auf ein Ziel hin lenkt. Dieses die Historie gestaltende Super-Subjekt ist in der Ideologie des Marxismus-Leninismus die Partei bzw., in der hypostasierend-verunklarenden Terminologie der SED-Propaganda, "der Sozialismus". Das an Bonhoeffer anschließende kirchliche Verständnis ihrer gesellschaftlichen Umwelt als "säkularisierte Welt" korrelierte also sowohl inhaltlich - als Prognose eines unaufhaltsamen Verschwindens von "Religion" - als auch formal - als Akt eines Super-Subjektes - mit der die Umwelt der Kirche totalitär bestimmenden Ideologie. Dagegen bleibt festzuhalten, daß die Interpretation des Säkularisierungsprozesses als Pseudo-Handlung mit Notwendigkeit zu einer Verzerrung der mit Hilfe dieser Kategorie beobachteten Wirklichkeit führt. Diesem metaphysischen Säkularisierungsverständnis ist der soziologische Säkularisierungsbegriff als der angemessenere entgegenzuhalten. Danach gründet Säkularisierung auf dem "Prozeß der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung hin zu einem Pluralismus, in dem es nur noch eine Menge von partikulären gesellschaftlichen Gruppen, nicht aber mehr eine die ganze Gesellschaft umfassende und integrierende soziologische Größe gibt" 18 , oder, in der Terminologie N. Luhmanns ausgedrückt, auf dem Übergang von primär stratifikatorischer zu primär funktionaler Differenzierung. Als Bezeichnung des Kirche/Umwelt-Verhältnisses würde der Begriff so nicht mehr in Abhängigkeit vom Religionsbegriff, also unter Anwendung der Differenz religiös/religionslos definiert. Vielmehr erschiene Säkularisierung nun als Bezeichnung einer von mehreren Auswirkungen eines allgemeinen gesellschaftlichen Strukturproblems, nämlich als die Bezeichnung derjenigen Auswirkungen, die die Kirche betreffen 19.
ist nun die christliche Apologetik in verschiedenen Formen auf den Plan getreten. Man versucht, der mündig gewordenen Welt zu beweisen, daß sie ohne den Vormund 'Gott' nicht leben könne." (WEN, 357) 17 An die Stelle der "Welt" können auch Begriffe wie "die moderne Welt", "der moderne Mensch", "das technische Zeitalter" usf. treten, ohne daß dies etwas an der angesprochenen Problematik ändern würde. 11 K. Bartl, Schwerpunkte der Säkularisierungsdebatte seit Friedrich Gogarten. Ein Literaturbericht, in: VF 35, 1990,41-61, 52. Diese Verwendung des Säkularisierungsbegriffes "als allgemeinen Deutungskategorie von Prozessen sozialen oder religiösen Wandels" (Γ. Rendtorff, Von der Kirchensoziologie zur Soziologie des Christentums. Über die soziologische Funktion der "Säkularisierung", in: Ders., Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972, 116-139, 120) geht zurück auf H. Becker, Säkularisierungsprozesse, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, 1932, 283ff. 19
26*
Vgl. N. Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 21990, 225-271, bes. 227. 233.
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Auf die gesellschaftliche Situation der DDR angewandt würde das bedeuten, daß Ideologisierung und Säkularisierung entgegengesetzte, einander ausschließende Begriffe sind. Die Gesellschaft der DDR war eben gerade keine säkulare Gesellschaft. Der "Aufbau des Sozialismus" war gerade keine Säkularisierung, sondern Ideologisierung, d.h. zwangsweise Homogenisierung der Wirklichkeitswahrnehmungen und -deutungen, durchgesetzt durch Verhinderung und Bekämpfung aller Ansätze von gesellschaftlichem Pluralismus, Öffentlichkeit und Meinungsfreiheit. Bedeutet Säkularisierung Entideologisierung der politischen Kultur, so ist Ideologisierung nichts anderes als Entsäkularisierung und die Rückkehr in vorsäkulare Strukturen. Versteht man Säkularisierung in dem genannten Sinne, dann wird die weithin gängige Rede von einem "ideologisch forcierten Säkularisierungsprozeß in der DDR" 2 0 ebenso unsinnig wie die Annahme, daß die "Intention staatlicher Kirchenpolitik [...] die soziologische Wirkung des Säkularisierungsprozesses" verstärkt hätte21
B. Mündigkeit der "Welt" oder Mündigkeit der Christen? Bonhoeffer hatte, wie wir gesehen haben, der säkularisierten neuzeitlichen Welt Mündigkeit zugesprochen. Soweit ich sehe, ist von seinen Rezipienten keine Kriteriologie für die angemessene Anwendung dieser Kategorie entwickelt worden. Sie erscheint jedoch nur sinnvoll unter der Bonhoeffersehen Voraussetzung der entmündigenden Herrschaft eines religiös pervertierten Christentums. Statt dessen aber wurde 'Mündigkeit" pauschal auf die, wie man auch sagte, "moderne Welt" und den "modernen Menschen" angewandt, wobei dann als einzige Differenzierungsmöglichkeit eine grobe Quantifizierung übrigblieb, die nach dem Schema verfuhr: je "säkularer", desto "mündiger". Nun muß jedoch berücksichtigt werden, daß der Mündigkeitsbegriff innerhalb der kirchlich-theologischen Semantik in der DDR in unterschiedlichen Kontexten beheimatet war. Es war vor allem der bereits erwähnte Albrecht Schönherr, der, als Teilnehmer des Predigerseminars in Finkenwalde 1935 direkter Schüler Bonhoeffers, dessen Kategorien aufgegriffen und für die Konzeption des Weges der evange20
H. Falcke, Die unvollendete Befreiung. Die Kirchen, die Umwälzung in der DDR und die Vereinigung Deutschlands, München 1991,11. 21 A.a.O., 12. Vgl. auch die Einschätzung in einem vom DDR-Kirchenbund im Jahr 1990 gezogenen Resümee: "Säkularisierungserscheinungen, wie sie in allen Industrieländern anzutreffen sind, wurden durch gezielte weltanschauliche Beeinflussungen und durch administrative Maßnahmen verstärkt" (Bleibender Auftrag unter neuen Herausforderungen. Überlegungen zum Weg unserer Kirche in das vereinigte Deutschland. Ein Gesprächsangebot, hg. v. BEK, in: ZdZ 44, 1990, 225-229, 226.) Der Jenaer Systematiker M. Seils kam im selben Jahr in einer Analyse des "DDR-Christentum[s]" zu dem Urteil: "Wir hatten es vordergründig mit einer öffentlich indoktrinierten Säkularisation zu tun." (ders., Die Zukunftsräume offenhalten. DDR-Christentum in einer säkularisierten Gesellschaft, in: L M 29, 1990, 305-307, 305.)
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lischen Kirchen in der DDR fruchtbar gemacht hatte22. Daß es von der Kirche als normaler Zustand anzuerkennen sei, daß der moderne Mensch Gott nicht mehr brauche und ohne Gott leben könne, schrieb Schönherr unter Verweis auf Bonhoeffer bereits 194723, also in einer Phase, als sich die These von der Notwendigkeit einer erneuten, wie es damals hieß, "Durchchristlichung" der Gesellschaft breiter Zustimmung in nahezu allen kirchlichen und theologischen Lagern erfreute. In den fünfziger Jahren verwandte Schönherr den Begriff der "mündigen Welt" in Verbindung mit einer energischen Demission des Denkens in zwei Wirklichkeitsbereichen zum Instrument, mit dem er die in der Kirche weitverbreitete aggressiv-apologetische Haltung gegenüber der ihrerseits aggressiv auftretenden atheistischen Weltanschauung der SED bekämpfte 24. Zur Kritik genügt es nicht, auf das bereits oben zum Säkularismusbegriff Bonhoeffers und seinen religionstheoretischen Voraussetzungen Gesagte zu verweisen. Denn die Anwendung der Unterscheidung mündig/unmündig als heuristische Grundlage für die Steuerungsaufgaben der Kirchenleitungen in der DDR wirft noch einmal spezifische Probleme auf. Dies liegt daran, daß der Begriff von der "mündigen Welt" zwar, wie gesehen, wichtige theologiepolitische Funktionen erfüllen konnte, zur theologischen Qualifizierung der DDRGesellschaft aber nur wenig geeignet war. Geschah dies im Sinne Schönherrs dennoch, dann war der Begriff "Welt" hier faktisch auf eine bestimmte Weltanschauung reduziert, die von einer Clique von Herrschenden vertreten, als endgültig und wahr, weil wissenschaftlich, behauptet und unter Anwendung massiven politischen Drucks als einzig gültige verbreitet worden war. Daß diese Weltanschauung dabei hinsichtlich ihrer unmündig machenden Potenz jeder denkbaren "Religion" im Sinne Bonhoeffers äquivalent war, wurde übersehen. Diese Wahrnehmungsschwäche hat ihren Grund darin, daß Schönherr sich in seinen Wertungen vom Selbstverständnis der marxistisch-leninistischen Ideologie leiten ließ und damit jeder Möglichkeit verlustig ging, für die Verifizierung oder Falsifizierung der ideologischen Simulation der Wirklichkeit Kriterien zu entwickeln. Mit anderen Worten: Die Anwendung des Begriffes von der "mündigen Welt" auf die sozialistische Gesellschaft war nur möglich unter der Prämisse der Gültigkeit der herrschenden Ideologie, ja, genau genommen war sie selbst ein Teil dieser Ideologie. 22 Schönherr tat dies neben zahlreichen Publikationen vor allem in Form der aktiven Gestaltung der kirchlichen Verhältnisse. Nach dem Kriege wurde der Pfarrer zunächst Superintendent, Direktor des Predigerseminars am Dom zu Brandenburg und Generalsuperintendent. In den 60er Jahren fungierte er daneben als Leitungsmitglied des Weißenseer Arbeitskreises und Vorsitzender des Regionalausschusses der Christlichen Friedenskonferenz in der DDR. Seit 1967 war er Verwalter des Bischofsamtes für die in der DDR gelegenen Gebiete der Evang. Kirche Berlin-Brandenburg. Von 1969 bis 1981 hatte Schönherr den Vorsitz der Konferenz der Kirchenleitungen inne, von 1972 bis 1981 war er Bischof der Evang. Kirche in Berlin-Brandenburg/Region Ost. 23
A. Schönherr, Diesseitigkeit. Ein Gedenkwort für Dietrich Bonhoeffer, in: ZdZ 1,1947, 307-312.
24 Λ. Schönherr, Die Predigt der Kirche in der "mündigen" Welt. Gedanken Dietrich Bonhoeffers, in: ZdZ 9, 1955, 242-250.
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Daß die affirmative Mündigkeitserklärung der sogenannten "Welt" zu diesem Ergebnis führte, kann nicht überraschen, sondern liegt in ihrer Konsequenz. Bestand das Postulat der Mündigkeit der "Welt" bei Bonhoeffer doch, wie gesehen, gerade in der TTiese, daß die "Welt" ihre Wirklichkeit aus sich selbst zu schöpfen in der Lage sei. Unter dieser Voraussetzung aber kann der Glaube nicht mehr als wahres Wirklichkeitsverständnis, sondern bestenfalls als ethisches Movens begriffen werden und verliert so notwendig seine ideologiekritische Kompetenz. Eine Theologie aber, die sich im Anschluß an Bonhoeffer auf eine solche primär religionskritische Perspektive auf den christlichen Glauben eingelassen hatte, hatte die Chance verspielt, dem Realitätsdiktat der Partei eine eigenständige Sicht auf die Wirklichkeit, auch auf die Wirklichkeit der DDR-Gesellschaft, entgegenzustellen. Es ist jedoch wichtig, zu sehen, daß in dem Bedeutungskontinuum der Formel "Kirche im Sozialismus" stets auch ein anderes Konzept von "Mündigkeit" wirksam war, in dem die Relation von Welt, Glaube und Säkularisierung ganz anders strukturiert ist. Als Klassiker dieses Konzeptes kann Friedrich Gogartens Schrift "Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit" aus dem Jahr 1953 gelten25. Gogarten hatte unter Berufung auf Paulus eine theologische Differenzierung des Welt"-Begriffes vorgenommen. Von der Welt als guter Schöpfung Gottes, und das heißt also als einer extern konstituierten Größe, wird "diese Welt" unterschieden. Konstitutiv für diese Unterscheidung ist die Sünde der Menschen, die darin besteht, sich gegen ihren Schöpfer und gegen ihr eigenes Geschöpfsein zu verschließen. Die Welt wird auf diese Weise autonom, ist in sich selbst begründet und hat ihren Sinn in sich selbst26. Gogarten unterscheidet entsprechend zwischen dem "dieser Welt" verfallenen, weil das Geschöpf an Stelle des Schöpfers verehrenden und somit sein Sein aus der Welt empfangenden und in der Verantwortung vor ihr stehenden Menschen und dem erlösten, weil Gott verehrenden und somit sein Sein aus Gott empfangenden und in der Verantwortung vor ihm stehenden Menschen27. In einer in sich geschlossenen Welt werden die gesetzlichen Mächte der Welt, die Stoicheia, zu Gewalten, denen der sündige Mensch unterworfen ist. Der Glaube dagegen erkennt die Stoicheia als zur geschaffenen Welt gehörig und sieht sie in ihrer schöpfungsgemäßen Aufgabe, nämlich die Welt als Welt zu erhalten 28. Das Verhältnis der Glaubenden zu ihnen ist darum ebenso wie ihr Verhältnis zu Gott von Freiheit und Selbständigkeit gekennzeichnet. Aus diesem Grunde wird den Glaubenden von ,T
25 F. Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem, Stuttgart 1953. 26 F. Gogarten, a.a.O., 13. Gogartens differenziertes "Welt"-Verständnis wurde im Bereich der DDR u. a. von dem provinzsächsischen Landesbischof Werner Krusche rezipiert, vgl. Ders., Der weit-fremde Christ. Christliche Existenz in unserer Zeit, Sexau 1987, 6f. 27
F. Gogarten, a.a.O., 24-31.
* A.a.O., 13.
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Paulus das Prädikat der "Sohnschaft" zugesprochen. "Das ist darum nicht unwichtig", so Gogarten, "weil der Sohn im Unterschied zum Kind der Mündige und darum Selbständige ist. Nur wenn das beachtet wird, erkennt man, daß mit der Sohnschaft des Menschen nicht nur einer diese entsprechende Beziehung zu Gott ausgesagt wird, sondern ebenso eine seinem Sohnsein Gott gegenüber entsprechende Beziehung zur Welt." 2 9 Wichtig für unseren Zusammenhang ist die Feststellung, daß Gogarten "Mündigkeit" als Aspekt der "Sohnschaft" einführt 30. Die von ihm beobachtete Perversion der mit dem christlichen Glauben notwendig einhergehenden Säkularisierung der Welt zum Säkularismus bestünde gerade darin, daß hier der Mensch die ihm vom Christentum erschlossene Freiheit gegenüber der Welt, also einen Aspekt der Mündigkeit, in Anspruch nimmt, ohne den Glauben an die durch externe Konstitutionsweise bestimmte ontologische Struktur des Menschen und der Welt, also den anderen Aspekt der mit der Sohnschaft gegebenen Mündigkeit, zu teilen 31 . Reflexe eines solchen differenzierteren Ansatzes von "Mündigkeit" lassen sich nun auch in der ekklesiologischen Debatte in der D D R etwa seit der Gründung des Kirchenbundes beobachten. Heino Falcke 32 hatte in seinem Referat vor der Bundessynode 1972 in Dresden 33 versucht, theologische Grundlagen für eine gegenüber Eisenach 1971 neu akzentuierte Verhältnisbestimmung von Kirche und Gesellschaft in der D D R zu erarbeiten. Als Aufgangspunkt für seine Überlegungen wählte er den Freiheitsbegriff, der allerdings in charakteristischer Weise von der in Bonhoeffers Haftbriefen im Vordergrund stehenden Emanzipationssemantik abweicht. I m Unterschied zu Bonhoeffers Konzept der mündig gewordenen Welt, die ihre Freiheit durch ihre Emanzipation von der unmündig machenden Religion erlangt, wird hier die Ambivalenz aller menschlichen Selbstbefreiungsversuche betont 34 . Als theologischer Begriff erscheint Freiheit bei Falcke nicht im Sinne von Emanzipation von religiöser Bevormundung, sondern im Sinne von Befreiung von der Knechtschaft der Sünde. Dieser Freiheitsbegriff führt zu einer gänzlich anderen Beurteilung der Mündigkeitsthematik als bei Bonhoeffer und Schönherr. I m Horizont der paulinischen »A.a.O., 31. 30 Darin folgte ihm der Berliner Systematiker H.-G. Fritzsche in seinem Artikel "Mensch" in: Theologisches Lexikon, Berlin 1978,288f., bes. 289. 31
F. Gogarten, a.a.O., 137-143.
2 Falcke war von 1963 bis 1973 Direktor des Predigerseminars Gnadau, von 1973 bis 1994 Propst in Erfurt 39
H. Falcke, Christus befreit - darum Kirche für andere, in: KJB 99,1972,242-255.
34
A.a.O., 242f.
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Rechtfertigungslehre definiert Falcke den Begriff der Mündigkeit nicht unter Anwendung der Differenz Religion/Religionslosigkeit, sondern derjenigen von Knechtschaft/Befreiung. Entscheidend dabei ist, daß der Gott des Rechtfertigungsglaubens, also der Vater Jesu Christi, von dem "religiös" (im Sinne Bonhoeffers) bestimmten Gott unterschieden wird 35 . Vielmehr wird die Religion (im Sinne Bonhoeffers) gerade im Gegensatz zum Rechtfertigungsglauben zu den "Zuchtmeistern und autoritären Gewalten dieser Welt, die uns gängeln und durch Lockung und Drohung in Unmündigkeit festhalten" 36, gezählt. Der aus sich selbst heraus lebende Mensch - ob seinem Selbstverständnis nach religiös oder religionslos - ist von Lebensangst und der Sorge um Sicherheit umgetrieben. Um Lebens-Garantien zu gewinnen, schafft er sich "Götzen, die ihm Sicherheit geben sollen"37, die aber zum einen ambivalent sind und zum anderen seine Unmündigkeit stabilisieren. Mündigkeit dagegen ist für Falcke erst und ausschließlich mit der "Befreiung zur Sohnschaft" 38 erreichbar, so daß er pointiert formulieren kann: "Christus befreit zur Mündigkeit" 39 . Damit ist Mündigkeit einmal als Befreiung von Religion (im Sinne Bonhoeffers) verstanden, zugleich aber auch als Befreiung von der Knechtschaft durch Religionssubstitute, also durch funktional äquivalente Größen, die in "religionslosen" Gesellschaften an die Stelle von Religion treten und Unmündigkeit erzeugen. Die Bonhoeffersche Gleichung, wonach der Übergang von der "religiösen" zur "religionslosen Welt" gleichzusetzen sei mit dem Übergang von der "unmündigen" zur "mündig gewordenen Welt", geht also in dieser rechtfertigungstheologischen Perspektive nicht mehr auf. Mündigkeit ist bei Falcke kein Prädikat der Religionslosigkeit, sondern der Freiheit, deren Urheber Christus ist. Diese Korrektur des Mündigkeitsbegriffes hatte eminente Bedeutung für die theologisch codierte Beschreibung der gesellschaftlichen Umwelt der Kirche in der DDR. Indem Falcke eine theologische Perspektive an die Stelle der von der Partei betriebenen ideologischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft setzt und den Mündigkeitsbegriff aus einer religionskritischen in eine rechtfertigungstheologische Bestimmung überführt, kommt er zu einer genau entgegengesetzten theologischen 35 "Die Neuzeit meinte [...], der Mensch müsse die Gotteskindschaft ablegen, sich von der Autorität Gottes befreien, um mündig zu werden. Der Vater Jesu Christi aber ist kein einschüchternder Patriarch. [...] Er bringt uns nicht in neue Hörigkeit [...]. Er will nicht hörige Mitläufer" (a.a.O., 244f.). 36
A.a.O., 244.
37
Ebd.
38
Ebd.
33
Ebd.
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Bewertung der Gesellschaft der DDR als der von Schönherr vertretenen. Daß er sie in Dresden nicht offen und explizit aussprechen konnte, versteht sich von selbst. Aber auch seine vorsichtigen Formulierungen ließen für diejenigen, die Ohren hatten zu hören, an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: "Weil Gott seine Autorität dazu einsetzte, Autor unserer Freiheit und Mündigkeit zu sein, wird sich alle Autorität in Familie, Kirche und Gesellschaft daran messen lassen müssen, ob sie Autorschaft von Freiheit ist und zur Mündigkeit hilft. Als mündige Söhne stehen wir Menschen in unvertretbarer Selbstverantwortung vor Gott. Darum können wir andere Menschen nicht gleichschalten und uns zum Herrn ihrer Gewissen machen (Rö 14,4). Mündigkeit ist freilich etwas anderes als die liberalistische Privatfreiheit zu denken, zu wollen und zu tun, was ich will. Mündigkeit wagt das offene Wort, verantwortet sich vor anderen, stellt sich der Kritik, sucht das verbindliche Gespräch. Sie verfällt nicht dem Pluralismus als einer Ideologie der Unverbindlichkeit, aber sie läßt eine Vielheit von Meinungen gelten und ermutigt zu selbständigem Denken. Wenn Gott esriskiert, mündige Partner zu haben, sollten Kirche und Gesellschaft nicht weniger riskieren. ,t4°
Mit ähnlichen theologischen Begründungsfiguren haben in den 70er Jahren auch andere Vertreter der Kirche, etwa der provinzsächsische Landesbischof Werner Krusche oder der Bischof der Evangelischen Kirche des Kirchengebietes Görlitz, Hans-Joachim Fränkel, immer wieder öffentlich kirchliche Forderungen nach allgemeiner Glaubens- und Gewissensfreiheit und der Möglichkeit öffentlicher Kommunikation in der DDR-Gesellschaft erhoben. Denn im Anschluß an die eben skizzierten Modifikationen des Mündigkeitsbegriffes mußte sich die Kirche zwar in erster Linie selbst als mündig begreifen. Die mündige und darum ihren Auftrag in eigenständiger Weise bestimmende Kirche mußte diesen Auftrag dann aber genau darin sehen, diese ihre Mündigkeit als in Christus konstituierte Freiheit allen Menschen zu bezeugen und in der Konsequenz alle dieser Freiheit und ihren Konsequenzen entsprechenden Sachverhalte zu unterstützen, sich allen ihr widersprechenden Sachverhalten dagegen zu widersetzen. Die Kirche betrachtete mit anderen Worten ihre eigene Mündigkeit nicht als Privileg, sondern als allgemeine Grundlage des menschlichen Zusammenlebens und somit als inhaltliches Kriterium für ihr eigenes gesellschaftliches Engagement. Der Weg der "Kirche im Sozialismus" war somit, aus der Perspektive des Mündigkeitsbegriffes gesehen, der Weg von einer der "Welt" affirmativ Mündigkeit zusprechenden Kirche, die auf diese Weise die unfruchtbare Konfrontation von "Christentum" und "Sozialismus" zu überwinden gesucht hatte, hin zu einer Kirche, die sich innerhalb einer ideologischen und damit Mündigkeit erheblich begrenzenden Gesellschaft aufgrund ihrer Botschaft des Evangeliums zum Anwalt der Mündigkeit der Menschen und d.h. zum Anwalt mündiger Verhältnisse machte.
40
A.a.O., 245.
"Beitrag zur Klärung der Grundfragen christlicher Existenz"? Zur Rolle der Ost-CDU an den Theologischen Fakultäten/Sektionen der DDR
Von Peter Maser
Ich möchte mich auf die Rolle der Ost-CDU an den Theologischen Fakultäten/Sektionen Theologie konzentrieren, um damit eine der vergleichsweise noch wenig bekannten Schnittstellen zwischen Kirche und sozialistischer Gesellschaft auszuleuchten, die genauerer Forschung sicherlich wert sind. Ich tue das um so lieber, wenn ich beobachte, daß eine der großen deutschen Tageszeitungen, nämlich die Frankfurter Allgemeine Zeitung, nun schon zum zweitenmal einem der fuhrenden Ideologen der Ost-CDU, Günther Wirth, ihre Seiten für verharmlosende Rückblicke eingeräumt hat1. Ganz so harmonisch und gutwillig waren die Beziehungen zwischen den Kadern der Ost-CDU auf der einen Seite und den christlichen Bürgern, insbesondere aber den Kirchenvertretern und Theologen, nun doch nicht, wie Günther Wirth heute glauben machen möchte. Ende der vierziger Jahre war die Junge Union - auch in der SBZ/DDR - besonders an den Hochschulen und Universitäten aktiv. An einigen Universitäten konnten CDU- und LDP-Hochschulgruppen bei den Studentenratswahlen im Wintersemester 1948/49 sogar Mehrheiten bis zu 70 Prozent erreichen 2. In der SBZ und in Ostberlin ergriffen SMAD und SED daraufhin massive Repressionsmaßnahmen gegen die Hochschulgruppen der CDU und LDP, denen Karl Wilhelm Fricke bescheinigt, sie seien "geistige und politische Oppositions- und Widerstandszentren im akademischen Bereich gewesen"3. Ab Beginn der fünfziger Jahre mußten die Hochschulgruppen der CDU in der DDR ihre Tätigkeit dann nach und nach einstellen und deren Mitglieder in die Ortsgruppen umregistrieren. 1955 erklärte Günter Wirth, damals Sekretär der Parteileitung in Berlin und bis zum Sturz der SED-Diktatur für 1 Vgl. G. Wirth: Gegenkultur aus bildungsbürgerlichem Geist. Auch jenseits der marxistischen Dissidenten gab es staatsferne intellektuelle Inseln in der DDR, in: FAZ Nr. 78,1. April 1996 ("Bilder und Zeiten"); ders.: Auf je eigene Weise. Zur Kaderschulung in der ostdeutschen [sie!] CDU. Statt einer Rezension (des Buches von M. Rißmann: Kaderschulung in der Ost-CDU 1949-1971. Zur geistigen Formierung einer Blockpartei = Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 27, Düsseldorf 1995), in: FAZ Nr. 234,9. Oktober 1995, S. 12. 2 Vgl. M. Richter. Die Ost-CDU 1948-1952. Zwischen Widerstand und Gleichschaltung = Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 19, Düsseldorf 1991, 2. Aufl., S. 80f. 3
K.W. Fricke: Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984, S.60.
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ideologische Grundsatzfragen in der Ost-CDU zuständig4, "die Christlich-Demokratische Union [sei] keine Volkspartei" mehr. Sie müsse sich vielmehr als "kleinbürgerlich-demokratische Partei" begreifen und deshalb die Führungsrolle der SED auch durch den Rückzug aus den Betrieben, Verwaltungen und Hochschulen anerkennen5. Spätestens also seit Beginn der fünfziger Jahre war die Ost-CDU nur noch ein Faktor - und gewiß nicht der einflußreichste - unter mehreren, die auf die Theologischen Fakultäten der staatlichen Universitäten in der DDR einwirkten. Zu diesen Einflußfaktoren, die in einem komplizierten Wechselspiel von Gemeinsamkeiten und oft unüberbrückbaren Gegensätzen die Wirklichkeit der Fakultäten bestimmten, gehörten die "zuständigen" Kirchenleitungen, dann die Professoren- und Assistentenschaft, die Studenten, die sich an den Theologischen Fakultäten noch bis weit in die siebziger Jahre hinein eigenständige Organisationsstrukturen (z.B. der "Zehnerrat" in Halle) erhalten konnten, die verschiedenen Ebenen der Universitätsleitung, der FDGB, die FDJ und im Hintergrund selbstverständlich stets gegenwärtig und aktiv die SED. Für die Ost-CDU jedoch war in diesem Beziehungsgeflecht kein fester Platz mehr vorbehalten. Vieles hing davon ab, welchen persönlichen Einfluß die "Unionsfreunde" innerhalb der Fakultät besaßen und in welchem Ausmaß sie bereit waren, diesen für ihre Partei einzusetzen. Dabei wird man davon ausgehen dürfen, daß die Generation der CDU-Mitglieder, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit an die Theologischen Fakultäten in der SBZ/DDR kamen, in aller Regel noch über einen größeren Einfluß verfügte und vielleicht auch deshalb eine größere Standfestigkeit besaß als die jüngeren Kollegen, die dann auch zu einem erschreckend großen Teil erfolgreich vom Ministerium für den Staatssicherheitsdienst der DDR angeworben wurden 6. In der Aktenüberlieferung der Abt. Kirchenfragen beim Hauptvorstand der OstCDU spielen die Probleme der Theologischen Fakultäten und Sektionen eine erstaunlich untergeordnete Rolle. Insgesamt etwa anderthalb große Aktenordner mehr ist aus rund vierzig Jahren nicht übriggeblieben! Zwei Drittel dieses Materials 4 Zu Wirth, 1929 in Sachsen geboren, der neben hohen Parteiämtem vor allem als Hg. des "Evangelischen Pfarrerblatts" und des "Standpunkts" hervortrat, vgl. J. Cerny (Hg.): Wer war wer - DDR. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1992, 2. Aufl., S. 490f. 3 Vgl. G. Wirth: Über den Charakter der Christlich-Demokratischen Union, in: Zehn Jahre ChristlichDemokratische Union Deutschlands. Festgabe, Berlin 1955, S. 36-39. 6 Vgl. G. Besier. "Pfarrer, Christen und Katholiken". Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR = Hist.-Theolog. Studien zum 19. und 20. Jh. (Quellen) 1, Neukirchen 1991, 2. Aufl., Register; ders.: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung, München 1993, S. 381-418; D. Linke: Theologiestudenten der Humboldt-Universität. Zwischen Hörsaal und Anklagebank = Hist.Theolog. Studien zum 19. und 20. Jh (Quellen) 3, Neukirchen 1994, S. 450-511. In der Öffentlichkeit sind noch längst nicht alle Fälle einer IM-Tätigkeit von theologischen Hochschullehrern hinlänglich bekannt In einzelnen Fällen wird ein sicheres Urteil auch erst abzugeben sein, wenn die einschlägigen Akten des KGB öffentlich zugänglich geworden sind.
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sind allein der Humboldt-Universität Berlin zuzuordnen, an deren Theologischer Fakultät die Ost-CDU vergleichsweise stark vertreten war und in ständiger Auseinandersetzung mit dem SED-orientierten Flügel um den Systematiker Hanfried Müller stand. Einen ersten größeren Einsatz leisteten die "Unionsfreunde" unter den Theologieprofessoren im Jahr 1952, als Ministerpräsident Otto Grotewohl die Theologischen Fakultäten als verfassungswidrig bezeichnete und vorschlug, eine "theologische Akademie in der DDR" als Ersatz zu gründen7. Neben zahlreichen kirchlichen Persönlichkeiten meldeten sich auch Mitglieder der Ost-CDU in dieser Angelegenheit von grundsätzlicher Bedeutung durchaus eindrücklich und kritisch zu Wort 8 . Bereits am 28.8.1952 verbreitete die Hochschulgruppe Greifswald eine Stellungnahme9, in der sich bereits alle Argumente finden, die vor dem Hintergrund der deutschen Universitätsgeschichte für die fortdauernde Einbindung der Theologen in die staatliche akademische Ausbildung sprechen. Wenige Tage später äußerte sich die Hochschulgruppe Rostock in ganz ähnlicher Weise10. Am 10.9.1952 lud dann Günther Wirth einige CDU-Studenten zur Besprechung der Lage ein. Dieses Schreiben ist auch deshalb interessant, weil es zeigt, mit welcher Langzeitperspektive die Ost-CDU-Kader im Bereich der Theologischen Fakultäten in Position gebracht wurden. Als Teilnehmer vorgesehen waren u.a. die späteren Berliner Professoren Hans-Georg Fritzsche (IM "Fritz") und Hans Dieter Döpmann, der spätere Jenenser Praktologe Klaus-Peter Hertzsch, der spätere Hallenser Neutestamentier Traugott Holtz (IMV "Prof. Baum") sowie Wieland Scharnbeck (damals FDJ-Sekretär der Berliner Fakultät), Bernt Satlow (Halle) und Friederun Milde, verh. Fessen (spätere Hauptreferentin für Theologie im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen, Gl "Irene"). In dem Protokoll der Beratung, bei der Herbert Trebs, der spätere Berliner Ökumeniker (Gl "Anton"), die Parteüeitung vertrat 11, wurde festgehalten, daß die "anwesenden Theologiestudenten 7 Vgl. den Brief Grotewohls an den Berliner Bischof Otto Dibelius vom 14.8.1952, in: Kirchliches Jahrbuch 79,1953, S. 229-235. I Nur der thüringische Oberkirchenrat Gerhard Lötz (als I M "Karl" seit den frühen fünfziger Jahren tätig) wußte am 9.8.1952 dem Ost-CDU-Chef Gotting zu berichten: "Die Trennung der theologischen Fakultäten würde von der Kirche nicht behindert werden, wenn ein Ausbildungsstab für die Kirche gewährleistet werden würde. Er denke hierbei an eine evangelische Universität zur Ausbildung von Pfarrern und besonderen Mitarbeitern der Kirche, wie Katecheten und Schwestern, Vorbild sei ihm hierbei die Katholische Universität in Polen." Vgl. F. Hartweg (Hg.): SED und Kirche. Eine Dokumentation ihrer Beziehungen 1, bearb. von H. Heise = Hist.-Theol. Studien zum 19. und 20. Jh. (Quellen) 2/1, Neukirchen 1995, S. 79. 9
ACDP (= Archiv der Christlich-Demokratischen Politik in Sankt Augustin) VII-013 Nr. 1808.
10
II
Schreiben vom 3.9.1952; ACDP VII-013 Nr. 1808.
Trebs machte sich Anfang Dezember 1952 auch an Prof. Martin Fischer von der Kirchlichen Hochschule in Berlin-Zehlendorf heran, um dessen Meinung zur "Frage der kirchlichen Hochschulen" zu
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[...] nur für Staatsfakultäten und gegen kirchliche Akademien sich zu äußern beabsichtigten"12. Auch Johannes Leipoldt, der renommierte und fortschrittliche Leipziger Neutestamentler, meldete sich mit mehreren Briefen an den Generalsekretär der Ost-CDU, Gerald Götting, zu Wort 13 . Direkt an Ministerpräsident Grotewohl schrieb der Leipziger Theologieprofessor Emil Fuchs, der die Theologischen Fakultäten als "Forschungsstätten über Wesen und Bedeutung der Religion im Ganzen des gesellschaftlichen Lebens" den Universitäten erhalten wissen wollte 14 . In einer bemerkenswert gründlichen und würdigen Denkschrift "über die Bedeutung der Evangelischtheologischen Fakultäten im Organismus der Universitäten" vom Oktober 1952 faßte schließlich die Leipziger Theologische Fakultät nochmals alle Argumente gegen die Schließung der Fakultäten zusammen15. Aus Berlin wurden am 13.11.1952 sehr scharfmacherische "Bemerkungen zur Neuregelung des kirchlichen Ausbüdungswesens" vorgelegt, die darauf abzielten, "die Universitäten von den von den theologischen Fakultäten ausgehenden schädlichen Einflüssen" zu befreien, zugleich aber auch sicherstellen sollten, "daß nicht die nunmehrigen kirchlichen Akademien oder wie immer sie genannt werden, Herde der Zersetzung werden" 16. Auch Hans-Hinrich Jenssen, damals Praktischer Theologe in Greifswald, wurde zu einer gutachterlichen Äußerung aufgefordert 17, allerdings läßt sich nicht mehr feststellen, ob der progressive Theologe diesem Wunsch entsprochen hat. Möglicherweise kam es dazu schon nicht mehr, weil die SED-Führung inzwischen erkannt hatte, daß die Ausgliederung der Theologischen Fakultäten aus den staatlichen Universitäten das Ende vieler Manipulationsmöglichkeiten bedeutet hätte. Die kircheneigenen Ausbildungseinrichtungen auf Fakultätsniveau in Berlin, Leipzig und Naumburg/S. boten hierfür schon einigen Anschauungsunterricht 18. Spätestens im erfahren. Fischer aber verhielt sich wenig kooperativ, so daß der Berichterstatter zusammenfaßte: "Er (= Martin Fischer) würde schwerlich bereit sein, unmittelbar in einer Weise aufzutreten, wie sie unsere Partei als notwendig betrachtet." Vgl. Aktenvermerk Trebs vom 6.12.1952; ACDP VII-013 Nr. 1808. 12
ACDP VII-013 Nr. 1754 und 1808.
13
Briefe vom 11. und 15.9.1952; ACDP VII-013 Nr. 1808.
14
Brief vom 27.8.1952; IfGA ZPA IV 2/14/176.
15
ACDP VII-013 Nr. 1808.
16
ADCP VII-013 Nr. 1808. Das sechsseitige Schreiben trägt keine Unterschrift. Es könnte schon von Hanfried Müller (IM "Meier") stammen, da hier einige Vorstellungen zur Organisation der theologischen Ausbildung auftauchen, die der radikallinke Theologe auch später vertrat 17
11
Vgl. Schreiben Dr. Alisch an Jenssen vom 26.11.1952; ACDP VII-013 Nr. 1808.
Das Wirken der der Ost-CDU angehörigen Dozenten in den kirchlichen Hochschulen, die dann gelegentlich auch an die staatlichen Fakultäten überwechseln durften, kann hier nicht näher untersucht werden. Das ACDP in der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt Augustin scheint dazu kaum Material zu enthalten.
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Frühjahr 1953 wurde deshalb die ganze Angelegenheit stillschweigend ad acta gelegt, ohne daß sich etwas grundsätzlich verändert hätte19. Insgesamt gesehen hat die Ost-CDU in dieser Überlebensfrage für die Theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten also weder im akademischen noch im kirchlichen Bereich Boden gewinnen können20, zumal ihre Aktivitäten, die sich heute aus den Archivfunden heraus nachzeichnen lassen, damals in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden konnten. Auch in den folgenden Jahren, in denen allmählich immer mehr theologische Hochschullehrer in der DDR ihre Karriere der Ost-CDU verdankten, spielte die Parteizugehörigkeit bei den Kollegen und bei der Studentenschaft in den Theologischen Fakultäten kaum eine Rolle. Entscheidend für das allgemeine Urteil waren vielmehr die persönliche Integrität und die Leistung in Lehre und Forschung des einzelnen Hochschullehrers. Selbstverständlich wußte man in vielen Fällen, daß der Betreffende ohne die diskrete Unterstützung seiner Partei sich kaum an der Universität hätte halten können. Bei anderen wunderte man sich, daß sie glaubten, es überhaupt nötig zu haben, ihre Laufbahn über die Ost-CDU abzusichern. Unverständlich groß war der Anteil an der Zahl dieser wegen ihrer Leistungen respektierten "Unionsfreunde", die sich als I M von der Staatssicherheit verpflichten und zumindest teilweise auch zu ganz ordinären Spitzeldiensten mißbrauchen ließen. Das volle Ausmaß der personalpolitischen Aktionen hinter den Kulissen war aber wahrscheinlich überhaupt nur den zuständigen Parteifunktionären der Ost-CDU und natürlich auch der SED bekannt. Von besonderem Interesse sind hierfür die Akten der Abt. Kirchenfragen beim Hauptvorstand der Ost-CDU zur Theologischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität. Sie zeichnen ein ungeschminktes Bild von den vielfach einander kontrovers gegenüberstehenden Interessen, die die Berliner Fakultät als in sich zerrissen erscheinen ließen. Der Kampf zwischen dem SED-Flügel um den Systematiker Hanfried Müller und seine Frau, die Kirchenhistorikerin Rosemarie Müller-Streisand, und der auf die Ost-CDU hin orientierten Gruppe beschäftigte die Dienststellen des Staatsapparates, der SED und eben auch der Ost-CDU über Jahre hin 21 . 1967 eskalierten die Konflikte, von wilden Denunziationen hin und her aufgeheizt, in dem Vorschlag des Ehepaars Müller, die Fakultät zu spalten: Die von der Mehrheit vertretene "liberale Theologie" sollte sich in einem 'Theologischen Institut" organisieren, während für die Müllers ein "Ökumenisches Institut [...] als eine Art Gegen-Bossey", also als eine Gründung gegen das 19
Vgl. Besier, SED-Staat und Kirche, S. 381-385.
20 Dazu trug selbstverständlich auch der alles überschattende Kirchenkampf 1953 bei, der beispielsweise bewirkte, daß im repräsentativen Kirchlichen Jahrbuch 80,1953, das Problem der Theologischen Fakultäten nicht mehr aufgegriffen wurde. 21 Vgl. dazu Linke, Theologiestudenten der Humboldt-Universität, der allerdings die Akten der OstCDU nicht eingesehen hat
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Ökumenische Institut des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf, errichtet werden sollte. Weiter verlangte das Ehepaar Müller: "Da die Mitarbeit in diesem Institut eine besondere kaderpolitische Qualifikation erfordere, sollte die Auswahl der Mitarbeiter nur nach vorheriger Abstimmung mit dem ZK [= der SED!], dem Staatssekretariat [für Kirchenfragen] und der Ost-CDU erfolgen. Nach dieser Abstimmung sollten diese Vorschläge dann dem Rat der Fakultät zur Beschlußfassung vorgelegt werden." 22 Dieser niemals umgesetzte Plan war so dreist, daß die Müllers, die sonst stets gegen die Ost-CDU operierten 23, in diesem Fall offensichtlich der Meinung waren, hier müsse auch der Parteivorstand der Ost-CDU durch Information und die Perspektive eingebunden werden, daß damit auch für einige von der Ost-CDU favorisierte Nachwuchswissenschaftler verbesserte Aufstiegschancen geschaffen werden könnten. An der Umwandlung der Theologischen Fakultäten in Sektionen Theologie ab 1971 war die Abt. Kirchenfragen beim Hauptvorstand des Ost-CDU zwar informell beteiligt 24 , konnte aber kaum noch Einfluß auf die Ausgestaltung dieses Prozesses nehmen, durch den die universitäre Theologie in der DDR auf völlig neue Grundlagen gestellt wurde. Welche Rolle die SED künftig der Ost-CDU in den Sektionen Theologie zuzubilligen bereit war, hat Wulf Trende von der Abt. Kirchenfragen in einem Aktenvermerk vom 28.1.1972 festgehalten. Danach stellte im Zusammenhang mit einer von der Ost-CDU für Theologiestudenten geplanten Tagung in Grünheide bei Berlin der im Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen für die Sektionen Theologie zuständige Referent, Jürgen Janott, unmißverständlich klar: "Es sei nicht Aufgabe der CDU, gegenüber Theologiestudenten eine Erziehungsfunktion auszuüben. Diese obliege einzig dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen."25 Schwierigkeiten mit den Seminaren für Theologiestudenten zeichneten sich für die Ost-CDU offensichtlich jedoch schon 1970 ab. In einem "streng vertraulichen" Aktenvermerk notierte Gerhard Quast, daß Oberkonsistorialrat Manfred Stolpe der "Blockpartei" die kirchlichen Heime in Bad Saarow oder Buckow zur Abhaltung ihrer Veranstaltungen angeboten und hin22 Aktenvermerk des Leiters der Abt. Kirchenfragen beim Hauptvorstand der Ost-CDU, Gerhard Quast, vom 26.9.1967, S. 2f.; ACDP VII-013 Nr. 2113. Vgl. dazu auch den Brief Hanfried Müllers an Quast vom 10.10.1967; ACDP VII-013 Nr. 2113. 23 Vgl. Aktenvermerk G. Quast vom 11.12.1969, S. 2f.: "Der CDU warf er [= H. Müller] weiter vor, sie würde eine Partei-Theologie pflegen, die in ihrem Wesen katholisch sei. Nur auf evangelische Theologie gestützt, gäbe es auch keine CDU mehr. Im übrigen verglich H. Müller "die CDU mit dem spätantiken Mithras-Kult", während der Protestantismus der "griechischen Philosophie" und der Katholizismus dem "griechischen Kultglauben" zu vergleichen sei. Die CDU-Mitglieder handelten "wie die Deutschen Christen in der Nazizeit". Ihre immer erneuerte Beschwörung der "gemeinsamen humanistischen Verantwortung" laufe auf "ideologische Koexistenz" hinaus. ACDP VII-013 Nr. 2113. 24
Vgl. die Schriftstücke ACDP VII-013 Nr. 3053.
25
ACDP VII-013 Nr. 2121.
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zugefügt habe: "Mit Kohlen seien sie auch noch für den nächsten Winter reichlich versorgt." 26 Ab denfrühen siebziger Jahren schwand der Einfluß der Ost-CDU auf die Sektionen Theologie immer stärker. Wollte sie direkt auf die Studentenschaft einwirken, konnte das eigentlich nur noch durch persönliche Kontakte der Assistenten und Hochschullehrer geschehen, die der Partei angehörten. In Einzelfällen mag auch noch eine Kontaktaufnahme über die sogenannten "Arbeitsgruppen Christliche Kreise" der Nationalen Front möglich gewesen sein, die sich auf regionaler Ebene auch um Theologiestudenten und junge Nachwuchswissenschaftler bemühten. Ansonsten mußte sich die Ost-CDU weithin aber darauf beschränken, indirekt auf die Sektionen Theologie einzuwirken, bei denen der Spruch umzugehen begann: "Wer etwas werden will, sollte sich nicht gerade mit der CDU verbünden." Eine gewisse Bedeutung erlangte in diesem Zusammenhang die ab 1972 monatlich erscheinende Zeitschrift "Standpunkt", die von Günther Wirth herausgegeben wurde. Dieses Blatt hatte zunächst erhebliche Startschwierigkeiten. In einem Brief vom 31.10.1972 an Wolfgang Heyl, den stellvertretenden Vorsitzenden der OstCDU, beschwerte sich Wirth beispielsweise: "Ich wollte jedenfalls noch einmal modifizieren, daß die Vorbereitung des STANDPUNKT so ungefähr das Dilettantischste ist, an dem ich mich je beteiligen mußte - und das, obwohl meine (kaum veränderten) Vorschläge seit anderthalb Jahren (z.T. noch länger) vorliegen." 27 Trotz dieser offensichtlich mühseligen Anfänge eroberte sich der "Standpunkt" allmählich eine gewisse Position, gab es in ihm neben vielen Beiträgen, die streng an der "Parteilinie" orientiert waren, auch manches zu lesen, was so in der DDREinheitspresse sonst nicht· zu lesen war. Die gewisse Liberalität, die Wirth seinem Blatt zu geben vermochte, veranlaßte darüber hinaus allmählich auch immer mehr Universitätstheologen und Kirchenvertreter dazu, zumindest gelegentlich dem "Standpunkt" als Autor zur Verfügung zu stehen. In welchem Ausmaß die Zeitschrift auch von der Studentenschaft gelesen wurde, läßt sich schwer einschätzen. Allzu groß dürften die Einflußmöglichkeiten der Ost-CDU dadurch jedoch nicht gewesen sein. Tiefergehend, wenn auch noch schlechter zu quantifizieren, war die Einflußnahme, die die Ost-CDU über die Produktion ihrer parteieigenen Verlage, den Berliner Union Verlag 28 und den Leipziger Verlag Köhler & Amelang, versuchte. 26 Vgl. P. Maser/M. Wilke: Die Gründung des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR = Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat 7/1994, Dokument 30 (ACDP VII-013 Nr. 2164). 27
ACDP VII-010 Nr. 3338.
21
Die Lizenz des Union Verlages lautete auf "Politische Literatur der CDU und Konfessionelle Literatur". 1963 strebte der Verlag eine neue Lizenz für "Politisches Schrifttum, Belletristik, Kunstliteratur und Religions-Philosophisches Schrifttum" an. Vgl. Schreiben Dr. Faensen an Gotting vom 12.9.1963; ACDP VII-010 Nr. 3276. 27 Timmermann
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Hierzu bedarf es allerdings noch eingehender Untersuchungen. Im Programm dieser Verlage spielten solche Titel eine erhebliche Rolle, die dazu geeignet schienen, die christlichen Bürger im sozialistischen Staat zu beheimaten. So erbat Gerald Gotting beispielsweise im August 1979 vom ZK-Mitglied Kurt Hager die Genehmigung zur Herausgabe eines "repräsentativen Bildbandes über 'Christliche Kunst in der DDR'" und begründete seinen Wunsch folgendermaßen: "Auf wissenschaftliche und zugleich massenwirksame Art würde dieses Buch im In- und Ausland zeigen, über welch reiche humanistische Traditionen unsere Republik verfügt und wie auch in dieser Hinsicht die DDR das Werk aller ihrer Bürger ist. Das wiederum würde politisch die Einsicht erhärten, die Sie selbst kürzlich mit der Feststellung kennzeichneten, 'daß ein dem tätigen Humanismus verpflichteter christlicher Glaube und staatsbürgerliche Verantwortung für den Sozialismus durchaus zu vereinbaren sind'." 2 9 Der gewünschte Band erschien dann 1982 tatsächlich in prächtiger, oft großformatiger Aufmachung unter dem Titel "Christliche Kunst im Kulturerbe der Deutschen Demokratischen Republik" im Union Verlag Berlin. Die Modifikationen, die das Projekt in der Zwischenzeit erfahren hatte, deuten auch auf die Begrenzungen hin, denen die Ost-CDU durch die SED-Führung bei ihrer Publikationstätigkeit unterworfen war. Sehr viel unmittelbarer auf die theologische Ausbildung wirkte das seit 1970 vorbereitete, dreibändige "Handbuch der Praktischen Theologie", das 1975-1978 in der kircheneigenen Evangelischen Verlagsanstalt in Berlin erschien. Die Herausgeber dieses grundlegenden Lehrbuches gehörten keineswegs alle der Ost-CDU an, um so interessanter ist es, in welchem Umfang die Abt. Kirchenfragen der Ost-CDU versuchte, auf den Mitarbeiterkreis und die Textgestaltung einzuwirken 30. Zur Kombination von Hochschullehrern an den Sektionen Theologie und kirchlichen Vertretern schrieb der Berliner Praktische Theologe und "Unionsfreund" HansHinrich Jenssen an den zuständigen Referenten Schneider im Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen mit Ablichtung an die Ost-CDU beispielsweise: "Da im Herausgeberkollektiv acht Universitätstheologen von zum größten Teil ausgeprägt progressiver Profilierung neben nur drei Theologen, die von kirchlichen Ausbildungsstätten kommen, mitwirken und zudem von Anfang an eine enge Fühlungnahme mit Ihnen, bzw. dem Ministerium praktiziert und auch von allen Beteiligten anerkannt wird, ist nicht zu befürchten, daß die Konzeption des Lehrbuches durch diese Erweiterung des Herausgeberkollektivs über den Kreis der Universitäts29
Brief Gottings an Kurt Hager vom 27.8.1979; ACDP VII-010 Nr. 3262.
30 Vgl. dazu das ausführliche Schreiben von Hans-Hinrich Jenssen vom Januar 1970; ACDP VII-013 Nr. 2113 : "Die DDR-spezifische Situation sollte ausgeprägte Berücksichtigung finden. So müßten z.B. in den entsprechenden Abschnitten der Poimenik, Katechetik, Kybernetik, Pastoraltheologie usw. konkrete Verweise auf das Familiengesetzbuch, das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem, das Gesetzbuch der Arbeit, das Sozialversicherungsrecht usw. erfolgen. Wo es notwendig ist, müßte auch eine Auseinandersetzung mit Versuchen ideologischer Diversion seitens des Imperialismus erfolgen."
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theologen hinaus negativ beeinflußt wird, zumal die drei beteiligten Theologen der kirchlichen Ausbildungsstätten als durchaus aufgeschlossen gelten dürfen." 31 In einem "Gespräch mit Ufrd. [= Unionsfreund] Dr. Kretzschmar" am 1.8.1973 wurde dann darauf gedrungen, daß dieser u.a. die "terminologische Trennung von marxistisch-leninistischer Begrifflichkeit und theologischen Termini" beachte. Außerdem sollte das ganze Manuskript Kretzschmars mit dem Ziel überarbeitet werden, "die Aussagen gegen Mißverständnisse zu schützen". Schließlich solle das Literaturverzeichnis "auf die Aufführung von in der DDR zugänglicher Literatur beschränkt" werden 32. In der gleichen Richtung war auch das mit einer Auflage von 8.000 Exemplaren geplante "Sachwörterbuch THEOLOGISCHE GRUNDBEGRIFFE (Arbeitstitel)" angelegt, über das der Hauptvorstand der Ost-CDU am 25.5.1971 beschloß. Dieses sollte den Zweck erfüllen, "Erkenntnishilfe zu leisten, wie sich die Kirchen in unserer Republik 'als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft' ... in der sozialistischen Gesellschaft der DDR bewähren". Weiter beschloß die Führung der Ost-CDU zu dem neuen Werk: "Informationen über theologische Tendenzen in kapitalistischen Ländern, vor allem in Westdeutschland, sollen deutlich machen, in welchen theologischen Konzeptionen Einflüsse der imperialistischen Ideologie festzustellen sind." 33 Das "Theologische Lexikon. Herausgegeben von Hans-Hinrich Jennssen und Herbert Trebs in Verbindung mit Johannes Althausen, Günter Baumbach, Hans-Dieter Döpmann, Hans-Georg Fritzsche, Joachim Rohde, Wulf Trende und Ludwig Wächter" erschien 1978 im Union Verlag Berlin. Im Vorwort erklärten die Herausgeber: "Auf modische Tendenzen einer von der spätbürgerlichen Ideologie beeinflußten Theologie, die erfahrungsgemäß nur kurzlebig sind und vor allem keinen echten Beitrag zur Klärung der Grundfragen christlicher Existenz leisten, wurde nicht eingegangen. Der theologische Modernismus, jene durch Anpassung von Theologie und Kirche an die politisch-sozialen und geistig-kulturellen Verhältnisse im Spätkapitalismus geprägte Strömung in Theologie und Kirche, besitzt in der DDR keinen Nährboden und hatte im Kreis der Mitarbeiter dieses Nachschlagewerkes keinen Vertreter." 34 Dieser Selbsteinschätzung der Mitarbeiter am "Theologischen Lexikon", das 1981 noch eine zweite Auflage erlebte, braucht nichts hinzugefügt zu werden. Wenn man die Rolle der Ost-CDU an den staatlichen Theologischen Fakultäten bzw. Sektionen Theologie in der DDR umfassend würdigen wollte, müßte natürlich 31
Brief vom 6.1.1970; ACDP VII-013 Nr. 2113.
32
Vgl. Aktenvermerk vom 1.8.1973; ACDP VII-013 Nr. 3053.
33
Vgl. den Beschluß desHV. Sekretariat vom 25.5.1971 betr. UNION VERLAG (VOB); ACDP VII011 Nr. 652, S. 4. 34
27*
A.a.O., S. 5.
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auch noch auf die Bedeutung genauer eingegangen werden, die "Unionsfreunde" aus der Hochschullehrerschaft im Sinne ihrer Partei bei der Vermittlung bestimmter theologischer Strömungen gespielt haben. Hier besteht aber noch erheblicher Forschungsbedarf, um die schleichenden Verformungen und Verfälschungen klar herausarbeiten zu können, die dabei stattfanden. Besonderes Interesse hatte die OstCDU beispielsweise an einer DDR-spezifischen Rezeption Karl Barths, Dietrich Bonhoeffers und Albert Schweitzers sowie der Theologischen Erklärung der Barmer Bekenntnis-Synode von 1934 und des "Darmstädter Wortes" von 1947. Mit zahlreichen Veröffentlichungen und Symposien versuchte die Ost-CDU hier eine eigenständige "Erberezeption" zu initiieren. Auch der gesamten sog. "Ökumenischen Theologie" kam hier eine Schlüsselfunktion zu, sollte diese doch in besonderem Maße an der ideologischen Gleichschaltung der Theologie und der Theologenausbildung in der DDR mitwirken. Gerade die "Ökumenische Theologie" in der DDR zeigte, wie weit die Ost-CDU zu gehen bereit war, wenn es um die spezifische Förderung und Durchsetzung der von der SED vorgegebenen ideologischen Hauptlinie ging.
M
Geteilter Friede - Anmerkungen zur Friedensbewegung in den 80er Jahren" 1 Von Armin Boyens
Die Friedensbewegung als einheitliche Größe hat es nie gegeben. Die Enquetekommission des Deutschen Bundestags zur "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"2 spricht darum in ihrem Bericht vom 31.5.1994 von "Friedensbewegungen" im Plural. Darüber hinaus fordert sie: "Zur ausführlichen Klärung der Rolle der westlichen Friedensbewegungen bei der Auseinandersetzungen um die atomare Hochrüstung, ihrer Beiträge zur Unterstützung oppositioneller Gruppierungen in der DDR aber auch des Grades ihrer Unterwanderung durch die kommunistischen Parteien bedarf es weitergehender Untersuchungen auf der Basis der nun zugänglichen Archivalien"3. Eine solche Untersuchung wird hiermit vorgelegt. Sie wertet Akten der West- und Verkehrsabteilung des ZK der SED aber auch des Staatssekretariats für Kirchenfragen der ehemaligen DDR aus. Diese belegen vor allem Eines: die permanenten Versuche der SED, die Friedensbewegungen im Westen für die Destabilisierung der Bundesrepublik und damit für die eigene Deutschlandpolitik einzuspannen.
A. Der lange Vorlauf Die Versuche der SED waren erfolgreich. Die Erklärung für diesen Erfolg: - eine jahrelange "Maulwurfstätigkeit" der SED in der Bundesrepublik 4. Gesteuert wurde diese von der Westkommission des ZK der SED. Ihre "Maulwürfe" waren die sogenannten Reisekader, die seit 1960 überall in der Bundesrepublik fleißig wühlten. Ihr bevorzugtes Terrain: SPD, Gewerkschaften, 1 Die vollständige Fassung dieser Studie ist abgedruckt in der Zeitschrift für "Kirchlichen Zeitgeschichte" (KZG) Heft2/1995, Göttingen 1996. 2
Bundestagsdrucksache 12/7820 v.31.5.1994 S.138 ff.
3
Ebd. S.147 Sp.2.
4 Joachim Staadt, "Die geheinre Westpolitik der SED 1960-1970 - Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation". Berlin 1993 S.31.
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Betriebe, Jusos, studentische Organisationen der SPD wie SHB und SDS. Seit 1969 waren ständig 2000 Reisekader in der Bundesrepublik unterwegs, um zu agitieren 5 . Diesen Reisekadern der SED gelang es, in weiten Teilen der bundesdeutschen Öffentlichkeit ein gewandeltes Bild der DDR zu erzeugen. Die "roten Missionare" retuschierten die diktatorischen Züge der DDR und verstärkten die Umrisse einer modernen sozial-staatlichen Industriegesellschaft mit gelegentlich autoritären Zügen, die man natürlich bestrebt sei zu demokratisieren. Weil dieses Bild - für manche ein Wunschbüd - bei vielen Glauben fand, konnte die Rede von der "Friedensfähigkeit" der SED aufkommen. Wie gut die Maulwürfe gearbeitet hatten, zeigte sich an der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluß 6 vom Dezember 1979. Am Anfang stand der "Krefelder Appell" 7 vom November 1980. In kürzester Zeit war es der federführenden DKP gelungen, dafür über eine Million Unterschriften zu sammeln. Dabei hatte die DKP selber nur 48 856 Mitglieder. Wie aber konnte eine so kleine Partei eine solche Propaganda entfalten?
B. Das große Geld Antwort: die DKP verfügte nicht nur über die personelle Hilfe der 2000 Reisekader der SED, sondern auch über enorme Finanzmittel. In ihrem Rechenschaftsbericht für 1981, zu dem die DKP laut Parteiengesetz wie alle anderen Parteien verpflichtet war, gab sie Gesamteinnahmen von etwas über 15 Millionen D M an 8 . Tatsächlich erhielt sie u.a. durch die KoKo von Schalck-Golodkowski viereinhalbmal so viel, nämlich über 69 Millionen D M jährlich 9 . Allein für ihre Tarn5 Westabteilung, Berlin, den 30.4.1969. Streng vertraulich! Information über die Propagandaarbeit und die politische operative Einflußnahme in Westdeutschland im I.Quartal 1969 zit.nach J. Staadt "Die geheime Westpolitik der SED 1960-1970" S.336 ff. 6 Text des Kommuniqués der Sondersitzung der Außen- und Verteidigungsminister der NATO vom 12.12.1979 in Brüssel in: Buchbender/Bühl/Quaden Hrsg. "Sicherheit und Frieden: Handbuch der weltweiten sicherheitspolitischen Verflechtungen", Herford 1983, S. 216. 7 Text bei Dieter Lattmann Hrsg. "Der Atomtod bedroht uns alle - Keine Atomraketen in Europa", Köln o.J. S.l. β Vgl. Gerd Langguth, Protestbewegung - Die Neue Linke seit 1968, Köln 1983 , S.154. So im Bundesanzeiger 4. November 1982 nachzulesen. 9 Bundestagsdrucksache 12/7600 "Beschlußempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes, S. 283 Sp.l "Zwischen den Verantwortlichen der DKP und der Abteilung Verkehr (des ZK der SED) gab es jedes Jahr im November Beratungsgespräche, nach deren Verlauf der Finanzbedarf der DKP für das folgende Jahr durch den Vorsitzenden der DKP, Herbert Mies, beantragt wurde. Dieser wurde über die Abteilung Verkehr an den Generalsekretär der SED weitergeleitet und von diesem bestätigt Die DKP wurde jährlich zumindest in den Jahren von 1987 - 1989 konstant mit 69.366.000,- D M unterstützt".
"Geteilter Friede"
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Organisationen gab die DKP 1989 für Gehälter und Honorare von deren Mitarbeitern 10,1 Millionen jährlich aus 10 . Zu diesen zählten: Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit KOFAZ; Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes/Bund der Antifaschisten W N / B d A ; Deutsche Friedensunion DFU; Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsgegner DFG/VK. Die Funktionäre dieser Tarnorganisationen saßen an den Schaltstellen der Vorbereitungsausschüsse für Friedensdemonstrationen und-konferenzen.
C. Friedensbewegung als Chefsache Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik war für Honecker sehr wichtig. Der Leiter der Westabteilung des ZK Gen. Herbert Häber berichtete in regelmäßigen Abständen direkt an Honecker über den Fortgang der Friedensbewegung-West. Honecker las die Berichte von der "Friedensfront" aufmerksam und sorgte dafür, daß diese allen PB-Mitgliedern zugestellt wurden, manchmal auch dem gesamten ZK n . Die massive finanzielle und personelle Unterstützung der westdeutschen Friedensbewegung durch die SED zeigte Wirkung. Es gab Erfolge. So meldete am 8.7.1981 Gen. Häber an Honecker: "In großem Umfang sind kirchlich gebundene Kreise und Verbände sowie in beträchtlicher Zahl Pfarrer und andere Mitarbeiter der evangelischen und katholischen Kirche in der Bewegung gegen die NATO-Raketenpolitik aktiv...Der hervorstechendste Beweis dafür war der Verlauf des evangelischen Kirchentages im Juni in Hamburg. Über 180 Organisationen, darunter auch die DKP, die SDAJ, der MSB-Spartakus, SPD-Gliederungen usw. hatten zu den Aktionen für Frieden und.Abrüstung im Rahmen des Kirchentages aufgerufen und waren daran beteiligt. Die aus Anlaß des Kirchentages durchgeführte Massendemonstration gegen die Rüstungspolitik der NATO mit rund 100.000 Teilnehmern war Ausdruck eines breiten Bündnisses im Kampf um Frieden und Abrüstung" 12 . Gen. Häber gab offen den Mißbrauch des Kirchentages für politische Zwecke der SED zu. Die gleiche SED, die im Westen kirchlichen Gruppen, die naiv genug waren SED-Parolen zu folgen, schmeichelte, behinderte kirchliche Friedensgruppen und Evangelische Kirchentage im eigenen Land. 10 op. cit.Anlagenband 1, Dokument 34, "Struktur und Aufgaben der Abteilung Verkehr" S.305 Abs. 2 lautet: "Solidaritätsmittel werden u.a. auch gegeben für die W N 28 Mitarbeiter 2.3 Mio; DFU 31 Mitarbeiter 3,1 Mio; andere Organisationen und Stiftungen, Einzelpersonen, Honorare ca. 17 Mitarbeiter 4,7 Mio". 11 BA ZPA J IV 2/10.02/7. ζ. Β lOseitiger Bericht des Gen. Häber an Erich Honecker "Zur Demonstration für Frieden und Abrüstung am 10. Oktober 1981 in Bonn und zur Entwicklung der Friedensbewegung in der BRD". Bereits zwei Tage nach dem Ereignis in Bonn hatte Gen. Häber genaue Kenntnis über alle Einzelheiten und Hintergründe der Massendemonstration. Dies beweist, daß er Insider war und die Westabteilung des ZK in Ostberlin alle Fäden in der Hand hatte. Erich Honecker hat den Bericht abgezeichnet mit dem handschriftlichen Zusatz: "An die Mitglied.(er) u. Kand (idaten) des PB". 12
B A ZPA, J I V 2/10.02/7 Häber an Axen am 7.8.1981 S.9.
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D. Wo blieb der Widerspruch? Wo aber blieb der Widerspruch in den westlichen Friedensbewegungen gegen solche Gängelung durch die DKP? Der einzige ernstzunehmende Widerspruch gegen die Bevormundung durch die DKP kam aus dem Munde Petra Kellys 1 3 , die eine kritischere Haltung zur sowjetischen Politik und eine Solidarisierung mit der polnischen unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc verlangte. Ihr widersprach ihr Lebensgefährte Gert Bastian, der sich mit dem MfS eingelassen hatte. Sein Argument: "Wer andere Themen einführen will, macht das Bündnis (der Friedensbewegung) kaputt!"14. Aus den "Friedenswochen" der evangelischen Kirche im Westen hätte man Widerspruch erwarten können. Er blieb aus. Diese waren für Gen. Häber keine Veranstaltungen der EKD, sondern der "Aktion Sühnezeichen", die er als Bundesgenossen und Teil der von der DKP gesteuerten Friedensbewegung betrachtete 1 5 .
E. Ostermärsche - Gradmesser des Einflusses der Friedensbewegung? Wichtig waren Honecker die Berichte seiner Westkommission über die Ostermärsche in der Bundesrepublik. In deren Teilnehmerzahl sah er offenbar so etwas wie einen Gradmesser für den Einfluß der DKP auf die von ihr gesteuerten Friedensbewegungen 16 . Zwei Tage nach Abschluß der Ostermärsche lagen in der SEDZentrale in Ost-Berlin bereits genaue Zahlen vor. Kein Wunder, weil die Regie ja auch in Ost-Berlin ihren Sitz hatte. Bis Ostern 1983 nahm die Zahl der Teilnehmer zu, ab Ostern 1984 ging sie ständig zurück. Warum? Drei Ereignisse hatten die politische Landschaft verändert - zum Nachteil der DDR. 1.
Die sozialliberale Regierung von Helmut Schmidt hatte im Oktober 1982 die Regierungsgeschäfte an die Regierung Kohl-Genscher abgeben müssen. In der Bundestagswahl vom 6. März 1983 hatte die CDU/FDP Koalition einen klaren Sieg errungen.
2.
13
BA ZPA J IV 2/10.02/7 Büro Axen, S.2.
14 Die Distanzierung Bastians von seiner Lebensgefährtin Petra Kelly läßt sich nachträglich auch erklären. Inzwischen sind Hinweise aufgetaucht, die von einer Tätigkeit Bastians für die Hauptabteilung Aufklärung des MfS sprechen. Vgl. FAZ vom 16.12.1993 S. 3 "Wie die Friedensbewegung durch KGB und STASI instrumentalisiert werden sollte" von Ralf Georg Reuth. Nach einem Bericht des Focus 17/93 S. 18 ist die von ehemaligen NATO-Generälen und Admiralen 1980 gegründete Vereinigung "Generale für den Frieden", in der Bastian eine führende Rolle spielte, von der STASI gesteuert worden. Ermittler "entdeckten den Stasi-Entwurf einer Rede, die Bastian später wörtlich gehalten hat". 15
Wie Anm. 11 S. 10.
16 B A ZPA J IV 2/10.02/7 "Westabteilung 6. April 1983 Information über die Ostermärsche 1983 in der BRD" S. 1 ff.
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3.
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Der Nachrüstungsbeschluß des Deutschen Bundestags vom 22. November 1983 war eine herbe Niederlage für die von der DKP gesteuerte Kampagne gegen den NATO-Doppelbeschluß.
Im März 1985 wurde Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPDSU. Das von ihm propagierte "Neue Denken" samt Perestroika und Glasnost veränderte die politische Landschaft weiter in Richtung auf Kooperation statt Konfrontation. Der sture Antiamerikanismus der westdeutschen Friedensbewegung paßte immer weniger in die auch durch Gorbatschow veränderte politische Landschaft. Mit dem Ende der DDR kam auch das Ende der von ihr finanzierten Friedensbewegung in der Bundesrepublik. Die DKP mußte fast alle Funktionäre entlassen. DFU und W N / B d A lösten sich auf. Bundes- und Landesgeschäftsstellen der DKP wurden geschlossen. Offizielle Begründung der DKP: "Das Aus ist wesentlich verursacht durch die schlagartige Einstellung fast aller Dauerspenden" 17 . Die Frage drängt sich auf: Warum ging in der Bundesrepublik der Einfluß der Friedensbewegung erst Ende 1989 und nicht schon früher zurück? Nämlich nach dem Stationierungsbeschluß des Deutschen Bundestags vom 22. Nov. 1983? Dieser war das unübersehbare Signal für die Tatsache, daß die DKP-gesteuerten Friedensbewegungen-West ihr Ziel verfehlt hatten. Hinzu kommt, daß in Polen mit der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc im August 1980 und der Ausrufung des Kriegszustands am 13.12.1981 durch Verteidigungsminister Jaruzelski der Kommunismus eine schwere Schlappe erlitten hatte und sich fortan in der Defensive befand. In der Tschechei und in Ungarn sah es nicht viel besser aus. Die Antwort auf diese Frage ist nicht möglich, ohne einen Blick auf die Haltung der SPD in der Bundesrepublik zu werfen.
F. SPD und Friedensbewegungen Im Jahre 1981 bemerkte Horst Ehmke, Staatsminister im Bundeskanzleramt unter Helmut Schmidt gegenüber dem SED-Mann Herbert Häber, der ihn im Bonn aufgesucht hatte, sarkastisch: "Mit Gottes und Eurer Hilfe findet die Friedensbewegung ja großen Zulauf' 18 . Die Führung der SPD war sich also von Anfang an im Klaren über die massive Unterstützung und auch Steuerung der bundesrepublikanischen Friedensbewegungen durch die SED aus Ost-Berlin. Wie aber kommt es dann, daß die SPD trotz dieser Erkenntnis mit den so fremdbestimmten Friedensbewegungen in den 80er 17 Manfred Wilke/Hans-Peter Müller/Marion Brabant : "Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) - Geschichte-Organisation-Politik" Köln 1990, S.247 f. 11 Zitiert aus dem Bericht Herbert Häbers, Leiter der Westabteilung des ZK der SED, über seine Reise vom 16.- 22.Februar 1981 in die Bundesrepublik. BA ZPA J IV 2/10.02/12.
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Jahren zunehmend enger zusammengearbeitet hat? Eine Antwort wird zwei Phasen in dieser Zusammenarbeit unterscheiden müssen. Phase 1 reicht von 1980 bis Ende 1983. Sie ist gekennzeichnet durch einen Dissens zwischen Basis und Führung der SPD. Für eine Zusammenarbeit der SPD mit der von der DKP gesteuerten Friedensbewegung ja sogar mit der DKP selber setzten sich linke Meinungsführer wie Coppik, Hansen, Lafontaine, Eppler, Schröder, Schöfberger, Wiezcorek-Zeul und die Jusos ein. Willy Brandt machte aus seiner Sympathie für die netten jungen Leute von der Friedensbewegung kein Hehl. Helmut Schmidt versuchte tapfer den Abgrenzungsbeschluß seiner Partei durchzusetzen, um seine Friedenspolitik des NATO-Doppelbeschlusses zu retten. Vergeblich. Nach Schmidts Verlust des Regierungsamtes zeigte der Sonderparteitag der SPD am 18. November 1983, daß Helmut Schmidt völlig allein stand. 583 Delegierte stimmten gegen den NATO-Doppelbeschluß und nur 14 dafür. Zu den wenigen Getreuen, die noch zu Helmut Schmidt hielten, gehörten die ehemaligen Bundesverteidigungsminister Georg Leber und Hans Apel sowie Hans Matthöfer und HansJürgen Wischnewski 19 . Die 2. Phase reicht von November 1983 bis September 1989. Hans-Jochen Vogel unter dem Druck von Parteivorstand und Basis warf in der Absicht, neue Wähler für den Kampf gegen Helmut Kohl zu gewinnen, das Steuer herum und suchte nun ganz offen die Zusammenarbeit mit der bundesrepublikanischen Friedensbewegung. Diese Kursänderung führte zwangsläufig zu einer Annäherung an die SED in OstBerlin, die ja die Parolen für die Friedensbewegungen-West ausgab. Auffällig war, daß die Zahl prominenter SPD-Politiker, die nach OstBerlin pilgerten und sich bemühten, von Honecker empfangen zu werden, ab Ende 1982 sprunghaft zunahm. Bis zum Sommer 1983 kam es zu mehr als hundert Begegnungen von namhaften SPD-Politikern mit SED-Spitzenfunktionären 20. Zwei Wochen vor Honeckers Staatsbesuch in Bonn vom 7.- 9. September 1987 veröffentlichten SPD und SED das gemeinsame Papier: " Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit", das der SED-Diktatur "Friedensfähigkeit" bescheinigte 2 1 . Aus den streng geheimen Unterlagen des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) wissen wir heute, daß das SED- Regime gerade in den 80er Jahren seine Kriegsfähigkeit ausbaute. Honecker als Vorsitzender des NVR verlangte von seinen 19
Vgl. dazu Hans Apel, "Der Abstieg. Politisches Tagebuch 1978 - 1988" S. 278 ff.
20
Der Spiegel 35/1992, S.51.
21 Zit. nach Timothy Garton Ash, "Im Namen Europas - Deutschland und der geteilte Kontinent". München 1993, S.476. Daselbst auch die Stimmen so namhafter Kritiker des gemeinsamen Papiers von SPD und SED wie Gesine Schwan, Gerd Bucerius und Marion Gräfin Dönhoff S. 477 und 769.
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Funktionären "kriegsbezogenes Denken und Handeln" 2 2 . Im Juni 1980 stellte der NVR fest: "Militärgeld zur Versorgung der Verbände und Truppenteile durch Feldbanken auf fremdem Territorium in Höhe von 4,8 Milliarden Mark (Emission des Jahres 1955) ist in Sonderdepots eingelagert". Dieses Geld sollte als "Besatzungsgeld" für "befreite Gebiete" der Bundesrepublik dienen 2 3 . Noch 1986 erließ der NVR im Zuge seiner Kriegsplanung "Grundsätze der Frontberichterstattung", in denen ausdrücklich "die Ausprägung des Hasses auf den Feind"24 gefordert wurde, und regelte die "kulturelle Betreuung der Truppen und der Heimat im Kriegszustand". Oskar Lafontaine bemühte sich, - als Saarländer zu Saarländer - eine besonders enge Zusammenarbeit zu Erich Honecker aufzubauen. Bei seinem Besuch bei Honecker am 18. August 1988 in Hubertusstock erklärte Lafontaine: "Die Frage sei, was machen wir deutschlandpolitisch, wenn wir an die Regierung kommen?"25. In diesem seltsamen Wir-Gefühl kam er genau ein Jahr später Honecker zu Hilfe, als dieser durch die große Zahl von Flüchtlingen, die in Botschaften der Bundesrepublik Zuflucht suchten oder über Ungarn in den freien Westen strömten, in arge Bedrängnis geraten war. Er schickte einen Sonderbotschafter zu Honecker, der diesem bestellte: "O. Lafontaine möchte persönlich einen internen Beitrag leisten, um die entstandene Lage zu entschärfen. Er stelle dabei nicht die Frage über Schuld oder Nichtschuld. Vielmehr sei zu überlegen, wie beide Seiten ohne Gesichtsverlust aus der Sache herauskämen... Unzumutbar sei auch die Tatsache, daß in Budapest BRD-Pässe an DDR-Bürger ausgegeben werden. Die saarländische Landesregierung prüfe in diesem Zusammenhang, ob man ein Zeichen setzen könne, indem an DDR-Bürger, die sich besuchsweise im Saarland aufhalten, in Zukunft keine Pässe für Ausflüge nach Frankreich und Luxemburg mehr ausgegeben werden" 26. Lafontaine erbot sich also freiwillig als verlängerter Arm Honeckers, unbeteiligte und völlig unschuldige Bürger der DDR in Sippenhaft zu nehmen und mit dem Entzug einer Reisemöglichkeit zu bestrafen, die diesen nach bundesdeutscher Regelung zustand 27 . 71
Otto Wenzel "Kriegsbereit - Der Nationale Verteidigungsrat der DDR 1960 bis 1989". Köln 1995,
S.ll. 23
Ebd. S.l36.
24
Ebd. S.243.
25
BA ZPA IV 2/2.035/80 IPW: Niederschrift eines Gesprächs zwischen Honecker und Lafontaine am 18.8.1988 in Hubertusstock. u BA ZPA IV 2/2.035/81 IPW Berlin, 21.8.1989 "Information über ein Gespräch des Genossen Gunter Rettner mit dem Beauftragten Oskar Lafontaines, Staatssekretär Hanspeter Weber, am 18. August 1989 in Berlin" S.l. 27
A u f Anfrage der "Welt am Sonntag" nach dem Wahrheitsgehalt dieses Protokolls hat Hanspeter
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Das Urteil über solch ein Verhalten gehört einem Bürger der DDR. Martin Gutzeit, einer der Gründungsväter der neuen sozialdemokratischen Partei in der DDR, erklärte im Sommer 1989 einem Repräsentanten der westdeutschen Sozialdemokratie: "Alles, was wir wollen, ist, daß ihr für uns die gleichen Rechte und Freiheiten verlangt, die ihr selber genießt". Und in Anspielung auf das Verhalten der Bundes-SPD in den achtziger Jahren sagte er schlicht: "Wie konntet ihr nur so prinzipienlos sein!" 28 .
G. Die kirchliche Friedensbewegung in der DDR Die SED startete im November 1979 zur Unterstützung der Breschnew-FriedensInitiaüve eine Propagandaaktion gegen den NATO-Doppelbeschluß in Form einer großen Unterschriftensammlung in der DDR. Die evangelischen Kirchenleitungen in der DDR kritisierten in einem "Wort an die Gemeinden": "Wir können damit (der Friedensagitation. Anm.d.Verf.) aber bestimmte Entwicklungen in unserer Gesellschaft, wie die Einführung des Wehrunterrichts, die Forcierung der Zvilverteidigung, den Aufbau von Feindbildern nicht zusammenbringen. Wir fragen uns, welche undurchschauten Mechanismen sind hier wirksam?" 29 . Vom 9.- 19. November 1980 fand die erste "Friedensdekade" in den evangelischen Kirchengemeinden in der DDR unter der Losung "Frieden schaffen ohne Waffen" statt. Ihr Höhepunkt sollte die "Friedensminute" am 19. November, dem Buß-und Bettag sein, der aber in der DDR als Feiertag abgeschafft worden war. Im Vorbereitungsmaterial hieß es wörtlich: "Einzeln und an jedem Ort, gemeinsam, möglicherweise in einer Kirche - soll am Bußtag, 19.11.1980, 13.00 Uhr gleichzeitig und überall für den Frieden in der Welt, für die Verhandlungen in Madrid und für die Beendigung des friedensgefährdenden Streites gebetet werden. Die Sirenen, die zu dieser Zeit gehen, erinnern und gewährleisten Gleichzeitigkeit. Die eingeschalteten Glocken rufen und mahnen als Zeichen der Hoffnung" 30. Aber schon eine Friedensminute war dem SED- Staat zu viel. Offenbar beunruhigte ihn der Gedanke, er könne nicht kontrollieren, was seine Untertanen in solcher Minute denken würden.
Weber die vorgelegten Behauptungen als schlicht Unsinn und dummes Zeug bezeichnet". Vgl.WamS v.31.7.1994 S.5 "Keine Pässe für DDR-Bürger". 21
29
Wie Anm.21, S.500 f.
Text in Biischer/Wensierski/Wolschner edition transit Bd.2. Hattingen S.101 f. 30
Hrsg. "Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978 - 1982"
Ebd. S.124. Am Mittwoch fand üblicherweise in der DDR eine Sirenenprobe statt
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Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi bestellte Bischof Schönherr und OKR Stolpe zu sich und warnte sie: "Das ist Antisowjetismus"31. Das Glockengeläut verbot er. Außerdem dürfe die Gedenkminute nur in Verbindung mit einem Gottesdienst stattfinden. Im kirchlichen Vorbereitungsmaterial zum Leitthema "Frieden schaffen ohne Waffen" sah man eine Karrikatur mit Dinosauriern. Darunter die Frage: Warum sind die Saurier ausgestorben? Antwort: "Zu wenig Gehirn, zuviel Panzer!" 32. Das Echo auf die unabhängige kirchliche Friedensbewegung war unerwartet groß, besonders unter der Jugend. Pfarrer Eppelmann mit seinen "Bluesmessen" zum Friedensthema zog 2000 Jugendliche in die Samaritergemeinde in Ost-Berlin. Das beunruhigte sogar das Politbüro 3 3 . 1981 kam das Abzeichen "Schwerter zu Pflugscharen" auf, das viele, auch der Kirche fernstehende Jugendliche trugen. Die SED schritt mit Polizeigewalt gegen die Abzeichenträger ein 3 4 . Großen Anklang fand bei Jugendlichen die Forderung nach Einrichtung eines Sozialen Friedensdienstes (SoFD) als Alternative zum Wehrdienst. Solche Eigeninitiativen konnte die SED zuhause nicht dulden. Sie geriet in einen Zwiespalt: während sie vergleichbare Forderungen der Friedensbewegungen in der Bundesrepublik unterstützte - das Westfernsehen berichtete darüber - und mit Millionenbeträgen förderte, konnte sie solche Forderungen in der DDR nicht dulden. Im eigenen Lande begann sie die Friedensbewegung systematisch "zurückzudrängen". Mit der ihr eigenen doppelzüngigen Brutalität ging sie das Problem an. Das MfS spielte eine zentrale Rolle in der Überwachung und Zersetzung unabhängiger Friedenskreise. Die SED setzte die Kirchenleitungen unter Druck und verlangte von ihnen, die unabhängigen Friedensgruppen der kirchlichen Basis zu disziplinieren. Während Stolpe dem STSfK "Maßnahmen zur Disziplinierung Pfarrer Eppelmanns" zusagte, taktierte die Konferenz der Kirchenleitungen (KKL) in Sachen des Aufnähers "Schwerter zu Pflugscharen" hinhaltend. Erst unter dem Druck des SEDStaates verzichtete die Synode des BEKDDR Ende 1982 auf die Verwendung des Aufnähers. 1983 zum Lutherjahr hatte die SED es geschafft, die unabhängige Friedensbewegung in der DDR an die Kette zu legen. Kirchliche Vorbereitungsmaterialien für die Friedensdekade mußten vor Drucklegung vom STSfK genehmigt werden. Die SED konnte nur einen zensierten Frieden dulden.
31
BA ZPA IV Β 2/14/40 Vermerk Gysis vom 1.10.1980, S.3.
32
Wie Anm. 29, S.122.
33 B A ZPA IV Β 2/14/40 "Information über das Gespräch zwischen Bischof Schönherr und Staatssekretär Gysi am 5.6.1980 in der Dienststelle des Staatssekretärs. Berlin, den 6.Juni 1980" S.l u. 2. 34 Besier/Wolf Hg.:">Pfairer, Christen und Katholiken