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German Pages 336 [337] Year 2018
Die Deutschen und der Nationalsozialismus Herausgegeben von Norbert Frei Sybille Steinbacher «Dass ihr mich gefunden habt» Hitlers Weg an die Macht Dietmar Süß «Ein Volk, ein Reich, ein Führer» Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich Markus Roth «Ihr wißt, wollt es aber nicht wissen!» Verfolgung, Terror und Widerstand im Dritten Reich Moritz Föllmer «Ein Leben wie im Traum» Kulturgeschichte im Dritten Reich Tim Schanetzky «Kanonen statt Butter» Wirtschafts- und Konsumgeschichte des Dritten Reiches Birthe Kundrus «Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg» Krieg und Holocaust in Europa Norbert Frei «Niemand will Nazi gewesen sein» Die Nachgeschichte des Dritten Reiches
Birthe Kundrus
«Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg» Krieg und Holocaust in Europa
C.H.Beck
Mit 5 Abbildungen 1. Auflage. 2018 © Verlag C.H.Beck oHG, München 2018 Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik und Typografie, Michaela Kneißl Umschlagabbildung: Ghetto von Lodz: Ghettobewohner mit Judenstern © akg-images ISBN Buch 978-3-406-67521-8 ISBN eBook 978-3-406-67522-5 Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.
Inhalt
«Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg» 7 I. «Wir sind vom Schicksal ausersehen …» Deutsche Außenpolitik bis September 1939 13 «Mein Kampf» 14 – Revisionen 21 – Expansionen 42 II. «Was wird aus der Welt, wenn Deutschland siegt?»
Kriege und Besetzungen bis Juni 1941 73 Polen 74 – «Blonde Provinzen» 93 – Nord-, West- und Südosteuropa 105 III. «… nur ein Wind in diesen Steppen»
Der Krieg gegen die Sowjetunion und die Besatzung in Europa 1941 – 1944 135 Vernichtung 136 – Neue Eskalationen 167 – Niederlagen 175 IV. «Wir könnten dann Europa in kürzester Zeit judenfrei haben»
Der Holocaust 1941 – 1944 197 Im Schatten von Barbarossa 198 – Völkermord 221 – Todesstille 246
V. «Einmal kommt der Feind doch zu Euch» Die Zeit bis Kriegsende 255 Behauptungen 256 – Verteidigungen 275
Schluss 298 Anmerkungen 302 – Auswahlbibliografie 325 – Bildnachweis 330 – Personenregister 331
«Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg»
F
ünf Männer sind auf dem Farbfoto zu sehen. Sie stehen auf einem Platz, der von größeren Häusern umgeben ist, eines
scheint baufällig zu sein. Der Fotograf hat den Bildausschnitt so gewählt, dass ein graubärtiger Mann mit gelbem Stern auf der
Jacke im Vordergrund steht, eine Ballonmütze in gleicher Farbe auf dem Kopf, seine Kleidung wirkt abgerissen und schmutzig. Frontal schaut er in die Kamera. Links, seitlich, in einigem Abstand hinter ihm beobachtet ein zweiter Mann offenbar die Aufnahme des Bildes. Die Arme verschränkt er auf dem Rücken, seine Wangen sind glatt rasiert. Er trägt keinen Hut, dafür eine saubere Uniform und hat sich um den Kragen ordentlich eine Krawatte gebunden. Noch weiter im Hintergrund, halb verdeckt, stehen drei Männer, abwartend, zuschauend. «Getto Ostjuden»1 nannte der Fotograf sein Werk und verzichtete auf eine Datumsangabe wie auf weitere Details. Das Bild wurde irgendwann zwischen 1941 und 1944 im Ghetto in Łódź aufgenommen. Łódź war eine Industriemetropole gewesen, das polski Manchester. Nun lag es im neuen Reichsgau Wartheland, einem Teil Westpolens, der nach der Besetzung des Landes 1939 ins Deutsche Reich eingegliedert worden war. Wie in sehr vielen polnischen Orten wurden auch in der zweitgrößten Stadt des Landes mit über 230 000 jüdischen Einwohner «Sperrbezirke» eingerichtet, hier auf Geheiß der neuen deutschen Stadtverwaltung. Tatsächlich waren sie Orte der Zwangsarbeit, des Hungers, ab 1942 Durchgangsstationen auf dem Weg in die Vernichtungslager. Die einzige Person auf dem Bild, die sich identifizieren lässt, ist der Beobachter: Hans Biebow. Er war der Leiter der deutschen Verwaltung des Ghettos. Die schwarzen Uniformen und Arm7
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binden weisen die drei Männer im Hintergrund als Mitarbeiter des jüdischen Ordnungsdienstes aus. Namenlos wie sie bleibt auch der Mann in der Mitte. Wichtig war dem Fotografen allein, dass man ihn als Juden erkennen kann, gebrandmarkt durch den gelben Stern, der sich zentral im Blickfeld des Betrachters befindet. Fotografiert hatte Walter Genewein. 39-jährig im Juni 1940 nach Łódź gekommen, wurde er im Hauptberuf der dortige Buchhalter. Im Büro hielt der gebürtige Österreicher akribisch die Beraubung der Juden fest. Penibel zählte er die für die Volksgenossen produzierten Kinderjacken und Büstenhalter wie die für die Wehrmacht hergestellten Mützen und Trikotagen, regis trierte das Gepäck der nach Łódź deportierten deutschen Juden. In seiner Freizeit fotografierte er, die Kamera hatte er «beschlagnahmt». Zunächst war es ein Hobby, dann eine semioffizielle Mission – durch Biebow gefördert. Mit Hunderten von Bildern verwirklichte sich Genewein als Dokumentarist der nationalsozialistischen Aufbauleistung im vorgeblich unzivilisierten, armseligen, aber nun angegliederten Polen. Besonders stolz war er darauf, die modernen Farbdias nutzen zu können. Die Inszenierungen des «Rechnungsführers» zeigten vor allem, wie die deutsche Ghettoverwaltung die Ostjuden produktiv einsetzte, sie priesen die perfekte Arbeitsorganisation. Das Elend im Ghetto, das die deutschen Besatzer erst heraufbeschworen hatten, fand sich nicht auf seinen Bildern. Geneweins Foto ist ein Dokument der Macht, der Gewalt, ohne dass diese jedoch direkt abgebildet würde. Man sieht keine Leichen, keine Ausgemergelten, keine Verzweifelten, aber auch keine Deutschen, die Juden treten, schänden, demütigen. Der Zwang wird sichtbar durch die Perspektive und Bildkomposition des Fotografen. Kühle Distanz zeichnet das Foto aus. Biebows Haltung und Blick wirken überheblich und empathielos. Statisch hatte Genewein die Akteure angeordnet. Der zentral postierte jüdische Mann wird eingefasst von dem fotografierenden Buchhalter so8
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wie dem prüfend zuschauenden Ghettochef, im Hintergrund die subalternen Aufpasser. Insofern gibt das Foto einen Einblick in die Mentalität der deutschen Besatzer. Man sieht das rassistische Opferbild eines Täters, gewiss. Aber ungewollt ist das Foto auch ein Dokument der Würde. Denn der Mann in der Mitte blickt skeptisch, mit erhobenem Kopf und wachsamen Augen direkt in die Kamera seines Gegenübers. Für dieses Gegenüber, für die nationalsozialistischen Machthaber, war der Zweite Weltkrieg ein Krieg gegen die Juden. Gegen sie vorzugehen wurde zum Mittel der Selbstverteidigung stilisiert. Im Berliner Sportpalast erklärte Hermann Göring am 4. Oktober 1942, dem Tag des Erntedankfestes, als Beauftragter für den Vierjahresplan, der Jude stehe «hinter allem, und er ist es, der uns den Kampf auf Tod und Verderben angesagt hat». Mit diesem Phantasma waren nicht nur Funktionsträger oder abstrakte politische Systeme gemeint wie der «jüdische Bolschewismus» in der So wjetunion, sondern auch ganz normale Männer wie der auf dem Foto und bald auch Frauen und Kinder. Der Krieg sollte als finaler, alternativloser Kampf geführt werden, für die Erlösung der Welt von diesem Todfeind, für Deutschland als Großmacht und für den ihm zustehenden Lebensraum. «Lebensraum» meinte in den Denkweisen Hitlers und seiner Entourage, den europäischen Kontinent nicht nur von Juden zu befreien, sondern ihn ebenso zu erobern und nach rassisch- völkischen sowie politischen und ökonomischen Gesichtspunkten neu zu strukturieren. Reale Zerstörung und phantasierter Aufbau griffen dabei ineinander. Während die Lebensmittelrationen für Juden im Reich drastisch gekürzt und im besetzten Europa eine Hungerpolitik betrieben wurde, versprach Göring in seiner Ansprache den Volksgenossen «Sonderzuteilungen» zu Weihnachten und verkündete: «Von heute ab wird es dauernd besser werden; denn die Gebiete fruchtbarster Erde besitzen wir. Eier, Butter, Mehl, das gibt es dort in einem Ausmaß, wie Sie es sich nicht vorstellen können.» Weite Teile Osteuropas sollten zu kolo9
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nialen Ergänzungsräumen werden. Zwangsarbeit, Hunger und Vertreibung, so die Vorstellung, würden das Leben der slawischen Völker auch nach dem «Endsieg» bestimmen. Gebiete wie eben der Warthegau oder die Krim hingegen würden rein «deutsch» werden. Vorgeblich rassenverwandte Länder wie Dänemark oder die Niederlande sollten zu teilsouveränen Anhängseln des Deutschen Reiches umgestaltet werden. Roma und Sinti, aber auch Erbkranke und Behinderte galten in dem zu verwirklichenden germanischen Großreich als Belastung, die zu beseitigen war. Der Kriegsverlauf und seine Interpretation durch das NS-Regime waren entscheidend dafür, ob und wie sich diese Vorhaben in den jeweiligen Besatzungsregimen niederschlugen. Insofern hatte Göring recht, als er am Ende seiner Rede im Oktober 1942 den anwesenden wie den am Radio lauschenden Volks genossinnen und Volksgenossen einbläute: «Dieser Krieg ist nicht der zweite Weltkrieg, dieser Krieg ist der große Rassenkrieg, ob hier der Germane und Arier steht oder ob der Jude die Welt beherrscht, darum geht es letzten Dinges und darum kämpfen wir draußen.»2 In der Welt der Nationalsozialisten war die aktuelle militärische Auseinandersetzung keine Fortsetzung des «ersten» Weltkrieges. Dieser blieb zwar der entscheidende Referenzpunkt. Doch die rassistische Signatur des «Endkampfes» hieß, die Gewalt zu eskalieren und die Kriegführung zu enthemmen. Kriegsverbrechen an Zivilisten, aber auch an Soldaten erreichten ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß. In der Folge würden auch die Gegner Deutschlands gültige Einhegungen der Gewalt zur Disposition stellen. Der Zweite Weltkrieg würde zum tödlichsten Waffengang der neueren Geschichte werden und schließlich zur Selbstzerstörung des ihn entfesselnden Regimes führen. Er veränderte die gesamte politische wie soziale Topographie Europas so radikal wie nie zuvor. Widerspruch gegen die entgrenzte Gewalt oder gar widerständiges Handeln durch deutsche Militärs, Polizisten oder Angehörige der Zivilverwaltungen war selten. Gleichwohl haderten viele 10
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mit ihrer Verstrickung in die Untaten des Besatzungsregimes und fühlten sich unbehaglich angesichts der eigenen Entzivilisie rung. Biebow und Genewein sind, soweit man weiß, von solchen Selbstzweifeln frei geblieben. Von der Kampfansage an die Juden ahnte der Mann in der Mitte wahrscheinlich wenig. Vielleicht war er noch damit befasst, die neue Erfahrung zu verkraften, in ein Ghetto verschleppt worden zu sein und zwangsweise auf ein Foto gebannt zu werden. Ihn hatte der vom nationalsozialistischen Deutschland ausgelöste Krieg aus allen seinen Lebensbezügen gerissen. Nichts sollte mehr so sein, wie es vorher gewesen war.
I. «Wir sind vom Schicksal ausersehen …» Deutsche Außenpolitik bis September 1939
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ropagandaminister Joseph Goebbels, als Friedensengel ver kleidet, vor einem Plakat, das wesentliche Etappen der deut-
schen Annexionen bis zum Sommer 1939 als Urlaubstour ausweist. Darauf: ein entspannter, ja sanftmütiger Hitler, völlig unmartialisch, ganz privat in der Sommerfrische: «Our beloved Führer» im befriedeten und zufriedenen Österreich schuhplattlernd, im noch umstrittenen Danzig, «where nobody wants trouble», in die Ostsee hüpfend und schließlich zufrieden auf einer tschechoslowakischen Wiese dösend – stets betonend, dass dieses Stück Europa «absolut meine letzte territoriale Forderung» gewesen sei. Die beiden verdutzten Mitglieder des britischen Parlaments, die an Plakat und Propagandaminister vorbeischreiten, müssen sich anhören, dass die Angelsachsen die eigentlichen Gewalttäter seien, äßen sie doch Kinder und erschössen Iren. Der Neuseeländer David Low, der Hunderte antifaschistische Karikaturen anfertigte und zur Zielscheibe Goebbel’schen Grolls wurde, prangerte mit dieser Arbeit im britischen Evening Standard vom 2. August 1939 die konfliktscheue Appease ment-Politik der britischen Regierungen in den dreißiger Jahren an. Verblendet hätten die Staatsmänner sich täuschen lassen von dem rhetorischen Friedensgetöse des kleinen Berliner Lautspre13
I. Deutsche Außenpolitik bis September 1939
chers. Sie hätten nicht erkannt, wie die Nationalsozialisten wirklich seien: verlogen, gefährlich, brutal und unendlich landhungrig. In der Tat: David Low erwies sich als einer der scharfsichtigsten Beobachter des nationalsozialistischen Expansionsdranges. Das Motiv des Fremdenverkehrs hatten ihm übrigens Hitler und Goeb bels selbst geliefert. 1937 hatten sie in Österreich Tourismusbüros einrichten lassen, die für Deutschland, den Nationalsozialismus und damit den «Anschluss» werben sollten. Doch wie konnte es so weit kommen, dass kaum ein Politiker, zumal in den Regierungen der späteren Alliierten Frankreich, Großbritannien und der USA, die Aggressivität und Gefährlichkeit des nationalsozialistischen Regimes vor 1939 hatte wahrhaben wollen? War es tatsächlich so, wie diese Karikatur suggerierte, dass «der Führer» alles unübertrefflich geplant hatte, dass sich seine Erfolge wie Perlen an einer Schnur aufreihten? Und wie stellten sich die Deutschen zu den risikoreichen außenpolitischen Manövern ihrer Regierung?
«Mein Kampf» Der Zweite Weltkrieg begann im Ersten. Zumindest in der Vorstellungswelt des Nationalsozialismus und seines «Führers» Adolf Hitler. In «Mein Kampf», seiner politisch-programmatischen autobiographischen Erzählung aus dem Jahr 1925, entstanden während seiner Festungshaft nach dem gescheiterten Putschversuch in München, glorifizierte Hitler die vier Kriegsjahre als «die unvergeßlichste und größte Zeit meines irdischen Lebens». Dabei war der Österreicher in Diensten der bayerischen Armee ganz überwiegend fernab der Front als Meldegänger eingesetzt gewesen. Doch dieses Faktum ließ er im Folgenden lieber weg und breitete stattdessen eine Verschwörungstheorie aus: Die Deutschen seien um ihren Sieg gebracht worden, weil die Sozialisten 14
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und Marxisten, hinter denen die Juden stünden, das deutsche Volk erst verführt und dann verraten hätten. Der militärischen Niederlage habe sich die politische Abfuhr in Versailles angeschlossen. Die «größte Zeit» endete mit der «entsetzlichste[n] Gewißheit» seines Lebens: «Es war also alles umsonst gewesen.» Diesen Raub nationaler, vor allem aber persönlicher Erfüllung verzieh der spätere Weltvernichter «dem Juden» nie. «Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder- Oder./Ich aber beschloß, Politiker zu werden.»1 Und als vom Schicksal Auserwählter gerierte sich der 36-jährige in «Mein Kampf». Deutschland müsse wieder Großmacht werden, die schändlichen Folgen des Ersten Weltkrieges gelte es auszulöschen, eine nationale, völkische Revolution müsse her. Alle Gegner im Inneren, insbesondere Juden, aber auch andere Rassenfeinde wie «Zigeuner», hätten in dem aufzubauenden neuen Staat keinen Platz mehr. Den ehrlosen Linken drohte Hitler in seiner Schrift mit schärfster Verfolgung. Nie wieder dürfe es eine deutsche Armee mit marxistisch «infizierten» Soldaten geben! Auch Kranke und Behinderte wie andere Randgruppen nahm Hitler ins Visier der nationalen Erhebung. Sodann würde die NS-Bewegung für eine kraftvolle, aggressive Außenpolitik sorgen. Denn auch außerhalb Deutschlands warteten Judentum und jüdischer Bolschewismus nur darauf, in ihrem unermesslichen Machthunger Deutschland endgültig zu zerschlagen. Hort des Bösen, so Hitler im Einklang mit der spätestens seit 1919 nicht nur in rechten Kreisen gepflegten Verzahnung von Antisemitismus und Antikommunismus, war die Sowjetunion: «Im rus sischen Bolschewismus haben wir den im zwanzigsten Jahrhundert unternommenen Versuch des Judentums zu erblicken, sich die Weltherrschaft anzueignen».2 Aber dem gescheiterten Putschisten ging es nicht um Verteidigung, sondern um Angriff, um das, was er für einen Präventivkrieg hielt. Der jüdische Marxismus als ewiger Unheilstifter müsse endlich zerschlagen werden, 1918 dürfe sich nie wiederholen. 15
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Die riesigen Weiten Osteuropas galten Hitler dabei nicht nur als Ort der Destruktion, sondern auch des Aufbaus, als Lebensraum für die germanische Rasse. Und den brauchten, so tönte es auch im rechtsnationalen Diskurs der zwanziger Jahre, die Deutschen dringend. Zum einen würde unter der Herrschaft der Völ kischen die Geburtenrate anwachsen. Zum anderen sahen die braunen Kreise es als vordringlich an, die im Ausland lebenden Volksdeutschen, also Personen deutscher «Abstammung», jedoch ohne deutschen Pass, «heim ins Reich» zu holen. Geschätzte acht bis zehn Millionen lebten spätestens seit dem Versailler Vertrag vor allem jenseits der östlichen Staatsgrenzen: ein Großteil in der Tschechoslowakei sowie in Polen und in der Sowjetunion, dazu Hunderttausende in Rumänien, Ungarn, Jugoslawien, Estland, Lettland, Litauen. Damit die wachsende Bevölkerung der Gefahr der «Hungerverelendung» entgehe, müsse, fuhr Hitler fort, die Bodenfläche vergrößert werden. Der Siedlungs- und Ernährungsraum sollte sich vor allem in «Rußland und [den] ihm untertanen Randstaaten»3 finden, in Anknüpfung an historische Vorläufer wie die mittelalterlichen Kreuzzüge und als territoriale Beute eines siegreichen Kampfes gegen den «jüdischen Bolschewismus». Der Sieg sei leicht zu erringen, denn der «germanische Kern» in den Führungsschichten Russlands sei allmählich eingeschrumpft, das «Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Rußland wird auch das Ende Rußlands als Staat sein. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.»4 Die Katastrophe eines Rassenkrieges sollte kommen, wenngleich letztlich anders als von Hitler prophezeit. 1925 hatte die Gefängnisschrift ein Programm formuliert, das in seinen Grundzügen nicht weit entfernt war von dem, was das Dritte Reich ab 1933 außenpolitisch realisieren sollte. Dieses Selbstzeugnis ganz eigener Art kreiste um die Frage, wie Deutschland in die opti16
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male Position versetzt werden konnte, erfolgreich in die große Völkerschlacht gegen Judentum und Bolschewismus zu ziehen. Die Antwort hieß: als kontinentale Großmacht. Zu dieser Politik im größtmöglichen Format, so Hitler, gebe es keine Alternative: «Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein.»5 Der Lohn des Kampfes würde der Gewinn eines Imperiums sein, bis nach Sibirien – vergleichbar und gleichberechtigt mit Ländern wie Großbritannien oder Japan. Frankreich spielte auf der außenpolitischen Agenda Hitlers keine Rolle mehr. Denn erstens sei es jüdisch kontaminiert, der Staatsapparat unterwandert. Und zweitens sei nach dem «unfruchtbaren Ringen» der Vergangenheit einzig Frankreichs «Vernichtung» sinnvoll, weil Voraussetzung für die Kampagne gen Osten. Weiterer Baustein für die neue Rolle Deutschlands war die Rückkehr «Deutschösterreichs» zum «großen deutschen Mutterlande», schließlich gehöre «gleiches Blut» in ein «gemeinsames Reich»6. Schon im Parteiprogramm der NSDAP vom 24. Februar 1920 hatte der Zusammenschluss mit Österreich und den von Deutschen besiedelten Gebieten in der Tschechoslowakei eines der ersten Ziele dargestellt. Gesetzt war ebenso eine schlagkräftige Armee, personell aufgestockt und ausgerüstet mit den modernsten Waffen. Zugleich dachte Hitler über mögliche Bündnispartner in diesem Kampf nach. In Frage kämen nur Staaten, in denen der «zersetzende» Einfluss des Judentums sich noch nicht oder nicht mehr gezeigt habe. Das war seiner Meinung nach – neben dem faschistischen Vorbild Italien – das «rassisch wertvolle» und antikommunistische Großbritannien, das Imperium, das er aufrichtig bewunderte. Dass das Trio nicht recht zusammenpasste, störte ihn nicht. Mussolini betrachtete später die deutsche Annäherung an das britische Weltreich mit Argwohn, stand Rom doch mit London in kolonialer Konkurrenz um Nordafrika. Und ob Dow ning Street je Interesse an einem gemeinsamen Expansionskrieg gegen Moskau entwickelt hätte, darf auch bezweifelt werden. 17
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Doch würde, so Hitler in seinen Reflexionen über Interessensphären nach dem Sieg, das britische Empire als Seemacht eine geradezu kongeniale Ergänzung zu der zukünftigen deutschen Kontinentalmacht und zu Italiens Ausdehnung im Mittelmeerraum bilden. Hitlers ausschweifende Darlegungen in seinem späteren Longseller verflochten rassisch-völkisches Dogma mit einem universalen Herrschaftsanspruch, der noch nicht einmal vor den USA haltgemacht hätte. Vermutlich hätte er, wie er 1928 in sei-
nem «Zweiten Buch» andeutete, nach einem erfolgreich abgeschlossenen Krieg in Europa als Ergänzung Kolonien in Afrika anvisiert, um dann in einem dritten Schritt die Auseinandersetzung mit den USA zu suchen, dem aus seiner Sicht modernistisch- kapitalistischen Arm des Judentums. War also schon 1925 klar, dass Hitler einen erneuten Krieg, ja Weltkrieg vom Zaun brechen würde? Sein Wille zu militärischen Auseinandersetzungen war unzweifelhaft vorhanden, aber damals war Hitler nichts weiter als ein sonderlicher Ex-Zuchthäusler, der sich zum Anführer einer kleinen, gerade wieder zum Leben erwachten Splittergruppe am äußersten rechten Rand erklärt hatte. Und Papier ist bekanntlich geduldig. Was dem Mann und seiner nationalsozialistischen Partei Mitte der zwanziger Jahre unter anderem fehlte, war die politische Macht. Mit dem Regierungsantritt der NSDAP Ende Januar 1933 bestimmte zunächst jedoch die rücksichtslose Ausschaltung aller als Gegner ausgemachten Bevölkerungsgruppen die Politik der deutschen Staatsführung. Aggressive Kampagnen, Gewalt, Diskri minierung und Entrechtung beherrschten fortan die Lage der über 500 000 deutschen Juden. Ihre Welt sollte in den nächsten Jahren vollständig aus den Fugen geraten. Außenpolitisch ganz oben auf der Agenda der neuen Regierung standen die Aufrüstung, der Ausbau der Wehrmacht und die Außerkraftsetzung der europäischen Nachkriegsordnung. Außen- und Innenpolitik verschmolzen dabei: Die Aufrüstung sollte die Arbeitslosigkeit unter den Volksgenossen ebenso beseitigen wie eine kraftvolle Revisi18
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onspolitik einen Popularitätseffekt für das Regime bringen, wur de doch der Versailler Vertrag nach wie vor von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung als ungerecht empfunden. Die Reparationszahlungen seien überzogen gewesen, so die herrschende Meinung, die Gebietsabtretungen völkerrechtlich fragwürdig; die beschämende Begrenzung der Armee verletze das souveräne Recht auf Selbstverteidigung. Das unwürdige Außenseiter-Dasein, das war common sense, sollte ein Ende haben. In den Denkmustern Hitlers und der NS-Bewegung jedoch allein Revisionismus zu sehen, also die Korrektur der Versailler Friedensordnung, um den Status quo ante wiederherzustellen, käme einer Verharmlosung ihrer Absichten gleich. Das nun zu gründende «Dritte Reich» stellte sich zwar in die Tradition des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und des Kaiserreichs, sollte ansonsten aber eine Zäsur bedeuten. Hitler glaubte, etwas Neues in die Welt zu setzen, eine neue Ordnung für den Globus auf der Grundlage einer neuen rassistischen Weltanschauung ersonnen zu haben. Dafür war die Revision des Versailler Vertrags zunächst nur Mittel zum Zweck, nicht etwa Ziel an und für sich. Das Niederringen des jüdisch-bolschewistischen Feindes und damit die Eroberung von Lebensraum im Osten waren das innere Movens Hitler’scher Staatsführung, und sie waren dem Kanzler so wichtig, dass er die Zügel der Außenpolitik sofort an sich riss. Zwar schuf er auch in diesem politischen Feld die für das NS- Herrschaftssystem insgesamt charakteristische Netzwerk- und Konkurrenzsituation unterhalb der Ebene des «Führers». Eta blierte staatliche Institutionen wie das Auswärtige Amt sahen sich mit neuen Instanzen konfrontiert wie der Auslandsorga nisation der NSDAP, der parteieigenen Dienststelle Ribbentrop oder der Behörde für die außerhalb des Deutschen Reiches lebenden Volksdeutschen, der Volksdeutschen Mittelstelle. Inhaltlich entwickelten einzelne Gruppen wie die Wilhelminischen Imperialisten durchaus abweichende Konzeptionen, die wie anno 1900 als Teil der europäischen Großmachtstellung primär ein Kolo 19
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nialreich in Übersee verfolgten. Andere Vorschläge aus dem Auswärtigen Amt konzentrierten sich auf die Beseitigung des Versailler Vertrages – mit diplomatischen Mitteln. Männer wie Hermann Göring, der neben vielen anderen Aufgaben die deutsche Luftwaffe neu aufbaute, Joseph Goebbels, Gauleiter der Reichshauptstadt und Propagandaminister, oder Heinrich Himmler, Experte für die innere Sicherheit, buhlten um die Gunst ihres «Führers» und versuchten zu ergründen, was dieser wohl wolle. Entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der faktischen Außenpolitik hatten sie alle nicht. Hier hatte der Diktator das Sagen. Alle Instanzen politischer Mitbestimmung, alle konstitutionellen Gremien, die Regierung, der Reichsrat und auch der Reichstag waren ausgeschaltet. Das Kabinett tagte selten und am 5. Februar 1938 das letzte Mal. Außenpolitik sollte bis 1939 Hitlers Metier bleiben. Die Ziele hatte der Kanzler formuliert. Wie diese Visionen in konkrete Politik zu überführen waren, das stand im Januar 1933 noch längst nicht fest. Die außenpolitischen Konsequenzen und Handlungsoptionen der deutschen Regierung hingen vom Verhalten der Nachbarn in Europa ebenso ab wie vom fernen Amerika. Im Übrigen musste ja noch die Mehrheit der Volksgenossen gewonnen werden. Insofern wurde das Programm nicht einfach abgearbeitet, sondern seine konkrete Ausgestaltung, der Zeitpunkt der einzelnen Phasen wie die Abfolge der einzelnen Schritte wurden den politischen Zeitkonstellationen angepasst. Welche Strategie die NS-Regierung einschlug, welche Option sie wählte, hing von der jeweiligen Beurteilung der Lage ab. Spontanentschlüsse und Improvisationen prägten die NS-Politik.
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Revisionen
Revisionen Hitler hatte die Macht errungen – und zunächst blieb es außenpolitisch erstaunlich ruhig. Wie schon in der Zeit seines Aufstieges seit dem Ende der zwanziger Jahre hielt sich der Österreicher sowohl mit antisemitischen Tiraden als auch mit Kriegsrhetorik zurück. Der Mann schien Kreide gefressen zu haben. Downing Street war skeptisch und begegnete dem neuen Kanzler zunächst verhalten. Während Linke davon überzeugt waren, dass der De magoge nur eine Marionette der preußischen Junker und der braune Spuk bald vorbei sei, lobten andere Teile der britischen Öffentlichkeit den deutschen Antikommunismus. Und hatte nicht in der Tat der Versailler Vertrag die Deutschen zu hart getroffen und das Gleichgewicht auf dem Kontinent zugunsten Frankreichs verschoben? Aber was konnte man von einem ehemaligen Kunstmaler erwarten? Hitler jedenfalls spielte den ebenso offensiven wie expansiven Charakter seiner Vorstellungen herunter – oder ließ ihn herunterspielen. Gegenüber Paris zum Beispiel erklärte das Auswärtige Amt, der Kanzler habe die antifranzösischen Äußerungen in seiner Propagandaschrift nicht so gemeint, sie seien eben zeitgebundener Ausdruck der Rheinlandkrise gewesen. Ostentativ bekundete die deutsche Regierung ihren Willen zum Frieden. Auch das stetig wachsende Reichspropagandaministerium erfüllte seine Aufgabe der Camouflage ausgezeichnet. Vertrauensbildende Kontinuität verkörperte Konstantin von Neurath, er blieb Außenminister und war ein klassischer Vertreter der konservativen Beamtenschaft. Und selbst der politische Neuling, ja totale Außenseiter Hitler konnte punkten. Norman Davies, der Leiter der US-Delegation bei der Abrüstungskonferenz in Genf 1933, verstieg sich gar zu der Äußerung, Hitler sei «ein guter Mann – dumm und ungebildet, aber doch ein guter Mann»7. Dass dieser «gute Mann» die Öffentlichkeit zu täuschen beab21
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sichtigte, wurde deutlich, als er vier Tage nach der Ernennung zum Reichskanzler am 3. Februar 1933 bei einem internen Abendessen mit führenden deutschen Militärs seinen Willen, in ein paar Jahren Krieg in Europa zu führen, so klar wie lange nicht mehr bekräftigte. Das Treffen hatte Bedenken der Reichswehrführung über den «böhmischen Gefreiten» (Paul von Hindenburg) als neuen Kanzler zerstreuen sollen. Als Eckpunkte nannte Hitler die «Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie» sowie die «Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel». Dies diene dem Ziel des Aufbaus einer starken Wehrmacht, die eine notwendige Voraussetzung darstelle für die «Wiedererringung der pol. Macht»8. Nach der vollständigen Vernichtung des Marxismus im Innern wäre, so fuhr Hitler nach einer den Kommunisten in Moskau zugespielten, heimlich angefertigten Mitschrift der Ausführungen fort, das Heer fähig, «eine aktive Aussenpolitik zu führen, und das Ziel der Ausweitung des Lebensraumes des deutschen Volkes wird auch mit bewaffneter Hand erreicht werden». Diese deutsche Expansion werde sich, so hielt die Mitschrift fest, im «Osten» abspielen. Lebensraum meine dabei nicht eine Germanisierung der Bevölkerung analog zur Polenpolitik Bismarcks. Dies sei nicht möglich. Man könne, so der Kanzler, «nur Boden germanisieren. Man muss wie Polen und Frankreich nach dem Kriege rücksichtslos einige Millionen Menschen ausweisen.»9 Der frei gewordene Grund und Boden solle den eigenen Volksgenossen zugewiesen werden. Es ging dem neuen Mann also nicht nur um einen Rückgewinn ehemals deutscher Gebiete, sondern um einen Zugewinn von Territorium. Und: Der Expansionskurs des jungen Dritten Reiches sollte auf einen Krieg zusteuern, der unter der Flagge der Germanisierung dem «Volk ohne Raum» Räume ohne Volk zuführen sollte. Wohin die Polen und die anderen Völker «entfernt» werden sollten? Das blieb offen. Die Militärs lauschten den Worten des Reichskanzlers, manche überrascht, viele aber beruhigt angesichts der Versicherung, dass es neben der Reichswehr keine an22
Revisionen
dere bewaffnete Macht geben solle und dass die neue Wehrmacht nicht im Inneren eingesetzt werden würde. Im Übrigen, so äußerten einige nach der Rede, werde man ja sehen, ob der Kanzler den Mund nicht zu voll genommen habe. Indes: Mit ihrem Stillschweigen stellten sich die Offiziere an die Seite der neuen Regierung. Mitte Mai 1933 zeigte sich Hitler in seiner ersten größeren außenpolitischen Rede als Friedensfreund. Man respektiere die nationalen Rechte der anderen Völker und möchte «aus tiefin nerstem Herzen mit ihnen in Frieden und Freundschaft leben»10. Auch würden, so versicherte er, alle bestehenden Verträge eingehalten. Die Regierung winkte weiterhin mit dem Friedensfähnchen, als sie am 20. Juli das schon in der Republik diskutierte Konkordat mit dem Vatikan unterzeichnete. Das darin enthaltene Bekenntnis zur freien Religionsausübung und zum Schutz der konfessionellen Schulen sollte außerdem die eher distanzierte katholische Bevölkerung gewinnen. Die deutsche Sanftmut konn te den amerikanischen Generalkonsul in Berlin, George S. Mes sersmith, nicht überzeugen. Die zahlreichen Überfälle und Gewaltakte gegen Juden nach dem Reichstagsbrand sowie der Aprilboykott jüdischer Geschäfte, Kaufhäuser und Praxen hatten international vehementen Protest erregt und neue Zweifel gesät. Messersmith hatte schon am 9. Mai 1933 vom neuen Deutschland und der «nationalistischste[n] Regierung, die man sich vorstellen könne», nach Hause berichtet. Er prognostizierte, dass diese sich in den nächsten Jahren friedlich verhalten werde, um die eigene Macht zu konsolidieren. Danach aber werde sie auf jede Weise bestrebt sein, «dem Rest der Welt ihren Willen aufzuzwingen»11. Der Generalkonsul hatte recht: Aus der Perspektive des Re gimes war es zunächst das Wichtigste, Zeit zu gewinnen. Das Dritte Reich brauchte Zeit, um aufzurüsten, aus der wirtschaft lichen Depression herauszukommen und die notwendigen personellen, institutionellen und infrastrukturellen Kriegsvorbe reitungen zu treffen. Das alles musste so geschehen, dass insbesondere die Nachbarn Polen und Frankreich sich nicht zu ei23
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nem Präventivschlag herausgefordert sahen – zu früh aus deutscher Sicht, um erfolgreich zurückzuschlagen. Außenpolitische Konflikte, so von Neurath am 7. April 1933, seien so lange zu vermeiden, «bis wir völlig erstarkt sind»12. Zeit zu gewinnen bedeutete jedoch nicht abzuwarten. Vielmehr sollten Weichen gestellt werden. Die internationale Lage und die Erfolge der Vorgängerregierungen begünstigten die sukzessive Rücknahme der Versailler Nachkriegsordnung. 1932 hatte das Abkommen von Lausanne die Reparationszahlungen beendet. Deutschland wurde damit seiner außenwirtschaftlichen Beschränkungen ledig. Zu Beginn der dreißiger Jahre war zudem das Völkerbundsystem durch den Einmarsch japanischer Truppen in der Mandschurei unter Druck geraten. In Genf konnte man sich nicht auf Sanktionen gegen Tokio einigen. Diese Schwäche wollte Berlin nutzen. Als London und Paris in einem Alleingang von der deutschen Regierung eine Kontrolle ihrer Rüstungsanstrengungen verlangten, obwohl sie dem Reich noch ein Jahr zuvor militärische Gleichberechtigung zugestanden hatten, trat Berlin Mitte Oktober 1933 mit großem Aplomb aus dem Völkerbund aus. Ohnehin hatte man diesen als Instanz von Kontrolle und Beschränkung verabscheut. Ebenso beendete die deutsche Regierung die Teilnahme an den Abrüstungsgesprächen in Genf. Die Aufkündigungen waren ein erster risikoreicher Schritt, wusste die Wilhelmstraße doch nicht, wie das Ausland reagieren würde. Schließlich hatte man auch in Großbritannien und Frankreich die Kampagnen gegen jüdische Deutsche und das martialische Gebaren zuvor kritisch beobachtet. Deshalb glaubte der aus jüdischer Familie stammende protestantische Romanist Victor Klemperer in Dresden, dass der Austritt den Sturz der Regierung beschleunigen werde. Doch alles blieb ruhig. Goebbels schrieb ebenso erlöst wie anerkennend am 17. Oktober in sein Tagebuch: «Weltecho fabelhaft. Besser als wir gedacht. Schon suchen die anderen nach Auswegen. Wir haben wieder die Vorhand. Hitlers Coup war gewagt, aber richtig.»13 Die Strategie, «auf der einen Seite 24
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ohne Rücksicht auf diplomatische Gepflogenheiten vollendete Tatsachen zu schaffen und auf der anderen Seite die damit verbundenen Risiken durch vernebelnde Rhetorik, versöhnliche Gesten und lockende Angebote abzufedern»14, ging auf. Auch die deutsche Bevölkerung stimmte diesem Kurs recht einmütig zu. Der Schweizer Gesandte in Berlin, Paul Dinichert, berichtete am 17. November 1933 nach Bern, die Deutschen empfänden «die ungleiche Abrüstung als unerträglich» und seien «dem Völkerbund überhaupt nie zugetan»15 gewesen. Selbst Erich Klausener, der eigentlich wenig NS-affine Vorsitzende der «Katho lischen Aktion», eines Zusammenschlusses von über hundert Laienorganisationen, sandte ein Grußtelegramm an Hitler. Noch ganz beeindruckt vom Abkommen mit Rom, erklärte er, die Katholiken stünden geschlossen hinter dem «Führer und Kanzler in seinem Kampf für die Gleichberechtigung und die Ehre der Nation und die Wiederherstellung eines gerechten Friedens unter den Völkern»16. Nicht nur den Volksgenossen, sondern auch einem nüchternen Machtpolitiker wie Winston Churchill imponierte das Auftreten des Reichskanzlers. 1934 schrieb er geradezu eine Eloge auf ihn: Fünfzehn Jahre nach Beendigung des Kriegs habe es «der ‹Gefreite und Anstreicher› geschafft, Deutschland wieder an eine der mächtigsten Positionen in Europa zu rücken. Es ist ihm nicht nur gelungen, diese Position für sein Land zurückzugewinnen, sondern er setzte die Ergebnisse des Großen Krieges zum größten Teil außer Kraft.» Jene, die Hitler «von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, sei es in der Öffentlichkeit, im Geschäftsleben oder zu sozialen Anlässen, waren mit einem hochkompetenten, kühlen, sehr gut informierten Funktionär mit annehmbaren Manieren und entwaffnendem Lächeln konfrontiert. Und nur ganz wenige blieben von seinem unaufdringlichen, persönlichen Magnetismus unberührt.»17 Dieser «unaufdringliche» Mann verschob die Koordinaten des internationalen Systems beharrlich weiter. Am 26. Januar 1934 schloss Deutschland einen Nichtangriffspakt mit Polen. Hitler 25
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verstimmte mit dieser Wende das Außenamt gleich doppelt, hatte es doch bisher einen prosowjetischen und strikt antipolnischen Kurs verfolgt. Und er traf Frankreich, das nach dem Ersten Weltkrieg enge Beziehungen zu Warschau gepflegt hatte und jetzt von der deutsch- polnischen Annährung kalt erwischt wurde. Die überraschende Vereinbarung sollte für zehn Jahre Geltung haben und dem Regime Ruhe an der Ostgrenze bringen. Außenpolitisch schien sie auf ein Entgegenkommen Deutschlands hinzudeuten, stellte das Reich damit doch seine Ansprüche auf die ehemals deutschen Gebiete in Polen zurück, insbesondere auf das ost oberschlesische Industrierevier und den Korridor zwischen Danzig und Westpreußen. Klemperer konstatierte ernüchtert: «Der Glaube an eine Änderung der politischen Lage geht immer mehr verloren. Heute das Friedensabkommen mit Polen. Wenn das eine sozialistische oder ‹liberalistische› Regierung geschlossen hätte! Hochverrat, jüdischer Defätismus und Händlersinn! Jetzt: ‹Neue Großtat Adolf Hitlers.›»18 Unter dem Eindruck dieser anscheinend nur nach politischer Gerechtigkeit und Frieden strebenden Politik stimmten die Deutschen an der Saar im Januar 1935 über ihre Zukunft ab. Bis dato stand das Saargebiet unter der Verwaltung des Völkerbunds, und die Abstimmung hatte bereits der Versailler Vertrag vorgesehen. Fast 91 Prozent votierten für die Rückkehr ins Reich. Im Hause Klemperer hatte sich vor dem Urnengang ein «gewisser Stimmungsaufschwung» eingestellt aufgrund von Gerüchten, dass Berlin sehr nervös sei und die Reichswehr für einen «Umschwung» bereitstünde. Angesichts des prodeutschen, ja prona tionalsozialistischen Bekenntnisses schlug diese leise Hoffnung in tiefe Bedrückung um, denn Klemperer musste zugeben: «[I]ch habe mich wieder mal in Wunschträumen gewiegt»19. Es war der deutlichste Sieg, den die Nationalsozialisten je bei einer freien Wahl erlangten. Im März 1935 wurde das Saarland offiziell an das Reich übergeben, Goebbels triumphierte: «Eine Provinz zurück erobert.»20 26
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Einen offenen Bruch mit dem Friedensvertrag bedeutete die zeitgleich erfolgende Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht. Statt des vorgesehenen Berufsheeres von 100 000 Soldaten sollten 550 000 Mann in 36 Divisionen das Heer stellen – in Friedenszeiten. Das war eine gewaltige Größe. Wieder wurde die Karte gespielt, die anderen seien schuld. Am 16. März 1935 proklamierte Hitler, Deutschland habe ja alles erfüllt, was ihm auferlegt worden sei, aber leider hätten die anderen Staaten weiter an der Rüstungsschraube gedreht. Dieser bedrohliche Zustand der «ohnmächtigen Wehrlosigkeit eines großen Volkes und Reiches» müsse daher beendet werden. Die deutsche Regierung gehe dabei von denselben Erwägungen aus, denen der ehemalige Premierminister Stanley Baldwin «in seiner letzten Rede so wahren Ausdruck» verliehen habe: «Ein Land, das nicht gewillt ist, die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu seiner eigenen Verteidigung zu ergreifen, wird niemals Macht in dieser Welt haben, weder moralische noch materielle Macht.» Der «Führer» drückte sodann die «zuversichtliche Hoffnung aus, daß es dem damit wieder zu seiner Ehre zurückfindenden deutschen Volke in unabhängiger gleicher Berechtigung vergönnt sein möge, seinen Beitrag zu leisten zur Befriedung der Welt in einer freien und offenen Zusammenarbeit mit den anderen Nationen und ihren Regierungen.»21 Thomas Mann, schon seit 1933 im Exil, titulierte Adolf Hitler daraufhin treffend als «Erpressungspazifisten»22 und wollte ein Sendschreiben an die Deutschen richten, ließ es aber bleiben, als sein deutscher Verleger ihn an die guten Buchverkäufe und hohen Honoraranweisungen erinnerte. «Politisch hoffnungslos»,23 notierte Victor Klemperer, während Goebbels zufrieden verzeichnete: «Historische Stunde. […] Wir sind also wieder eine Großmacht.»24 Die Späher der illegalen SPD lauschten Volkes Stimme und hörten Zustimmung: «Es ist doch gerade unglaublich, was sich Hitler alles traut – wenn der so weiter macht, zwingt er die anderen auch noch nieder. […] Hitler hat fertiggebracht, was die anderen 14 Jahre lang nicht fertiggebracht haben.»25 27
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Die Weltöffentlichkeit fragte sich indessen aufgeregt, wohin das alles noch alles führen sollte. Für einen Moment folgte daraus die einzige gemeinsame Blockbildung gegen Hitler vor 1939. Im April 1935 schlossen im Kurort Stresa am Lago di Maggiore Frankreich und Großbritannien eine Übereinkunft, allen weiteren Vertragsbrüchen Deutschlands gemeinsam entgegenzutreten. Auch Italien war mit im Bunde, das sich als Schutzpatron Österreichs inszenierte und damit glaubte, sowohl die Deutschen – faschistische Brüder hin oder her – jenseits der Alpen aufzuhalten als auch im Streit mit Wien Südtirol zu behalten. Frankreich reagierte auf die Bedrohung durch den östlichen Nachbarn am 2. Mai 1935 zudem mit einem Beistandspakt mit der Sowjetunion. Zwei Wochen später schlossen die Sowjetunion und die Tschechoslowakei ein ähnliches Abkommen. Und Hitler? Er wiegelte ab und erklärte vor dem Reichstag am 21. Mai 1935: «Was könnte ich anders wünschen als Ruhe und Frieden?»26 Er werde keine territorialen Forderungen mehr stellen. Hier gehe es schlicht darum, den Deutschen wie anderen Völkern auch das Selbstbestimmungsrecht zuzugestehen. Seine Po litik damit zu begründen, dass die deutschen Gebietsabtretungen infolge des Versailler Vertrags das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen verletzt hätten und nur wieder zusammenkom m e, was zusammengehöre, war ein geschickter diplomatischer Schachzug. Denn damit bezog sich Berlin auf jenen völkerrechtlichen Grundsatz, den der damalige US-Präsident Woodrow Wilson als eine der Lehren aus dem Ersten Weltkrieg verkündet hatte. Die Beschwichtigung glückte, auch weil London jetzt einen Kurswechsel vollzog. Downing Street gedachte Deutschland durch Verträge in ein europäisches Sicherheitssystem einzubinden, die Zeit der Konfrontation sollte zugunsten einer begrenzten Anerkennung als politischer Akteur in Europa beendet werden. Konfliktvermeidung wurde zum obersten Grundsatz erklärt. Bloß kein erneuter, wirtschaftlich ruinöser und die nach Unabhängigkeit strebenden Kräfte in den Kolonien ermunternder Krieg! Ein 28
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Waffengang zwischen den Europäern würde das gesamte Empire in Gefahr bringen. Demgegenüber schien Hitler doch irgendwie beherrschbar, auch wenn darüber in Regierungskreisen nicht immer Einigkeit herrschte. Ein Versuch dieser Einbindung war das deutsch-britische Flottenabkommen vom 18. Juni 1935. Die britische Regierung gestattete den Deutschen, ihre Flotte auf 35 Prozent und die U-Boote auf 45 Prozent, gemessen an der britischen Stärke, auszubauen. Geschickt hatte Downing Street das Parlament und dessen mögliche Kritik umgangen. Die britische Admiralität gab den Forderungen aus Berlin nach, glaubte sie doch Deutschland damit zufriedenzustellen und sich infolgedessen auf die – aus der Per spektive des Empires – eigentlichen Schauplätze der Marineaufrüstung konzentrieren zu können: das Mittelmeer als Verbindung nach Afrika und den Pazifik mit dem Unruhestifter Japan. Mit Bedacht hatte Hitler sich zurückgehalten, ein völliges Gleichziehen mit Großbritannien ausgeschlossen und sich mit den Quoten für Frankreich und Italien aus dem Washingtoner Flottenabkommen begnügt. London hebelte mit seinem Alleingang weitere Restriktionen des Versailler Vertrag aus und schien die deutsche Aufrüstung zu akzeptieren. Mit diesem sensationellen Schritt brach es die deutsche außenpolitische Isolation auf. Victor Klemperer musste registrieren, dass Hitler es schaffte, die deutsche Mehrheitsbevölkerung immer mehr für sich einzunehmen – und das hieß letztlich: gegen die jüdischen Deutschen aufzubringen: «Der ungeheure außenpolitische Erfolg des Flottenab kommens mit England festigt Hitlers Stellung aufs bedeutendste. Schon vorher hatte ich in letzter Zeit den Eindruck, daß viele sonst wohlmeinende Menschen, abgestumpft gegen inneres Unrecht und speziell das Judenunglück nicht recht erfassend, sich neuerdings halbwegs mit Hitler zufriedengeben.»27 Der «Führer» konnte also mit dem Ergebnis höchst zufrieden sein. Er bezeichnete angeblich den 18. Juni 1935 als «den glücklichsten Tag seines Lebens»28. Ein erster Schritt in Richtung des 29
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ersehnten Bündnisses mit den Briten schien getan. Aktiv umwarb Berlin die «Nazi-Engländer», zu denen auch Churchills ungeliebter Cousin Lord Londonderry zählte. Er war nicht der einzige, als Luftfahrtminister aber der ranghöchste Politiker unter den eng lischen Hitler-Bewunderern. Diese Angehörigen der britischen Oberschicht befürworteten engere, ja freundschaftliche Beziehungen zu Berlin, sei es aus dem Geist des Antikommunismus oder des Antisemitismus. Schon aus dem Amt entlassen, weil er die deutsche Luftrüstung dramatisch unterschätzt hatte, genoss Lord Londonderry noch 1936 die Gastfreundschaft der Spitzen des NS-Regimes, unterhielt sich mit Hitler, weilte auf Görings Landsitz Carinhall und lud den deutschen Botschafter in London Joachim von Ribbentrop im Gegenzug auf seinen Familiensitz nach Irland ein. Londonderrys Frau schrieb Hitler im Februar 1936 nach ihrer Rückkehr: «Zu sagen, dass ich tief beeindruckt war, trifft die Sache nicht. Ich bin tief erstaunt. Sie und Deutschland erinnern mich an die Schöpfungsgeschichte in der Bibel.»29 Selbst erfahrene Politiker wie der liberale Ex-Premierminister David Lloyd George äußerten Bewunderung für den «Führer». Er betitelte ihn im September 1936 als «great man». Über die deutsche Politik ließ der Zeitungsbaron Lord Rothermere höchst freundlich in seiner Daily Mail berichten, der einflussreiche Politiker und Diplomat Lord Lothian forderte «justice for Germany» und Mitglieder des Kabinetts hielten Hitler für «Germany’s Mussolini». Das war anerkennend gemeint. Trotz des Abkommens verbesserten sich auch die deutsch- italienischen Beziehungen. Da Großbritannien sich mit der Flot ten-Note schnell wieder aus der Stresa-Front verabschiedet hatte, hielt sich auch Rom nicht mehr an seine früheren Versprechen. Zudem hatte es mit seinem Kolonialkrieg in Abessinien den Unmut von London und Paris auf sich gezogen. Nun wandte es sich Richtung Berlin. Das Problem Österreich lasse sich regeln, so Mus s olini im Januar 1936. Auch werde man sich bei weiteren deutschen Neujustierungen des Versailler Vertrages ruhig verhalten. 30
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Diesen Freifahrtschein ließ sich die nationalsozialistische Führung nicht entgehen und debattierte als nächsten Schritt den Einmarsch ins Rheinland, einer 1919 auf Drängen Frankreichs eingerichteten entmilitarisierten Schutzzone. Schließlich hatte bislang keine Macht die Verletzungen geltenden Völkerrechts mit Sanktionen belegt. Zudem sei die Lage doch günstig, wie der deutsche Diplomat Ulrich von Hassell ein Gespräch mit Hitler am 14. Februar 1936 wiedergab: Die Sowjetunion, so der Diktator, sei «nur darauf erpicht, im Westen Ruhe zu haben, England sei militärisch in schlechtem Zustand und durch andere Probleme stark gefesselt, Frankreich sei innenpolitisch zerfahren»30. Am 7. März 1936 ließ das Regime Truppen in die entmilitarisierte Zone einmarschieren. Als Vorwand nutzte die deutsche Regierung den Beistandspakt Frankreichs mit der Sowjetunion. Er stelle einen Bruch des Locarno-Vertrages dar, was es Deutschland wiederum erlaube, nicht nur den aufgezwungenen Versailler, sondern auch den aus freien Stücken unterzeichneten Locarno-Vertrag als gegenstandslos anzusehen. Überdies verwies man ein weiteres Mal auf das Selbstbestimmungsrecht. Den Affront abfedernd, offerierte Hitler seinerseits Verträge und Nichtangriffspakte sowie eine eventuelle Rückkehr in den Völkerbund. Dieser wiederum protestierte, Frankreich mobilisierte seine Truppen, und London warnte. Der deutsche Kriegsminister Werner von Blomberg drängte Hitler zum Rückzug. Doch Außen minister Neurath schloss sich das einzige Mal in seiner Karriere dem gefährlichen Kurs an: «Nun sin mer drinne, und nun bleibe mer drinne».31 Er ging davon aus, dass mit einer militärischen Reaktion nicht zu rechnen sei, und riet dem Reichskanzler weiterzumachen. In der Tat: Wie zuvor passierte nichts. Whitehall betrachtete die Besetzung im Gegensatz zu den entsetzten Belgiern und Franzosen als innerdeutsche Angelegenheit und verzichtete auf jede Erklärung seiner Solidarität mit Paris. Friedenserhaltung um jeden Preis, sich bloß nicht in ein kriegerisches Abenteuer verwickeln lassen, das war weiterhin die Losung Londons. So blieb es 31
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dabei: Sanktionen wurden nicht verhängt. Die Chance verstrich, Hitler in die Schranken zu weisen, ihm in einer Sprache Grenzen zu setzen, die er verstanden hätte, oder das Regime militärisch ganz hinwegzufegen – mit allerdings ebenso unbekannten wie unkalkulierbaren Folgen. Keines der beunruhigenden Ereignisse schien für sich genommen einen neuen Krieg wert zu sein – das war die herrschende Meinung, selbst in Frankreich. «Alles, nur nicht den Krieg! […] Alles, lieber Hitler als den Krieg»,32 schrieb der französische Romancier Roger Martin du Gard im September 1936 an einen Freund. Was passieren würde, wenn dieses Kalkül nicht aufgehen würde und Hitlers Eroberungshunger nicht gestillt war? Daran dachte man lieber nicht. Die Rheinlandbesetzung brachte militärisch die von den Deutschen angestrebte Entlastung im Westen: Hier wurde zur Befes tigung der Grenze ab 1938 der «Westwall» errichtet, ein über 600 Kilometer langes Verteidigungssystem. Es sollte die Voraussetzung schaffen, um im Falle eines Zwei-Frontenkrieges die Grenze zum französischen Nachbarn mit vergleichsweise geringem Kräfteaufwand zu verteidigen und das Schwergewicht des Angriffes auf die Ostseite zu legen. Innerhalb Deutschlands sorgte der erneute «Coup» für Höchstwerte Hitler’scher Popularität, wie Klemperer zu seinem Kummer registrieren musste: «Vor drei Monaten wäre ich überzeugt gewesen, daß wir am selben Abend Krieg gehabt hätten. Heute, vox populi (mein Schlächter): ‹Die riskieren nichts.› Allgemeine Überzeugung, und auch unsere, daß alles still bleibt. Eine neue ‹Befreiungstat› Hitlers, die Nation jubelt – was heißt innere Freiheit, was gehen uns die Juden an? […] Exemplum Martha Wiechmann, neulich bei uns, bisher ganz demokratisch. Jetzt: ‹Nichts imponiert mir so wie die Aufrüstung und der Einmarsch im Rheinland.›» Diese Zustimmung bedrückte Klemperer «unendlich»33, deprimiert glaubte er nicht mehr an eine Änderung der politischen Verhältnisse. Hitler blieb indessen trotz seiner Prestige- und Geländegewin 32
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ne rastlos. Er glaubte fest, die Welt stehe in einem gnadenlosen Kampf der Völker gegen den Marxismus, sprich: die Juden, und es sei seine welthistorische Mission, diesen Kampf zu gewinnen. Dabei gelte es, keine Zeit zu verlieren, wie er im August 1936 in seiner «Denkschrift über die Aufgaben eines Vierjahresplanes» verdeutlichte: «Seit dem Ausbruch der Französischen Revolution treibt die Welt in immer schärferem Tempo in eine neue Auseinandersetzung, deren extremste Lösung Bolschewismus heißt, deren Inhalt und Ziel aber nur die Beseitigung und Ersetzung der bislang führenden Gesellschaftsschichten der Menschheit durch das international verbreitete Judentum ist. Kein Staat wird sich dieser geschichtlichen Auseinandersetzung entziehen oder auch nur fernhalten können.» Der Zeitdruck, so der deutsche Kanzler, sei immens: «Das Ausmaß und das Tempo der militärischen Auswertung unserer Kräfte können nicht groß und nicht schnell genug gewählt werden! Wenn es uns nicht gelingt, in kürzester Frist die deutsche Wehrmacht in der Ausbildung, in der Aufstellung der Formationen, in der Ausrüstung und vor allem auch in der geistigen Erziehung zur ersten Armee der Welt zu entwickeln, wird Deutschland verloren sein! Es haben sich daher dieser Aufgabe alle anderen Wünsche bedingungslos unterzuordnen.» Europa habe «zur Zeit nur zwei dem Bolschewismus gegenüber als standfest anzusehende Staaten: Deutschland und Italien». Ein Sieg des Bolschewismus über Deutschland, so fuhr er in der ihm eigenen alternativlosen Radikalität fort, würde «zu einer endgültigen Vernichtung, ja Ausrottung des deutschen Volkes» führen. Gegenüber der «Notwendigkeit der Abwehr dieser Gefahr haben alle anderen Erwägungen als gänzlich belanglos in den Hintergrund zu treten!»34 Diese Liquidationsprosa fand – bei im Detail abweichenden Meinungen und vereinzelter Opposition – in der nationalsozialistischen Führungsriege einschließlich der Militärs durchaus Zustimmung. Die deutsche Gesellschaft wiederum sah in der Politik des Kanzlers vor allem die Korrektur des «Versailler Schand33
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diktats». Das kriegerische, das offensive Element in Hitlers Ausführungen ließ zwar Kriegsängste entstehen. Die wurden aber ebenso schnell wieder verdrängt, brachte diese Politik doch Arbeitsplätze, wirtschaftliche Prosperität und eben auch neues politisches Gewicht. All das waren Qualitäten, die der scheinbaren Zank- und Streitgesellschaft der Weimarer Republik, dieser trostlosen und wenig prächtigen Veranstaltung, gefehlt hatten. Unübersehbar war die wachsende Unterstützung, die das Regime in der deutschen Bevölkerung genoss. Zu diesem positiven Image trugen auch die bombastischen Olympischen Spiele in Berlin bei, die noch liefen, als Hitler vermutlich seine Vierjahresplandenkschrift diktierte. Fortschrittlich, freundlich und friedlich, so präsentierte sich das national sozialistische Deutschland im Sommer 1936 der Welt. Die antisemitischen Maßnahmen wurden zu diesem Zweck zurückgefahren, die «Stürmer»-Kästen und Anti- Juden- Schilder aus dem Straßenbild entfernt, während Roma und Sinti in Marzahn zwangsinterniert wurden und Razzien gegen Prostituierte und Obdachlose die Hauptstadt makellos erscheinen lassen sollten. Die Propaganda lief auf Hochtouren, Goebbels ließ die teuerste Party der Saison feiern. In- und Ausland reagierten begeistert auf Lichtdome und Massenaufläufe. Nur vereinzelt tauchten kritische Töne auf, sprach etwa die New York Times von der größten Propagandaschau der Geschichte. Derweil brach allmählich die Nachkriegsordnung zusammen. Das Reich mit seinem in seiner Persönlichkeit «so merkwürdig zusammengesetzt[en]»35 Herrn Hitler, wie es Herluf Zahle ausdrückte, der dänische Gesandte in Berlin, isolierte sich von den westlichen Demokratien – und stieg wie erstrebt zur Kontinentalmacht auf. Die Vernebelung der eigenen Absichten war nur ein Grund für den Erfolg der nationalsozialistischen Expansionspo litik. Für die Unauffälligkeit des Außergewöhnlichen sorgte neben der hohen personellen Kontinuität im Auswärtigen Amt die 34
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Furcht vor einem Export leninscher Revolutionen, die die west liche Welt mit den Deutschen teilte. Auch konnte von einer Staatengemeinschaft nur bedingt die Rede sein, waltete doch zwischen den nationalen Regierungen vielfach Uneinigkeit, die in Nichthandeln mündete und die Deutschen gewähren ließ. Frankreich – zweimal in den letzten 65 Jahren von Deutschland angegriffen – setzte entschlossene Akzente und forderte eine harte Linie gegenüber Berlin. Allerdings hatte es seit der Zeit des Ruhrkampfes 1923 sein Heer weder modernisiert noch offensiv ausgerichtet, so dass Paris zögerte, dieses einzusetzen. Zudem war die französische Gesellschaft kriegsmüde: Darauf mussten alle Parteien Rücksicht nehmen, gerade in Zeiten von Parlamentswahlen. Dagegen hielten die britischen Regierungen Frankreichs verbale Unnachgiebigkeit für wenig hilfreich. Im Gegenteil. Zugeständnisse an das Deutsche Reich wären nur fair, würden sie doch helfen, Ressentiments und Bitterkeit zu beseitigen und damit die Voraussetzungen für eine Reintegration Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft schaffen. Im Übrigen rang Großbritannien um den Erhalt seines Empires und wollte auf dem Kontinent möglichst Ruhe haben, nicht zuletzt angesichts einer anhaltenden Wirtschaftskrise und einer immer noch angespannten Haushaltslage. Die USA wiederum hatten sich einem strikten Kurs der Neutralität verschworen. Die UdSSR wurde als revolutionäre Macht ignoriert und bis Mitte 1939 nicht als legitimer Mitspieler in der Weltpolitik betrachtet. Und Deutschland war ja auch nicht der einzige Problemfall: Mehrere europä ische Staaten waren in der Zwischenkriegszeit ins rechtsextreme Lager gerückt, vom Bürgerkrieg in Spanien und Mussolinis Ausgreifen nach Afrika ganz zu schweigen. Kurz: Der Westen hatte in den unruhigen dreißiger Jahren mit den Machtansprüchen faschistischer Potentaten, mit der Krise in Ostasien, der sich anbahnenden Dekolonisierung in Indien, Syrien, dem Palästina- Problem, Irland, mit der kommunistischen Kampfansage durch die Sowjetunion und mit innenpolitischen Problemen, zuvör35
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derst der Wirtschaftskrise, alle Hände voll zu tun. Und noch nicht einmal eine Generation nach dem Ende des Ersten Weltkrieges – H. G. Wells zufolge the war to end all wars – scheuten die meisten Regierungen in Europa vor einem erneuten militärischen Konflikt zurück. Überdies agierten die Deutschen geschickt, und mitunter kam ihnen auch der Zufall zu Hilfe. Freilich galt: Jede ausbleibende Sanktion ermutigte Hitler. Eine bestimmte Form der Autosuggestion, die Nazi-Deutschen seien gar nicht so übel, spielte bei dieser Politik des Zuschauens vermutlich genauso eine Rolle wie Wunschdenken oder auch eine verstohlene Bewunderung für den Schneid des kleinen Gefreiten. Schließlich hinterließ auch die als kraftvoll wahrgenommene Politik der Nationalsozialisten, die die Arbeitslosigkeit scheinbar beseitigte, einen starken Eindruck. Trotz dieser Sympathien kam eine Allianz mit Berlin aber gerade für Großbritannien nicht infrage. Als Steigbügelhalter eines undurchschaubaren Hegemon auf dem Kontinent wollte London nicht fungieren. Da nutzten alle deutschen Herzlichkeiten gegenüber britischen Politikern oder dem Herzog von Windsor, der gerade wegen seiner Ehe mit der geschiedenen Amerikanerin Wallis Simpson als König abgedankt und 1937 den Obersalzberg besucht hatte, wenig. England unterschied sich in seiner ganzen «Lebensart, Stil und politischer Kultur»36 zu grundsätzlich von dem, was der Nationalsozialismus repräsentierte. So blieb Downing Street bei seiner Linie, und die hieß: Appeasement. Völlig unverständlich war die nachgie big-hinhaltende Haltung gegenüber Deutschland nicht. Neville Chamberlain, seit Ende Mai 1937 neuer Premierminister, setzte auf Zeitgewinn. So lange wie möglich sollte der Frieden in Europa bewahrt werden, indem man den deutschen Diktator durch Konzessionen beruhigte, in seinem aggressiven Ausgreifen zügelte – und währenddessen selber aufrüstete. Appeasement-Gegner wie die Labour-Partei und dann auch Winston Churchill machten sich hingegen keine Illusionen über den Willen Hitlers zum Krieg. Durchsetzen konnten sie sich nicht. Die britische Regierung spe36
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kulierte darauf, dass der «Führer» irgendwann einmal Ruhe geben würde. Hitlers Bündnisträume mit den Angelsachsen blieben somit Illusionen, was Anglophile wie die 48-jährige ehemalige Lehrerin und Hitler-Anhängerin Luise Solmitz, die in Hamburg mit einem getauften Juden verheiratet war, bedauerten: «Schade, daß gerade die beiden Völker, die zusammen die Vormacht in Europa sein würden, nie miteinandergehen.»37 Die britische Verschlossenheit sollte den «Führer» zutiefst enttäuschen. Wenn London immer noch kein rechtes Interesse an einem Bündnis mit ihm entwickeln mochte, dann mussten wenigstens Allianzen unter den autoritären Staaten her. Zu einem derartigen Block sah Hitler allen Grund: Nachdem in Spanien und Frankreich linke Re gierungen gewählt worden waren, wusste er Deutschland von bolschewistischen Staaten umringt. Folgerichtig unterstützte er Franco, auch mit dem Kalkül, dass der spanische Bürgerkrieg die Aufmerksamkeit von Deutschland ablenken und der Luftwaffe die Möglichkeit geben würde, sich zu erproben. Und die Legion Condor nutzte diese Chance. Sie führte den ersten massiven Luftkrieg gegen eine europäische Zivilbevölkerung. Ihr Angriff vom 26. April 1937 auf die für Basken kulturell bedeutende Stadt Guernica mit 1 600 Toten und weiteren 900 Verletzten wurde zu einem Symbol für die Gräuel des Krieges – und für den Stolz der Deutschen auf ihre Luftwaffe. Befehlshaber Oberstleutnant Wolfram von Richthofen notierte in seinem Tagebuch: «Guernica, Stadt von 5000 Einwohnern, buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. […] Bombenlöcher auf Straßen noch zu sehen, einfach toll.»38 Zudem wurden die Beziehungen zu Italien und, weniger innig, auch zu Tokio intensiviert – bislang hatte Berlin sich eher für Japans Kontrahenten China erwärmt. Die Deutschen hatten im November 1936 einen Antikominternpakt mit Japan geschlossen, in dem die beiden Staaten sich gegenseitig über die Kommunistische Internationale auf dem Laufenden halten wollten. Diesem 37
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Vertrag trat der Duce am 6. November 1937 bei, nach seinem pompös inszenierten und atmosphärisch angenehm verlaufenen Besuch in Berlin. Damit war die Grundlage für die Achse Berlin– Rom–Tokio geschaffen. Einen Tag vorher, am 5. November 1937, hatte Hitler Außen minister Neurath, Kriegsminister Werner von Blomberg und die Oberbefehlshaber der drei Teilstreitkräfte Werner von Fritsch, Erich Raeder und Hermann Göring in die Neue Reichskanzlei einbestellt. Thema war für alle Teilnehmer etwas überraschend das außenpolitische Szenario für die nächsten Jahre. Hitlers Adjutant Friedrich Hoßbach fertigte aus eigenem Antrieb eine Zusammenfassung des Treffens an. Nach diesen Aufzeichnungen führte der Reichskanzler in einem über zweistündigen Monolog aus, dass spätestens 1943/45 die «deutsche Raumfrage» gelöst werden solle. Eine Erweiterung des deutschen Territoriums sei unumgänglich, man könne sich mit dem momentanen Gebietsstand weder autark versorgen noch die landwirtschaftliche Produktion nennenswert steigern. Kolonien in Übersee seien keine Lösung, der notwendige Raum für das 85 Millionen zählende Volk der Deutschen könne nur in Europa gesucht werden. Zudem müsse man gewappnet sein für die Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus. Um sich eine bessere militärische Ausgangslage insbesondere gegenüber Frankreich zu verschaffen, müsse die südöstliche Flanke verstärkt werden. Das bedeute, die Tschecho slowakei und Österreich zu unterwerfen. Wenn man aus diesen Ländern dann zwei bis drei Millionen Menschen vertreibe, bedeute dies einen Zugewinn an Nahrungsmitteln für fünf bis sechs Millionen Menschen.39 Die Militärs reagierten entsetzt. André François-Poncet, der französische Botschafter, hatte noch im Juni 1936 nach Paris berichtet, dass kein Blatt zwischen Braun und Grau passe: «Unter dem Signum der Allianz zwischen Hitler und der Armeeführung ist das nationalsozialistische Deutschland auf dem Weg, zur gewaltigsten Militärmaschine der Geschichte zu werden.»40 Nun je38
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doch zeigten sich Brüche. Zwar schlossen sich die Generäle Hitlers Ziel einer deutschen Hegemonie in Europa an, aber doch nicht so schnell und so unvorbereitet! Des «Führers» Ideen, so ihr Einspruch, seien sehr risikoreich, angesichts der noch beschränkten Ressourcen für einen Krieg. England und Frankreich dürften auf keinen Fall so provoziert werden, dass sie Deutschland den Krieg erklärten. Hitler beruhigte die Gemüter, das befürchte er auch nicht ernsthaft. Man müsse aber demnächst zuschlagen, denn aktuell habe das Reich einen Rüstungsvorsprung. Zudem bleibe ihm aus Gesundheitsgründen nicht viel Zeit, sein Lebenswerk zu vollenden, in seiner Familie würden die Menschen nicht alt. Die Resonanz war charakteristisch für die nationalkonservativen Eliten in den dreißiger Jahren. Zwar wurden sie von der Vehemenz der Pläne, der Eroberungslust und dem schnellen Kurs auf den Krieg überrascht, beließen es jedoch bei verbalem Protest. Die Militärs – wie auch die Beamten des Auswärtigen Amts – fügten sich Hitlers Expansionsdrang. Die außenpolitischen Erfolge verfingen letztlich auch bei ihnen. Hitlers Dreistigkeit machte nicht nur Sorgen, sondern auch Eindruck, selbst bei denjenigen, die dem neuen Herrn weniger aus innerer Überzeugung denn aus Pflichtgefühl folgten. Überdies sorgte der «Führer» mit seiner Politik für neue soldatische und zivile Karrieren und – im Falle der Wehrmacht – für das Ansehen, das dem Militär seiner Meinung nach gebührte und das ihm in der Weimarer Republik verweigert worden war. Zudem teilten etliche Angehörige der po litisch-militärischen Klasse grundlegende Positionen der natio nalsozialistischen Weltanschauung: die Feindschaft zu Demokratie und Kommunismus, häufig auch zu Juden und «fremden Rassen», und die Sympathie für einen autoritären und straff geführten Staat. Auf dieses Einverständnis legte das Regime auch Wert. Geschickt inkorporierte Reichsführer Heinrich Himmler Spitzenbeamte des Außenamts in seine SS. Beispielsweise ließ sich der Leiter der Politischen Abteilung und künftige Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker 1938 – ebenso 39
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wie Außenminister Neurath ein Jahr zuvor – in Himmlers an geblichen Eliteorden aufnehmen. Außenamt und Wehrmacht ermöglichten mit ihrer Mischung aus Engagement, Mitmachen und Stillhalten die außenpolitischen Erfolge und bestärkten den Potentaten in seinem Kurs, der nur den wenigsten so falsch schien, dass sie aus ihrer Kritik Konsequenzen zogen. Zu ihnen gehörte der deutsche Gesandte in Rom Ulrich von Hassell, der eine Aufnahme in die SS ablehnte und sich später dem konservativen Widerstand anschließen sollte. Hitler, der von seinen Offizieren und Spitzenbeamten wiederum mehr Enthusiasmus erwartete, sann bereits über neues Personal nach. Anfang 1938 spielte ihm ein weiteres Mal der Zufall in die Hände, als er die Skandale um Kriegsminister von Blomberg und den Oberbefehlshaber des Heeres (ObdH) von Fritsch im Januar zum Anlass nahm, in einem großen, die Kritik vernebelnden Revirement das Personal an der Spitze der Wehrmacht und im Auswärtigen Amt auszutauschen (darunter auch von Hassell) und mit Vertrauten zu besetzen. Das Kriegsministerium wurde auf gelöst, stattdessen wurde das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) unter der Leitung von General Wilhelm Keitel, Spitzname «Lakeitel», installiert. Oberbefehlshaber des Heeres wurde Wal ther von Brauchitsch; Göring, dem Hitler nicht viel zutraute, bekam einen schöneren Titel, nämlich den eines Generalfeldmarschalls; Außenminister Neurath wurde durch den Hitler-Intimus Ribbentrop, auch «der Papagei» genannt, ersetzt. Die Neuen waren Hitler treu ergeben. Und: Der «Führer», laut Verfassung ohnehin Oberbefehlshaber der Wehrmacht, übernahm nun auch die Kommandogewalt. Die lästigen Debattengeräusche schienen abgestellt, die Münchner Neuesten Nachrichten titelten: «Stärkste Zusammenfassung aller Kräfte in der Hand des Führers».41 Die Korrektur der Vergangenheit sowie die Planung der Zukunft gingen also weiter, nun in Österreich. Schon im Juli 1936 hatten Deutschland und Österreich einen Vertrag geschlossen, der das Alpenland de facto zum Satelliten des Reiches machte. 40
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Österreichische Nationalsozialisten sollten an der Regierung beteiligt werden. Kanzler Kurt Schuschnigg hatte in seiner Unterschrift eine Art Vorwärtsverteidigung gesehen, bedrängt von Italien und Deutschland und nach der Zurückhaltung Frankreichs und Großbritanniens während der Rheinland-Krise allein gelassen. Von Hassell bezeichnete das Agieren des österreichischen Kanzlers als «Selbstmord aus Furcht vor dem Tode»42. In der Folgezeit verweigerte sich Schuschnigg jedoch immer wieder den Bestimmungen, als Reaktion schürten österreichische Nationalsozialisten die Spannungen. In dieser Situation si gnalisierte London im November 1937 gegenüber Berlin, dass es einer friedlichen Annexion zustimmen würde. Anfang 1938 verabredete Franz von Papen, Hitlers persönlich unterstellter Botschafter in Wien, einen Besuch Schuschniggs. Am 12. Februar 1938 traf dieser in Berchtesgaden auf einen wütenden Hitler: Offen drohte der Diktator mit einer militärischen Intervention, wenn Schuschnigg der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich nicht freie Hand lasse, den NS-Aktivisten Arthur Seyß-Inquart nicht zum Innen- und Sicherheitsminister mache und sich außenpolitisch nicht dem Willen des Reiches beuge. Italien stehe hinter ihm, und England und Frankreich würden für Österreich keinen Finger rühren. Tatsächlich: Großbritannien sah politisch keinen Sinn darin, einen «Anschluss» zu verhindern, wenn beide Gesellschaften doch unbedingt zueinanderwollten und diese Neuordnung die international wenig populäre Schuschnigg-Regierung beseitigte. Und weder London noch Paris wähnten sich in der Lage, sich dem Ansinnen militärisch entgegenzustemmen. Die USA wiederum blieben bei ihrer Politik der Nichteinmischung. Der österreichische Kanzler, gedemütigt und wohl wissend, dass ein Blutvergießen sinnlos wäre, nahm die Bedingungen an. Dann aber setzte er zur letzten Gegenwehr an und kündigte eine Volksabstimmung für ein «freies», «unabhängiges» und «christliches» Österreich an. Zur Wahl zugelassen werden sollten nur Wähler über 24 Jahre, 41
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was den Ausschluss vieler aus der NS-affinen jungen Generation bedeutete. Damit brachte er Berlin wieder gegen sich auf. Mittels eines fingierten Telegramms, das Wien «Hilfe» beim großen Bruder suchen ließ und eine «wirkliche» Abstimmung über den Status Österreichs in Aussicht stellte, war schnell eine Legitimation gefunden, in Österreich einzumarschieren.
Expansionen Am 12. März 1938 überschritt die Wehrmacht die deutsche Grenze und rückte zum ersten Mal in einen anderen Staat ein, umjubelt von der dortigen Bevölkerung. Das Ganze war eine große martialische Show, gut vorbereitet und auf perfekte Außendarstellung bedacht. In Hamburg saß Luise Solmitz begeistert am Radio: «In Wien Rausch der Begeisterung, Deutschlandlied, alles, wie bei uns in diesen Märztagen vor 5 Jahren; ein Bollwerk fällt nach dem anderen, die Wiener Polizei grüsst mit Heil Hitler und trägt das Hakenkreuz. Man wundert sich, wo alle die Armbinden und Flaggen plötzlich herkommen.» Seyß-Inquart war nach Linz «gekommen und Görings Schwager Lurger, der Oesterreichische Justizminister». Fliegerstaffel folge auf Fliegerstaffel, notierte die Lehrerin. Dann spricht Himmler: «Wir Deutschen sind stolz auf euch deutsche Oesterreicher. ‹Ein Führer, ein Volk, ein Reich.› Der Nächste: ‹Ein Volk, ein Reich …› Menge: ‹Ein Führer!!› Das Holz unseres Rundfunks zittert von den deutschen schweren Bombern in Linz, Kinderstimmen singen dazwischen, Erwachsene stimmen ein.»43 Was weder der Paulskirche 1848 gelungen war noch Bismarck 1871 hatte realisieren wollen, schien Hitler erreicht zu haben: ein Großdeutschland. Goebbels notierte in sein Tagebuch: «In 2 Tagen wurde Geschichte gemacht.»44 Auch wenn die anschließende Volksabstimmung mit ihrer 99-prozentigen Zustimmung gefälscht war, an der Zustimmung der Mehrzahl der Österreicher 42
Expansionen
zum Anschluss bestand kein Zweifel. Der französische Geschäftsträger in Österreich, Jean Chauvel, notierte am 28. März 1938 zum Einmarsch der deutschen Truppen süffisant: «In Wien selbst war dieser Empfang recht herzlich. Die Tatsache, das Hakenkreuz am Knopfloch zu tragen, den Hitlergruß zu zeigen und das Horst Wessel Lied zu singen, gibt der Bevölkerung, angeleitet durch den professionellen Enthusiasmus der Nazidemonstranten, das Gefühl von Freiheit.»45 Immerhin konzedierte er, dass der Anschluss eine lange Phase der Ungewissheit beendet habe, Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung bereite und der Jugend die Befriedigung gebe, nicht mehr einem kleinen instabilen Staat, sondern einem großen Volk anzugehören. Nur ganz vereinzelt hörte man Stimmen wie die von Franz Bauer aus dem kleinen Marktflecken Thaya im Waldviertel nahe der tschechoslowakischen Grenze. Angesichts des dörflichen Freuden-Fackelzugs machte der Pfarrer seinem Ärger in einer heimlich geführten Chronik Luft: «Ja, was glauben denn diese Narren? Wird ihnen Hitler das Paradies bringen? Den Krieg bringt er!»46 Der Einsicht von Menschen wie Pfarrer Bauer zum Trotz: Nichts verlieh dem Nationalsozialismus mehr Popularität als Erfolge. Man musste nicht «Nazi» sein, um nationale Sehnsucht zu verspüren, um die vermeintliche Größe und Ehre Deutschlands wiederhergestellt sehen zu wollen. Im Übrigen glaubte die Mehrheit der Deutschen den Friedensbeteuerungen der Nationalsozialisten. Die Begeisterung teilten vor allem die Jüngeren; die Stimmung der älteren Generation war in der Regel ambivalenter. Sie pendelte zumeist zwischen Entsetzen über jeden neuen Coup und dann Erleichterung, wenn es doch nicht zum Blutvergießen gekommen war: Dann waren «die Nazi […] wieder obenauf»47, wie die Exil-SPD berichtete. Das Vertrauen in die Fähigkeiten und die Umsicht des «Führers» war groß und wuchs mit jedem Triumph. Hedwig Pringsheim schrieb ihrer Tochter Katia Mann am 15. März 1938 aus München: «Wir hier schwimmen ja in einem Meer von Flaggen, von Begeisterung, von Verbrüderung.»48 Ihr Schwieger43
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sohn, auf Vortragsreise in den USA, notierte angesichts der Schlagzeilen in der mitgeschickten Frankfurter Zeitung («Erfüllte Sehnsucht» und «Adolf Hitler in Österreich»): «Grauenhafter Anblick. Rasch weggelegt.»49 Verbessert war nun auch die geostrategische Lage: Deutschland konnte von drei Seiten auf das nächste Zielgebiet, die Tschecho slowakei, zugreifen. Die Annexion Österreichs bedeutete zudem wirtschaftlich reiche Beute: dringend benötigte Arbeitskräfte und Rohstoffe, vor allem Eisenerz, Gold- und Devisenreserven sowie den direkten Zugang zum südosteuropäischen Markt. Die Wehrmacht konnte um mehr als 60 000 Männer verstärkt werden. Seyß-Inquart wurde zum Reichsstatthalter ernannt. Die «Bekämpfung der Reichsfeinde» nahm die SS auf, schließlich sollte in den neuen Gebieten nachgeholt werden, was im Reich fünf Jahre gedauert hatte. Zum ersten Mal setzte sie hier sogenannte Einsatzkommandos ein. Himmler hatte diese Spezialeinheiten aus Teilen seiner bewaffneten paramilitärischen Elitetruppe zusammenstellen lassen. Sie sollten nach dem Einmarsch politische Gegner aufspüren und festsetzen. Der Sicherheitsdienst der SS (SD) unter Führung des 34-jährigen Schnellkarrieristen Rein-
hard Heydrich hatte zuvor entsprechende Informationen ge sammelt. Mit der Aufstellung dieser Sondereinheiten markierte Himmler seinen Anspruch, die SS als Machtfaktor der NSDAP auch in den Expansionsgebieten zu verankern und damit ihren Einfluss weiter auszudehnen. Misshandlung oder Tötung festge nommener Personen war strengstens untersagt. Gleichwohl hatten die Einheiten erhebliche Handlungsspielräume bei der Umsetzung ihrer Befehle. Sozialdemokraten, Kommunisten, Juden, selbst Schuschnigg – sie alle wurden nun scheinlegal verfolgt. «Himmler hat sie alle verhaftet»,50 trompetete Goebbels. Mit jeder Annexion, mit jedem Einmarsch wuchs die Zahl von Juden oder zu Juden erklärten Menschen im Machtbereich der Nationalsozialisten, etwa 200 000 gerieten allein in Österreich unter deutsche Kontrolle. Konfrontiert mit dem beeindrucken44
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den jüdischen Leben in Wien und bestärkt durch einen weitverbreiteten Antisemitismus, verstärkte sich die Gewalt. Schlagartig änderte sich das Leben der österreichischen Juden. Die Deutschen zwangen «Nichtarier», auf Knien mit Zahnbürsten, Bürsten und Lauge Österreich-Parolen des alten Regimes zu beseitigen – umringt von grinsenden Passanten und mit dem Segen von zuschauenden Ordnungshütern. An der Ringstraße wüteten Orgien von Raub und Verwüstung. Die Sahnestücke sicherten sich die neuen Machthaber, in das Palais Ephrussi zum Beispiel zogen die Kunsträuber vom Amt Rosenberg ein. Die Familie wurde misshandelt und flüchtete unter der Erklärung, auf ihr Vermögen zu verzichten, nach England. Das war ganz im Sinne der neuen Machthaber: Wien solle eine «rein deutsche Stadt»51 werden, so Goebbels. Adolf Eichmann, 32-jähriger österreichischer Referent für Judenfragen im SD in Berlin, wurde in seine Heimat zurückbeordert. Zusammen mit seinem Stellvertreter, dem 26-jährigen Alois Brunner, sollte er die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien aufbauen. Mit Erfolg: Geschockt von den Gewaltmaßnahmen und angetrieben von Eichmann und Brunner, emi grierten in zwölf Monaten über 90 000 Juden. Josef Löwenherz, Leiter der israelischen Kultusgemeinde Wien, bezeichnete jeden Besuch bei Eichmann als «Canossagang»52. In Berlin wurde Hey drich auf den effizienten Organisator aufmerksam. Die Pogrome schwappten auch über ins Altreich. Der amerikanische Botschafter Hugh R. Wilson berichtete am 22. Juni 1938, dass es in Berlin zu einer Serie von gewalttätigen Straßenaktionen gekommen sei, «followed by large groups of spectators who seemed to enjoy the proceedings thoroughly»53. Im übrigen Europa reagierten die jüdischen Gemeinden auf die deutsche Expansion beunruhigt; größere Emigrationswellen blieben aber aus, man schien ja nicht betroffen zu sein. Erneut hatte die NS-Regierung gegen die Verträge von Ver sailles und St. Germain verstoßen, erneut hatten die europäischen Mächte das Vorgehen als Fait accompli akzeptiert. Franz 45
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Bauer, der Pfarrer aus Thaya, empörte sich: Die Großmächte der Welt «rühren keinen Finger, um die armen betroffenen Völker von i hren Peinigern zu befreien. Diese Schuld werden sie nie von sich abwaschen können!»54 Und in Dresden prognostizierte Victor Klemperer niedergeschlagen: «Der ungeheure Gewaltakt der Österreichannexion, der ungeheure Machtzuwachs nach außen und innen, die wehrlos zitternde Angst Englands, Frankreichs usw. Wir werden das Ende des dritten Reichs nicht erleben.»55 Die leichte Einverleibung Österreichs bestärkte Hitler in seiner brutalen Machtpolitik. Goebbels beobachtete am 20. März 1938, wie dieser sich dem Studium der Landkarte widmete: «[Z]uerst kommt nun Tschechei dran. Das teilen wir mit Polen und Ungarn. Und zwar rigoros bei nächster Gelegenheit. Memel wollen wir jetzt schon einsacken.» Man sei «jetzt eine boa constrictor, die verdaut. Dann noch das Baltikum, Stücke von Elsass-Lothringen.»56 Konsolidierung hätte Stillstand bedeutet, und den gab es aus der Perspektive Hitlers nicht. Es musste immer weitergehen, Zeitdruck und kürzeste Fristen bestimmten das Vorgehen. Der dänische Gesandte in Berlin Herluf Zahle brachte die Rastlosigkeit des Regimes auf den Punkt: «[D]ie Regierung des Herrn Hitler [ist] keine Regierung wie in irgendeinem anderen Land.» Hinter der im «Führer» «kondensierten nationalsozialistischen Bewegung steht die neue Weltanschauung des Dritten Reiches, die grund legend anders ist als jene des früheren Deutschlands. Der offizielle Titel des nationalsozialistischen Regimes ist bekanntlich ‹die nationalsozialistische Bewegung›. Das zuletzt genannte Wort enthält das Bild einer ständigen Entwicklung oder jedenfalls einer ständigen Transformation.»57 Die Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich notierte in ihrem Tagebuch den Kommentar eines Freundes: «Tyrannen aber sind Getriebene. […] Soll ihnen nicht selbst der Atem ausgehen, müssen sie andere in Atem halten.»58 Die Tschechoslowakei verdankte ihre Existenz ebenso wie Polen und die Staaten des Baltikums dem Ersten Weltkrieg, sie war 46
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aus den Trümmern des Verlierers Österreich-Ungarn entstanden. Dementsprechend hatte Prag sich mit den einstigen Gegnern Deutschlands verbündet, mit Frankreich und der Sowjetunion. Zu der deshalb aus deutscher Sicht angeblich anstehenden Bolschewisierung und einer inakzeptablen Militärhilfe durch Moskau kam hinzu, dass in der ČSR über drei Millionen Sudetendeutsche lebten – die größte nationale Minderheit, die überdies auch noch mit der Sudetendeutschen Partei (SdP) die stärkste Kraft im Parlament stellte. Diese Aktivisten standen der NS-Regierung und deren Revisionsbestrebungen sehr nahe, zudem sahen sie neidvoll auf das Reich, wo Vollbeschäftigung herrschte. Die Annexion Österreichs gab der SdP gehörigen Auftrieb, weiter aufgeputscht durch entsprechende Aktionen im Altreich. So notierte der polnische Generalkonsul in Leipzig, Feliks Chiczewski, am 15. März 1938, im sächsisch- tschechoslowakischen Grenzgebiet würden die drei Millionen Sudetendeutschen angefeuert, im «‹Kampf für Ehre und Größe Deutschlands› auszuhalten». In Leipzig «hörte man unter sudetendeutsche Emigranten in zahlreichen lebhaften Gesprächen, dass eine der nächsten Etappen im politischen Kampf des ‹Führers› die Befreiung der Sudeten sei»59. «Heim ins Reich» hieß also nun die Losung. Am 28. März 1938 eilte der Führer der SdP Konrad Henlein nach Berlin und erfuhr von Hitler, dass das tschechische «Problem» kurz vor einer «Lösung» stehe. Henlein solle überzogene Forderungen stellen, die die tschechoslowakische Regierung nicht würde erfüllen wollen, so dass ein Eingreifen Deutschlands abermals «nötig» werden würde. Im Mittelpunkt stand dabei nicht nur die Eingliederung des Sudetenlandes, sondern die Zerschlagung des tschechoslowakischen Staates überhaupt. Berlin hegte gerade gegenüber den Tschechen rassistische Ressentiments und stellte sie als aufsässig, unehrlich und charakterlos dar. Zehn Tage nach dem «Anschluss» fasste Goebbels die Pläne zusammen: «Armes Prag! Davon wird nicht viel übrig bleiben.»60 47
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Im Frühjahr und Sommer 1938 tobte die Krise, Deutschland drohte mit Krieg. Der tschechoslowakische Präsident Edvard Beneš ließ am 20. Mai 1938 die Streitkräfte mobilisieren, weil er glaubte, ein deutscher Überfall stehe kurz bevor. London, Moskau und Paris erneuerten demonstrativ ihre Beistandsverpflichtungen gegenüber Prag. Am 23. Mai 1938 notierte Klemperer: «[D]ie tschechische Angelegenheit ist der Explosion nahe. Deutschland wird einmarschieren, das scheint gewiß, und wahrscheinlich wird sich der österreichische Erfolg wiederholen.»61 Doch Berlin ruderte zurück, die Militärs hatten Hitler gewarnt. Chamberlain war erleichtert, wollte er doch keinen Krieg für eine in seinen Augen unbedeutende Nation riskieren. Er formulierte: Wie «furchtbar, phantastisch, unglaublich ist es, dass wir hier Schützen gräben ausheben und Gasmasken aufsetzen sollen, weil sich in einem fernen Land ein Streit zwischen Menschen abspielt, von denen wir nichts wissen».62 Diese Aussage war charakteristisch für das wachsende Verständnis für deutsche Forderungen. Downing Street hielt Grenzkorrekturen für erträglich, berichtigten sie doch die unheilvolle Kompromisslosigkeit des Versailler Vertrages und linderten die deutschen Phantomschmerzen. Darüber hinaus offenbarte sich in diesen Äußerungen auch die politische Topographie des Premierministers: Bombay lag ihm näher als Prag. Die Briten überließen Hitler den Kontinent. Aber auch in Deutschland schien manchen das Geschehen weit weg zu sein. Klemperer gab am 25. Mai die vox populi in Gestalt des Kaufmanns Vogel wieder: «‹Ich weiß gar nicht, was vorgeht, ich lese keine Zeitung.› Die Leute sind vollkommen abgestumpft und gleichgültig. Vogel sagte noch: ‹Es kommt mir immer alles wie Kino vor.› Man nimmt eben alles als theatralische Mache, nimmt nichts ernst und wird sehr verwundert sein, wenn einmal aus dem Theater blutige Wirklichkeit wird.»63 Parallel zu den Vorgängen in Mitteleuropa tagten in Evian auf Betreiben Roosevelts seit Anfang Juli 1938 Vertreter aus 32 Nationen, um eine Lösung für die sich verschärfende Problematik jüdi48
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scher Flüchtlinge zu finden – ohne Ergebnis. Höhnisch kommentierte der Völkische Beobachter: «Keiner will sie».64 Kaum ein Land sah sich imstande, jüdische Immigranten aufzunehmen, zumal wenn diese ohne Finanzmittel kamen, weil die deutschen Behörden sie vorher systematisch ausgeplündert hatten. In den USA herrschte noch die Wirtschaftskrise. Kein Politiker war hier bereit, das Heer der Arbeitslosen zu vergrößern und sich der Stimmung im Lande zu widersetzen, die in der Regel gegen großzügigere Einwanderungsquoten war. Diese ablehnende Haltung galt auch für die anderen Teilnehmerstaaten der Konferenz. Mit ihrer Abwehrhaltung schränkten sie die Handlungsmöglichkeiten der Juden immer stärker ein. Gleichzeitig manövrierte sich aber das NS- Regime in eine Sackgasse: Arme Juden fanden keine Auf-
nahme, das Ziel, sie zu vertreiben, wurde verfehlt. In Europa brodelte der Konflikt um die «Tschechei» derweil weiter, liefen die Aufrüstung und der Bau von Grenzbefestigungen auf Hochtouren. Noch aber gab es Verhandlungen, war nichts entschieden. Das Hauptargument der deutschen Seite war das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen, das «tschechische Mordbanden» immer wieder und ohne staatliche Gegenwehr angeblich verletzten. Auf diplomatischem Parkett bemühte sich die deutsche Außenpolitik, die Tschechoslowakei zu isolieren, indem man Warschau und Budapest, die beide Gebietsfor derungen an Prag stellten, auf seine Seite zu ziehen versuchte. Goebbels registrierte in seinem Tagebuch: «Der Führer steckt ganz voll Sorgen und Plänen. Die Frage der Sudetendeutschen muss mit Gewalt gelöst werden. Prag will kein Einsehen haben. Führer muß nur Zeit gewinnen. Darum sein Verhandeln mit London. Befestigungen im Westen sind noch nicht fertig. Unsere Generale in Berlin haben natürlich wieder die Hosen voll. Aber das nützt nun doch nichts.» Den Krieg «will der Führer vermeiden. Darum bereitet er sich mit allen Mitteln darauf vor.»65 Noch wollte der «Führer» tatsächlich den Krieg möglichst vermeiden, war aber zugleich an einer Verhandlungslösung nicht in49
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teressiert. Am 30. Mai hatte Hitler den 1. Oktober 1938 als Termin genannt, an dem die Wehrmacht bereit sein müsse, in die Tschechoslowakei einzumarschieren. Führende Militärs, Diplomaten und Konservative unterstützten zwar den Plan, sich Böhmen und Mähren einzuverleiben, scheuten aber wiederum einen zu frühen militärischen Konflikt mit Frankreich und mit dem als Bündnispartner nicht abgeschriebenen England. Das Taumeln am Abgrund nahmen daher einige Spitzenbeamte im Auswär tigen Amt und in der Heeresführung zum Anlass, auf Konfron tation zu gehen. Zu dieser Gruppe zählte der Generalstabschef des Heeres Ludwig Beck. In einer Denkschrift regte er Mitte Juli 1938 sogar an, dass die Generalität zurücktreten solle, um Hitler von seinen halsbrecherischen Plänen abzuhalten. Weil ihm von Brauchitsch die Unterstützung verweigerte, sah sich Beck isoliert und reichte am 18. August 1938 seinen Rücktritt ein. Doch weiter schmiedeten verschiedene Militärs und Beamte, darunter Ernst von Weizsäcker, Pläne für einen Putsch; selbst nach London schickte man Emissäre, die zur Entschlossenheit gegenüber Hitler mahnten. Aber Downing Street hielt sich zurück. Und der General der Artillerie Franz Halder, der aus dem Lager der Opponenten zu den Regierungstreuen wechselte, wurde zum Nachfolger Becks ernannt. Damit war das Thema Opposition vom Tisch. Hitler deutete die Anzeichen von Kritik als Ausdruck von Kleinmut und Feigheit im Heer. Er selbst schätzte das Risiko eines Krieges bei einem Einmarsch in das Sudetenland als gering ein. Wenn überhaupt, dann würde Paris zu den Waffen greifen. Doch mit der Fertigstellung des Westwalls im frühen Winter würde Frankreich sich das überlegen. Goebbels gab die Gedanken seines Herrn und Meisters wieder: «Dann sind wir vom Westen aus unangreifbar. Frankreich kann dann nichts mehr machen.» Und der andere Bündnispartner, die Sowjetunion? Hitler winkte ab: Moskaus «Waffen sind schlecht und noch schlechter sein Material» – was ja durch die Schwäche der von Stalin unterstützten Republikaner im spanischen Bürgerkrieg «erwiesen»66 worden sei. 50
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Die Deutschen hingegen befürchteten das Schlimmste. Kaum jemand hielt die Sudetenfrage für so wichtig, dass sie mit einem Krieg beantwortet werden müsse. Der polnische Generalkonsul in Breslau, Leon Koppens, fasste die Stimmung zusammen: «Die hiesige Bevölkerung zeigte angesichts der Kriegsgefahr keine besondere Begeisterung. Aus Gesprächen, die ich mit bedeutenden Persönlichkeiten aus Regierung und Partei […], mit Vertretern von Wirtschaftskreisen und schließlich einer Reihe gewöhnlicher Leute führte, ergab sich, dass bei allen mehr oder weniger die Angst vor einem länger dauernden Krieg umgeht wegen der mangelnden Vorbereitung Deutschlands, aber auch angesichts der Stärke der Koalition, mit der man sich würde messen müssen. Man wies auch darauf hin, dass der Grund für einen eventuellen Krieg in keinem Verhältnis zu den Opfern stünde.» Ähnliche Stimmen «existierten, soviel ich weiß, im ganzen Reich»67. Der Krieg kam (noch) nicht. Luise Solmitz hielt die überraschende Wendung am 14. September 1938 in ihrem Tagebuch fest: «Wer rettet Europa in letzter Stunde? Antwort auf diese Frage um 24 Uhr: Der englische Premierminister Chamberlain will es versuchen! Eine Anfrage, fast Bitte, ob er kommen könne, er im Flugzeug, er, der nie in einem Flugzeug je reiste. Hitlers Antwort: Morgen auf dem Obersalzberg. […] Der Premierminister des Empire, der sich erbietet, nach Deutschland zu fliegen, um den Frieden zu retten. Wer hat so etwas je erlebt.»68 Am 15. September 1938 führte Chamberlain erste Gespräche mit Hitler auf dessen «Berghof». Eine Woche später traf man sich in Bad Godesberg, um einen friedlichen Ausweg aus der Krise zu erreichen. So oder so, für Klemperer stand der Gewinner schon fest: «Wieder wird das dritte Reich siegen – durch Bluff oder wirklich durch Gewalt, die so übermächtig ist, daß sie nicht erst zu kämpfen braucht? Chamberlain fliegt morgen das zweitemal zu Hitler. England und Frankreich bleiben ruhig, in Dresden steht das sudentendeutsche ‹Freikorps› fast schon einmarschbereit. Und das Volk hier ist überzeugt von der alleinigen Schuld der Tschechen – neueste Schlag51
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wort: der Hussiten – und von der Friedensliebe, Gerechtigkeit und reinen Befreierabsicht Hitlers.»69 Unter Druck und allein gelassen von seinen Verbündeten, stimmte die tschechoslowakische Regierung am 21. September 1938 schließlich der Abtretung der mehrheitlich deutsch besiedelten Gebiete zu. Dennoch Hitler ließ die Situation eskalieren und drohte mit der Invasion. Prag sah sich in die Ecke gedrängt und machte am 23. September 1938 mobil. Die Bündnispartner reagierten, am 25. September versetzte Großbritannien seine Flotte in Kriegsbereitschaft, und Frankreich berief Reservisten ein. Berlin stellte dem tschechischen Präsidenten ein Ultimatum bis zum 28. September, 14 Uhr, sonst werde die Wehrmacht in das Sudetenland einmarschieren. Am 27. September fuhren demonstrativ motorisierte Truppen auf dem Weg an die Grenze durch Berlin. Hitler zeigte sich kurz auf dem Balkon der Reichskanzlei. Der erhoffte Jubel der Bevölkerung blieb aber aus. Ruth Andreas- Friedrich und ihre Freundin waren in der Menge auf dem Wilhelmplatz in eine ostentativ stumme Gruppe geraten. Ein junger Arbeiter, so ihre Aufzeichnungen, knurrte: «Wenn det nich Krieg heißt, freß ick ’n Besen.» Sein Nachbar nickte zustimmend: «Und wir sind die Dummen.»70 Parallel betonte Hitler unablässig, das Sudetengebiet sei die letzte deutsche territoriale Forderung. Von Frankreich wolle man nichts, genauso wenig von Polen, man verzichte auf Elsass-Lothringen und Südtirol und sei überhaupt um den Frieden in der Welt bemüht. So richtig verstehen konnte Luise Solmitz die Situation und diese Eskalation nicht, denn die Tschechoslowakei wollte das Sudetenland ja abtreten: «[W]arum kämpfen wir drum, stellen ein Ultimatum? […] Um was streitet man eigentlich?»71 Gute Frage: Offenbar war es der Propaganda nicht ganz gelungen zu verschleiern, dass die NS-Führung die Tschechoslowakei von der europäischen Landkarte entfernen wollte. Die Situation wurde entschärft, als Mussolini, von Chamberlain und dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt 52
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darum gebeten, das Angebot machte zu vermitteln. Dem konnte sich das NS-Regime schwerlich entziehen – umso weniger, als die deutsche Bevölkerung eisig schwieg. Hitler soll verbittert festgestellt haben: «Mit diesem Volk kann ich noch keinen Krieg führen.»72 Also lud man Chamberlain, den französischen Ministerpräsidenten Édouard Daladier und Mussolini nach München ein. Beneš musste zuhause bleiben. Das Ergebnis der Unterredung dieser «4 Friedenstauben»73, wie die nationalkonservative, aber pazifistische Hedwig Pringsheim spottete, war eine Katastrophe für die Tschechoslowakei. Das Münchner Abkommen vom 29. Sep tember 1938 sah vor, das Sudetengebiet etappenweise an das Deutsche Reich abzugeben. Weitere Gebietsabtretungen wurden auf die Zeit nach einer Volksabstimmung vertagt. Auch Polen und Ungarn wurden Nutznießer des Zerfledderns ihres Nachbarn. Im Gegenzug garantierten England und Frankreich den Bestand des tschechoslowakischen Reststaates. Sie vertrauten weiterhin darauf, mit Nachgiebigkeit das nationalsozialistische Deutschland stillzuhalten und einen möglichen Krieg zu verhindern oder wenigstens aufzuschieben, und opferten die Tschechoslowakei, die nur als Gegenstand, nicht aber als Subjekt des Völkerrechts behandelt wurde. Beneš musste sich dem Abkommen fügen. Recht ungerührt ließen die westlichen Großmächte kleinere europäische Staaten über die Klinge springen, solange es in Europa nur nicht zum Krieg kam. Jan Masaryk, der tschechische Botschafter in London, äußerte gegenüber Chamberlain: «Wenn Sie mein Land geopfert haben, um den Weltfrieden zu retten, werde ich der erste sein, der Ihnen Beifall spendet, aber wenn nicht, dann helfe Gott Ihren Seelen, meine Herren.»74 Europa atmete auf und zeigte sich erleichtert über den Ausgang der Münchener Konferenz. Erneut war ein Krieg abgewendet, eine unblutige Verhandlungslösung erlangt worden. Nur Stalin fühlte sich düpiert, war er doch nicht nach München eingeladen worden. Die Einigkeit des Westens schien ihm suspekt. Er überlegte, einen Keil zwischen die Riege zu treiben und seine 53
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Fühler nach Berlin auszustrecken. Auch Hitler war nur halb zufrieden. Er hatte sein Ziel der Zerschlagung des tschechoslowa kischen Staates und der Inbesitznahme Böhmens und Mährens nicht erreicht. Angesichts der Unpopularität eines Krieges bei den Deutschen war mehr aber nicht möglich gewesen. Dem «Führer» blieb nur, ein weiteres Mal seine Friedensliebe zu bekunden, indem er Chamberlain am 1. Oktober 1938 vertraglich zusicherte, alle Streitfragen allein auf dem Verhandlungswege zu lösen. Die deutsche Presse frohlockte über den «Friedensstifter Hitler». Im Unterhaus brach Jubel aus, Chamberlain verkündete «Peace for our Time» – was er später relativierte mit dem Hinweis, der Ausruf sei einem «moment of some emotion»75 geschuldet gewesen. Der Friedensnimbus verschaffte Hitler einen erneuten Popu laritätszuwachs im Deutschen Reich. Die Bevölkerung reagierte euphorisch auf München. «München, Deutschland, die Welt entspannt»,76 schrieb Hedwig Pringsheim in ihr Tagebuch. Luise Solmitz, furchtbar enttäuscht, dass sie wieder nicht ihrer «jubelnden Herzensfreude» durch Hissen der Reichsflagge Ausdruck verleihen durfte – das Aufziehen der Nationalfahne war Juden seit den Nürnberger Gesetzen 1935 verboten, und Solmitz’ Ehemann war Jude –, imponierte vor allem der britische Premierminister: «Chamberlain überschüttet von Briefen, von Blumen mit dem Dank deutscher Mütter, – ein einzigartiger Tag in der deutschen Geschichte.» Sein «langer, schwarzer, sorgsam gerollter Regenschirm bleibt auch nicht unerwähnt! ‹Good old Neville›.»77 Hingegen entzog der Jubel über «General Unblutig» der nationalkonservativen Opposition jegliche Überzeugungskraft. In Dresden trieben Klemperer diese dauernden Erfolge zur Verzweiflung: «Für das Volk in der ‹Aufmachung› der deutschen Presse ist es natürlich der absolute Erfolg des Friedensfürsten und genialen Di plomaten Hitler. Und wirklich ist es ja auch ein unausdenkbar ungeheurer Erfolg. Kein Schuß fällt, und seit gestern marschieren die Truppen ein. Man wechselt Friedens- und Freundschaftswünsche mit England und Frankreich, Rußland ist geduckt und still, 54
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eine Null. Hitler wird noch übermäßiger gefeiert als in der Österreichsache. […] Aber wir sind nun zur Negersklaverei, zum buchstäblichen Pariatum verurteilt bis an unser Ende. Einen halben Tag lang meinte ich, nun müßte der Mut zum Selbstmord aufgebracht werden. Dann kam wieder der alte Zustand: Stumpfheit, Wartenwollen.»78 Mit jedem außenpolitischen Erfolg, mit jeder expansiven Annexion steigerte sich die Bedrückung der jüdischen Bevölkerung, verschlimmerte sich ihre Stigmatisierung und Isolierung. Im Herbst 1938 traute sich die NS-Regierung erstmals, im Rahmen der «Polenaktion» in Deutschland lebende Juden, denen Warschau die Staatsangehörigkeit entzogen hatte, systematisch und gewaltsam zu vertreiben und im deutsch-polnischen Niemandsland sich selbst zu überlassen. Die immer aggressivere Außenpolitik stützte führende NS-Funktionäre in ihrem Glauben, bei antijüdischen Maßnahmen kaum noch Rücksicht auf das Ausland nehmen zu müssen. Die «Reichskristallnacht» vom 9. auf den 10. November 1938 gründete auf dieser neu gewonnenen Dreistigkeit sowie der Frustration, dass immer noch allein im Altreich über 350 000 jüdische Deutsche lebten, von den neuen Gebieten ganz abgesehen. Doch wohin mit ihnen, wenn sich die meisten Staaten abschotteten? Selbsthilfeaktionen der Betroffenen wie die «Kindertransporte» vor allem nach England – die von Ende November 1938 bis etwa Mitte 1940 andauerten, von Juden und Quäkern initiiert und von der britischen Regierung unterstützt worden waren – retteten mehr als 10 000 Kinder. Das große Unglück, das der Nationalso zialismus für die Familien bedeutete, ging aber weiter, ob in London bei fremden «Eltern» oder daheim bei verzweifelten Müttern und Vätern. Hier galt Goebbels’ ebenso drohende wie trotzige Parole vom 4. Dezember: «Wir werden nicht locker lassen, bis wir sie heraushaben.»79 Daran arbeitete nun auch Heydrich. Er ließ sich von Göring im Januar 1939 angesichts der Eichmann’schen Effizienz in Wien und der Notwendigkeit einer zentralen Instanz die 55
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Leitung einer «Reichszentrale für die jüdische Auswanderung» zusichern. Unterdessen trauten viele in Europa dem soeben geretteten Frieden nicht. In Frankreich nannte der Sozialist Léon Blum das Abkommen einen «feigen Rückzug»80. In Breslau warnte Generalkonsul Koppens, man könne «aus der mangelnden Kriegsbegeisterung nicht allzu weitreichende Folgerungen bezüglich der Friedfertigkeit der Bevölkerung oder einer eventuellen Einstellung gegen das Regime ziehen»81. In England wertete Churchill am 5. Oktober das Ergebnis der Konferenz als Erfolg einer beispiellosen Erpressung durch Hitler. «Schweigend, trauernd, verlassen und gebrochen versinkt die Tschechoslowakei in der Dunkelheit. […] Glauben Sie nicht, daß dies das Ende ist. Das ist erst der Beginn der Abrechnung.»82 Der Erfolg der Münchner Konferenz war in der Tat trügerisch. Hitler nutzte den Winter 1938/39 dafür, diese Scharte auszuwetzen und das Versäumte nachzuholen. Am 3. Oktober 1938, nur zwei Tage nachdem Prag das Abkommen akzeptiert hatte, äußerte er gegenüber Goebbels seinen festen Entschluss, die «Rest tschechei» zu zerstören. 14 Tage später sprach er dann weitere Invasionsetappen an: die seit dem Versailler Vertrag unter dem Schutz des Völkerbundes stehende Freie Stadt Danzig und mit ihr Polen, zuvor das Memelland. Dieses Gebiet mit etwa 175 000 Einwohnern genoss aufgrund der Memelkonvention von 1924 einen Autonomiestatus innerhalb Litauens. Unmissverständlich stimmte der Potentat nun auch die Bevölkerung auf einen militärischen Konflikt ein. Am 10. November 1938 teilte er ausgewählten Journalisten vertraulich mit, dass es notwendig werde, das «deutsche Volk psychologisch allmählich umzustellen und ihm langsam klarzumachen, daß es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen»83. Zu diesen «Dingen» gehörte unabänderlich ein «Großgermanisches Reich». Für die NS- Führung ging es dabei um alles. Himmler hatte zwei Tage zuvor 56
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erklärt, den «Führer» paraphrasierend, es werde «das großgermanische Imperium oder das Nichts»84 geben. Hitler fühlte sich so im Aufwind, dass er Ende Januar 1939 den Bau einer großen U-Boot-Flotte befahl, vielleicht schon mit Blick auf einen Konflikt mit den USA. Washington wie den amerikanischen und europäischen Juden jedenfalls galt seine Drohung im Reichstag am 30. Januar 1939. Am sechsten Jahrestag der «Machtergreifung» versuchte er sein Publikum im In- und Ausland einzuschüchtern und mit der ihm scheinbar zuteilgewordenen Gabe der Vorsehung zu beeindrucken: «Wenn es dem internationalen Finanz judentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.»85 Was er konkret mit «Vernichtung» meinte, blieb offen. Zuallererst kam es auf den Gestus der Radikalität an, die der «Führer» als antijüdischer Heilsbringer für sich beanspruchte. Der Ton wurde schärfer, die Drohungen lauter, ein Zurück gab es immer weniger. Der tschechoslowakische Staat war unterdessen dem Deutschen Reich schutzlos ausgeliefert. Seine Bündnispartner hatten ihn abserviert, ihm drohte die nächste Abspaltung. Ermutigt durch München, intensivierten die Slowaken ihre separatistischen Tendenzen und wurden dabei von Deutschland kräftig unterstützt. Der tschechische Staatspräsident Emil Hácha, der dem ins Exil geflohenen Edvard Beneš gefolgt war, setzte den deutschfreundlichen Ministerpräsidenten Jozef Tiso ab. Zusätzlich entsandte er Truppen in die Slowakei, um eine völlige Auflösung seines Landes zu verhindern. Diese Entscheidung nahm die deutsche Regierung als Rechtfertigung für eine Annexion. Goebbels schrieb: «Prag ist gegen die Slowaken vorgegangen und hat die Regierung Tiso, die einen autonomen Staat unter unserer Patronanz schaffen wollte, verhaften lassen. Das ist ein Sprungbrett. Jetzt kann man die Frage, die wir im Oktober nur halb lösen 57
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konnten, ganz lösen.»86 Am 12. März 1939 erhielt die Wehrmacht den Einsatzbefehl, am 15. März sollte sie einmarschieren und das «Zwittergebilde» (Goebbels) zerschlagen. Luise Solmitz protokollierte: «Der Deubel ist los in der Tschechei; wieder spitzt sich die Lage zu.»87 Am 14. März erklärte Bratislava seine Selbständigkeit. Unter dem Eindruck der slowakischen Krise ersuchte der tschechische Staatspräsident Hitler um eine Unterredung. Goeb bels notierte in seinem Tagebuch: «Hacha und [Außenminister] Chvalkowski kommen in Berlin an. Der Führer läßt sie bis Mitternacht warten und langsam und allmählich zermürben. So hat man es mit uns in Versailles gemacht. Es sind das die alten, bewährten Methoden der politischen Taktik.»88 Es war sogar schon 1.15 Uhr, als der herzkranke 66-jährige Hácha endlich in das riesige, einschüchternde Büro in der Reichskanzlei geführt wurde. Laut Protokoll des Auswärtigen Amts hatte die Taktik des «Führers» Erfolg: Hácha eröffnete das Gespräch untertänig mit Worten des Dankes für die Einladung und der Wertschätzung Hitlers «wunderbarer Ideen». Er gab sich überzeugt, «daß das Schicksal der Tschechoslowakei in den Händen des Führers läge», und fügte hinzu, er glaube, dass es dort «gut aufgehoben sei». Das war allerdings ein Irrtum, denn Hitler machte seinem Besucher unmissver ständlich klar, dass in weniger als fünf Stunden deutsche Truppen die Grenzen der Tschechoslowakei überschreiten würden: Die «nun rollende Militärmaschine lasse sich nicht aufhalten».89 Dann drohte Göring mit der Bombardierung Prags, falls den deutschen Truppen Widerstand geleistet würde; daraufhin erlitt der Staatsgast einen Schwächeanfall. Wenig später, am 15. März morgens um 3.55 Uhr, unterschrieb er ein «Abkommen», das den bisherigen Staat Tschechoslowakei zerschlug und Böhmen und Mähren als «Protektorat» unter deutsche Kontrolle stellte. Nur sechs Monate nach dem Münchner Vertrag marschierten deutsche Truppen in Prag ein. Der frühere Außenminister Kon statin von Neurath wurde zum Reichsprotektor ernannt, ihm als Staatssekretär an die Seite gestellt wurde der radikale sudeten58
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deutsche SS-Brigadeführer Karl Hermann Frank. Gleichzeitig bat Tiso um den Schutz des Deutschen Reiches, deutsche Truppen rückten daraufhin in Bratislava ein. Das Dritte Reich hatte die Tschechoslowakei damit von der politischen Landkarte getilgt. Die Slowakei wurde nicht inkorporiert, sie behielt eine eigene Regierung und ein eigenes Staatsoberhaupt. Das klerikal-natio nalistische Regime unter Tiso stand aber fest an der Seite NS- Deutschlands. Die Besetzung des Landes war wirtschaftlich und militärisch ein – aufgrund der Engpässe dringend benötigter – Gewinn. Deutschland profitierte von Rohstoffhandelsverträgen und Deviseneinkünften der früheren Tschechoslowakei, die es jetzt übernahm. Zudem kamen bedeutende Vorräte an Waffen, Munition und nicht zuletzt Goldbeständen sowie mit den Škoda-Werken einer der größten europäischen Maschinenbauer und Rüstungskonzerne unter deutsche Kontrolle. Auch die Bestände der gut bestückten tschechoslowakischen Armee waren fette Beute für die Wehrmacht. Das Sprungbrett nach Ost- und Südosteuropa war bereitet, der Lebensraum im Osten – Klemperer: der «Weg zur Ukraine»90 – rückte näher. Wie in Österreich und zuvor im Sudetenland nahmen SS-Einsatzgruppen etwa 10 000 vermeintliche Gegner, Intellektuelle, Politiker, Gewerkschafter, Studenten, fest und initiierten Vertreibungen. 118 000 Juden gerieten unter deut sche Herrschaft. Sie wurden einer umfassenden «Arisierung» ihres Eigentums ausgesetzt – und erhöhtem Druck auszureisen. Ende Juni 1939 sollte Adolf Eichmann kommen, um als Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung nun auch in Prag die Vertreibung und Ausraubung der tschechischen Juden zu perfektionieren. Aber indem die Deutschen sich die Resttschechei einverleibten, überspannte Hitler den Bogen. «Es sieht schwarz, ganz schwarz aus in der politischen Welt», notierte Solmitz am 19. März 1939, «böser, scheint mir, selbst als im September. Jetzt handelt es sich um ein fremdes Volk.»91 Diese Annexion war nicht mehr mit dem 59
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Verweis auf das Selbstbestimmungs recht oder andere völkerrechtliche Normen zu erklären. Selbst Downing Street konnte nicht vor der Einsicht die Augen verschließen, dass Hitler mit seinen Eroberungen nicht aufhören und einen Krieg bewusst in Kauf nehmen würde. Chamberlain schlug in einer Rede am 17. März 1939 erstmals kritische Töne an, indem er, in die Figur der rhetorischen Frage gekleidet, Hitlers Friedensbeteuerungen als Täuschungsmanöver wertete. Er kündigte an, dass man niemals die Freiheit dem Friedenswunsch opfern würde, sollte die gewaltsame Beherrschung der Welt drohen. Unterdessen waren im autonomen Memelgebiet die von den Deutschen geschürten Unruhen wieder aufgeflammt «Was wird aus Memel?», fragte sich Luise Solmitz am 17. März. «Mächtig rührt dort der deutsche Geist die Schwingen; ich glaube nicht, dass die Litauer noch viel zu bestellen haben.»92 Fünf Tage später war es so weit. «Wir wachten auf, – u. Memel ist unser!! Es ist nicht zu fassen […]. Was ist Hitler für ein Übermensch!»93 Litauen, dem angedroht wurde, Kaunas zu bombardieren, trat ohne viel Gegenwehr das Gebiet an Deutschland ab. London reagierte und garantierte am 31. März 1939 mit Blick auf den nächsten Nachbarn Deutschlands die Sicherheit Polens. Konsultationen mit Frankreich und dem Commonwealth schlossen sich an, zudem sorgte man sich um die Staaten Südosteu ropas. Am 26. April 1939 führte Großbritannien die allgemeine Wehrpflicht ein. Auch Frankreich befürchtete weitere Gewalt streiche in Ost und West. Paris begrüßte die Annäherung Großbritanniens, die Beziehungen zu Berlin hingegen sollten überprüft werden. Sichtbarstes Zeichen der wachsenden Distanz war die weitgehende Abwesenheit des diplomatischen Korps auf Hitlers 50. Geburtstag, einem offiziellen Feiertag, am 20. April 1939. Die ranghöchsten Gratulanten waren nach dem päpstlichen Nuntius die Marionetten Emil Hácha, Konstantin von Neurath und Jozef Tiso; Frankreich und die USA hatten niemanden ent sandt, andere Staaten unbedeutende Vertreter. Ungeachtet dieser 60
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Schmach dauerte die kolossale Militärparade bei «Führerwetter» fünf Stunden, 40 000 Soldaten und 1 500 Offiziere zogen an der Tribüne und dem Beifall zollenden Publikum vorbei, dazu 600 Panzer, 40 schwere Geschütze und zahllose andere Waffen. 25 000 SA-Männer und mehr als 15 000 Mitglieder des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps, Polizisten sowie 600 Mann SS rundeten die einschüchternde Heerschau ab. Goebbels jubilierte: «Ein glänzendes Bild deutscher Macht und Stärke.» Der Minister registrierte «Stürme des Beifalls» und freute sich: «Der Führer wird vom Volk gefeiert, wie nie sonst ein sterblicher Mensch gefeiert worden ist. So also stehen wir da. Im gleißenden Sonnenlicht leuchtet die Siegesgöttin. Ein wunderbares Vorzeichen.»94 Doch nun traten die USA auf den Plan. Lange Zeit hatten sich hier die Anti-Interventionisten durchsetzen können, die einem stärkeren Engagement in Europa eine Absage erteilten. Dennoch hatte Roosevelt in seiner «Quarantäne-Rede» vom 5. Oktober 1937 zum Ausdruck gebracht, dass die US-Regierung dem Treiben diktatorischer Regime nicht tatenlos zusehen werde. Frieden, Freiheit und Sicherheit von 90 Prozent der Menschheit, so der Prä sident in Chicago, seien von 10 Prozent gefährdet, die aus der Staatengemeinschaft ausgestoßen und unter «Quarantäne» gestellt werden müssten. Gemeint waren die schon vorher von ihm als «bandit nations»95 bezeichneten Verbündeten Japan, Italien und Deutschland. Die «Reichskristallnacht» verstärkte die Vorbehalte. Roosevelt ließ seinen Botschafter aus Berlin abberufen. Ihm gelang es, im Zusammenspiel mit innenpolitischen Zugeständnissen die Antiinterventionisten zusehends in die Defensive zu treiben und eine parlamentarische Basis für die Abkehr vom Isolationismus in die Wege zu leiten. Damit deutete sich zum ersten Mal eine gemeinsame Reaktion der Westmächte gegen die Expansionsbestrebungen des Dritten Reiches an. Auch die Möglichkeit eines britisch-amerikanischen Bündnisses wurde denkbar. Roosevelt forderte Anfang April 1939 für 31 namentlich genannte unabhän61
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gige Nationen eine zehnjährige Nichtangriffsgarantie. Im Gegenzug bot er eine Abrüstungskonferenz an und eine Vermittlung bei Handelsproblemen. Hitler kanzelte den Präsidenten am 28. April in seiner Replik vor dem Reichstag ab und argumentierte geschickt mit der Monroe-Doktrin. Sowenig sich die USA eine Einmischung in die Außenpolitik gegenüber den mittelund südamerikanischen Staaten wünschten, so wenig wünsche sich Deutschland eine Einmischung in seine Angelegenheiten. Man sehe sich wie 1914 von einer «Welt von Feinden» umgeben. Die «berechtigten» deutschen Lebensraumforderungen brächten die «Plutokratien» der Welt in Wallung, hinter denen das «Welt judentum», die «Weltdemokratie» und der «Weltbolschewismus» stünden. Die Rede war ein Medienereignis ersten Ranges, sie wurde sogar in die USA übertragen. Nie wieder sollte Hitler so viele Zuhörer haben. Die deutsche Bevölkerung reagierte sehr positiv auf die Attacke ihres «Führers», der zudem mit den bes seren Wirtschaftsdaten – in den USA gab es noch immer Millionen Arbeitslose – punktete. Dennoch waren etliche Deutsche ob der möglichen Reaktionen «übern Ozean» und eines denkbaren anglo-amerikanischen Bündnisses beunruhigt. Die Vertrauensleute der Exil-SPD fingen Stimmen aus der Berliner Arbeiterschaft ein: «Wenn der Chamberlain und der Roosevelt dem Adolf da in die Parade hauen, dann is det aus mit uns und det von Anfang an.»96 In den Fokus rückte nun Polen, der Staat, der nach dem Weltkrieg wieder auf der politischen Landkarte erschienen war. Danzig und der polnische Korridor, für Luise Solmitz der «Pfahl im deutschen Fleische»97, wurden die Hauptthemen nicht nur der internationalen Diplomatie, sondern auch der deutschen Gesellschaft. Der polnische Generalkonsul in Leipzig, Feliks Chiczewski, hatte schon am 23. März 1939 notiert: «Alle erwarten weitere Schritte Hitlers; allgemein wird hier […] vermutet, dass er nach dem Anschluss von Memel zur Regulierung der Ansprüche an Polen übergehen müsse, in erster Linie zur Übernahme Danzigs und 62
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des ‹Korridors›. Die Lösung dieser Fragen [im Gegensatz zu Tschechien und der Slowakei] würde bei der deutschen Bevölkerung auf Verständnis und Anerkennung stoßen.»98 Wie sehr diese mittlerweile selbst zum Anschlussexperten geworden war, hatte der Diplomat am 15. März 1938 nach Warschau berichtet: Frau von Richthofen, Gattin des stellvertretenden Reichsgerichtspräsidenten, habe ihn unverblümt gefragt, «ob auch Polen beabsichtige, das ‹Korridor›-Problem zu lösen. Als ich sie darauf hinwies, dass die Grenzfrage für uns nicht existiert und übrigens auch vom ‹Führer› für geregelt gehalten wird, meinte sie, dass doch das Territorium des ‹Korridors› und andere einstmals deutsche Gebiete zu Deutschland zurückkehren sollten, und natürlich solle dies auf dem Wege der Verständigung und des freiwilligen Verzichts (ohne Gewalt) Polens geschehen, das nach ihrer Meinung anderweitig entschädigt werden könne.» Die Möchtegern-Außenpoli tikerin wies dann noch darauf hin, dass das ja alles Pläne für eine ferne Zukunft seien, denn vorläufig werde das Reich nach dem Umsturz in Österreich und nach der noch ausstehenden Ge winnung von Kolonien «zu den saturierten Völkern»99 gehören. Auch in Hamburg liebäugelte man mit einem «deutschen Block» mitten auf dem Kontinent. Jedenfalls notierte Solmitz nach dem Einmarsch in das Sudetenland: «Es hat ja etwas Verführerisches, mit dem Lineal eine Linie zu ziehen, die in der Politik nicht gezogen werden darf: schnurgerade Ostpreußen, Schlesien, Oesterreich, – das wäre ein deutscher Block im Herzen Europas! Eine Einheit, Geschlossenheit! Aber das zu versuchen, hieße: Weltbrand.»100 Allmählich wuchs in Teilen der deutschen Gesellschaft «der Appetit auf neue Annexionen»: darauf, nicht nur deutsche, sondern fremde Völker ins Reich zu inkorporieren, solange die Gegner sich dies gefallen ließen und auf Gegenwehr verzichteten. Der polnische Generalkonsul Władysław Ryszanek in Hamburg meinte im Juli 1939 festzustellen, dass «sich allgemein Eroberungslust bemerkbar [macht]. In den Köpfen hat sich die Idee von 63
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weiteren Gewinnen festgesetzt, aber ohne Krieg.» Selbst das Problem Danzig werde Hitler ohne Gewalt lösen, man glaube an seinen «Genius»101. Der amerikanische Konsul Raymond Geist berichtete am 27. April 1939, dass die Nation so geeint sei wie lange nicht mehr. Viele, die vor zwei Jahren noch gegen einen Krieg gewesen seien, glaubten nun fest an die diplomatischen Fähigkeiten Hitlers und an die mangelnde Kampfbereitschaft der Gegner. Sie seien bereit, Abenteuer zu akzeptieren.102 Vermutlich die Mehrheit der Deutschen konnte die Verwandlung von Versailles in einen deutschen Triumph innerhalb von nur sechs Jahren kaum glauben. Die Bewunderung für Hitler schlug höchste Wellen. Solmitz feierte den Kanzler: Hitler «gibt der deutschen Politik die grosse Linie, steckt ihr die fernsten Ziele und erreicht sie doch. – Was gab uns Deutschen die deutsche Politik seit Bismarck?! – Und Bismarck selbst erkannte Bindungen an; Hitler tut das nicht, geht kompromisslos seinen Schicksalsweg … das Ausland behauptet, Hitler träume von dem Hlg. römischen Reich deutscher Nation. – Er träumt weniger, als dass er handelt, während das Ausland schwatzt.»103 In diesen sechs Jahren Erfolgsgeschichte lagen die Wurzeln für den Hitler-Nimbus, für eine Loyalität, die fast bis zum Ende des Dritten Reiches Bestand haben sollte. Hier ließ sich eine Bevölkerung auf ein Regime, auf einen «Führer», auf eine Politik der Kälte in einer Weise ein, die mit den Begriffen «Anpassung» und «Solidarisierung» nur unzureichend zu beschreiben ist. Wie schwierig es war, sich diesem Sog des E rfolgs zu entziehen, dass man aber gleichwohl «angewidert» bleiben konnte, zeigt das Beispiel Thomas Mann. Zwar schalt der dezidierte Gegner die «vollendete Widerstandslosigkeit» der europäischen Regierungen, konnte jedoch eine gewisse Faszination für die «trübe Figur», die sich anschickte, die Welt zu erobern, nicht verhehlen: Wie er «im Ausbeuten der Mattigkeiten und kritischen Ängste des Erdteils, im Erpressen seiner Kriegsfurcht sich als Meister erweist, über die Köpfe der Regierungen hinweg die Völker zu aga64
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cieren und große Teile davon zu gewinnen, zu sich hinüberziehen weiß; wie das Glück sich ihm fügt, Mauern lautlos vor ihm niedersinken und der trübselige Nichtsnutz von einst […] nun im Begriffe scheint, sich Europa, Gott weiß es, vielleicht die Welt zu unterwerfen: das alles ist durchaus einmalig, dem Maßstabe nach neu und eindrucksvoll; man kann unmöglich umhin, der Erscheinung eine gewisse angewiderte Bewunderung entgegenzubringen».104 Hitler aber wollte gar nicht unbedingt, dass weiterhin «Mauern lautlos vor ihm niedersinken». Schön wäre es doch, so seine Hoffnung, wenn Polen an der Seite der Deutschen in den großen Krieg gegen den gemeinsamen Feind, die Sowjetunion, zöge. Zuvor müsse es aber auf Danzig verzichten und eine exterritoriale Autobahn durch den Korridor zulassen. Das jedoch wollte Warschau auf keinen Fall. Die Regierung an der Weichsel war zunehmend vom deutschen Ausgreifen irritiert. Bis auf die Ostgrenze war man von Wehrmachtseinheiten umringt. «Háchaisieren» las sen würde man sich jedoch niemals. Immerhin unterhielt Warschau ein stehendes Heer mit 30 Infanteriedivisionen und zwölf Kavalleriebrigaden, im Kriegsfall bis zu 1,8 Millionen Mann. So leitete es am 22. März eine Teilmobilmachung ein. Zudem vertraute die polnische Regierung auf die Zusicherungen aus London und Paris. Ihr Botschafter Józef Lipski überreichte Ribbentrop am 26. März ein Memorandum, nach dem jede gewünschte Gebietsänderung Krieg bedeuten würde. Berlin wiederum nahm die Garantieerklärung für Warschau und Roosevelts Rede am 28. April zum Anlass, den Nichtangriffspakt mit Polen und sogar den Flottenvertrag mit England zu kündigen. Das war gewagt, denn die gesamte deutsche Außenpolitik hatte bislang darauf gezielt, so lange wie möglich einen Zweifrontenkrieg wie 1914/18 und ein Eingreifen der USA in Europa zu verhindern. Aber Hitler wollte den Einmarsch der Wehrmacht in Danzig riskieren, hoffte er doch, dass die polnische Regierung beziehungsweise ihre Verbündeten ihn hinnehmen würden. Mehr noch, «unter besonders 65
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günstigen politischen Voraussetzungen» würde man Polen als politischen «Faktor»105 sogar ausschalten, also zerschlagen können. Unter dem Eindruck der britischen Garantieerklärung und dem dezidierten Nein Warschaus wies Hitler Keitel Anfang April an, den «Fall Weiß» so vorzubereiten, dass ein Krieg ab dem 1. September 1939 jederzeit möglich sei. Als Sicherheit galt Berlin der Westwall, der dann endgültig stehen und Frankreich am Eingreifen hindern würde. Vielleicht aber brauchte es noch eine zusätzliche Absicherung. Damit kam die Sowjetunion ins Spiel. Für ihr Stillhalten dürfe sie, so das Angebot Hitlers, Teile von Polen annektieren. Sein diplomatischer Coup gründete auf der Idee, sich so England und Frankreich vom Leibe zu halten und parallel weiter mit den wichtigen sowjetischen Rohstoffen und Lebensmitteln beliefert zu werden. Die über raschenden Avancen sollten zugleich Stalin über die weiteren Kriegsabsichten Deutschlands täuschen. Mit diesem Schachzug kehrte im Sommer 1939 der Koloss im Osten auf das europäische Parkett der Außenpolitik zurück. Auch Briten und Franzosen umwarben ihn, um die deutsche Aggression zum Stehen zu bringen, und ignorierten dabei, dass sie einen Pakt mit einem Diktator eingehen würden, der selbst Expansionsabsichten auf dem Kontinent hegte. Die Sowjetunion hatte aus ihrer Perspektive die Wahl zwischen einem Bündnis mit Demokratien, die auf Wähler Rücksicht nehmen mussten und die Hitler vielleicht nicht von einem Krieg abhalten würden, der zu einem möglichen Konflikt mit Japan im Osten des Imperiums noch hinzukam, oder den Nationalsozialisten. Entschied Moskau sich für Letztere, zerstörte es die antikommunistische Einheitsfront von München, expandierte territorial und konnte eventuell mitansehen, wie sich die kapitalistischen Nationen an der Maginot-Linie gegenseitig niederstreckten. Monatelang zogen sich «Geheimgespräche» hin. Über sie kursierten jedoch schon Gerüchte in der deutschen Öffentlichkeit, wie Klemperer im Juni 1939 registrierte: «Allgemein heißt es, er 66
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[Hitler] werde Polen zwischen sich und Rußland aufteilen.»106 In Anwesenheit Josef Stalins sollten dann am 23. August 1939 der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop und der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare und Kommissar für Äußeres Wjatscheslaw M. Molotow in Moskau den «Hitler-Stalin- Pakt» unterschreiben. Luise Solmitz lief, als das Radio diese Si gnatur spätabends am 19. August ankündigte, mit einem Mantel über dem Nachthemd zu ihrem Mann in die Gartenlaube: «Ob Du’s mir nun glaubst oder nicht, – wir schliessen einen Nichtangriffspakt mit – Russland!!!»107 Die ideologische Kehrtwende des NS-Regimes war eine solche Sensation, dass sie nicht nur für Ver-
wirrung sorgte, sondern auch weidlich Anlass zu Witzen gab: Hitlers Gastgeschenk an Molotow sei eine signierte Luxusausgabe von «Mein Kampf» gewesen – mit eigenhändigen ‹Radierungen› des ehemaligen Künstlers. Mit der Unterzeichnung waren die britisch-französischen Bestrebungen gescheitert, die Sowjetunion in eine «Große Allianz» gegen das nationalsozialistische Deutschland einzubinden. Der Vertrag sowie das geheime Zusatzprotokoll stellten endgültig die Weichen für die erste Phase des Zweiten Weltkrieges, sogar darüber hinaus. Beide Staaten sicherten sich den Zugriff auf weite Teile Europas, oder wie sich Solmitz allerdings in Unkenntnis des Zusatzprotokolls ausdrückte: «Für beide gibt es was zu ernten.»108 Insofern war der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag, wie er offiziell genannt wurde, «in Wahrheit ein Angriffsvertrag»109. Er federte Hitlers Aggressionspläne gegen Polen ab und brachte einen zweiten Diktator in Stellung: Stalin. Der Pakt garantierte dem Deutschen Reich die sowjetische Neutralität bei einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Polen bezie hungsweise den Westmächten und gestattete andererseits der Sowjetunion, im Ersten Weltkrieg verlorene Territorien des russischen Zarenreichs wiederzugewinnen. Das geheime Zusatzpro tokoll regelte die Aufteilung Polens zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Lettland, Estland, Finnland und Bes67
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sarabien sicherte sich Stalin, Litauen ging an die Deutschen. An der Entschlossenheit Hitlers, möglichst bald einen Krieg gegen die Sowjetunion zu führen, änderte der auf zehn Jahre geschlossene Vertrag nichts. Auf der Gegenseite schob Stalin die sowjetische Verteidigungslinie nach Westen vor und gewann Zeit, um weiter aufzurüsten. Mit der Abgrenzung der Einflusszonen und mit der vorweg beschlossenen Zerschlagung Polens war der entscheidende Moment gekommen. Goebbels’ Ministerium beschwor die Einkreisung Deutschlands in einer Welt von Feinden, die alle im Auftrag des Weltjudentums gegen das Reich und für einen Angriff hetzten. Die Propaganda machte aus dem Täter ein Opfer: Aus dem Aggressor wurde das geschädigte Deutschland, das doch nur das wolle, was es durch den Versailler Diktatfrieden widerrechtlich «verloren» hatte. Den ganzen Sommer 1939 liefen die Vorbereitun gen, fanden «Schanz-Übungen» statt zur Tarnung des Aufmarsches gegen Polen, gingen Gestellungsbefehle aus. Bei alledem hörte man nichts «als Kriegsgespräche, wohin man kommt»110. Die Bevölkerung sollte eingestimmt werden auf den Ernstfall. Aber, so Klemperer, «das Volk glaubt wirklich an Frieden. Er wird Polen nehmen (oder aufteilen), die ‹Demokratien› werden nicht einzugreifen wagen.»111 Tatsächlich verfingen die Bemühungen, die Deutschen auf Kriegskurs zu bringen, wenig; ja es verbreiteten sich sogar erste Zweifel angesichts der Überdosis an Propaganda, die gebetsmühlenartig die eigene Stärke und die angebliche Hilflosigkeit der europäischen Mächte herausstellte. Luise Solmitz war zwar zu einem begeisterten Fan Hitlers geworden und vergaß dabei sogar die Diskriminierungen aufgrund ihrer «Mischehe», wenn sie bei jedem neuen «Streich» in einen vaterländischen Taumel verfiel. Aber als dann wirklich ein Krieg drohte, war sie fassungslos: «Nie war die Lage so furchtbar.» Zum ersten Mal erlebe sie «Mobil machung, Abschied mit, ohne dass der Krieg erklärt wäre. 1914 kam erst die Kriegserklärung, dann das andere.»112 Die «Nerven68
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folter» wurde immer unerträglicher, unabsehbar, so Klemperer, sei die Gefahr für alle Juden. Für ihn war jetzt die alles entscheidende Frage: Was würde ein Krieg den Juden bringen? Ein jüdischer Freund «rechne mit Kriegsausbruch und für diesen Fall mit Abgeschossenwerden, vielleicht nicht in wildem Pogrom, sondern regulär zusammengetrieben und an eine Kasernenwand gestellt».113 Der Krieg rückte immer näher, und die Militärs wussten, worauf sie sich einließen. Polen war die erste Etappe auf dem Weg zur Gewinnung von Lebensraum im Osten, das hatte der «Führer» den Befehlshabern schon am 23. Mai 1939 deutlich gesagt. «Danzig [also die Revision des Versailler Vertrages] ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung.»114 Doch war der Zeitpunkt jetzt der richtige? Riskierte man nicht doch den gefürchteten Mehrfrontenkrieg? Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk warnte am 20. August 1939 Außenminister von Ribbentrop: «Wir sind wirtschaftlich noch in keiner Weise für einen längeren Krieg kriegsbereit.» Ribbentrop habe ihm «als das große Ziel unserer Außenpolitik die Beseitigung der Raumnot des deutschen Volkes bezeichnet. Wir haben durch den Weltkrieg einen Ausfall von über 4 Millionen Geburten gehabt.» Bei dieser Lage würden «ein nochmaliger Verlust von Hunderttausenden unserer besten jungen Menschen und der dadurch bedingte Geburtenausfall eine solche qualitative und quantitative Schwächung der Volkskraft herbeiführen, daß wir uns davon nicht wieder erholen könnten und ein ‹Raum ohne Volk› werden würden»115. Als Hitler am 22. August 1939 auf dem Berghof die Generalität über die Kriegführung gegen Polen informierte, waren die meisten Militärs skeptisch, offene Widerrede blieb aber aus. Etwa 50 Männer frühstückten auf der «herrlich gelegenen Freiterrasse» und gingen dann in das Arbeitszimmer des «Führers», durch dessen riesiges Fenster man einen «großartigen Ausblick 69
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auf die Bergwelt» hatte. Hier ließ Hitler keinen Zweifel daran, dass er das «polnische Staatsgebilde von Grund aus» zerschlagen wolle. Das deutsche Volk müsse sich an das Kämpfen gewöhnen, denn in einigen Jahren werde es gegen die Westmächte ziehen. Der Feldzug gegen Polen sei eine gute Vorübung dazu. Generalleutnant Curt Liebmann, einer der Teilnehmer, glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Er vertraute seinem Tagebuch an, als wie «abstoßend» er die Suada Hitlers empfunden hatte. Wer, so fragte er sich, könne glauben, dass sich dieser Krieg lokalisieren lassen würde. Man werde sich in einen langen Waffengang verstricken, dem weder die im Eiltempo aufgebaute Wehrmacht noch die Wirtschaft gewachsen sein werde. Unverantwortlich und ohne «jede klare Vorstellung von dem, was selbst ein siegreicher Krieg bedeutete», sei die Rede gewesen. Ernst, aber sprachlos hätten die Herren gelauscht, getreu dem Motto, dem trotz seiner Zweifel auch Liebmann folgte: «Hoffen wir, daß die Sache gut geht!»116
Alle Gespräche mit Warschau ließ die deutsche Regierung platzen. Hitler wollte den Krieg – und zwar jetzt. Polen machte am 30. August vollends mobil, am 31. August setzte das NS-Regime die Maschinerie in Gang. Gegenüber dem Inland wurde noch das Schauspiel eines Verteidigungskrieges u. a. durch den «polnischen Überfall» auf die deutschen Sender Gleiwitz, Pitschen und Hochlinden inszeniert, auch mit Blick auf London und Paris. Von beiden Staaten glaubte Hitler immer noch, dass sie nicht zu gunsten Polens eingreifen würden. Am 1. September 1939 beschoss das Marineschulschiff «Schleswig-Holstein» die polnische Garnison auf der Westerplatte, einer Halbinsel im Danziger Hafen. In Hamburg notierte Steffi Hammerschlag, ein 13-jähriges jüdisches Mädchen, in ihr Tagebuch: «Heute hat der Führer die Wehrmacht zu den Waffen gerufen, ausgerechnet an Tante Gretes Geburtstag.»117 Tante Gretes Geburtstag fiel nun aus. Die Zeit der unblutigen, lokal begrenzten Okkupationen war vorbei. David Low, der Cartoonist, hatte dies Anfang August 1939 70
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geahnt und im Hintergrund seiner Karikatur deutsche Soldaten und Panzer aufmarschieren lassen. Die abschließenden Plakatkästen behielt er der «wirklich letzten territorialen» Forderung des «Führers» vor. Sie waren leer.
II. «Was wird aus der Welt, wenn Deutschland siegt?» Kriege und Besetzungen bis Juni 1941
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ieluń, 1. September 1939, ein Städtchen in Polen, östlich von Breslau, 16 000 Einwohner: Trotz der Kriegsgefahr
wähnten sich die Menschen sicher, denn es gab es in ihrem verschlafenen Provinznest nichts, was von militärischem Interesse gewesen wäre. Doch es kam anders. In der Frühe wurden die Bewohner vom Dröhnen der Flugzeuge geweckt. Auf dem Gelände des Krankenhauses explodierten Bomben, Fensterscheiben klirrten und fielen auf die Betten der Patienten. Dann stürzte das Haus zusammen. Überall lagen Trümmer. Sechs Schwestern und 26 Patienten starben. Noch zweimal sollten sich die deutschen Angriffe von insgesamt 29 Kampfbombern des neuen Typs JU 87 B
wiederholen. Am Ende waren mehrere Hundert Bewohner tot, und die Stadt war zu 70 Prozent zerstört. Als die deutsche Infan terie am 2. September einmarschierte, fand sie den Ort fast menschenleer vor. Der vier Tage darauf eintreffende spätere NSDAP- Kreisleiter beschrieb die Zerstörungen: «Am hellen Tage können wir die ganze Wirkung der Bomben erkennen. Die Innenstadt ist vollkommen zerstört. Hier sind die Häuser abgebrannt und zusammengestürzt, von Bomben zerschmettert und fortgeblasen.» Aus den Steinhaufen «zusammengefallener Häuser sehen zerdrückte Betten, zerstörte Schränke, zerrissene Tücher hervor. Und 73
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dann war da ein süßlicher Geruch. Hier müssen noch Leichen unter den Steinen liegen.»1 Die Luftwaffe hatte die Stadt angegriffen, um ihre Maschinen nach dem spanischen Bürgerkrieg das erste Mal wieder im Feindeinsatz zu erproben. Der verantwortliche Offizier, Wolfram von Richthofen, mittlerweile zum Generalmajor befördert, kommentierte den Einsatz in seinem Tagebuch lapidar: «Das am ersten Tage angegriffene kleine Städtchen Wielun hat einige Häuser verloren und ist ein rechtes Drecknest. Besondere Angriffserfolge sind nicht zu erkennen.»2 Richthofen verschleierte, was wirklich passiert war. Hier war eine Grenze überschritten worden, wie ein Chronist der Wehrmacht zu berichten wusste: «In Wielun waren die jungen Soldaten stark beeindruckt von den Verwüstungen, die der Stuka-Angriff hinterlassen hatte. Sie sahen, dass dieser Krieg keine Unterscheidung zwischen Militär und Zivilbevölkerung machte.» Die Kampftruppen der Division, die durch die Stadt fuhren, «dachten an ihre ferne westliche Heimat und hofften, dass dort ihren Angehörigen so etwas nie geschehen möge».3
Polen Von Luftangriffen verschont zu bleiben hoffte am Tag des Kriegsbeginns auch Luise Solmitz in Hamburg. Sie füllte Badewanne und Gefäße mit Wasser. «General Unblutig» war gestern, nun wurde es ernst. Hitler wies alle Schuld am Krieg dem «jüdisch- demokratisch[en] Weltfeind»4 zu. Willy Cohn, 51-jähriger Lehrer, SPD-Mitglied und Zionist, notierte in Breslau in sein Tagebuch:
«Für diesen Krieg macht man das Judentum durchaus verantwortlich, weil man glaubt, daß es hinter England und Polen stand; dazu kommt noch, daß die jüdischen Männer nicht eingezogen worden sind.»5 Klemperer fragte sich in den kommenden Wochen immer wieder besorgt: «Was wird nun aus uns???»6 74
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Die Mehrheit der Volksgenossen blickte zunächst bang auf das Geschehen. Der Hamburger Schulrat Gustav Schmidt hielt am 1. September 1939 fest: «Stimmung für den Krieg ist nirgends zu spüren. Man ist gedrückt.»7 Klemperer registrierte zwei Tage später aber auch Zuversicht: «Alles in allem: Nachrichten und Maßnahmen ernst, Volksstimmung absolut siegesgewiß, zehntausend mal überheblicher als 14.»8 Der Einmarsch in das Nachbarland war für viele Deutsche gerechtfertigt, reagierte er doch nur auf angebliche Aggressionen Polens. Bislang war es doch gut gegangen, warum nicht auch jetzt? Selbst in Oppositionellenkreisen rang man sich zu der Haltung durch, nun, da es zum Schwur gekommen sei, dürfe niemand fernstehen und sich dem Ruf des Vaterlandes entziehen. Jeder habe «ein Deutscher zu sein, der für sein Volk»9 stehe, schrieb der 44-jährige Reserveoffizier Wilhelm (Wilm) Hosenfeld seinem Sohn. In der Hauptstadt vermerkte Goebbels eine ruhige und gefasste Haltung, «voll einer verbitterten Entschlossenheit», und vergaß nicht, seiner eigenen Beharrlichkeit Ausdruck zu verleihen: «Und so soll es auch bleiben.»10 Dieser Selbstmobilisierung bedurfte es durchaus, denn von Zuversicht, gar Optimismus war im Berliner Regierungsviertel nur wenig zu spüren. Der Angriff auf Polen hatte in der Reichskanzlei vielmehr mit einem Anflug von Angststarre begonnen. Hitler hatte sich geirrt. Er hatte fest daran geglaubt, dass die Westmächte weiterhin stillhalten würden. Doch am 3. September 1939 gegen neun Uhr wurde ihm das Ultimatum Großbritanniens gemeldet (Frankreich würde um 17 Uhr folgen): Deutschland solle seine Truppen zurückziehen, oder es werde angegriffen. «Was nun?»11, soll Hitler daraufhin fassungslos seinen Außenminister gefragt haben. «Nun» hatte der «Führer» zwar seinen Krieg, doch ganz anders, als er ihn sich vorgestellt hatte. Er wollte die Briten nicht als Feinde, sondern als Verbündete, er wollte, statt in einen vielleicht wieder Jahre dauernden Konflikt im Westen verwickelt zu werden, gegen Russland zu Felde ziehen, die Welt vom jüdischen Bolschewismus befreien – und damit den Pakt mit Stalin schnell 75
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wieder loswerden. Hitler fand sich in einer Lage wieder, in die er nie hatte kommen wollen: Krieg zugleich im Westen und Osten führen zu müssen. Davor hatten ihn die Militärs ja eindringlich gewarnt. Es mangelte an personellen Ressourcen ebenso wie an Kriegsmaterial. Hinzu kam: Die Verbündeten Italien und Japan waren keine große Unterstützung. Tokio war nach dem Hitler- Stalin-Pakt auf Distanz gegangen. Rom fand sich in der Rolle eines ungeliebten und kaum in Kenntnis gesetzten Komparsen wieder, dessen militärische Kräfte aus deutscher Sicht noch ausbaufähig waren. Beide Staaten erklärten sich als neutral beziehungsweise «nichtkriegführend». Schlechte Voraussetzungen also für den Einfall in Polen. Doch das Regime hatte Glück: Die Westarmeen griffen kaum ein. Entgegen den ursprünglichen Zusicherungen gab es keine französische Großoffensive, die Heeresführung wagte nur einen schwachen Vorstoß an ihrer Ostgrenze, der wenige deutsche Truppen vom polnischen Schauplatz abzog. «Warum marschieren sie nicht?»,12 fragte sich wie so viele andere auch die Oppositionelle Ruth Andreas-Friedrich. Die Antwort war: Frankreich sah sich weder auf dem Boden noch in der Luft in der Lage, das Reich erfolgversprechend und ohne Verletzung der Neutralität Belgiens anzugreifen. Seine Streitkräfte waren für eine Offensive schlicht nicht gerüstet. London wiederum reagierte in Anlehnung an seine Kriegführung im Ersten Weltkrieg zuvörderst mit einer Seeblo ckade. Das war aus strategischer Sicht eine naheliegende Entscheidung, denn die Flotte des britischen Übersee-Imperiums war der deutschen Marine haushoch überlegen. Ansonsten aber warteten London und Paris ab. Weder wollten sie Stalin provozieren, noch sah man für Polen eine realistische Chance. Und Sterben für Danzig? «Non!», wie Publizisten und Politiker die Stimmung in Frankreich auf den Punkt brachten. Die Westmächte ließen erneut einen Staat im Stich – in der Hoffnung, Berlin und Moskau würden über kurz oder lang ihr eigentümliches Zweckbündnis aufgeben und in einen langen Abnutzungskrieg eintre76
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ten, dem man dann in a ller Ruhe und hochgerüstet zuschauen könne. Ergebnis war ein Sitzkrieg, der phony war oder drôle de guerre, der sich auf gelegentliche Luftangriffe und Auseinandersetzungen zur See beschränkte. Die Wehrmacht konnte sich auf Polen konzentrieren, was den Oberbefehlshaber des Heeres von Brauchitsch zu der Aussage trieb, er empfinde jeden «Tag Ruhe im Westen» als «ein Gottesgeschenk»13. Als eigentlichen Gegner machte die Wehrmacht weniger die polnischen Soldaten, die Generalstabschef Halder zu den «dümmste[n] in Europa»14 erklärt hatte, als vielmehr die Zivilbevölkerung aus. Sie erwartete in Polen einen Guerillakrieg. Das Oberkommando des Heeres (OKH) hatte schon am 1. Juli 1939 in einem Merkblatt die Truppen gewarnt: Die polnische Bevölkerung sei «fanatisch, verhetzt und zur Sabotage sowie zu Überfällen fähig»15, mit Freischärlern sei zu rechnen. Diese Befürchtung wurde nicht selten von Erfahrungen geleitet, die deutsche Offiziere in den verschiedenen Freikorpskämpfen nach Ende des Ersten Weltkrieges gesammelt hatten. Die zugrunde liegende Antizipation aber, dass ganze Gesellschaften gegeneinander anträten, dass die nächsten Kriege «total» sein würden, war nach dem entsetzlichen Waffengang von 1914/18 Allgemeingut geworden. Nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland prognostizierten Militärs, dass sich die Grenzen von Kombattant und Nichtkombattant auflösen würden. Folgerichtig hatte Hitler, der die ihm lästige Kampagne gegen Polen schnell hinter sich bringen wollte, in der Besprechung am 22. August 1939 die Militärführer zu schärfsten Maßnahmen aufgefordert. «Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. […] Größte Härte.»16 Wieder wurden Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS aufgestellt. Sie sollten wie schon zuvor in Österreich und der Tschechoslowakei «rückwärts der fechtenden Truppe» gegen alle «reichsfeindlichen Elemente im Feindesland»17 vorgehen. Für ihren Auftrag waren sie aus dem Sicherheitshauptamt der SS mit detailliertem Material versorgt worden, 77
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darunter Fahndungslisten mit den Namen von 61 000 «Gegnern». Im Fokus standen die polnischen Führungsschichten sowie die Vorstände jüdischer Organisationen. Von beiden gehe, so die Meinung, die größte Gefahr aus, sie seien besonders verschlagen und aufrührerisch. Gemäß dem Vorschlag von Heydrichs Stellvertreter Werner Best, einem 36-jährigen Juristen, wurden Einsatzgruppen aus Angehörigen der Sicherheitspolizei, der SS, der Kripo, der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und des SD gebildet. Zu diesen Exekutionskommandos gesellten sich noch bewaffnete Milizen der volksdeutschen Minderheit, in Westpreußen etwa unter Führung des brutalen SS-Standartenführers und Adjutanten Himmlers Ludolf von Alvensleben. Insgesamt waren es etwa 2 700 Männer, ebenso jung wie ihre Chefs, meist zwischen 30 und 35 Jahre alt, und wie diese oftmals Akademiker. Die Führer dieser Kamarilla waren Weltanschauungstäter. Sie hatten sich oft schon vor 1933 der NS-Bewegung angeschlossen, eine Karriere im antisemitischen Studentenmilieu der Weimarer Republik durchlaufen und wollten nun eine neue nationalsozialistische Welt aufbauen, basierend auf Volk und Rasse, Aktivismus und Militanz. Ihre Kaltblütigkeit hinderte die Wehrmacht nicht an einer Zusammen arbeit. Das Oberkommando des Heeres übernahm die Führung der SS-Einheiten. Oberst Eduard Wagner, Stabschef des Generalquartiermeisters im OKH, hielt in seinem Tagebuch nach einem Treffen mit Best und Heydrich am 29. August 1939 fest: «Wir kamen schnell überein. Beides etwas undurchdringliche Typen, Heydrich besonders unsympathisch.»18 «Größte Härte», Paramilitärs, die polnische Zivilbevölkerung als Gegner: Für Polen suggerierten NS- und Wehrmachtsführung von Anfang an einen Ausnahmezustand, der eine Grausamkeit legitimieren sollte, wie sie bislang eher Kolonialkonflikten vorbehalten und damit auf europäischen Kriegsschauplätzen neu war. Aus dem gesamten Operationsraum der Wehrmacht meldeten die Verbände schon am ersten Tag Attacken von Guerillakämpfern. «Flüchtlinge, brennende Dörfer, irre laufende Tiere», so 78
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ein Soldat aus Bolesławiec in Niederschlesien, beherrschten das Kriegsbild, in der «Ortschaft feuern Partisanen von den Dächern»19. Ob tatsächlich polnische Paramilitärs zu diesem Zeitpunkt existierten, ist nicht bewiesen. Die Armeeführung je denfalls reagierte zunächst uneinheitlich. Man überließ dieses Problem den Befehlshabern, die je nach persönlicher Einschätzung eine Eskalation der Gewalt zuließen oder verhinderten. Wilhelm Ulex etwa, der Kommandierende General des X. Armeekorps, ordnete an, dass in den Dörfern die Zivilisten alle Waffen abzugeben hätten. Geschehe dies nicht, solle ein Erschießen aber «tatsächlich nur dann» erfolgen, wenn den Betreffenden «bei frischer Tat der Gebrauch der Waffe nachgewiesen» werden könne. Die Übrigen seien «festzunehmen zur Aburteilung durch ein Kriegsgericht»20. Auch Walter von Reichenau, Oberbefehlshaber der 10. Armee, erinnerte an das Kriegsrecht und verfügte am 11. September 1939: «Das Niederbrennen von Häusern als Ver geltungsmaßnahme ist verboten.» Dann aber folgte ein Satz, der alles wieder zurücknahm: «Bei wirklichen Angriffen auf die Truppe oder feindseligen Handlungen anderer Art ist rücksichtslos an Ort und Stelle durchzugreifen.»21 Was aber waren «wirk liche Angriffe»? Die gestressten Soldaten reagierten auf fast jede Situation mit Gewalt, schon als Mittel der Selbstverteidigung. Ein Gefreiter schrieb nach Hause: «Der Krieg ist hart und wird von den Polen mit der größten Gemeinheit geführt. Wir sind selbst von Franktireurs angeschossen worden.» Als Reaktion auf diese «Banden» treffe es «oft Frauen und Kinder», was der junge Mann als «nicht weniger blutig und vor allen Dingen abscheulich»22 empfand. In dem Freischärlerszenario, in das sich viele Einheiten verstrickt sahen, galten die Differenzierungen der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention häufig als nicht praktikabel. Und auch die Befehlshaber unterzogen sich nicht immer der Mühe, das Vorgehen der Soldaten auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen. Vielfach sollte «kurzer Prozess» gemacht werden, um 79
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die eigene Sicherheit zu gewährleisten und die Polen von Gegenmaßnahmen abzuschrecken. So gab die 8. Armee unter dem Befehl von General Johannes Blaskowitz am 4. September 1939 bekannt, dass «Meuchelmörder, Freischärler»23 sowie Zivilpersonen, die im Besitz von Waffen und Munition angetroffen wurden, zu erschießen seien. In gleicher Weise sollte gegen polnische Zivilpersonen vorgegangen werden, die sich in Häusern oder Gehöften befanden, aus denen auf die Truppen geschossen worden war. Galten Geiselnahmen und erst recht -erschießungen bislang als zweifelhaftes, wenn nicht gar letztes Mittel zum Schutz der Truppe, so wurden sie im Feldzug gegen Polen zur ersten, alternativlosen Wahl. Ein Wehrmachtssoldat vermerkte in seinem Tagebuch am 8. September: «Das Insurgentenunwesen wächst. Deutsche Soldaten werden aus der Marschkolonne heraus von poln. Juden erschossen. Als Vergeltungsmaßnahme werden je 10 poln. Zivilisten erschossen u. 2000 gefangen gesetzt.»24 Als es am 3. September 1939 in Bromberg zu Ausschreitungen kam und vermutlich 260 bis 300 Volksdeutsche unter nicht genau zu ermittelnden Umständen ums Leben kamen, erhielten die Gewaltakte einen zusätzlichen Schub und eine zusätzliche Legitimation. Die Deutschen würden ja im Einklang mit dem Völkerrecht kämpfen. Die Polen hingegen hätten in ihrer «Kriegführung selbst die einfachsten Gesetze des Völkerrechts und der Menschlichkeit beiseite gesetzt und an ihre Stelle bestialischen Terror und tierisches Untermenschtum gesetzt»25, behauptete eines der deutschen Weißbücher über Rechtsverletzungen der polnischen Armee. Dieser Einschätzung konnte der 29-jährige Eberhard Gebensleben, als aufstrebender Jurist aus dem Reichswirtschaftsministerium an die Front versetzt, nur folgen, entsprach sie doch seiner Meinung über Polen und dem, was er glaubte, dort beobachtet zu haben. Er schrieb an seine Großmutter, «[p]olnische bewaffnete Banden», aber auch die Armee hätten «Tausend[e] aus der volksdeutschen Zivilbevölkerung» auf dem Gewissen. Es seien «furchtbare Bilder, die wir ge80
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sehen haben, und sie rechtfertigen alle Maßnahmen». Um Unbekümmertheit bemüht, fuhr er fort: «Sonst geht es uns ausgezeichnet und die Stimmung ist entsprechend. Der Soldat vergißt ja rasch, und das muß wohl so sein.» Die Großmutter, die 80-jährige überzeugte Nazi-Parteigängerin Minna von Alten- Rauch in Braunschweig, wusste wiederum aus einem Gespräch mit einem Soldaten zu berichten: Das «ganze Unglück haben die Pfaffen und Juden verschuldet. Wie die das arme Volk verführten und ihnen ganz falsche Tatsachen erzählten, wäre geradezu unglaublich.»26 «Ausgezeichnet» fühlte sich augenscheinlich auch der Kommandeur Erich Hoepner. Er schrieb am 6. September an seine Frau, er erlebe «wunderbare Situationen»27. Dieses Hochgefühl basierte darauf, dass es schnell gelang, durch Angriffe auf Städte und Flughäfen die Lufthoheit über dem polnischen Raum herzustellen und den Aufmarsch von Reserven aus Ostpolen aufzuhalten. Die Wehrmacht dominierte, weil sie einen modernen Bewegungskrieg am Boden führte, der aus der Luft vorbereitet und unterstützt wurde. Sturzkampfbomber, die Stukas, und 3 600 Panzer ermöglichten, über Funk koordiniert, schnell Terraingewinn. Das Credo der Mobilität und die Bombardements aus der Luft waren Lehren aus den Stellungskriegen 1914/1918. In den zwanziger und dreißiger Jahren hatten Militärs aller Nationen den strate gischen Einsatz der Luftwaffe propagiert, weil er versprach, das katastrophale Patt des Ersten Weltkriegs aufzubrechen, eine schnellere Entscheidung zu bringen und weniger Opfer zu kosten. Zumindest Letzteres sollte sich als Irrtum erweisen, denn was in Wieluń passiert war, sollte bald zur Regel werden. Innerhalb von nur einer Woche stand die 10. Armee 60 Kilometer vor Warschau. Die Hauptstadt wurde unter Artilleriebeschuss genommen und aus der Luft angegriffen. In wenigen Tagen wurden 26 000 Menschen getötet und 50 000 verletzt. Der Kommandierende General Maximilian von Weichs teilte seinem Schwager am 6. September 1939 mit, er lebe in dem «erhebenden Gefühl», 81
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in Warschau einen «großen Sieg erfochten zu haben», der Feldzug sei «wunderbar» und die Wehrmacht die beste der Welt.28 In Stockholm hingegen notierte die 31-jährige Stenografin Astrid Lindgren in ihr Tagebuch: «Armes Polen!»29 In allen Teilen des Landes schüchterten die Meuten des schwarzen Ordens zusammen mit Polizei und immer wieder auch im Verein mit Wehrmachtseinheiten die Bevölkerung ein. Sie ließen willkürlich herausgesuchte Ortsbewohner für das angebliche «Niedermetzeln» von Deutschen büßen. «Kaftanträger» wurden Freiwild. Milizionäre, Soldaten und Polizisten schnitten ortho doxen Juden die Bärte oder Schläfenlocken ab, ohrfeigten sie, spuckten sie an oder hatten ihren Spaß daran, sie zu unsinnigen Übungen zu zwingen. Im Zentrum der Aggression stand aber die sogenannte polnische Intelligenz: katholische Geistliche, Adlige, Funktionäre von politischen Verbänden, Lehrerinnen und Hochschullehrer, Rechtsanwälte, Ärztinnen, Apotheker, höhere Verwaltungsbeamte, Kaufleute, Gutsbesitzer, Schriftsteller, Brillenträger. Verhaftungen und Erschießungen, Vertreibungen über die sowjetische Demarkationslinie, Plünderungen und Vergewal tigungen bestimmten das Szenario. Schätzungsweise 26 000 Zivilisten sollen außerhalb der Kriegshandlungen bis Ende Oktober 1939 ums Leben gekommen sein, darunter 16 000 durch Exeku tionen. Angesichts der «umfangreichen Füsilierungen» und der «Ausrottung» von Adel und Geistlichkeit meldeten sich Stimmen aus der Wehrmacht, denen das rücksichtslose Verhalten der SS – Zusammenarbeit hin oder her – zu weit ging. Sie fürchteten um das Ansehen der deutschen Truppe und klagten ihr Recht auf Befehlsgebung ein. Auch konnte mancher Offizier zunächst nicht recht glauben, dass es sich tatsächlich um von «oben» autorisierte Übergriffe handelte. Keitel bestellte jedoch Mitte September 1939 den Kritikern, «daß diese Sache bereits vom Führer entschieden sei, der dem ObdH [Oberbefehlshaber des Heeres] klargemacht habe, daß, wenn die Wehrmacht hiermit nichts zu 82
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tun haben wolle, sie es auch hinnehmen müsse, daß SS und Gestapo neben ihr in Erscheinung treten.»30 Nicht nur eine militärisch überlegene, sondern auch eine in weiten Teilen verbrecherische Kriegführung zwang Polen in die Knie. Am 17. September 1939 griff die Rote Armee Polen von Osten an. Das Land wurde nun von zwei Seiten in die Zange genommen und war gegen diese doppelte Invasion endgültig hilflos. Trotzdem wehrten sich die polnischen Soldaten erbittert. Der Chef der mit der Einnahme Warschaus beauftragten Heeresgruppe Süd, General Gerd von Rundstedt, reagierte in der bewährten Weise und dekretierte am 24. September: «Einstweilen habe ich befohlen, dass auf alles, was sich der Truppe nähert, geschossen wird.»31 Am 27. September musste Warschau kapitulieren, um eine endgültige Zerstörung der Stadt durch die Wehrmacht zu verhindern. Schon einen Tag später kamen die Sieger zusammen und besprachen, wie die Beute endgültig zu teilen sei. Man unterzeichnete einen «Grenz- und Freundschaftsvertrag». In ihm erreichte Stalin, dass seiner Zone auch Litauen zugeschlagen wurde. Dafür verzichtete er auf die Distrikte Lublin und Warschau bis zum Bug. Nach sechs Wochen, am 6. Oktober 1939, waren die militärischen Operationen vorbei und Polen besiegt. Die Warschauer Regierung floh über Rumänien nach Paris, später weiter nach London. Dort wurden unter dem neuen Ministerpräsidenten General Władysław Sikorski ein Exilparlament eingerichtet und ein 100 000 Mann starkes Heer aufgestellt, um Polen den Status als kriegführender Alliierter zu verschaffen. Im Reich mussten die Volksgenossen die Häuser beflaggen und die Pfarrer die Kirchenglocken läuten. Überwiegend war man tatsächlich erleichtert, wenn nicht sogar im Siegestaumel. Die Verluste an Soldaten wurden als «unglaublich gering» deklariert. Die deutsche Seite zählte bei 1,5 Millionen Soldaten 30 322 Verwundete, 3 404 Vermisste und 10 572 Tote, «was macht das schon viel aus bei einem 90-Millionen Volk»32, so hörten die Agenten der Exil-SPD die vox populi. Von den Rechtsbrüchen und der brutalen Kriegführung bekam 83
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man offiziell nichts mit. In der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 11. Oktober 1939 verstieg sich der Journalist und Offizier Wilhelm Ritter von Schramm sogar zu der Behauptung, «Tausende von Polen» würden Hitler persönlich ihr Leben verdanken, denn er habe den Befehl gegeben, «den Krieg nur gegen Soldaten, befestigte Plätze und militärische Anlagen zu führen». In Wahrheit hatte der «Führer» gerade am 4. Oktober 1939 die brutale Kriegführung durch einen Gnadenerlass bestätigt. Er amnestierte Taten, die seit dem 1. September 1939 «aus Erbitterung wegen der von Polen verübten Greuel»33 begangen worden seien. Und sein «Sondergerichtsbarkeitserlass für die SS im Felde» vom 17. Oktober 1939 sicherte dem Personal von SS und Polizei weitgehende Straffreiheit zu. Als «Blitzkrieg», als geniale Strategie, als Ausdruck militärischer Überlegenheit und Unbesiegbarkeit feierte der deutsche Propagandajournalismus den Sieg. Doch das war Schaumschlägerei. Weder war der Feldzug von langer Hand noch als schneller Sieg geplant. Ein konkreter Zeitplan mit kurzen Fristen wurde erst beim Angriff gegen die UdSSR entwickelt. In Polen wie in den folgenden Kriegen wurde die Wehrmacht vielmehr vom schnellen Erfolg überrascht. Infolgedessen war die deutsche Führung auf die anschließende Besetzung Polens weitgehend unvorbereitet. Erste konkrete Vorstellungen entsprangen mehreren Treffen der Führungsspitzen Mitte September 1939. Am 21. September informierte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich über die Ergebnisse in einer Amtsleiterbesprechung sowie einem Schnellbrief an die Führer der Einsatzgruppen. Wie zuvor die Tschechoslowakei und wie bereits dreimal in seiner Geschichte sollte das Land zerstückelt werden. Künftig werde unterschieden zwischen zu annektierenden Gebieten an der Grenze zu Deutschland und einem noch zu errichtenden Restgebiet in Zentralpolen. Dieses Territorium sollte, so war zunächst die Idee, als Abschieberaum dienen, nachdem mit Kriegsbeginn eine Vertreibung der noch im 84
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Reich verbliebenen «Nichtarier» mangels Aufnahmeländer in immer weitere Ferne gerückt war. Hierhin sollten alle Juden eben so wie die 30 000 noch im Reich lebenden «Zigeuner» deportiert werden. Um das zu organisieren, sollten als Zwischenlösung «Kon zentrierungspunkte» eingerichtet werden. Sechs Tage später, am 27. September 1939, übernahm die rechte Hand Himmlers die Spitze des neu geschaffenen Reichssicherheitshauptamts (RSHA). Diese parastaatliche Superbehörde neuen Typs mit 3 000 Mitarbeitern war eine Zusammenlegung des SD mit der sogenannten Sicherheitspolizei, also der staatlichen Gestapo und Kripo. «Umfassende Pazifizierung, nötigenfalls Ausschaltung der Gegner durch Haft oder Ermordung» lautete die Hauptaufgabe dieser Zentrale des Terrors – nicht mehr nur im Altreich, sondern auch in den besetzten Gebieten. Die Zahl der Juden im deutschen Machtbereich hatte sich durch die Besetzung Polens beträchtlich erhöht, sie betrug nun ca. 2,4 Millionen. Ob Eichmann von sich aus aktiv wurde oder ob sein Chef Heinrich Müller ihn beauftragt hatte: Ein Testballon, wie Abschiebungen in ein Judenreservat laufen könnten, startete am 6. Oktober 1939 – nachdem Großbritannien und Frankreich Hitlers Friedensappell abgelehnt hatten. 70- bis 80 000 Juden sollten aus dem östlichen Oberschlesien um Kattowitz verschleppt werden. Als Ziel bot sich die Umgebung der Kleinstadt Nisko am San im Distrikt Lublin an, eine Region, die gerade erst von der Sowjetunion an die Deutschen abgegeben worden war. Mit der neuen Aufgabe wurde Eichmann endgültig zum Experten. Jetzt sollte er Juden nicht mehr fortjagen, sondern staatlich organisiert vertreiben. Der Österreicher ließ Mitte Oktober zunächst einmal 5 000 Menschen aus den nach 1938 annektierten Gebieten deportieren: aus Kattowitz, über seinen Auftrag hinausgehend aber auch aus Wien und aus Mährisch-Ostrau. Ein junger Mann, Paul Müller, war unter den Deportierten. Seine Schwester, die 39-jährige Wienerin Martha Svoboda, schrieb am 21. Oktober 1939 in ihr Tagebuch, sie hoffe, dass so etwas nie wieder gesche85
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hen möge: «Menschen, die nicht das geringste verbrochen haben, von ihren Familien zu reißen, sie wie Gefangene in ein fremdes Land, an ein unbekanntes Ziel zu transportieren».34 Nach wenigen Tagen wurden diese Transporte abgebrochen. Die Wehrmacht brauchte die Züge, um Truppen aus Polen nach Westen zu verlegen, und Göring, um Kartoffeln und Rüben ins Reich zu verschaffen. Zudem hatte die Sowjetunion gegen Deportationen über ihre Grenze protestiert. Am 21. Dezember 1939 untersagte Himmler jede Abschiebung von Juden außer aus den ehemals polnischen, nun reichsdeutschen Gebieten, die er als Erste «judenfrei» bekommen wollte. Spezialist Eichmann übernahm derweil im neuen RSHA das Gestapo-Referat IV D 4 «Räumungsangelegenheiten und Reichszentrale für jüdische Auswanderung». Hitler selbst war an der konkreten Neuordnung Polens nicht mehr sonderlich interessiert. Seine Gedanken galten wie immer schon dem nächsten Projekt, dem kommenden Westfeldzug und dem Angriff auf die Sowjetunion. Daher agierte der «Führer» wie so oft: Er machte Druck und überließ die konkrete Ausformung der Besatzungspolitik seinen Satrapen. Als am 17. Oktober 1939 die Führungsspitze des Dritten Reiches tagte, betonte er in Anwesenheit von Keitel, Himmler, seinem Stellvertreter Rudolf Heß und anderen lediglich, dass die Bildung einer neuen nationalen politischen Führungsschicht verhindert werden müsse. Der «Volkstumskampf» solle hart sein und «keine gesetzlichen Bindungen» gestatten, die Methoden würden mit «unseren sonstigen Prinzipien unvereinbar sein»35. Insofern war der Krieg zwar vorbei, der Terror im Namen von Volk und Rasse setzte aber jetzt erst richtig ein. In den folgenden 21 Monaten bis zum «Unternehmen Barbarossa» wurden Priester systematisch verfolgt und entweder erschossen oder in das KZ Dachau überführt, Professoren verhaftet, Politiker gejagt.
Wie viele Menschen die Todesschwadronen hinrichteten, lässt sich nicht mehr genau feststellen, Schätzungen gehen von über 40 000 polnischen und 7 000 jüdischen Zivilisten bis 1941 aus. 86
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Zudem wurde im April 1940 im neu eingegliederten Ostoberschlesien ein Konzentrationslager eingerichtet. Das war an und für sich nicht weiter bemerkenswert. Auffallend war allein die Aufnahmekapazität: Das KL Auschwitz wurde für 10 000 Häftlinge konzipiert. In allen anderen Konzentrationslagern saßen bei Kriegsbeginn zusammengenommen rund 25 000 Häftlinge ein. Offensichtlich rechneten die Besatzer im eroberten Polen mit einer großen Zahl politischer Feinde. Hitler hatte die Generalität auf dem Treffen am 17. Oktober mit den Worten abgespeist, dass die Militärverwaltung im okkupierten Polen durch eine von der NSDAP geprägte Zivilverwaltung abgelöst werde. Sie solle es begrüßen, diese Verantwortung nicht mehr tragen zu müssen. In der Tat war dem OKW die Entscheidung nicht unlieb, konnte es sich doch damit auf das konzentrieren, was es als seine eigentliche Aufgabe ansah, und das politisch heikle Amt der Besatzung den Zivilbehörden beziehungsweise der SS überlassen. Angesichts der Verhaftungen und Massenexekutionen flammte der Protest aus den Reihen der Offiziere jedoch immer wieder auf. So entrüstete sich Hosenfeld in einem Brief an seine Frau vom 10. November 1939, die brutale Verfolgung der Polen sei «ein Verbrechen an der Menschheit». Hosenfeld war tiefgläubiger Christ, was er bislang durchaus mit einer gewissen Affinität zur NSDAP und einer Bewunderung Hitlers hatte vereinbaren können. Nun bekam er ernste Zweifel: «Wie gern bin ich Soldat gewesen, aber heute möchte ich den grauen Rock in Fetzen reißen.»36 Der 38-jährige Major Hellmuth Stieff, Angehöriger des Generalstabs, der nach Polen gereist war, fühlte sich im zerstörten Warschau sichtlich unwohl angesichts der Leiden der Bevölkerung und der eigenen Privilegien. Am 21. November 1939 schrieb er an seine Frau: «Es ist vielleicht das eigentümlichste Gefühl, daß man in Ruinen mit allen Schikanen der Neuzeit lebt und zwar natürlich nur die Besatzung. Die Masse der Millionenbevölkerung der Stadt vegetiert irgendwo und irgendwie; man kann nicht sagen wovon.» Es sei so grausam, dass «man 87
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keinen Augenblick seines Lebens froh ist, wenn man in dieser Stadt weilt, weil es einen bedrückt, wenn man in einem prächtigen Hotelsaal Gänsebraten futtert und zugleich danach sieht, wie die, die vielleicht noch vor 3 Monaten eine glänzende Rolle spielten, sich für ein Kommißbrot an unsere Landser verkaufen, um noch etwas länger vegetieren zu können»37. Scharf brachte er Gewaltapparat zum Ausdruck: «Die sein Hadern mit dem SS- blühendste Phantasie einer Greuelpropaganda ist arm gegen die Dinge, die eine organisierte Mörder-, Räuber- und Plündererbande unter angeblich höchster Duldung dort verbricht. Da kann man nicht mehr von ‹berechtigter Empörung über an Volksdeutschen begangenen Verbrechen› sprechen. Diese Ausrottung ganzer Geschlechter mit Frauen und Kindern ist nur von einem Untermenschentum möglich, das den Namen Deutsch nicht mehr verdient. Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein!» Der Offizier befürchtete, dass das «Morden, Plündern und Sengen» den Widerstand der Polen hervorrufen würden. Zudem dämmerte ihm, dass diese «pathologischen Leidenschaften» sich vielleicht eines Tages «gegen uns Anständige»38 richten würden. Mit der Anständigkeit der deutschen Soldaten war es in diesem Krieg so eine Sache gewesen. Immerhin fanden sich Truppen führer, die ihre Kritik öffentlich machten, vor allem der nunmehrige Oberbefehlshaber des deutschen Besatzungsheeres Johannes Blaskowitz. In mehreren Berichten protestierte er, der während des Krieges gegenüber vorgeblichen Partisanen kein Pardon gekannt hatte, mit gleichen Argumenten wie Stieff gegen die Verbrechen der SS. Hitler, zu dem diese Einsprüche vordrangen, statuierte, dass man mit Heilsarmee-Methoden in Polen nicht weiterkäme. Der Störenfried Blaskowitz wurde versetzt, erhielt aber wiederum einen Oberbefehl, nämlich über die 1. Armee in Frankreich. Die offenen Worte schadeten seiner militärischen Karriere mithin nicht. Allerdings bewirkte die Empörung auch nichts. Blaskowitz, Stieff, Ulex und andere konnten sich kein Gehör bei Halder oder Brauchitsch verschaffen. Die beiden regis 88
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trierten zwar die Unruhe, fühlten sich jedoch durch ihre profes sionelle Pflicht zu Gehorsam und Vertrauen ebenso an Hitler gebunden, wie sie sich von ihm einschüchtern ließen. Denn der «Führer» reagierte jedes Mal höchst aufgebracht, wenn ihm Widerspruch aus den Reihen des Heeres entgegenschallte. Und an der Spitze der Wehrmacht standen nicht Männer, die den Mut hatten, ihrem Gewissen zu folgen und Paroli zu bieten. Als sein Adjutant drängte, man müsse doch etwas tun, lautete Halders verantwortungsscheue wie vertröstende Antwort: «Da ist jetzt nichts zu machen».39 Das besetzte Zentralpolen, von der Berliner Bürokratie verächtlich «Restpolen» genannt mit seinen 12,1 Millionen Einwohnern, darunter 9,6 Millionen Polen, 1,4 Millionen Juden, 100 000 Volksdeutschen, wurde Ende Oktober 1939 als «Generalgouvernement» zum «Nebenland» des Reiches ohne eigene Staatlichkeit erklärt. Die Bezeichnung stellte eine Reminiszenz an den Ersten Weltkrieg dar, als die Deutschen das polnische Kernland um Warschau okkupiert hatten. Der merkwürdig undefinierte Status war ideal für die avisierten Ordnungsaufgaben, schuf er doch einen rechtsfreien Raum, der den Besatzungsbehörden alle Handlungsoptionen ließ. Wirtschaftlich sollten die Agrargebiete zugunsten des Reiches ausgeplündert werden. Überhaupt sollte alles nur irgendwie Brauchbare, Rohstoffe wie Maschinen, ganze Betriebe, aus dem Land geschafft werden. Um die Ausbeutung voranzutreiben, ließ Göring umgehend eine «Haupttreuhandstelle Ost» einrichten. Sie sollte das polnische Staatsvermögen erfassen und verwerten, ebenso das Privatvermögen von Juden und Polen. Aber auch die Bewohner galten als Kriegsbeute. Mit der Konstituierung des Generalgouvernements wurde zugleich ein allgemeiner Arbeitszwang für Juden und Polen angeordnet, gekoppelt an die Vergabe von Lebensmittelmarken. Ab Dezember 1939 mussten Juden eine weiße Armbinde mit blauem Davidstern tragen, um mühelos identifiziert werden zu können. Militärisch wurde das Territo89
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rium bedeutsam als Aufmarsch- und Durchzugsgebiet für den geplanten Krieg gegen die UdSSR. In Anbetracht der kleinen deutschen Minderheit war anfangs nicht an eine Germanisierung gedacht. Als Regierungssitz wurde Krakau auserkoren, um zu demonstrieren, dass der Nationalstaat Polen ein Ende gefunden hatte und Warschau lediglich eine Episode gewesen war. Zum Generalgouverneur mit Sitz in der Wawelsburg, der alten Residenz der polnischen Könige, berief Hitler den 39-jährigen Hans Frank, seinen ehemaligen Parteijuristen aus der «Kampfzeit». Als Stellvertreter wurde aus Österreich Arthur Seyß-Inquart geholt. Obwohl Frank fanatischer Nationalsozialist war und sich den Ruf eines «Schlächters von Polen» erwarb, sollte das Hauptgeschehen im Generalgouvernement von der SS beherrscht werden. Der polnische Arzt Zygmunt Klukowski aus Szczebrzeszyn resümierte nach einem Jahr deutscher Besatzung: «Das nervöse Leben von Tag zu Tag zehrt uns ungemein aus, ständig Unruhe und Unsicherheit, nicht nur darüber, was mit uns in einem Monat oder in einer Woche, sondern sogar, was mit uns in einer Stunde sein wird. Wir leben in permanenter Angst vor Durchsuchungen, Verhaftungen, Prügeln, der Inhaftierung oder Internierung in irgendeinem entfernten Lager, vor der Aussiedelung, der Ausweisung aus der Wohnung, vor der Ausraubung und natürlich vor der Erschießung, die angesichts des unmenschlichen Quälens in den Gefängnissen und Lagern letztlich nicht immer der schlechteste Ausweg ist.»40 Westpolen mit ungefähr zehn Millionen Einwohnern, darunter fast neun Millionen Polen, 600 000 Volksdeutsche und über 600 000 Juden, wurde zerteilt und ins Reich eingegliedert. Ost oberschlesien mit seinen reichen Kohlevorkommen und der Stahl verarbeitenden Industrie wurde als «Ruhrgebiet des Ostens» Teil der Provinz Schlesien. Gebiete nördlich von Warschau wurden als Regierungsbezirk Zichenau der Provinz Ostpreußen zugeschlagen. Den neuen Reichsgau Danzig-Westpreußen übernahm der bisherige Danziger NSDAP-Gauleiter, der 37-jährige Albert Fors90
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ter. Den zweiten neuen Reichsgau Posen/Wartheland leitete sein Rivale, der 42-jährige ehemalige Regierungschef der Ostseestadt und gebürtige Posener Arthur Greiser. Der Überfall auf Polen war kein gezielter Blitzkrieg gewesen, aber er ermöglichte Blitzkarrieren. Euphorisch, mit feudaler Emphase und mit festem Blick aufs eigene Landgut schrieb Ernst Gramß, einer der neuen 130 Kreis- und Stadthauptleute aus dem Altreich, Ende Mai/Anfang Juni 1940 an seine Frau, er werde in seinem Landkreis «unumschränkte[r] König» sein, alles könne «jetzt klappen, auch der Hof, denn dort sind schöne Güter». In den nächsten Tagen werde er «eingeführt, der Gouv. wird d. Thronrede halten u. ich werde mein Volk begrüßen»41. Gramß stand einem Gebiet vor, das in etwa einem deutschen Landkreis entsprach. Entgegen den Gepflogenheiten im Altreich waren die Beamten kaum an Weisungen gebunden, Bereicherung und Korruption, Selbstherrlichkeit und Selbstbedienung waren an der T agesordnung. Dementsprechend genossen diese Männer ihre Machtfülle. «Arbeit macht viel Freude»42, resümierte einer der abgeordneten Landräte im November 1939 seine und die Gemütsverfassung seiner Kollegen. Mehrere Hunderttausend Reichsdeutsche sollten als Verwaltungsbeamte, Sekretärinnen, Geschäftsleute, Parteifunktionäre, Polizisten, Soldaten seit Ende 1939/Anfang 1940 in die neuen Ostgebiete strömen, darunter auch 6 000 nach Auschwitz. Hier sollte eine deutsche «Musterstadt»43 entstehen. An dem riesigen KZ schien man sich nicht zu stören. Insgesamt wurde ein weitaus größerer Teil Polens dem Deutschen Reich eingegliedert als die nach 1918 abgetretenen Territorien. Dieser Zuschnitt musste die selbst auferlegte Aufgabe einer ethnischen Homogenisierung der neuen deutschen Gaue verkomplizieren. So lebten im Warthegau als größtem Territorium etwa 4,7 Millionen Menschen, nur sieben Prozent – 327 000 – waren Volksdeutsche, 93 Prozent aber galten als rassisch unerwünscht: über 3,9 Millionen Polen und 366 000 Juden. Aus der 91
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Sicht Greisers und seiner Verwaltung galt es, den Isolations-, Enteignungs- und Entrechtungsprozess, den die «Nichtarier» im Altreich schon hatten durchlaufen müssen, schleunigst an den polnischen Juden nachzuholen, ja mehr noch. Seit Ende Oktober 1939 waren sie in einigen Regionen des besetzten Westpolens gezwungen, wie im Generalgouvernement ein besonderes Kennzeichen auf ihre Kleidung zu heften. Die nichtjüdische polnische Bevölkerung in den eingegliederten Gebieten sollte rigider als im Generalgouvernement ein Leben als Arbeitssklaven auf niedriger Kulturstufe führen. Ihre Lebensmittelzuteilungen wurden reduziert, sie wurde von unteren Verwaltungsebenen ausgeschlossen. Der öffentliche Gebrauch der polnischen Sprache wurde verboten, Polnisch als Unterrichtssprache abgeschafft, die Schul ausbildung verkürzt, das Heiratsalter hochgesetzt. Städte- und Straßennamen wurden germanisiert und Ehen mit Deutschen grundsätzlich untersagt – wie überhaupt jeder über das an den Arbeitsplätzen erforderliche Maß hinausgehende Verkehr. Wenn auch nicht jeder Reichsdeutsche zum Gewalttäter wurde oder Nutzen aus der Unterwerfung zog, so wurden doch alle Zeugen der Gewaltexzesse gegenüber der jüdischen und der pol nischen Bevölkerung. Proteste blieben dabei eine Ausnahme. Man guckte weg – oder genoss die unmittelbare Aufwertung der eigenen Person. Die Einheimischen waren zu «Untermenschen» degradiert, die zu Gehorsam und Unterwürfigkeit verpflichtet wurden. Polen und Juden zu diskriminieren wurde zu einer Selbstverständlichkeit. Selbst die trotz aller Verbote häufigen «Ostehen», also Verhältnisse von deutschen Männern mit Po linnen, führten nicht unbedingt dazu, das nationalsozialistische Besatzungssystem anzuzweifeln oder gar zu kritisieren. Die polnische Freundin war dann die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Oder sie war «eigentlich» eine Volksdeutsche.
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«Blonde Provinzen» Das annektierte Polen, besonders der Warthegau, sollte zum Modell für das künftige Großgermanische Reich werden, was das Land zum Exerzierplatz einer ebenso radikalen wie brutalen Politik machte. Hier gelang Himmler der Durchbruch zum entscheidenden Akteur der rassistisch-völkischen Raumordnung in Osteuropa. Hitler hatte für die ihm «wichtigste Aufgabe» seinen Chefrassisten als Planer wie als Exekutor ausgeguckt. Am 7. Oktober 1939, seinem Geburtstag, erhielt der Reichsführer SS seine Bestallungsurkunde und verlieh sich selbst den Titel eines «Reichskommissars zur Festigung deutschen Volkstums (RKF)». Die neue staatliche Sonderbehörde beschäftigte im Laufe der Zeit mehrere Tausend Mitarbeiter. Sie war sowohl mit den etablierten SS-Struk t uren, etwa dem SS-Rasse- und Siedlungshauptamt, als auch mit den zivilen Behörden wie Gesundheitsämtern oder Arbeitsämtern im Altreich und in den besetzten Gebieten verknüpft und bildete den Nukleus eines ausgedehnten Netzwerks der Volkstumspolitik. In Danzig, Posen und Krakau installierte Himmler wie im Reich mit den Höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF) Stellvertreter, die er sodann zu sogenannten Beauftragten des RKF ernannte. Er konnte sich noch einen weiteren Vorsprung vor
den ebenfalls um Einfluss buhlenden Reichsbehörden, insbesondere dem Ministerium der Ernährung, aber auch der Deutschen Arbeitsfront, sichern: Es gelang ihm, mit Konrad Meyer einen der prominentesten Agrarwissenschaftler für die Planungsstelle des RKF zu gewinnen. Meyers Aufgabe lautete, einen Gesamtplan für
die Ostsiedlung auszuarbeiten. Dabei sollte der «Plan» in den kommenden Jahren zum Inbegriff der eigenen Ansprüche auf wissenschaftlich, geographisch wie demographisch abgesichertes, kompetentes, effektives und visionäres Handeln werden. Kein Beamter, kein SS-Obrist kam ohne diesen Terminus aus. Aber ähnlich wie beim Begriff «Blitzkrieg» führten hier Überheb93
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lichkeit und Selbsttäuschung Regie. De facto sollte nicht zuletzt aufgrund der divergierenden Vorstellungen der konkurrierenden Instanzen bis zum Krieg gegen die Sowjetunion kein siedlungspolitischer Gesamtplan vorliegen. Man behalf sich mit Improvisation. In den annektierten Westgebieten Polens wurden die ansässigen Volksdeutschen nicht umstandslos als «Deutsche» in die Gesellschaft des Dritten Reiches integriert. Obwohl die deutsche Minderheit offiziell gehätschelt wurde, misstraute das Regime ihr in der Regel zutiefst, insbesondere nach den langen Jahren eines Lebens in der «slawischen Fremde». Daher führte als Erster Greiser am 28. Oktober 1939 die «Deutsche Volksliste» ein, eine Art Warteliste für die Integration in die Volksgemeinschaft und die deutsche Staatsbürgerschaft. Ein weiterer, nicht unwesent licher Zweck der Liste war die Rekrutierung von Soldaten. Das Bekenntnis zum Deutschtum und zur deutschen Sprache und die Versicherung, aktiv am völkischen «Befreiungskampf» teilgenommen zu haben, wurden zum primären Beweis der Zugehörigkeit erhoben. Deutsche Großeltern, die Pflege deutschen Brauchtums und eine saubere Wohnung waren ebenso von Vorteil. Konnte man nur eine deutsche «Abstammung» vorweisen, galt ansonsten aber als «polonisiert», landete man in den unteren Klassen. Der gegliederten Zugehörigkeit entsprachen abgestufte Zugangsmöglichkeiten zur Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung, zu Schulen und anderen kulturellen Einrichtungen. Je niedriger die Eingruppierung, desto schwieriger gestaltete sich die Überlebenssituation für die Betroffenen. In deren Augen war die Liste nicht selten ein Akt kalter und willkürlicher deutscher Bürokratie. Hatte man die Wehrmacht häufig noch begeistert als Befreier empfangen, stellte sich nun in vielen Fällen Enttäuschung über die ausgebliebene Gleichstellung mit den Volksgenossen im Altreich ein. Juden, «jüdische Mischlinge», Sinti und Roma standen auf der Rassenskala ganz unten und kamen nicht einmal in die Nähe irgendeiner Liste, geschweige denn der Ger94
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manisierung. Während es Greiser im Warthegau in Absprache mit Himmler besonders genau nahm, handhabten die anderen Reichsstatthalter, insbesondere in den Regionen, die früher preußisch gewesen waren, die Kriterien pragmatisch. Ihnen war wichtiger, die politische Lage in ihren Hoheitsgebieten zu entspannen und Frontkämpfer auszuheben, als die völkische Zuverlässigkeit ihrer Einwohner zu beurteilen. Bis Januar 1944 wurden 2,75 Mil lionen Menschen in die «Deutsche Volksliste» eingetragen. Als vordringliche Aufgabe stellte sich jedoch nicht die Germanisierung der ansässigen Deutschen dar, sondern die Ansiedlung von Nachfahren deutscher Siedler und Kolonisten aus Stalins Reich. Denn diese standen schon vor der Tür. Im deutsch-so wjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 war in einer Geheimklausel ein Bevölkerungsaustausch zwischen den beiderseitigen Interessengebieten vorgesehen. Berlin sicherte sich so die Möglichkeit zu groß angelegten Heimholungs aktionen. Moskau versprach sich vom Exodus der deutschen Min d erheiten, Hitler jeden Vorwand für einen etwaigen Einmarsch zu nehmen. Da die sowjetischen Truppen schon Anfang Oktober 1939 ins Baltikum einzurücken begannen, nahm die Aktion einen überstürzten, fluchtartigen Verlauf. Die Volksdeutsche Mittelstelle, eigentlich eine staatliche Behörde, aber frühzeitig von der SS unterwandert, war für Transport und Unterbringung der einzusammelnden deutschen Minderheiten in Estland, Lettland und Litauen zuständig. Die Betrof fenen hatten die Option, sich zwischen Ausreise und Dableiben zu entscheiden. Wer sich nicht für die Umsiedlung registrieren ließ, sah sich jedoch massiven Drohungen ausgesetzt. Flugblätter, Presseartikel und Aufrufe warnten vor einer düsteren Zukunft. «Du willst nicht mit?», fragte ein in Lettland verteilter Handzettel. «Damit Du auch weißt, wofür Du Dich entscheidest: 1) Ich sage mich mit meinen Kindern und Kindeskindern vom deutschen Volke los. 2) Ich verzichte darauf, jemals wieder als Deutscher zu gelten, und damit auf jeden Schutz, den mir bisher das Deutsche 95
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Reich durch seine machtvolle Existenz gewährte. 3) Ich trenne mich von allem, was meines Blutes ist (…). 4) Ich will lieber einsam und allein bleiben.»44 Allein zurückbleiben – das wollten die wenigsten. Sobald sich die ersten Familienangehörigen für die Umsiedlung entschieden hatten, folgten ihnen die Verwandtschaft, die Haus- und Dorfgemeinschaft. Nicht zuletzt die drohende Annexion des Baltikums durch Stalin veranlasste die deutsche Minderheit zur Ausreise. Gelockt wurden die deutschen Umsiedler durch eine angeblich großzügige Entschädigung und Landzuteilung. In den annektierten polnischen Gebieten – und das hieß vor allem im Warthegau – sollten die Umsiedler das anscheinend «doch geringe deutsche Element […] verstärken»45, wie Generalleutnant Gotthard Heinrici in seinem Tagebuch verwundert festhielt. Zusammen mit 30 000 aus dem Generalgouvernement umgesiedelten Volksdeutschen wurden bis Frühjahr 1941 etwa 500 000 Nachfahren deutscher Kolonisten heim ins Reich geholt. Hier wurden sie zunächst in Auffanglagern untergebracht. Schnell wurde klar, dass man sehr viel mehr Platz brauchte, als vorhanden war. Auf der Suche nach Zwischenunterkünften geriet eine Gruppe ins Visier der SS, für die im Reich Aktivisten der Erbbiologie schon länger die «Ausmerzung» vorgeschlagen hatten: behinderte und psychisch kranke Menschen. Der Krieg rechtfertigte in den Augen Hitlers nun die Tötung dieser «Ballastexistenzen», im Oktober 1939 autorisierte er auf seinem persönlichen Briefpapier den Massenmord an den eigenen Staatsbürgern. Die neuen Gauleiter wiederum ergriffen die Chance, sich und ihre Region mit der Ermordung von «Lebensunwerten» zu profilieren. Noch bevor die «Euthanasie» im Innern des Reiches begann, erschossen oder erstickten Kommandos der SS seit Anfang Oktober 1939 in eigens dafür erbauten Gaswagen in psychiatrischen Einrichtungen in Pommern, Danzig-Westpreußen und dem Wartheland die ersten Kranken: Kinder wie Erwachsene, Nichtjuden wie Juden, Deutsche wie Polen. Hierbei tat sich besonders ein ehema96
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liger Einsatzgruppenleiter hervor, der 31-jährige Herbert Lange. Den Morden fielen bis Mitte 1940 neben den 70 000 Patienten im Reich über 13 000 Menschen in den eingegliederten Gebieten zum Opfer. Gas wurde nun zum Tötungsmittel im besetzten Polen, die Gebäude der Anstalten wurden frei – für die Wehrmacht, aber auch für die Neuankömmlinge. Für die Deutschen aus Stalins Machtbereich stellten sich die Lebensbedingungen im besetzten Polen oft als schlechter heraus als in der alten Heimat. Irritiert waren die meisten darüber, dass sie erst einmal einen Volkstums-Check durchlaufen mussten. Etwa tausend Mitarbeiter der seit Oktober 1939 eingerichteten «Einwandererzentralstelle», einer Sammelbehörde aus dem RSHA, begutachteten und wählten die einzubürgernden Volks-
deutschen aus. Wer durchfiel, wurde zur Zwangsarbeit im Altreich verpflichtet, ins Generalgouvernement deportiert, wieder zurückgeschickt oder schlimmstenfalls ins KZ überstellt. Aber selbst für die Erfolgreichen brachte die Abwanderung fast immer einen Verlust an sozialem und beruflichem Status, Einkommen und persönlichen Bindungen mit sich. Eine Frau aus Bessarabien schrieb 1942 an die NS-Behörden: «Wir sind nun seit November hier im Warthegau u. ich fühle mich hier noch genauso fremd wie in den ersten Tagen. Der Warthegau war für uns alle eine große Enttäuschung.»46 Die Umsiedlungen der Volksdeutschen aus dem sowjetisch besetzten Osteuropa intensivierten die Vertreibung der Polen und Juden aus den für die Germanisierung vorgesehenen Gebieten in das Generalgouvernement. Beide Prozesse der Vertreibung wie der Ansiedlung griffen immer stärker ineinander. Zu dieser Beschleunigung trug bei, dass Himmler aufs Tempo drückte. Am 26. Oktober 1939 erteilte er als RKF den Befehl, eine Million Menschen aus den eingegliederten Gebieten, darunter 550 000 Juden, innerhalb von vier Monaten in das Generalgouvernement zu deportieren. Der 40-jährige Soldat Konrad Jarausch, preußisch- protestantischer Intellektueller und im Zivilleben Religionspäd 97
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agoge, war in Zgierz nördlich von Łódź in der Etappe stationiert. Er schilderte seiner Frau am 12. November 1939, wie «ungeheuerlich» ihm der neue Alltag in der kleinen Stadt vorkam: «In der Nacht ist hier der Judentempel aufgeflammt. Heute brennt das Bethaus. In Lodz hängen Juden und Polen auf den offenen Plätzen, weil sie antideutsche Plakate angeschlagen haben. Andererseits rechnet man bereits mit der Ankunft wolhynischer Deutscher. Das sind nur ein paar zufällige Ausschnitte. Aber was steckt alles dahinter an menschlichem und völkischem Schicksal.»47 Einen Monat später, am 22. Dezember 1939, beobachtete er: «Die Evakuierung verschärft die Lage. Da die wolhynischen Siedler im Laufe des Winters aufgenommen werden müssen, werden die Juden in großer Zahl ausgetrieben.»48 Hektisch wurden weitere Nah- und Fernpläne aufgestellt, das Ziel blieb dasselbe: Die jüdische Bevölkerung sollte vollständig vertrieben, die Polen sollten entweder deportiert oder zur Zwangs a rbeit rekrutiert, die ankommenden Volksdeutschen in die Wohnungen und auf die Höfe der Deportierten gesetzt werden. Die geplanten Größenordnungen waren nicht realisierbar, zum Beispiel fehlte es an Zügen. Goebbels spottete: «Himmler verschiebt augenblicklich die Völker. Nicht immer mit Erfolg.»49 Dennoch hielt der Reichskommissar an den Plänen fest. Immer wieder verkündete er bei Besuchen, die besetzten Regionen in eine «blonde Provinz»50 zu verwandeln. Die Betroffenen durften nur einen Koffer mit dem Nötigsten mitnehmen, alles andere musste zurückgelassen werden. De facto wurden sie damit enteignet und beraubt. Manche der Umsiedler waren entsetzt, in geräumte Wohnungen einziehen und gestohlene Kleider anziehen zu sollen. Sie zeigten Mitleid mit den ehemaligen Bewohnern. Andere, darunter etliche Mitarbeiter der deutschen Besatzungsverwaltung, ließen sich diese Chance aber nicht entgehen. So bat etwa am 13. Dezember 1939 die Kreisfrauenschaftsleiterin in Teschen den Bürgermeister, «noch einige jüdische Wohnungen wegen Überlassung von Möbeln» besichtigen 98
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zu dürfen. Man beziehe die neue Dienststelle und müsse sich einrichten. «Nußbaumstühle» wären besonders schön, die zu den schon abgeschleppten «Möbeln aus der jüdischen Wohnung Durst»51 passten. Im Herzen Warschaus entstand, von seinen ursprünglichen Bewohnern zwangsgeräumt, gleich ein ganzes «Deutsches Wohnviertel», um den Reichsbürgern das Leben so angenehm und heimatlich wie möglich zu gestalten. Zum Teil kam es zu wilden Austreibungen, bei denen Straßen und ganze Dörfer von Polizei umstellt und innerhalb einer Stunde geräumt wurden. Das geschah manchmal sogar nachts. Im schlimmsten Fall war gerade Waschtag gewesen, und die Menschen wussten nicht, was sie mitnehmen sollten, da alles nass war. Kinder schafften es nicht rechtzeitig, in die Schuhe zu kommen, und liefen nur in Pantoffeln. Manche Polen und Juden versuchten, sich in den Wäldern oder bei Nachbarn zu verstecken, aber Fluchtversuchen wurde mit Waffengewalt begegnet. Die Deportationen erfolgten unter der Aufsicht des SD und mit Unterstützung von Gendarmerie, Schutzpolizei, Volksdeutschem Selbstschutz sowie SA- und SS-Einheiten. Die jüdischen Opfer wurden zumeist direkt ins Generalgouvernement verschleppt, wo sie von den dortigen jüdischen Gemeinden aufgenommen werden mussten. Die polnischen Betroffenen indessen kamen in speziell eingerichtete Übergangslager, von denen das größte in Posen eingerichtet wurde. Hier wurden sie schon von den Mitarbeitern der «Umwandererzentralstelle», ebenfalls Teil des RSHA, erwartet. Diese prüften in Zusammen arbeit mit den Landesarbeitsämtern im Reich die Tauglichkeit zur Arbeit. Fiel das Urteil negativ aus, überstellten die deutschen Dienststellen die Betroffenen in Lager im Generalgouvernement. Mittel- und obdachlos kamen sie dort an. Die Besatzungsbehörden überließen diese Menschen ihrem Schicksal und machten wenig Anstalten, sie zu ernähren und unterzubringen. Wer als arbeitsfähig klassifiziert wurde, den erwartete eine In spektion seiner «Rassenwertigkeit» durch Eignungsprüfer des 99
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SS-Rasse- und Siedlungshauptamts. «Rassisch wertvolle» Polen sollten als sogenannte Wiedereindeutschungsfähige ins Altreich gebracht werden. Auf der Suche nach Trägern «nordischen Blutes» hatte Himmler auf diese Prozedur gedrängt. Er glaubte im Gegensatz zu Hitlers Diktum, dass nicht nur der Boden, sondern auch ein Teil der polnischen Bevölkerung germanisiert werden könne. Durch die «Irrtümer deutscher Geschichte», also durch die Migrationsströme seit den Kreuzzügen, sei «unser eigenes Blut» in eine «fremde Nationalität hineingeflossen»52, so der Reichsführer SS. Diesen Fehler galt es rückgängig zu machen. Im September 1940 veranschaulichte er in einer Rede vor der Leibstan darte Adolf Hitler seine Idee, «dass wir alles nordische Blut in der Welt an uns heranziehen, unseren Gegnern das Blut wegnehmen, es uns einfügen», damit es niemals mehr «gegen uns kämpft. Wir müssen es an uns nehmen und – die andern dürfen keines haben.»53 Nicht immer freuten sich Wiedereindeutschungsfähige über ihre Assimilation. Am 15. Mai 1940 weigerte sich im Sammellager in Łódź ein ganzer Saal zwangsbeglückter Polen, die für die Ausreise ins Altreich erforderliche Unterschrift unter Fremdenpässe zu setzen. In einem Aktenvermerk des Kommandanten des Sammellagers hieß es, dass die Menschen «erklärten, daß sie unter keinen Umständen Deutsche werden, sondern lieber im Generalgouvernement verrecken wollten». Ungeachtet ihres Protestes wurden sie zwei Tage später zum Landesarbeitsamt Lüneburg «in Marsch gesetzt»54. Insgesamt etwa 35 000 Menschen kamen auf diese Weise ins Altreich. Sie arbeiteten als Hilfskräfte in der Landwirtschaft und in Fabriken, junge Frauen auch als Hausangestellte. Die Volksgenossen sahen die neuen Mitbürger offenbar vor allem als willige Arbeitskräfte. Der ehemalige Landwirt Jan Z. aus dem Warthegau, nun Landarbeiter in Württemberg, beschwer te sich jedenfalls am 15. September 1940 beim Rasse- und Siedlungshauptamt: «[D]enn es ist nicht so, als wie Sie es uns versprochen haben, daß wir dieselben Rechte haben werden wie das 100
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deutsche Volk. Unser Bauer hat uns andere Rechte gegeben, denn auf jeden Schritt ruft er uns polnische Schweine, Scheisdreck, stößt und schlägt uns. Da haben wir den Lohn für unser Vermögen, welches uns weggenommen worden ist.»55 Arbeitsfähige, aber nicht germanisierbare Polen blieben als Zwangsarbeiter in den annektierten Gebieten oder kamen ins Altreich. Dort wurden sie vor allem in der Landwirtschaft beschäftigt. Razzien und namentliche Aufforderungen, sich zum Arbeitseinsatz zu melden, ergänzten die Deportationen. Bis zum Sommer 1941 wurden über eine Million Polen, darunter auch 300 000 Kriegsgefangene und einige Zehntausend Freiwillige, zum Arbeitseinsatz ins Altreich gebracht. Aus rassenpolitischen Gründen war es innerhalb der NS-Führung nicht unumstritten, Polen nach Deutschland zu bringen. Ebenso wurde kritisch vermerkt, dass das massenhafte Verschleppen die einheimische Wirtschaft und damit den Aufbau Ost unterminiere. In der Abwägung aber schien der «Polen- und Ausländereinsatz» kriegswirtschaftlich unumgänglich, um die eingezogenen deutschen Männer zu ersetzen und die deutschen Frauen nicht aufs Land oder in die Rüstungsfabrik zwingen zu müssen. Nicht nur die neuen Arbeitsmigranten aus Polen vergegenwärtigten den Deutschen im Altreich die Folgen der Volkstumspolitik. Am 12. Januar 1940 tauchten SA-Beamte bei Klemperer auf. Den Romanisten hatte gerade die Nachricht ereilt, dass er im Zuge der «Arisierung» auch privater Immobilien sein geliebtes Haus in Dölzschen verlassen musste. «Wenn ich vermieten wolle, stelle die Partei den Mieter, etwa aus den Kreisen der Rückwanderer – wir hätten kein Vorschlagsrecht.»56 Doch es sollte noch schlimmer kommen. Angeregt durch die Vertreibungen von Juden aus dem Warthegau, kam im Februar 1940 der Gauleiter und Oberpräsident von Pommern, Franz Schwede- Coburg, auf die Idee, tausend Juden aus Stettin abzuschieben, wiederum in den Distrikt Lublin, weil er Wohnungen für Umsiedler benötige. Das war das erste Mal, dass aus dem Altreich Juden deportiert wur101
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den, was für erhebliche Unruhe auch im «Judenhaus» sorgte, in dem Eva und Victor Klemperer nun wohnten. «Wir kommen noch alle nach Lublin!»,57 fürchtete ihre Vermieterin. Sollte man angesichts der neuesten Drohung, in irgendein «Reservat» im besetzten Polen verschickt zu werden, nicht doch ins Ausland gehen? «Aber wohin sollen die Juden auswandern?», fragten die Deutschland-Berichte der Exil-SPD am 7. April 1940. «Erst nimmt man ihnen das Geld ab, und wenn dann kein anderes Land die mittellosen und zermürbten Menschen aufnehmen will, behauptet man noch, die Juden betrieben ihre Abreise nicht energisch genug, es gefalle ihnen viel zu gut in Deutschland.»58 Das demokratische Ausland half weder Juden noch Polen in nennenswerter Weise, registrierte aber die Geschehnisse unter deutscher Besatzung aufmerksam. In Großbritannien erschienen Anfang 1940 Zeitungsartikel, in denen unverhohlen gewarnt wurde, Hitler setze «täglich Präzedenzfälle, die nicht vergessen werden können, wenn die Abrechnung kommt». Im Oberhaus erklangen Forderungen nach einer Umsiedlung der Deutschen «entsprechend den Methoden Hitlers»59. Die Briten kritisierten dabei nicht per se die Säuberungen als politisches Instrument. Was ihnen missfiel, war die rassistische Zielsetzung der Bevöl kerungsverschiebungen. Auch der Geschäftsträger der amerika nischen Botschaft in Berlin, Alexander C. Kirk, war im Frühjahr 1940 bestens im Bilde. Er schrieb nach Washington, dass aus den ehemals polnischen Westgebieten die Juden zusammen mit einer großen Anzahl Polen unter beträchtlichen Entbehrungen und Nöten «entfernt» würden, um für «die Baltendeutschen Platz zu machen»60. Weitere Zeitungen wie die Neue Zürcher, die New
York Times und andere US-amerikanische Presseorgane unterrichteten ihre internationale Leserschaft ausführlich über Stettin. Durch die Berichte aufgeschreckt, unterband Göring am
23. März 1940 erst einmal alle «Evakuierungen» von Juden und Polen. Die deutsche Führung wollte die Beziehungen zur neutralen US-Regierung nicht noch mehr gefährden, als es ohnehin 102
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schon geschehen war: durch die irrtümliche Versenkung des Passagierschiffes «Athenia» am 4. September 1939, bei der auch 28 amerikanische Staatsbürger ihr Leben verloren hatten. Zu dem Stopp trug zudem bei, dass Hans Frank sich heftig gegen Transporte in das Generalgouvernement wehrte. Was nun? Zwischenzeitlich hatte Eichmann schon in Moskau angefragt, ob man dort bereit sei, im Rahmen eines weiteren Bevölkerungsaustausches wenigstens die deutschen, österreichischen und tschechischen Juden aufzunehmen. Dieses Ansinnen wies die sowjetische Regierung zurück. Um doch noch irgendwie voranzukommen, wurde ein weiterer Versuch, dieses Mal in der «Zigeunerfrage», gestartet. Himmler ordnete Mitte Mai 1940 eine erste Deportation der im Altreich lebenden Roma und Sinti an. 2 800 Menschen wurden in «Sippen» im Generalgouvernement ausgesetzt oder in Lagern untergebracht, später auch in Ghettos eingesperrt. Vermutlich die Hälfte von ihnen starb an Hunger, Kälte, Krankheiten. Die Idee Greisers, den neuen deutschen Gau schnell «judenrein» zu machen, war mit dem Moratorium Görings vorerst gescheitert. Bis eine andere Lösung gefunden würde, wurde die jüdische Bevölkerung in die von Heydrich in seinen September- Richtlinien schon avisierten Ghettos gesperrt. In ihnen hatte sich die gesamte jüdische Bevölkerung einer Stadt einzufinden. Isolation und Überwachung waren das Ziel dieser Sperrzonen, die verstärkt auch im Generalgouvernement eingerichtet wurden. In den kommenden Jahren sollten bis zu 600 «jüdische Wohnbezirke» den Juden in Łódź, Krakau, Radom, Lublin, Warschau sowie etlichen anderen Orten das Leben zur Hölle machen. «Hitler beabsichtigt offenbar, ganz Polen in ein einziges Ghetto zu verwandeln, in dem die armen Juden an Hunger und Dreck sterben»,61 resümierte Astrid Lindgren ihre Lektüre von Briefen in der Abteilung für Zensur des schwedischen Nachrichtendienstes, in der sie nun arbeitete. Allerdings ging die Initiative zur Gründung der Ghettos weniger von Berlin als von örtlichen Stellen aus. Den Ju103
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den wurde dabei ihre eigene Unterdrückung aufgebürdet. Die deutschen Besatzer machten sie zum Teil des Zwangssystems, indem sie die Sammellager durch sogenannte Judenräte verwalten ließen. Jüdische Männer fanden sich zur Kooperation bereit im Glauben, dadurch Schlimmeres zu verhüten. An die Stelle der Ausraubung rückte allmählich die Zwangsarbeit für deutsche Betriebe und die neue deutsche Zivilverwaltung. Auf diese Weise sollten die «notorischen Volksschädlinge» ihr Leben und den Unterhalt der Sammelstätten selbst finanzieren. Die Viertel mit ihren Abertausend Bewohnern übten eine große Anziehungskraft auf die Reichsdeutschen aus. Insbesondere das große Ghetto Litzmannstadt in Łódź mit über 154 000 Menschen avancierte zum Besuchermagneten. Im Sommer 1940 hielt eine angehende Lehrerin aus Hamburg ebenso fasziniert wie abgestoßen fest: «Großen Eindruck machte das Ghetto (das eingezäunte Judenviertel) auf uns. Hier sahen wir die echten schmierigen Ostjuden, die zwischen ihren verwohnten und verkommenden Häusern umherlungerten.»62 Die deutschen Behörden führten in einem Teufelskreis von Ausbeutung, Einsperrung und gewollter Verwahrlosung die Armseligkeit der Menschen selbst herbei – und deutsche Ausflügler machten Fotos. Auch eine andere Helferin schrieb im Oktober 1940, der «erschreckendste Anblick» sei «das Ghetto». Es sei besät «mit herumlungernden Juden, unter denen wahre Verbrechertypen sind. Was sollen wir bloß mit diesem Pack anfangen?»63 Das war die Frage, die sich auch die deutsche Verwaltung stellte. Den Soldaten Jarausch bedrückten die Entrechtung der Juden und das Klima der Angst. Nachdem er im Juni 1940 Warschau besucht hatte, ging ihm eine Szene nicht mehr aus dem Kopf, die er seiner Frau schilderte: «Ich werde die Bewegung nicht sobald vergessen, mit der auf dem Postamt ein Mann seinen etwa achtjährigen Jungen an sich preßte, als er sah, wie ich hinter ihn trat. Ich bemerkte erst dann, daß er die Judenbinde trug.»64
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Nord-, West- und Südosteuropa Im Westen passierte derweil erst einmal «so gut als nichts»65, wie Klemperer mehr als einmal entnervt in seinem Tagebuch festhielt. Allenfalls im Nordatlantik begegneten sich die Kontrahenten. Die Briten hielten ihre Blockade zur See aufrecht, die deutsche Marine wiederum versuchte, durch einzelne Operationen die Absperrung aufzubrechen und ihrerseits die Rohstoffzufuhr sowie den alliierten Nachschub an Waffen und Militärausrüstung zu beeinträchtigen. Dabei operierte die deutsche U-Boot- Flotte erfolgreich. Mit der begrenzten Ausstattung von lediglich 57 Schiffen konnten die Boote weit mehr Tonnage versenken, als in britischen und amerikanischen Werften neu gebaut wurde. Vielleicht, so die Hoffnung manch eines Deutschen, würde es ja auch gar nicht zu weiteren Konflikten kommen, würden die Westmächte aufgrund des erfolgreichen Schlages gegen Polen einlenken. Hitler war sich dessen nicht so sicher. Stalins Annexionen in Polen hatten die Alliierten akzeptiert, seine nicht. Hinzu kam: Er wollte die Offensive im Westen. Schon am Tage der Kapitulation Warschaus, am 27. September, hatte er erklärt, noch 1939 Frankreich angreifen zu lassen. Etwas anderes als eine Flucht nach vorn schloss sein politisches Denken ohnehin aus. Ohne eine Antwort auf seinen «Friedensappell» vom 6. Oktober 1939 abzuwarten, teilte er den Oberbefehlshabern der Wehrmacht seinen Willen mit, den Zeitpunkt des Angriffes «wenn nur irgend möglich – noch in diesen Herbst zu legen»66. Doch der Angriffstermin sollte noch mehrmals, insgesamt wohl an die 29 Mal, verschoben werden. Denn die Generäle protestierten erneut, die erforderliche Kampfstärke sei ebenso wenig erreicht wie die Versorgung mit Munition sichergestellt. Tatsächlich hatte man in Polen 300 Panzer und 560 Flugzeuge verloren. Lediglich ein Drittel der Heeresdivisionen verfügte bei Kriegsende noch über Munition, und das auch nur noch für 14 Kampftage. Ähnlich sah die Lage bei den 105
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Bombenvorräten der Luftwaffe aus. Überhaupt hatten sich während des Krieges Mängel in Ausrüstung und Ausbildung offenbart. Zudem bewegten sich 90 Prozent der Heeresverbände zu Fuß und zu Pferd. Auf allen Gebieten musste nachgebessert werden. Es kam zu heftigen Wortgefechten zwischen dem ungeduldigen Diktator und den Bedenken tragenden Generälen. Einige hatten sich angesichts des Starrsinns des Oberbefehlshabers nun doch zu Plänen für einen Staatsstreich durchgerungen. Hitlers Wut und Warnung, er werde jeglichen Widerstand vernichten, brachten die Offiziere von ihrem beabsichtigten Hochverrat ab. Abgekämpft und enttäuscht notierte einer der Hauptprotago nisten, der 40-jährige Helmuth Groscurth, Chef der Abteilung Heerwesen im OKW, am 6. November 1939 in seinem privaten Tagebuch, alles sei «zu spät und völlig verfahren. Diese unent schlossenen Führer ekeln einen an. Grauenvoll.»67 Das missglückte Attentat auf Hitler am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller durch Georg Elser tat sein Übriges, um die Offiziere zu entmutigen und Hitler anzuspornen. Für den «Führer» war klar: Die Vorsehung hatte ihn wieder einmal gerettet. Dass dennoch Zeit bleiben sollte, sich zu organisieren und konzentriert nachzurüsten, lag am Wetter. Es zogen die Herbststürme herauf, die den Einsatz der Luftwaffe verbaten. In den deutschen Straßen war mithin vom Krieg nichts zu sehen, wie ausländische Reporter vermerkten. Klemperer notierte am 11. Februar 1940: «Alles geht unverändert weiter, die Ruhe im Westen, der Handels-Seekrieg. Die Frage, ob das Frühjahr Offensive bringt und wie sie ausgeht. Nichts läßt sich abschätzen.»68 Der Krieg schlich heran, derweil Goebbels den Deutschen verkündete, der Führer habe alles im Griff, das Reich sei stark und gerüstet, an allem seien die Juden schuld, und die anderen seien die Aggressoren. So dauerte es bis April 1940, ehe die Wehrmacht wieder in einen Krieg zog. Zunächst ging es aber gar nicht gegen Frankreich, sondern die 106
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Kämpfe setzten in Skandinavien ein. «Schöner sonniger Morgen; geplättet, ahnungslos», notierte Solmitz am 9. April, um «5½ deutsch-dänische Grenze überschritten»69. In einer kombinierten See- und Luftoperation, der «Weserübung», wollte Berlin eine Landung britischer Truppen vereiteln. Beiden Seiten ging es darum, durch Stützpunkte in den nordischen Ländern Ausfallbasen zum Atlantik zu sichern. Zudem sollte die Zulieferung schwedischen Eisenerzes für die deutsche Rüstungsindustrie über norwegische Häfen gesichert werden. Schon im Oktober 1939 hatte die Marineleitung Hitler auf die Vorteile einer Besetzung Nordeu ropas aufmerksam gemacht. Nun wurden Dänemark und Nor wegen territoriale Unversehrtheit und politische Souveränität zugesichert, wenn sie die Waffen streckten. Angesichts der militärischen Dominanz gab Kopenhagen fast sofort unter Protest nach, König Christian X. blieb im Land. In Oslo hingegen waren König und Regierung zum Widerstand entschlossen. Auch existierte dort eine ausgeprägt antinazistische Stimmung, für die die Verleihung des Friedensnobelpreises 1936 an Carl von Ossietzky nur ein Indiz gewesen war. Um das eisfreie norwegische Narvik, eines der Hauptziele der Besetzung, kam es zu einem Wettlauf mit der britischen Marine und französischen und exilpolnischen Verbänden. Der Völkische Beobachter titelte: «Deutschland rettet Skandinavien»70 – vor den Briten. In Wien fragte sich Martha Svoboda: «Wie lange wird der Krieg noch dauern», wie lange noch würden sich Millionen Menschen «die fürchterlichsten Leiden auferlegen»71 lassen? Konrad Jarausch wiederum fand, dass Hitler den Bogen überspannt habe. Im Einmarsch deutscher Truppen in Norwegen erkannte er, «tief getroffen», schieren «Imperialismus». Das alte Europa sei nun endgültig «zu Ende gegangen. Das Ausgreifen nach dem Osten konnte ja immer noch im Zusammenhang kontinental begrenzter, an die Überlieferung anknüpfender Reichsgedanken verstanden werden. Jetzt aber nimmt Deutschland den Kampf um die Weltherrschaft auf.»72 Jarausch hatte recht, auch wenn der Über107
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fall vor allem strategische Gründe gehabt hatte. Eher pragmatisch betrachteten heimkehrende Soldaten den Feldzug. Sie deckten sich für sich selbst und die Lieben daheim mit im Reich knappen Konsumgütern ein. «Schokolade, Fischdosen, Seife, Bettbezüge, Strümpfe, Schuhe, Kaffee, ja Stopfwolle»,73 an alles hatte der Nachbar von Luise Solmitz gedacht. In Dresden fing Klemperer an, den für unmöglich gehaltenen deutschen «Endsieg» für vorstellbar zu halten. Er sorgte sich am 3. Mai: «Was wird aus der Welt, wenn Deutschland siegt? Und aus uns?»74 Als die Alliierten ihre Kräfte am 5. Juni aufgrund der drohenden deutschen Offensive in Frankreich abzogen, war der Fall Norwegens besiegelt. Der Widerstand hielt noch bis zum 10. Juni 1940, dann waren die Kräfte erschöpft. Der Regierung und dem Königshaus in Oslo gelang es, nach London zu fliehen, wo eine Exilregierung gegründet wurde. Mit dem Sieg hatten die Deutschen ihre Angriffsposition gegenüber Großbritannien verbessert. Doch der Sieg, «die erste wirklich große Niederlage»75 für London, so Astrid Lindgren, war teuer erkauft. Ein Drittel der Flotte war verloren gegangen, und eine beträchtliche Anzahl an Soldaten, 1942 etwa 340 000 Mann, wurde zum Schutz der langen Küste nach Norwegen verlegt. Gedanken darüber, was nun mit den beiden Staaten passieren sollte, machte Berlin sich erst bei Kriegsende. Ein gewisses Maß an sozialem Frieden sollte hergestellt werden, schon um im Falle Norwegens die wichtigen Rohstoffe ausbeuten und die vielen deutschen Besatzungskräfte aus dem Lande heraus ernähren zu können. Zudem sah man in den Skandinaviern eher ein Brudervolk. Gerade die Dänen gelte es, so Hitler, so freundlich wie möglich zu behandeln. Die Regierung in Kopenhagen blieb im Amt, die deutschen Interessen vertrat der nun als Reichsbevollmächtigter agierende deutsche Gesandte Cecil von Renthe-Fink. Die etwa 7 000 in Dänemark lebenden Juden blieben in den ersten Jahren unbehelligt. Als einzige deutsche Grenze aus dem Versailler Vertrag wurde die dänisch-deutsche Grenze nie revidiert. Son108
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derjylland/Nordschleswig blieb bei Dänemark, als Brücke zum Norden. In den Augen der SS bedurfte es keiner Revision, die Region sei ja nie Volkstumsgrenze gewesen. Bei alldem spielte auch politisches Kalkül eine Rolle. Der Welt sollte gezeigt werden, dass die Nationalsozialisten die Völker achteten, die sich ihnen unterwarfen. Den deutschen Wünschen ordneten sich die Dänen einstweilen unter. In Norwegen war der Zugriff nach den harten Kämpfen und angesichts der militärischen Bedeutung des Landes direkter. Ein Verwaltungsausschuss übernahm die Geschäfte unter Reichskommissar Josef Terboven, bisher Gauleiter in Essen. Unterhalb dieser Ebene blieb die norwegische Selbstverwaltung unangetastet. Die Deutschen vertrauten den einheimischen konservativen Eliten mehr als dem in der Bevölkerung verhassten Vidkun Quisling und seiner «Nasjonal Samling», der einzig noch erlaubten Partei. Etliche seiner «Quislinge» nahm man zwar in die Staatspolizei auf, ließ die kleinen Nazi-Brüder aber vom deutschen Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD kontrollieren. Die im Land lebenden 2 100 Juden wurden in der Folge weniger einer systematischen Verfolgung als vielmehr Schikanen durch Anordnungen einzelner SS-Kommandeure oder norwegischer Staatsräte ausgesetzt. Die nationalsozialistische Rassenpolitik fand in Norwegen dennoch ein weiteres Betätigungsfeld, sie interessierte sich für den «wertvollen» Nachwuchs aus den sich anbahnenden Beziehungen zwischen Norwegerinnen und deutschen Soldaten. «Lebensborn»-Heime wurden eingerichtet. Dieser Verein, 1935 in Deutschland auf Veranlassung Himmlers gegründet, eröffnete 1941 in Norwegen das erste von insgesamt acht Entbindungs- und Kinderheimen. Etwa 8 000 der vermutlich seit Besatzungsbeginn insgesamt geborenen 11 000 Kinder kamen hier zur Welt. Fühlte sich eine Frau nicht in der Lage, ihr Kind zu behalten, konnte sie es zur Adoption freigeben, auch dafür sorgte der SS- Verein. Viele der Norwegerinnen, die mit Wehrmachtsangehörigen Beziehungen eingegangen waren und von ihren Landsleuten 109
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in der Regel als Kollaborateurinnen diskreditiert wurden, sahen die Angebote des «Lebensborns» als Hilfe in der Notlage. Noch während die Deutschen in Norwegen kämpften, war es so weit: Die «Entscheidungsschlacht» in Westeuropa begann. «Um 5 Uhr 35, wieder ‹im Morgengrauen›, haben unsere Truppen die holländische, die belgische und die luxemburgische Grenze überschritten»,76 protokollierte Luise Solmitz am 10. Mai 1940. Wieder lautete die Begründung, man wolle einer Invasion der Alliierten zuvorkommen, wieder gab es schnelle motorisierte Angriffe und massierte Vernichtungsschläge. Bombardements auf verschiedene Städte töteten über tausend Zivilisten. Der 19-jährige Soldat Fritz Köhler schrieb an seine Eltern: «Überall ergeben sich die Belgier. Die Dörfer, durch die wir kommen, sind durch Artilleriebeschuss und Bombardierung ziemlich mitgenommen. Die Haustüren sind offen, Fensterscheiben zerbrochen. Ein trauriges Bild der Verwüstung.»77 Schockiert war auch der mittlerweile 22-jährige Heinrich Böll, als er Anfang August Rotterdam sah, «wirklich grauenhaft zerstört; heller Wahnsinn».78 Die drei Beneluxstaaten waren den Deutschen militärisch hoffnungslos unterlegen. Lu xemburg kapitulierte noch am Tag des Einmarsches, die Niederlande folgten am 15. Mai, Belgien sollte sich bis zum 28. Mai 1940 halten. Königin Wilhelmina, Großherzogin Charlotte und alle Regierungen der Beneluxstaaten flohen ins Exil nach London, König Leopold III. blieb hingegen in Brüssel und geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft. Dass die Deutschen wie schon 1914 völkerrechtswidrig die Neutralität Belgiens und Luxemburgs verletzt hatten, interessierte die NS-Führung nicht. Nach den raschen Erfolgen meinte Hitler optimistisch, England werde nun einlenken und sich vielleicht zur Neutralität verpflichten, was ihm Handlungsfreiheit für den Krieg gegen Stalin brächte. Winston Churchill aber, der am 10. Mai 1940 Chamberlain als Premierminister gefolgt war, dachte gar nicht daran. Er war entschlossen zu kämpfen und hielt am 13. Mai 1940 eine Rede, in der er an den Zusammenhalt der Bevölkerung appellierte 110
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und den Briten mitteilte, dass er nichts anzubieten habe als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß. Großbritannien, so Churchill weiter, werde Krieg führen gegen «eine monströse Tyrannei, die unübertroffen ist im dunklen, beklagenswerten Katalog menschlicher Verbrechen»79. Dann folgte der Aufruf an die britische Nation: «Sieg, – Sieg um jeden Preis; Sieg trotz allen Terrors, Sieg, wie lang und hart die Strecke dahin auch sein mag; denn ohne Sieg gibt es kein Überleben.»80 Von den besetzten Benelux-Staaten drang die Wehrmacht nun weiter nach Frankreich vor. Nur zwei Tage nach seiner Rede vor dem Unterhaus, am 15. Mai 1940, ereilte den britischen Premier ein Anruf seines französischen Kollegen. In seinen Memoiren beschrieb Churchill die Szene: «Reynaud sprach Englisch und sichtlich in schwerer Bedrängnis: ‹Wir sind geschlagen.› […] Ich sagte: ‹Das kann doch unmöglich so schnell gekommen sein?› Aber er erwiderte: ‹Die Front ist bei Sedan durchbrochen worden; die Deutschen strömen in grossen Massen mit Tanks und Panzerwagen durch.›»81 Hitler hatte sich von General Erich von Mansteins Idee überzeugen lassen, durch die Besetzung der Niederlande die Westmächte dazu zu verführen, Richtung Belgien zu marschieren. Unterdessen aber sollten die eigenen Truppen durch die Ardennen nördlich zur Kanalküste ziehen und die alliierten Ein heiten mit einer Art Halbumrundung von ihrer Ausgangsbasis abschneiden. Im Süden würde man dann über Sedan nach Frankreich vorstoßen. Dieses Vorgehen war höchst riskant – und kam daher für den Gegner unerwartet. Bis dato hatte der Gebirgszug als unwegsam und für motorisierte Truppen unpassierbar gegolten. Nun war die Katastrophe da. Churchill zögerte keinen Moment: Noch am gleichen Tag und mit Blick auf die Ruinen von Rotterdam beschloss das britische Kabinett den Luftkrieg gegen Deutschland; ein Schritt, der nun die deutsche Zivilbevölkerung direkt in den Krieg hineinzog. In der Nacht auf den 17. Mai bombardierten britische Flieger erstmals das Ruhrgebiet, einen Monat später erfolgten Angriffe auf Bremen und Hamburg, die die 111
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Deutschen umgehend beantworteten. Luise Solmitz sorgte sich am 20. Juni 1940: «Vergeltung ist für die, die erreichbar sind, wie die Hamburger, ein zweischneidiges Schwert. Wir sollen gerächt werden und England rächt sich doppelt an uns.»82 Churchills kämpferische Rede sowie die – verglichen mit dem, was noch kommen sollte – harmlosen, aber kräftezehrenden Bombenangriffe waren Wasser auf die Mühlen der deutschen Propaganda. Beides erweckte den Eindruck, nicht Deutschland habe den Krieg angezettelt, sondern Großbritannien, das Deutschlands «Vernichtung» wolle. Der britische Premier flog nach der Hiobsbotschaft aus Paris umgehend an die Seine. Er sah den Rauch der brennenden Akten, die Beamte des Außenministeriums am Quai d’Orsay ins Feuer warfen. Die Räumung von Paris wurde bereits vorbereitet. Wo denn die strategische Reserve sei, fragte der britische Premier. Die Antwort des französischen Oberkommandierenden Maurice Gamelin bestand nur aus einem Wort: «‹Aucune›»83 – es gibt keine. Die französische Armee hatte die Zeit des Sitzkrieges nicht genutzt. Während die Wehrmacht immer größere Verbände nach Westen verlegt hatte, war es der französischen Heeresverwaltung weder gelungen mobilzumachen noch umfangreiche Aufrüstungsmaßnahmen in die Wege zu leiten. Es herrschten chaotische Zustände. Auf einen Luftkrieg hatte sich die dritte Republik kaum vorbereitet und es versäumt, Piloten auszubilden. Im Frühjahr 1940 waren von den Reserveflugzeugen nur 30 Prozent einsatzbereit. Die Führung zeigte sich überfordert, militärische Fehl einschätzungen im Oberkommando reihten sich aneinander. Die britische Royal Air Force (RAF) konnte aufgrund der Zerstörung der französischen Flugplätze nur von England aus operieren. Was als erneuter Blitzkrieg zur Legende wurde, war für die Angreifer eine Überraschung. «Alles staunt über die Erfolge»,84 verzeichnete Solmitz am 21. Mai 1940. Die deutschen Truppen stießen bei Dünkirchen an die Kanalküste vor und kesselten am 24. Mai das dort stationierte britische Expeditionskorps ein, das 112
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in der Tat nach Hilferufen aus Brüssel in den belgischen Raum geeilt war. Der von Churchill später so genannte Sichelschnitt entpuppte sich als höchst erfolgreicher Operationsplan, der Erich von Manstein höchstes Ansehen beim «Führer» einbringen sollte. Doch Hitler ließ den Durchmarsch auf die Eingekesselten erst einmal stoppen. Churchill nannte diese Order das «Wunder von Dünkirchen». Warum es zu dem Haltebefehl kam, ist unklar. Entweder war die Zurückhaltung Hitlers eine Geste der Macht gegenüber seinen Generälen, um dem Aufbegehren seitens der Offiziere endgültig ein Ende zu bereiten. Oder aber die Order ging auf den Befehlshaber General von Rundstedt zurück, der die Panzerkräfte für kommende Kämpfe in Frankreich schonen wollte. Wie auch immer, diese Entscheidung sollte sich mittelfristig als Fehler erweisen, eröffnete sie doch den britischen Militärs die Möglichkeit, rund 335 000 britische und französische Soldaten zu evakuieren. Die zurückgelassenen Waffen und das schwere Gerät fielen in die Hände der Deutschen. Schon vor der eigentlichen Schlacht um Frankreich war damit die Entscheidung gefallen, der größte Teil der britisch-franzö sischen Kräfte war geschlagen worden. Nun, am 10. Juni, stellte sich auch der «Aasgeier»85 Mussolini offiziell an die Seite Berlins, in Stockholm kommentierte Astrid Lindgren: «Die ganze Welt brennt!»86 Am 14. Juni 1940 zog die Wehrmacht in Paris ein. Das «Unfassbare», so Solmitz stolz, sei «wahr geworden. Paris ist in deutscher Hand.»87 In der Hauptstadt angekommen, empfand Hellmuth Stieff «ein eigenartiges Gefühl, mit welcher Selbstverständlichkeit man sich in Uniform überall in der französischen Metropole bewegt. Manchmal hat man das Gefühl, daß man träumt.»88 Am 17. Juni bot der 84-jährige Marschall Philippe Pétain, der den Premierminister Paul Reynaud abgelöst hatte, einen Waffenstillstand an. Halder schrieb seiner Frau tief bewegt: «Man erschauert innerlich vor der Größe des Geschehens, das man in seinem kurzen Menschenleben erlebt.»89 Am 22. Juni wurde der Vertrag in Compiègne in demselben Bahnwaggon unterzeichnet, 113
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in dem im November 1918 die deutsche Kapitulation erfolgt war. Dieses Zeichen deutscher Revanche verstand man in London wohl. Am Tag des Waffenstillstands bombardierte die britische Royal Air Force Berlin, was angesichts geringer Schäden wenig Eindruck an der Spree hinterließ. Diese Lässigkeit fiel umso leichter, als die Deutschen doch «eine große Zeit»90 erlebten, wie eine Görlitzerin angesichts der Kämpfe notiert hatte. Nichts war auf die Dauer erfolgreicher als Erfolg – ein Erfolg, der jeden Zweifel erstickte und der die Überlegenheit des nationalsozialistischen Deutschland zu bestätigen schien. Hatte das Hexagon 1914 noch vier Jahre gegen Deutschland ausgehalten, dauerte es jetzt nur sechs Wochen, bis es zusammenbrach. Solmitz staunte: «Man kann gar nicht so schnell mit.»91 Statt der Trikolore wehte die Hakenkreuzfahne über Paris, im Palais Rothschild saß Goebbels und trank Tee. Die «Schmach von Versailles» war getilgt, offiziell mehr als 1,8 Millionen alliierte Soldaten waren in Kriegsgefangenschaft. Fast 1,6 Millionen kamen zum Arbeitseinsatz ins Reich. Die eigenen Verluste hielten sich in Grenzen. Etwa 164 000 der über drei Millionen Mann zählenden Invasionsarmee waren getötet, verwundet oder vermisst. Und die deutsche Gesellschaft war trotz Krieg bislang recht unbeschadet davongekommen. In Düren schrieb eine junge Frau an ihre Freundin, «wie dankbar wir unserem Führer und den tapferen Soldaten sind, daß sie uns vor den Schrecken e ines Krieges im eigenen Lande bewahrt haben!»92 Hitler war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Am 6. Juli 1940 kehrte er aus Frankreich nach Berlin zurück, wo ihm ein trium phaler Empfang bereitet wurde. «Die Menschen rasen»,93 überschlug sich Goebbels. Alle Kritik aus der Wehrmacht verstummte. Zudem regnete es über die Herren «Marschallstäbe wie Manna vom Himmel»94. OKW-Chef Wilhelm Keitel war sich nicht zu schade, Hitler zum «Größten Feldherrn aller Zeiten»95 auszurufen. Selbst der angesichts der Gewalt in Polen immer distanziertere Wilm Hosenfeld hatte am 11. Juni seinem Sohn geschrieben: 114
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«[I]ch war eben in der Wochenschau. Einnahme von Löwen, Brüssel, Maubeuge, Sedan, Fallschirmjäger in Narvik. […] Und diese Waffentaten im Westen. Junge, Junge! Wer wäre da nicht gern dabei!»96 Natürlich tat die Propaganda im Radio, im Kino, in der Presse alles, um die Erfolge aufzubauschen und zu legitimieren. Und die Rechtfertigungen wurden gerne geglaubt. Wie überraschend leicht die Siege fielen, wie «grandios», so ein häufiger Begriff, sie waren – das alles übte eine starke Wirkung aus. Nicht wenige lobten den unbedingten Friedenswillen des «Führers», der, wie ein junger Marineoffizier an seine Frau schrieb, mit «allen Mitteln die Welt befrieden will und der immer daran denkt, wie er sein Reich zu einer Zeit kultureller Blüte bringen kann»97. Victor Klemperer hatte über die Hochstimmung seiner ehema ligen Mitbürger schon am 16. Mai in seinem Tagebuch notiert: «Vielleicht der trübste Hochzeitstag, den wir je gefeiert haben.» Die Erfolge im Westen seien «ungeheure, und das Volk ist berauscht. […] Hitlers Umschwung vom Antibolschewismus zum Russenfreund und alles andere ist vergessen: ‹Er will nur Frieden, er hat das immer versprochen.›»98 Sechs Tage später schrieb er: «Wir bemühen uns, nicht zu verzweifeln.»99 Jochen Klepper hingegen, 37-jähriger Journalist, mit einer «Nichtarierin» verheiratet und als «jüdisch versippt» mit Berufsverbot belegt, begrüßte die Siege als kleineres Übel. Denn im Falle von Niederlagen erwarte er grausame Rache an den «Schuldigen». Für die schwarzen Todesschwadronen der SS hatte die NS-Füh rung im Westfeldzug keinen Anlass gesehen. Überhaupt wur d e der Waffengang im Westen bis auf wenige Ausnahmen völ kerrechtskonform geführt. Zu diesen Exzeptionen gehörten die Massaker an «Senegalschützen» (tirailleurs sénégalais) in den französischen Kolonialinfanterieregimentern; die Opferzahlen schwankten von Fall zu Fall zwischen mehreren Hundert und 3 000. Ein besonders brutales Blutvergießen ereignete sich bei Chasseley in der Nähe von Lyon. Hier waren am 20. Juni 1940 mindestens 60 gefangene westafrikanische Soldaten von ihren wei115
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ßen Offizieren getrennt worden. Maschinengewehrsalven aus eigens aufgefahrenen Panzern der 10. Panzerdivision töteten die Männer. Anschließend überrollten die Tankfahrer die Menschen und zermalmten sie mit den Ketten – eine «Danteske Schreckensvision», wie ein französischer Augenzeuge entgeistert kommentierte. Einen expliziten Befehl zur Liquidierung schwarzer Kriegsgefangener gab es nicht. Rassismus, Vorurteile über «die grausamen schwarzen Bestien Frankreichs»100 spielten genauso eine Rolle wie eine habituelle Gewalt bei einigen Einheiten, die schon in Polen gegen «rassisch Minderwertige» gekämpft hatten. Befeuert wurden die deutschen Täter zudem von einer Propagandahetze gegen die Kolonialsoldaten. Die deutschen Besatzer im Westen scheuten zunächst – ähnlich wie in Dänemark und Norwegen und anders als in Polen und der Tschechei – vor scharfen Repressalien zurück. Ziel war, den Westeuropäern Angebote zur Kollaboration zu machen, wenn nötig, unter Einsatz fein dosierter begrenzter Gewalt. Ansonsten beeinflussten militärische, wirtschaftliche und außenpolitische Erwägungen die deutschen Machthaber, als sie die konkrete Ausformung der einzelnen Besatzungsverwaltungen überlegten. Überdies galt es, Personal und Geld zu sparen. Insofern setzten Hitler und seine Paladine auf die Mitarbeit mindestens der unteren und mittleren Verwaltungsebenen der okkupierten Staaten. So unterschiedlich die Strukturen der Besatzungsregime waren, eines galt überall in Westeuropa: Juden, die vor 1940 aus Groß- Deutschland geflüchtet waren, waren ihren Häschern nicht weit genug entkommen. Als strategischer Landungsplatz für eine mögliche alliierte Invasion erhielt Belgien am 30. Mai 1940 eine Militärverwaltung unter General Alexander von Falkenhausen. Die höchsten Verwaltungsbeamten blieben in ihrer Position, das RSHA zog in Gestalt eines Beauftragten in Brüssel ein. Eupen, Malmedy und Moresnet wurden dem Deutschen Reich eingegliedert. Mit an tijüdischen Maßnahmen hielt man sich zunächst zurück, ließ 116
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aber ab Herbst 1940 ein sogenanntes Judenregister erstellen, das 56 000 Personen, die überwiegende Mehrheit (90 Prozent) kam nicht aus Belgien, mit Wohnsitz erfasste. Das Schulkind Ilse Boehm, aus Deutschland mit den Eltern nach Antwerpen geflüchtet und nun aus der Stadt in die Provinz Limburg ausgewiesen, schrieb im Februar 1941 an ihre ehemalige Lehrerin und ihre Klassenkameradinnen: «Seid froh, Kinder, dass Ihr ein festes Zuhause und ein Vaterland habt. Wir haben das alles nicht, und unsere Zukunft ist so unsicher. […] Ihr werdet denken, dass ich ein sehr unzufriedenes Kind bin, aber Ihr könnt Euch nicht vorstellen, unter welchen Umständen wir hier leben, und irgendwem muss ich doch die ganze Wahrheit schreiben.»101 Für die Niederlande dekretierte Hitler eine nachsichtige Form von Herrschaft, sollten die «arischen» Brüder doch perspektivisch ins Reich inkorporiert werden; außerdem war man an den intensiven Handelskontakten Hollands interessiert. Dieses Streben nach Normalität machten sich auch die deutschen Besatzer zu eigen, sie schalteten in der Presse Heiratsanzeigen und suchten nach holländischen meisjes. Arthur Seyß-Inquart wurde aus dem Generalgouvernement abkommandiert, für die direkte Verwaltung verließ man sich auf die einheimische Bürokratie. In der jüdischen Bevölkerung stellte sich Erleichterung ein: «Alles halb so wild. Die letzten fünf Tage kommen mir vor wie ein böser Traum. Nun geht alles wieder seinen gewohnten Gang»,102 schrieb im Mai 1940 die 15-jährige Edith van Heesen. Tatsächlich sollte für die Behörden ein jüdisches Problem zunächst nicht existieren, trotz der hohen Zahl von etwa 140 000 Juden in dem Land, darunter fast 14 500 deutsche Staatsangehörige. Doch neben der Zivilverwaltung wurde mit Hanns Albin Rauter in Den Haag ein H SSPF installiert. Und allmählich nazifizierte sich die Verwaltung,
immer mehr Angehörige der von Anton Mussert angeführten Nationaal-Socialistische Beweging (NSB) rückten auf frei wer dende Posten. Zufrieden schrieb der niederländische National sozialist Pieter Hendrik Hörmann Ende November 1940 seinen 117
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Kindern: «Es läuft wie geschmiert», man verdanke alles dem «Allmächtigen», der «Adolf Hitler dazu auserkoren hat, uns als oberster Diener der neuen Ordnung in eine neue Gesellschaft zu führen»103. Bald nahmen antisemitische Provokationen zu, und Anfang 1941 eskalierte die Lage, als deutsche und niederländische Nationalsozialisten die Konfrontation mit Juden auf der Straße, in Cafés, Restaurants usw. suchten und dabei ein N SBler getötet wurde. Danach wurden 425 Juden verhaftet und in die Konzen trationslager Buchenwald und Mauthausen gebracht. Aus Protest gegen die Einweisung legten in Amsterdam und anderen Städten die Einwohner im Februarstreik das öffentliche Leben spontan lahm. Einen Monat später, im März 1941, ließ die SS analog zu den Vorbildern in Wien, Prag und Berlin eine Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Amsterdam einrichten. Die wirtschaft liche Drangsalierung, die Enteignung und soziale Ausgrenzung der Juden verschärften sich, so der britische Geheimdienst im Frühjahr 1941, mit ihr aber auch der wachsende Hass auf die «rein zerstörerisch[en]»104 Deutschen. Luxemburg geriet in den Einflussbereich des Gauleiters von Koblenz-Trier, Gustav Simon. Er sollte eine Integration in das Reich mit aller gebotenen Vorsicht einleiten. Simon jedoch verstand darunter eine Germanisierung des «alten deutschen Reichs landes» mit dem Schlaghammer. Er besetzte die Verwaltung mit deutschen Beamten, verbot die französische Sprache, ließ unliebsame Vereine schließen, Flurnamen ändern und machte zur Auflage, Neugeborenen deutsche Vornamen zu geben. Das Land reagierte mit passivem Widerstand. Die 2 000 Juden, die vor dem Einmarsch nicht geflohen waren, kamen in den Herrschaftsbereich des Einsatzkommandos Luxemburg der Sicherheitspolizei und des SD unter der Leitung des Chefs der Gestapo in Trier. Sie wurden den gleichen Diskriminierungen und Verfolgungen wie im Reich ausgesetzt: Entlassungen, «Arisierungen» der Betriebe, Beschlagnahme der Vermögen, Entrechtung, Isolierung. Wie bei allen bisherigen Besetzungen entschied die NS- 118
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Führung auch im Fall Frankreichs spontan. Auf eine totale Er niedrigung à la façon polonaise verzichtete die NS-Führung. Ebenso wenig kam ein Protektorat mit Hilfe mehr oder minder kooperationswilliger Eliten wie in der Slowakei oder dem «Paradepferd» Dänemark in Betracht. Das Land sollte politisch und militärisch als feindlicher Alliierter ausgeschaltet werden. Man entschied sich daher für einen Mittelweg aus dem, was man bislang in Europa an Besatzungsstrukturen geschaffen hatte. Hitler zerstörte die territoriale Einheit, bot aber Frankreich als einzigem geschlagenen Gegner einen Waffenstillstand an und ließ einen formell souveränen Reststaat im militärisch und ökonomisch wenig relevanten Süden fortbestehen. Dessen Regierung nahm ihren Sitz im mondänen Kurort Vichy ein. Auch konnten die Franzosen ihre Flotte, ein Heer mit 100 000 Mann und ihre Kolonien behalten. Vichy musste sich verpflichten, deutsche Emigranten, wie von Berlin gefordert, auszuliefern. Im Gegenzug blieben die französischen Kriegsgefangenen als Arbeitskräfte und eventuelles Druckmittel in deutschem Gewahrsam. Die Bestimmungen sollten verhindern, dass sich die neue Regierung auf die Seite Großbritanniens schlug. Die Gefahr eines derartigen Aktes war allerdings gering, erwies sich doch die Kooperations-, ja Kollaborationsbereitschaft des autoritären Regimes unter Pétain als groß – nicht zuletzt, weil viele Franzosen der Republik mit immer höherer Skepsis begegnet waren. Der Romanist Klemperer war entsetzt: «Und nun berufen sie eine Nationalversammlung ein, um ihre Verfassung ‹totalitär› zu ändern, kämpfen gegen England, […] bedrohen mit dem Tode, wer noch als Franzose im englischen Heer weiterkämpft […]. Was bleibt von meiner Idee Regierung des Franzosentums?»105 Offenbar wenig. Die Vichy- führte eine umfassende antijüdische Gesetzgebung ein und veranlasste eine detaillierte Registrierung aller 170 000 Juden im Land. Hoffen konnten die Gegner Pétains nur auf den weitgehend unbekannten, aber selbstbewussten Brigadegeneral Charles de Gaulle, der als Widersacher der Vichy-Regierung nach London 119
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geflüchtet war und dort Streitkräfte für ein «Freies Frankreich» aufbaute. Die beiden nordöstlichen Departements Nord und Pas-de-Ca lais wurden als sogenanntes Großflandern zusammengelegt und der deutschen Militärverwaltung in Brüssel unterstellt. Für die nördliche und westliche Hälfte Frankreichs unter Einschluss von Paris, der Kanal- und Atlantikküste wurde eine Militärverwaltung unter General Otto von Stülpnagel eingerichtet. Diese war insbesondere an der landwirtschaftlichen und industriellen Ausbeutung des Landes interessiert, rekrutierte massenhaft Ar beitskräfte zum Einsatz in Deutschland und unterdrückte jeden Widerstand. Das Auswärtige Amt übte in Gestalt des Botschafters Otto Abetz zudem Einfluss auf die Besatzungspolitik in Frankreich aus. Als Leiter des Judenreferats der SD-Dienststelle wurde der Vertraute Eichmanns, der 27-jährige Theodor Dannecker, eingesetzt. Mehrere Verordnungen unterwarfen die hier lebenden etwa 165 000 Juden einer scharfen Kontrolle. Anders als im Falle der «Ostjuden» verzichtete man in Westeuropa, bis auf Amsterdam, auf die Einrichtung von Ghettos. Eine solch ostentative Maßnahme der Isolation und der Erniedrigung schien in West europa offenbar nicht erforderlich. Vielleicht befürchteten die Besatzer auch Unruhe unter der nichtjüdischen Bevölkerung. Zonen direkteren Durchherrschens wurden im Elsass und in Lothringen eingerichtet. Wie in Luxemburg wurden Chefs der Zivilverwaltung eingesetzt und die Gebiete zur Eindeutschung vorgesehen. Diese wurde aber formell bis Kriegsende nicht vollzogen, um die Vichy-Franzosen nicht zu düpieren. Dennoch hieß es, wie Luise Solmitz zufrieden konstatierte: «Nur deutsch im Elsass! Der Broglieplatz ist Adolf Hitlerplatz.»106 Erneut rückten neben den Juden die nationalbewussten Franzosen, aber auch Angehörige der Funktionseliten und der katholischen Kirche in den Fokus der Verfolgung. Zudem holte man auch in diesen Gebieten schnell nach, was im Reich und im besetzten Polen schon länger eingeleitet worden war, nämlich die Hatz auf «Asoziale», 120
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«Zigeuner», Freimaurer, Homosexuelle und andere «Gemein schaftsfremde». Und wiederum versuchte man durch Abschiebung gemäß dem Motto «Hinaus mit dem welschen Plunder»107 die ethnische Homogenität herzustellen. Bis November 1940 ließen die Chefs der Zivilverwaltung – Robert Wagner im Elsass, der für das Tragen von Baskenmützen KZ-Haft erließ, und Josef Bürckel in Lothringen – fast 50 000 jüdische und nichtjüdische Franzosen nach Süd-Frankeich abschieben. Auch ihre angrenzenden Heimatgaue Baden und Saar-Pfalz wollten die beiden «judenfrei» bekommen. Am 22./23. Oktober 1940 sollten sie im Einvernehmen mit der örtlichen Wehrmacht über 6 500 jüdische Bürger über die Westgrenze bringen lassen. Der 19-jährige Hans Bernd Oppen heimer aus Heidelberg notierte in seinem Tagebuch: «Morgens 7.00 Uhr Gestapo bei uns mit Ausweisung aus Deutschland.»108 Beide Gauleiter orientierten sich weitgehend an dem Vorgehen, wie es 1938 im Vorfeld der «Reichskristallnacht» bei der Abschiebung staatenloser Juden nach Polen praktiziert worden war. Hauptsache, so die Vorstellung, die Juden waren aus i hrem Machtbereich heraus. Um einen konkreten Aufnahmeort machten sie sich keine Gedanken. Doch ebenso wie Hans Frank weigerte sich auch die Vichy-Regierung, die deutschen Juden aufzunehmen. Wehret den Anfängen, lautete ihr Motto. Denn keinesfalls wollte man zur Endstation für alle noch im Reich lebenden Juden werden. Vichy internierte die deutschen Deportierten in den südfranzösischen Lagern Gurs und Rivesaltes am Fuße der Pyrenäen. Für die Verfolgung der Juden sollte die Besetzung Frankreichs wie bereits der Einmarsch in Polen neue Pläne veranlassen. Erstmals schien eine Gesamtlösung in Reichweite – nicht nur der deutschen, sondern der europäischen «Judenfrage». Sie wurde mit jeder Annexion stetig größer, während es gleichzeitig kaum noch Staaten gab, die Juden einreisen ließen. Afrika, genauer die französische Kolonialinsel Madagaskar, schon des Längerem in antisemitischen Zirkeln als Aufnahmeort im Gespräch, rückte im Sommer 1940 in den Blick. Sowohl Auswärtiges Amt als auch 121
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RSHA entwickelten Entwürfe zur Umsiedlung. Der neue SS-Re
ferent Dannecker nahm dafür fast vier Millionen Juden im deutschen Herrschaftsgebiet in den Blick, der Statistiker Friedrich Burgdörfer dachte für das Auswärtige Amt in noch größeren Dimensionen. Er kam auf 6,5 Millionen Juden – inklusive ganz Europa, Australien und Asien, aber ohne die Sowjetunion. Konzen triert an der – aus deutscher Sicht – Peripherie der Welt, könnte man, so eine weitere Idee, die Juden als Geiseln nehmen, um die angeblich vom Weltjudentum gelenkten Vereinigten Staaten von einem Kriegseintritt abzuhalten. Der Leiter des Judenreferats im Außenministerium, der 34-jährige Franz Rademacher, formulierte: Die Juden wären ein «Faustpfand in deutscher Hand für ein zukünftiges Wohlverhalten ihrer Rassegenossen in Amerika».109 Mit dem Madagaskar-Plan war das Reservat in der Nähe von Lublin vom Tisch, vielleicht sogar eine Lösung für alle Juden unter deutscher Herrschaft gefunden. Von den Afrika-Plänen bekam die Öffentlichkeit nichts mit, für die Mehrheit der in Frankreich stationierten deutschen Zivilisten und Soldaten zählte vor allem eines: Das Land bot wesentlich mehr Annehmlichkeiten als Polen. Heinrich Böll schrieb am 7. August 1940 seinen Eltern, wie froh er sei, aus Bromberg weg zu sein: Wenn «ich jetzt daran denke, überkommt es mich noch wie ein Albdruck von Stumpfheit»110. Lebensmittel und Konsumgüter gab es in Hülle und Fülle, freiwillig oder unfreiwillig von der einheimischen Bevölkerung überlassen: «Bei Boulogne haben wir uns sehr gesund gemacht […] 2 Kisten echten Benedictiner Cointreau […], Marmelade, Obst in Dosen, Kaffee mit Kognac, Gänse leberpastete, gekochter Schinken und tausende andere schöne Sachen»,111 schwärmte ein 20-jähriger Soldat am 20. Juni in einem Feldpostbrief. Auch Wehrmachtshelferinnen genossen das Leben, zumal wenn sie in Paris stationiert waren. Hier konnten sie sich französischen Schick leisten und waren in luxuriösen Villen untergebracht. Bald aber waren auch hier «die besten Zeiten»112 vorüber, wie Hellmuth Stieff Ende Oktober seiner Frau schrieb: 122
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Die Lebensmittel wurden rationiert und die Devisen knapp, alles floss ins Reich. Im Sommer 1940 schienen noch zwei Gegner des Dritten Reiches übrig: der wahre Kontrahent, die Sowjetunion, und der falsche Feind, Großbritannien. Astrid Lindgren vermutete, dass «es ein ziemlich gruseliges Gefühl sein» müsse, «auf dieser Insel zu sitzen und auf Hitlers nächste Blitzoffensive zu warten»113. Vice versa hörte Victor Klemperer am 7. Juli auf dem Weg in die Stadt das Gespräch zweier Frauen mit: «‹Heil Hitler!› – ‹Was hören Sie von Ihrem Jungen draußen?› – ‹Vor acht Tagen Gutes, sie freuen sich auf England.›»114 Selbst in Heinrich Böll, der darunter litt, «daß der Krieg sozusagen stillsteht», keimte Hoffnung auf ein schnelles Ende seiner ihn unendlich langweilenden Zeit als Soldat auf. Er erwartete «mit Spannung den Anfang des Krieges mit England; dann wird manches – so grausam es klingt – erträglicher»115. Aber wie den Konflikt mit England anfangen? Einmarschieren wie bislang, im «Morgengrauen um 5 Uhr», war unmöglich. Denn, wie Böll bemerkte, «so einfach» sei es nicht, «eine Insel einzunehmen»116. Ein Zerfall des britischen Weltreichs hatte für Hitler auch keinen Wert. Nach wie vor hing er an seiner Idee, die Briten in irgendeiner Weise als Partner zu gewinnen. Andererseits trennte die Deutschen von der Insel nur noch eine 30 Kilometer breite Meerenge, bei gutem Wetter sahen sie die weißen Klippen von Dover. Die Kanalinseln Jersey, Guernsey und Alderney hatte man als einziges britisches Staatsgebiet schon während des Frankreich- Feldzugs okkupiert. Halbherzig ließ der «Führer» ab dem 2. Juli 1940 Pläne für eine Invasion Englands vorbereiten. Zwei Wochen später erging die Weisung «Seelöwe». Die 16. Armee sollte von Ostende aus an den Stränden zwischen Folkstone und Dungeness anlanden und – unterstützt durch Fallschirmjäger und abgesichert durch eine deutsche Lufthoheit über der britischen Kanalküste – die Briten schlagen. Hin- und hergerissen startete der Diktator einen letzten Versuch und appellierte am 19. Juli 1940 in seiner Siegesrede vor dem 123
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Reichstag an die Londoner Regierung, sie solle die deutsche Expansion akzeptieren, man könne sich doch die Weltherrschaft teilen. Das britische Kabinett wollte davon nichts wissen. Am 22. Juli gab Außenminister Viscount Halifax bekannt, dass Großbritannien einen Verhandlungsfrieden nicht in Betracht ziehe. Noch ehe diese Antwort aus London eingetroffen war, hatte Hitler von Brauchitsch angewiesen, konzeptionelle Vorbereitungen für einen Krieg gegen die UdSSR zu treffen. Hintergrund war seine Hoffnung, mit einem schnellen Sieg über die Rote Armee die Briten zum Nachgeben zu bewegen und eine Invasion überflüssig zu machen. Wäre Russland zerschlagen, so das Kalkül, müssten nicht nur Großbritannien, sondern auch die USA das deutsche Kontinentalimperium anerkennen. Nach der Ablehnung Londons musste es anders gehen. Hitler ordnete am 1. August 1940 zunächst eine große Luftschlacht an, mit der die Lufthoheit über die Britische Inseln gewonnen und England mit vernichtenden Schlägen demonstriert werden sollte, wie aussichtslos eine Fortsetzung des Krieges sei. Absicht war, insbesondere London anzugreifen. Die «Operation Seelöwe» könnte sich anschließen, alles Weitere würde man sehen. Mittlerweile war es aber den Briten gelungen, den Funkschlüssel der deutschen Chiffriermaschine Enigma zu knacken. Insofern wussten sie über den «Adlertag», den Beginn der Luftoffensive am 13. August, Bescheid. Diese Kenntnis der deutschen Pläne sollte von unschätzbarem Nutzen sein. «Was tun die Vereinigten Staaten?»,117 fragte sich derweil Konrad Jarausch. Seit dem Einmarsch in Polen hatte die deutsche Mehrheitsgesellschaft die Sorge um einen Kriegseintritt der USA beschäftigt. Man erinnerte sich an 1917. Der SD hatte schon Ende Mai festgehalten: «Mit großer Ungewissheit wird die Haltung der USA in der Bevölkerung besprochen. Immer wieder wird die Be-
fürchtung geäußert, daß Amerika nicht neutral bleiben werde, weil die USA nicht nur deutschfeindlich sei, sondern weil sie ja auch im Weltkriege eingriff.»118 Zwar war Roosevelt fest ent 124
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schlossen, weitere Siege Hitlers zu verhindern. Ein Kriegseintritt stand jedoch angesichts der weiterhin dominierenden isolationistischen Stimmung im Land und der im Winter anstehenden Wahlen nicht zur Diskussion. Der Präsident stellte den Alliierten lediglich in geringem Umfang militärische Ausrüstung zur Verfügung. «USA rührt sich nicht!»,119 hatte sich deshalb Klem perer Ende Juni empört. Diese Zurückhaltung war ganz im Sinne Hitlers, ließ sie doch London hilflos zurück. So blieb es bei der e ingeschlagenen Strategie, die USA nicht zu provozieren. Zugleich machte Berlin aber Stimmung gegen die Wiederwahl des «Judenfreundes» und «Deutschenhassers» Roosevelt. Am 24. August 1940 begannen schwere Angriffe auf London, die umgehend von der RAF mit Bombardements auf Berlin erwidert wurden. Dieses Mal, so Churchill, sollten die Deutschen den Krieg am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Die nächtlichen Luftangriffe raubten der Bevölkerung in der Hauptstadt den Schlaf und drückten auf die Stimmung, Hitler musste und wollte reagieren. Am 4. September kündigte er Vergeltung an. Er werde den «Nachtpiraten» das Handwerk legen, die deutsche Luftwaffe werde die englischen Städte «ausradieren». Aber auch die folgenden Angriffe auf London, ebenfalls vom Tag in die Dunkelheit verlegt, 65 Nächte lang mit bis zu 23 000 Toten, darunter fast 3 000 Kinder, stärkten nur den Widerstandswillen der britischen Bevölkerung. Das galt selbst für die Zerstörung von Coventry, dem Hauptsitz der britischen Luftfahrtindustrie, vom 14. auf den 15. November. Zudem besaßen die königlichen Luftstreitkräfte mittlerweile Radarstationen, die ein frühes Erkennen der nahenden feindlichen Verbände ermöglichten. Den Deutschen wiederum fehlten schnelle, stark bewaffnete Fernstreckenbomber und geeignete Begleitjäger mit großem Aktionsradius. Görings Luftwaffe büßte also über England nicht nur Flugzeuge, sondern auch Besatzungen ein, während die Abfangjäger der RAF kaum Personalausfälle zeigten und zwei- bis dreimal täglich starten konnten. 125
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Was tun? Hitler machte das, was er in Krisen häufig tat: Er wandte sich von den Problemen ab und seinem Kernprojekt zu, dem Krieg gegen die Sowjetunion. Ein Besuch Molotows am 12. und 13. November verlief in unterkühlter Atmosphäre. Der Außenminister war losgeschickt worden, weil Stalin den Ende September 1940 geschlossenen Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan – eine Belebung des Antikominternpaktes – misstrauisch beäugte. Hitler umging alle berechtigten Fragen Molotows zum weiteren deutschen Vorgehen, versuchte Moskau vom europäischen Schauplatz fernzuhalten und dem Emissär eine Expansion in Asien schmackhaft zu machen, was nicht verfing. Ergebnislos ging man auseinander. Vier Wochen später, am 18. Dezember, wies der «Führer» die Wehrmacht an, sich noch vor Beendigung des Krieges gegen England darauf vorzubereiten, «in einem schnellen Feldzug»120 die Sowjetunion niederzuwerfen. Die Bezeichnung «Fall Barbarossa» spielte etwas bizarr auf den berühmten Kaiser des römisch-deutschen Reiches an, der zu einem Kreuzzug aufbrach, allerdings vor Erreichung seines Zieles ertrank. Bis zum 15. Mai 1941 sollten die Vorbereitungen abgeschlossen sein. Mit «Barbarossa» waren jede Zusammenarbeit mit Stalin vom Tisch und ein echter Zweifrontenkrieg angebahnt. Denn die Hoheit über den englischen Luftraum stellte sich nicht ein, geschweige denn ein siegreiches Ende des Krieges mit Großbri tannien. Im Volk witzelte man: «Die Besichtigungsfahrt zum zerstörten London: ‹Wir sind da.› – ‹Noch nicht. Das ist Bremen.›»121 Die deutschen Verluste stiegen: Bis zum 31. März 1941 verlor die Luftwaffe 2 265 Maschinen und 3 363 Piloten, das waren mehr Tote als im Krieg gegen Norwegen. Auch zur See sah es nicht gut aus. Zunächst war aus deutscher Perspektive alles nach Plan gelaufen. Am 17. August 1940 war der uneingeschränkte U-Boot-Krieg im Seegebiet um England angeordnet worden, um eine Blockade des Landes zu erreichen. Durch die Verkürzung der Anmarschwege aus den westfranzösischen und norwegischen 126
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Häfen und durch verringerte Reparaturzeiten konnte jetzt ein Einsatz in Rudeln von zwölf U-Booten erfolgen. Vizeadmiral Karl Dönitz hatte sich als wesentlich erfolgreicher erwiesen als das «Flieger-As» Göring. Deutsche und italienische U-Boote hatten zielstrebig Handelsschiffe Großbritanniens und anderer Nationen zerstört. 410 Schiffe waren bei nur 14 eigenen Verlusten versenkt worden. Dann aber, im Frühjahr 1941, verlor die deutsche Marine fünf U-Boote in kurzer Reihenfolge, darunter auch das Boot mit dem prominenten Kapitänleutnant Günther Prien. Ihm war es im Oktober 1939 gelungen, in die britische Flottenbasis Scapa Flow einzudringen, was die NS-Propaganda weidlich ausgeschlachtet und Prien zum Helden stilisiert hatte. Als entscheidend sollte sich jedoch erweisen, dass die Besatzung des eng lischen Zerstörers HMS «Bulldog» aus einem der aufgebrachten U-Boote die Enigma-Maschine für den Code der U-Boot-Waffen barg. Damit hatte sich London erneut einen Vorsprung an Information verschafft, den die deutsche Admiralität nicht einholen konnte. Ein weiterer Schlag ereilte die Marine im Mai 1941: Die «Bismarck», der Inbegriff technischer Überlegenheit und der Stolz der deutschen Flotte, wurde von den Briten versenkt. Die Invasion der Insel schlug fehl, der Madagaskarplan verschwand in der Schublade. Großbritannien kämpfte weiter und behielt seine Seehoheit: Schiffspassagen nach Afrika wurden ebenso unmöglich wie Transportkapazitäten für die errechneten Millionen Juden. Trotz des Scheiterns des Insel-Plans: Die Idee, alle Juden im deutschen Machtbereich in irgendeinem abgelegenen Territorium sich selbst zu überlassen und damit ein Massensterben in Kauf zu nehmen, blieb virulent. Der Blick richtete sich nun auf die Sowjetunion. Von diesem abermaligen Umschwenken profitierte Hans Frank. Sein Generalgouvernement würde, so entschied Hitler am 25. März 1941, nicht länger Aufnahmeplatz, sondern Durchgangslager sein. Zukünftig sollte auch dieser Teil Polens ein «rein deutsches Land»122 werden. Einziger Lichtblick aus deutscher Sicht im Frühjahr 1941 war die 127
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Erneuerung des deutsch-sowjetischen Handelsvertrages. Moskau versorgte trotz aller Bedenken Deutschland weiterhin mit lebenswichtigen Rohstoffen, Getreide und Erdöl. Berlin hielt sich ebenso an die Bestimmungen und lieferte der sowjetischen Industrie Werkzeugmaschinen und Militärtechnologie. Ansonsten gab es nur Unerledigtes: Großbritannien war nicht ausgeschaltet, Rückenfreiheit für den Krieg gegen die Sowjetunion nicht erreicht, und nun, im März 1941, zeichnete sich am Horizont ein noch größeres Problem ab: Roosevelt war es nach seiner Wiederwahl am 5. November 1940 gelungen, die Zustimmung von Senat und Repräsentantenhaus für umfangreiche Hilfslieferungen an alle Länder zu erreichen, deren Verteidigung aus amerikanischer Sicht wichtig war. Der lend-lease act war vor allem für den Hauptempfänger der Hilfe, London, ein Segen, erlaubte er doch der britischen Regierung, die kurz vor dem finanziellen Kollaps stand, von Washington neben Finanzspritzen auch Rohstoffe, Kriegs- und Industriegüter zu erhalten. Hitler wollte nun erst recht alle Kräfte auf den Krieg gegen die Sowjetunion konzentriert wissen. «Rußland ist dran»,123 sagte die befreundete Ehefrau eines Beamten im Auswärtigen Amt zu Ruth Andreas-Friedrich Ende März 1941. Doch wieder war es noch nicht so weit. Südosteuropa und Nordafrika rückten in den Fokus. Am 6. April griffen Wehrmachtsverbände mit insgesamt 680 000 Soldaten Griechenland und Jugoslawien an. Dieser EinFriedrich, hatte «wohl nicht in Hitlers marsch, so Andreas- Programm» gestanden. In der Tat: Der «Führer» tobe und beiße Teppiche, wusste die Bekannte zu berichten. Hitler hatte sich genötigt gesehen, dem Duce aufgrund dessen militärischer Miss geschicke auf dem Balkan zur Seite zu springen. War Russland also abgeblasen? «Aufgeschoben»,124 vermutete die Ehefrau. Was war geschehen? Mussolini hatte Ende Oktober 1940 von Albanien aus versucht, sich sein Stück vom europäischen Kuchen zu sichern. Aber die Griechen hatten sich erfolgreich gewehrt und die italienische Armee mit britischer Unterstützung hinausge128
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worfen, ja waren sogar ihrerseits nach Albanien eingedrungen. In Nordafrika hatten die Italiener Ägypten und Suez an die Briten verloren, obwohl die Wehrmacht noch im Februar 1941 zwei Panzerdivisionen nach Tripolis hatte verlegen lassen: das Afrika- Korps unter Generalleutnant Erwin Rommel, laut Albert Speer Hitlers «Lieblingsgeneral». Für britische Bomber waren damit die Häfen in Süditalien, Albanien und vor allem das rumänische Erdölgebiet in greifbare Nähe gerückt, und Südosteuropa bot eine offene Flanke für Russland. Schließlich war auch noch Jugo slawien, nachdem es gerade erst Mitglied geworden war, überraschend aus dem seit 1940 um Ungarn, Rumänien, die Slowakei und Bulgarien erweiterten Dreimächtepakt ausgeschert. Ein Armeeputsch, angeregt durch den britischen und amerikanischen Geheimdienst, hatte Ende März 1941 die dem Dritten Reich ver bundene Regierung abgelöst. Das machte alle Pläne zur Makulatur, Südosteuropa als unerlässliche Rohstoff- und Ernährungsbasis für den Krieg gegen die Sowjetunion heranzuziehen. Hitler dekretierte: «Der Militärputsch in Jugoslawien hat die politische Lage auf dem Balkan geändert. Jugoslawien muß […] daher so rasch als möglich zerschlagen werden.»125 Bulgarien blieb bei seiner Neutralität, aber die ungarische Regierung unter Miklós Horthy erklärte sich bereit, an Hitlers Seite zu treten – gelockt durch Territorien des einzuverleibenden Jugoslawiens. Dann ging wieder alles schnell. Nach elf Tagen und einem verlustreichen Krieg deutscher und italienischer Truppen war am 17. April 1941 der dritte Staat, der den Versailler Verträgen entsprungen war, besiegt. Belgrad war, ähnlich wie zuvor Warschau, verheerend bombardiert worden; Staatssekretär Ernst von Weizsäcker sprach von «Barbarei»126 und dass die Reichsführung wohl glaube, lang genug herrschen zu können, um diesen brutalen Akt aus dem Gedächtnis der Serben zu löschen. Der König und die Regierung flohen nach London. Die faschistische kroatische Ustaša-Bewegung durfte, erweitert um Bosnien und die Herzegowina, einen unabhängigen Staat 129
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Kroatien ausrufen; Südslowenien, Montenegro, die dalmatinische Küste sowie die adriatischen Inseln nahm sich Italien. Serbien geriet unter deutsche Militärverwaltung, die ein Marionettenregime unter General Milan Nedić installierte. Vor allem die heimische Roh- und Grundstoffindustrie war für die deutsche Kriegswirtschaft wichtig, auch Weizen und Mais wurden nach Deutschland geliefert. Ins Fadenkreuz der SS-Einsatzgruppe Serbien gerieten insbesondere Juden, Kommunisten und «Zigeuner». Auch den Norden Sloweniens bis zur kroatischen Grenze sicherte sich das Deutsche Reich, 800 000 Menschen kamen hier unter NS-Herrschaft. Wie der Osten Frankreichs wurde das Gebiet unter zwei Chefs der Zivilverwaltung aufgeteilt und für die Eingliederung ins Reich vorgesehen. Im Unterschied zu allen besetzten Territorien im Westen gelang es den Lebensraumexperten Himmler und Heydrich, sich wie in Polen den Zugriff auf die slowenische Bevölkerung zu sichern. Erneut kam es zu Terrorwellen gegen die Intelligenz. Wieder musterten Eignungsprüfer der SS seit April 1941 etwa 580 000 Personen. Und wieder wurden die Menschen zwangsweise über den gesamten deutschen Machtbereich verstreut. Wenigstens 130 000 Slowenen sollten nach Serbien und Kroatien ausgewiesen werden. An ihrer Stelle sollten sich 58 000 Volksdeutsche aus anderen südosteuropäischen Gebieten ansiedeln. Wie in Polen und Frankreich konnten diese Pläne aufgrund des deutschen Militärbefehlshabers in Serbien, der sich weigerte, «Reichsfeinde» in sein Gebiet aufzunehmen, nicht eingehalten werden. Bis Kriegsende sollten etwa 54 000 Slowenen vertrieben werden. Etliche kamen, auch wenn sie als eindeutschungsfähig galten, als Zwangsarbeiter ins Reich. Unterdessen war die Wehrmacht weiter nach Griechenland marschiert. Dessen Armeen kapitulierten am 21. April 1941. Das Land wurde von der faschistischen Achse besetzt und zwischen Berlin, Rom und Bukarest aufgeteilt. Strategisch und wirtschaftlich wichtige Gebiete wie Saloniki, Athen und den Hafen von Piräus sowie einige westägäische Inseln blieben den Deutschen 130
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vorbehalten. Ende April 1941 wurde auf der Akropolis das Hakenkreuz gehisst, Thomas Mann notierte lakonisch: «Zum Erbrechen.»127 Griechenlands 110-jährige Existenz als Nationalstaat war vorbei, die nationalsozialistische Führung etablierte ein ausgesprochenes Terrorsystem, Athen, so Lindgren, «pfeift offenbar aus dem letzten Loch».128 Teil dieses Systems wurden kolla borationswillige griechische Regierungen, die sich vor allem aus ehemaligen Militärs zusammensetzten. Zunächst plünderte die Wehrmacht das Land systematisch aus. Hyperinflation, ein zusammenbrechender Binnenmarkt und eine ruinierte Infra struktur waren Folgen der aggressiven deutschen Besatzung. Mindestens 100 000 Menschen sollten während der Okkupation verhungern, 400 000 obdachlos werden. Epidemien grassierten. Als daraufhin die Partisanenbewegung wuchs, waren Vergeltungsaktionen an der Tagesordnung. An die Stelle der Bewun derung für die «Helden des alten Hellas» trat das rassistische Klischee vom «levantinischen Untermenschen». Die deutsche Besatzungspolitik in Griechenland sollte so brutal werden wie in keinem anderen nichtslawischen Land. Die britischen Truppen zogen sich nach Kreta zurück, die deutsche Armee verfolgte sie. Fallschirmjäger landeten auf der Insel. Die Kämpfe waren sieggekrönt, aber so verlustreich, dass Hitler nie wieder eine groß angelegte Luftlandeoperation unternehmen ließ. Die Wehrmacht besetzte den Westteil Kretas. Die britischen Streitkräfte verließen ihren letzten Stützpunkt in Europa und flohen nach Nordafrika. Dort erwarb sich Rommel zwar die Achtung seiner Gegner als desert fox. Aber der Einsatz hier wie in Südosteuropa zeitigte militärisch ambivalente Ergebnisse. Einerseits eröffneten sich Perspektiven, um «nach Rußland» die Briten in Syrien und Indien sowie, über Nordafrika und die Azoren, die USA zu bedrohen. Andererseits gelang es in Libyen nicht, die Lage
zu stabilisieren, weil es an Nachschub mangelte. Und die Aufgebote banden andernorts in Europa benötigte Soldaten, Waffen und Ausrüstung. 131
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Die Serie deutscher «Pannen» brach nicht ab. Hitlers Stellvertreter, die Zeitungen sprachen nur vom «Pg.» Rudolf Heß, flog in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1941 nach Schottland – angeblich um für den Frieden mit Deutschland zu werben. Sofort nach der Landung wurde er gefangen genommen, und die NS-Führung verkaufte diesen politischen Super-GAU der Öffentlichkeit als Verrat ihres zweiten Mannes, der bedauerlicherweise Wahnvorstellungen anheimgefallen sei. Die Deutschen reagierten zum einen betroffen, markierte Heß’ Fallschirmabsprung doch das erste Desaster in der Woche, in der das OKW auch die katastrophalen Verluste zur See bekannt gab. In Dresden hörte am 29. Mai Klemperer in einem Lokal die Tochter einer Familie am Nebentisch klagen: «Das ist eine traurige Woche für uns. Erst der Heß, dann der Prien, jetzt die Bismarck.»129 Zum anderen machte sich Genugtuung über den Patzer des Regimes in Witzen breit. Hitler, so erzählte man sich, habe seinen Vertrauten zurückholen wollen mit den Worten: «Ich trage dir nichts nach!», worauf der vermeintliche Verräter geantwortet habe: «Nicht nötig, habe alles mit.»130 Noch vor der Aktion seines Stellvertreters hatte Hitler am 10. Mai 1941 die Bombardements auf London stoppen lassen, weil die noch verbliebenen Einheiten in Südosteuropa gebraucht wurden. Damit war der «Seelöwe» gestorben. Die Briten hatten der Wehrmacht die erste schwere Niederlage beigebracht. Dass der Luftkrieg um England verloren ging, dass die deutschen Fallschirme vorzugsweise dann zum Einsatz kamen, wenn die Piloten der Luftwaffe aus ihren abgeschossenen Maschinen sprangen und von englischen Bauern gefangen genommen wurden, war einer der Wendepunkte des Zweiten Weltkrieges, symbolisierte er doch ebenso den britischen Selbstbehauptungswillen wie die deutsche Besiegbarkeit. Trotz aller Menetekel, die die Fortsetzung der Eroberungszüge mit einem Angriff auf die Sowjetunion zu einem Vabanquespiel machten: Noch war es ein Krieg, mit dem die Volksgenossen gut leben konnten. Bedeutende Stahlindustrien und Rüstungsfabri132
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ken, Eisenerz- und Kohlelager, Devisen- und Goldvorräte standen unter deutscher Kontrolle. Verträge mit dem deutschfreund lichen Rumänien und die Stationierung deutscher Truppen sicherten wichtige Öllieferungen. Etwa 200 Millionen Menschen befanden sich unter deutscher Herrschaft. Millionen hatten ihre Heimat verlassen müssen, ein Kontinent war gezwungenermaßen in Bewegung geraten. Drei Millionen «Fremdarbeiter» waren im Altreich eingesetzt. Trupps von Ausländern prägten das Straßenbild der Städte, man sah, so Klemperer, «Belgier, Italiener, Serben in den Rüstungsbetrieben»131. Hunderttausende von deutschen Soldaten und Besatzern wiederum nutzten die Ressourcen der okkupierten Gebiete, ihre Verpflegung war oft «überreichlich»132, wie Böll sich freute; viele Annehmlichkeiten schickten sie nach Hause: «Kaffee und Schokolade aus Holland, Butter und Sonnenblumenöl aus dem Osten, Speck vom Balkan, noch häufiger aber seidene Strümpfe, Stoffe und Parfum aus Frankreich, Pelzmäntel und Silberfüchse aus Norwegen»,133 zählte der Schriftsteller Bruno E. Werner auf. Dass sich allmählich Hunger in Europa ausbreitete, scherte kaum jemanden. Die neue Strategie, die neuen Waffensysteme, vor allem in Film und Wochenschau bombastisch aufgebauscht, schufen Vertrauen in das deutsche Militär – oder wie Solmitz schwärmte: «All die modernen Truppen: Panzerschützen, Fallschirmjäger, Kradschützen oder U-Bootleu t e, – Waffengattungen, die Moltke noch nicht ahnte.»134 Der Glanz des Sieges über den Erbfeind ließ den schmählichen Rassenkrieg in Polen schnell vergessen, die Verfolgung der Juden nun auch in den besetzten Gebieten erschien wie eine natürliche Konsequenz ihrer schon im Altreich praktizierten sozialen Hinrichtung. Allenfalls störten die allmählich heftigeren britischen Bombardements auf deutsche Städte. In dieser Situation ging es, wie Klemperer am 22. Juni Volkes Stimme zitierte, «los mit Rußland»135. In Wieluń räumten derweil jüdische Frauen im Zwangseinsatz Trümmer weg, und Bürgermeister Werner Pfarschner sollte laut Ernennungsurkunde bis 1954 im Amt bleiben. 133
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III. «… nur ein Wind in diesen Steppen» Der Krieg gegen die Sowjetunion und die Besatzung in Europa 1941 – 1944
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mitri Schostakowitsch als Feuerwehrmann im von Bomben erschütterten Leningrad! Deutschland hatte die Sowjet-
union überfallen, und der weltberühmte Komponist betätigte sich als Brandschützer, ja mehr noch: Er komponierte in der umkämpften Stadt eine neue Sinfonie. Diese Heldenerzählung sollte es ein Jahr später sogar auf das Cover des Time Magazine schaffen. Dabei war das Foto vor allem eines: Propaganda. Zehn Minuten posierte Schostakowitsch auf dem Dach des Konservatoriums. Der Helm stammte vermutlich aus dem Fundus, und dass der Komponist je ein Feuer gelöscht hätte, ist nicht bekannt. Seine 7. Sinfonie jedoch wurde Realität. Er widmete sie dem «Kampf gegen den Faschismus», dem «sicheren Sieg über den Feind» und seiner Heimatstadt. Ein Mikrofilm mit der Partitur gelangte über den Iran und den Irak nach Ägypten, von dort quer durch Afrika und mit dem Schiff nach London und New York. Am ersten Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion erklang das Musikstück in der Londoner Royal Albert Hall. Es entfalte, so der Ansager, zwei Themen: die gradlinige und unbeugsame Haltung der Millionen Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion, die am 22. Juni 1941 aus ihrem friedlichen Leben herausgerissen worden 135
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seien, sowie den unversöhnlichen Hass der Faschisten. «Wenn Sie Ohren haben zu hören und ein Herz zu fühlen», so fuhr er fort, «werden Sie mir gewiss zustimmen, dass diese Musik eine Geschichte des edlen Heldentums, des unauslöschbaren Glaubens an den Sieg erzählt.»1 In den USA wurde die Sinfonie am 19. Juli 1942 zum ersten Mal in New York aufgeführt. Sie zog Millionen an ihre Radios, fast zweitausend Sender spielten sie und brachten den Amerikanern die undurchschaubaren Sowjets näher, an deren Seite man im Dezember 1941 durch die deutsche Kriegserklärung so plötzlich gerückt worden war. Dieser bedrängten Nation, so der Eindruck nach den Konzerten, müsse geholfen werden. Sie brauche eine zweite Front im Westen, wie Stalin es seit Langem forderte. «Well done!», riefen manche ironisch in Richtung der kommunistischen Propaganda – aber einer äußerst effektiven Propaganda, ließ die Sinfonie doch den alten Traum träumen, dass Kunst alle Widerstände, selbst die «Nazis», überwinde. Die Musik, der 34-jährige Komponist, die Story machten Mut. Und den brauchte man in Leningrad, in Russland, aber auch in der freien Welt. Denn die Deutschen schienen nach der Eroberung des halben europäischen Kontinents nun auch noch die Sowjetunion zu überrennen.
Vernichtung Der «Weltblitzkrieg» gegen Moskau, der Verstoß gegen den Pakt mit Stalin war für Berlin ein Befreiungsschlag in vielerlei Hinsicht. Hitler schrieb am Vorabend des deutschen Angriffs an Mussolini, die Partnerschaft mit der Sowjetunion sei «ein Bruch mit meiner ganzen Herkunft, meinen Ideen und meinen ehemaligen Bindungen» gewesen. Er sei «nun glücklich, von dieser Qual befreit zu sein»2. Glücklich machte den «Führer» auch die Aussicht auf reiche Beute: kaukasisches Öl, ukrainischer Weizen, Kohle aus 136
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dem Donezk-Becken. Überhaupt würden die enormen materiellen Ressourcen des europäischen Teils der UdSSR das Reich nicht nur über den Krieg bringen, sondern es auch danach versorgen. Der asiatische Raum war in diesen Plänen nur ein lästiges Anhängsel, dessen Völkerschaften man schwach halten würde, so dass von ihnen auf absehbare Zeit keine Gefahr für Deutschland ausgehe. Mit der Sowjetunion als kolonialem Hinterland rückte eine aut a rke Großraumwirtschaft in greifbare Nähe – anders als 1914/1918 gegen alle Blockaden militärischer Feinde resistent, im Zentrum das Großdeutsche Reich als europäischer Hegemon. Ähnlich wie in Polen galt dem braunen Möchtegern-Imperium die ansässige Bevölkerung als Störfaktor, sollten doch «Arier» den eroberten Lebensraum besiedeln. Außenpolitisch wurde die bisher gültige Reihenfolge der Bezwingungen einfach umgedreht. «Der Führer hat nach dem Scheitern der Friedensbemühungen mit England sich entschlossen, zunächst Rußland niederzuwerfen»,3 rekapitulierte der junge Offizier Ludwig Hauswedell im Juni 1941 die offizielle Sichtweise. Ein Sieg über Moskau, so Hitler, würde London zur Aufgabe nötigen und die USA von Interventionen abhalten. Für den Krieg gegen die Sowjetunion spielte insofern eine Bedrohung durch Stalin keine Rolle. Die gab es aus deutscher Perspektive gar nicht, wie Luise Solmitz am 7. Mai 1941 ganz richtig erkannte: «Was sollte Russland denn von uns wollen?»4 Der Überfall auf die UdSSR war kein Präventivschlag, sondern lang gehegte Absicht Hitlers. Goebbels notierte am 16. Juni in sein Tagebuch: «Die Tendenz des ganzen Feldzugs liegt auf der Hand: Der Bolschewismus muß fallen und England wird seine letzte auch nur denkbare Festlandswaffe aus der Hand geschlagen. Das bolschewistische Gift muß aus Europa heraus. Dagegen kann wohl auch Churchill oder Roosevelt nur wenig sagen. […] Wogegen wir unser ganzes Leben gekämpft haben, das vernichten wir nun auch.»5 Anders als bei den vorhergegangenen Feldzügen plante das NS- Regime die Kriegführung und – in Grundzügen – die Besatzungs137
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politik vorab. Der Angriff sei als «Vernichtungskampf» zu führen, so Halder, und mache die «Anwendung brutalster Gewalt notwendig»6. In einer Reihe von Besprechungen im Frühjahr stimmte Hitler seine Generäle hierauf ein. Der Krieg, erklärte der «Führer» am 30. März 1941 in der Berliner Reichskanzlei vor etwa 250 de signierten Oberbefehlshabern des Ostheeres, werde «sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen». Im Ringen ums Dasein müsse das Heer «von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken» – der militärische Gegner sei «vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad»7. Insbesondere die Juden dürften nicht geschont werden, sie müssten büßen. So wie sie am Ersten Weltkrieg schuld gewesen seien, so seien sie auch für diesen Deutschland aufgezwungenen Krieg verantwortlich. Nun werde das Reich am Zentrum jüdischer Perfidie, dem Bolschewismus, Rache nehmen. Die jüdisch-bolschewistischen Funktionäre seien zu «beseitig[en]»8, wie Hitler schon am 3. März 1941 gegenüber dem OKW erklärt hatte. Militärisch bedurfte es eines echten, ausgearbeiteten Blitzkrieges, um die Sowjetunion zu schlagen. Napoleon war an Russland gescheitert, das sollte dem Diktator nicht passieren. Keinesfalls durfte man sich wie bislang allein auf die Schwäche des Gegners und die «Vorsehung» verlassen. Schließlich stellte die Weite des zu erobernden Raumes an einer mehrere tausend Kilometer langen und tiefen Front eine Herausforderung ganz eigener Art dar. Die einzige Möglichkeit, den nach Raum und Mentalität als unerbittlich klassifizierten Gegner zu bezwingen, so kalkulierte man in der Heeresführung, war, ihn zu überrumpeln. Nur mit der Zeit als Verbündeter würde der Kreuzzug gegen die Sowjetunion durchführbar sein. Dass dieses Hasardeurstück gelänge, an diese Vorstellung wollte man in Berlin gerne glauben, schließlich schwamm man immer noch auf der Woge der gerade erfolgreich absolvierten Waffengänge. Und ein Indiz gab es, das all diese waghalsigen Pläne realistisch erschienen ließ: das militärische Unvermögen der Roten Armee. Stalins Garden hatten erstaunliche 138
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drei Monate gebraucht, um im Winter 1939/40 Finnland, ein militärisches Leichtgewicht, zu besiegen. Die russische Streitmacht war zu diesem Zeitpunkt eine verunsicherte und unbewegliche Truppe. Im Rahmen der großen Säuberungen zwischen 1937 und 1940 hatte die sowjetische Führung fast 600 ihrer 900 ranghöchsten Offiziere umbringen lassen; im Ganzen waren damals 100 000 Soldaten entlassen, in den Gulag geschickt oder liquidiert worden, weshalb es nun an Sachverstand und Erfahrung mangelte. Mit ihrer Geringschätzung der sowjetischen Seite standen die Deutschen keineswegs alleine da. Auch der englische und amerikanische Generalstab teilten das negative Urteil. Demgemäß rechnete die Wehrmachtsspitze mit einer Kriegsdauer von maximal vier Monaten. Goebbels glaubte, der Bolschewismus werde wie «ein Kartenhaus zusammenbrechen»9. Hitler selbst ging angeblich von einem «Sandkastenspiel»10 aus. Über eine Winterausrüstung, den Nachschub, weitere Truppenaushebungen und fehlende Rüstungsarbeiter im Reich brauchte man sich angesichts dieser Planungen keine Gedanken zu machen. Weihnachten wären zwar nicht alle wieder zuhause, aber der Krieg würde dann schon vorbei sein. In Anbetracht dieser Konzeption schien eine Versorgung der über drei Millionen Soldaten «vor Ort» die naheliegendste Lösung. Besser «die Russen hungern»11, so ein Kommandeur, als die eigenen Männer oder die ohnehin schon nervöse Heimat. Diese kategorische Sichtweise führte die Haager Landkriegsordnung endgültig ad absurdum, der zufolge nur eine adäquate Inanspruchnahme von Naturalund Dienstleistungen auf besetztem Territorium erlaubt war. Der Wehrmachtsführung war klar, dass der Entschluss, die sowje tische Zivilbevölkerung auszuplündern und Mundraub der be sonderen Art zu betreiben, einem Hungerplan glich. Aber die Prioritäten waren eindeutig. In einer Besprechung von Wirt schaftsexperten, darunter der Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft Herbert Backe und der Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamts General Georg 139
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Thomas, hieß es am 2. Mai 1941, dass «zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird»12. Die Verantwortung für die Besatzung sollte in den Händen der Partei beziehungsweise erfahrener Nationalsozialisten liegen. Weitere Diskussionen mit den «Kritikaster[n]» und «Besserwisser[n]»13 der Wehrmacht waren ebenso wenig erwünscht wie mit den Beamten des Auswärtigen Amts. Hitler ernannte am 20. April 1941 Alfred Rosenberg, den parteiamtlichen Vordenker der Ostpolitik, zum Chef eines noch aufzubauenden Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete. Die Militärs sollten sich auf die Kriegführung in den Operationsgebieten beschränken, ihr Verwaltungsgebiet war der unmittelbare Frontbereich. Dahinter würden Zivilverwaltungen mit deutschen Reichskommissaren eingesetzt werden. Göring würde eine Wirtschaftsorganisation polizeiliche Pazifizierung Ost einrichten, die SS die politisch- übernehmen. Über den Plünderungsbefehl hinaus reduzierten sich die Lebenschancen der sowjetischen Zivilisten und Kombattanten durch etwa ein halbes Dutzend Weisungen, Anordnungen, Be lehrungen und Befehle, mit denen Wehrmacht und Heeresführung die Forderungen Hitlers noch vor Kriegsbeginn umsetzten. Der sogenannte Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13. Mai 1941 er mächtigte jeden einzelnen Offizier des Ostheeres zur Anordnung von verfahrenslosen Exekutionen gegen vermeintlich rebellische sowjetische Bürger und erlaubte kollektive Repressalien gegen ganze Ortschaften. Außerdem mussten sich Wehrmachtsangehörige nach einem Übergriff nicht mehr vor Militärgerichten verantworten. Die Kriegsgerichte sollten nur noch in Ausnahmefällen arbeiten. Es galt, jeden Ansatz von ziviler Gegenwehr mit präventivem Terror im Keim zu ersticken. Das OKH wies die Vertreter des Ostheeres Anfang Juni 1941 an: «In Zweifelsfällen über Täterschaft wird häufig der Verdacht genügen müssen.»14 Den nahezu rechtsfreien Raum rechtfertigte man mit den «Leider 140
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fahrungen», die dem deutschen Volk nach 1918 durch «bolschewistischen Einfluss» zugefügt worden seien. Auch machten die Weiträumigkeit des Operationsgebietes und die mit ihr vermeint lich einhergehende Überforderung der wenigen Kriegsgerichte einen Verstoß gegen das Völkerrecht unumgänglich. Willkür wurde in den Mantel eines Sachzwanges gekleidet. Über den Befehl informiert, sorgten sich hellsichtigere Militärseelsorger um das Moralgefüge der ihnen anvertrauten Soldaten. Der katholische Pfarrer Sulzenbacher schrieb in sein Tagebuch: «Straftaten der Soldaten gegen russische Zivilpersonen werden nicht verfolgt. Ich bin tief erschüttert. Wie soll das enden?»15 Dreieinhalb Wochen später, am 6. Juni 1941, erging der Kommissarbefehl. Er verpflichtete die deutschen Truppen, alle Polit offiziere der Roten Armee im Fall der Gefangennahme zu exe kutieren. Seit Lenins Tagen überwachten die Kommissare als Repräsentanten der KPdSU in jeder Kompanie die Linientreue der Soldaten, nicht selten mit drakonischen Mitteln. Das NS- Regime und seine Militärs verteufelten die Kommissare als Inbegriff und «Träger der feindlichen Weltanschauung», sowieso seien fast alle Juden. Auch der Kommissarbefehl missachtete das Völkerrecht, hier sollten reguläre, uniformierte Kriegsgefangene systematisch getötet werden. Aber dem OKW war jedes Mittel recht, wenn es nur «den Russen» bezwinge. Ohne ihre mutmaßlichen Korsettstangen, so das Kalkül, werde die Rote Armee rasch zusammenbrechen. Noch bevor ein deutscher Panzer die Krim erreicht, ein deutsches Flugzeug Leningrad bombardiert und die Rote Armee auf die deutschen Angriffe reagiert hatte, war in der Vorstellungswelt der NS-Spitze der Krieg gegen die Sowjetunion schon als Vernichtungskrieg angelaufen. Die Entgrenzung der Kriegführung war keine Reaktion auf Schandtaten der Truppen Stalins, sondern präventiv gewollt. Insofern geht es bei den Verbrechen der Wehrmacht nicht um Taten, die der Kampfsituation entsprangen, und auch nicht um Taten, die in der Verantwortung einzel141
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ner Soldaten lagen. Diese passierten ohnehin. Vielmehr konzipierte die deutsche Armee diesen Krieg von vorneherein als schwersten Bruch mit dem Völkerrecht – und erteilte damit eine Carte blanche zum Morden. Für diese verbrecherische Konzeption von Krieg und Besatzung spielte nicht nur der Blick auf den zukünftigen Gegner, sondern auch die Erinnerung an den vergangenen Weltkrieg eine entscheidende Rolle: Blockaden sollten wirkungslos sein und Hungerrevolten an der Heimatfront ausgeschlossen werden, indem man die sowjetische Bevölkerung auspresste. Auch der fatale Stellungskrieg schien mit dem Einsatz beweglicher Pan zertruppen überwunden. Endlich konnte auch der historische Irrtum einer «Weltherrschaft der Juden» korrigiert werden. Hinter diesen Denkfiguren konnten sich viele in der Wehrmacht versammeln, selbst Offiziere aus der kleinen Gruppe der Opposition. Die einzigen Äußerungen von Widerspruch entsprangen der Befürchtung, dass es angesichts dieser weitgehenden Entgrenzung von Gewalt zu impulsiven Aktionen von Soldaten, zu Disziplinlosigkeiten kommen könnte. Walther von Brauchitsch forderte deshalb am 24. Mai 1941 die Truppenführer auf, «willkürliche Ausschreitungen einzelner Heeresangehöriger zu verhindern und einer Verwilderung der Truppe rechtzeitig vorzubeugen».16 Ansonsten aber waren sich Generäle und Generalfeldmarschälle weitgehend einig, dass die «Sicherheit des Reiches»17 – so die ewige Rückzugsformel – eben harte Maßnahmen erfordere. Hatte man sich schon in Polen auf eine völkerrechtswidrige Kriegführung eingelassen, wurde für die Eskalation im Fall Barbarossa ein Konglomerat aus weltanschaulichen Gegnerschaften – Antikommunismus, Antislawismus und Antisemitismus – bestimmend. Ein katholischer Feldgeistlicher etwa, im September 1939 noch hin- und hergerissen, sah nun die Chance gekommen, sich an einem «Kreuzzug gegen den gottlosen Bolschewismus»18 zu beteiligen. Teile der älteren nationalkonservativen Militärelite erinnerten sich mit Ingrimm an den Zusammenbruch des Reiches, die 142
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rote Revolution im Jahre 1918/19, aber auch an ihre blutigen Einsätze bei den Freikorps gegen vorgeblich charakterlose Slawen. Andere wiederum argumentierten militärhistorisch. «Die Geschichte aller russischen Kriege», so der 49-jährige Oberst Günther Blumentritt, zeige, «dass der Russe als Kämpfer, Analphabet und Halbasiate anders denkt und fühlt.»19 Die Mehrheit teilte die Ansicht, dass man «primitiven» Sowjetbürgern gegenüberstehe, denen menschliche Empathie fremd sei und denen das Völkerrecht unbegreiflich bleibe. Die Bereitschaft zum Normenbruch wurde schließlich auch erleichtert durch die Aussicht auf riesige Latifundien, mit denen das NS-Regime versprach, loyale Offiziere und siegreiche Generäle zu belohnen. Wie in der Tschechoslowakei und Polen sollte jeglicher Widerstand im Hinterland erstickt und den Fronttruppen der Rücken freigehalten werden. Im März/April 1941 wurden erneut mobile Einsatzgruppen gebildet. Die 3 000 Männer, überwiegend Angehörige des Sicherheitsdienstes und der Sicherheitspolizei, unterstanden nun nicht mehr dem Heer, sondern sollten, so hatte es Heydrich mit Wagner im März 1941 besprochen, in eigener Verantwortlichkeit handeln. Wieder waren die Befehlsführer Akademiker. Einige waren schon im Polenfeldzug aktiv gewesen wie der erste Leiter der Einsatzgruppe C, der 50-jährige Jurist Otto Rasch, oder der 34-jährige Otto Ohlendorf, Leiter der Einsatzgruppe D und Amtschef des SD-Inland. Der Leiter der Einsatzgruppe A, der 41-jährige Walter Stahlecker, hatte die Sonderformationen beim Einmarsch in die Tschechoslowakei geleitet und wechselte aus dem Auswärtigen Amt zurück ins Mordgeschäft. Chef der Einsatzgruppe B wurde der oberste Kriminalbeamte des Reiches, der 47-jährige Arthur Nebe. Alle verstanden ihre Aufgabe als völkische Ordnungspolitik. Osteuropa sollte vom jüdisch-slawischen Bolschewismus gereinigt, die Gebiete ethnisch und politisch für die deutsche Inbesitznahme gesäubert werden. Das Mandat zum präventiven Vorgehen erlaubte, die Definition der auszuschaltenden Gegner beliebig auszudehnen. Im Zentrum der Verfolgung 143
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standen, anders als noch in Polen, nun die jüdischen Bürger der Sowjetunion, und zwar vor allem die jüdischen Funktionäre. Wären sie erst einmal ausgeschaltet, so die Annahme, würde das bolschewistische Herrschaftssystem zusammenbrechen. Niemand in der Heeresleitung opponierte mehr gegen die wachsende Macht der SS. Nicht einmal die Abgabe von Kompetenzen erregte noch Verdruss, war man doch erleichtert, in der Sicherung der besetzten Gebiete personell unterstützt zu werden. Hatte Generaloberst Georg von Küchler in Polen noch Verbrechen der Einsatzgruppen angeprangert, so beließ er es im April 1941 als Oberbefehlshaber der 18. Armee bei dem lapidaren Satz: «Wir wollen uns um ihre Tätigkeit nicht kümmern.»20 Am 22. Juni 1941 war es dann so weit. Ohne Kriegserklärung griff Deutschland die Sowjetunion an. Vor allem um die Volks genossen hinter sich zu sammeln – die Rücksichtnahme auf internationale Befindlichkeiten fiel nun weg –, erklärte man den Überfall wiederum zum Verteidigungskrieg. Berlin sei einer Verschwörung zuvorgekommen. Damit, so Hitler am Tag des Einmarsches, sei «die Stunde gekommen, in der es notwendig wird, diesem Komplott der jüdisch-angelsächsischen Kriegsanstifter und der ebenso jüdischen Machthaber der bolschewistischen Moskauer Zentrale entgegenzutreten»21. Die deutsche Zivilbevölkerung reagierte auf die Kehrtwende jedoch überwiegend bestürzt. Die Rhetorik von der «Verteidigung» konnte nicht überzeugen. Die elfjährige Gudrun Himmler drückte vermutlich ungewollt die Ängste der meisten Deutschen aus, als sie ihrem Vater am 21. Juni schrieb: «Es ist ja furchtbar daß wir gegen Rußland Krieg machen. Es waren doch unsere Verbündeten. Rußland ist doch sooo groß.»22 Der Gummersbacher Oberstabsarzt Willi Lindenbach war ebenfalls fassungslos: «Hitler ist ein Wahnsinniger! Was soll nur werden?»23 Andere dachten an die vorangegangenen Erfolge und vertrauten ihrem «Führer». Der Duisburger Helmut N. notierte am 22. Juni in sein Tagebuch: «Der Führer aber geht unablässig seinen Kreuzweg, beladen mit den Schmerzen, 144
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den Unklarheiten eines großen Volkes und der gewaltigen Verantwortung für einen Weltteil, ja für die gesamte Kultur der Welt.»24 Goebbels lag mit seiner Einschätzung vermutlich richtig: Jeder «neu aufgemachte Kriegsschauplatz» bereite dem Volk zunächst «Sorgen und Kummer»25. Doch wenn «die ersten sicht baren Siege»26 da seien, dann würde sich die Stimmung wieder aufhellen. Ambivalente Gefühle hegten auch Soldaten. Einige waren froh, den «sturen Dienstbetrieb» gegen «eine[n] ‹richtigen› Krieg» tauschen zu können, wie ein Panzeroffizier meinte. Andere sprachen sich Mut zu. Zwar werde «mancher ins Gras beißen», so ein junger Soldat am 22. Juni 1941, «aber doch nicht umsonst, sondern für Deutschlands gute Zukunft»27. Und auch Wilm Hosenfeld glaubte an die Chance der Offensive. Dies sei der rechte Augenblick, «um mit dem Bolschewismus einerseits und mit der letzten kontinentalen Großmacht andererseits aufzuräumen» und «den Ostraum grundlegend neu zu gestalten»28. Der 39-jährige Unteroffizier Kurt Krämer schrieb an seine Frau: «Unsere Kinder werden dereinst diese Zeit bewundern. Es lebe der Führer Dein Kurt.»29 Die Wehrmacht zog in den drei Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd mit 3,3 Millionen Soldaten über die Ostgrenze, «die größten Truppenmassen der Weltgeschichte», so Astrid Lindgren. «Als ob Armageddon bevorstünde!»30 Zielpunkte waren im Norden über das Baltikum Leningrad, in der Mitte via Minsk und Smolensk Moskau, im Süden Rostow über Kiew. Neben den deutschen Verbänden kämpften 690 000 finnische, slowakische, ungarische, kroatische, italienische und rumänische Soldaten, im Lauf des Krieges sollten 2,5 Millionen Verbündete die Deutschen unterstützen. 600 000 Kraftwagen, 3 648 Panzer, 7 146 Geschütze, 4 000 Bomber, Jäger, Aufklärer und Transportmaschinen waren unterwegs beziehungsweise standen bereit. Am 24. Juni bezog Hitler die sogenannte Wolfsschanze; 2 000 Soldaten und Zivilisten bevölkerten die über hundert Gebäude des nach seinem Decknamen aus den zwanziger Jahren benannten «Führerhaupt145
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quartiers». Von diesem ostpreußischen Wald aus wollte der Mann aus Braunau die Sowjetunion erobern. Die Heeresgruppe Mitte, die stärkste der drei Großeinheiten, stand zu Beginn des Unternehmens Barbarossa gut 1 000 Kilometer von Moskau entfernt. Einen knappen Monat später war diese Distanz auf nur noch 350 Kilometer zusammengeschrumpft. Die in Frankreich und Polen erprobte Strategie von Luftangriffen und Panzervorstößen erzielte schnell große Raumgewinne – «totale Zerstörung überall»,31 notierte am 30. Juli Unteroffizier Friedrich Fiedler in Shitomir in seinem Tagebuch. Insofern sah aus N S-deutscher Sicht zunächst alles bestens aus – was Klemperer frustrierte: «Mich erschüttern die Siege in Rußland, obwohl ich sie vorausgesehen und in Rechnung gestellt habe – sie sind zu groß und überwältigend.»32 Stalin hatte lange Zeit einen Bruch des Nichtangriffspaktes durch Hitler für unvorstellbar gehalten, der Überfall traf die Sowjetunion unvorbereitet. Chaos breitete sich aus, etliche Rotarmisten desertierten oder liefen zu den Deutschen über. In den ersten 18 Tagen machte die Wehrmacht über 320 000 Gefangene, erbeutete 1 800 Geschütze und zerstörte über 3 300 Panzer. Leutnant Walter Melchinger schrieb am 28. Juni aus der Ukraine: «Dem fliehenden Feind dicht auf den Fersen. Immer nach vorne. Es ist eine Lust, Soldat zu sein. […] So habe ich’s ersehnt. Es ist die Erfüllung aller Wünsche.»33 In seiner Not rief Stalin am 3. Juli 1941 zum Partisanenkampf hinter den deutschen Linien auf. Hitler nahm diesen Appell gerne auf, gebe er doch «die Möglichkeit, auszurotten, was sich gegen uns stellt»34. Unter dem Deckmantel der «Bandenbekämpfung» erhielt die geplante Verfolgung von Einheimischen eine zusätz liche Legitimation. Morde konnten sich nun auch auf ältere Männer, Frauen und Kinder als Zuträger der Freischärler ausdehnen. Vereinzelt kamen in der Truppe Zweifel und Empörung an den einsetzenden Massenmorden an Zivilisten auf. Doch wurde schnell klargemacht, wer die eigentlichen Träger des Widerstan146
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des waren – die Juden, und zwar alle Juden: «Wo der Partisan ist, ist der Jude, und wo der Jude ist, ist der Partisan»,35 lautete die Quintessenz eines gemeinsamen Lehrgangs zur Partisanenbekämpfung von Wehrmacht und SS Ende September 1941. Die Formel Jude gleich Partisan schweißte beide Institutionen in ihrem Interesse an «Ruhe und Ordnung» zusammen, denn wie Generalfeldmarschall Walter von Reichenau den Soldaten seiner 6. Armee im Oktober 1941 nochmals einprägte: «Erhebungen im Rücken der Wehrmacht» würden «erfahrungsgemäß stets von Juden angezettelt»36. Aber selbst der Partisan blieb zunächst ein Phantasma, denn es sollte dauern, bis Stalins Aufruf befolgt wurde. 1941 führten die Deutschen in etlichen besetzten Gebieten einen Partisanenkampf ohne Partisanen. Trotz aller Gewalt: Viele Osteuropäer begrüßten die Ankunft der deutschen Truppen. In der Vergangenheit hatten sie etliche fremde Herrscher gesehen, die Identifikation mit dem fernen Moskau und der Sowjetunion war schwach geblieben. Hinzu kam, dass man besonders in der Ukraine, in Galizien und im Baltikum, kurz: in den Territorien, die Stalin gerade erst im Zuge seines Paktes mit Hitler besetzt hatte, erleichtert über die Befreiung von der kommunistischen Okkupation war. Im ehemals ostpolnischen Białystok, nun ein eigener Bezirk unter der Herrschaft des ostpreußischen Oberpräsidenten und Gauleiters Erich Koch, klatsch te die Bevölkerung Beifall, wenn die Wehrmacht Sowjetdenk mäler zertrümmerte. In der Ukraine veranstalteten die Kirchen Dankgottesdienste. Als es dann so aussah, als ob die Deutschen den Krieg gewännen, versuchten viele, sich mit den Besatzern zu arrangieren. Überall bewarben sich Männer als einheimische Hilfspolizisten für «Ordnungsdienste». Die Wehrmacht stellte ganze Divisionen aus Ukrainern, Letten, Esten, Litauern auf, die im Operationsgebiet, häufiger aber zur Partisanenbekämpfung und zur Bewachung Kriegsgefangener eingesetzt wurden. Zehntausende kooperierten im Glauben, die Invasoren würden die staatliche Eigenständigkeit fördern. Auch teilten etliche be147
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stimmte politische Grundeinstellungen wie den Antisemitismus, eine Sympathie für den Kommandostaat und vor allem einen klaren Antikommunismus. Für andere standen materielle Motive im Vordergrund, entging man doch mit einer Arbeit für die Deutschen zumindest teilweise den sich schnell verschlechternden Lebensbedingungen. Wieder andere glaubten, auf diese Weise der Verschleppung zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich zu ent gehen. Mitunter profitierte man auch auf niedrigem Niveau von der einsetzenden Ausplünderung der Juden. Im Juli 1941 ging im OKH Generalstabschef Halder selbstsicher davon aus, dass «der Feldzug gegen Rußland innerhalb 14 Tagen gewonnen»37, wenngleich aufgrund der Weite des Raumes und des beachtlichen Widerstandes nicht beendet sein würde. In Berlin und im Führerhauptquartier brach Euphorie aus. Am 16. Juli lud Hitler die Verantwortlichen aus Partei, Ministerien und Wehrmacht in die Wolfsschanze und formulierte seine Vorstellungen für die besetzten sowjetischen Gebiete. «Grundsätzlich», so der «Führer», komme es «darauf an, den riesenhaften Kuchen handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können».38 Bevor überhaupt die Sowjetunion unterworfen worden war, wurden diese Ziele von Pazifizierung und Raub in institutionelle Formen gegossen. Hitler ließ in den besetzten westlichen Gebieten das Reichskommissariat Ukraine mit Sitz in Rowno und das Reichskommissariat Ostland mit Sitz in Kaunas, später Riga bilden. Letzteres umfasste die baltischen Staaten und Teile des besetzten Russlands, Weißrusslands und Polens. Das Hinterland der Front kam unter Militärverwaltung. Den Lebensraum im Osten zu sichern und zu beplanen blieb Himmlers Domäne. Er sollte wiederum als seine Stellvertreter Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) installieren. Zudem wurde sukzessive die Zahl der Einsatzgruppenmitglieder auf über 30 000 erhöht, ergänzt vor allem um Polizisten, aber auch Männer der Waffen-SS, Angehörige des Nationalsozialis tischen Kraftfahrerkorps, Dolmetscher, Sekretärinnen, Funker, 148
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Fernschreiberinnen sowie um Verbände einheimischer Helfer. Zugleich legten Konrad Meyer und das RSHA seit Juli 1941 beständig aktualisierte Versionen eines Generalplans Ost vor. Am 1. August 1941 wurde die Westukraine mit der Stadt L’viv (Lemberg) als Distrikt Galizien an das Generalgouvernement angeschlossen. Auch die befreundeten Mächte bekamen ihren Anteil. Rumänien zum Beispiel holte sich Bessarabien sowie die Nordbukowina zurück und richtete eine Provinz Transnistrien mit der Hauptstadt Odessa ein. Formal unterstanden die Kommissariate dem Ostministerium. Rosenberg und seine vielfach aus dem Auswärtigen Amt kommenden Mitarbeiter intendierten, die Besatzungsregime zu flexibilisieren und die Einwohner gemäß einer völkischen Werteskala zu traktieren. Allerdings mussten sich die «Rosenbergianer», wie sie selbst sich nannten, immer wieder mit diversen Konkurrenten messen, zuvörderst mit dem mächtigen und skrupellosen Reichskommissar der Ukraine, Erich Koch. Der Gauleiter von OstMitgliedsnummer 90, pflegte ein Image als preußen, NSDAP- «harter Hund», hielt es mit dem «Führer» und «König Heinrich» und deren Basta-Politik. Seine Einflusszone reichte von Königsberg bis ans Schwarze Meer und umfasste damit auch deutsches und polnisches Territorium. Im Ostland fiel der dortige Reichskommissar Hinrich Lohse, Gauleiter von Schleswig-Holstein und ein alter Freund Rosenbergs, vor allem durch sein hemmungsloses Luxusleben und seinen Nepotismus auf. Von Pinneberg bis Flensburg nahm er alte Kameraden mit in sein neues Reich. Schließlich wiederholten sich in der Sowjetunion die aus allen besetzten Territorien bekannten Fälle von Bestechlichkeit und Übergriffen – durch die größere Hemmungslosigkeit noch forciert. Ein Presseoffizier des Ostministeriums sollte 1944 von «Ost- Hyänen»39 sprechen. Mit den Reichskommissariaten verkomplizierte sich das polymorphe Besatzungsgefüge des nationalsozialistischen Europa: Hitler selbst war federführend für das Protektorat Böhmen und 149
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Mähren sowie für das Generalgouvernement, das Auswärtige Amt für Dänemark, das OKH für alle Gebiete unter Militärverwaltung, das Ostministerium für die Sowjetunion, etliche Gauleiter für die neu ans Reich angrenzenden Gebiete. Darüber hinaus erlaubten sich die traditionellen Reichsministerien wie etwa Super minister Göring, aber auch die parastaatliche Ordnungstruppe Himmlers und alle möglichen Sonderbevollmächtigten ein Mitspracherecht. Zudem gab es einen Trend, jede Besatzung gesondert zu behandeln. Goebbels bemerkte Anfang Juni 1942 zur So wjetunion: «Hier wird lustig drauflos regiert, meistens einer gegen den anderen, ohne daß eine klare Linie vorherrschte.»40 Administratives Chaos, verursacht durch das Gerangel um Macht ausübung, unterminierte aber nicht zwangsläufig die Fähigkeit des NS-Staates zur Herrschaft. Vielmehr äußerte sich die Konkurrenz der Instanzen häufig als ein Wettstreit um radikale Vorgehensweisen. Diese Erfahrung mussten viele besetzte Länder machen, selbst im rassenpolitisch besser gelittenen Westeuropa. Unterdessen war Stalin aus seiner Schockstarre erwacht und kehrte zur bewährten Motivation durch Einschüchterung zurück. Im August 1941 erließ der rote Diktator den berüchtigten Befehl Nr. 270, der es Rotarmisten verbot, sich dem Feind zu ergeben oder sich gefangen nehmen zu lassen. Zu den ersten Opfern gehörte sein Sohn Jakow beziehungsweise dessen Frau Yulia Meltzer, die für ihren in deutsche Gefangenschaft geratenen Mann zwei Jahre ins Arbeitslager musste. Einschüchterung war das eine, patriotische (Selbst-)Mobilisierung das andere. Schostakowitsch zum Beispiel litt am Stalinismus, war aber leidenschaftlicher Russe. Und wenn Russland zum Opfer fremder Willkür geworden war, dann, so die feste Überzeugung des Komponisten, müsse man kämpfen. Die Identifikation mit dem Leid des eigenen Volkes verstand die KPdSU zu nutzen: Sie rief zum «Großen Vaterländischen Krieg» auf. All das zeigte Wirkung. «Der Russe ist sehr stark u. kämpft verzweifelt», informierte Infanteriegeneral Gotthard Heinrici Ende Juli seine Frau. Der Krieg sei «sehr schlimm»41. 150
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Deutlicher wurde der Soldat Rudolf B., der nach Hause schrieb: «Der Russe ist ein zäher Gegner, und wir tun jetzt fast keine Gefangene machen, sondern erschießen alle, denn mit den deutschen Soldaten gehen sie unmenschlich um.» «Ungeheures» werde von den Soldaten verlangt, «glaube es mir, und Opfer bleiben nicht aus»42. Der Überraschungseffekt des Überfalls verging. Der Vormarsch stockte, die Probleme häuften sich, so Hein rici: «die ungeheueren Wegeschwierigkeiten, die riesengroßen Räume, die unendlichen Wälder, die Schwierigkeit der Sprache u. s. w.»43 In der Folge stiegen die deutschen Verluste. Man habe, so Goebbels am 19. August 1941, «die sowjetische Stoßkraft und vor allem die Ausrüstung der Sowjetarmeen gänzlich unterschätzt. Auch nicht annähernd hatten wir ein klares Bild über das, was den Bolschewisten zur Verfügung stand. Daher kamen auch unsere Fehlurteile. Der Führer hat beispielsweise die sowjetischen Panzer auf 5 000 geschätzt, während sie in Wirklichkeit an die 20 000 besessen haben. Flugzeuge, glaubten wir, hätten sie um die 10 000 herum; in Wirklichkeit haben sie über 20 000 besessen.»44 Auch wenn die Zahlen weit übertrieben waren: Der größte Feldherr aller Zeiten hatte sich verkalkuliert. Die eigene Waffenund Geräteausstattung war für einen Kampf von drei bis vier Monaten ausgelegt. Der Munitionsvorrat reichte für ein Jahr, die personellen Reserven waren gering. «Die Weite Rußlands» drohte, wie Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt seiner Frau schrieb, die deutschen Truppen zu «verschlingen»45. Zudem formierte sich die gegnerische Allianz. Am 12. Juli 1941 hatten London und Moskau einen Beistandspakt unterzeichnet, der ein Jahr später zu einem Bündnisvertrag ausgebaut werden sollte. Churchill zögerte, ließ man sich doch mit dem «Teufel»46 ein. Im August kam es dann auf Initiative des Premierministers zum ersten persönlichen Treffen mit Roosevelt – um die Isolationisten zu beruhigen, aber nicht auf amerikanischem Boden, sondern vor Neufundland. London brauchte die USA, Roosevelt verweigerte sich nicht, benötigte aber ein gutes Argument. So sprach 151
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man über die Möglichkeiten eines umfassenden und dauerhaften Systems der allgemeinen Sicherheit nach der Zerschlagung der «Nazi-Tyrannei». Beide Staaten schufen mit der «Atlantikcharta» die Grundlagen für die späteren «Vereinten Nationen». Im September kreiste eine Dreimächtekonferenz in der russischen Hauptstadt um die Frage, wie man die sowjetischen Truppen unterstützen könnte. Guter Rat war teuer. Denn die einzige Möglichkeit, eine militärische Front im Westen zu eröffnen, war eine amphibische Landung irgendwo auf dem Festland. Doch ein derartiger Zugang war nicht zuletzt aufgrund der deutschen U-Boote gefährlich, kompliziert und kostspielig. So beschränkten sich die Regierungsvertreter auf defensive Operationen, die die Konvoirouten auf dem Atlantik zwischen den USA und Großbritannien sicherten und das von Italien bedrohte Operationsgebiet im Mittelmeer offen hielten. Einen Erfolg konnte Stalin allerdings verbuchen: Die USA bezogen die UdSSR in das lend-lease- System ein. Die deutschen Soldaten zermürbten derweil der «sture Widerstand der Sowjetbrüder» und das «entsetzliche Land»47. Waren Krieg und Stationierung im Westen noch als «Urlaub», als «schönste KDF-Reise»48 beschrieben worden, erlebten die Wehrmachtsangehörigen ihre neuen Einsatzorte fast unisono als schmutzig, verwahrlost, primitiv, unzivilisiert. Man fühle sich «wie in einem fremden Erdteil»49, fasste Heinrici seine Eindrücke am 23. Oktober 1941 zusammen. Ein Sanitätsoffizier äußerte in einem Brief am 3. September die Hoffnung, «daß die noch bevorstehenden Kämpfe für uns nicht mehr so schwer sind und keine großen Opfer mehr kosten! – Dann aber: ‹Nie wieder Rußland!›»50 Alle Negativklischees über «den Russen» schienen zu stimmen, und genauer hinsehen wollte man lieber nicht. Sich gegen die übermächtigen Stereotype zu stemmen fiel selbst Konrad Jarausch nicht leicht. Er war von Polen nach Weißrussland in ein Durchgangslager für Kriegsgefangene versetzt worden, suchte regelmäßig das Gespräch mit Rotarmisten und kam zu dem 152
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Schluss: «Im ganzen sind wirklich nicht alle Russen ‹Schweine› oder ‹Bestien›. Das war auch vorher anzunehmen, aber es ist doch gut, wenn man es nun aus erster Hand erfährt und bezeugen kann.»51 Welche Haltung man auch immer gegenüber der Sowjetunion, ihren Soldaten und Bürgern einnahm: Nach zwei Monaten waren die meisten dieses Krieges überdrüssig. Im Hauptquartier des OKH in Ostpreußen herrsche eine «vorher nie gekannte Gereizt-
heit», schrieb Hellmuth Stieff seiner Frau am 12. August. Dieser Feldzug sei «so ganz anders als alle vorhergehenden». Er dauere viel zu lange, «jeder» habe ihn «mehr als satt»52. Aus dem Blitzkrieg schien nichts zu werden, im Führerhauptquartier lagen die Nerven blank. Halder und von Brauchitsch plädierten dafür, den Angriff direkt auf Moskau, das Zentrum der Macht, fortzusetzen. Hitler hingegen hielt es zwar auch für richtig, die «Haupteiterbeule» zu beseitigen – als «schwerst[en] Schlag» für «das russische Volk und die kommunistische Partei»53. Wichtiger war ihm jedoch, zunächst die sowjetischen Rohstoff- und Industriezen tren zu okkupieren. In zwei Umfassungsoperationen sollte im Norden Leningrad besetzt werden – als zweite «Haupteiterbeule», Standort einer großen Panzerproduktion sowie Hafen der Baltischen Flotte. Das Reich würde damit eine direkte Verbindung nach Finnland gewinnen. Zum Zweiten erklärte Hitler zum Ziel, im Süden die Getreidegebiete der Ukraine und das Industrie- und Kohlerevier im Donezk-Becken zu erobern. Außerdem standen ja noch Rommels Truppen in Nordafrika und marschierten Richtung Suezkanal. Würde die Wehrmacht erfolgreich über die Krim, den Kaukasus und Nordafrika nach Südosten expandieren, wären die Briten im Nahen Osten, in Ägypten und Vorderasien in Alarmbereitschaft versetzt. Zudem hatte das Regime schon mit Anführern antibritischer Bewegungen wie dem Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husayni, und dem ebenfalls in Deutschland lebenden Führer der indischen Nationalisten, Subhas Chandra Bose, Kontakt aufgenommen. Der Haken an dieser Vorgehens153
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weise war, dass die Sowjets Moskau in der Zwischenzeit zur Festung ausbauten, so dass ein Abschluss des Krieges vor dem Winter unwahrscheinlich werden würde. Doch zunächst schien Hitlers Plan aufzugehen. Smolensk und Kiew wurden erobert. Große Teile der westlichen sowjetischen Territorien samt den dortigen Bodenschätzen und Nahrungsmittelreserven fielen in die Hände der Deutschen. Die Rote Armee verlor bis zu diesem Zeitpunkt 8 000 Flugzeuge, 17 000 Panzer und vier Millionen Soldaten. Auf die Agenda des Dritten Reiches trat nun ein Problem, für das es bisher kaum Vorsorge getroffen hatte – und auch nicht treffen würde: die riesige Zahl gefangener Rotarmisten. Bis Ende 1941 gerieten 3,3 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Etwa 450 000 von ihnen brachte die Wehrmacht in Lager im Reichsgebiet. Im KZ Buchenwald ließ die SS eine Genickschussanlage einrichten, die Tausende Kommissare und jüdische Rotarmisten tötete. Die meisten Gefangenen jedoch kamen, wenn sie nicht schon vorher auf den Extremmärschen an Entkräftung gestorben oder erschossen worden waren, in Lager hinter der Front. Diese bestanden häufig nur aus einem offenen, von Stacheldraht umzäunten Feld. Mangelernährung, Ruhr und Tuberkulose, ausgelöst durch die kata strophalen hygienischen Bedingungen, ruinierten den Gesundheitszustand der Männer. Jarausch berichtete Ende Oktober 1941 von den «entsetzlichen» Verhältnissen in seinem Lager. Er habe «Bilder des Elends gesehen, wie noch nie in meinem Leben.» Die Vorräte für 20 000 Mann hätten nicht herangeschafft werden können. Nur ein Dutzend Deutsche seien im Lager. Er habe angesichts der hungrigen Massen den «Polizisten spielen», Gefangene «mit dem Gummiknüppel» schlagen oder «abschießen» lassen müssen. Das Erlebte belastete ihn schwer, ihn rette nur die «geistige Welt vor den Bildern, die mich jetzt umgeben». Wie, so fragte er sich, «könnte man das sonst ertragen, ohne zu vertieren?»54 Selbst wenn Leute wie Jarausch und andere, meist ältere Offiziere, Gefangene mit Medikamenten und Nahrung versorgen wollten, 154
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mussten sie realisieren, dass dies angesichts der von der Obersten Heeresführung erkennbar beabsichtigten Vernachlässigung unausführbar war. Und sobald der Winter kam, würden die Inhaftierten endgültig dem Tod durch Erfrieren preisgegeben werden. Hatte man die fast 400 000 polnischen Kriegsgefangenen zumindest noch 1939/40 in der Regel ausreichend ernährt, galten die sowjetischen Gefangenen von Beginn an als Belastung, um die sich die Wehrmachtsführung möglichst wenig kümmern wollte. Die grausame Behandlung würde bis Februar 1942 nicht weniger als 2,2 Millionen Rotarmisten einen erbärmlichen Tod bereiten, das bis zu diesem Zeitpunkt größte Massensterben im deutschen Machtbereich. Streitigkeiten in der NS-Führung über die «Vergeudung» von Arbeitskräften führten ab Oktober 1941 allmählich zu einer besseren Versorgung und höheren Rationen. Jedoch kam diese immer noch unzureichende «Aufpäppelung» für die meisten sowjetischen Kriegsgefangenen zu spät. Das große Sterbenlassen im deutsch besetzten Osteuropa sollte 1941 noch weitergehen. Im Norden war die Wehrmacht im September bis vor Leningrad gerückt. Für den Hort der Oktoberrevolution hatten Hitler und die Heeresführung nicht die Er stürmung, sondern Belagerung ausersonnen. Die «Brutstätte des Bolschewismus» solle, so Generalquartiermeister Wagner, «schmoren». Was solle man, so fragte er in einem Brief am 9. September seine Frau, «mit einer 3 ½ Mill. Stadt, die sich nur auf unser Verpflegungsportemonnaie legt. Sentimentalitäten gibts dabei nicht.»55 Nicht gerade «Sentimentalitäten», aber Sorge um das psychische Wohlergehen der eigenen Männer bewogen manche Truppenführer, Einwände zu erheben. Zwar bestehe, so der Erste Generalstabsoffizier der Heeresgruppe Nord, Paul Herrmann, in einem Bericht vom 24. Oktober 1941, bei den Soldaten «volles Verständnis dafür, daß die Millionen Menschen, die in Leningrad eingeschlossen seien, von uns nicht ernährt werden können, ohne daß sich dies auf die Ernährung im eigenen Lande nachteilig auswirkt». Doch was passiere, wenn die Stadt ihre Übergabe 155
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anböte? Wie sollte man sich gegenüber der dann herausströmenden hungerleidenden Bevölkerung verhalten? Würde die Truppe, wie der Befehl es verlangte, «die Nerven» behalten, «bei wiederholten Ausbrüchen immer wieder auf Frauen und Kinder und wehrlose alte Männer zu schießen»56? Ein derartiges Gemetzel blieb den Wehrmachtsangehörigen erspart, die Stadt kapitulierte nicht. Keitel, Halder und der kommandierende General der 18. Armee Küchler überließen die todbringende Aufgabe dem Hunger und dem eisigen Frost. 250 000 Menschen starben in den ersten drei Monaten der deutschen Blockade. 1 500 Fälle von Kannibalismus wurden gezählt. Als Schostakowitschs 7. Sinfonie im August 1942 in Leningrad aufgeführt werden sollte, waren 27 Mitglieder des Rundfunkkomitee-Orchesters verstorben, wie ein Mitarbeiter anlässlich der Proben notierte: «Erster Geiger – tot. Fagottist – dem Tode nahe. Erster Schlagzeuger – tot.»57 Die Extrarationen an Essen, die die Musikerinnen und M usiker erhielten, nahmen sie mit nach Hause zu ihren Familien. Goebbels verklärte die von den Deutschen geschaffene Hungerhölle mit den Worten, das sei «das schaurigste Stadtdrama, das die Geschichte jemals gesehen»58 habe. Stalin überließ das alte St. Petersburg, das ihm verhasste intellektuelle Zentrum des Landes, weitgehend sich selbst; erst nach und nach evakuierte die Rote Armee über Lücken, die von den finnischen Belagerern gelassen worden waren, und über eine Luftbrücke mehr als eine Million Menschen und versorgte die Bewohner mit größeren Mengen an Nahrungsmitteln. So lange blieben Leichen am Straßenrand liegen; die Überlebenden waren zu schwach, die Toten zu beerdigen. Schostakowitsch war nach Kuibyschew evakuiert worden, seine Mutter, Schwester und andere Verwandte blieben in Leningrad. Aus ihren Briefen erfuhr er, dass man alles aß, was sich nur auftreiben ließ: Vögel, Katzen, auch seinen Hund hatten sie gegessen. Hunger setzte in vielen Städten der Sowjetunion ein, kalkulierten die deutschen Okkupanten die Lebensmittelrationen für die einheimische Bevölkerung doch viel zu niedrig. Verhungern156
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lassen war das eine Instrument einer verbrecherischen Krieg führung, Mord das andere. Nahezu alle Verbände des Ostheeres befolgten Kommissarbefehl und Kriegsgerichtsbarkeitserlass. Letzterem fielen während des gesamten Krieges mindestens eine halbe Million Zivilisten zum Opfer. Ebenso war die Umsetzung des Kommissarbefehls «kein Problem für die Truppe»59, wie ein Offizier einer Panzergruppe im August 1941 feststellte. Insgesamt fast viertausend Exekutionen an sowjetischen Politoffizieren und Funktionären zählte die Wehrmacht. Dieses Vorgehen traf zuhause auf Zustimmung, aber auch auf Skrupel. In Hamburg notierte Luise Solmitz schon am 22. Juli 1941: «Selbst friedsame bürgerliche Menschen [hier] hört man sagen: ‹Nur nicht so viele Gefangene machen!› Gewiss ist der Wunsch wirtschaftlich berechtigt, – aber man bedenke nur, was das heisst!!»60 Auch wenn Soldaten die Mordbefehle als unangemessen ansahen: Die Mehrheit sah sich als Befehlsempfänger, die ihre Aufgabe erledigten und das Gehorsamsgebot nicht hinterfragten. Major Hans S. hatte in einem Brief an seine Frau schon im April 1941 den Krieg Deutschlands gegen «Russland» vehement abgelehnt. «Aber ich gehorche, das ist ja klar.»61 Zudem hatte man einen Treueschwur ausschließlich auf den «Führer» geleistet, der eine starke Bindung erzeugte. Nur vereinzelt fanden sich Offiziere, die Exekutionen verweigerten. Außer Vorwürfen, sie seien zu «weich», blieben sie unbehelligt. Diese wenigen Kommandeure machten sich in der Regel nicht verdächtig, Empathie mit den Rotarmisten zu hegen. Ihre Begründung lautete überwiegend – wie im Falle der Heeresgruppe Nord vor Leningrad –, moralischen Schaden von der eigenen Truppe abwenden zu wollen. So untersagte etwa General John Ansat, Kommandeur einer Infanteriedivision, seinen Untergebenen, gefangene Kommissare zu exekutieren, sie seien ja «keine Henkersknechte!» Zugleich befahl er jedoch, die Polit offiziere zumindest auszusondern und an «andere Stellen»62 auszuliefern – an die Feldgendarmerie oder die SS-Kommandos. Das lief letztlich auf ein arbeitsteiliges Verfahren hinaus, in dem die 157
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Wehrmachtsangehörigen nach dem Motto agierten: aus den Augen, aus dem Sinn. Angesichts der erfolgreichen Vorstöße hellte sich die Stimmung im deutschen Hauptquartier auf. Obwohl Personal, Treibstoff, Munition und Verpflegung knapp waren, wagte am 2. Oktober 1941 die Heeresgruppe Mitte ihren Marsch auf die sowjetische Hauptstadt. 78 Divisionen waren beteiligt, knapp zwei Millionen Mann. Stalin ließ Moskau teilevakuieren; selbst Lenins Leiche kam nach Sibirien, der Diktator selbst aber harrte aus. Hitler schürte in Deutschland die Hoffnung auf einen baldigen Sieg. Gerade aus seinem Hauptquartier zurückgekehrt, verkündete er seinen ruhelos auf Neuigkeiten wartenden Zuhörern am 3. Oktober 1941 im Berliner Sportpalast, alles verlaufe «planmäßig» in diesem «größte[n] Kampf der Weltgeschichte»63. Schon vorher hatte er dem Generalstab mitgeteilt, dass er vorhabe, Moskau zu fluten und im «Wasser zu ertränken». Wo bislang die Hauptstadt stehe, «werde ein gewaltiger See gebildet, der die Metropole des russischen Volkes den Blicken der zivilisierten Welt für immer entziehen werde».64 In planerischen Höhenflügen malte Hitler nun die «Germanisierung» der eroberten sowjetischen Gebiete aus: «Verglichen mit der [Häufung von] Schönheit im mitteldeutschen Raum, kommt uns der neue Ostraum heute wüst und leer vor. Aber: auch das flandrische Land ist eine einzige Ebene und doch schön! Die Menschen? Die werden wir hineinbringen.» Das Gebiet müsse «den Charakter der asiatischen Steppe verlieren, europäisiert werden! Dazu bauen wir jetzt die großen Verkehrsstränge an die Südspitze der Krim, zum Kaukasus; an diese Verkehrsstränge reihen sich, wie an eine Perlenschnur, die deutschen Städte, und um diese herum liegt die deutsche Siedlung. Die zwei, drei Millionen Menschen, die wir dazu brauchen, haben wir schneller, als wir denken; wir nehmen sie aus Deutschland, den skandinavischen Ländern, den Westländern und Amerika. Ich werde es ja wohl nicht mehr erleben, aber in zwanzig Jahren wird das Gebiet schon 158
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20 Millionen Menschen umfassen. In dreihundert Jahren wird es eine blühende Parklandschaft von ungewöhnlicher Schönheit sein!»65 Blühende «arische» Landschaften auf der Krim, im Baltikum, aber auch in Galizien und an der Wolga zu errichten, das war die Aufgabe für Himmler als oberstem Germanisierer. Unermüdlich entwarfen die Planer um Konrad Meyer am Reißbrett ideale Musterdörfer und Musterstädte, die künftig die Topographie des eroberten Raumes prägen sollten. 45 Millionen «Fremdvölkische» würden, so eine Schätzung aus dem November 1941, in den besetzten Gebieten der Sowjetunion sowie im Generalgouvernement leben. Von ihnen sollten innerhalb von höchstens 30 Jahren 31 Millionen Menschen «ausgesiedelt» werden. Die Millionen Juden wurden nicht mitgezählt, es wurde offenbar vorausgesetzt, dass sie schon «verschwunden» waren. Für die übrig gebliebenen 14 Millionen Einheimischen entwickelten die Wissenschaftler eine Zukunft als Arbeitssklaven, die den anzusiedelnden 4,5 Millionen Volksdeutschen zur Hand gehen sollten. Von den eben erst aus Estland, Lettland, Litauen hereingeholten Deutschbalten sollten manche wieder zurückgeschickt werden. Dass von der reichsdeutschen Bevölkerung niemand freiwillig in die Ostgebiete übersiedeln wollte und überhaupt die nationalsozialistische Vision vom Lebensraum im Osten nur wenig unter den Volks genossen verfing, beeinträchtigte das Aufbauwerk Ost kaum. Dann wurden eben in Holland und Dänemark Anwerbeaktionen für Siedler gestartet. 5 500 niederländische Männer und Frauen würden sich bis 1944 bereiterklären, in deutschen Diensten gen Osten zu gehen. Zudem ließ Himmler erste Stützpunkte in der Ukraine (Hegewald) und auf der Krim (Gotenland) errichten. Schließlich schwärmten die Screening-Experten aus dem Rasseund Siedlungshauptamt erneut aus. Sie würden im Vorgriff auf die blonde Besiedelung bis Kriegsende insgesamt 1,2 Millionen Volksdeutsche und etwa 1,5 Millionen «Fremdvölkische» mustern. Die radikale Umgestaltung der eroberten Gebiete schritt voran. 159
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Alle, auch ausländische Beobachter, glaubten Ende Oktober, die Deutschen würden Moskau einnehmen. Doch dann war es «plötzlich Winter geworden»66, wie eine Panzerdivision meldete. Es wurde kalt, es regnete. Die Heeresgruppe Mitte steckte zum Verdruss ihres Oberbefehlshabers General Fedor von Bock «in Schlamm und Dreck»67 fest. Nach dem Schlamm kam der Schnee, die Temperaturen fielen auf minus 40 Grad Celsius, die Motoren und Waffen versagten, die Soldaten froren sich buchstäblich zu Tode. Die Wehrmacht verlor in dieser ersten Winterperiode mehr Menschen durch Erfrierungen als durch Kämpfe. Im Reich sammelten die Volksgenossen warme Sachen für kalte Soldaten, was wenig brachte, aber Front und Heimat zusammenschweißte. Zum Sieg sollten auch die «Nichtarier» beitragen. Sie wurden gezwungen, wie Klemperer am 23. Dezember 1941 festhielt, «alle Pelz- und Wollsachen ‹entschädigungslos›» abzuliefern. Seine «Erbitterung über den neuen Raub» wurde aber abgelöst von der «Herzensfreude über die Wendung»68. Denn nicht nur vor Moskau blieb man stecken. Im Norden harrten die Leningrader aus, im Süden kam die deutsche Armee zwar auf die Krim und konnte über Charkow und Rostow hinaus die Ukraine besetzen. Dabei aber blieb es. Der Oberbefehlshaber der besonders bedrängten 4. Panzerarmee Erich Hoepner gestand am 4. Dezember 1941 gegenüber seiner Frau: «Die Kräfte reichen nicht mehr aus. Die Truppe ist im Ganzen am Ende.»69 Nun war nicht das Wetter schuld an der Krise, sondern eine Kriegsplanung, die von vornherein vermessen, ignorant und überheblich gewesen war. Alles war auf eine Karte gesetzt worden: Schnelligkeit. Plan B existierte nicht. Was General Friedrich Olbricht, der Chef des Allgemeinen Heeresamts, am 22. Juni 1941 hellsichtig befürchtet hatte: «Unser deutsches Heer ist nur ein Wind in diesen Steppen»,70 wurde zur bitteren Wahrheit. Hatte die Heeresführung vor Kriegsbeginn den Raum als Gegner identifiziert, so wurde nun die Zeit zum größten Feind der Nationalsozialisten. Denn die riesigen Entfernungen zu überwinden kostete 160
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Zeit für eine Streitmacht, deren Mobilität begrenzt war. Der deutsche Soldat fuhr nicht, er marschierte. Nur fünf Prozent des verfügbaren Budgets in den Jahren 1937 bis 1941 war in die Motorisierung der Wehrmacht geflossen. Wie jedoch sollte man Armeen an einer immer längeren Frontlinie immer weiter entfernt von der Heimat mit Treibstoff, Munition und anderem Nachschub versorgen, wenn man nicht genügend Kraftwagen besaß, sondern nur 650 000 Pferde? Wie sollte man an dieser langen Linie motorisierte Verbände und Infanterie koordinieren, wenn die Wehrmacht nicht die vorhandenen Eisenbahnen als Transportmittel nutzen konnte, weil die Rote Armee sie entweder zerstört oder mitgenommen hatte? Deutsche Lokomotiven und Züge mussten erst aufwendig umgespurt werden. Aus dem Blitzsieg wurde nichts, die Zahl der Gefallenen stieg. Bis zum 1. Dezember 1941 starben fast 160 000 deutsche Soldaten, 31 000 wurden vermisst, mehr als eine halbe Million waren verwundet. Die Wehrmacht stand immer noch vor Moskau, als im Dezember 1941 die sowjetische Gegenoffensive begann. Die Feindauf klärung der Wehrmacht zeigte sich völlig überrascht. Trotz unzähliger gefangen gesetzter Offiziere und erbeuteter amtlicher Unterlagen war es nicht gelungen, sich ein zutreffendes Gesamtbild der sowjetischen Kampfkraft zu verschaffen. So trieb die Rote Armee die deutschen Verbände bei eisiger Kälte bis zu 200 Kilometer zurück in Richtung Westen. Dieser erste Befreiungsakt motivierte die sowjetische Streitmacht, löste man sich doch vom Trauma des vorherigen Versagens und bewies die eigene Regenerationsfähigkeit. Immer mehr Divisionen wurden aus dem Osten des Landes an die Westfront verlagert, aus Sibirien kamen für den Winterkrieg trainierte frische Truppen. Die Luftwaffe verfügte sogar über beheizbare Hangars, die Fahrzeuge waren allwettertauglich. Auch mit der Sicherung des Nachschubs ging es allmählich voran: Ganze Fabriken mitsamt Maschinen und Belegschaft ließ Stalin von West nach Ost hinter den Ural verlagern. So schickte eine im August verlegte Traktorenfabrik im Dezember 161
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1941 ihre erste Lieferung der nun in großer Anzahl produzierten T-34-Tanks an die Front. Frauen übernahmen statt der eingezogenen männlichen Belegschaftsmitglieder sukzessive die Arbeitsplätze. Ob dieser sich abzeichnenden sowjetischen Überlegenheit und der eigenen Organisationsfehler wurde einigen Wehrmachts offizieren angst und bange. Unzufrieden schrieb Hellmuth Stieff Mitte November 1941 seiner Frau, die angeblich «bestausgerüstete Wehrmacht der Welt» laufe abgerissen herum, weil Stiefel und Hosen Mangelware seien. «Einem kann schon das Herz bluten, wenn man dagegen die tadellose Winterausrüstung der jetzt gegen uns neu ins Gefecht tretenden fernöstlichen Divisionen der Russen» sehe. «Aber wir greifen jetzt einfach zur Selbsthilfe und nehmen den Panjes für unsere Leute die hier üblichen Filzstiefel und wattierten Bekleidungsstücke fort. Es ist schon besser, die Bevölkerung verhungert und erfriert als wir. Man wird entsetzlich roh, denn gut 95 Prozent der Bevölkerung ist anständig und vertrauensselig. Aber es geht für uns hier um die nackte Existenz.»71 In der deutschen Führung machte sich Ratlosigkeit breit. Der Befehlshaber des Ersatzheers Friedrich Fromm rechnete nach und kam zu dem Schluss, dass man personell und materiell am Ende sei. Wie Fritz Todt, Minister für Bewaffnung und Munition, riet auch er Ende Oktober 1941, «auf dem Höhepunkt der Macht»72 aufzuhören und Moskau zu einem Friedensschluss zu bewegen. Doch zum Mittel der Diplomatie, ohnehin von deutscher Seite kaum noch bemüht, wollte Hitler nicht greifen. Mit den Russen verhandeln? Aufgeben? Nimmer! Das war die Haltung zu allen noch so zaghaften Initiativen auch aus dem Auswärtigen Amt. Der «Führer» kannte nur eine Parole: Angriff! Oder, wenn das nicht mehr ging: Halten! Halten um jeden Preis! Alle, die sich dieser Taktik widersetzten oder sie kritisierten, wurden kaltgestellt, zuvörderst der «laxe» und als wenig belastbar eingeschätzte herzkranke Brauchitsch, der sein Amt Mitte Dezember 1941 niederlegte. Hitler übernahm nun selbst den Oberbefehl über das Heer, 162
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was Thomas Mann mit den Worten kommentierte: «Dumme Kröte, wann wird sie zertreten.»73 Zugleich wurden alle drei Oberbefehlshaber der Heeresgruppen verabschiedet. Aber dieser Ak tionismus brachte wenig. Zu einer großen Gesamtoffensive sollte es nicht mehr kommen. Auf der Gegenseite unterliefen dem so wjetischen Hauptquartier jedoch auch gravierende Fehler, und trotz aller Fortschritte: Es sollte dauern, bis der katastrophale Zustand der Roten Armee und der Verlust wichtiger Industriestätten und Rohstoffgebiete ausgeglichen werden konnten. Ein langer Zermürbungskrieg, von beiden Seiten in diesem Ringen der antithetischen Diktaturen unerbittlich geführt, bahnte sich an. Einem Soldaten fiel dazu nur Rilke ein: «Wer spricht von Siegen? Überstehen ist alles!»74 Insofern zerfällt der Zweite Weltkrieg auf seinem europäischen Kriegsschauplatz in zwei ungleiche Hälften: Zunächst kurzen, überfallartigen deutschen Eroberungen schloss sich ein Vernichtungskrieg an, dem bis 1945 allein auf Seiten der Sowjetunion ca. 26 Millionen Zivilisten und Soldaten zum Opfer fielen und der große Teile Europas in eine Trümmerlandschaft verwandelte. Der östliche Schauplatz bestimmte dabei wesentlich den Ausgang des Krieges. Vorangetrieben wurde die Eskalation der Gewalt durch die Annahme beider Diktaturen, dass es sich um einen exis tenziellen «Weltanschauungskampf» handele, in dem Normen des Völkerrechts und herkömmliche Moralvorstellungen keinen Einfluss mehr haben dürften. Beide Parteien, so Heinrici schon im Juli 1941, steigerten sich «gegenseitig empor, mit der Folge, dass Hekatomben von Menschenopfern gebracht werden». Und er fuhr fort, «schön ist es hier nicht»75. Der Ursprung der Eskalation lag dabei eindeutig in einer bewussten Entscheidung der deutschen Führung, den Krieg gegen die Sowjetunion als rassenideologischen Vernichtungskrieg zu führen. Die Wehrmacht schuf dafür die Voraussetzungen und wurde zugleich Teil der Vernichtungspolitik: mit ihrer Ignoranz gegenüber den hohen Sterbequoten unter den russischen Kriegs163
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gefangenen, mit einer Partisanenbekämpfung, die zu einem Abschlachten von Männern, Frauen und Kindern ausartete, und durch ihre aktive Einbindung in den Holocaust. Diesen wiederum nährte der Glauben der NS-Führung, die Juden hintertrieben die deutsche Expansion und seien schuld am stockenden Erfolg. Die sowjetische Zivilbevölkerung wurde derweil immer stärker ausgepresst. Rücksichtslos requirierten Armee und Besatzungsverwaltung Nahrungsmittel; bald sei, so Heinrici am 19. November 1941 an seine Familie, «der Landstrich, in dem wir sitzen, leer gefressen»76. Auch wenn einzelne Kommandeure und Soldaten die Befehle unterliefen, darbenden Einheimischen etwa Teile ihrer Rationen gaben oder Dorfbewohnern ihre einzige Kuh, ihr einziges Schwein ließen: «selbst dem letzten Bauer» in der Ukraine, so ein Vertreter des Auswärtigen Amts bei der 6. Armee am 4. April 1942 selbstkritisch, sei jetzt «klar, dass der Deutsche nicht als selbstloser Befreier ins Land kam». Der «Hungertod oder die Vernichtung von Millionen»77 seien völlig egal. Ökonomisch machte das alles keinen Sinn, wie der Rüstungsinspekteur Ukraine dem Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamts schon Anfang Dezember 1941 geklagt hatte: «Wenn wir die Juden totschießen, die Kriegsgefangenen umkommen lassen, die Großstadtbevölkerung zum erheblichen Teile dem Hungertode ausliefern, im kommenden Jahre auch einen Teil der Landbevölkerung durch Hunger verlieren werden, bleibt die Frage unbeantwortet: Wer denn hier eigentlich Wirtschaftswerte produzieren soll.»78 Wie in Polen gerieten die übrig gebliebenen Bewohner mit steigender Tendenz als Arbeitskräfte ins Visier der deutschen Besatzer. Die Ukraine sollte bald zum zweitwichtigsten Rekrutierungsgebiet für Zwangsarbeiter werden. Im Rahmen von «Fang aktionen» wurden Razzien durchgeführt, Häuser durchsucht und die Einwohner mitgenommen. Die betroffenen Gesellschaften mussten realisieren, dass sie von einer Diktatur unter die nächste gefallen waren. Allen Bestrebungen auf eine neue nationale Souveränität schoben die Deutschen einen Riegel vor, bislang gedul 164
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dete nationale Organisationen wurden verboten, ihre Führer verhaftet, die baltischen Staaten nicht wiederhergestellt, die antirussische Stimmung nicht für sich genutzt. In London zeichnete David Low Hitler vor einem Galgen stehend, an dem Männer und Frauen hingen, ratlos Himmler fragend: «Warum mögen sie uns bloss nicht, Heinrich?»79 Manche Soldaten entwickelten durchaus ein Sensorium für ihre Partizipation an einem verbrecherischen Krieg, für die eigene Verrohung. Der 21-jährige Walter Luhan beschrieb im Fe bruar 1942 sich und die Kameraden als Landsknechte, als Solda teska: «So sehr mir auch die winterliche Schlittenfahrt gefällt, so furchtbar ist es, wenn wir in ein Dorf kommen. Von Kultur und Zivilisation ist dann bei uns nichts mehr zu spüren. Wie blutgierig lechzende, sadistische Räuber gehen wir von Haus zu Haus und plündern und rauben der wehrlosen Bevölkerung alles aus, was für uns von irgendeinem Wert sein könnte.» Ein «Heuschreckenschwarm oder Hunnen könnten nicht ärger hausen. Gerade, daß wir ihnen noch das bißchen Leben lassen.»80 Der junge Leutnant und gläubige Protestant Fritz Farnbacher machte sich in seinem Tagebuch Gedanken darüber, wie die sowjetischen Einwohner mit all der Zerstörung zurechtkämen. Am Ende beruhigte er sein Gewissen mit der Feststellung, dass man nicht danach fragen dürfe, «ob die Zivilbevölkerung verhungert oder erfriert oder sonst umkommt». Es müsse wohl so sein, «um den Russen wenigstens etwas Einhalt zu gebieten». Gleichwohl sei er so «dankbar», dass er noch «keinen einzigen Schuss abgegeben», keine «Gans geschlachtet», «kein Haus angebrannt», keinen «Befehl zur Erschießung irgend eines Russen erteilt» habe. «Ist doch schon genügend gemordet, gebrannt, zerstört worden in diesem unseligsten aller Kriege!»81 Das war am 7. Dezember 1941. Die Überheblichkeit war verschwunden. Anders als bei den bisherigen Feldzügen schlug das Pendel der Gewalt an der Ostfront um, wurden die Angehörigen der Wehrmacht selbst zur Zielscheibe einer ungeheuren Brutalität. Ein Soldat ermahnte sich: 165
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«Hart und härter werden! Wir haben nicht mehr den frisch- fröhlichen Krieg von Polen und Frankreich.»82 Gerade kritische Offiziere wie Stieff, die glaubten, aus Verantwortung für die ihnen anvertrauten Untergebenen Befehlsverweigerungen oder gar kollektives Auflehnen gegen den «Wahnsinn» unterbinden zu müssen, haderten mit der Situation und mit sich. Als seine Frau ihm Anfang Dezember 1941 Vorwürfe machte, nicht hart genug zu sein, brach es aus ihm heraus. Seine Weichheit sei längst verschwunden: «Ich gebe heute besinnungslos den Befehl zum Erschießen von soundsoviel Politruks oder Partisanen, er oder ich – das ist verdammt einfach. Ich überlege mir allerdings, ob ich einen deutschen Menschen und Kameraden in den Tod jage.» Jeder «Kreuzzug» sei ihm «schnuppe», man kämpfe hier um sein «eigenes nacktes Überleben, täglich und stündlich, gegen einen auf a llen Gebieten auf der Erde und in der Luft vielfach überlegenen Gegner». Erschöpft beendete er den Brief mit den Worten: «Ich will aufhören. Du versteht mich doch nicht.»83 Stieff aber verstand sich selbst nicht mehr. Oder wie es ein anderer deutscher Wehrmachtsangehöriger ausdrückte: Man werde gefühllos, roh, man sei nicht mehr «man selbst»84. Der maßlose Expansionismus des Dritten Reiches spiegelte sich in der psychischen Überdehnung seiner Soldaten. Einen Monat später – die deutsche Kampagne stand immer noch, die sowjetische Offensive lief – war Stieffs Aufbrausen Zermürbung und Selbstanklage gewichen. Er schrieb: «Wir alle haben so viel Schuld auf uns geladen – denn wir sind ja mitverantwortlich, daß ich in diesem einbrechenden Strafgericht nur eine gerechte Sühne für alle die Schandtaten sehe, die wir Deutschen in den letzten Jahren begangen beziehungsweise geduldet haben. Im Grunde genommen befriedigt es mich zu sehen, daß es doch eine ausgleichende Gerechtigkeit auf der Welt gibt! Und wenn ich ihr selbst zum Opfer fallen sollte. Ich bin dieses Schreckens ohne Ende müde.»85
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Neue Eskalationen Der Schrecken jedoch ging weiter. Am 7. Dezember 1941 griff die japanische Armee Pearl Harbor an, tags darauf erklärte Wa shington Tokio den Krieg. Obwohl Hitler durch den Dreimächtepakt nicht dazu verpflichtet war, erklärte Deutschland den USA am 11. Dezember den Krieg, was das Weiße Haus wiederum um gehend beantwortete. Goebbels notierte in sein Tagebuch: «Über die Entwicklung herrscht beim Führer und im ganzen Hauptquartier hellste Freude.» Alle Ideen einer jüdischen Verschwörung gegen den arischen Rest der Welt schienen sich bewahrheitet zu haben. Die Wehrmacht stand immer noch weit auf sowjetischem Boden, dominierte den größten Teil Europas: Warum sollte man es dann nicht auch gleich dem «Judenfreund» Roosevelt heimzahlen? Der «Verwirklichung des deutschen Weltmachttraums», so der Propagandachef, stehe «nichts mehr im Wege»86. An die Stelle schwerer Depression über die Stagnation im Osten trat Hochstimmung. Ähnlich euphorisch reagierten auch andere. Obwohl sie einen Sohn beim Untergang der «Bismarck» verloren hatte, schrieb Grete Dölker-Rehder, eine naziaffine Schriftstellerin: «Unsre Jungen, besonders Soldaten», seien froh, «dass es nun richtig losgeht gegen diese Kriegstreiber u. Kriegsgewinnler, gegen diese ganze gemeine Judenmeute!» Allein der mangelnde Kampfgeist von «Dienstmädchen» und «Frauen in der Straßenbahn» betrübte sie: «Ich beobachtete immer wieder, dass trotz aller Aufklärungsarbeit die Leute ohne höhere Gesichtspunkte u. ohne Ideale sind.»87 In Warschau erfasste Wilm Hosenfeld Pessimismus: «Die neue Welt hat den vorigen Krieg entschieden. Sie wird ihn auch diesesmal zu unserm Unglück entscheiden.»88 In Pacific Palisades gab Thomas Mann Roosevelt seinen Segen: «Was er getan, mußte sein. Möge es gut werden.»89 In London war Churchill unendlich erleichtert: «Übersättigt von Aufregung und Gefühlsstürmen, 167
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ging ich zu Bett und schlief dankbar den Schlaf des Geretteten.»90 Gerettet war auch Stalin. Tokio ließ Moskau weiterhin in Ruhe, und mit den USA war er nun offiziell mit einer Großmacht im Bunde. Das Dritte Reich hatte nach der Sowjetunion nun auch die Vereinigten Staaten wieder nach Europa geholt. Es hatte damit einen Gegner, der Briten und Sowjets umfassend mit Waffen, Munition und Ausrüstung versorgte und dessen eigenes militärisches Potential das der deutschen Armee und ihrer Verbündeten weit überstieg. Nüchtern betrachtet, wurde ein Sieg endgültig unwahrscheinlich. Aber um Rationalität im anerkannten Sinne war es in diesem Kreuzzug nie gegangen. Nach der Kriegserklärung an die USA änderte sich jedoch zunächst wenig. Das Jahr 1942 brachte der Wehrmacht eine Verschnaufpause, die sowjetische Offensive verlor an Durchschlagskraft, die Soldaten hatten Zeit, sich mental und körperlich zu erholen. Resigniert hielt Klemperer am 8. Februar 1942 fest: «Nirgends ein Lichtblick.» Der Krieg gehe bestimmt «für Deutschland verloren, aber wann? Und wer erlebt es?»91 Nach dem militäri schen Revirement stellte sich das Regime auch wirtschaftlich neu auf. Am 8. Februar trat Hitlers Lieblingsarchitekt und Vertrauter, der 42-jährige Albert Speer, die Nachfolge des tödlich verunglückten Fritz Todt als Reichsminister für Bewaffnung und Munition an. Er ließ der Privatwirtschaft größeren Spielraum, bestand auf Rationalisierungsmaßnahmen, verteilte Rohstoffe und Transportkapazitäten neu – und erwies sich als durchsetzungsstark. Die Zahlen der Panzer- und Geschützproduktion sollten sich bis 1944 verdreifachen. Das waren beeindruckende Dimensionen. Speer aber setzte eine Entwicklung fort, die schon vor seinem Amtsantritt begonnen hatte. Und: Die Erfolge wurden nicht zuletzt durch Millionen Zwangsarbeiter erkauft. Deren «Einsatz» lag seit dem 21. März 1942 in Händen des thüringischen Gauleiters Fritz Sauckel. Als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz ließ er aus den besetzten Ländern Millionen Zwangsarbeiter entführen, der Ausländeranteil an der Arbeiterschaft erhöhte 168
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sich 1942 auf 20 Prozent. 1943 sollte man bei der Firma Telefunken davon schreiben, Arbeitskräfte aus Frankreich «herauszu sauckeln». Herbert Backe schließlich übernahm am 23. Mai 1942 faktisch die Leitung des Landwirtschaftsministeriums – anstelle seines nunmehr beurlaubten, aber schon länger kaltgestellten Chefs Walther Darré. Speer, Sauckel und Backe schufen mit ihren radikalen Maßnahmen die Grundlage dafür, dass das Dritte Reich trotz der Krisen im Herbst/Winter 1941 und trotz der drückenden Überlegenheit der Alliierten ökonomisch noch dreieinhalb Jahre durchhalten sollte. Neben Arbeitern brauchte das Regime Soldaten. Insgesamt sollten über 17 Millionen Reichsdeutsche und Hunderttausende Volksdeutsche eingezogen werden. Doch das reichte weder für das ausgedehnte Operationsgebiet noch für die Sicherung des riesigen Hinterlandes. Auch hier füllten, je länger der Krieg dauerte, in immer größerem Umfang Ausländer die Lücken. Vermutlich riskierten fast vier Millionen Ausländer, einschließlich der Soldaten der Verbündeten, für das Dritte Reich ihr Leben. 1944 sollten nur noch 45 Prozent der 910 000 Männer der Waffen-SS deutsche Staatsbürger sein. Wehrmacht, SS und Besatzungsbehörden warfen sukzessive und unter mühseliger Überzeugungsarbeit bei Hitler nahezu allen völkisch-rassischen Purismus über Bord und bewaffneten sogar Russen und «Ostvölker» wie Tartaren und Kosaken. Vertrauen konnten sie dabei zunächst auf eine durchaus vorhandene Popularität der siegreichen Wehrmacht und ihres Kreuzzuges gegen den Kommunismus, auch in den besetzten westlichen Ländern. So schrieb etwa der norwegische SS- Mann Josef Hansen am 10. Januar 1942: «Ich bin dem Führer dankbar, dass uns Norwegern erlaubt wurde, am Kampf gegen den Bolschewismus teilzunehmen.» Schließlich gehe es jetzt «um Europas Sein oder Nichtsein»92. Propagandistisch ließ sich diese starke Beteiligung von «Freiwilligen» aus der Ukraine, Weißrussland, Serbien, Holland, Polen, Frankreich, Norwegen, Dänemark, überdies aus neutralen Staaten wie Spanien, Portugal und der 169
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Schweiz als europäische Einheitsfront feiern. Später aber be herrschte Zwang die Aushebungen. Wo dies möglich war, wie etwa bei Skandinaviern, die Zeitverträge hatten, entzog man sich der deutschen Bevormundung. Dass dieser Krieg weitergehen, dass die Wehrmacht konzen triert in Osteuropa operieren konnte, hing neben dem Nachschub an Material und Menschen auch mit der ausbleibenden zweiten Front zusammen. Denn die westlichen Alliierten zögerten. Zum Ersten fürchtete man den unberechenbaren Stalin. Zum Zweiten musste die amerikanische Rüstungsmaschinerie erst einmal anlaufen, um die nötige materielle Überlegenheit für eine Invasion auch tatsächlich zu erreichen. Und zum Dritten war man sich nicht einig, wo und wie man auf dem Kontinent landen sollte. Einzig die Ausweitung des strategischen Bombenkriegs gegen Deutschland und seine Verbündeten sollte das Reich unter Druck setzen. Nicht die Diktaturen, sondern die Demokratien führten am konsequentesten Schläge aus der Luft. Am 14. Februar 1942 beschloss das britische Kabinett die Area Bombing Directive, die neben der Zerstörung von Industrie und Infrastruktur ein massives Flächenbombardement auf Siedlungsgebiete vorsah. Die Moral der Deutschen sollte gebrochen und die Zivilbevölkerung in eine Rebellion gegen die NS-Regierung getrieben werden. Geleitet wurde die Offensive von Arthur Harris, einem Mann mit einer Mission, von seinen Mitarbeitern ob seiner Grobheit als butcher tituliert. Lübeck war am 29. März das erste Ziel. Die Zerstörungen seiner Heimatstadt bedrückten Thomas Mann zutiefst. Dennoch hatte er eingedenk von Coventry «nichts einzuwenden gegen die Lehre, daß alles bezahlt werden muß»93. Weitere verheerende Angriffe auf Köln, Essen, Bremen und andere Städte mit Hunderten von Bombern folgten. Die deutsche Flugabwehr war zwar effektiv, band aber Personal und Jagdflugzeuge. Berlin suchte nach Alternativen und ließ die «Vergeltungswaffen», die Flugbombe V1 und die ballistische Rakete V2, ent wickeln; vor allem Letztere brachte eine technische Innovation. 170
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Zum anderen sorgte man für symbolische, militärisch aber unergiebige Nadelstiche, die sogenannten Baedeker-Angriffe, die kulturell bedeutende Ziele wie Bath, Exeter oder Canterbury ansteuerten, letztlich aber nur den Hass der Briten schürten. Im Gegenzug unterstützte Downing Street den Widerstand gegen Deutschland auf dem Kontinent. Himmler sollte auf die se Weise seinen wichtigsten Organisator der Verfolgungs- und Mordmaßnahmen, Reinhard Heydrich, verlieren. Am 27. Mai 1942 verletzten in Prag zwei Attentäter den seit Neuraths Kaltstellung im September 1941 de facto amtierenden Reichsprotektor für Böhmen und Mähren auf einer Fahrt zu seinem Dienstsitz so schwer, dass er an den Folgen starb. Der Einsatz war in Großbritannien vorbereitet worden, die Männer waren mit Fallschirmen aus Maschinen der Royal Air Force abgesprungen. «Ein Menschenschlächter gerichtet»,94 gratulierte der Pfarrer von Thaya in seiner Chronik. Als Vergeltung wurde unter anderem der kleine Ort Lidice niedergebrannt, dessen Bewohner angeblich den Attentätern Unterschlupf gewährt hatten. In Dresden wusste Klemperer am 24. Juni Genaueres: «In der Zeitung stand offiziell: Man habe die Heydrichmörder in einer Prager Kirche erschossen», erzählt werde aber: «Das Dorf, in dem die Leute gehaust, existiere nicht mehr. Die Männer erschossen, die Familien im KZ, die Häuser zerstört – nur noch Ackerland, über das der Pflug geht.»95 86 Kinder aus Lidice wurden umgebracht, zwölf «eindeutschungsfähige» Jungen und Mädchen kamen in neue Familien in Österreich und im Altreich. Blonde blauäugige Kinder erregten wegen ihres vermeintlichen «germanischen Rassekerns» die besondere Aufmerksamkeit der SS und des «Lebensborn». Letztlich wurden unter Mithilfe von Gesundheitsämtern, Amtsgerichten und dem Deutschen Roten Kreuz etwa 50 000 Jungen und Mädchen aus Waisenhäusern in ganz Osteuropa entführt oder ihren Eltern entrissen. Häufig traf es die Kinder getöteter oder inhaftierter, vermeintlicher oder tatsächlicher Partisanen. Nach einer Odyssee durch mehrere Lager landeten die Kinder in der Regel 171
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in Heimen des «Lebensborn», in denen dann reichsdeutsche Pflegeeltern sich ihren neuen Nachwuchs aussuchten. Ein künftiger Vater in Hamburg sollte im März 1943 an Himmler schreiben, nach der ersten «kleine[n] Enttäuschung», weil «der aus erwählte Hans-Dieter mit seinem ausgesprochenen Rundschädel nicht ganz in unsere Familie […] hineinpasste», habe man dann «fast auf Anhieb den kleinen Wilhelm [gefunden], der blond und blauäugig ein richtiger deutscher Junge zu werden verspricht»96. Das Attentat auf Heydrich im Mai 1942 war der spektakulärste Ausdruck eines wachsenden Widerstandes gegen die deutschen Besatzer. Doch auch die Partisanen gewannen an Zulauf – wie etwa in Serbien, Slowenien, Weißrussland, dem ehemaligen Ostpolen oder auch in der Region um Leningrad. Dort litt man besonders unter der deutschen Terrorpolitik, sah, was mit den Juden passierte, und wollte einem ähnlichen Schicksal vorbeugen. Konrad Jarausch hatte Mitte September 1941 bemerkt: «Wir leben auf Kosten dieser Völker und saugen sie bis aufs Letzte aus. Wie soll dadurch etwas anderes entstehen als Verbitterung und der Wunsch, diese Fremdherrschaft loszuwerden?»97 Hellmuth Stieff protokollierte im November 1941, dass «unsere vielgepriesene ‹Neuordnung› bereits zur ‹organisierten Unordnung› Europas geworden» sei. Die Aufstände «sind überall Legion»98. Irreguläre sprengten Eisenbahnlinien, Brücken, Strom- und Telefonmasten, töteten NS-Funktionäre, aber auch «Kollaborateure». Ihre Ziele und Motive differierten, politisch reichte das Spektrum von Kommunisten wie Tito über demokratische Gruppen bis hin zu radikal-nationalistischen Verbänden wie der zerstrittenen Organisation Ukrainischer Nationalisten, die unter dem Motto kämpften: weder Hitler noch Stalin. Die Kommunisten wurden von Moskau unterstützt, andere Widerstandsgruppen von den westlichen Alliierten und den in London versammelten Exilregierungen. Die wachsende Repression, vor allem aber die Jagd nach Arbeitskräften, ließ Männer, 172
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Frauen und Kinder im deutsch besetzten Europa eine Bleibe bei Freischärlerverbänden in Wäldern und Sumpfgebieten suchen. Das Leben als Partisan mochte Stoff für Legenden schaffen, in der Realität ließ es wenig Platz für Heroik. Freischärler brauchten Mut, kannten aber nur Freund oder Feind. Gefährten wurden auch mit Erpressung und Gewalt rekrutiert, Verräter umgebracht. Zum Teil entstanden raubgierige Beutegemeinschaften. Ein junger sowjetischer Partisan schrieb Anfang 1942 in sein Tagebuch: «Haben einen Verräter erschossen. Am Abend bin ich nochmal da gewesen, um es mit seiner Frau genauso zu machen. Schlimm, dass sie drei Kinder hinterlässt, aber so ist der Krieg!!!» Eine Woche später notierte er: «Reiche Beute gemacht.»99 Guerillakämpfer – wie ihre Antipoden, die einheimischen Mitarbeiter der deutschen Besatzungsmacht – bildeten nur einen kleinen Ausschnitt der besetzten Gesellschaften. Vermutlich die meisten Europäer unter deutscher Herrschaft versuchten, sich abseitszuhalten und irgendwie den Krieg zu überleben. Das aber wurde im besetzten Osteuropa immer schwieriger. Bedeutete schon die neue NS-Administration Chaos, Brutalität, Korruption und Bereicherung, so brachen unter dem Dach des deutsch- sowjetischen Antagonismus und neben den small wars der Partisanen ethnisch oder politisch konnotierte Bürgerkriege aus. Deren Protagonisten nutzten die Gelegenheit, Tabula rasa mit ihren ehemaligen Nachbarn zu machen. Im Oktober 1941 hatte beispielsweise ein Flugblatt ukrainischer Nationalisten verkündet: «Es lebe die große selbstständige Ukraine ohne Juden, Polen und Deutsche. Polen hinter den San, Deutsche nach Berlin, Juden an den Haken.»100 Derartige Aufrufe brachte wiederum die aus London unterstützte polnische Heimatarmee Armia Krajowa (AK) auf den Plan, die mit Vergeltungsaktionen die Spirale der Gewalt weiter drehte. Die Konflikte hatten ihre Wurzeln in schon länger andauernden Gegensätzen, die sich seit dem Ersten Weltkrieg immer wieder gewaltsam entladen hatten und von den Deutschen gezielt verstärkt wurden. Die betroffenen Gesellschaften wurden 173
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bis in die Familien hinein von den unterschiedlichen Anforderungen der deutschen Besatzer, der freiwillig oder durch Erpressung kollaborierenden Lokalbeamten und Kirchenmännern sowie von den verschiedenen Partisanengruppen zerrieben und gespalten. Die Großregion zwischen Baltikum und Krim verwandelte sich endgültig in bloodlands.101 Auch im Westen wuchs der Widerstand, die Lebensverhältnisse verschlimmerten sich, «Europa hungert»,102 hatte Lindgren schon im November 1941 in ihr Tagebuch notiert. Immer häufiger kam es zu Attentaten auf deutsche Besatzungsangehörige. In Paris weigerte sich Otto von Stülpnagel 1941/42, den Forderungen von OKW und Hitler nachzukommen und als Repressalmaßnahme
massenhaft Franzosen erschießen zu lassen. Doch konnten er und der mittlerweile aus dem RSHA in die Militärverwaltung Frankreichs abgeschobene Best sich vorstellen, Juden zu opfern. Die NS-Führung beharrte indes darauf, auch nichtjüdische Franzosen bluten zu lassen. Stülpnagel trat zurück, sein entfernter Verwandter Carl-Heinrich von Stülpnagel wurde sein Nachfolger. Best wechselte ins Auswärtige Amt und ging als Statthalter nach Dänemark. Zugleich übernahm im Juni 1942 der Höhere SS- und Polizeiführer Carl-Albrecht Oberg die Bekämpfung der anwachsenden Résistance. Die Lage eskalierte nicht nur in Frankreich, die deutschen Einsatzkräfte sahen überall die Verwaltung und Ausbeutung der okkupierten Gebiete bedroht und reagierten grausam. Bis Kriegsende sollten SS, Polizei und Wehrmacht und ihre nichtdeutschen Hilfskräfte im Rahmen der Aufstandsbe kämpfung insgesamt bis zu eine Million Menschen ermorden. Im Reich wie in den besetzten Gebieten füllten sich die Haftstätten und Konzentrationslager mit Gegnern aus ganz Europa. In Berlin übernahm Himmler persönlich das RSHA, bis er etwas überraschend den 40-jährigen Chef der österreichischen SS Ernst Kaltenbrunner am 30. Januar 1943 als neuen Leiter installierte.
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Niederlagen Inmitten der Gewaltwellen von Partisanen- und Bürgerkriegen, von Terror und Massenmord wälzte sich die Wehrmacht wieder durch die Sowjetunion – zunächst mit Erfolg. Am 28. Juni 1942 startete sie den «Fall Blau», die Sommeroffensive. Im zweiten Anlauf sollte gelingen, was ein Jahr zuvor gescheitert war: die Heeresgruppe A bis zur Ostküste des Schwarzen Meeres, bis zu den dringend benötigten Ölfeldern von Grosny und in den Raum von Baku vorstoßen zu lassen. Die Heeresgruppe B, im Kern die 6. Armee unter dem Ziehsohn des mittlerweile verstorbenen Reichenau, General Friedrich Paulus, beorderte Hitler nach Stalingrad, um die Wolga zu blockieren. Zudem hob der Diktator den Kommissarbefehl auf, um «die Neigung zum Überlaufen und zur Kapitulation eingeschlossener sowjetrussischer Truppen zu steigern»103. In seinem Optimismus gestützt wurde Hitler durch den spektakulären Sieg Rommels in Nordafrika. Klemperer notierte dazu: «Sehr starker Eindruck»,104 Luise Solmitz: der «Lettow-Vorbeck von heute»105. Der Generalfeldmarschall in spe konnte am 21. Juni 1942 die Briten, die Vorbereitungen für die Schaffung einer zweiten Front trafen, bei der Festung Tobruk schlagen. Der palästinensische Lehrer Khalil Sakakini notierte in sein Tagebuch: «Die Araber in Palästina jubelten, als die britische Bastion Tobruk den Deutschen in die Hände fiel.» Die gesamte arabische Welt freue sich, «in Ägypten, Palästina, dem Irak, Syrien und im Libanon, nicht weil sie die Deutschen liebten, sondern weil sie die Engländer wegen ihrer Politik in Palästina nicht mochten».106 Auch in Kairo skandierten Demonstranten: «Vorwärts Rommel!»107 In Russland zogen die deutschen Streitkräfte tausend Kilometer nach Südosten. Der Moskauer Potentat reagierte am 28. Juli 1942 mit dem Durchhaltebefehl «Keinen Schritt zurück», wonach jeder Meter sowjetischen Bodens bis zum letzten Blutstropfen zu 175
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verteidigen sei. Die Deutschen zeigten sich davon unbeeindruckt. Unablässig bombardierte ab Ende August 1942 die Luftwaffe das heutige Wolgograd. Bis zu 40 000 Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein. Ohnmächtig musste Stalin dem erneuten Vorrücken zusehen, da die Rote Armee massiert vor Moskau stand und irrigerweise dort den deutschen Angriff erwartet hatte. 200 000 Rotarmisten gerieten in Gefangenschaft, Waffen und anderes Kriegsgerät fielen in deutsche Hände. Ein Hamburger Soldat schrieb an seine Frau: «Die Roten» scheinen «ins Laufen gekommen zu sein. Hoffentlich bleiben sie dabei.»108 In dieser Phase, Mitte 1942, erreichte die deutsche Besetzung der Sowjetunion ihre größte Ausdehnung – entlang einer Linie von Leningrad über Stalingrad bis hin zum Schwarzen Meer. 55 bis 65 Millionen Menschen standen unter deutscher Besatzung. Deprimiert schrieb Klemperer am 6. August 1942, die deutsche Offensive schiebe sich dem Kaukasus «immer näher, und die Engländer und Amerikaner sehen untätig zu. Ich glaube nicht mehr an das nahe Kriegsende. Ich halte nicht einmal den Endsieg Deutschlands – vielleicht in Form eines günstigen Kompromisses – für ganz ausgeschlossen.»109 Vom Sieg fest überzeugt zeigte sich zum gleichen Zeitpunkt der Soldat aus Hamburg, wenn «auch die völlige Vernichtung des Bolschewismus vielleicht in diesem Jahr nicht gelingt» und der «Alltag nicht immer rosig»110 sei. Einen leichten Stimmungsaufschwung auch unter den Volksgenossen registrierte der Schweizer Generalkonsul Hans Gremminger Anfang September in München. Jubel wie weiland bei der Einnahme von Paris stelle sich aber nicht ein. Der lange Zeitraum und die «mit der Zeit fühlbar werdenden Verluste von Angehörigen» wirkten sich aus, der «grosse Schicksalskampf, der inzwischen in Russland eingesetzt hat, lastet immer schwerer auf den Gemütern».111 Dem «Führer» waren die Toten egal, ihn beflügelten die Vorstöße, glaubte er doch, den Krieg noch jahrelang fortsetzen zu können. Allein, das nach außen so spektakuläre, aber extrem raum 176
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greifende Vorgehen überdehnte die deutschen Kräfte endgültig. Weder Fronten noch Hinterland ließen sich mit den zur Ver fügung stehenden Truppen halten. Man hatte sich, so Heinrici schon Ende 1941, langsam, aber sicher «ans Ende unserer Kräfte gesiegt»112. Der Vormarsch geriet wieder ins Stocken. Franz Halder schrieb am 23. Juli 1942 in sein Tagebuch: «Die immer schon vorhandene Unterschätzung der feindlichen Möglichkeiten nimmt allmählich groteske Formen an und wird gefährlich.»113 Heftiger als je zuvor gerieten nun Hitler und Halder aneinander, und am 24. September 1942 war es aus: Der Generalstabschef des Heeres wurde durch den getreuen Gefolgsmann und draufgängerischen General Kurt Zeitzler abgelöst. Hiobsbotschaften kamen nicht nur aus der Sowjetunion, auch in Nordafrika ging es für die Deutschen «in die Hosen»114, wie Astrid Lindgren notierte. Nachdem im Juli 1942 die Alliierten die deutsch-italienischen Panzerverbände bei El Alamein gestoppt hatten, begann am 23. Oktober Generalleutnant Bernard Mont gomery den britischen Gegenangriff. Am 8. November lief unter dem Decknamen «Torch» die Landung alliierter Truppen in Algier und Casablanca an, bei den Klemperers glomm «ein Fünkchen Hoffnung»115 auf. Obwohl von Berlin dazu aufgefordert, lehnte es die Vichy-Regierung ab, an der Seite der Achsenmächte in den Krieg einzutreten, und wurde daraufhin abgesetzt. Die Wehrmacht marschierte am 11. November 1942 in die unbesetzte Zone Frankreichs ein, Pétain überließ die Macht «dem kleinen Scheißer Laval», der, wie Lindgren mutmaßte, «Hitler gehorsam folgt»116. Ein großer Teil der französischen Kolonien setzte sich ab und lief zu de Gaulles «Freiem Frankreich» über. Das südliche Mittelmeer gehörte den Alliierten. Die Deutschen wurden zunehmend nervöser. Nicht nur in der Sowjetunion, auch in Jugoslawien fügten mittlerweile Partisanen verbände Wehrmachtseinheiten schwere Verluste zu. Der in Serbien eingesetzte General der Pioniere Walter Kuntze hatte schon im Juli 1942 verkündet, dass «zu viel verhaftet und zu wenig er177
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schossen»117 werde. Im Oktober 1942 richtete Himmler die Stelle eines Bevollmächtigten für die «Bandenbekämpfung» ein und besetzte sie mit dem HSSPF Erich von dem Bach. Ende 1942 ergingen mehrere Befehle des OKH und OKW, jedes Mittel gegen die Aufständischen anzuwenden, auch gegen Frauen und Kinder, solange es nur zum Erfolg führe. Partisaninnen, aber auch Soldatinnen, wurden zu einem besonderen Hassobjekt von Wehrmacht und SS. Schon Reichenau hatte in seinem Erlass aus dem Oktober 1941 gemahnt, dass der Kampf gegen den Feind hinter der Front «noch nicht ernst genug genommen» werde, würden doch fortgesetzt «heimtückische, grausame Partisanen und entar tete Weiber zu Kriegsgefangenen gemacht»118. Seit 1942 riefen immer mehr Generäle zu unerbittlicher Härte gegen die etwa 800 000 Rotarmistinnen sowie die Frauen und Kinder im «Bandenkrieg» auf. Dieses Übermaß an Gewalt rief Kritiker auf den Plan. Im August 1942 klagte der nationalkonservative Werner Otto von Hentig als Vertreter des Auswärtigen Amts in der Südukraine, dass nur «kurzer Prozess» gemacht werde. Besser wäre es doch, «die Größe des Gegners» anzuerkennen und «dem russischen Soldaten, Kommandeur und Kommissar, ja auch den bei uns stets mit ‹Flintenweibern› bezeichneten Frauen Gerechtigkeit angedei hen»119 zu lassen. «Gerechtigkeit» indes war nicht die Kategorie, mit der andere Opponenten wie Rosenberg, Best, Goebbels und auch Frank – der es in seinem Generalgouvernement ebenfalls mit einer immer feindseligeren Bevölkerung zu tun hatte – operierten. Sie unterzogen die Gewaltexzesse vielmehr einer kühlen Kosten-Nutzen-Rechnung. Danach waren die deutschen Methoden dysfunktional, weil man mit «der völligen Vernichtung der Rechtssicherheit»120, so Frank im Herbst 1942, sich selbst ein Bein stelle und so nie die Einreihung der Völker in die antibolschewistische Abwehrfront erreichen werde. Doch alle Vorschläge verhallten ungehört. Die Selbstverpflichtung der nationalsozialistischen Bewegung auf ein fortwährend dynamisches Vorgehen, auf 178
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aggressive Expansion, Terror und Massenmord sah keinerlei Zugeständnisse vor. Diese Unerbittlichkeit sollte sich auch in Stalingrad zeigen. Am 19. November 1942 startete die Rote Armee hier ihre Gegenoffensive. Es ging um Symbolik, und dementsprechend erbarmungslos verhielten sich beide Diktatoren. Hitler erteilte allen Vorschlägen, das militärisch aussichtslose Unternehmen abzubrechen, eine Absage. Stalin wiederum ließ unaufhörlich neue Truppen heranführen. Die sowjetischen Generäle gingen mit großer Brutalität gegen zurückweichende Soldaten vor. Insgesamt verlor die So wjetunion in der Schlacht durch Tod, Verwundung oder Gefangennahme eine Million Soldaten. Dennoch gelang es der 6. Armee unter Paulus nicht, die Stadt einzunehmen. Schlimmer noch, 195 000 deutsche Soldaten sowie Reste der rumänischen, italie nischen und ungarischen Heere und der sowjetischen Hilfstruppen wurden eingekesselt. Einen Ausbruch lehnte Hitler ab und gab stattdessen den Befehl auszuharren, er würde für Entsatz sorgen. Doch das Vorhaben misslang, und auch die von Göring versprochene Luftbrücke konnte die notwendigen Lebensmittel nicht heranschaffen. Bedrückung stellte sich ein. Der Gefreite Wernfried Senkel ließ am 4. Dezember seine Eltern wissen: «Ich habe nur einen großen Wunsch, und der wäre: Wenn diese Scheiße bald ein Ende hätte. Daß wir Rußland den Rücken kehren könnten. – Ob wir das mal noch mit erleben werden. Wir sind alle so niedergeschlagen.»121 17 Tage später schrieb der Obergefreite Wolfgang Berg nach Hause: «Mir geht es sehr gut, bis auf viel Hunger, mein Liebling, […]. Um 5 Uhr sieht man sich sein Abendbrot an, isst ein bißchen u. dann mit Hunger wieder hingelegt, […] Liebling.»122 Verzweifelt setzte Paulus am 22. Januar 1943 einen Funkspruch an Zeitzler zur Weitergabe an den «Führer» ab: «Verpflegung zu Ende. Ueber 12 000 unversorgte Verwundete im Kessel. Welche Befehle soll ich den Truppen geben, die keine Munition mehr haben und weiter mit starker Art[illerie], Panzern und Inf[anterie] Massen angegriffen werden.»123 Hitler kannte nur 179
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eine Antwort: Pflichterfüllung bis zum bitteren Ende. Dieses unsinnige Opfer wollte Paulus nicht erbringen. Die 6. Armee kapitulierte am 2. Februar 1943. Hitler tobte, gerade hatte er den General noch zum Generalfeldmarschall befördert, um ihn zum Durchhalten zu zwingen. Im Radio ließ Goebbels den Todesmarsch aus Richard Wagners «Götterdämmerung» spielen. Wenn man nicht siegen konnte, blieb nur der Heldentod. Auf deutscher Seite waren 25 000 Verwundete ausgeflogen worden, 60 000 Soldaten im Kessel gestorben, die Übrigen, über 110 000 Mann, gerieten in russische Kriegsgefangenschaft. Sie wurden ähnlich behandelt wie zuvor die sowjetischen Kriegsgefangenen auf deutscher Seite. Die langen Fußmärsche durch eisige Kälte, schon geschwächt und in zerschlissener Ausrüstung, führten zu ersten Opfern. Kranke und Sterbende, die zu Boden fielen und nicht versorgt werden konnten, wurden von den Wachmannschaften erschossen. Hunger, Krankheiten, psychische Erschöpfung und Drangsalierungen durch die Aufseher forderten weitere Todesfälle in den Lagern. Von den Gefangenen aus Stalingrad sollten nur 6 000 überleben. Obwohl andere Schlachten mit höheren Opferzahlen folgen sollten, bedeutete Stalingrad doch eine symbolträchtige Niederlage: Hier war eine ganze deutsche Armee vernichtet worden. In der jüdischen Gemeinde Dresden registrierte Klemperer «Gehobenheit», in die sich «freilich schwere Sorge»124 vor einem Pogrom an den Juden durch die enttäuschten Deutschen mische. Die Volksgenossen wiederum waren entsetzt und zogen unterschiedliche Schlüsse. Der Hamburger Landgerichtspräsident wusste Ende März 1943 von einer «unverkennbare[n] starke[n] Friedenssehnsucht»125 zu berichten – natürlich verbunden mit einem Sieg, wie der patriotische Nazigegner Heinrich Böll seiner Frau schrieb: «Gott gebe, daß der wahnsinnige Krieg zu Ende geht und daß Deutschland gewinnt.»126 Manche setzten angesichts der Krise auf Durchhalteparolen, wie der 20-jährige kriegsbegeisterte Soldat Johannes Veigel, der am 25. Mai 1943 nach Heilbronn schrieb: 180
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«Wenn die Heimat durchhält, die Front tut es auf jeden Fall. Ihr, liebe Eltern, müßt auch mit dazu beitragen und allen Miesmachern und Nörglern aufs Maul schlagen! Unsere Lieben dürfen nicht umsonst gefallen sein!»127 Auch Hans Fallada, schwankend zwischen Anpassung und Ablehnung, schrieb im September 1943 an seine Sekretärin aus der Auvergne, von wo aus er im Auftrag von Goebbels über den Reichsarbeitsdienst berichten sollte: «Wir müssen an den Sieg glauben», sonst sei alles sinnlos. «Wir sind die Herren der Welt, bestimmt die von Europa.»128 Bei anderen verblasste der Nimbus des «lb. gute[n] Führer[s]»129. Der regimekritische Schulrat Schmidt fragte nach Stalingrad, «wie war das möglich? Warum ist Hitler so wenig Herr der Lage? Warum lässt er sich zu solchen Handlungen von einem schon geschlagenen Feind zwingen? Bei wem liegt das Gesetz des Handelns in diesem Winter?»130 Offensichtlich nicht bei den Deutschen. Die Wehrmacht hatte Erfolge erzielt, aber den Krieg von Anfang an verloren. General Heinrici war sich sicher: «Der Krieg gegen Rußland war nicht der Richtige.»131 Ein Soldat an der Ostfront zählte Ende Januar 1943 die politischen Fehler auf: Der erste war, «daß wir die russischen Gefangenen von 1941 verkommen ließen […], der russische Soldat wäre vertrauensvoll übergelaufen zu uns. Der zweite Fehler war die Behandlung der bäuerlichen Belange … Schieberei im ganzen Ostraum ist eine weitere Sünde, die das Unheil hervorbringt, die ‹Lösung der Judenfrage› die vierte»132. Eine Gruppe aus Militärs und Zivilisten, Konservativen wie Sozialdemokraten, christlichen Politikern wie Gewerkschaftern, Adligen wie Bürgerlichen – allein Liberale fehlten – ging noch weiter: Sie nahm die Idee eines Staatsstreiches, die seit 1938 auf Eis gelegen hatte, wieder auf. Zahlreiche Differenzen durchzogen die Beziehungen der Widerständler. Viele hatten lange die Herrschaft der Braunhemden bejaht, bevor die strategischen Fehlentscheidungen des «Führers» sie zweifeln ließen. Demokratie war kaum jemandem ein Anliegen, Antisemitismus verbreitet. Der Leningrader Hungergeneral Eduard Wagner und der ehemalige 181
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Chef der SS-Einsatzgruppe Arthur Nebe fanden sich ebenso unter den Verschwörern wie der mit seiner Verstrickung in das NS- Regime hadernde Hellmuth Stieff und der vom Nationalsozialismus angewiderte Helmuth James Graf von Moltke. Die Schar der Aufrührer war klein und umfasste vermutlich nicht mehr als einige Hundert Personen. Doch alle Versuche einer Gruppe um den 42-jährigen Generalmajor Henning von Tresckow, Hitler zu töten, schlugen fehl. Noch vor dem Untergang der 6. Armee im Januar 1943 hatten sich Vertreter des westlichen Bündnisses demonstrativ im gerade eroberten Casablanca getroffen. Stalin hatte es vorgezogen, wegen des Kriegsgeschehens in Moskau zu bleiben. Roosevelt bestand während der Unterredungen auf einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Anders als 1918 sollte den Deutschen ihre Niederlage vor Augen geführt und das Land besetzt werden. Der US-Präsident wollte zudem die Koalition aneinanderbinden und Ideen wie Separatfrieden und Bündniswechsel eingedenk des Hitler-Stalin-Paktes und des diplomatischen Hin und Her vor dem Krieg gar nicht erst aufkommen lassen. Diese Forderung des unconditional surrender ließ in Deutschland selbst Oppositionelle zusammenzucken. Deutschland als Großmacht ausgeschaltet, verdammt in die Rolle eines Bittstellers? So hatte man sich ein Leben «nach Hitler» nicht vorgestellt. Sämtliche Chancen auf einen Kompromissfrieden waren verbaut, den die Widerstandskreise über Mittelsmänner mit London im Zeichen des doch gemeinsamen Antikommunismus gesucht hatten. Ein weiteres Ergebnis war der Beschluss, die deutschen Städte rund um die Uhr und Woche für Woche zu bombardieren. Nachts flogen die Briten, tagsüber nun die US Air Force. Die von Moskau erhoffte Eröffnung einer entlastenden Front im Westen zögerten Washington und London jedoch weiter hinaus. Churchill zog eine Invasion im Mittelmeer vor, konkret in Sizilien, das er als schwächstes Glied der Achsenmächte Italien ausgemacht hatte. Der Angriff auf Großdeutschland via Nordfrankreich sollte im 182
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Anschluss erfolgen. Militärisch war diese Entscheidung nachvollziehbar, ging es den Demokratien darum, die Zahl der eigenen Opfer gering zu halten. Politisch aber hatte sie langfristig fatale Konsequenzen, denn man überließ damit Stalin nicht nur den Blutzoll des Krieges, sondern auch die Trophäe des Sieges: Osteuropa. Aus deutscher Perspektive blieben die Ölfelder des Kaukasus unerreichbar, der Vormarsch war endgültig ins Stocken geraten. 90 Prozent der Sowjetunion, darunter Kernrussland, wurden nicht besetzt und bildeten die Basis für die Mobilisierung von Millionen Rotarmisten und Rotarmistinnen, Arbeitern und Arbeiterinnen, für die Produktion von Flugzeugen, Panzern, Lokomotiven, Maschinengewehren, Lastwagen und für die Organisation von Widerstand. Und allmählich trafen über den Iran und eisfreie Häfen wie Murmansk auch die Lieferungen aus den USA ein. Der «Führer» zog sich in sein Hauptquartier zurück. Nicht einmal zum 10. Jahrestag des Regierungsantritts am 30. Januar 1943 ließ er sich in der Öffentlichkeit blicken. Das Einpeitschen der Massen überließ er dem Propagandaminister, der den Deutschen vor allem mit seiner Rede im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 Siegeszuversicht und Einsatzbereitschaft abforderte. Hans Zurlinden, der Schweizer Generalkonsul in München, sah dafür durchaus Chancen. Er glaubte, dass in der gedrückten Stimmung «nicht etwas Festes, Grundsätzliches, Entschiedenes, eine Überzeugung» liege, «sondern lediglich eine labile, stimmungsmässige Mentalität, die sich mit Erfolgen und Misserfolgen des Krieges wetterwendisch» wieder ändern würde. Bei neuen Siegen würde «auch fast der letzte Deutsche wieder begeistert ‹Heil Hitler› brüllen»133. Eindeutiger als die Deutschen reagierten die Gesellschaften im besetzten Europa auf Stalingrad als Menetekel, auf die «Nazis» als mögliche Verlierer: Die Franzosen, schrieb Böll am 29. Januar 1943 an seine Frau, «haben eine neue Gemeinheit ersonnen, die mich, als ich sie zum ersten Mal sah, traf wie ein 183
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Keulenschlag! Wirklich, die Wirkung ist toll, die schreiben einfach 1918 an die Mauern».134 Erfüllte ein «Jetzt erst recht!» die Widerständler in Europa, so gingen die Bevölkerungsteile, die bislang der Besatzung positiv oder indifferent gegenübergestanden hatten, nach dem deutschen Desaster auf Distanz. Die Zahl der Desertionen der in nationalsozialistischen Diensten stehenden Nichtdeutschen stieg. Auch unter den Eingedeutschten häuften sich jetzt die Absatzbewegungen: Etliche versuchten, ihre Eintragungen in die deutsche Volksliste rückgängig zu machen, um nicht noch in die Wehrmacht eingezogen zu werden. In der besetzten Sowjetunion schoben manche der in deutschen Diensten Stehenden ihre Furcht beiseite und wechselten zu den Partisanen, um noch rechtzeitig vor Ankunft der Roten Armee und ihrer Rache an «Kollaborateuren» auf der richtigen Seite zu stehen. Unter dem ausbleibenden «Endsieg» sollte nicht die Volks gemeinschaft, sondern die europäische Bevölkerung leiden. So wuchs der Druck auf die besetzten Gebiete, stetig höhere Quoten an Material, Nahrungsmitteln, Soldaten und Menschen abzugeben. Auch um Aufständischen ihr Umfeld zu entziehen, «entfernten» die deutschen Sicherheitskräfte in ungezählten Razzien und «Großaktionen» die lokale Zivilbevölkerung. Dies galt besonders in Weißrussland, das die stärkste Widerstands bewegung in den besetzten Gebieten aufwies. Alle arbeitsfä higen Bewohner wurden abtransportiert, Kinder, Alte, Kranke ermordet. Bei der größten dieser Aktionen, der Operation «Kottbus» im Mai 1943, wurden 13 000 Menschen getötet. In Dory, etwa 70 Kilometer nordwestlich von Minsk, überlebte man, wenn man die Kinder zurückließ – aber, wie ein Einwohner erkannte, «nicht jede Mutter bringt das fertig»135. Die 257 «NutzloSondereinheit Dirlewanger Ende Juli sen» verbrannte die SS- 1943 in der Dorfkirche. Einer der Verantwortlichen für «Kottbus», der SSPF Weißruthenien Curt von Gottberg, der als Experte für Partisanenbekämpfung ganze Landstriche ausradierte, hatte 184
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schon im April 1943 realisiert, dass diese ausufernde Gewalt kontraproduktiv war: «Strafexpeditionen treffen nie denjenigen, der getroffen werden soll, sondern die unschuldige Bevölkerung. Rückt man mit Vorhut, Verbindungsmännern und noch einer Spitze an und kommt dann die Nachhut anmarschiert, dann sind diejenigen, die den aktiven Bandenkampf durchführen, über alle Berge, und man findet Greise, Frauen und Kinder vor. Schlägt man diese tot und zündet das Dorf an, dann sagt sich die Bevölkerung, daß die Deutschen noch dollere Hunde sind als die Bolschewisten, und die Frauen rennen zu den Frauenbataillonen der Banditen.»136 Dennoch blieben die deutschen Besatzer bei dem einmal eingeschlagenen Weg, es dem «kleinen Kroppzeug»137 zu zeigen, wie Soldat Rudolf Schmitz aus Holland schrieb. Unweigerlich folgte Gegenwehr und brannte der Zorn. In Warschau fühlte sich Wilm Hosenfeld, «als säße man auf einem Pulverfaß»138. In Frankreich erhielt Heinrich Böll im Mai 1943 einen «sehr plötzliche[n] und sehr tiefe[n] Einblick in die wahre Meinung des französischen Volkes über uns», der ihn «traurig» machte. Böll hatte mit einer jungen Französin gesprochen, die in der Küche seiner Dienststelle aushalf. «[S]ie sagt mir, daß die ganze Welt ‹Deutschland› instinktiv haßt … dann schweigt sie. Sie macht gar keinen Hehl daraus, daß sie auch Deutschland hasse.» Er sei «wirklich erschreckt von so viel naiver Voreingenommenheit, die uns mit völliger Selbstverständlichkeit für halbe Wilde und Barbaren hält», und versprach ihr, «daß ich sie, falls sie will, [nach dem Krieg] einmal nach Deutschland einladen will, um ihr das ‹wahre Deutschland› zu zeigen»139. Das «falsche Deutschland» blieb weitgehend unbeeindruckt. In Belgien und den Niederlanden sorgten der in der ersten Jahreshälfte 1943 eingeführte Arbeitszwang für Männer zwischen 18 und 35 Jahren ebenso wie die Deportationen von Juden und der Hunger durch die Lebensmittelrationierungen für Unruhe und Streiks. Die antideutschen Wogen schlugen höher. Schon Ende 185
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1941 war Eberhard Gebenslebens von seinem Schwager in Amers foort aufgefordert worden, beim Weihnachtsbesuch die Wehrmachtsuniform im Schrank zu lassen und in der Öffentlichkeit kein Deutsch zu sprechen – eine Bitte, der der in seiner Soldatenehre Gekränkte nur unter Protest nachgekommen war. Selbst in Kopenhagen gärte es, gab es Sabotage, Streiks und Straßenkrawalle. Längst stand nicht mehr alles gut im Staate Dänemark, obwohl Best dies monatelang dem «Führer» versichert hatte. Am 29. August 1943 verhängte der Wehrmachtsbefehlshaber, General Hermann von Hanneken, angesichts eines Generalstreiks den Ausnahmezustand, was die Lage weiter anheizte. Je intensiver im besetzten Europa die Jagd nach Arbeitskräften wurde, in deren Fokus nun auch Minderjährige, sogar Schulkinder rückten, desto mehr versuchten die Betroffenen sich zu entziehen. Zwangsarbeit zuhause mochte ja noch gehen, vor allem, wenn man Lebensmittel hierfür bekam. Aber verschleppt zu werden, das war etwas anderes. In Städten und Dörfern verwaisten die Märkte. Kinos und Kirchen schlossen, jeder unnötige Aufenthalt auf der Straße wurde vermieden, Dorffestlichkeiten wurden abgesagt. Parallel dazu verstärkten die deutschen Behörden die Repressalien, vor allem in Osteuropa. Einzelne Gehöfte und Häuser wurden niedergebrannt, teilweise ganze Dörfer, wenn der Schulze nicht genug Zwangsarbeiter für das Reich bereitgestellt hatte. Befriedigt meldete die Wehrmachtsinspektion Süd im März 1943: «In Charkow macht die Zerstörung von Wohnhäusern und Fabriken die Bevölkerung für die Werbung empfänglicher.»140 Umgekehrt wartete man im Reich unge duldig auf die Hilfskräfte, Stieff fragte am 29. Juli 1943 seine Frau: «Sind die Ukrainer gekommen?»141 Sie sollten in der Fabrik seines Schwiegervaters arbeiten. Insgesamt zwei Millionen der zwölf Millionen Zwangsarbeiter aus allen Teilen Europas kamen aus der Ukraine, über die Hälfte der Deportierten waren junge Frauen. Von einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft war längst nicht mehr die Rede. Der Schweizer General186
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konsul kommentierte im April 1943 süffisant, dass «die Reichs angehörigen offenbar etwas stiller geworden» seien, in «den späten Nachmittagsstunden hört man auf den Strassen Münchens alle Sprachen Europas, ausser der deutschen»142. In bür gerlichen Kreisen begann man, sich vor Revolten auftrumpfender Ausländer zu ängstigen. Militärisch hielt im Sommer 1943 die Serie der Niederlagen an, auf Stalingrad folgte «Tunisgrad». Am 13. Mai 1943 mussten sich in Nordafrika die deutschen und italienischen Verbände endgültig geschlagen geben: «Das afrikanische Abenteuer ist zu Ende»,143 schrieb Schulrat Schmidt. Um den Ruf seines Favoriten zu schützen – oder wie man in Dresden raunte, weil er «längst in Ungnade gefallen»144 sei –, hatte Hitler Rommel schon im März nach Italien abberufen. 130 000 deutsche und 120 000 italienische Soldaten gingen in Gefangenschaft. Das Mittelmeer war, mit Heinrici gesprochen, «futsch»,145 das alliierte Sprungbrett nach Europa stand bereit. Klemperer fing die vox populi in Gestalt einer Flaschenspülerin ein: «Der Krieg kann nicht mehr lange dauern, wir haben ja nichts mehr – Afrika verloren und die Fleischration um 100 Gramm wöchentlich gekürzt.»146 Ein Soldat in Frankreich hingegen dachte in höheren Kategorien: Hinter all der Unbill müsse «der Jude […] stecken, der uns vernichten will und nachher über den Trümmern der Welt herrschen. Und das darf nicht geschehen, komme, was will.»147 Auch im Nordatlantik sah es schlecht aus. Hier brach am 24. Mai der U- Boot- Spezialist Karl Dönitz, als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Nachfolger Erich Raeders, die Geleitzugbekämpfung ab. Drei Jahre war es der deutschen Marine gelungen, den Alliierten beängstigende Verluste von U-Booten und Schiffen zuzufügen. Dann aber gingen den Deutschen mehr Schiffe verloren, als gebaut wurden. Amerikaner und Briten bekämpften nun systematisch die deutschen U-Boote; Nachschub- und Versorgungswege über den Atlantik gehörten den Alliierten. Die «Übermacht der Feinde an Menschen, Panzern, Flugzeugen» sowie die Über187
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dehnung der eigenen Kräfte machten Schulrat Schmidt Sorgen. Was, wenn sie «auf dem Balkan, in Italien, in Norwegen» stehen, «was dann? Ist unsere Front nicht zu lang, um allenthalben die nötige Abwehr bereitzuhalten?»148 Nicht nur Stalingrad, auch die Aufgabe Nordafrikas und das Zurückweichen der deutschen Streitkräfte ließen die Volksgenossen an ihrem «Führer» und überhaupt an der Regimespitze zweifeln. Vor allem die immer gravierenderen Bombenangriffe auf deutsche Städte zeigten die Verwundbarkeit des NS-Regimes, schutzlos sahen die Volksgenossen sich dem Luftkrieg ausgesetzt. Krieg daheim: Das irritierte vor allem Soldaten, die wie Heinrich Böll an der ruhigen Westfront eingesetzt waren. Als seine Frau ihm Anfang Juni 1942 geschrieben hatte, ihre Kölner Wohnung sei nach einem Bombenangriff «total vernichtet», kommentierte er dies mit den Worten: «Es ist wirklich ein ganz phantastisch sonderbarer Krieg, wir Soldaten sitzen hier fast wie im Frieden, sind braun und gesund, und Ihr hungert zu Hause und erlebt den Krieg in der schrecklichsten Weise, im Keller.»149 Das Ruhrgebiet und Berlin wurden zu Hauptzielen der Bomberflotten. Die meisten Opfer auf einmal forderte allerdings die Operation Gomorrha in Hamburg Ende Juli, Anfang August 1943. Die Luftangriffe kosteten etwa 34 000 Menschen das Leben, 175 000 mussten ärztlich behandelt werden. Rund 246 000 Wohnungen, mehr als die Hälfte des Bestandes, wurden völlig zerstört. Etwa 900 000 Menschen besaßen kein Obdach mehr. Magdalena Zimmermann schrieb am 28. Juli 1943 an ihren Sohn: «Es brennt noch überall. Die Auflösung ist in vollem Gange, keine Polizei mehr – nichts. Gesindel, ausländische Arbeiter und Gefangene auf den Trümmern.» Zwei Tage später wehklagte sie: «Ach, kein Wort gibt wieder, was wir hier durchmachen. Eine Regierung, die ihre Frauen und Kinder davor nicht schützen kann, ist einfach verbrecherisch.»150 Derartige Kritik hörte man jedoch selten. Die von den Alliierten erhoffte Massenerhebung der deutschen Arbeiter gegen Hitler jedenfalls 188
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blieb aus, Alternativen zum NS-Regime konnten oder wollten die Deutschen sich nicht vorstellen. Der Luftkrieg produzierte vor allem Flüchtlinge und Apathie. Denken und Fühlen der Betroffenen kreisten nur noch um sich selbst und die Angehö rigen. Die Reihe der Katastrophen für das NS-Regime brach aber nicht ab. Am 10. Juli 1943 landeten Briten und – unter dem Kommando von General Dwight D. Eisenhower – Amerikaner wie geplant auf Sizilien. Mussolinis Ansehen war durch die militärischen Niederlagen, alliierte Bombardements auf italienische Städte und eine sich verschlechternde Ernährungslage stark beschädigt. Ende Juli 1943 sprach der Faschistische Großrat ihm sein Misstrauen aus. Der König setzte ihn ab und ließ ihn verhaften. Das war spektakulär. In Schweden freute sich Astrid Lindgren: «Dideldidum, dideldidei! Die Hydra des Faschismus hat ihren Kopf verloren.»151 Klemperer hingegen blieb skeptisch: Wie viele Nachrichten hätten sie in diesen «Qualjahren» für «entscheidend, für den Anfang vom Ende gehalten» und waren doch «immer wieder enttäuscht worden». Und jetzt? «Warum soll Deutschland sich nicht noch Jahr und Tag auch ohne Italien halten?»152 Aber «ohne Italien» wollte der «Führer» dann doch nicht sein und gab seinen Gefährten nicht auf. Auch befürchtete er eine Kettenreaktion, sollte das erste faschistische Regime in Europa fallen. Fallschirmjäger und SS befreiten Mussolini – Solmitz: «Erstaunlicher Genie streich»153 –, die Wehrmacht marschierte in Rom ein, installierte in Salò am Gardasee ein Marionettenregime und annektierte Südtirol sowie Teile Sloweniens. Daraufhin erklärte im Süden Marschall Pietro Badoglio seinem vormaligen Freund den Krieg. Im niederösterreichischen Thaya freute sich der Pfarrer über den endgültigen Bruch der Achse Rom–Berlin: «Wer jetzt noch an einen Sieg glaubt und für ihn kämpft, ist ein Idiot und Verbrecher.»154 Wehrmacht und Waffen-SS reagierten umgehend auf den «Schurkenstreich»: 600 000 italienische Soldaten wurden als Zwangsarbeiter ins Reich verschleppt. Luise Solmitz erlebte sie 189
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im Oktober 1943 als «müde, abgezehrte, hoffnungslose Menschen, die nur so dahinschlichen […], ein Zug des Elends»155. Aus Kameraden wurden Feinde – oder wie Oberleutnant Peter G. schrieb: «Die Italiener sind fast so schlimm wie die Juden, sie sind Verräter.»156 Deutsche Gebirgsjäger verübten im September 1943 auf der vormals gemeinsam besetzten griechischen Insel Kephalonia ein Massaker an mindestens 4 000 italienischen Soldaten, die sich schon ergeben hatten. Die Gewaltverbrechen und die alltäglichen Drangsalierungen sowie die Furcht vor der Verschlep p ung zum Arbeitseinsatz ließen hier eine die Deutschen ernstlich bedrohende Partisanenbewegung entstehen. Etwa 100 000 Ita liener bezahlten den Frontwechsel mit ihrem Leben. Die Täter waren weniger an Gewalt gewohnte Einheiten von der Ostfront als vielmehr jüngere, unerfahrene und fanatisierte Angehörige von sogenannten Eliteverbänden wie der SS-Panzergrenadier division «Reichsführer SS», die die Sache ihres Namensgebers zu der ihren machten. Aus der Sicht der Alliierten brachte der Durchbruch in Südeuropa endlich die von der Roten Armee so ersehnte Entlastung und zeigte Folgen. An der Ostfront musste die Wehrmacht eine der größten Panzerschlachten der Geschichte nach einer Woche abbrechen, um Truppen nach Italien zu verlagern. Anfang Juli 1943 hatten die deutschen Streitkräfte versucht, in einer dritten und letzten Sommeroffensive die sowjetische Front aufzubrechen, die westrussische Stadt Kursk wieder einzunehmen und damit die Initiative zurückzugewinnen. 2 700 Panzer warf die Wehrmacht in die folgenden Schlachten, 8 200 die Rote Armee, 770 000 Soldaten auf deutscher Seite standen 1,9 Millionen Rot armisten gegenüber. Die Ausschaltung von Panzern kostete insgesamt 203 000 deutschen und 1,6 Millionen sowjetischen Sol daten Leben oder Gesundheit und brachte strategisch rein gar nichts. Auch wenn die Wehrmacht der Roten Armee immer wieder große Verluste beibrachte, sie weiterhin trotz immer angespannterer Personalsituation Soldaten rekrutieren konnte und 190
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Ende 1943 mit 9,5 Millionen Mann ihre größte Stärke erreichte und auch wenn es 1943/44 nochmals gelang, die Produktion qualitativ hochwertiger Waffen erheblich zu steigern: Man war dem Gegner materiell und zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Zudem zersplitterten die Kräfte durch die Kämpfe an den vielen regulären wie irregulären Fronten. Im Reich registrierte der Schweizer Konsul in Köln, Franz-Rudolf von Weiss, im Oktober 1943 erste Absatzbewegungen der Volksgenossen: «In der Oberschicht überlegen schon viele Leute, in welchen Teilen Deutschlands die Katastrophe am glimpflichsten verlaufen» werde. Churchills Erklärung, dass auch der preußische Militarismus zerschlagen würde, werde so gedeutet, dass «nach Kriegsende vielleicht ganz Ostelbien den Russen als Besatzungszone überlassen wird. Infolgedessen wird Ostelbien als sehr gefährdet angesehen und der Westen als sicher, weil hier anglo-amerikanische Besatzungstruppen wie nach dem Weltkriege erwartet werden.»157 Auch ins ausgebombte Hamburg kamen Flüchtlinge zurück, weil es ihnen in Königsberg «unheimlich würde»158, wie Solmitz am 20. August festhielt. Die sowjetische Streitmacht rückte nach Westen vor, die von Partisanen beherrschten Zonen dehnten sich aus, die Wehrmacht musste unter hohen Verlusten Stadt für Stadt, Dorf für Dorf, Fluss für Fluss aufgeben. Goebbels camouflierte die Rückzüge als «Abwehrerfolge», «Frontbegradigungen» oder «plan mäßige Räumungen». Mitte November 1943 war die deutsche Kolonie Hegewald in der Ukraine ebenso Geschichte wie alle Himmler’schen Visionen eines 120-Millionen-Volkes von Germanen im Osten. Aus dem Imperium wurde nichts, nicht zuletzt weil das NS-Regime an einer Konsolidierung seiner Macht kein Interesse zeigte, sondern nur Zerstörung und permanenten Kampf kannte. Und so wie sie den Angriff geführt hatte, so führte die deutsche Seite auch ihren Rückzug: unbrauchbar, unbewohnbar, wüst – so sollten die verlassenen Landstriche aussehen. Alles, was man benötigte, nahm man mit, der Rest wurde vernichtet: 191
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Man vertrieb die Bevölkerung, verschleppte erneut schätzungsweise eine Million Menschen zur Zwangsarbeit ins Reich oder ließ sie Verteidigungsanlagen gegen die Rote Armee bauen, hinterließ kilometerweite Feuersbrünste, zerstörte die Infrastruktur, vernichtete Vorräte und vergiftete Brunnen. Wenn man schon das Land verlassen musste, dann wollten Militär, Zivilverwaltung und SS wenigstens noch ein letztes Zeichen ihrer Macht setzen. Nicht allen behagte das. Gerade ältere Offiziere äußerten Bedenken. Heinrici meinte gegenüber seiner Familie im November 1943: «So war die Kriegführung früher nicht, dass alles vernichtet werden musste. Mir liegt so etwas nicht; wir sind früher anders erzogen.»159 «Das fortgesetzte Abbrennen und Zerstören» war ihm «in der Seele zuwider»160. Am Ergebnis änderte das Mittel der «verbrannten Erde» nichts. Ende 1943 waren zwei Drittel der Gebiete, die die Achsenmächte ursprünglich besetzt hatten, wieder in sowjetischer Hand. Aus der Verteidigung «‹großdeutschen Lebensraums› am Ural»161 wurde nichts, Stalin konnte sich Gedanken über die Zukunft machen. Auf der Konferenz von Teheran Ende November/Anfang Dezember 1943 traf der sowjetische Diktator zum ersten Mal seine beiden Partner Roosevelt und Churchill. Besonders gut verstand man sich nicht. Washington agierte aus einer Position der ökonomischen und finanziellen Stärke. Territorial war man vollkommen unberührt vom Krieg. Moskau konnte Forderungen stellen, trug doch die Rote Armee die Hauptlast des Krieges, während London mahnen und warnen durfte, aber politisch schwach blieb. Die «Großen Drei» verständigten sich auf die strategische Entscheidung, die Frühjahrsoffensive der Roten Armee 1944 mit der Operation Overlord, der Landung in der Normandie, abzustimmen. Schon zuvor hatte man sich geeinigt, deutsche Kriegsverbrecher an die Länder auszuliefern, in denen sie ihre Taten begangen hatten. Der Kremlchef setzte durch, dass Ostpolen sowjetisch bleiben sollte, als Entschädigung würde das Land zulasten des Deutschen Reiches nach Westen bis zur Oder verscho192
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ben, dabei aber auch verkleinert werden. Mit diesem Beschluss tat sich die polnische Exilregierung schwer. Um ihr die Hinnahme zu erleichtern, sicherte Moskau zu, dass Warschau die gesamte deutsche Bevölkerung aus Polen aussiedeln dürfe. Nach Polen allerdings hatte mit dem Zurückdrängen der Wehrmacht schon ein erster Exodus eingesetzt. Mehrere Hundert tausend Sowjetbürger und Russlanddeutsche, die häufig in deutschen Verwaltungen, bei Wehrmacht und Polizei gearbeitet hatten, flohen und landeten mit ihren Trecks in Lagern im War thegau, wo immer noch Eignungsprüfer des Rasse- und Siedlungs hauptamts auf sie warteten. In der Annahme einer Landung alliierter Kräfte auf dem Festland ließ Hitler ab November 1943 immer mehr Truppen von der Ostfront abziehen. Rommel, immer noch von Freund und Feind hochrespektiert, wurde als Oberbefehlshaber nach Frankreich versetzt. Der Ton gegenüber den Gegnern aus dem Westen wurde schärfer. «Wer kommt: Die plutokratischen Massen des Weltjudentums. Der Anglo-Amerikaner ohne Maske, um kein Haar besser als der Bolschewik, genau von demselben Vernichtungswillen erfüllt wie der asiatische Rotarmist. Die Luftgangs ter und Wohnblockknacker, die deine Heimat zerstören, deine Kinder, Frauen, Eltern und Großeltern töten»,162 agitierte ein Füh rungsoffizier seine Soldaten. Das Regime hoffte, durch riesige Verluste unter den amerikanischen und britischen Soldaten die öffentliche Meinung in beiden Staaten so zu schockieren, dass die Regierungen einlenkten und man anschließend wieder alle Kräfte zurück nach Russland verlagern könnte. Aber die Alliierten stellten sich nicht zur ersehnten Entscheidungsschlacht – noch nicht. Auch sonst lief es schlecht für die braunen Machthaber. In Italien kämpften sich Briten und Amerikaner sukzessive bis nach Neapel vor. Am 24. Dezember 1943 begann die sowjetische Winteroffensive, die die deutschen Stellungen an allen Fronten weiter zurückdrängte. Im Reich sprachen böse Zungen vom «Kaiser- 193
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Napoleon-Gedächtnis-Rennen». In Berlin wechselte Hitler wieder Generäle aus, darunter auch Erich von Manstein, der einen Separatfrieden mit Russland forderte. Über all diese Katastrophen, so urteilte im März 1944 der Schweizer Generalkonsul Zurlinden, halte die NS-Führung trotz aller Aussichtlosigkeit weiterhin an ihren Glaubenssätzen fest, um sich «selbst in der Katastrophe» noch «für spätere Generationen die Gloriole heldenhafter Bewährung»163 zu sichern. Diese Katastrophe, die Götterdämmerung, der sich Paulus in Stalingrad noch verweigert hatte, rückte näher. Mitte April verlief die Front bei den Karpaten, die ukrainischen Erzgruben und Ölfelder waren wieder in sowjetischer Hand, Odessa wurde am 10. April, die Krim am 12. Mai «verloren». Von Mitte 1943 bis Mai 1944 verzeichnete die Wehrmacht 700 000 Gefallene und 1,5 Millionen Gefangene oder Verwundete. Im Frühjahr 1944 war die deutsche Luftwaffe nach einem langen Ab nutzungskrieg materiell wie personell erschöpft, die Alliierten errangen die Luftherrschaft über Deutschland und bombardierten es gnadenlos. Angesichts der drohenden Niederlage drohte der Bündnispartner Ungarn die Seiten zu wechseln. Um einem erneuten Treuebruch eines Achsenpartners zuvorzukommen und zu verhindern, dass Rumänien auf ähnliche Abwege kommen könnte, besetzte das Deutsche Reich im März 1944 auch noch dieses Land. Horthy blieb im Amt, musste sich aber mit einer Marionettenregierung arrangieren. In der deutschen Mehrheitsgesellschaft breitete sich angesichts der fortdauernden Kämpfe Ernüchterung aus. Selbst der junge Soldat Hans Olte, der sich mit dem Nationalsozialismus durchaus identifiziert hatte, fragte im Mai 1944 seine Eltern: «Wann ist nun endlich dieses Morden zu Ende?»164 Doch dieses Ende sollte noch dauern, nicht zuletzt, weil die Wehrmacht es immer wieder vermochte, den Vormarsch der Alliierten aufzuhalten. Die Belagerung Leningrads aber mussten die Deutschen auf geben, die Rote Armee hatte am 27. Januar 1944 den Sperrgürtel 194
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um die Stadt gesprengt. Schostakowitsch kehrte heim. Der fast 900-tägigen Blockade waren zwischen 600 000 und einer Million Menschenleben zum Opfer gefallen.
IV. «Wir könnten dann Europa in kürzester Zeit judenfrei haben» Der Holocaust 1941 – 1944
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iepāja am 15. Juli 1941, eine Hafenstadt an der lettischen Ost-
seeküste. Zwei Wochen zuvor hatte die Wehrmacht unter hef-
tigen Gefechten den als Kommunistenhochburg titulierten Ort besetzt. In den Reihen der deutschen Streitkräfte befand sich der 22-jährige Marinesoldat Karl-Heinz L. Es war heiß, die Männer badeten und versuchten, wie der junge Mann notierte, «mit den kleinen lettischen Deerns anzubändeln». Auf ihrem Heimweg stießen sie unweit des Strandes auf eine große Menschenmenge. 600 bis 800 Soldaten drängten sich in Bade- und Sportzeug, um, so L. in seinem Tagebuch, «ihre grausame Neugier zu befriedigen». Ein Marineangehöriger, Reinhard Wiener, zog schnell seine Kamera und filmte das Geschehen. Ein Lkw einer lettischen Hilfs truppe brachte fünf Männer heran, darunter, «[s]oweit man erkennen kann», zwei Juden, die unter Schlägen und Tritten an den Rand einer Grube laufen mussten. «Hier und da ertönt ein rohes Lachen.» Dann schossen zehn SS-Männer der Einsatzgruppe A, und «fünf Leben [waren] ausgelöscht». Die lettischen Schutzmänner warfen Sand auf die Leichen, wieder kam ein Lkw, wieder folgten Schüsse, wieder fielen die Toten in den Graben. 45 Männer und sieben Frauen, wie ein Matrose aufgeregt verkündete, sollten auf diese Weise für ihren Tod anstehen. Man könne den 197
IV. Der Holocaust 1941 – 1944
SS-Männern, so L., die «Genugtuung» nachfühlen, die «Hecken-
schützen» hätten sicherlich manch guten Kameraden auf dem Gewissen. L. nahm seine gaffenden Gefährten in Schutz, das Triumphgeschrei und Schwatzen seiner Leute aber irritierte ihn. Ihm, so schrieb er, werde das Geschehen wahrscheinlich «ewig gegenwärtig bleiben», er werde es «nie vergessen»1. Sein Tagebuch, ein lettisches Schulheft, umfasst nur diesen einen Tag, den 15. Juli 1941. Dem Militärkommandanten von Liepāja, Fregattenkapitän Hans Kawelmacher, gingen die Exekutionen unterdessen zu lang sam voran. Er orderte weitere 100 SS-Männer und 50 Polizisten. Bis Ende Juli erschossen diese zusammen mit lokalen Einheiten 1 100 Menschen, überwiegend männliche Juden, aber auch Roma und Insassen psychiatrischer Anstalten. Arbeitsfähige Männer wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet. Mitte Dezember 1941 setzten wieder Erschießungen ein, SS-Angehörige ermordeten mit lettischer Hilfe 2 700 Juden, unter denen sich nun viele Frauen und Kinder befanden.
Im Schatten von Barbarossa Hätte es den Holocaust ohne den Krieg gegen die Sowjetunion gegeben? Vermutlich nicht. Mit Überschreiten der sowjetischen Grenze wähnten sich die Deutschen im Zentrum allen Übels, dem bolschewistischen Judentum, das in der Vorstellungswelt der Nationalsozialisten nach dem Ersten auch diesen neuen Weltkrieg angezettelt hatte. Vom Judentum sei das deutsche Volk «ein für allemal zu befreien», hatte Generalfeldmarschall Walter von Reichenau seinen Soldaten im Oktober 1941 eingebläut. Dessen Einfluss sei im «europäischen Kulturkreis»2 auszurotten. Im Krieg gegen die Sowjetunion kam es zu der fast widerspruchslosen Unterstützung der Gewaltexzesse durch die Wehrmacht, hier wurde 198
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der Zweite Weltkrieg zu dem von Göring apostrophierten «großen Rassenkrieg», hier vollzog sich der Übergang vom Massenmord zum Völkermord. Neben den vielen anderen Tötungen an Soldaten, Kriegsgefangenen, Roma, Kranken, Behinderten, «gefährlichen» oder «überflüssigen» Zivilisten schien eine Auslö schung von letztlich Millionen Menschen, von Alten, Schwangeren und Babys nicht mehr so außergewöhnlich zu sein. Und die «Judenfrage» in der Sowjetunion zu lösen hieß bald auch, die «Judenfrage» in ganz Europa zu lösen. Insofern war der «Krieg gegen die Juden» einerseits Teil des allgemeinen Kriegsgeschehens und aufs Engste mit ihm verknüpft. Andererseits war er ein Großereignis ganz eigener Art, für das die Nationalsozialisten und ihre Helfer eigene Logiken, Regeln und Handlungsweisen erfanden. Ähnlich wie in Liepāja agierten die deutschen Verbände zunächst an vielen Orten der UdSSR. Die Wehrmacht rückte sehr schnell vor. Die jüdische Bevölkerung – immerhin 2,6 Millionen Menschen in den Westgebieten, die meisten lebten in der U kraine – fürchtete nichts Böses von den doch so korrekten Deutschen. Die gleichwohl sofort einsetzenden Massaker hatten mit dem späteren anonymen Ersticken in den Gaskammern der Vernichtungslager wenig gemein. Die Todesschützen standen ihren Opfern gegenüber, und der Großteil der Juden wurde in der Nähe ihrer Wohnorte getötet – mehr oder minder öffentlich und ohne zunächst in Eisenbahnwaggons ins Unbekannte verfrachtet zu werden. Zu exekutieren seien, so Heydrich, neben allen kommunistischen Funktionären, «Juden in Partei- und Staatsstellungen» sowie «sonstig[e] radikal[e] Elemente», wenn diese nicht für den «wirtschaftlichen Wiederaufbau der besetzten Gebiete besonders wichtig»3 seien. Heydrichs Schreiben datierte vom 2. Juli 1941; er präzisierte damit nochmals die Vorgaben, die vorab mündlich mitgeteilt worden waren. Aufgrund dieser Befehlslage, die Handlungsspielräume ließ, verfolgten SS und Polizei anfangs vor allem Männer in wehrfähigem Alter. So erschossen am 24. Juni 1941 199
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deutsche SS- und Polizeieinheiten, die beim Überfall auf die So wjetunion mobilisiert worden waren, im litauischen Gargždai etwa 200 jüdische Einwohner, darunter eine Frau. Im ostpolnischen Białystok hingegen eskalierte die Lage. Eine Polizeieinheit aus Köln verhaftete am 27. Juni jüdische Männer, einige jüdische Frauen wurden vergewaltigt. Dann wurde das Auftreten zügelloser. Die Polizisten trieben Frauen und Kinder in eine Synagoge und zündeten sie an. Die Flammen griffen auf das große jüdische Viertel der Stadt über, mehr als 2 000 Menschen starben. Die etwa 70 000 Juden im weißrussischen Minsk wiederum wurden nach der Einnahme durch die Wehrmacht am 28. Juni in einen Wohnbezirk gedrängt – so entstand das größte Ghetto in der besetzten Sowjetunion. In L’viv/Lemberg dagegen ermordete allein am 3. Juli 1941 ein Einsatzkommando 500 Juden. Fassungslos schrieb der 36-jährige Stanisław Różycki in sein Tagebuch: «Plötzlich wird man zum Untermenschen, zum Sklaven, verliert alle Rechte», werde «zum Spielball der Bestie, die willkürlich über deine Freiheit und Gesundheit, über dein Leben und Eigentum verfügt»4. In der litauischen Metropole Wilna, 1941 mit 80 000 jüdischen Einwohnern das «Jerusalem des Nordens», begannen mit dem EintrefEinsatzkommandos und unter Beteiligung eines fen eines SS- von der SS verpflichteten Ordnungsdienstes am 4. Juli Erschießungen. Frauen und Kinder wurden ebenso wie augenscheinlich Arbeitsfähige verschont. In der zweitgrößten Stadt Litauens, in Kaunas, töteten am 6. Juli die Todesschwadronen mehr als 2 500 Juden. Nur noch «die mutigeren, vor allem Frauen, trauten sich auf die Straße»5, wie der Lehrer Eliezer Yerushalmi in Shavl notierte. Und so ging es weiter. Hermann G., ein Angehöriger des Polizei-Reservebataillons 105, der es sich in einer «Judenwohnung» schön gemacht hatte, schrieb am 7. Juli nach Hause: «Man kann den Juden nur noch einen gut gemeinten Rat geben: Keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Sie haben keine Zukunft mehr.»6 200
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Hinter der vorrückenden Front exekutierten SS, Waffen-SS und Polizeieinheiten Zehntausende Juden – und die Wehrmacht war dabei. Zuweilen schirmten Soldaten das Morden von SS und Polizisten ab oder bereiteten es vor. Die Kommandanturen legten in größeren und kleineren Städten des besetzten Gebietes mit der Hilfe der örtlichen Kommunalverwaltung Listen von Juden und Kommunisten an. In einigen Orten richteten sie auch die Ghettos ein, enteigneten die jüdischen Bewohner und zwangen sie, einen «Judenstern» zu tragen. Im Vorfeld der Massenerschießungen forderten Ortskommandanten die ansässigen Juden auf, sich zwecks «Umsiedlung» zu versammeln und nicht zu vergessen, für die angeblich geplante Reise Verpflegung für drei Tage und warme Kleidung mitzunehmen. Sie stellten Lkw zum Transport älterer und kranker Menschen zur Verfügung und halfen mit Personal, um die Erschießungsorte abzusperren. Mitunter beteiligten sich Soldaten als Schützen an den Massakern. Wie der Marinesoldat Karl-Heinz L. in Liepāja wurden viele Augenzeugen und verfolgten das Morden, bisweilen mit zwiespältigen Gefühlen. Unterstützung kam nicht nur von der Wehrmacht, sondern auch aus der lokalen Bevölkerung. In Lettland scharte der 31-jährige Polizist Viktors Arājs eine Truppe junger Männer um sich, bis zu 1 200 sollen es gewesen sein. Sie töteten 1941 unter Aufsicht des Chefs der Einsatzgruppe A, Walter Stahlecker, 22 000 Juden, auch in Liepāja, und halfen bei der Ermordung von weiteren 28 000. Als Stahleckers Terrormiliz nach Weißrussland weiterzog, waren in Lettland 50 000 der ehemals 66 000 Juden tot. Andernorts beherrschten Pogrome die Szenerie. Zumeist bedurfte es der Aufforderung, manchmal auch nur der Erlaubnis zur Gewalt durch die deutschen Okkupanten. Vor den Augen deutscher Schutzpolizisten trieben im ostpolnischen Jedwabne am 10. und 11. Juli 1941 nichtjüdische Einwohner und aus der Umgegend eigens angereiste Bauern über 300 Juden zusammen und verprügelten, steinigten und verbrannten sie in einer Scheune 201
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bei lebendigem Leibe. Legitimiert wurde die Gewalttat als Rache an den angeblichen Freunden Stalins. Ähnliches geschah in Bessarabien und der Nordbukowina. Wie die Deutschen fanden auch Einheimische gute Gründe, sich an der Jagd auf Juden zu beteiligen. Man schielte auf die Belohnung für deren Ergreifung oder auf die Verwertung von «Judensachen». In Wilna registrierte der 47-jährige Journalist Kazimierz Sakowicz nach den Erschießungsaktionen «Handel, was das Zeug hält»; die litauischen Schützen gingen mit «vollgestopften Rucksäcken, Uhren, Geld usw.»7 Andere wollten sich mit der neuen Besatzungsmacht gut stellen oder die eigene Kollaboration mit den Sowjets vergessen machen. Extremen Nationalisten galten Juden als fünfte Kolonne Moskaus, als Zuträger für den sowjetischen Geheimdienst NKWD oder als Denunzianten. Traditioneller Antijudaismus ge-
gen die «Christusmörder», Sozialneid auf deren angeblichen Aufstieg sowie immer auch Lust an der Gewalt ergänzten das Spektrum. In Kaunas, polnisch Kowno, wurde am 27. Juni 1941 der Adjutant im Stab der Heeresgruppe Nord, Lothar von Bischoffshausen, Zeuge, wie vor einer Tankstelle Juden umgebracht wurden. Eine dichte Menschenmenge umlagerte das Geschehen. «In dieser befanden sich auch viele Frauen, die ihre Kinder hochhoben oder, um besser sehen zu können, auf Stühlen und Kisten standen. Der immer wieder aufbrausende Beifall – Bravo-Rufe, Händeklatschen und Lachen – ließ mich zunächst eine Siegesfeier oder eine Art sportliche Veranstaltung vermuten. Auf meine Frage jedoch, was hier vorgehe, wurde mir geantwortet, daß hier der ‹Totschläger von Kowno› am Werk sei. Kollaborateure und Verräter fänden hier endlich ihre gerechte Bestrafung!»8 Der Mann prügelte mit einem Knüppel zwanzig Juden zu Tode. Diese Exzesse hatte Heydrich sich erhofft, als er am 29. Juni seine SS-Männer anwies, «Selbstreinigungsbestrebungen antikommunistischer oder antijüdischer Kreise […] kein Hindernis 202
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zu bereiten». Sie seien im Gegenteil «auszulösen» und zu «intensivieren»9. Aufs Ganze gesehen wurden Heydrichs Hoffnungen jedoch enttäuscht. In Weißrussland etwa herrschten Passivität und Apathie vor. Mitunter stellten sich einheimische Honoratioren und Verwaltungsleute vor die Juden. Selbst in Kaunas hatte es etlicher Nachhilfe durch die Deutschen bedurft, sei es «überraschenderweise zunächst nicht einfach» gewesen, ein «Judenpo grom grösseren Ausmaßes in Gang zu setzen»10, wie Stahlecker registrierte. Was allerdings blieb, war – wie überall im deutsch besetzten Europa – die Distanzierung von den ehemaligen Nachbarn: aus Antisemitismus, Angst, Selbstschutz oder einer Gemengelage aus allem. So nagelten an einigen Orten der Ukraine Einwohner Kreuze an ihre Eingangstüren, um anzuzeigen, dass in diesen Häusern keine Juden lebten. In Berlin suchte unterdessen Heydrich die Federführung der antijüdischen Maßnahmen bei sich und damit bei der SS zu halten – und diese nicht Rosenbergs Ostministerium oder den neuen Gebietschefs Lohse und Koch zu überlassen. Am 31. Juli 1941, der Sieg über Stalin schien nahe, erbat er wie schon 1939 die helfende Hand des mächtigen Hermann Göring. Dieser half mit einem von Eichmann aufgesetzten Schriftstück, das Heydrich beauftragte, «eine Gesamtlösung der Judenfrage in deutschen Einflußgebieten in Europa» vorzubereiten und ihm «in Bälde einen Gesamtentwurf […] zur angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen»11. Rosenberg und die anderen Kontrahenten waren zwar nicht aus dem Weg geräumt, aber an die Seite gedrängt. Wie aber sollte diese finale Lösung aussehen? Eingedenk der Deportationen in das Generalgouvernement seit 1939 dachten Hitlers Satrapen immer noch an eine Abschiebung der jüdischen Bevölkerung Europas – nun aber irgendwo in den Osten der Sowjetunion oder in Stalins Gulag. Dieses Vorgehen lag so nahe, dass auch untergeordnete Funktionäre dafür plädierten. Der Judenreferent der deutschen Botschaft in Vichy-Frankreich, 203
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SS- Sturm bannführer Carltheo Zeitschel, schlug Mitte August
1941 seinem Chef Otto Abetz vor, im weiten Ostraum ein besonderes Territorium für die polnischen Juden abzugrenzen, ja mehr noch: «Soweit es sich um die besetzten Gebiete handelt, wie Holland, Belgien, Luxemburg, Norwegen, Jugoslawien, Griechenland, könnten doch einfach durch militärische Befehle die Juden in Massentransporten in das neue Territorium abtransportiert und den übrigen Staaten nahegelegt werden, dem Beispiel zu folgen und die Juden in dieses Territorium abzustoßen. Wir könnten dann Europa in kürzester Zeit judenfrei haben.»12 So schnell wie möglich «judenfrei» wollten auch etliche Gauleiter ihre Gebiete bekommen – und antichambrierten deshalb beim «Führer». Eine andere, kühnere Idee als Vertreibung trug der Leiter der Umwandererzentralstelle und des SD-Leitabschnitts Posen, SS- Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner, dem RSHA vor. Der 31-jährige berichtete am 16. Juli 1941 dem «Kameraden Eichmann», dass man in der Reichsstatthalterei des Warthelandes über eine Lösung der drängenden Judenfrage gesprochen habe. In diesem Teil Neudeutschlands waren nach dem Abschiebestopp aus den Ghettos Dauereinrichtungen geworden. Allein in Łódź lebten in dem engen Sperrbezirk noch 140 000 Menschen, jeden Monat starben Hunderte an Krankheiten und Unterernährung. Durch Zwangsarbeit sollten die Juden ihre Existenz selbst finanzieren. Aber was, fragte der junge SSler, sei mit den Arbeitsunfähigen? Überhaupt müssten die meisten Juden trotz knappster Mittel durchgefüttert werden, zudem seien sie Seuchenträger, die man «irgendwie» loswerden müsse. Im kommenden Winter, so fuhr Höppner fort, bestehe die Gefahr, dass nicht mehr alle Juden ernährt werden könnten. Daraus zog er die Schlussfolgerung: «Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.» Ob ein schnellerer Tod «humaner» 204
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und «angenehmer» für die Juden oder für die deutsche Zivilverwaltung wäre, ließ Höppner offen. Offen ließ er auch, ob er an die Gaswagen zur Ermordung von Geisteskranken dachte, die im Warthegau ja schon im Einsatz waren. In einer Mischung aus Referat und eigenem Vorschlag schlug hier also ein lokaler mittlerer SS-Funktionär das «Erledigen» als Antwort auf die selbstgestellte
Judenfrage vor – und wollte offenbar hören, was man in Berlin dazu dachte. Zudem sprach Höppner für Interessen innerhalb der SS, als er die Unterscheidung zwischen «arbeitsfähigen», das hieß zeitweise nützlichen, und «arbeitsunfähigen», also überflüssigen Juden anführte. Zwar fühlte er sich durchaus auf einer Linie mit dem RSHA, fügte jedoch klärend hinzu: «Die Dinge klingen teilweise phantastisch, wären aber meiner Ansicht nach durchaus durchzuführen.»13 In der Sowjetunion wurden derweil im Rücken der vormarschierenden Wehrmacht immer größere Gruppen an Männern als Partisanen, als Plünderer, Spione, Saboteure ausgemacht und exekutiert. Himmler – im Siegesrausch wie im Bestreben, sich gegen vermeintliche Nebenbuhler wie Rosenberg und Göring durchzusetzen – feuerte auf mehrtägigen Reisen durch Litauen, Lettland und Weißrussland seine Todesschützen an: Sämtliche Juden müssten erschossen werden. Und was war mit Frauen und Kindern? «Judenweiber in die Sümpfe treiben»,14 rekapitulierte ein SS-Kavallerieregiment im unruhigen Grenzgebiet zwischen Weißrussland und der Ukraine am 1. August 1941 Himmlers Befehl. Kommandeur Gustav Lombard ermahnte seine Truppe: «Es bleibt kein männl. Jude leben, keine Restfamilie i. d. Ortschaften.»15 Die Einheiten verstanden diese Sätze als Aufforderung zur Erbarmungslosigkeit. In Gargždai fingen Ende August/Anfang September litauische Hilfspolizisten an, die bis dahin verschonten Frauen und Kinder zu erschießen. Bald stiegen überall die Sterbezahlen, Mordeifer erfasste die Einheiten. Hatte ein SS-Einsatzkommando im Juli 4 239 getötete Litauer, darunter 135 Frauen, gemeldet, schnellten 205
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diese Zahlen im August auf 37 156 und im September 1941 auf 56 459 hoch, nun überwiegend Frauen und Kinder. Im westukrainischen Kamenez- Podolsk vereinbarten Wehrmachtsoffiziere mit dem HSSPF Friedrich Jeckeln, von Ungarn abgeschobene Juden noch vor der Übergabe der Stadt an die deutsche Zivilverwaltung umzubringen. Die jüdischen Flüchtlinge galten dem Militär als Problem, da es an Nahrungsmitteln mangele, die Juden einen Seuchenherd darstellten und die Sicherheit im Besatzungsgebiet gefährdeten. Das Töten überließ man dann SS und Polizei, schaute aber zu. Deren Einheiten erschossen vom 27. bis zum 29. August 23 600 Juden, unabhängig von Alter und Geschlecht. Systematischer Massenmord wurde zur Lösung für Versorgungsprobleme, die man selbst geschaffen hatte. Dank abgefangener Funksprüche der deutschen Polizei wusste der britische Secret Service schon sehr früh um diese Verbrechen. Doch aus diesem Wissen folgte nichts, auch weil London nicht verraten wollte, dass man den deutschen Funkverkehr entschlüsselt hatte. Churchill thematisierte lediglich in einer Rede am 24. August 1941 die Massenmorde, dann nie wieder. Ein Bericht an ihn vom 11. September zu Exekutionen in der Ukraine schloss mit den Worten: «Die Tatsache, dass die Polizei alle Juden ermordet, die ihr in die Hände fallen, sollte inzwischen hinlänglich bekannt sein. Es ist daher nicht vorgesehen, weiterhin gesondert über diese Gemetzel zu berichten, es sei denn auf ausdrücklichen Wunsch.»16 Das größte Massaker im Jahre 1941 sollte sich in der Nähe von Kiew ereignen. Am Morgen des 29. September klopfte ein Nachbar bei der Kiewerin Nartova an die Tür: «Schaut, was sich auf der Straße tut.» Die Lehrerin trat auf ihren Balkon hinaus – und blickte auf eine schier endlose Kolonne Tausender Menschen, die die ganze Straße ausfüllte. «Es gehen Frauen, Männer, junge Mädchen, Kinder, Greise, ganze Familien», hielt sie das Geschehen in ihrem Tagebuch fest: «Viele führen ihr Hab und Gut auf Schub206
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karren mit sich, aber die meisten tragen ihre Sachen auf den Schultern. Sie gehen schweigend, leise. Es ist unheimlich.»17 Im Zentrum Kiews waren zuvor mehrere zurückgelassene sowjetische Minen detoniert. Die Attentate wurden zum Auslöser, die vermeintlichen Urheber und damit die gesamte jüdische Gemeinde in der ukrainischen Hauptstadt auszulöschen. Wieder arbeiteten SS, Polizei und Wehrmacht reibungslos zusammen. Die Feldkommandantur in Kiew druckte die irreführenden Umsiedlungsaufrufe und lieferte 100 000 Schuss Munition. Zur Bewachung der Opfer wurde die ukrainische Hilfspolizei eingesetzt, die gerade erst von den Militärs rekrutiert worden war. Polizei sperrte den Tatort ab. Schnell verbreitete sich in Kiew der Verdacht, die Juden würden nicht deportiert, sondern ermordet. Einwohner berichteten, sie hätten von Babij Jar her, einer 2,5 km langen Schlucht außerhalb der Stadt, «pausenlos Maschinengewehrfeuer» gehört. Zwei Tage später hatte Irina A. Choro-
šunova Gewissheit: «Es sind keine Züge von Lukjanovka abgefahren. Leute haben gesehen, wie Autos warme Kleider und andere Sachen vom Friedhof abtransportiert haben. Die deutsche ‹Sorgfalt›. Sie haben sogar schon die Trophäen sortiert!»18 Die ver sammelten Juden waren in Gruppen auf das Exekutionsgelände geleitet worden, wo Männer des SS-Sonderkommandos 4 a sie erschossen. Exakt 33 771 Juden seien es gewesen, berichteten sie nach Berlin. Einige wenige überlebten, weil sie sich noch vor den Schüssen in die Schlucht hatten fallen lassen. Nach dem Massaker besichtigten Wehrmachtoffiziere die offenen Gräber. Dann sprengten Pioniere der 113. Infanteriedivision die Ränder der Gruben ab und begruben so die Leichen. Die Militärverwaltung beschlagnahmte in den Tagen darauf die Wohnungen und das zurückgelassene Eigentum der Opfer. Ein Fahrer der 269. Infan teriedivision schrieb am 28. September 1941 über Kiew: «Die Stadt brennt schon acht Tage, alles machen die Juden. Darauf sind die von 14 bis 60 Jahre alten Juden erschossen worden, und es werden auch noch die Frauen der Juden erschossen, sonst 207
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wird’s nicht Schluß damit.»19 Die Aussage, die noch 1940 im südostpolnischen Mielec der Vater der zehnjährigen Irene Eber vorgebracht hatte, galt nicht mehr: Männer seien in größerer Gefahr, hatte er gemeint, da «tief im Inneren» die «Deutschen zivilisiert genug» seien, um «Frauen und Kindern nichts anzutun»20. Doch Gewehrsalven auf Frauen und Kinder belasteten offenbar die Psyche der Schützen, wie Himmler in Minsk nach einer Massenexekution realisieren musste. Er beauftragte Arthur Nebe, den Chef der Einsatzgruppe B, mit der Suche nach einem neuen Tötungsmittel. Die SS übernahm daraufhin Gaswagen, die aus der Euthanasieaktion beziehungsweise aus den seit April 1941 laufenden Tötungen von KZ-Insassen bekannt waren. Sie leiteten Kohlenmonoxidabgase direkt ins Wageninnere. Nicht zuletzt aufgrund technischer Probleme konnten sie die Erschießungen nicht vollständig ersetzen – weiteten die neue Massentötungsart nun aber auch auf Juden aus: Vergiften durch Gas. Bei der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung engagierte sich die deutsche Zivilverwaltung in besonderer Weise. Wie diese Selbstverpflichtung in der besetzten Sowjetunion aussah, sollte im Januar 1942 der Gebietskommissar im weißrussischen Slonim, Gerhard Erren, in einem Bericht rekapitulieren: «Zunächst wurde die Enteignung durchgeführt und mit dem anfallenden Mobiliar und Gerät sämtliche deutsche Dienststellen einschl. Wehrmachtsquartiere ausgestattet […]. Für Deutsche unbrauchbares Zeug wurde der Stadt zum Verkauf an die Bevölkerung freige geben und der Erlös der Amtskasse zugeführt. Dann folgte eine genaue Erfassung der Juden nach Zahl, Alter und Beruf, eine Herausziehung aller Handwerker und Facharbeiter, ihre Kenntlich machung durch Ausweise und gesonderte Unterbringung. Die vom SD vom 13.11. durchgeführte Aktion befreite mich von unnötigen Fressern; und die jetzt vorhandenen ca. 7000 Juden in der Stadt Slonim sind sämtlich in den Arbeitsprozeß eingespannt, arbeiten willig aufgrund ständiger Todesangst und werden im 208
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Frühjahr genauestens für eine weitere Verminderung überprüft und aussortiert.»21 Die «Aktion» spielte auf die Erschießung von 9 400 jüdischen Einwohnern Slonims an, an der auch Mitarbeiter der Gebietsadministration unter Leitung von Erren sowie Soldaten teilgenommen hatten. Die Legende vom jüdischen Partisan spielte für die Legitimation der Morde eine wichtige Rolle. Der Lehrer und Wehrmachts offizier Max Rohwerder berichtete Ende Oktober 1941 aus Weißrussland, dass Soldaten ihm erzählten, sie hätten in einem Ort 1 400 Juden, Männer, Frauen, Kinder, erschossen, da diese den Freischärlern Munition gebracht hätten. Die 21-jährige Annette Schücking, im ukrainischen Zwiahel stationiert und Schwester eines Soldatenheimes, wusste daher, wem ihr Mitgefühl galt, als sie Anfang November 1941 bedauernd an ihre Mutter schrieb: «Du musst denken, die Soldaten haben hier weder ein Kino noch ein Theater, noch ein Geschäft. Es gibt keinen Brotladen, keinen Friseur, einfach nichts. Dabei ist es eine grosse Stadt. Aber die Juden, die meist die Geschäfte hatten, sind eben alle tot.»22 Der Krieg gegen die Sowjetunion und die mit ihm einhergehende Entgrenzung der Gewalt radikalisierten die Verfolgung der Juden auch in den anderen Teilen des besetzten Europas. Am deutlichsten zeichnete sich dies zunächst in Serbien, im Großdeutschen Reich und im okkupierten Polen ab. Hier setzten im Herbst 1941 gleichzeitig, aber größtenteils unabhängig voneinander Initiativen ein, die auf Massenvertreibung, ja Auslöschung hinausliefen. In Serbien trat im September 1941 Franz Böhme seinen Posten als militärischer Befehlshaber an. Rache für 1914 sowie der Kampf gegen das «jüdisch-bolschewistische Verbrechertum» trieben den Österreicher an. Zwischen September und November wurden mehrere Tausend jüdische Männer erschossen. Diese Mordaktionen schienen mittlerweile so selbstverständ lich, dass der Judenreferent des Auswärtigen Amts, Franz Rademacher, seine Dienstreise nach Belgrad im Oktober 1941 ganz offen mit dem Betreff: «Liquidation von Juden»23 abrechnete. Zu209
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vor hatte das Auswärtige Amt beim RSHA angefragt, ob nicht die verbliebenen Juden nach Polen oder Russland abgeschoben werden könnten. Doch schon im Dezember 1941 sollten in Serbien keine männlichen Juden mehr leben, und im August 1942 sollte Gruppenführer Harald Turner rühmen: «Judenfrage, sich SS- ebenso wie die Zigeunerfrage völlig liquidiert.»24 Der Binnenstaat in Südosteuropa war neben Polen und der Sowjetunion das einzige Land, in dem die jüdische Bevölkerung an Ort und Stelle ausgelöscht wurde. Im Reich hatte sich Hitler infolge des ins Stocken geratenen Blitzkriegs Mitte August 1941 entschieden, seinen vermeintlich ärgsten Widersacher dafür haftbar zu machen und eine Maßnahme nachzuholen, die in Osteuropa längst praktiziert wur de: die Kennzeichnung der Juden. Die Verordnung für den gelben Stern trat am 19. September 1941 in Kraft. Die Abzeichen produzierte die Firma Geitel & Co. in Berlin–Mitte, sie machte 30 000 Reichsmark Umsatz mit den Flecken. Die Juden mussten die Sterne für zehn Pfennig pro Stück erwerben. Die Kenntlichmachung «bedeutet für uns Umwälzung und Katastrophe», verzweifelte Klemperer. Er entschloss sich, «das Haus nur bei Dunkelheit auf ein paar Minuten verlassen»25 zu wollen. Doch die Volksgenossen hielten sich mit Äußerungen zurück. Böse Bemerkungen waren selten, es herrschte eher Verlegenheit. In Prag notierte die junge Übersetzerin Eva Roubíčková: «Die Leute haben es entweder ignoriert oder gelächelt, jedenfalls haben sie sich anständiger benommen, als ich es erwartet hätte.»26 Vereinzelt gab es spontane Solidarisierungen, etwa das heimliche Zustecken einer Apfelsine im Vorübergehen. An der generellen Haltung der Passivität und der Hinnahme aller antijüdischen Aktionen änderte sich nichts. Das Regime drehte weiter an der Spirale der Eskalation, als Stalin Ende August 1941 Hunderttausende Russlanddeutsche nach Sibirien, Kasachstan und an den Ural verbannen ließ, um deren Kollaboration mit den nationalsozialistischen Invasoren unmög210
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lich zu machen. Daraufhin sandte Rosenberg am 11. September Hitler ein Memorandum mit dem Tenor, umgehend als Vergeltungsmaßnahme die Deportation aller Juden Zentraleuropas in den Osten einzuleiten. Ganz so weit ging der Diktator nicht. Angesichts seiner drängelnden Satrapen – neben Rosenberg waren das vor allem nach wie vor die Gauleiter – löste er sich aber von seiner ursprünglichen Planung, den Blitzsieg über die UdSSR abzuwarten, und dekretierte, die Juden möglichst bald aus dem Deutschen Reich zu entfernen. Dieser Entschluss war angesichts der gerade zwischen London und Washington vereinbarten Atlantikcharta auch als Drohgebärde gegenüber den USA gedacht, sich aus dem Krieg herauszuhalten, sonst würde es den deutschen Juden noch schlechter ergehen. Ein weiterer Grund fand sich in dem durch den alliierten Bombenkrieg verursachten Wohnungsmangel der Volksgenossen. So brüstete sich der Hamburger Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann gegenüber Göring damit, beim «Führer» am 16. September vorgesprochen zu haben «mit der Bitte, die Juden evakuieren zu lassen, um zu ermöglichen, dass wenigstens zu einem gewissen Teil den Bomben geschädigten wieder eine Wohnung zugewiesen werden könn te»27 – wie man sehe, mit Erfolg. Doch wohin sollten die Juden jetzt? Ein Reservat jenseits des Urals zeichnete sich angesichts des ausbleibenden Sieges nicht ab. Himmler brachte in Absprache mit Hitler als Zwischenlösung das Ghetto Litzmannstadt ins Spiel, das er Anfang Juni 1941 besichtigt hatte. Am 18. September informierte er Greiser, dass dieser im Winter 60 000 Juden aufnehmen müsse: «Der Führer wünscht, daß möglichst bald das Altreich und das Protektorat vom Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit werden. Ich bin daher bestrebt, möglichst noch in diesem Jahr die Juden des Altreiches und des Protektorats zunächst einmal als erste Stufe in die vor zwei Jahren neu zum Reich gekommenen Ostgebiete zu transportieren, um sie im nächsten Frühjahr noch weiter nach dem Osten abzuschieben.»28 Da aber Litzmannstadt 211
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schon völlig überfüllt war, protestierte Greiser. Himmler senkte daraufhin die Zahl auf 20 000 Juden und 5 000 Roma. Weitere Provisorien mussten mithin gefunden werden. Aufgrund von Franks Weigerung schied auch das Generalgouvernement aus. In den Blick kam daher das Reichskommissariat Ostland. Himmler hatte im Sommer die Großghettos in Minsk und Riga inspiziert. Auch sie wurden jetzt zu Aufnahmelagern für die Deportierten. Später kam noch das litauische Kaunas hinzu. Zugleich ließ Heydrich als stellvertretender Reichsprotektor ab Oktober 1941 in Nordböhmen ein Durchgangslager für die 88 000 tschechischen Juden einrichten: Theresienstadt. Am 15. Oktober, die Wehrmacht stand vor den Toren Moskaus, und an der Staatsspitze herrschte wieder Optimismus, rollten die ersten von ins gesamt 20 Zügen aus Hamburg, Berlin, Prag, Luxemburg und anderen Städten über die deutsche ‹Zivilisationsgrenze›. Das zurückgelassene Hab und Gut wurde teils an Ausgebombte kostenlos abgegeben, teils versteigert. Die New York Times informierte ihre Leser am 22. Oktober 1941, dass der antijüdische «Drive» in Deutschland wiederaufgelebt sei. Der argentinische Botschafter in Berlin, Ricardo Olivera, berichtete am 12. November nach Buenos Aires: «Herr Minister, der aktuelle Massentransport von Is raeliten nach Polen könnte den Höhepunkt der antisemitischen Politik darstellen, die vor acht Jahren von der nationalsozialis tischen Regierung begonnen wurde. Nach einigen Informationen aus glaubwürdigen Quellen wird die Zahl der Personen im Oktober auf 20 000 steigen.» Man glaube, dass «man am 1. April 1942 von einem judenfreien Reich sprechen können wird»29. In Berlin zogen die Opfer von der Hauptsammelstelle, der ehemaligen Synagoge Levetzowstraße, zum Bahnhof Grunewald. Die Hauptstädter zeigten sich weitgehend unberührt. «Was interessieren mich die Juden, ich denke nur an meinen Bruder bei Rshew, alles andere ist mir völlig gleichgültig»30, rechtfertigte ein Volontär der Deutschen Allgemeinen Zeitung auf die Nachfrage der Redakteurin Ursula von Kardorff seine Indifferenz. Helmuth James 212
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von Moltke – er arbeitete für den Nachrichtendienst der Wehrmacht und gehörte zum Widerstand – machte sich Gedanken darüber, wozu das Regime diesen riesigen Aufwand betrieb und warum es die Juden nicht an Ort und Stelle umkommen ließ. Er mutmaßte, dass man Rücksicht auf die Gefühle der Volksgenossen nehmen wollte. Ihnen wolle man ersparen, so schrieb der 34-jährige seiner Frau am 21. Oktober 1941, «zu sehen, daß man sie einfach in Hunger und Kälte verrecken lässt, und tut das daher in Litzmannstadt und Smolensk». Moltke beunruhigte seine Mitwisserschaft: «Darf ich denn das erfahren und trotzdem in meiner geheizten Wohnung am Tisch sitzen und Tee trinken? Mach’ ich mich dadurch nicht mitschuldig?» Und ähnlich wie Hellmuth Stieff rang er mit sich: «Wenn ich nur das entsetzliche Gefühl los werden könnte, daß ich mich selbst habe korrumpieren lassen, daß ich nicht mehr scharf genug auf solche Sachen reagiere, daß sie mich quälen, ohne daß spontane Reaktionen entstehen.»31 Im Oktober 1941 schrieben die Nationalsozialisten das Vorhaben einer möglichst vollständigen Deportation der Juden unwiderruflich fest. Himmler ließ die Grenzen schließen und untersagte die «freiwillige» Emigration. Allein im Altreich saßen etwa 260 000 Menschen in der Falle. Zudem wurde eine Verordnung vorbereitet, nach der Juden ihre deutsche Staatsangehörigkeit und die Rechte an ihrem Eigentum verloren, sobald sie die Reichsgrenze «überschritten». Für die Deportationen sollten der bewährte Vertreibungsspe zialist Eichmann und sein Referat im RSHA zuständig sein. Am 8. November begann eine zweite Phase der Verschleppungen, die bis zum 6. Februar 1942 dauern sollte. 22 Transporte aus dem Großdeutschen Reich gingen nun nach Minsk, Riga und Kaunas, immer unter den Augen der Öffentlichkeit im Reich wie in den Zielorten. Leland Morris, der amerikanische Botschafter in Berlin, unterrichtete Washington, dass die deutsche Regierung alle körperlich tauglichen Juden aus Deutschland zur Zwangsarbeit nach Russland schicke. In der Hauptstadt kursiere, dass viele der «Eva213
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kuierten» an Krankheiten, Kälte und Hunger gestorben seien. Manche seien sogar direkt von ihren Bewachern erschlagen worden. In Dresden registrierte Klemperer: «Die Verschickungen nach Polen nehmen ihren Fortgang, überall unter den Juden tiefste Depression.»32 Am 28. November notierte er: «Man weiß nichts Genaues, nicht, wen es trifft, nicht, wann noch wohin. Täglich Nachrichten aus verschiedensten Städten, Abgang großer Transporte, Sistierungen, dann wieder Abgang, mit Sechzigjährigen, ohne Sechzigjährige – alles scheint Willkür. München, Berlin, Hannover, Rheinland […]. Alles schwankt, man wartet von Tag zu Tag.»33 Die Lage in Minsk hielt Mitte Dezember 1941 der 56-jährige Schlosser und Journalist Berthold Rudner in seinem Tagebuch fest. Unter den grauenvollen Bedingungen des völlig überfüllten Ghettos fielen «[a]lle Kultur und Zivilisation […] wie die Blätter im Herbst» von den Menschen ab. «Prinzessinnen aus Berlin mit 7-[Zimmer-]Wohnungen waschen sich nicht, aber lecken die Finger ab.» «Die Gier nach Essen» überschatte alles, es wuchere der «gemeingefährliche Egoismus», das «Fressen ist Tages- und Nachtgespräch»34. 14 Tage später bereiteten ihm die fehlenden Toiletten und Waschmöglichkeiten Sorge: «Die Männer lassen ihr – Brünnlein fließen, wo sie stehen. Im Ghetto ist der ganze Boden verseucht. […] Neulich sah ich eine Ecke hinter einer Schmiede, die voll von gefrorenen Häufchen war.»35 Ein 32-jähriger Hamburger Soldat, Akademiker und dem Germanenkult zugetan, begaffte das Ghetto von außen und berichtete seiner Frau am 28. Dezember 1941: «Bei Annäherung an das Judenviertel viele Männer + Frauen mit bunten Stofffetzen auf Rücken + Brust. Wahrscheinlich hätte ich manchen Hamburger Bekannten darunter treffen können.»36 Diverse Wehrmachtsbefehlshaber protestierten gegen die Transporte und deren mögliche Weiterfahrt ins Operationsgebiet. Auch Hellmuth Stieff erzürnte wieder einmal das deutsche Vorgehen, weil es militärische Belange hintanstellte – aber auch 214
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weil es unmoralisch sei, wie er seiner Frau am 19. November schrieb: «Aber dafür reicht die Bahn noch aus, jeden 2. Tag einen Zug mit Juden aus dem Reich nach Minsk zu fahren und sie dann dort ihrem Schicksal preiszugeben. Das ist, ebenso wie der Judenstern in Berlin, wie ich ihn im September dort sah, eines angeblichen Kulturvolkes unwürdig!» Dennoch war auch er mehr um die deutsche Nation besorgt als um die Opfer: «Es muß sich das alles mal an uns rächen – und mit Recht! Es ist schamlos, daß
um einiger Halunken willen ein so braves Volk ins Unglück gestürzt wird. Es ist ja alles noch viel schlimmer geworden als vor 2 Jahren in Polen.»37 In der Tat. Aber auch im besetzten Polen verschärfte sich mit der Entscheidung, die deutschen Juden zu deportieren, die Situation. Vorreiter wurde der Warthegau, in Łódź wurden die von Höppner erwähnten Ideen einer Ermordung nun Realität. Denn man brauchte Platz im Ghetto für die 20 000 Ankömmlinge aus dem Reich. Die polnischen Juden vor Ort zu erschießen, wie es mit den sowjetischen Juden geschah, war offenbar keine Option. Zudem besaß man mit den Tötungen durch Abgase bereits seit zwei Jahren ein personalsparendes, unauffälliges und erprobtes Verfahren. Himmler und Zivilchef Greiser schickten den Spezialisten Herbert Lange los, nach einem geeigneten Gelände zu suchen, um seine Lastwagen aufzubauen. Er fand es im Oktober 1941 in Chełmno/Kulmhof, 55 km nordwestlich von Łódź. Das 300-Seelen-Dörfchen lag verkehrsgünstig sowohl an einer Landstraße als auch an einer Bahnstrecke. Ab dem 8. Dezember tötete hier ein SS-Kommando, unterstützt von Polizeieinheiten, Juden aus Łódź mit Motorenabgasen. Den Opfern wurde gesagt, sie müssten vor dem Weitertransport desinfiziert werden. Unter Schlägen und Schreien wurden sie dann in die Wagen getrieben. Arbeitskommandos aus jüdischen Männern stapelten die Leichen in zuvor ausgehobenen Gruben am Waldrand. Kenntnisse über das Geschehen in Chełmno verbreiteten sich schnell im Warthegau. Die jüdische Bevölkerung war verzweifelt: Was sollte 215
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man tun? Ein unbekannter Mann schrieb am 31. Dezember 1941 an seinen Cousin: «Achte diese Sache nicht gering, sie haben beschlossen, uns auszulöschen, umzubringen, zu vernichten. Gib dieses Schreiben an gebildete Leute zum Lesen weiter.»38 Nicht Platz schaffen für die deutschen Juden, sondern Platz schaffen für die Deutschen, lautete zunächst die Devise im Generalgouvernement. Hier rückte wiederum der Distrikt Lublin in den Mittelpunkt. Der SS- und Polizeiführer des Distrikts, Odilo Globocnik, war ein Duzfreund Himmlers und von ihm mit der Errichtung von SS- und Polizeistützpunkten im Rahmen des Generalplans Ost beauftragt worden. Angesichts aller bereits laufenden Tötungsaktionen machte der Österreicher Druck und verwies darauf, dass man zur endgültigen Germanisierung des Distrikts und Ansiedelung der notleidenden Volksdeutschen die Fremdvölkischen «entsiedeln» müsse. Im Oktober 1941 kamen Glo bocnik, sein Vorgesetzter, HSSPF Friedrich Wilhelm Krüger, und Himmler überein, das Problem durch Massenmord zu lösen und ähnlich wie in Łódź ein Vernichtungslager zu errichten. Globocnik wählte das Dorf Bełżec aus. Es lag bei Zamosc in einem der prospektiv ersten Kolonisierungsgebiete. Hier hatte er 1940 bereits ein Zwangsarbeitslager für Juden unterhalten. Der Ort lag zudem günstig an der zentralen Bahnlinie vom galizischen L’viv nach Lublin, auch Krakau war noch nah. Wie im Warthegau vertraute man auf Vergiftung durch Kohlenmonoxid. Mit den Berliner Euthanasie-Männern aus der mittlerweile offiziell abgebrochenen T4-Aktion standen ausgewiesene Massenmörder bereit, ihre tödliche Expertise nun in Lublin zur Anwendung zu bringen. Anders als in Kulmhof kamen jedoch die umständlichen Gaswagen nur zu Beginn zum Einsatz, bevor die Opfer erstmalig in fest installierten Gaskammern getötet wurden, in die man Benzin abgase von außen einleitete. Im November 1941 begannen pol nische Arbeiter aus der Umgebung mit deren Errichtung, Mitte Dezember waren Entkleidungsbaracken und eine Gaskammer fertig. Erster Kommandant wurde Christian Wirth, ein notori216
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scher Gewalttäter, der selbst von seinen Untergebenen gefürchtet wurde, sie gaben ihm den Beinamen «der wilde Christian». Globocnik ließ zudem in Trawniki ein Ausbildungslager einrichten. Entlassene aus den Hungerlagern für sowjetische Kriegsgefangene sollten hier die Bewachung und Tötung von Juden lernen, um selbst zu überleben. Der Einsatz dieser sukzessive auf mehrere Tausend anwachsenden Hilfskräfte ermöglichte der SS, mit wenig deutschem Personal auszukommen. In Bełżec arbeiteten zunächst nur 13 Deutsche beziehungsweise Österreicher. Hitler war an all dem mittelbar durch seine Kanzlei beteiligt: in Gestalt ihres leitenden Mitarbeiters Viktor Brack. Aber die Initiative ging von Lublin aus, von Globocnik und seinem großen, bald 450 Mitarbeiter zählenden Stab. In Riga, Minsk und Kaunas wiederholte sich unterdessen das Vorgehen aus Łódź. Doch sollte es zu Problemen kommen. Himmler befahl am 12. November dem aus der Ukraine versetzten Friedrich Jeckeln, etwa 30 000 Juden des Rigaer Ghettos zu ermorden. 2 500 mutmaßlich arbeitsfähige Juden wurden ausgesucht, die anderen exekutiert. Als Jeckeln jedoch auch 1 053 deutsche Juden töten ließ, warf Himmler ihm Eigenmächtigkeit vor. In Kaunas versuchte der ebenso fanatische wie akribische Karl Jäger, Chef eines Einsatzkommandos, zu vertuschen, dass er in einem Akt der Routine die fast 3 000 «Evakuierten» ebenso hatte «umlegen»39 lassen wie zuvor 100 000 litauische «Juden, Jüdinnen und Judenkinder». Weiter südlich wollte Wilhelm Kube, der Generalkommissar für Weißruthenien, nichts wissen von einer Erschießung von «Menschen, die aus unserem Kulturkreis kommen», sie seien «doch etwas anderes als die bodenständigen vertierten Horden»40. Sollte der Massenmord auf deutsche oder überhaupt westeuropäische Juden ausgedehnt werden – oder nicht? Das war eine der Fragen, die die NS-Bürokratie Ende 1941 beschäftigte. Eine zweite war die Unentbehrlichkeit von Handwerkern und anderen Fachkräften. Hinrich Lohse, der Reichskommissar für das Ostland, 217
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hatte die Judenexekutionen in Liepāja gestoppt, weil sie ihm zu wild gewesen waren. Daraufhin beschwerte sich das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete. Verunsichert fragte Lohse am 15. November zurück, ob denn die Juden «ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht und wirtschaftliche Interessen»41 liquidiert werden sollten. Rosenbergs Behörde antwortete dem Schleswig- Holsteiner am 18. Dezember, ohne auf die offensichtlich keiner Antwort mehr bedürfenden ersten beiden Punkte einzugehen, dass «wirtschaftliche Belange bei der Regelung des Problems grundsätzlich unberücksichtigt bleiben sollten»42. Diese Ansage einer Totalvernichtung traf nicht ganz den Kern. Die Deutschen brachten ja keineswegs sofort überall sämtliche jüdischen Einwohner um. Etliche polnische und sowjetische Juden wurden als Zwangsarbeiter für die deutsche Kriegswirtschaft am Leben gelassen. Doch ebendarüber gingen die Meinungen auseinander. Vielen Wehrmachtsstellen galten Juden als billige Arbeitskräfte, für andere wie den neuen Chef der Einsatzgruppe C, Max Thomas, im Zivilleben Facharzt für Psychiatrie, brachten sie als «‹Bakterienträger› des Kommunismus»43 nicht nur keinen Nutzen, sondern richteten größten Schaden an. Die unterschiedlichen Logiken der Verfolgung, das Nebeneinander von leben und sterben lassen führten augenscheinlich zu Irritationen. Himmler und Heydrich wurde deutlich, dass es einer Abstimmung und klarer Maßgaben bedurfte. Heydrich ergriff die Initiative, nicht zuletzt um – eingedenk des Göring’schen Auftrags – seinen Führungsanspruch zu unterstreichen. Am 29. November verschickte er Einladungen an 15 Staatssekretäre und SS- Chefs zu einer Konferenz am 9. Dezember in das Gästehaus der Sicherheitspolizei und des SD Am Großen Wannsee 56 – 58. Das Treffen musste aber verschoben werden. Anfang Dezember kam die Offensive der Wehrmacht in der Sowjetunion zum Stillstand. Zudem traten die USA in den Konflikt ein, und in der Welt des Adolf Hitler hatte das vereinigte Judentum spätestens damit den Deutschen den Krieg erklärt. Die Geiselidee ver218
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schwand von der Agenda. Hitler berief zum 12. Dezember eine Reichs- und Gauleitertagung ein, Goebbels notierte anschließend die Worte seines Herrn: «Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muß die notwendige Folge sein.»44 Auch Hans Frank war unter den Zuhörern gewesen. Wie er seiner Regierung in Warschau am 16. Dezember mitteilte, habe man ihm auf sein Ersuchen, wie ursprünglich geplant die Juden in die besetzte Sowjetunion abzuschieben, «in Berlin gesagt: Weshalb macht man diese Scherereien; wir können im Ostland oder im Reichskommissariat auch nichts mit ihnen anfangen, liquidiert sie selber! […] Wir müssen die Juden vernichten, wo immer wir sie treffen.» Frank interpretierte die Sitzung als Aufforderung zur Auslöschung der fast 2,3 Millionen Juden im Generalgouvernement und in Galizien. Vorgaben hierfür erhoffte er sich aus Berlin, sein Ziel war klar. «Das Generalgouvernement muß genau so judenfrei werden, wie es das Reich ist. […] Wir sind das Tor, durch das man aus dem Osten wieder nach Deutschland kommt.»45 Die Welle von Aktivismus im Herbst/Winter 1941 erfasste auch die NS-Funktionäre in den Beneluxstaaten und Frankreich, es begannen erste Verschleppungen in Sammellager. Wie in Ost europa gab es einen Willen zur Differenzierung, nämlich zwischen einheimischen und ausländischen Juden. Manche der Stigmatisierten forderten im Versuch, sich selbst zu retten, diese Unterscheidung auch ein, wie ein anonymer Franzose, der am 12. Februar 1942 an Staatschef Pétain schreiben sollte: «Glauben Sie nicht, Herr Marschall, […] dass ein Unterschied gemacht werden muss zwischen uns, den französischen Juden, und den Ausländern, denen wir in keiner Weise ähnlich sind?»46 In Frankreich war der kommunistische Widerstand nach dem Zerfall des Hitler-Stalin-Paktes sehr aktiv geworden, was die deutschen Besatzer zum Vorwand für scharfe Verfolgungsmaßahmen gegen Juden nahmen. Es herrschte eine angespannte Atmosphäre, wie Pierre Lion, ein Bergbauexperte, am 13. September 1941 aus 219
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Paris berichtete: «Wieder Attentate auf deutsche Offiziere. Repressionswelle. Wände bedeckt mit Plakaten, die Erschießungen ankündigen.» Razzien und Verhaftungen prägten das Bild, die Festgenommenen kamen in Sammellager. «Alle Gefangenen im Lager von Drancy festgehalten, unter fürchterlichen Bedingungen.»47 In Belgien hatten die Besatzungsbehörden der jüdischen Be völkerung seit Juni 1941 immer neue Einschränkungen auferlegt. Mit dem Ausreiseverbot im Oktober hatte sich die Situation weiter zugespitzt. Wie in anderen besetzten Ländern wurde im November eine Zwangsorganisation der Juden gegründet – als «Befehlsübermittlungsstelle»48, wie sich Seyß-Inquart, der Reichs k ommissar in Den Haag, ausdrückte. Hier in den Niederlanden entschieden sich die Besatzer im Oktober 1941, das bis dato für inhaftierte deutsche und österreichische Juden genutzte Wes terbork als zentrale Sammelstätte für alle 22 000 ausländischen «Nichtarier» einzurichten. Doch auch die Niederländer waren in Gefahr. Ein Vertreter der britischen Gesandtschaft in Stockholm gab am 16. Dezember den Bericht eines nach Schweden geflohenen Juden weiter: «Die Deutschen schmieden Pläne, die niederländischen Juden nach Polen zu schicken, bislang haben sie diesen Schritt jedoch nicht gewagt.»49 Es braute sich etwas zusammen. Der Blitzkrieg gegen die So wjetunion war gescheitert, er war mit der Kriegserklärung an die USA sogar zum Weltkrieg geworden. Hitler gab alle Schuld den Ju-
den und erhob, nicht ohne Genugtuung, deren Ausrottung zum Mittel der Selbstverteidigung. Im Reich hatten die Deportationen die jüdischen Deutschen in Panik versetzt. Klemperer vertraute seinem Tagebuch an, er habe Angst vor jedem Klingeln. Solmitz füllte ihr Diarium fast nur noch mit der Wiedergabe der OKW- Berichte und der Angst vor den Bombenangriffen, die ihr ganzes Fühlen und Schreiben beherrschte, neben der Sorge um ihren kleinen Enkel und unausgesprochen vielleicht auch um ihren Mann. Vielerorts vermutete man, dass die Transporte wegen der 220
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harten Bedingungen im besetzten Osteuropa letztendlich in den Tod führen würden. In Polen hatten etliche Juden Angehörige und Verwandte durch Mord, Seuchen und Krankheiten verloren. Nun kursierten erste Nachrichten über Todeslager. Dennoch war die Hoffnung groß, den Krieg zu überstehen, vor allem indem man für die Deutschen produzierte. «Unser einziger Weg ist Arbeit»,50 so lautete die Maxime des Chefs der jüdischen «Selbstverwaltung» im Ghetto Litzmannstadt, Mordechai Chaim Rumkowski. Das war nicht abwegig, schließlich wollte auch der Leiter der deutschen Ghettoverwaltung Hans Biebow Litzmannstadt als wichtigen Produktionsbetrieb erhalten. Zum gleichen Zeitpunkt, zur Jahreswende 1941/42, sahen sich in der besetzten Sowjetunion sowie in Serbien die jüdischen Gemeinden mit ihrer Totalvernichtung konfrontiert. Allein die Einsatzgruppen meldeten an das RSHA bis Jahresende 450 000 getötete Juden. Insgesamt waren es wohl 900 000 Opfer. War man davongekommen, blieben nur noch Flucht oder der Untergrund. Konzentration, Verschleppung, Zwangsarbeit und Massenmord existierten zu diesem Zeitpunkt im besetzten Europa parallel. Im Laufe des Jahres 1942 verRegime diese Optionen immer mehr auf den engte das NS- systematischen, staatlich gelenkten und bürokratisch organisierten Völkermord.
Völkermord Berlin, 20. Januar 1942: Bei schönem Winterwetter traf Heydrich mit Spitzenbeamten des Innen-, Außen-, Justiz- und Ostministeriums, der Vierjahresplanbehörde, der Reichs- und Parteikanzlei sowie Vertretern des RSHA, des Generalgouvernements und des Reichskommissariats Ostland in der idyllisch gelegenen Villa am Großen Wannsee zusammen. Eingeladen waren auch zwei Praktiker des Massenmordes aus den Leitungen der Einsatzgruppen. 221
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Nicht anwesend waren alle Konkurrenten des RSHA-Chefs sowie weitere Beteiligte an den Tötungen wie die HSSPF, Vertreter der Wehrmacht oder auch der Reichsbahn. Zunächst informierte Heydrich die anwesenden Herren über den aktuellen Stand der antijüdischen Maßnahmen im besetzten Europa. Der «Führer» habe entschieden, die Juden zu «evakuieren», Europa werde «vom Westen nach Osten durchgekämmt». Das Reichsgebiet solle vorweggenommen werden, die Betroffenen würden in Durchgangsghettos kommen, der Beginn der einzelnen Deportationen sei abhängig von der «militärischen Entwicklung». Elf Millionen Juden lebten noch in ganz Europa, das hatten die Statistiker der SS errechnet, und könnten in die zukünftige «Endlösung» einbezogen werden. Unter den aufgezählten Staaten befanden sich nicht nur die besetzten Länder. Vielmehr umfasste diese Wunschliste auch alle Bündnispartner wie die neutralen Staaten, selbst Großbritannien und das französische Nordafrika waren schon gesetzt. Im Osten, so hieß es im Protokoll des Treffens, sollten die Juden, getrennt nach Geschlechtern, um jeglichen Nachwuchs zu verhindern, Straßen bauen, «wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird». Auch der «verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden». «Entsprechend behandelt» war der gebräuchliche SS-Euphe mismus für Liquidierung. Das den Opfern zugedachte Schicksal lautete damit erst Zwangsarbeit, dann Tod. Zum Schicksal der Juden, die gar nicht arbeiten konnten, wie Kinder, Alte und Schwangere, äußerte er sich nicht. Heydrich erwähnte lediglich, dass Juden über 65 Jahre sowie Kriegsversehrte und Träger des Eisernen Kreuzes nach Theresienstadt kommen sollten, um Protesten zugunsten deutscher und österreichischer Frontkämpfer aus dem Ersten Weltkrieg zuvorzukommen. Weiterhin solle das Auswärtige Amt sich mit den verbündeten Staaten ins Benehmen setzen, um auch in diesen entsprechende Verfolgungsmaß222
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nahmen zu initiieren. Hierin sah der anwesende Unterstaatssekretär Martin Luther mit Blick auf Südosteuropa «keine großen Schwierigkeiten». Im Falle des besetzten Norwegen und Dänemark würde er aber empfehlen, diese Länder «vorerst noch zurückzustellen». Hinsichtlich des «wichtige[n]» Punktes, wer denn überhaupt als Jude gelten solle, konnte man sich nicht einigen. Das Thema nahm den breitesten Raum ein, ging es doch um die aus der Perspektive der Rassenpolitik komplizierte Gruppe von «Mischlingen» und «Mischehen». Weitere Gesprächsinhalte waren die in kriegswichtigen Betrieben arbeitenden Juden. Sie sollten von der «Evakuierung» ausgenommen werden. Abschließend wurden «die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten» besprochen. Der Vertreter Hans Franks, Josef Bühler, drängte darauf, im Generalgouvernement mit den «praktischen Erfahrungen» im Vorfeld der «Endlösung» zu beginnen. Schließlich sei hier die Mehrzahl der Juden «arbeitsunfähig»51. Nach eineinhalb Stunden war alles vorbei. Dann gab es Kaffee, Schnittchen und Cognac – und Adolf Eichmann schrieb jenes Protokoll, das Hey drich vermutlich redigierte. Auf der Wannseekonferenz wurde die «Endlösung der Judenfrage» nicht beschlossen. Im Dritten Reich entschieden nicht Staatssekretäre über die Auslöschung von «11 Millionen Juden». Zudem hatten erste systematische Massentötungen ja längst begonnen. Dementsprechend setzte auch kein ausformulierter schriftlicher Befehl Hitlers die Ermordung der europäischen Juden in Gang. Anders als im Fall der militärischen Kriegführung, die er nie seinen von ihm grosso modo verachteten Generälen überließ, hielt Hitler sich mit direkten Eingriffen in das Mordgeschehen weitgehend zurück, wusste er es doch bei Himmler und der SS in guten Händen. Als Antreiber wie als Legitimationsinstanz stand Hitler jedoch im Zentrum der antijüdischen Gewaltpolitik. Planung und Durchführung lagen in den Händen vieler, wie nicht zuletzt die Liste der Eingeladenen zeigte. Sie trieben die «Endlösung» stufenweise voran – in konzeptioneller wie perso223
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neller Verbindung mit den anderen Programmen zur «Ausmerze» von als minderwertig oder lästig angesehenen Gruppen wie Behinderten oder sowjetischen Kriegsgefangenen. Nun, im Winter 1941/42, wurde klar, dass der Krieg länger dauern würde. Heydrich hielt dabei an seinem Plan einer «kommenden Endlösung» fest, vermutlich in Form eines Reservats irgendwo in der Sowjetunion – nach dem Sieg über Stalin. Gleichwohl musste er akzeptieren, dass Himmler die Massenmorde vorantrieb, in der Sowjetunion, im Generalgouvernement. Der Kriegseintritt der USA radikalisierte das Vorgehen nochmals. Zukunftspläne waren
gut, aber es musste jetzt etwas geschehen. Das Protokoll reflektiert diese Zeit eines Übergangs: von regionalen Liquidationen und Jagden nach Zwangsarbeitern hin zu einem stärker koordinierten und umfassenden Projekt. In dessen Mittelpunkt standen Selektion und Mord, wie im Generalgouvernement bereits praktiziert. Insofern war die Zusammenkunft nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Etappe in diesem Prozess. Die anwesenden Instanzen wussten nun offiziell, dass die Deportationen ganz Europa umfassen sollten, dass Massenmord die erwünschte Option und Arbeitsfähigkeit ein Selektionskriterium war. Alle wurden eingeschworen, niemand protestierte. Heydrich durfte sich in den noch verbleibenden viereinhalb Monaten seines Lebens als Meister der «Endlösung» fühlen. Der Distrikt Lublin rückte dabei immer mehr ins Zentrum des Geschehens, zunächst wieder einmal als weitere Aufnahme region für deportierte Juden aus dem Westen. Noch vor der Wannseekonferenz hatte die Zivilverwaltung ihre Absage an Transporte aus dem Reich aufgegeben. Bühler hatte dem Distriktschef am 3. Januar 1942 mitgeteilt, dass Juden aus Deutschland, Tschechien und der Slowakei, dessen Regierung als Erste ihre jüdischen Bürger den Deutschen auslieferte, in die Region gebracht würden und dort eine Zeit lang gefangen bleiben sollten. Die ersten Transporte kamen am 11. März an. Die Züge hatten neben dem Warschauer Ghetto und dem seit Oktober 1941 224
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eingerichteten KZ für die Region Lublin Majdanek kleinere Ortschaften als Ziele. Ost- und westeuropäische Juden mussten, wie in Łódź, zusammengepfercht eine Zwangsgemeinschaft bilden – zum Entsetzen aller. Der 20-jährige, aus Essen deportierte Ernst Krombach schrieb aus Izbica in einem heimlich geschmuggelten Brief an seine Verlobte, dass die «vielen Illu sionen eines kameradschaftlichen Zusammenlebens»52 schnell verloren gingen angesichts des herrschenden nationalen Egoismus und zweier konkurrierender Judenräte. Wieder sollten die Verschleppten aus dem Westen arbeiten, wieder wurden an sässige polnische Juden getötet – im gerade fertiggestellten Bełżec. Nach dem Winter war der Boden weich genug für das Ausheben neuer Massengräber. Darüber hinaus fingen nun Polizeikommandos an, systematisch Landkreis für Landkreis in den Distrikten Lublin und Galizien zu räumen. Im Fall von Ghettos, die abseits von Bahnhöfen lagen, exekutierten in der Regel Trawnikis, zum Teil mit Hilfe von polnischen Polizisten, die Opfer. Andernorts trieben die deutschen Einheiten die Menschen unter Einsatz von Maschinengewehren und Reitpeitschen zu den Zügen. In Bełżec trafen so immer mehr Transporte mit Müttern, Kindern, Alten und Kranken ein. Von Mitte März bis Mitte April 1942 töteten hier 20 bis 30 Euthanasie-Experten mit Hilfe von 90 bis 120 Trawniki- Männern 63 000 polnische Juden. Den Opfern wurde vorgegaukelt, sie würden weiterverlegt in Arbeitslager, müssten sich aber vorher desinfizieren lassen. Dann ging es durch eine Schleuse, in der die Menschen ihre Habseligkeiten ablieferten, zu den Gaskammern. Nach zwei Stunden waren sie tot. Wie im gesamten Verlauf des Genozids erzwang man auch hier die Kooperation der Opfer. Die Judenräte mussten die zu Deportierenden aussuchen, der jüdische Polizeidienst musste helfen, die Betroffenen einzusammeln, einige Dutzend ausgewählte «Arbeitsjuden» mussten bei der Ankunft der Menschen deren letzte Habe einsammeln und sortieren, die Leichen aus den Gaskammern zie225
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hen und in die ausgehobenen Gruben werfen. In gewissen Abständen wurden auch diese Helfer ermordet und durch neue Häftlinge ersetzt. Bełżec war, wie später auch Sobibór und Treblinka, eigentlich kein Lager. Hier wurde nur gestorben. Eine Unterbringung der Opfer war mit Ausnahme der wenigen Arbeitsjuden nicht vorgesehen. Goebbels, bislang wenig informiert, notierte am 27. März 1942 über das Gehörte: «Aus dem Generalgouvernement werden jetzt, bei Lublin beginnend, die Juden nach dem Osten abgeschoben. Es wird hier ein ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. Im großen kann man wohl feststellen, daß 60 % davon liquidiert werden müssen, während nur noch 40 % in die Arbeit eingesetzt werden können. Der ehemalige Gauleiter von Wien [Globocnik], der diese Aktion durchführt, tut das mit ziemlicher Umsicht und auch mit einem Verfahren, das nicht allzu auffällig wirkt. […] Die in den Städten des Generalgouvernements freiwerdenden Ghettos werden jetzt mit den aus dem Reich abgeschobenen Juden gefüllt, und hier soll sich dann nach einer gewissen Zeit der Prozeß erneuern. Das Judentum hat nichts zu lachen, und daß seine Vertreter heute in England und in Amerika den Krieg gegen Deutschland organisieren und propagieren, das müssen seine Vertreter in Europa sehr teuer bezahlen, was wohl auch als berechtigt angesehen werden muß.»53 Zumindest die Unauffälligkeit war Wunschdenken. Denn wie auch in Kulmhof wurde das Morden in Bełżec öffentlich bekannt, stoppten die Transporte doch an der Bahnstation des Ortes, an der auch die regulären Personenzüge hielten. Von einem Ghetto für Millionen, wie im Madagaskar-Plan noch anvisiert, oder einer Vertreibung «hinter den Ural» nach Kriegsende war im Frühjahr 1942 kaum noch die Rede. An die Stelle solcher Ideen rückte die sofortige «Schlachtung»54, wie es der Lehrer Chaim Princental aus Lutsk in seinem Abschiedsbrief an den nach Palästina emigrierten Sohn formulierte – oder ein Tod auf 226
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Raten durch barbarische Zwangsarbeit. Kein Ort sollte so sehr dafür stehen wie Auschwitz. Seit seinen Anfangszeiten als KZ für polnische «Aufständische» war Auschwitz allmählich zu einem Platz der Fron für so wjetische Kriegsgefangene im rüstungswirtschaftlich zentralen Ostoberschlesien geworden. Diese Lage nutzte auch der Frankfurter Chemiekonzern IG Farben. Sieben Kilometer vom Stamm lager entfernt, in Monowitz, ließ er eine neue Fabrik für synthetischen Kautschuk und synthetisches Benzin bauen. Als Lager für bis zu 200 000 gefangene Rotarmisten war der kleine Ort Birkenau vorgesehen, drei Kilometer vom Stammlager entfernt und nach der Aussiedlung von Polen und Juden menschenleer. Da aber Anfang 1942 die meisten sowjetischen Gefangenen in den Lagern der Wehrmacht ebenso wie in denen der SS bereits verhungert oder umgebracht worden waren, sollten nach dem Willen des Auswärtigen Amts und des RSHA slowakische Jüdinnen und französische Juden den Arbeitskräftebedarf für die Baustelle und weitere Vorhaben decken. Deshalb fuhren ab Ende März Züge aus der Slowakei und aus dem französischen Sammellager Compiègne nach Auschwitz. Hier herrschten katastrophale Bedingungen. Die Überlebenszeit der jüdischen Häftlinge war, wie die der Kriegsgefangenen vor ihnen, kurz. Klemperer, wieder einmal schnell informiert, notierte am 16. März 1942: «Als furchtbarstes KZ hörte ich in diesen Tagen Auschwitz (oder so ähnlich) bei Kö-
nigshütte in Oberschlesien nennen. Bergwerksarbeit, Tod nach wenigen Tagen.»55 Zudem hatte die Tötung von geschwächten KZ- Insassen auch auf Auschwitz übergegriffen. Im September 1941 hatte der Kommandant, Rudolf Höß, erste Tötungsexperimente mit dem im Lager benutzten Schädlingsbekämpfungsmittel Zy klon B an «arbeitsunfähigen» Kriegsgefangenen und Häftlingen vorgenommen. Das Krematorium war dazu in eine Gaskammer verwandelt worden. Erschöpfte Rotarmisten waren die Ersten, die die Deutschen in Birkenau mit Gas töteten. Das Verfahren hatte sich in den Augen der SS bewährt: Nun überstellte man auch 227
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kranke Juden aus oberschlesischen Arbeitslagern. Auschwitz entwickelte sich allmählich zum Zwangsarbeits- und Vernichtungslager. Im Generalgouvernement entwickelte sich derweil Bełżec zum Modell für weitere Mordstätten. Nachdem sich im Frühjahr 1942 Globocnik, der Leiter der Reichskanzlei Philipp Bouhler und Brack mehrmals getroffen hatten, begann Ende März 1942 der Bau von Sobibór, wieder im Distrikt Lublin. Der 34-jährige Franz Stangl wurde als Kommandant eingesetzt. Weder Fanatiker noch glühender Nazi, war er vor allem eines: effizient. Gelernt hatte der gebürtige Österreicher sein verbrecherisches Handwerk, wie die anderen Täter, bei der «Euthanasie»-Aktion. Seit Anfang Mai trafen in Sobibór Züge mit Juden aus Lublin ein. Die Entscheidung für Treblinka als Ort des dritten Todeslagers im Generalgou vernement folgte einem Besuch Himmlers Mitte April 1942 im völlig überfüllten Warschauer Ghetto. Das Dorf lag an der Bahnstrecke Warschau–Białystok in einer dünn besiedelten Gegend und war eigentlich nur ein Kiefernwald mit einem nahen Zwangsarbeitslager. Obwohl es im Distrikt Warschau lag, fiel auch Treblinka in den Verantwortungsbereich des fanatisch-umtriebigen Globocnik. Die jüdische Bevölkerung im besetzten Polen – in Kenntnis gesetzt durch Bahnarbeiter, einige wenige geflüchtete Arbeitshäftlinge und Gerüchte – erfasste allmählich die Gewissheit, dass sie in höchster Gefahr schwebte. Nur wer als Arbeitskraft einen Stempel in seinen Dokumenten vorweisen konnte, blieb vorerst verschont. «Die Menge wartet wie versteinert vor Entsetzen und Unsicherheit»,56 notierte der nichtjüdische Apotheker Tadeusz Pankiewicz, als im Krakauer Ghetto am 1. Juni das erste Mal eine Selektion durchgeführt wurde. Es war eine perfide Situation: Auf der einen Seite verbreiteten die Selektionen Todesfurcht, auf der anderen Seite keimte regelmäßig Hoffnung auf, nicht alle würden ermordet und man selber würde zu den Überlebenden gehören. Solidarität wurde unter diesen Bedingungen fast unmöglich. 228
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Auch im Warthegau wurden die Landghettos geräumt, wurde nach Arbeitsfähigkeit selektiert, ging die Habe der Opfer an den deutschen Staat, verschwand in Taschen der deutschen Beamten und ihrer Ehefrauen oder wurde von Bürgermeistern an Privatleute versteigert. Die Arbeitsteilung zwischen SS, zentralen und lokalen Behörden funktionierte, die Überlebenden erlebten «albtraumhaft[e] Tage»57, wie Józef Zelkowicz in Łódź notierte. Bis Januar 1943 töteten die Täter in Kulmhof mehr als 145 000 Menschen. Im Frühjahr 1942 sollten die Juden aus dem Großdeutschen Reich in die Vernichtungsaktionen einbezogen werden. Wie es zu dieser Entscheidung kam, ist unklar. Himmler jedenfalls wies Greiser am 16. April bei einem Treffen an, die etwa 11 000 der im Vorjahr ins Ghetto Litzmannstadt Deportierten in Kulmhof töten zu lassen. Zum gleichen Zeitpunkt soll in Minsk der eigens an gereiste Heydrich seinen SS-Leuten eröffnet haben, die aus dem Reich Verschleppten seien umgehend zu liquidieren. Aus den osteuropäischen Ghetto-Arbeitslagern waren Wartesäle des Todes geworden – nun auch für deutsche Juden. In der weißrus sischen Hauptstadt fanden die NS-Schergen eine Mordstätte in Malyj Trostenez. In dem Dörfchen sollte das einzige, eher provisorische Tötungszentrum auf sowjetischem Gebiet entstehen. Anfangs warteten im Wald Erschießungskommandos auf die arglosen Opfer, ab Juni 1942 wurden zudem als Wohnwagen getarnte Gaswagen eingesetzt. Die etwa 150 – 250 SS-Täter brachten wahrscheinlich 60 000 Menschen um: aus dem Minsker Ghetto, aus Berlin, Hamburg, Bremen, aus weiteren deutschen Städten, aus Wien und Theresienstadt, zudem sowjetische Kriegsgefangene und weißrussische Partisanen. Ab Juni 1942 erhöhte sich die Frequenz der Transporte aus Österreich, dem Protektorat und dem Altreich, mutmaßlich als Antwort auf den Anschlag der kommunistischen Widerstandsgruppe Baum auf die Berliner NS-Ausstellung «Das Sowjetparadies» am 18. Mai sowie das tödliche Attentat auf Heydrich. Blanka Alpe 229
IV. Der Holocaust 1941 – 1944
rowitz, Religionslehrerin der Jüdischen Gemeinde in Berlin, registrierte bestürzt, dass den Menschen keine Zeit blieb, sich persönlich zu verabschieden. Alles laufe per Brief, man erhalte Mitteilungen wie: «‹Nun haben auch wir unsere Nummer bekommen. […] Leben Sie wohl, wir werden Sie nie vergessen.› Dies war die Post, die wir fast täglich erhielten, und kam andere Post, dann war es immer irgend eine unangenehme Mitteilung seitens des Finanzamts, des Devisenamts, des Polizeireviers oder sonst einer Behörde.»58 Ziele waren jetzt Riga, Sobibór und Minsk, überwiegend jedoch fuhren die Züge nach Theresienstadt. Das «Altersghetto», in das sich die Deportierten einkaufen mussten, diente nicht nur als Sammellager für insgesamt über 140 000 Insassen. Es sollte als «jüdische Mustersiedlung» die Opfer wie die internationale Öffentlichkeit über die realen Mordaktionen täuschen. Auch hier ließ das RSHA einheimische Juden «evakuieren», um Platz für die Neuen zu schaffen. Weiterhin blieb das RSHA beim aufwendig-bürokratischen Mittel der Deportationen, weiterhin sollte es weder Ghettos noch Todeszentren in Westeuropa geben, weiterhin glaubte man an die Geheimhaltung und beruhigte das eigene Gewissen mit dem scheinbar weit entfernten, aber alles ermöglichenden «Osten». Der NS-Staat führte Krieg, eroberte fremde Länder und zerstörte deren staatliche Strukturen. Zu einer staatslosen Zone wurde aber keines der neuen Territorien. Es zog lediglich ein anderer Machthaber ein. Unter Beteiligung kollaborierender Bürokratien beherrschten behördlich geregelte Verfahren, von Merkblättern zur Deportation über ausgeklügelte Zugfahrpläne bis zur um fassenden Verwertung der Leichen und der statistisch peniblen Erfassung der Toten, das Geschehen. Klemperer notierte am 14. August 1942: «Was ich an alledem soviel gräßlicher finde als ähnliches bei den Russen: Es ist nichts Spontanes dabei, es ist alles methodisch organisiert und angeordnet, es ist ‹kultivierte› Grausamkeit, und es geschieht heuchlerisch, im Namen der Kultur und verlogen. Bei uns wird nicht gemordet.»59 230
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Es war Mitte 1942, und der Krieg dauerte an. Im Reich müssten die Nahrungsmittelrationen gekürzt werden, wie der geschäftsführende Landwirtschaftsminister Herbert Backe spitz gegenüber Hitler und Himmler bemerkte, während im Generalgouvernement Juden versorgt würden. Der Reichsführer SS ließ den Vorwurf nicht auf sich sitzen. Er besichtigte im Juni/Juli 1942 im Rahmen seiner Inspektionsreisen die Vernichtungslager und ließ sich die Etappen der Massenvernichtung demonstrieren. Offenbar zufrieden, erteilte er am 19. Juli, noch in Lublin bei Globocnik weilend, die Order, die «Umsiedlung» der gesamten jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements bis zum Jahresende 1942 zu beenden. Intern wurde die Vernichtung der Juden im Generalgouvernement als «Aktion Reinhardt» bezeichnet, trotz der falschen Schreibweise wahrscheinlich als Vergeltung für den Tod Reinhard Heydrichs. Am 22. Juli fuhr der erste Transport aus Warschau nach Treblinka. Globocnik hatte gegen die wirtschaftlichen Interessen anderer Reichsstellen und der Wehrmacht selbst die Ermordung derjenigen durchgesetzt, die für kriegswichtige Betriebe arbeiteten. Arbeitsausweise wurden nun fast wertlos, nur sehr vereinzelt erhielten deutsche Arbeitgeber noch die Möglichkeit, Zwangsarbeiter und deren Familien anzufordern. In Treblinka kam es aufgrund der vielen nun eintreffenden Transporte zu entsetzlichen Verhältnissen. Es herrschten Chaos und Aufruhr, überall lagen verwesende Tote. Globocnik ließ Stangl aus Sobibór kommen. Dieser verwandelte das Vernichtungslager in ein friedlich anmutendes Dorf. Ein Provinzbahnhof, Türen mit Aufschriften, Fenster mit Vorhängen, Kartenschalter mit Gitter, Fahrplantafeln – alles erfunden wie der Zeitanzeiger aus Holz. Die Zeiger standen fest auf drei Uhr. Es sah aus wie eine Umsteigestation für Reisen weiter nach Osten. Nur dass ein furchtbarer Leichengeruch über der ganzen Gegend lag und Millionen von Fliegen in der Luft schwärmten. Aber das war egal, Ordnung zog ein. Im September waren 330 000 von den einst über 400 000 Bewohnern des Warschauer Ghettos tot. 231
IV. Der Holocaust 1941 – 1944
Die Verschlagenheit der deutschen Täter, ihr Geschick zu betrügen, ihre Perfidie ließ die Opfer verzweifeln. Calel Perechodnik, Polizist im Ghetto Otwock bei Warschau, hatte den Deutschen vertraut. Sie hatten zugesichert, die Familien der Ghettopolizisten zu verschonen. Dennoch wurden seine Frau Anka und seine zweijährige Tochter wie die anderen 8 000 Juden aus Otwock im Juli 1942 in die überfüllten Waggons nach Treblinka gestoßen. Die Bitten seiner Frau, ihr gefälschte Kennkarten für den polnischen Stadtteil zu besorgen, hatte Perechodnik ignoriert. Ob seiner Naivität machte sich der 27-Jährige bitterste Vorwürfe. Er fing an, das Geschehen in einer Art schriftlichem Schuldgeständnis zu rekonstruieren, dabei mit Deutschen wie Polen abrechnend, vor allem aber mit sich selbst. Über seine Gedanken, als seine Familie deportiert wurde, notierte er in seinem Testament: «Es bleibt mir nur die Erkenntnis, meine Frau und mein Töchterchen selbst in den Tod geführt zu haben. […] Gott im Himmel! Was habe ich angerichtet? Ich wende den Kopf ab und schweige, denn was soll ich sagen? Soll ich mich herausreden oder gar um Vergebung bitten? Kann man im Angesicht des Todes überhaupt etwas sagen?»60 Nicht nur im Generalgouvernement, auch in vielen anderen Gebieten unter nationalsozialistischer Besatzung setzte Mitte 1942 die zentrale Phase des Völkermords ein. Hatten die Deutschen bis März 1942 im besetzten Europa etwa 1,2 bis 1,5 Millionen Juden getötet, so sollten es in den folgenden Monaten drei Millionen werden, darunter bis Oktober 1943 allein im Generalgouvernement 1,4 Millionen Juden sowie rund 50 000 Roma. In Bełżec konnten die Massengräber die über 430 000 Toten gar nicht mehr aufnehmen. Am 11. Dezember 1942 sollte der letzte Transport kommen, dann wurde das Lager nach neun Monaten geschlossen. In der besetzten Sowjetunion erfasste die jüdische Bevölkerung eine zweite Todeswelle, zeitgleich mit der deutschen Sommeroffensive gegen die Rote Armee. Dass damit Fachkräfte verschwanden, ließ nun selbst Militärs ungerührt: Dies sei «im 232
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Interesse der Produktion bedauerlich, aber nicht zu ändern»61. Schließlich schien das Menschenreservoir der Sowjetunion unendlich. Erich Koch forderte dementsprechend für die Ukraine «hundertprozentig[e] Lösungen»62. Für Weißrussland und das Baltikum erklärte Hinrich Lohse auf einer Besprechung über Ernährungsfragen am 6. August 1942: «Die Juden leben nur noch zum kleinen Teil; zigtausend sind weg.»63 Nicht nur Juden, alles Jüdische musste «weg», selbst die Toten waren nicht sicher, und wiederum zogen Einzelne hieraus ihren Vorteil. Der volksdeutsche Bildhauer Rudolf Feldberg zum Beispiel wandte sich am 16. Juli 1942 in Riga – fast alle Juden der lettischen Hauptstadt waren ermordet – an die örtliche Sicherheitspolizei «mit der höfl. Bitte, mir das Recht einzuräumen, die Marmor-, Granit- u. a. Steine», die sich auf den jüdischen Friedhöfen befanden, «in meinen Besitz zu erwerben». Er benötige sie als Material für seine Bildhauerarbeiten. «Im positiven Entscheidungsfalle bin [ich] bereit, die Stadt Riga von den geschmacklosen jüdischen Denkmälern und Emblemen zu säubern und die jüdischen Friedhöfe mit der Erde zu ebnen.»64 Der zuständige deutsche Beamte stimmte zu, mahnte aber, dass Feldberg angemessen zahlen müsse. Der Bildhauer, der Beamte: Wie Hunderttausende andere zeigten sie eine bemerkenswerte Selbstmobilisierung im Kontext des Massenmords. In dessen Zentrum standen 200 000 bis 250 000 Deutsche und Österreicher, die sich als Direkttäter an den Tötungsaktionen beteiligten. Diese Männer und wenigen Frauen kamen aus der Mitte der Gesellschaft und waren weder vor 1941 noch nach 1945 durch besondere Gewalttaten auffällig. Im damaligen Ausnahmezustand aber hieß Arbeit Mord, und die Täter erfüllten ihre Aufgabe. Der 35-jährige Curt Trimborn zum Beispiel hatte noch nach der «Reichskristallnacht» einer ihm bekannten jüdischen Familie in Wuppertal zur Flucht verholfen. Vier Jahre später tötete er als Angehöriger der Einsatzgruppe D umstandslos Frauen und Kinder. 233
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Amon Göth genoss als Kommandant des Arbeitslagers und KZ Plaszow bei Krakau das Gefühl absoluter Macht. Im Unterhemd und lässig mit der Flinte in der Hand ließ er sich auf dem Balkon seiner Dienstvilla fotografieren. Göth wollte keinen Dienst für die Volksgemeinschaft verrichten wie das Leitungspersonal der SS, sondern suchte seinen Spaß. Wilhelm Kube, Chef der Zivilver-
waltung in Weißruthenien, beruhigte sein Gewissen, indem er Bonbons an jüdische Kinder verteilte, die gerade eine Massenerschießung hatten ansehen müssen. Weniger empfindungsvoll verhielt er sich 1943, als eine Delegation italienischer Faschisten Minsk besuchte. Auf deren Frage, was denn mit den kleinen Paketen und Koffern sei, die in einer gerade besichtigten Kirche aufgestapelt waren, erklärte Kube, dass es sich hier um die einzigen Überbleibsel nach Minsk deportierter Juden handele. Den schockierten Italienern zeigte er anschließend noch einen Gaswagen. Der SS-Offizier Artur Wilke, ein 33-jähriger Theologe, notierte nach getaner Arbeit, der Tötung von 3 100 Juden im weißrussischen Sluzk: «Geschlafen wie ein toter Bär.»65 Dr. med. Josef Mengele witterte eine Karrierechance, als er sich nach Auschwitz versetzen ließ, um sich mit einem der modernsten Zweige der Biomedizin, der Zwillingsforschung, zu befassen. Immer neue Probanden fand er hier, für die keine ethischen Grenzen galten und denen er kein menschliches Mitgefühl entgegenbrachte. Der HSSPF Friedrich Jeckeln genoss seine Beute. Er liebte es, die
Schmuckstücke seiner Opfer auf seinem Schreibtisch zu sortieren. Oskar Gröning ging seine Aufgabe in Auschwitz eher rational an. Als gelernter Bankkaufmann übernahm der 21-jährige SS-Un terscharführer im September 1942 die Buchhaltung über sämtliche Gelder, die die Täter ihren Opfern abnahmen, bevor sie sie ins Gas schickten. Daneben tat Gröning auch Dienst an der Rampe, an der die Juden selektiert wurden. Er hatte dort auf das Gepäck aufzupassen, damit niemand etwas von der Habe der zu Ermordenden und damit vom nunmehrigen Eigentum des Großdeutschen Reiches entwendete. Gröning fand seinen Arbeitsort nicht 234
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schön, er beantragte mehrmals seine Versetzung, die im Oktober 1944 bewilligt wurde. Bis dahin hatte er sich mehr oder minder eingewöhnt, und was er tat, wurde zum Arbeitsalltag. Wenn keine Transporte erwartet wurden, kam er um acht Uhr ins Lager, von zwölf bis halb zwei war Mittagspause, danach blieb er bis um fünf. Vermutlich eine Mehrheit der Direkttäter empfand sich als Befehlsempfänger. Gewohnt, in Hierarchien zu leben, gab es die Bereitschaft zum Gehorsam, zur äußerlichen Eingliederung, selbst wenn einige innerlich die Befehle als unangenehm, inhuman oder gar als verbrecherisch ansahen. Manche haderten damit, Einzelne waren angewidert. Doch die Konsequenz, die sie zogen, lautete in der großen Mehrzahl nicht Verweigerung, sondern Mitmachen. Nicht wenige drängte es, sich in Tagebüchern und Briefen als vom Bösen unberührt auszuweisen und zu versichern, «anständig geblieben» zu sein. Sich dieser moralischen Unbeflecktheit zu vergewissern trieb auch den obersten Henker Himmler um. In einer sehr kurzen Passage einer langen Ansprache vor 92 führenden SS-Männern in Posen sollte er im Oktober 1943 sich und seine Männer beruhigen: «Von Euch werden die meisten wissen, was es heisst, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.»66 Massenmord und Wohlanständigkeit schlossen sich nach dieser Logik nicht aus, sondern bedingten einander geradezu – wenn man denn den Mund hielt. Schließlich erteilten sich die Täter Absolution, indem sie auf ihre gelebte Kameradschaft verwiesen. Die Nebenmänner nicht im Stich zu lassen, ihnen nicht die schwere Aufgabe abzutreten und kein Schlappschwanz zu sein: Damit sprach man sich frei. Im Sommer 1942 beschleunigte sich auch der Ausbau von Ausch witz zum Todeslager für die westeuropäischen Juden. Unmittel235
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barer Auslöser war eine militärische Entscheidung. Die Wehrmacht hatte Anfang Juni 1942 eine Transportsperre verhängt, sie brauchte die Züge für ihre Sommeroffensive. Damit fielen der Distrikt Lublin und auch das Ostland als Zielgebiete der Verschleppungen aus. Himmler befahl als Ausweichlösung, dem KZ Auschwitz «größere Judenmengen» aus Rumänien oder dem besetzten Westeuropa zu überstellen, wiederum «zwecks Arbeitsleistung»67. Bis zu zehn Prozent nichtarbeitsfähiger Juden dürften mitgeschickt werden. Die zuständigen SS- und Polizeidienststellen in Westeuropa deportierten allerdings ganze Familien. Die Lager-SS begann daher ab dem 4. Juli 1942, die Ankommenden zu selektieren. Die Schwachen, vor allem Mütter mit Kindern, Jugendliche unter 16 Jahren, Alte, Kranke und Behinderte, durchschnittlich etwa 80 Prozent eines Transports, schickten die Ärzte und SS- Männer direkt in die Gaskammern. Nur eine Minderheit sollte am Leben bleiben. Aus Drancy und anderen Sammellagern im besetzten Frankreich setzten die Transporte im Juni 1942 ein. Vichy stimmte im Juli zu, auch Juden zu deportieren, zunächst aber ausschließlich Ausländer und Staatenlose, keine französischen Staatsbürger. Die NS-Spitze ließ sich darauf ein, glaubte sie doch an einen Gewöhnungseffekt. Im Auftrag der Deutschen machten nun französische Polizisten Hatz auf Juden. Eine bleierne, beklemmende Stimmung erfasste die Eingesperrten, böse Vorahnungen durchzogen Gespräche und Briefe. Der 28-jährige Karl Heinz Reinsberg, 1936 nach Belgien emigriert, dann im Lager Les Milles interniert, schrieb an seinen Bruder in Kanada am 8. August 1942: «Lieber Erni! Sandte dir gestern ein Telegramm, daß wir in höchster Gefahr sind, doch scheint alles zu spät zu sein […]. Was sich hier abgespielt hat, ist in der Weltgeschichte noch nie da gewesen.»68 Das ganze Jahr über fuhren Züge nach Auschwitz, über 40 000 Menschen wurden deportiert. In Amsterdam erhielt die 16-jährige Margot Frank am 5. Juli die Aufforderung, sich für ein Arbeitslager zu melden. Umgehend 236
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machte sie sich mit ihren Eltern und ihrer Schwester, der 13-jäh rigen Anne, auf den Weg in ein vorbereitetes Versteck. Die Be hörden in den Niederlanden verfolgten nun, wie befürchtet, auch die holländischen Juden. Vom Durchgangslager Westerbork starteten die Transporte am 15. Juli. Bis Ende 1942 wurden über 43 000 Menschen deportiert. Anne Frank notierte in ihre Hefte, was ihr der Zahnarzt Fritz Pfeffer, der sich seit November 1942 ebenfalls im Haus an der Prinsengracht verbarg, über die Bedrängnisse draußen erzählte: «[Z]ahllose Freunde und Bekannte sind weg zu einem schrecklichen Ziel. Abend für Abend fahren die grünen oder grauen Militärfahrzeuge vorbei klingeln an jeder Tür und fragen ob da auch Juden wohnen. wenn ja muß die ganze Familie sofort mit […]. Es sieht so aus wie die Sklavenjagd […]. Nichts wird geschont Bejahrte, Kinder, Babys, schwangere Mütter, Kranke alles, alles geht mit in dem Zug zum Tod. […] Und das alles weil sie Juden sind.»69 Die deutschen Besatzer stellten im Herbst 1942 zufrieden fest, dass die antijüdischen Maßnahmen unter der Bevölkerung «vor allem Mitleid» hervorgerufen hätten, dass es aber, anders als beim Streik im Februar 1941, «zu keinerlei Handlungen»70 gekommen sei. In Belgien befürworteten weder der in Brüssel residierende Militärbefehlshaber Alexander von Falkenhausen noch der Chef der belgischen Zivilverwaltung Eggert Reeder die Verschleppungen der Juden. Aber sie führten sie durch, nicht ohne die Verantwortung von sich zu weisen. Der gründliche Reeder hielt fest: «Der nächste Schritt [nach dem Abschluss der Judengesetz gebung] wäre nunmehr ihre Evakuierung aus Belgien, die jedoch nicht von hier aus, sondern nur im Zuge der allgemeinen Planung von den zuständigen Reichsstellen veranlaßt werden kann.»71 Am 27. Juli 1942 wurde in einer Kaserne in Mechelen, einem Städtchen auf halbem Wege zwischen Brüssel und Antwerpen, ein SS-Sammellager eingerichtet. In der Region lebten etwa 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung. Parallel dazu erging der Befehl der Besatzungsbehörden, dass sich alle arbeitslosen Juden 237
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zu melden hätten, um zum Arbeitseinsatz in den Osten transportiert zu werden. Da diese Anordnung nur langsam befolgt wurde, begannen umgehend Razzien. Aus Mechelen fuhren ab dem 4. August 15 Transporte nach Auschwitz. In einem Zeitraum von hundert Tagen wurden etwa 17 000 Menschen deportiert, überwiegend zunächst ausländische, ab September auch belgische Juden. Mit der hohen Zahl der Transporte veränderte Auschwitz sein Aussehen. Bis zu 2 000 Häftlinge arbeiteten nun im Aufräumkommando, um die Bündel mit Lebensmitteln, Haushaltswaren und Kleidung, aber auch die Arzneien, die die Opfer bei sich gehabt hatten, zu sammeln und zu sortieren; auch Möbel und Teppiche gelangten nach Birkenau, außerdem Devisen, Uhren und wertvoller Schmuck. Es traf so viel Hab und Gut ein, dass 30 Magazinbaracken gebaut werden mussten, um es zu verwahren. Das Raubgut wurde Staatseigentum: Geld und Edelmetall erhielt die Reichsbank, Textilien, Schuhe und Hausrat gingen an volksdeutsche Umsiedler, aber auch die Organisation Todt, die Reichsjugendführung und verschiedene Konzentrationslager wurden damit bedacht. Armbanduhren bekamen Luftwaffenflieger, U-Boot-Besatzungen und ausgebombte Bewohner Berlins. Als Abräumer betätigte sich die Bremer Spedition Kühne + Nagel. Sie bot bis September 1944 insgesamt 500 Frachtkähne, 674 Züge und 26 984 Güterwaggons auf, um den Besitz der jüdischen Deportierten aus den Benelux-Staaten und Frankreich ins Reich zu schaffen. Der Sommer 1942 war ein Sommer der Razzien und Verschleppungen im deutsch besetzten Europa. Die Betroffenen erlebten Tage und Nächte der Bedrückung. Eltern wurden von ihren Kindern getrennt, Verzweifelte brachten sich oder gleich die ganze Familie um. Um zu überleben, blieben nur wenig andere Möglichkeiten, als sich zu verstecken – und das konnte auch heißen, in den militärischen Untergrund zu gehen. Juden schlossen sich bestehenden Partisaneneinheiten an, wenn deren Führer denn 238
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Juden aufnahmen. Oder sie bildeten eigene Gruppen wie das Familienlager der Brüder Bielski in Weißrussland mit mehr als 1 200 Menschen. Ab dem Frühjahr 1943 unterstützten diese «Wald menschen» die zunehmend von Moskau organisierte Unter grundbewegung in der besetzten Sowjetunion. Die nichtjüdische Umwelt reagierte überwiegend mit Teilnahmslosigkeit oder demonstrativer Uninformiertheit. Es gab mutige Ausnahmen, etwa im widerstandsgestählten Belgien. Schon im Mai hatte die Untergrundzeitung La Libre Belgique auf die Einführung des gelben Sterns mit einem Aufruf reagiert: «Bürger! Aus Hass auf die Nazis – und aus Selbstrespekt: Tu, was Du bisher nicht getan hast: Grüße die Juden!»72 Die Brüsseler Bürgermeister hatten sich anders als ihre Kollegen in Amsterdam geweigert, das Kennzeichen auszugeben, weil diese Vorschrift «der Würde eines jeglichen Menschen, wer er auch sein mag, direkt Abbruch tut»73. Doch immer fanden sich etliche, die sich an die Seite der nationalsozialistischen Verfolger stellten. In den Niederlanden, Frankreich und Polen halfen von den Deutschen eingesetzte Polizisten bei den Festnahmen oder der Jagd nach untergetauchten Juden. Für andere wurde das Leiden der Opfer zum Anlass, sich zu bereichern. In Belgien beklagte sich Ende 1942 die Vereinigung der Juden bei der Sicherheitspolizei darüber, dass Betrüger in Polizeiuniform bei Juden auftauchten und unter dem Vorwand einer Hausdurchsuchung Geld stahlen. In Polen hielten «Schmalzowniks» nach untergetauchten Juden Ausschau und drohten diesen, sie an die Deutschen zu verraten, wenn sie nicht Geld, Essen oder sonstige Wertsachen herausrückten. Der 23-jährige Marcel Reich, später Reich-Ranicki, wurde so um seine letzten Ersparnisse, einen Füllfederhalter und Kleider gebracht. Marcel Reich aber passierte etwas Außerordentliches. Sein Schänder kam zurück und bot an, ihn und seine Frau Tosia gegen weiteres Geld, das er noch beschaffen sollte, bei einem Bruder zu verstecken. Der Erpresser verwandelte sich in einen Judenretter. Die Schar dieser Helfer war überschaubar, viele verhielten sich 239
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widersprüchlich wie dieser «Schmalzownik». Protektion ging einher mit Geldgier, sexueller Belästigung oder Denunziation, selten auch mit Freundschaft, für die Illegalen immer aber mit «Bauchweh und Herzklopfen»74, wie Anne Frank festhielt. Die wenigsten Helfer waren aktive Gegner wie Ruth Andreas-Friedrich, die mit ihrer Widerstandsgruppe Onkel Emil in Berlin untergetauchten Juden half. Einige waren beherzte Menschen, die auf eine außergewöhnliche Herausforderung außergewöhnlich reagierten, so wie der Feldwebel Anton Schmid, eigentlich ein Elektrowarenhändler aus Wien. Er rettete in Wilna vermutlich mehreren Hundert Juden das Leben. «Will Dir noch mitteilen, wie das ganze kam», schrieb er am 9. April 1942 an seine Frau: «[H]ier waren sehr viele Juden, die vom litauischen Militär zusammengetrieben und auf einer Wiese außerhalb der Stadt erschossen wurden, immer so 2000 – 3000 Menschen. Die Kinder haben sie auf dem Wege gleich an die Bäume angeschlagen. Kannst Dir ja denken.» Aus der Empörung heraus organisierte Schmid mit zwei Lkw seiner Dienststelle Fluchttransporte und lud den jüdischen Ghettowiderstand in seine Wohnung. Der 42-jährige sah sein Handeln als Akt der Menschlichkeit. «Da ließ ich mich überreden, Du weißt ja, wie mir ist mit meinem weichen Herzen.» Die «Weichheit» wurde ihm zum Verhängnis: «[M]eine liebe Stefi und Gertha, […] bitte verzeiht mir. Ich habe nur als Mensch gehandelt und wollte ja niemandem weh tun. Wenn Ihr, meine Lieben, das Schreiben in Euren Händen habt, dann bin ich nicht mehr auf Erden, […] aber eines seid gewiß, daß wir uns einstens wiedersehen in einer besseren Welt.»75 Vier Tage nachdem er diese Zeilen zu Papier gebracht hatte, wurde Schmid von einem Exekutionskommando erschossen. Bei Wilm Hosenfeld war es nicht zuletzt sein katholischer Glauben, der ihn vom Parteigenossen zum Zweifler und dann zum Helfer werden ließ. Einerseits blieb er Patriot, wollte den Krieg gewinnen und glaubte an eine deutsche Zivilisierungsmission in Polen. Andererseits begann er, in seiner unmittelbaren Umge240
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bung «jeden zu retten, der zu retten ist»76, wie er 1944 seiner Frau anvertraute. Gegen die Barbarei zu handeln interpretierte Gerrit Vinke in Amsterdam als «Christenpflicht». Der Berufssoldat schrieb am 10. September 1942 in sein Tagebuch, er gehe «mit dem Kopf voller Sorgen zu Bett», denn er solle drei Juden verstecken, «arm[e] Schlucker». Vinke zögerte. Das Risiko, entdeckt zu werden, war groß. Morgens fasste er einen Entschluss: «Wir müssen diesen Menschen helfen, und der Herr wird über uns wachen.»77 Wie bei Vinke ging die Initiative oftmals von den Opfern aus, die die Helfer zum Handeln drängten. In dem kleinen Ort Dieulefit in Südfrankreich hatten jüdische Untergrundorganisationen drei Lehrerinnen verwaiste Kinder zugeführt. Was sollte man tun? Sie den Deutschen übergeben oder sie verstecken? Die Rathaus sekretärin überlegte, erklärte sich dann aber bereit, Ausweise und Lebensmittelkarten zu fälschen – für schließlich Hunderte von Kindern. Der Bürgermeister tat, als ob nichts wäre, die Sicherheitspolizei kam selten vorbei, und abweichlerische Dörflerinnen wagten nicht, den Autoritäten, und sei es dem eigenen Mann, der in dem Helfer- Netzwerk mitmachte, zu widersprechen. Zivilcourage und Anpassung ließen 1 500 Menschen überleben. Jedes dieser Leben zählte. Je länger der Krieg dauerte, je un sicherer der militärische Sieg wurde, umso mehr intensivierten sich die Verfolgung und die Vernichtung der Juden Europas. Es wurde immer mehr zum einzigen Feld, auf dem die Deutschen sich wirklich erfolgreich wähnten. Schon bald bedrängte Berlin, wie am Wannsee besprochen, seine Verbündeten, ihre Juden auszuliefern. Erster williger Helfer war der katholische Pfarrer- Präsident Jozef Tiso gewesen, der bis Ende 1942 aus der Slowakei 70 000 Juden deportieren ließ. Kroatien sperrte sich ebenfalls nicht. Die Ustaša unter Ante Pavelić hatte bereits im Juni 1941 begonnen, Juden wie Hunderttausende Serben, Tausende Roma und Sinti sowie ungezählte Regimegegner in Konzentrations lager einzuweisen beziehungsweise zu ermorden. Aufgrund des 241
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Einvernehmens mit Zagreb konnte Eichmann ab August 1942 das Land in die D eportationen einbeziehen. Bis Ende 1942 wurden 5 000 Juden «sonderbehandelt». In Rumänien nutzte das Regime den Krieg gegen die verhasste Sowjetunion, um ethnische Säuberungen zu betreiben. Es vertrieb ausländische wie einheimische Juden aus den aus sowjetischer Hand rückeroberten Provinzen Bessarabien und der Nordbukowina nach Transnistrien – einer Art rumänischem Generalgouvernement. Insgesamt kamen dort bis 1944 zwischen 280 000 und 380 000 Juden ums Leben. Die Juden in Kernrumänien hingegen behielten ihr Leben. Bestechung, die Fürsprache des Vatikans und Interventionen anderer Persönlichkeiten sowie die Vorstellung, dass Deutschland sich nicht in innerrumänische Angelegenheiten einzumischen habe, waren dafür ausschlaggebend. Berlin insistierte, wagte aber angesichts des für die Kriegführung unverzichtbaren rumänischen Öls nicht, die Freundschaft mit Bukarest überzustrapazieren. Finnland übergab im November 1942 lediglich acht seiner 150 bis 180 ausländischen Juden. Ebenso sperrte sich das italienische Militär, die Juden im von Italien besetzten Gebiet Kroatiens auszuliefern, und Juden mit italienischer Staatsbürgerschaft waren ohnehin die Sache Roms. Neben Italien wurden Ungarn und Bulgarien zu einigermaßen gesicherten Zonen. Auch in diesen formal unabhängigen Staaten sollte das Auswärtige Amt für den notwendigen Druck sorgen. Doch Budapest wie Sofia lehnten die deutschen Forderungen ab. Die bulgarische Regierung hatte sich ja schon geweigert, am Krieg gegen die Sowjetunion teilzunehmen. Taktierend wartete man nun den Kriegsverlauf ab und hielt die Deutschen hin, reagierte ausweichend, bewilligte Ausnahmen und ließ Protest zu, etwa als sich bulgarische Juden neben dem verordneten gelben Stern auch Abzeichen des Königs ans Revers hefteten. Deutsche, polnische, österreichische Juden konnten in Sofia sogar die italienische, spanische oder portugiesische Staatsbürgerschaft erwerben und sich dadurch einstweilen retten. Solange ein deutscher Sieg nicht in Sicht sei, ändere sich an dieser 242
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Politik wenig, gab der deutsche Gesandte die Lage nach Berlin weiter. Gegen Ende des Jahres stand, wie am Wannsee ebenfalls besprochen, das besetzte Skandinavien auf der Liste des Auswärtigen Amts. «Sie verhaften Juden»,78 notierte beunruhigt am 29. Oktober 1942 die 21-jährige Ruth Maier, die aus Wien nach Oslo geflüchtet war. Die mittlerweile amtierende Quisling-Regierung machte mit der Sicherheitspolizei gemeinsame Sache. Am 26. November 1942 verließ der erste Transport mit Ziel Auschwitz die Stadt. Insgesamt wurden bis Anfang 1943 etwa 760 Menschen deportiert, unter ihnen Maier. 1 000 der 1 800 norwegischen sowie ausländischen Juden gelang es, unterzutauchen oder zu fliehen, vor allem in das neutrale Schweden. In Dänemark hatten selbst SSler dem Kurs des Bevollmächtigten Renthe-Fink zugestimmt, das Einvernehmen mit Kopenhagen nicht wegen 8 000 Juden zu gefährden. Hitler hatte die geringen Erfolge des Außenamts in der Judenpolitik kritisiert und Ribbentrop im September 1942 die Weisung erteilt, nun auch den Nordstaat in die Evakuierungen einzubeziehen. Doch der neue Mann, Werner Best, setzte im Kern den bisherigen Kurs fort. Jede antijüdische Aktion, so sein Argument, würde zu einer Solidarisierung der Dänen gegen das Deutsche Reich führen und damit weitere deutsche Sicherheitskräfte binden. Im November 1942, nach der alliierten Landung in Nordafrika und der deutschen Besetzung Vichy-Frankreichs, kamen Himmler und Hitler überein, auch die bislang verschonten französischen Juden in die Todestransporte aufzunehmen. Die weiterhin amtierende französische Regierung beugte sich dem Druck und lieferte nun schrittweise auch ihre eigenen Staatsbürger aus. Über die systematischen Tötungen von Juden war die Welt gut informiert. In London hatte der Daily Telegraph schon am 25. Juni 1942 von einer Todesrate in Chełmno von tausend Menschen pro
Tag gewusst, die BBC hatte einen Tag später erstmals über Massenmorde, die New York Times am 2. Juli 1942 über Gaskammern 243
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im besetzten Polen berichtet. Noch im gleichen Monat war es zu einer Stoppt-Hitler-Demonstration in New York gekommen. Und so war es weitergegangen. Wie über die ersten Massaker in der Sowjetunion, so berichteten ausländische Presse und Radiostatio nen auch über die folgenden Massentötungen regelmäßig und im Kern zutreffend. Thomas Mann etwa verdeutlichte im September in einer seiner BBC-Radiosendungen den deutschen Hörern unter ihren Wolldecken (damit kein Spitzel das unter Strafe gestellte Einschalten des Feindsenders mitbekam), dass es den braunen Tätern «Ernst mit der Ausrottung der Juden»79 sei. Den «Londoner Sender» hörte in Celle der Ingenieur Karl Dürkefälden. Dieser, so hielt der 40-jährige Ende 1942 fest, «bringt öfter Nachrichten über Erschießungen in Norwegen, im Protektorat, in Serbien, in Polen usw., so auch über die Vernichtung der Juden»80. Der Holocaust wurde – wenn auch nicht in all seinen Dimen sionen – endgültig zum offenen Geheimnis. Berlin tat die Mel dungen als jüdische Hetzkampagne ab, drängte zugleich aber auf bessere Tarnung – und unternahm erste Vertuschungsversuche, indem es Sonderkommandos einrichtete, die die Leichen ausgraben und verbrennen ließen. Zu dieser Schmutzarbeit der Shoah zwang man wiederum jüdische Arbeitshäftlinge. Die internationale Aufmerksamkeit machte den Opfern Mut. In Warschau erfasste den Ghettoarchivar Emanuel Ringelblum sogar eine gewisse Euphorie: «Wir haben dem Feind einen heftigen Schlag versetzt» und den Plan der Nazis, «das polnische Judentum im Geheimen zu vernichten, entlarvt»81. Vielleicht, so die Erwartung des Historikers, werde England sie retten. Doch die Hoffnung trog. Hinter den Kulissen gab es zwar Initiativen, einzelne Juden auszulösen. Auch verurteilten am 17. Dezember 1942 die USA, Großbritannien und die Sowjetunion gemeinsam mit den acht Exilregierungen der von den Deutschen eroberten Länder sowie dem Nationalkomitee de Gaulles Deutschlands «bestia lische Vernichtungsmethoden aufs schärfste»82. Weder aber schlossen sich Papst Pius XII. noch das mächtige Internationale 244
Völkermord
Rote Kreuz in Genf der Erklärung an: Sie beließen es bei halbgaren Kommuniqués. Die «Massaker an der jüdischen Rasse»83, so resümierte der britische Gesandte beim Vatikan, Francis d’Arcy Osborne, am 13. Dezember 1942, würden zur Kenntnis genommen, mehr nicht. Das Schweigen der freien Welt hatte viele Gründe. Im Vatikan unterschätzte man Hitler als deutschen Mussolini und setzte auf dessen Antibolschewismus im Kampf gegen die gottlosen Kommunisten. Ebenso spielte der historische Antijudaismus der katholischen Kirche eine Rolle. Immerhin aber versuchte Pius XII., sich hinter den Kulissen für die Rettung von Juden einzusetzen. Beim Roten Kreuz wollte man es sich nicht mit der deutschen Regierung verderben. Auf Seiten der Westalliierten gab es viel Indifferenz gegenüber dem Massenmord an einer politisch wenig relevanten Gruppe, weit weg irgendwo im Osten Europas, auf einem Kriegsschauplatz, den man eher beobachtete, als dass man dort eingriff. Doch die Passivität entsprang auch der Monstrosität des Geschehens, die das Vorstellungsvermögen aller, der Opfer wie der Politiker, überstieg. Das galt selbst für regimekritische Deutsche, die sich verunsichert fragten, was oder wem sie glauben konnten. Darauf sollte Helmut James von Moltke im März 1943 anspielen, als er einem britischen Freund vor Augen führte: «Würde man diesen Leuten erzählen, was wirklich geschehen ist, bekäme man zur Antwort: Du bist eben das Opfer der britischen Propaganda. Weißt du nicht mehr, was für lächerliche Dinge sie über unser Verhalten in Belgien 1914/15 verbreitet haben?»84 Schon damals waren die Geschichten über von deutschen Soldaten verübte Kriegsverbrechen nicht nur Gräuelmärchen gewesen. Jetzt aber übertraf die Realität alle Phantasie.
245
IV. Der Holocaust 1941 – 1944
Todesstille Im Februar 1943, zum Zeitpunkt der verheerenden Niederlage in Stalingrad, waren vermutlich 4,5 Millionen Juden, über zwei Drittel aller Opfer des Holocaust, bereits tot. In Kulmhof wurde im März 1943 die Mordarbeit beendet und das Vernichtungslager geschlossen. Das Einsatzkommando Lange zog nach Serbien, um dort Partisanen zu bekämpfen. Einige Zwangsarbeitslager und vor allem das Ghetto in Łódź blieben jedoch zunächst bestehen. Von
anfänglich
150 000 Bewohnern
produzierten
noch
80 000 Männer und Frauen Uniformen und Zivilkleidung für den deutschen «Endsieg».
Łódź sollte die Ausnahme von der Regel sein, auch weil Greiser auf die Einnahmen aus dem Ghettobetrieb spekulierte. Ansonsten betrieb das Regime die Auslöschung «jener verfluchten Rasse»85 trotz bedrohlichen Arbeitskräftemangels mit aller Entschlossenheit weiter, war die Führung doch überzeugt, dass hinter Bombenkrieg, Stalingrad und «Tunisgrad», hinter den zunehmenden Partisanenaktivitäten, hinter dem Vormarsch der Roten Armee und auch der Landung im Juli auf Sizilien «die Juden» stünden. Im Reich wurden am 27. Februar mehrere Tausend zwangsarbeitende Juden an ihren Arbeitsplätzen oder zuhause verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Victor Klemperer und Luise Solmitz’ Ehemann Friedrich fielen als Partner einer Misch ehe nicht unter die sogenannte Fabrikation. Nach diesen Verschleppungen zählte die Reichsvereinigung der Juden am 31. März 1943 noch 31 910 Juden in Deutschland. Göring und Goebbels stand klar vor Augen, dass man schon längst alle zivilisatorischen Grenzen überschritten hatte. Würde man unterliegen, würde unweigerlich die Rache der Sieger folgen und damit der eigene Tod. Insofern durfte keine Schwäche gezeigt, der Gegner musste vernichtet werden. Goebbels deutete diese blutigen Bindungen, die «kein Entrinnen» zuließen, positiv: «Und das ist auch gut so. Eine 246
Todesstille
Bewegung und ein Volk, die die Brücken hinter sich abgebrochen haben, kämpfen erfahrungsgemäß viel vorbehaltloser als die, die noch eine Rückzugsmöglichkeit besitzen.»86 Auschwitz wurde erst ab März 1943 nicht nur zum gigantischen Sklavenbetrieb für die deutsche Kriegsindustrie, sondern auch zur primären Tötungsstätte des NS-Regimes. Neue Krematorien und Gaskammern wurden 1943 fertiggestellt. Jeden Monat kamen nun Transporte aus den Beneluxstaaten und dem Deutschen Reich. Zu dieser Zentralität trug bei, dass der Radius der Deportationen sich erweiterte, je brenzliger die Kriegslage aus deutscher Sicht wurde. Den Anfang machte Griechenland. Nach der Landung der Alliierten in Nordafrika trafen Anfang Februar 1943 die bewährten «Eichmänner» in Saloniki ein, wo die Mehrheit der griechischen Juden lebte. Am 15. März 1943 verließ der erste Zug nach Auschwitz die jüdische Metropole. Vor ihrer Austreibung hatte man die Juden für kurze Zeit in einem Ghetto gesammelt. Bis April 1944 sollten mit Hilfe des höchsten deutschen Beamten vor Ort, des AA-Beauftragten Günther Altenburg, und griechischem Verwaltungspersonal fast 55 000 Juden aus der deutsch besetzten Zone Griechenlands in den Tod verschleppt werden. Auch Sofia lieferte – im Gegensatz zu Rom – 11 370 Juden aus dem bulgarisch besetzten Ostmakedonien und Thrakien aus. In Kern-Bulgarien biss das Auswärtige Amt jedoch weiter auf Granit. Gleiches galt auch für den anderen südosteuropäischen Bundesgenossen, das störrische Ungarn. Als dessen Staatsoberhaupt Miklós Horthy Mitte April 1943 Hitler aufsuchte, erklärte der «Führer» dem Reichsverweser unverblümt seine Sicht auf die Lage: Die Juden «wären wie Tuberkelbazillen zu behandeln, an denen sich ein gesunder Körper anstecken könnte. Das wäre nicht grausam, wenn man bedenke, daß sogar unschuldige Naturgeschöpfe wie Hasen und Rehe getötet werden müßten, damit kein Schaden entstehe. Weshalb sollte man die Bestien, die uns den Bolschewismus bringen wollten, mehr schonen?»87 Doch trotz allen Drängens und Drohens und trotz der wirtschaftlichen Ab247
IV. Der Holocaust 1941 – 1944
hängigkeit vom Reich: Der Reichsverweser blieb hart, die über 825 000 Juden in Ungarn und in den von Ungarn besetzten Gebieten blieben eine Sache Budapests. Außerdem war gerade die Zweite Ungarische Armee bei Woronesch in Russland aufgerieben worden – und der 75-jährige Horthy war sich nicht mehr sicher, wohin das Kriegsglück sich wenden würde. Kurz nachdem der Reichsverweser Deutschland verlassen hatte, erwartete das Regime im Generalgouvernement weiterer Widerstand. Anfang Januar 1943 hatte Himmler sich echauffiert, dass die «Judenfrage» dort noch immer nicht gelöst sei. So würden im Warschauer Ghetto noch 35 000 Juden leben. Das Ghetto sei zu räumen, überhaupt sollten Juden nur noch in zwei Arbeitslagern, in Auschwitz und Lublin, untergebracht werden. Am 19. April sollte die Liquidierung des Ghettos beginnen. Aber die Bewohner des Warschauer Sperrbezirks verschanzten sich und verwickelten die Deutschen zu deren größtem Erstaunen – Goebbels notierte: «Bemerkenswert»88 – in heftige Kämpfe. Es war eine Tat der Verzweifelten, ohne jede Chance auf Erfolg. Doch nun, im Angesicht des sicheren Todes, wagten die Aktivisten den Widerstand. Denn mit ihm hinterließen sie ein Zeichen: Keineswegs war man apathisch wie Schafe zur Schlachtbank gegangen. Um die Bewohner aus den Wohnungen zu zwingen, befahl der SSund Polizeigeneral Jürgen Stroop, Haus für Haus im Sperrbezirk niederzubrennen. Das Ghetto glich einer brennenden Fackel. Die mehr als tausend Einsatzkräfte brauchten fünf Wochen, um den Aufstand niederzuschlagen. Am 16. Mai konnte Stroop verkünden: «Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!»89 Die Überlebenden kamen nach Treblinka, Majdanek oder als Zwangsarbeiter in Lager im Raum Lublin. Noch wochenlang durchkämmten Teile eines SS-Polizeiregiments die Ruinen, um noch den letzten versteckten Juden zu töten. Ein Ordensregen belohnte die Täter, während im Ghetto eine «große Stille» herrschte. «Keine Menschenseele weit und breit»,90 notierte der 23-jährige Tscheche Max Mannheimer, aus Auschwitz zur Trüm 248
Todesstille
mer räumung eingesetzt. Wilm Hosenfeld schrieb am 16. Juni 1943, nachdem «der letzte Rest der jüdischen Einwohner im Ghetto ausgetilgt worden» war, zornerfüllt: «Diese Bestien. Mit diesem entsetzlichen Judenmassenmord haben wir den Krieg verloren. Eine untilgbare Schande, einen unauslöschlichen Fluch haben wir auf uns gebracht. Wir verdienen keine Gnade, wir sind alle mitschuldig.»91 Klemperer und viele andere Juden in Europa waren hin- und hergerissen. Beeindruckt davon, wie die Warschauer Juden gekämpft hatten, war man doch tief bedrückt ob des «Blutbad[es]»92. Der Aufstand bestärkte Himmler in seinen Auslöschungsabsichten, ökonomisches Kalkül rückte fast gänzlich in den Hintergrund. Am 19. Juni traf er Hitler auf dem Obersalzberg und holte sich dessen Zustimmung, die «Evakuierung der Juden trotz der dadurch in den nächsten 3 bis 4 Monaten noch entstehenden Unruhe radikal durchzuführen»93. Ghettos wie Zwangsarbeitslager wurden liquidiert und Arbeitslager für eine kleine Zahl von Überlebenden eingerichtet. Dies blieb den Häftlingen in Treblinka und Sobibór nicht verborgen, und die dortigen Arbeitsjuden wagten im August beziehungsweise Oktober 1943 den Aufstand. Jeweils mehrere Hundert Menschen entkamen in die umliegenden Wälder, die meisten spürte die SS jedoch wieder auf. Anschließend löste die SS-Führung nach Bełżec auch diese beiden Vernichtungslager auf. Die Gaskammern der beiden Lager wurden gesprengt, die Verbrennungsgruben zugeschüttet, die Ba racken abgetragen, Bauernhäuser angelegt. Nichts wies mehr auf die Vernichtungsstätten hin. Insgesamt hatten die Deutschen und ihre Helfer im Generalgouvernement zu diesem Zeitpunkt etwa 1,8 Millionen Menschen erschossen oder mit Gas g etötet, darunter in Bełżec 434 000, in Sobibór 180 000, in Treblinka 870 000 Menschen. 100 000 Opfer kamen nicht aus Polen. Schließlich ließ Himmler in der «Aktion Erntefest» am 3. und 4. November 1943 in Majdanek und anderen Arbeitslagern im Generalgouvernement 43 000 Juden töten. 249
IV. Der Holocaust 1941 – 1944
Globocnik und die Todesexperten um Christian Wirth wurden im Generalgouvernement nicht mehr gebraucht und in das nach der Kapitulation Roms nunmehr deutsch besetzte Norditalien beordert. Das Einsatzgebiet war neu, die Aufgaben hingegen waren den Männern vertraut: Partisanen bekämpfen, Juden töten und auf Raubzüge gehen. In das ehemalige Reich des Duce setzten sich auch die «Eichmänner» in Bewegung. Am 18. Oktober 1943 fuhr der erste Transport aus der italienischen Hauptstadt nach Birkenau. Es folgten weitere aus Norditalien, Nizza und Mostar. Von den 33 000 noch in Italien verbliebenen Juden sollten 8 500 deportiert, etwa 7 000 getötet werden. Organisator Eichmann ließ zudem seit September 1943 über 17 000 Männer, Frauen und Kinder aus Theresienstadt nach Birkenau in ein Familienlager verschicken, um vorgeblich aufrührerische junge Tschechen loszuwerden sowie Platz für die Präsentation des Ghettos als jüdische Idylle zu bekommen. Nach Jahren der Tatenlosigkeit hatte das Internationale Rote Kreuz um eine Besichtigung nachgesucht. Die NS-Führung hatte diese bewilligt, um allen «Gerüchten» über den Völkermord den Boden zu entziehen und die angebliche Mustersiedlung als Endziel der Transporte auszugeben. Die Kommission, lange angekündigt, sollte aber erst am 23. Juni 1944 kommen, sechs Stunden bleiben und einen euphorischen Bericht über das «fast normal[e] Leben»94 in der böhmischen Festungsstadt schreiben. Parallel wurde in Bir kenau das Familienlager liquidiert. Die Odyssee einiger weniger «Arbeitsfähiger» ging in anderen Lagern weiter. In Dänemark änderte Best nach dem zunehmenden Widerstand, der Ausrufung des Ausnahmezustandes und dem Eintreffen deutscher Polizei seine Politik. Mit einer Deportation der Juden, so die Überlegung, würde er sowohl gegenüber Hitler als auch gegenüber der dänischen Bevölkerung seine Machtstellung demonstrieren können. Jedoch wurde die für den Oktober 1943 geplante Aktion vorab bekannt. Alarmiert eilten Bischöfe und Arbeiter, Studenten und Beamte, Männer und Frauen den Bedräng250
Todesstille
ten zu Hilfe und versteckten diese, motiviert durch einen großen Widerstandsgeist gegen die Besatzer. Zudem wusste der Nachbarstaat, was zu tun war, wie Lindgren festhielt: «Die schwedische Regierung hat in Berlin scharf protestiert und gleichzeitig angeboten, alle dänischen Juden hier aufzunehmen.»95 Das gelang zum allergrößten Teil. Innerhalb von drei Wochen brachten Fischer über 7 200 dänische und ausländische Juden nach Schweden. Die deutschen Polizeieinheiten fanden nur 284 Menschen, überwiegend Insassen eines Altersheimes. Alle kamen nach Theresienstadt, keiner wurde weiter nach Birkenau deportiert. Best hatte, nachdem die Verschleppung nicht mehr zu realisieren war, die Massenflucht zugelassen – als zweitbeste Endlösung. Selbstbewusst meldete er Hitler Dänemark als «entjudet». Die Rettung der dänischen Juden war möglich, weil das neu trale Schweden nah war und, anders als die Schweiz, jüdische Flüchtlinge aufnahm. In Dänemark existierte zudem eine Gesellschaft, die Zivilcourage bewies. Vor allem aber unterschied sich die Besatzungssituation grundlegend von anderen Ländern. Das «germanische» Dänemark war nicht der «volkstumspolitische Problemfall» Polen. Und der antisemitische, aber besatzungspolitisch flexibel denkende Best war nicht der Modellnazi Greiser. Der Verfolgungsdruck, der auf den Juden lastete, war hier niedriger als in den Niederlanden, wo der einheimische Polizeiapparat direkt der deutschen Besatzungsmacht unterstellt war. Zudem gingen im Sommer 1943 19 Züge mit 34 313 Menschen direkt nach Sobibor, wo die Überlebenschancen geringer waren als in Auschwitz. Die Handlungsmöglichkeiten der dänischen Bevölkerung waren auch größer als im unterjochten Griechenland oder Serbien – ungeachtet der Frage, wie sich deren Gesellschaften zu der Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger verhielten. In der Sowjetunion hingegen galt, was Wassili Grossman, als Kriegskorrespondent für eine sowjetische Militärzeitung tätig, im Spätherbst 1943 in den von der Roten Armee bereits zurückeroberten Gebieten registrierte: «Es gibt keine Juden in der Ukraine. 251
IV. Der Holocaust 1941 – 1944
Überall – in Poltawa, Charkow, Krementschug, Borispol, Jagotin –, in allen Städten und Hunderten von Schtetln, in Tausenden von Dörfern» sehe man keinen einzigen. «Wo sind die Hunderttausende von Juden, die Greise und Kinder? Wo sind [in lediglich zwei Jahren] eine Million Menschen hingeraten?» Ihm begegnete nur «Schweigen. Stille»96. Babij Jar hatten die Deutschen immer wieder als Hinrichtungsstätte genutzt: 100 000 Menschen sollen in dieser Schlucht bis zur Befreiung Kiews im November 1943 getötet worden sein, darunter neben 70 000 Juden auch Roma, so wjetische Kriegsgefangene und Zivilisten. Im Baltikum und in Weißrussland näherte sich die Front Mitte 1944. Dann wurden hier die letzten Ghettos auf Befehl Himmlers liquidiert, mehrere Zehntausend Juden zur Zwangsarbeit in Arbeitslager und KZ im Altreich verschleppt. Wiederum agierten Sonderkommandos, die alle Spuren des Genozids vor der Ankunft von Stalins Truppen zu verwischen suchten. Insgesamt töteten Deutsche, ihre einheimischen Helfer und Rumänen mindestens 1,5 Millionen Juden, die im Sommer 1941 in der Sowjetunion gelebt hatten. Schließlich geriet die einzig verbliebene jüdische Gemeinde des besetzten Europas in die Todesmühlen. Nachdem die Wehrmacht im März 1944 in Ungarn einmarschiert war, eilte Eichmann höchstpersönlich nach Budapest, um sich der auf ungarischem Gebiet lebenden Juden zu bemächtigen. Roosevelt ahnte die sich anbahnende Tragödie so kurz vor der geplanten Invasion in der Normandie. Die New York Times titelte am 10. Mai: «Ungarische Juden befürchten Vernichtung.»97 Das Land der Magyaren wurde in Zonen aufgeteilt und Zone für Zone durchkämmt, 437 000 Menschen wurden nach Birkenau verschleppt, 320 000 ermordet. Mit ihnen waren der beflissene Bürokrat Eichmann und sein Referat IV B 4 für etwa ein Fünftel aller Opfer des Holocaust verantwortlich. 100 000 Juden sollten, so war es Hitlers Wunsch, zunächst noch am Leben bleiben und im Bau unterir discher Flugzeugfabriken im Protektorat Böhmen und Mähren eingesetzt werden. Doch noch bevor SS und Polizei Budapest er252
Todesstille
reichten, änderte die Landung der Alliierten die Kräfteverhältnisse auf dem Kontinent. In Liepāja waren bereits im April 1942 neunzig Prozent der 7 300 jüdischen Einwohner nicht mehr am Leben gewesen. Anfang Oktober 1943 hatten die Deutschen das Ghetto mit seinen noch verbliebenen 800 Bewohnern aufgelöst. Einige wenige Juden konnten flüchten. Nach und nach versteckten der Hausmeister Peteris-Roberts Seduls und seine Frau Johanna insgesamt zehn Erwachsene und ein Baby in ihrem Keller. Die elf Untergetauchten konnten hoffen.
V. «Einmal kommt der Feind doch zu Euch» Die Zeit bis Kriegsende
«
Invasion – endlich! Die alliierten Truppen sind, unterstützt von der Luftwaffe, im Nordwesten Frankreichs an Land ge-
gangen. Tausende Truppentransportfahrzeuge und Tausende Flugzeuge haben heute in der Früh den Ärmelkanal überquert»,1
freute sich Astrid Lindgren am 6. Juni 1944. In der Tat: Eine ko lossale Armada zur See und in der Luft war unterwegs. Die Deutschen waren überrascht. Noch am Abend zuvor hatten Hitler und Goebbels im Berghof auf dem Obersalzberg bis zwei Uhr nachts vor dem Kamin geplaudert. Die beiden gaben sich optimistisch. Mitte 1944 war das NS-Regime angezählt, aber keineswegs besiegt. Die Wehrmacht stand weiterhin tief auf sowjetischem Gebiet. Sollte die Invasion scheitern, dieses Abenteuer einer Landung an einem kilometerlangen, offen dem Gegner ausgelieferten Strand an der rauen Atlantikküste, dann würde die feindliche Allianz auseinanderbrechen, England würde zu Deutschland finden, und das Heer könnte mit voller Kraft im Osten die Rote Armee zurückdrängen. Für den Sieg in der Entscheidungsschlacht, das war die Hoffnung der NS-Spitze, würden Rommels Atlantikwall mit seinen über 14 700 Bunkern und die von der Ostfront abgezogenen Truppen schon sorgen. Es sollte anders kommen. Zwar waren alle Versuche missglückt, 255
V. Die Zeit bis Kriegsende
die Wehrmacht irrezuleiten, etwa mit einer Geisterarmee aus Pappmaché-Kanonen und aufblasbaren Panzern in Südostengland. Sie hatten glauben machen sollen, die kommende Hauptattacke würde weiter östlich in Pas-de-Calais erfolgen, dem kürzesten Weg zu den Waffenschmieden des Ruhrgebiets. Militär und Waffen-SS erwarteten den Gegner durchaus am richtigen Ort. Doch sie wurden so spät alarmiert, dass die Reaktion sich verzögerte. Rommel musste, wie andere Generäle, erst einmal anreisen, er weilte zum Geburtstag seiner Frau in Schwaben. Dieses Moment der Überraschung entschied die Invasion. Der amerikanische Fotograf Frank Scherschel hielt den Anfang vom Ende der NS-Herrschaft über Europa in Farbfotos für das Magazin Life fest,
die Freude der GIs wie die Beklemmung der jungen deutschen Kriegsgefangenen. Dabei hatten diese es geschafft, vermutlich überlebten sie – im Gegensatz zu vielen anderen. Denn das letzte Jahr des Krieges entwickelte sich zum tödlichsten. In nur zehn Monaten zwischen Juli 1944 und Mai 1945 lag die Zahl der getöteten oder vermissten deutschen Soldaten mit etwa 2,6 Millionen genauso hoch wie in den ersten vier Kriegsjahren zusammen. Auch der Bombenkrieg erreichte erst im Winter 1944/45 seinen Höhepunkt. Und das NS-Regime verfolgte jeden Anschein von Illoyalität mit brutaler Härte. Die entgrenzte Gewalt schlug auf die Deutschen zurück.
Behauptungen Am 4. Juni 1944 war es Briten und Amerikanern gelungen, nach verlustreichen, aber die deutschen Kräfte bindenden Kämpfen in Rom einzumarschieren. Zudem hatte das Bündnis das Eisenbahnnetz und die Brücken in Frankreich und Belgien ebenso wie die so wichtigen Erdölfelder in Rumänien bombardiert. Die dabei zahlreich getöteten Zivilisten galten als Kollateralschaden. So ab256
Behauptungen
gesichert, war nun die größte Streitmacht der Kriegsgeschichte in den Häfen Südenglands in See gestochen, mehr als 160 000 Amerikaner, Briten, Kanadier, aber auch Tschechen, Belgier, Griechen, Polen und Norweger. Im Einsatz waren 5 337 Kriegs- und Transportschiffe sowie Landungsboote. Auf französischem Boden trafen sie in der Regel auf wenig Widerstand, nicht zuletzt, weil die Wehrmacht erst einmal Zuständigkeiten klären musste. Lediglich im Abschnitt Omaha Beach «brach die Hölle los»2, wie ein amerikanischer Kompaniechef berichtete. Dort stand deutsche Artillerie, die die Alliierten schwer unter Beschuss nahm – was diese wiederum mit Kanonaden von See, Tieffliegern und dem Einsatz von Luftlandetruppen im Hinterland beantworteten. Doch weder Rommel an Land noch Dönitz im Wasser, noch Göring in der Luft konnten die Invasion aufhalten oder gar zurückschlagen. Supreme Commander General Dwight D. Eisenhower und seine Truppen hatten Zeit, den Brückenkopf in der Normandie zu sichern. Mit einem gewaltigen logistischen Aufwand sollten in den nächsten Wochen rund 1,5 Millionen Soldaten nachrücken, 54 000 Fahrzeuge und 104 000 Tonnen Material an Land gebracht werden. Der Atlantikwall war durchbrochen, die zweite Front eröffnet. Der Westen würde den Kontinent nicht allein Stalin überlassen. Doch dem militärischen Triumph der Invasion folgte ein verlustreicher zäher Kleinkrieg. Allein vom Kanal bis nach Caen, eine halbe Stunde mit dem Auto, dauerte der Vorstoß einen Monat. Das «beschissenste[] Gelände, das man je gesehen hat»,3 fluchte US-General Omar Bradley über die dichten Busch- und Hecken-
reihen. Sie gaben den Soldaten Deckung, so dass beide Seiten von Dschungelkriegen sprachen. Die deutschen Kommandeure befahlen, den Kampf «listig und indianermäßig» zu führen. Ihrer Guerilla-Überlegenheit standen die ungleich größeren Waffenressourcen der Anti-Hitler-Koalition gegenüber. Selbst für Soldaten, die in der Sowjetunion gekämpft hatten, war die sich anschließende Materialschlacht eine neue Erfahrung. Die «schöne 257
V. Die Zeit bis Kriegsende
Normandie» habe sich, so schrieb ein Obergefreiter am 15. Juni 1944, in eine «Hölle für die Landser»4 verwandelt. Die Amerikaner kämpften, wie eine Infanteriedivision am 22. Juni informierte, «verbissen bis zum letzten Augenblick»5. «Eine ungeheure Blutmühle»6 sei die Schlacht, hielt General Dietrich von Choltitz am 15. Juli fest, so etwas habe er noch nie durchgemacht. Auf der Gegenseite ließen die Sorge vor den deutschen «Wunderwaffen» und der ungebrochene Widerstand britische und amerikanische Kommandeure vorsichtig werden. Wann immer möglich, setzten sie Luftwaffe und Artillerie statt Infanterie ein. So wurde die Befreiung Westeuropas zu einem äußerst verlustreichen Krieg. Beide Seiten verkeilten sich ineinander, begingen Kriegsverbrechen und machten möglichst wenige Gefangene. Etwa 50 000 bis 55 000 deutsche und 55 000 bis 65 000 alliierte Soldaten ließen in der Operation Overlord bis Ende August 1944 ihr Leben – und bis zu 19 000 französische Zivilisten. Vermehrt traten einheimische Partisanenverbände auf den Plan, die mit dem Aufruf «L’heure approche» Telefon- und Eisenbahnverbindungen sabotierten. Wehrmacht und insbesondere die Verbände der Waffen-SS reagierten mit Terror. Ein Extremfall ereignete sich am 10. Juni in Oradour-sur-Glane: Mitglieder einer SS-Panzerdivision töteten nahezu die gesamte Einwohnerschaft, 642 Frauen, Männer und Kinder, und brannten das Dorf nieder als Vergeltung für die Gefangennahme eines Bataillonskommandeurs durch die Ré sistance. Die stark dezimierte Division war zuvor aus der So wjetunion nach Frankreich verlegt worden. Für «Zentralen jeder Partisanen- und jeder Bandenbewegung»7 hielt Himmler seit dem Warschauer Ghettoaufstand die jüdischen «Wohnbezirke». Würde auch Łódź die Auflehnung wagen, wenn die Rote Armee mit dem Schwung der erfolgreichen Invasion weiter gen Westen ziehen würde? Der Reichsführer SS zog die Konsequenz aus seinen Befürchtungen und ordnete, ebenfalls am 10. Juni, die Liquidierung des Ghettos Litzmannstadt an – gegen Einsprüche aus Kreisen der Wehrmacht und der Wirt258
Behauptungen
schaft, die die Produktion aufrechterhalten wollten. Die SS nahm am 23. Juni 1944 Kulmhof wieder in Betrieb. Einen Monat lang ermordete sie dort über 7 000 Juden. Dann wurde das Todeslager endgültig geschlossen. Die verbliebenen 67 000 Menschen, unter ihnen Chaim Rumkowski und seine Familie, deportierte man nach Auschwitz oder in Arbeitslager. Am 30. August 1944 war das letzte Ghetto in Polen aufgelöst. Drei Millionen der 3,3 Millionen zählenden jüdischen Bevölkerung Vorkriegspolens waren am Ende des Krieges tot. Stalin hatte tatsächlich die erfolgreiche Landung der Alliierten abgewartet und zunächst einmal Finnland angreifen lassen. Damit drohte ein weiterer Partner NS-Deutschlands verloren zu gehen. Nun startete die Rote Armee, wie in Teheran besprochen, am dritten Jahrestag von Barbarossa ihre Sommeroffensive, die Operation Bagration. Etwa 2,5 Millionen Rotarmisten zerschlugen mit Unterstützung von Partisanen drei deutsche Armeen auf rund 1 100 km Breite. Die Heeresgruppe Mitte wurde bezwungen, Weißrussland zurückerobert, der deutsche Verteidigungsring im Osten durchbrochen. 250 000 deutsche Soldaten verloren ihr Leben, gerieten in Gefangenschaft oder blieben vermisst. Das sowjetische Militär hatte von der Wehrmacht gelernt und nutzte mit Zangengriffen, in Kesselschachten und überraschenden Offensiven ihre enorme Überlegenheit an Menschen und Material. Die deutsche Seite konnte allein auf die Bodenstreitkräfte setzen, eine ungünstige Asymmetrie, wie der mittlerweile entlassene Schulrat Schmidt erkannte: «Die Unterseebootwaffe ist so gut wie ausgeschaltet. Die Flugzeuge greifen nur noch selten an. Die Feinde haben unbestritten die Oberhand.»8 Auch das Baltikum konnte jetzt von der Roten Armee besetzt werden. Jedoch erwies sich das Kurland am Ostseezipfel Lettlands als uneinnehmbar, hier verschanzte sich die Heeresgruppe Nord. Liepāja wurde zum lebensnotwendigen Nachschubhafen für den deutschen Großverband und dementsprechend stark bombardiert. Die im Ort versteckten Juden mussten weiter ausharren. 259
V. Die Zeit bis Kriegsende
Angesichts des Vormarsches der Alliierten keimte bei Klemperers in Dresden Hoffnung auf. Der Romanist gab ein Gespräch mit einem Zimmermann wieder: «Er sagte, Ende November sei Schluß; er hatte ein gutes Wort: Wir hätten jetzt nicht drei, sondern fünf Fronten: Rußland, Frankreich, Italien, dazu die Heimat-
front der Bombenangriffe und die Bandenfront.»9 In der deutschen Mehrheitsgesellschaft hingegen verdüsterte sich die Stimmung. Der SD sprach davon, dass der Optimismus «nüchternen und skeptischen Erwägungen gewichen»10 sei. An der Front schrieb Böll Mitte Juli 1944 erschöpft an seine Frau: «Ich habe die Hoffnung, daß wir diesen Krieg gewinnen, noch nicht aufgegeben, aber ich bin dieses Leben als Soldat so leid, daß ich mich immer wieder mit allen Kräften aufraffen muß.»11 Zum gleichen Zeitpunkt rang selbst Gudrun Himmler mit den Nachrichten: «Cherbourg haben wir aber schon aufgegeben, […] Rom ist schon lange aufgegeben und in Russland sind die Russen schon fast an der Grenze, einfach furchtbar, aber alle glauben sie so fest an den Sieg (Pappi) daß ich als Tochter des jetzt besonders angesehenen und beliebten Mannes es auch denken muss, ich tu es auch. Es wäre ja gar nicht zum Ausdenken, wenn wir verlieren würden.»12 Die Sorgen des Himmler’schen Nachwuchses waren begründet. Astrid Lindgren vermerkte am 19. Juli, dass es in der Normandie zwar «nicht ganz so schnell», aber doch vorangehe. Die Deutschen sähen sich hier, so musste auch der neue Oberbefehlshaber West, Günther von Kluge, Hitler am 21. Juli 1944 melden, «einer Kraft gegenüber, gegen die kein Kraut mehr gewachsen»13 sei. Er war Gerd von Rundstedt gefolgt, der Keitel in einem Anfall von Wut «Schluß sollt Ihr machen mit diesem Krieg, ihr Idioten!»14 entgegengeschleudert hatte und entlassen worden war. Auch im Osten wurde es für die Deutschen gefährlich, wie die Schwedin notierte: «Die Russen machen phantastische Fortschritte», sie stünden nun «ganz nah an der Grenze zu Ostpreußen»15. Hier, in der Wolfsschanze, passierte fast gleichzeitig Unfassbares. «Tolle Berichte! Ein Mordanschlag auf Hitler ist ausgeübt und 260
Behauptungen
nun mal nicht durch jüdische Kommunisten oder englische Kapitalisten, sondern durch einen hoch-germanischen deutschen General, der Graf und außerdem noch jung ist»,16 begeisterte sich Anne Frank am 21. Juli. Klemperer war ebenso schnell über den Anschlag informiert und versuchte an weitere Details zu gelangen: «Auch Stühlers rätseln. Er sagte: Vielleicht sei alles Lüge, weil ER sich in den Ruf der heiligen Unverletzbarkeit setzen wolle. Ich:
Es wäre Selbstmord anzugeben, daß sich die Armee gegen den Führer gewandt habe, das sei ja nicht einmal im November 18 geschehen.»17 Doch genau das war geschehen. Einigen höheren Offizieren war nach mehreren unvollendeten Versuchen endlich das Attentat auf Hitler gelungen. Unter dem Eindruck der nunmehr von Ost und West auf das Reich vorrückenden Verbände wie der Weigerung Hitlers, mit den Alliierten Verhandlungen aufzunehmen, hatten die Widerstandskreise handeln wollen. Zudem hatte es während der letzten Monate viele Verhaftungen gegeben, die Zeit drängte also. Immer noch aber waren die Widerständler eine kleine Gruppe. Die Mehrheit der Militärs, insbesondere in der Generalität, war nach wie vor bereit, dem «Führer» zu folgen. Unterstützung von den Alliierten war auch nicht zu erwarten. Diese dachten gar nicht daran, in Separatverhandlungen mit einer Opposition einzutreten, die aus dem inneren Zirkel von Wehrmacht und Regime kam und jahrelang den braunen Machthabern gedient hatte. Von Tresckow stand diese Lage klar vor Augen. Er wollte zuvörderst ein moralisches Zeichen setzen und den «entscheidenden Wurf gewagt»18 haben, ein anderes Deutschland als dasjenige Hitlers zu zeigen. Andere waren überzeugt, Deutschland vor dem drohenden militärischen «Verhängnis»19 retten zu müssen, wie Oberst Claus Schenk von Stauffenberg das angeb liche finis germaniae nannte. Aber der Anschlag am 20. Juli 1944 missglückte, den Atten tätern gelang es nicht, in Berlin die Macht zu übernehmen. Hitler wurde nur leicht verletzt und meldete sich um ein Uhr nachts über den Rundfunk bei seinen Volksgenossen. Ihm ergebene Ein261
V. Die Zeit bis Kriegsende
heiten nahmen die Widerständler fest, noch am Tag des Atten tates erschossen sie Stauffenberg und drei andere Offiziere. Goebbels erregte sich über die «Putschistenverbrecher»20. Auch die Deutschen solidarisierten sich in der Mehrheit und verurteilten das «gemeine[] Bubenstück»21, wie ein Soldat nach Hause schrieb. Nicht wenige wähnten die Vorsehung im Spiel, die den «Führer» noch einmal gerettet habe. Hitlers Nimbus war zwar gesunken, aber ohne ihn wollten die Deutschen nach zwölf Jahren und in der größten Krise nicht sein. Nur er, so die vorherrschende Auffassung, könnte das Kriegsgeschick noch wenden. Klemperer war «sehr deprimiert» und resümierte: «Hakenkreuz herrscht weiter».22 Eine Sonderkommission des RSHA nahm ihre Arbeit auf, es kam zu über 5 600 Verhaftungen, allein der Volksgerichtshof unter Roland Freisler verhängte über hundert Todesurteile, in den ersten Tagen der Verfolgung wurden etwa 200 Personen hingerichtet, darunter Hellmuth Stieff. Andere sahen nur den Ausweg, sich selbst zu töten. Hitler ernannte als Reaktion auf den Verrat seinen treuen Heinrich zum Befehlshaber des Ersatzheeres. Mit der Bestallung des SS-Chefs verband sich eine deutliche Drohung an die Volksgenossen, wie Ruth Andreas-Friedrich realisieren musste, als sie Ende Juli 1944 wegen regimekritischer Äußerungen verhaftet werden sollte. Ihrem Eindruck nach waren seit dem 20. Juli «alle Organe der Nazis geneigt, in jedem deutschen Bürger einen Putschisten zu wittern»23. Nur mit Mühe konnte sie sich aus der Affäre ziehen. Außerhalb Deutschlands deutete man das Attentat als Zeichen des Zerfalls. Der Unteroffizier Henrich V., in Italien stationiert, vermerkte am 24. Juli in seinem Tagebuch: «Noch nie ist so offen von Niederlage und Zusammenbruch gesprochen worden wie jetzt. […] Der Verkehr mit Italienern wird schwieriger, man begegnet überlegen lächelnden oder bestenfalls mitleidigen Gesichtern. Wir sind in aller Augen diejenigen, die den Krieg verlieren werden.»24 262
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Das dachte man auch in Warschau und London. Der polnische Untergrund und die Exilregierung registrierten den Anschlag auf das deutsche Staatsoberhaupt ebenso aufmerksam wie die Landung in der Normandie und den Zug der geschlagenen und demoralisierten Reste der Heeresgruppe Mitte durch Warschau. Alarmiert reagierte die polnische Heimatarmee (AK) jedoch, als am 24. Juli ihre Truppen zusammen mit sowjetischen Verbänden Lublin erreichten. Die Soldaten befreiten zwar Majdanek als erste Stätte des SS-Lageruniversums. Sie dokumentierten die Verbrennungsöfen, die Massengräber und zeigten mit den Fotos der Welt diese «riesenhafte Mordanlage»25, wie Thomas Mann sie später vor seinen deutschen Hörern nannte. Aber dann entwaffneten die Rotarmisten sofort ihre polnischen Mitstreiter und begannen eine Marionettenregierung zu installieren. So etwas dürfe, mahnten die Führer der Heimatarmee, in der Hauptstadt nicht geschehen. Unbedingt müsse man Stalin zuvorkommen und als Hausherr dem Kremlchef entgegentreten. Um die deutschen Besatzer anzugreifen, brauchten die Polen – neben britischer Hilfe aus der Luft durch Abwürfe von Waffen – sowjetische Panzer, da der Widerstand nur über minimale Kampfmittel verfügte. Trotz dieser ungeklärten Situation wagte die AK am 1. August 1944 den Aufstand – zur Verblüffung der NS-Führung, die damit zwar gerechnet, doch eine derartige Rebellion einer besetzten Großstadt noch nicht erlebt hatte. Örtliche Militärs hielten sogar eine Ausweitung auf ganz Polen für möglich. Hosenfeld notierte besorgt die Reaktion des Regimes: «Es soll ein Führerbefehl erlassen sein, daß Warschau dem Erdboden gleichgemacht werden soll.»26 Für den polnischen Widerstand war es eine vertrackte Situation in der Stadt mit mehreren Hunderttausend Einwohnern. Sie wurde noch schwieriger, als Wehrmachtseinheiten es schafften, vor den Toren Warschaus den Vormarsch der Roten Armee zu stoppen. Es trat ein, was Klemperer befürchtete: «Stockungen an allen Fronten». Sie zeigten ihm, dass «das deutsche Heer Widerstand leistet, daß es noch keineswegs demoralisiert und in Auflö263
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sung ist. Und irgendwann werden die Russen auch wieder eine Pause einlegen müssen. Schon sehe ich den sechsten Kriegswinter vor mir.»27 Tatsächlich reichten die verbliebenen Reserven der sowjetischen Einheiten nicht aus, um weiterzumachen, und Stalin wollte bestmöglich gerüstet reichsdeutsches Territorium betreten. Im Westen stellten sich erst einmal weitere Erfolge der Anti- Hitler-Koalition ein. Am 15. August landeten amerikanische und französische Einheiten an der Südküste Frankreichs. Die Wehrmacht musste peu à peu zurückweichen. «Aufstände der Bevölkerung»28 registrierte Schulrat Schmidt nun hier und in Belgien. In Paris ließ der gerade erst im Zuge des Attentats neu ernannte Stadtkommandant, General von Choltitz, die Hauptstadt nicht wie von Hitler befohlen in Trümmer legen. Zum einen verfügte er gar nicht mehr über die militärischen Ressourcen für derartige Akte der Destruktion in einer Stadt, in der bereits die Résistance große Teile kontrollierte. Zum anderen drohten ihm die Alliierten, ihn in diesem Falle als Kriegsverbrecher zu behandeln. Der absehbare Einzug der Westmächte hinderte das RSHA allerdings nicht, am 17. und 22. August noch die beiden letzten Transporte nach Birkenau auf den Weg zu bringen. Damit waren zwischen 1942 und Sommer 1944 etwa 76 000 der 335 000 in Frankreich lebenden Juden nach Auschwitz deportiert worden, unter ihnen 56 000 Ausländer. Drei Tage später, am 25. August 1944, zogen die Alliierten mit den Truppen Charles de Gaulles unter großem Jubel in Paris ein. David Low erinnerte mit feiner Ironie daran, dass in Frankreich wie überall im NS-besetzten Europa der Widerstand nur eine Seite der Medaille gewesen war: Eine seiner Karikaturen ließ die Kollaborateure und Vichy-Leute einen Extrazug nach «München, Berlin oder Sonstwohin»29 besteigen. In Stockholm war Astrid Lindgren erleichtert: «Paris ist von den Deutschen befreit. Nach vier Jahren Gefangenschaft. Ich erinnere mich an den Tag, als man in den Schlagzeilen las, dass die Hakenkreuzfahne auf dem Eiffelturm flatterte. Es scheint Jahrhunderte her zu sein.»30 264
Behauptungen
Die deutschen Rückzüge und das Attentat auf Hitler hinter ließen auch in Südosteuropa Spuren. Die «ganze Balkanfront [scheint] einzubrechen»,31 notierte Klemperer am 25. August. Sukzessive setzten sich die Verbündeten ab – nicht zuletzt aus Gewissheit über die Bestrafung derjenigen, die den Nazis bei der «Endlösung» treue Dienste geleistet hatten. In Bukarest nahmen im August 1944 einige Generäle aus dem Umkreis des Königs den Führergetreuen Antonescu fest – nach einer weiteren sowje tischen Großoffensive, dieses Mal gegen die Heeresgruppe Süd ukraine, die die rumänischen Ölfelder sichern sollte. Daraufhin ordnete Hitler die Bombardierung der Hauptstadt an, was das Land endgültig aus der deutschen Front ausscheren ließ. Lind gren freute sich: «Rumänien [hat] kapituliert und sogar Deutschland den Krieg erklärt. Es scheint unvorstellbar, dass Deutschland noch lange durchhält.»32 Den Seitenwechsel ignorierend, besetzte die Rote Armee das Land, am 12. September 1944 wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Ähnliches ereignete sich in Bulgarien. Die Schwedin hielt fest: «Bulgarien hat auch mit Deutschland gebrochen; ja, sogar den Krieg erklärt.»33 Wie in Rumänien wurden auch in Bulgarien flugs die antijüdischen Maßnahmen weitgehend zurückgenommen. Und auch hier folgte die Rote Armee auf einen Staatsstreich. Aufgrund des Zusammenbruchs musste die Wehrmacht ihre 300 000 Soldaten aus Griechenland zurück ziehen, Einheiten der britischen Armee rückten ein. Allein die Slowakei blieb mit ihren Absatzbewegungen stecken. Noch im August wollten es slowakische Offiziere den Rumänen gleichtun. Aber deutsche Einheiten unterdrückten den Aufstand. Trotz dieses Sieges: Die Idee, mit dem antikommunistischen Slogan «Europa den Europäern» die politischen Freunde bei der Stange zu halten, verfing nicht mehr. Lindgren machte sich Mut: «Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Deutschen aufgeben.»34 Aber alle Beschwörungen nutzten nichts. Die Zeit war – noch – auf der Seite des NS-Regimes, und immer realer wurde ein Europa ohne Juden. Goebbels hatte schon im April 1944 bekräftigt, die Ju265
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den seien zu bestrafen, und wo auch immer man sie zu fassen bekomme, «sollen die der Vergeltung nicht entgehen»35 – so nun auch in der Slowakei und in Griechenland. Kaum in Bratislava angekommen, verschleppte die SS 13 000 Menschen nach Auschwitz, später nach Theresienstadt und Sachsenhausen. 70 000 Juden aus der Slowakei verloren zwischen 1939 und 1945 ihr Leben, darunter etliche Konvertierte. Während die Heeresgruppe E bereits erste Evakuierungsvorbereitungen traf, ließ das RSHA Juden von Rhodos, Korfu, Kreta und anderen griechischen Inseln nach Auschwitz deportieren. Etwa 60 000 der insgesamt 77 000 griechischen Juden wurden im Holocaust ermordet, die meisten von ihnen in Birkenau. Die Verfolgung ging auch in Westeuropa weiter. In den Niederlanden hatten Fahnder des SS-Sicherheitsdienstes die Familie Frank am 4. August 1944 verhaftet, nur wenige Tage nach Annes Eintrag zum 20. Juli. Vielleicht hatte jemand die Untergetauchten in der Prinsengracht 263 denunziert, vielleicht gerieten sie aber auch in eine Razzia auf der Suche nach Fälschern von Lebensmittelmarken. Am 3. September wurden die 15-jährige Anne und ihre Familie mit einem der letzten Transporte aus Westerbork nach Auschwitz deportiert. Von hier sollte sie Anfang November wie Zehntausende andere auch zur Zwangsarbeit ins KZ Bergen- Belsen weiterverschleppt werden. Die Niederlande verloren insgesamt 107 000 ihrer 140 000 als «Volljuden» stigmatisierten Einwohner, Belgien 24 000 der 56 000 dort lebenden Juden. Die Deportationen aus dem Reich liefen ebenfalls weiter. Im März 1944 war Lilli Jahn nach Auschwitz transportiert worden. 1942 hatte sich ihr nichtjüdischer Ehemann von ihr scheiden lassen. Ihre fünf Kinder hatten sie letztlich nicht schützen können. Jahn überstand die Selektion und wurde als Ärztin eingesetzt. Aber die Kinder hörten nichts vom Verbleib ihrer Mutter. Ende September 1944 traf dann ein Brief vom Lager-Standesamt ein: «Die Ärztin Lilli Sara Jahn geborene Schlüchterer – glaubenslos –, wohnhaft Kassel, Motzstr. Nr. 3, ist am 19. Juni 1944 um 266
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11 Uhr 25 Minuten in Auschwitz, Kasernenstrasse verstorben.»36 175 000 Juden aus Deutschland sollten dem Holocaust zum Opfer fallen. Fast 90 Prozent der Getöteten starben in Theresienstadt, in den Vernichtungslagern im besetzten Polen oder den Erschießungsstätten in der Sowjetunion. Die Übrigen verloren ihr Leben auf dem Gebiet des Deutschen Reichs: Sie verübten Selbstmord, kamen in einem Gefängnis, einem KZ oder bei der Euthanasie um. Einzig in Ungarn geschah mit dem Vorrücken der Alliierten, was zuvor fast unmöglich gewesen war: Mächtige Instanzen, darunter nun auch Papst Pius XII. und das IRK, brachen ihr Schweigen und traten an die Öffentlichkeit, um zumindest aus dieser ehemals drittgrößten Gemeinde Europas Juden zu retten. Horthy, hin- und hergerissen zwischen den drängenden deutschen Be satzern und den mahnenden alliierten Nochnichtsiegern, wollte vor allem den eigenen Kopf aus der Schlinge ziehen. Roosevelt dauerte das Zögern zu lange, er ließ Budapest bombardieren. Vielleicht gab das den letzten Ausschlag, jedenfalls ließ der Staatschef die Deportationen der über 200 000 Budapester Juden stoppen. Der Zusammenhang von Judenverfolgung und Kriegsgeschehen beschäftigte zur gleichen Zeit, Anfang September, auch den Wachtmeister Ludwig D. an der Ostfront. Angesichts der ganzen «Scheiße» fragte er in einem Brief mehr sich selbst als seinen Adressaten, ob man nicht durch die Schande des Völkermords das den Deutschen zustehende Recht auf den Sieg verwirkt habe. «Sollte der Krieg wohl doch verloren gehen? Das wäre ja furchtbar, und man müßte an der Vorsehung zweifeln, solche Verbrecher sind wir Deutschen denn nun doch nicht gewesen, wenn auch die Nazis es mal ein bißchen toll mit den Juden getrieben haben.»37 «Ein bisschen toll getrieben» hätten es die bösen Nazis, die der Wachtmeister von den guten Deutschen unterschied. Aber selbst in dieser gnadenlosen Untertreibung wird das Gefühl sichtbar, mit den Nazis einmal in einem Boot gesessen zu haben, 267
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aus dem man nun möglichst raus wollte. Es gab aber auch andere Stimmen. Als gerechte «Sühne» für die «Erledigung»38 der Juden würde etwas später der Heeresrichter Werner Otto Müller-Hill den Krieg im eigenen Land empfinden. Er hatte die Invasion herbeigesehnt, um dem militärisch sinnlosen Treiben des «Hasardeur[s] H.»39 ein Ende zu bereiten und unnötige Menschenopfer zu verhindern. Die Gewalt sollte indessen immer größere Ausmaße annehmen. Die deutschen Einheiten begingen auf ihrem Rückzug aus den besetzten Gebieten zahlreiche Massaker. Die zum Teil schon in der Sowjetunion und auf dem Balkan eingesetzten Verbände mordeten, brandschatzten und verschleppten Menschen. Im umkämpften Warschau erschossen SSler, Soldaten und Polizisten – eine radikalisierte Truppe aus Deutschen, Aserbaidschanern, Russen, Weißrussen und Ungarn – alles, «was sich bewegte»,40 darunter auch «Damen in Pelzmänteln» und «bis vor 2 Tagen noch ‹gepflegte› Kinder»41, wie ein Offizier bestürzt vermerkte. Stalin wiederum erkannte, dass Hitler ihm mit der Zerstörung Warschaus einen Gefallen tun würde auf dem Weg zur künftigen Herrschaft über Polen. Die Rote Armee schonte sich; nur sehr zögerlich unterstützte sie die antikommunistischen Polen. Am 18. August teilte Moskau dem US-Botschafter mit: «Die Sowjetregierung kann natürlich keinen Einspruch erheben, wenn englische oder amerikanische Flugzeuge im Raume Warschau Waffen abwerfen, da das eine amerikanische und britische Angelegenheit ist. Sie verwahrt sich jedoch ganz entschieden dagegen, dass amerikanische oder britische Flugzeuge nach dem Abwurf von Waffen im Raume Warschau auf Sowjetterritorium landen, da sich die Sowjetregierung weder direkt noch indirekt mit dem Warschauer Abenteuer in Beziehung zu setzen wünscht.»42 Roosevelt wagte nicht, Stalin zur Rede zu stellen, Churchill konnte nichts bewirken, und so sahen alle erneut zu, wie das Land an der Weichsel, das älteste Mitglied der Anti-Hitler-Koalition, die Schlacht auf unvorstellbar grausame Weise verlor. Bis zur Kapitu268
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lation am 2. Oktober sollten die auf deutscher Seite angetretenen Verbände, das Kriegsvölkerrecht ignorierend und den Vernichtungskrieg von den sowjetischen Schauplätzen ins westliche Osteuropa zurücktragend, 150 – 180 000 Polen töten, darunter etwa 16 000 Aufständische. Unter den Toten befanden sich auch Juden, die noch versteckt in der Stadt gelebt hatten, wie der Polizist Calel Perechodnik. Das jahrhundertelange «polnische Problem», so Himmler selbstgefällig, habe sich «für unsere Kinder und für alle, die nach uns kommen»43, erledigt. Die AK-Kämpfer kamen in Gefangenschaft, die in der Stadt noch verbliebenen 450 000 Einwohner wurden, Frauen und Männer getrennt, entweder zur Zwangsarbeit ins Reich verschleppt oder in andere Regionen des Generalgouvernements abgeschoben. Da der Vorstoß der sowjetischen Truppen sich weiter verzögerte, konnte man alles, was gefiel, in den kommenden Monaten aus Museen, Bibliotheken und Privathäusern plündern. Dann wurde systematisch Straßenzug um Straßenzug zerbombt. Die Deutschen vollendeten den «Bank rott»44 ihrer Ostpolitik, wie Hosenfeld verbittert kommentierte. Die Rote Armee sollte Warschau erst am 17. Januar von den deutschen Besatzern befreien, die Anti-Hitler-Koalition musste im Osten wie im Westen immer wieder ihren Vormarsch stoppen. Probleme hatten die Alliierten nicht nur mit dem Nachschub von Treibstoff an den langen und tiefen Frontverläufen. Auch das Gelände war bisweilen schwieriger und die deutsche Gegenwehr größer als gedacht. Im September 1944 – Brüssel und Antwerpen waren gefallen, US-amerikanische Einheiten standen südlich von Aachen einige Kilometer auf deutschem Boden – wollten die Verbündeten mit der Operation Market Garden von Eindhoven aus die wichtige Rheinbrücke im niederländischen Arnheim einnehmen. Der Weg nach Deutschland wäre damit frei gewesen. Doch man scheiterte. Die Westmächte mussten sich nach wochen langen Kämpfen in das befreite Nimwegen zurückziehen. Es wiederholte sich, was schon in Warschau passiert war: Die Bewohner Arnheims wurden vertrieben, die Deutschen plünderten die 269
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Stadt. Klaviere, Kunst, Möbel, Gebrauchsgegenstände – mit einer auch im Westen noch immer perfekt funktionierenden Logistik schafften die braunen Besatzer alles, was irgendwie wertvoll oder brauchbar war, ins Reich. Für Hoffnung bei NS-Spitzen und überzeugten Volksgenossen sorgten die «Wunderwaffen». Der junge Soldat Paul-Dietrich N. erlebte im November 1944 in Holland die Waffe und notierte, dass das seinen «Glauben an den Endsieg wieder sehr gefestigt hat. Täglich saust V1 über uns weg.» Er zeigte sich «sehr be eindruckt» von der «ungeheuren[n] Geschwindigkeit»45, die moderne Technik begeisterte und motivierte ihn. Ruth Andreas- Friedrich sah die Sache nüchterner und konstatierte, die Propa gandawirkung übertreffe die Sprengwirkung «um ein beträcht liches»46. Der Regimeführung wiederum bereiteten die großen Personalverluste an allen Fronten Sorgen. Sie sollten durch Verbände des NSDAP-Volkssturms zumindest partiell aufgefangen werden. «Das ganze Volk in Waffen»,47 lautete die Inszenierung, wie die Hamburger Zeitung titelte. Luise Solmitz kommentierte, auf die von der Propaganda fortwährend bemühten Befreiungskriege anspielend: «1813 ist Trumpf.»48 Wieder wurde das bekannte antisemitische Muster in der Hitler’schen Begründung des Erlasses bemüht: «Dem uns bekannten totalen Vernichtungswillen unserer jüdisch-internationalen Feinde setzen wir den totalen Einsatz aller deutschen Menschen entgegen.»49 Der Druck in Schule und Hitlerjugend, von Blockwarten und Nachbarinnen war groß, 14-Jährige meldeten sich ebenso wie über 70-Jährige. Nun kämpften Kindersoldaten und Großväter an der Heimatfront. Im Oktober 1944 überschlugen sich dann die Ereignisse. In Auschwitz fanden Häftlinge heraus, dass die Lagerleitung die Ermordung fast der Hälfte der 663 Männer in den jüdischen Sonderkommandos beschlossen hatte. Die Verzweiflung setzte Todesmut frei: Am Mittag des 7. Oktober brach vor dem Krematorium III eine Revolte aus. Die Gefangenen führten damit die Geschichte 270
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des jüdischen Widerstands fort. Mehrere Dutzend Häftlinge gingen mit Waffen und Steinen auf die SS-Offiziere los. Ziel war eine Massenflucht, vor allem aber die Zerstörung eines möglichst großen Teils der Vernichtungsanlagen. Die Krematoriumsgebäude sollten mit selbstgebauten Granaten in Brand gesetzt werden. Binnen zwölf Stunden aber war alles vorbei. Schwer bewaffnete SS-Einheiten schlugen den Aufstand nieder, 451 Menschen wur-
den sofort hingerichtet. Zum gleichen Zeitpunkt rückten weiter südlich sowjetische Truppen auf Budapest vor. Der aufgeschreckte Horthy wählte endgültig die russische Seite, plante, die deutschen Verbündeten zu entwaffnen und mit Stalin einen separaten Waffenstillstand zu schließen. Daraufhin unterstützten die Deutschen einen Putsch der faschistischen Pfeilkreuzler, die umgehend ihre Feinde verfolgten. Tausende Juden und andere sogenannte na tionale Gegner wurden ermordet. Zusammen mit ihren ungarischen Helfern trieb die SS, da Züge nicht mehr fahren konnten, über 75 000 Juden auf Todesmärschen zum Arbeitseinsatz in Richtung Deutsches Reich. Etliche Zehntausend wurden in ein Ende November neu eingerichtetes Ghetto gesperrt. Zugleich versuchte die Wehrmacht mit mehreren Hunderttausend Soldaten die Reste Ungarns zu halten. Klemperer begriff die dortigen Kämpfe als unmittelbare Bedrohung und sah schwere Fliegerangriffe auf Dresden zukommen. «Dann wird man evakuieren und dabei die Mischehen trennen und die jüdischen Teile, wer weiß wo?, vergasen.»50 Nach heftigen Bombardements und Häuserkämpfen erzielten US-Truppen am 21. Oktober 1944 im Westen einen Erfolg: Aachen
kapitulierte. Die Königsstadt blieb jedoch für längere Zeit an der Frontlinie, und die intensive Gegenwehr ließ die alliierten Kommandostäbe glauben, die deutsche Bevölkerung stünde fest an der Seite der Nationalsozialisten. Um eine schnellstmögliche – im Pazifik tobte der Krieg gegen Japan – und schonungslose Niederlage der Deutschen zu erreichen, intensivierte die Koalition 271
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den Bombenkrieg über dem Reich. Die Rote Armee wiederum wollte zu Ehren der Oktoberrevolution Stalin ein Geschenk machen und stieß ebenfalls am 21. Oktober in Ostpreußen das erste Mal auf reichsdeutschen Boden vor. Weit kam man aber nicht, nach zwei Tagen musste sie sich zurückziehen, deutsche Truppen konnten die sowjetischen Streitkräfte abwehren. Zuvor hatten die Rotarmisten 20 Zivilisten in Nemmersdorf erschossen, ein Kriegsverbrechen, das Goebbels weidlich ausschlachtete. Es war jenseits aller «Kraft durch Furcht»-Propaganda aber auch ein Vorzeichen für die Gewalttaten, die die Truppen Stalins bei ihrem weiteren Vormarsch begehen sollten. Das RSHA lenkte unterdessen immer noch Züge nach Auschwitz, während gleichzeitig erste Abtransporte von Fabrikanlagen und Zwangsarbeitern begannen. Am 30. Oktober 1944 war ein Transport mit rund 2 000 Juden der letzte aus Theresienstadt mit Ziel Birkenau. Unter den Häftlingen befanden sich der Berliner Regisseur Kurt Gerron und etliche Mitwirkende eines Films, der das angeblich schöne Leben im «jüdischen Siedlungsgebiet» hatte dokumentieren sollen. Doch die Welt und auch die Deutschen wussten vom Völkermord – vorausgesetzt, man wollte wissen. Präzise informiert zeigte sich im Oktober ein «arischer» Bekannter der Klemperers. Heimlich hatte er das Ehepaar ein paar Minuten lang aufgesucht und äußerte sich, so der notorische Diarist, «furchtbar pessimistisch über das Schicksal der in die Hitlerhand gefallenen Juden, der polnischen, ungarischen, balkanischen und der in den Osten deportierten deutschen und anderen Westjuden. Er glaubt (nach Soldatenberichten), daß vor den Rückzügen alles ermordet worden ist, daß wir niemanden wiedersehen werden, daß sechs bis sieben Millionen Juden (von den fünfzehn existiert habenden) geschlachtet (genauer: erschossen und vergast) worden sind.»51 Einen Monat später, am 20. November 1944, verließen Hitler und seine Entourage die Wolfsschanze und zogen zunächst wieder nach Berlin. Der Diktator war erkrankt und musste sich medi272
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zinisch behandeln lassen. In der Öffentlichkeit zeigte sich der «Führer» nicht mehr. Sein Redefluss versiegte, wie Lindgren registrierte: «Hitler schweigt und schweigt zur Verwunderung der ganzen Welt.»52 Doch Schweigen hieß nicht Schwäche. Die Spannungen unter den Alliierten blieben der NS-Spitze nicht verborgen, und die Zerschlagung der Angriffe gab Anlass zur Hoffnung. Am 12. Dezember 1944 schwang sich das deutsche Staatsoberhaupt zu neuen rhetorischen Höhenflügen auf und prophezeite, dass «diese künstlich aufrechterhaltene gemeinsame Front» von «ultrakapitalistische[n]» und «ultramarxistische[n]» Staaten «plötzlich mit einem riesigen Donnerschlag zusammenfällt»53. Sein Optimismus verdankte sich der neuen Taktik, befestigte Städte an der Ostfront einzurichten statt auf ganzer Linie verteidigen zu wollen, um Stalins Streitmacht aufzuhalten. Außerdem wagte die Wehrmacht zur allgemeinen «Überraschung»54, wie Goebbels mit Befriedigung protokollierte, am 16. Dezember 1944 eine Offensive in den Ardennen, keine 50 km südlich von Aachen und am Ausgangspunkt des grandiosen Sieges über Frankreich im Jahr 1940. Ziel war weiterhin, einem Separatfrieden mit Großbritannien und den USA näher zu kommen, indem man deren Versorgungshafen Antwerpen zurückeroberte. Die Mühsal für die Westalliierten, ihren Nachschub über Land zu organisieren, würde, so das Kalkül, zu groß werden, und sie würden aufgeben. Auf beiden Seiten waren etwas über eine Million Soldaten an der Schlacht beteiligt. Heinrici berichtete von der Genugtuung, die ihn und andere Offiziere erfüllte. Er schrieb seiner Familie am 22. Dezember: «Mit tiefster Freude erfüllt uns alle, wie plötzlich die Gegenseite von dem hohen Pferd, auf dem sie umherritt, heruntergefallen ist.»55 Am gleichen Tag notierte in Hamburg Luise Solmitz, dass sich im Westen in den befreiten Städten «die nationalsoz. Feme bemerkbar»56 mache. Deutsche, die sich den Anglo-Amerikanern etwa als Bürgermeister zur Verfügung gestellt hätten, würden angegriffen, teils getötet. Der deutsche Furor lebte noch. 273
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Ende 1944 hatte Stalin zwar sein Reich zurückerobert, und Deutschland stand grosso modo dort, wo es 1941 begonnen hatte. Die alliierten Flugzeuge beherrschten den Luftraum im Westen, im Osten war die sowjetische Luftwaffe kurz davor, es den Amerikanern und Briten gleichzutun. Noch aber hielt das Dritte Reich Norditalien, Holland, Dänemark, Norwegen, Teile Ungarns, Jugo slawien und die Tschechoslowakei. Die militärische Spitze blieb loyal, erst recht nach dem gescheiterten Attentat. Eine Kapitulation kam angesichts der mutmaßlichen Rache der Sieger und eines sich womöglich wie 1918 anschließenden Bürgerkrieges nicht in Frage. Zudem fühlte man sich dem soldatisch-patriotischen Ehrenkodex verpflichtet, wonach ein deutscher General nicht wollen konnte, dass das Reich einen Krieg verlor, schon gar nicht gegen die «Horden aus dem Osten». Zwar fehlten real mindestens eine Million Soldaten, 400 000 waren in sowjetischer, 800 000 in westalliierter Kriegsgefangenschaft. Nominell verfügten die Streitkräfte aber über zehn Millionen Mann, doppelt so viele wie bei Kriegsbeginn. Und auch wenn Benzin knapp und vieles von der neuen Ausrüstung bereits im Vorwege bei Fliegerangriffen zerstört wurde, erreichte doch die Produktion von Kampfpanzern, Geschützen und Munition Ende 1944 ihren höchsten Ausstoß. Die Wehrmacht hatte sich von den Schocks des Sommers erholt. Der deutsche Angriff in den Ardennen ließ die Monate Dezember 1944 und Januar 1945 für die Amerikaner zur verlustreichsten Zeit des Krieges werden. Lindgren musste sich eingestehen: «Die Deutschen sind im Westen in die Offensive gegangen, hol’s der Teufel! Der Krieg ist noch lange nicht zu Ende, ganz sicher nicht.»57
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Verteidigungen
Verteidigungen Die Euphorie im deutschen Hauptquartier hielt nicht lang. Über die Weihnachtstage war das Wetter besser geworden, im verschneiten Ostbelgien hatte die alliierte Luftwaffe eingegriffen und die deutschen Nachschublinien zerstört. Der Wehrmacht ging der Kraftstoff aus, sie konnte nicht mehr vorrücken und blieb stecken. Erbittert wurde gekämpft, ein Horrorszenario entfaltete sich, mit Massakern auf der einen und dem Niedermähen von Gefangenen auf der anderen Seite. Die deutschen Streitkräfte verloren 90 000 Soldaten, das militärische Ziel wurde verfehlt: Man schwächte die Westmächte nicht wirklich, sondern hielt sie lediglich auf. Kriegsentscheidend war, wie sich immer deutlicher zeigte, der zwar stockende, aber nicht enden wollende Nachschub an Menschen und Material auf Seiten der Alliierten. Hitler aber setzte den einmal eingeschlagenen Weg fort. Am 1. Januar 1945 erwähnte er in seiner Neujahrsansprache die Offensive mit keinem Wort mehr. Stattdessen drohte er: «Die Welt muß wissen, daß daher dieser Staat niemals kapitulieren wird, daß das heutige Deutsche Reich, wie alle großen Staaten der Vergangenheit auf seinem Weg Rückschlägen ausgesetzt sein mag, daß es aber nie diesen Weg verlassen wird. Man muß wissen, daß die heutige Staatsführung die Sorgen und Leiden mit ihrem Volke teilt, aber niemals vor Sorgen oder Leid kapitulieren wird.»58 Die Folgen seiner ruchlosen Kriegführung für die deutsche Gesellschaft waren dem Regime, das hatte schon im April 1943 der Schweizer Generalkonsul Zurlinden erkannt, «gleichgültig»59. Und in Thaya wusste der Pfarrer, wenn die Nazis abtreten müssten, dann «soll nichts mehr da sein!»60 Die alliierte Übermacht und die selbstzerstörerische deutsche Kriegführung zeigten sich in besonderem Maße an der Ostfront. Am 12. Januar startete die Rote Armee ihre Winteroffensive. 6,7 Millionen Soldaten und Tausende von Panzern, Flugzeugen 275
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und Geschützen standen entlang einer Linie von der Ostsee bis zur Adria. Stalin hatte abgewartet, bis die Wehrmacht alle verfügbaren Kräfte nach Westen verlagert hatte. Dort, so hatte er gehofft, würden die Amerikaner möglichst lange unter deutschem Feuer liegen, derweil er zügig das Reich eroberte. Hitler hatte seinerseits trotz aller Warnungen aus Kreisen der Generalität den Aufmarsch mit einem etwas merkwürdigen Vergleich als «größten Bluff seit Dschingis Khan»61 abgetan. Aber: «Warschau, Krakau, Lodz, Czenstochau sind genommen, die oberschlesische Grenze ist erreicht»,62 staunte Klemperer am 20. Januar. Oberschlesien als Industrierevier wollte die Rote Armee – wie die Amerikaner das Pendant im Westen, das Ruhrgebiet – möglichst schnell erreichen. Hans Frank war schon am 17. Januar aus der Wawelsburg geflohen, nicht ohne vorher gestohlene Gemälde und andere Preziosen in sein neues Zuhause nach Bayern verfrachtet zu haben. Nach drei Tagen heftiger Kämpfe war das Generalgouvernement Geschichte. Lindgren freute sich, die sowjetischen Streitkräfte schritten «im Sturmschritt voran»63. Und so ging es weiter. Der 21-jährige Rotarmist Wladimir Gelfand notierte am 26. Januar in sein Tagebuch: «Heute werden wir in Deutschland sein.»64 Was den einen mit Stolz erfüllte, war für die anderen der blanke Horror. Die Ankunft der Truppen Stalins im Altreich verursachte eine Massenflucht der Zivilbevölkerung. Sie verschmolz mit der Fluchtbewegung der Volksdeutschen in Osteuropa sowie Hunderttausenden von Sowjetbürgerinnen und -bürgern, die im Gefolge der Wehrmacht freiwillig oder unfreiwillig ihre Heimat verlassen hatten. Alles lieber, als der Roten Armee in die Hände zu fallen, war die Devise. Riesige, immer weiter anschwellende Flüchtlingstrecks, sechs Millionen sollten es zwischen 1944 und Frühjahr 1945 werden, bahnten sich bei eisigen Wintertemperaturen auf völlig verstopften Straßen ihren Weg nach Westen. Viele hatten die Haustürschlüssel in der Tasche – auf eine baldige Rückkehr hoffend. Gemäß der Maßgabe, die Stellungen zu halten, befahlen örtliche NSDAP-Leiter und militäri276
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sche Führungsstellen die Räumung der Ortschaften viel zu spät. Als es darauf angekommen wäre, ließen viele Parteifunktionäre sich mit den Worten Martin Bormanns, des Leiters der Partei- Kanzlei, «vom Russenschreck beeinflussen»65. Sie liefen als Erste zu ihren vollgepackten Autos und fuhren davon. So setzte sich in Posen Chefgermanisierer Greiser am 20. Januar ab – sowjetische Einheiten waren immerhin noch 130 km entfernt. Offiziell hatte er die Parole ausgegeben, die Stadt bis zum letzten Blutstropfen zu halten. Goebbels kommentierte: «schauderhaftes Versagen».66 In Berlin wusste Ende Januar 1945 die Journalistin Ursula von Kardorff nicht, ob sie den eingehenden Berichten Glauben schenken sollte: «Willy Beers Frau ist aus Schlesien nicht zurückgekommen. Täglich liegen auf seinem Schreibtisch grauenvolle Nachrichten über Untaten an der zurückgebliebenen Bevölkerung: erschlagene Kinder, vergewaltigte Frauen, angesteckte Höfe, erschossene Bauern. Goebbels’ Propagandahirn arbeitet offenbar wieder fieberhaft. Oder sollte das alles doch wahr sein? Ich glaube nichts mehr, ehe ich es nicht selbst gesehen habe.»67 Doch die Artikel trafen weitgehend zu. Ausgespart blieb jedoch, dass, einmal in Gang gesetzt, Fahrzeuge der Wehrmacht die Flüchtenden rücksichtslos von der Straße drängten, um selbst voranzukommen. Hunderttausende wurden daher von der sowjetischen Streitmacht eingeholt, ihnen drohten tatsächlich Vergewaltigung, Verschleppung oder Tod. Mehrere Zehntausend Deutsche sollten im Zuge des sowjetischen Vormarsches sterben. Der Rotarmist Gelfand befand in seinem Tagebuch, es geschehe ihnen recht: «Tod um Tod, Blut um Blut. Mir tun diese Menschenhasser, diese Tiere, nicht leid.»68 Auch irritierte den Ukrainer das gute Leben der Deutschen, die gepflegten Häuser, die schönen Einrichtungen: Der «Reichtum und die Erlesenheit dieser Sachen sind überwältigend. Unsere Slawen werden Augen machen!»69 Stalin ließ die zügellose Gewalt lange Zeit nicht unterbinden. Zum einen kalkulierte er, auf diese brutale Weise die gesamte deutsche Bevölkerung aus Osteuropa 277
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zu vertreiben. Zum anderen wusste er, dass Plünderei und Ver gewaltigungen die Soldaten für das nicht nur in den Kämpfen mit dem Feind, sondern auch in der eigenen Armee erfahrene hohe Maß an Gewalt entschädigten. Gelfand jedenfalls notierte: «Niemand verbietet uns, den Deutschen das zu nehmen und zu zerstören, was sie zuvor bei uns geraubt haben. Ich bin überaus zufrieden.»70 Auch in Auschwitz breitete sich «Panik bei der SS»71 aus, wie Häftlinge auf einen Zettel kritzelten. Das Lager wurde Hals über Kopf geräumt. Der Entschluss zur Verschleppung unter den chaotischen Bedingungen einer Flucht führte zu unbeschreiblichen Odysseen. Während das Lagerpersonal, aufgestockt auf fast 4 500 Mann, fieberhaft damit beschäftigt war, alle Akten und sonstigen Zeugnisse des Massenmords zu beseitigen – gerade war noch ein Häftling aus Mauthausen überstellt worden –, ließ Himmler 58 000 Gefangene aus dem Stammlager, aus Birkenau, Monowitz und den oberschlesischen Nebenlagern in weiter westlich gelegene Lager marschieren. Wer keine Kraft mehr hatte, wer stürzte, ausruhen wollte oder zu fliehen versuchte, den erschossen die Begleitkommandos – Hauptsache, schnell weiter nach Westen, weg von der roten Rache. Weitere Opfer erfroren und verhungerten unterwegs, vermutlich starben 15 000 Häftlinge auf diesen Todesmärschen. Den verlassenen Komplex von Auschwitz befreite die 60. Armee der Ersten Ukrainischen Front am Nachmittag des 27. Januar 1945. Die Soldaten fanden noch 8 200 Häftlinge vor, darunter 650 Kinder und Jugendliche, die die enteilte Lager-SS als zu schwach zurückgelassen hatte – die letzten Überlebenden unter 1,1 Million Ermordeten, darunter 900 000 Juden, 140 000 nichtjüdische Polen und 21 000 Sinti und Roma. Am gleichen Tag nahmen die Truppen auch Kattowitz ein, damit war das wirtschaftliche Zentrum Oberschlesiens in der Hand Stalins. 170 km weiter in Niederschlesien wurde Breslau seit dem 2 3. Januar attackiert. Ihrem Gauleiter Karl Hanke, der die Stadt zur Festung erklärt hatte, waren die Bewohner völlig egal. Wichtig war 278
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nur, dass «die Russen» die östlichste Großstadt im Deutschen Reich nicht in die Hand bekämen. Während die Schlacht um Breslau tobte, rückten die sowjetischen Verbände auch weiter nördlich vor. «Bromberg erobert. Ostpreußen überrannt, 270 km vor Berlin», titelte am 24. Januar 1945 die Erstausgabe der von der US- Armee lizensierten Aachener Nachrichten. An diesem «Versagen» war auch der mittlerweile landlose braune Zar der Ukraine und weiterhin Gauleiter von Ostpreußen, Erich Koch, schuld. Er zwang die Zivilbevölkerung zum Bleiben, während seine Ehefrau sich nach Bayern aufmachte und er selbst in einem Pillauer Bunker saß – direkt am Frischen Haff und mit einem bereitgehaltenen Flugzeug für seine absehbare Flucht. Ende Januar riegelten die sowjetischen Verbände Ostpreußen ab. In Panik versuchten die Eingeschlossenen, etwa zwei Millionen Menschen, über die noch offenen Ostseehäfen zu entkommen. Klemperer gab Gerüchte wieder: «Der Fischer verkauft die Plätze für Schmuck (nicht Geld), drei- und viermal denselben; wer zuerst kommt, wird mitgenommen, die andern sind betrogen.»72 Etliche ließen ihr Leben bei den sowjetischen U-Boot-Angriffen und dem Beschuss aus der Luft. Kaltherzig erklärte Friedrich Hoßbach, jetzt Oberbefehlshaber der in Ostpreußen eingesetzten 4. Armee, seinen Generälen am 24. Januar 1945, dass die Zivilbevölkerung «zurückbleiben muss». Das «klingt grausam, ist aber nicht zu ändern»73, man müsse zuerst die militärischen Kräfte in die Heimat zurückbringen. Doch Marinedienststellen ignorierten diese Befehle. Sie sorgten dafür, dass neben 350 000 Verwundeten immerhin 900 000 Menschen mit Handels- und Kriegsschiffen gerettet wurden. Anfang Februar hatte die Rote Armee nach nur drei Wochen das Generalgouvernement, die annektierten polnischen Gebiete sowie große Teile Ostdeutschlands erobert. Ihre Soldaten standen an der Oder, 70 km vor Berlin, zum Frontalangriff formiert und errichteten Brückenköpfe auf dem Westufer. Heinrici schrieb ebenso überrascht wie konsterniert an seine Familie, dass die Dinge «ein solches Ausmaß annehmen würden, das hat niemand 279
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von uns für möglich gehalten oder geglaubt»74. Die Niederlagen im Osten und im Westen hinterließen wie die Luftangriffe auch unter den Soldaten Desillusionierung. «Warum sollte ich kämpfen?», fragte sich ein Wehrmachtangehöriger aus Hamburg. Es gehe, so fuhr er fort, «nur um die Existenz der Nazis. Die Überlegenheit unseres Gegners ist so groß, daß es sinnlos ist, dagegen anzukämpfen.» Wenn sie nicht weitermachen wollten, blieben den Männern nur zwei Optionen: überlaufen oder desertieren. Zwar legten es Wehrmachtsangehörige in der folgenden Phase des Krieges mit steigender Tendenz darauf an, in Gefangenschaft zu geraten. Doch das war selbst im Falle der Westalliierten nicht ungefährlich, wie gerade die Kämpfe in den Ardennen bewiesen hatten. Und zur brutal agierenden Roten Armee wollte kaum jemand überlaufen, selbst wenn diese die deutschen Gefangenen besser behandelte als umgekehrt und gerade in den letzten beiden Jahren die Sterberaten der Deutschen sanken. Desertion war ebenfalls kein sonderlich attraktiver Ausweg, wollte man am Leben bleiben. Auf Fahnenflucht stand die Todesstrafe, und die Militärrichter machten hiervon nicht zuletzt in neu eingerichteten Fliegenden Standgerichten und unter den Augen der Öffentlichkeit regen Gebrauch. Waren es im Ersten Weltkrieg noch 150 Verurteilte gewesen, von denen 48 hingerichtet worden waren, ergingen nun etwa 22 000 Todesurteile der Militärgerichtsbarkeit, von denen 15 000 vollstreckt wurden. Also setzten die deutschen Soldaten den Kampf fort, verzweifelt und fatalistisch. «Wenn dieser idiotische Krieg [nur] zu Ende ginge»,75 fasste der Hamburger Soldat den Widerwillen in Worte. Eine Minderheit unter den Soldaten verstand sich jedoch nach wie vor als Exekutor einer Weltanschauung. Diese Männer schwelgten in blutigen Vergeltungsphantasien gegenüber Russen, aber auch Amerikanern. Deren Bombenangriffe und der von Goebbels’ Propagandaapparat verbreitete, in den USA freilich nur kurzzeitig ventilierte Morgenthau- Plan, Deutschland auf ein 280
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Agrarland zurückzustufen, ließ die Ressentiments anschwellen. «Der Schnee muss sich rot färben von amerikanischem Blut», schrieb ein Leutnant über die «arroganten, großmäuligen Affen aus der Neuen Welt»76. Wer nicht desertieren, aber auch nicht für Hitler und die Existenz Deutschlands kämpfen wollte, kämpfte für sich, für sein Überleben, für eine Rückkehr zu seiner Familie. Lindgren zitierte in ihrem Tagebuch aus einem Brief eines deutschen Soldaten von der Ostfront an seine schwangere schwedische Ehefrau, der ihr bei ihrer Arbeit für die Zensur in die Hände gekommen war: «Die Tage kommen und gehen, und wir leiden unter Hitze und Schlaflosigkeit. Jeden Tag derselbe ohrenbetäubende Gefechtslärm. […] Werde ich jemals mein Kind sehen dürfen? […] Den ganzen Tag habe ich meinen Graben nicht für einen einzigen Augenblick verlassen können. Aber man sagt sich wieder und wieder: Du musst es schaffen!»77 Er schaffte es nicht. Hitler selbst zog sich in den Bunker unter Haus und Garten der Reichskanzlei zurück, nachdem bei Luftangriffen auf Berlin am 3. Februar amerikanische Bomber seine Wohnräume zerstört hatten. Er ließ an alle Divisionen Durchhaltebefehle ergehen. Etwas anderes, als bis zum Letzten zu kämpfen und «niemals, niemals»78 zu kapitulieren, wie er schon während der Ardennenschlacht seinen Generälen eingebläut hatte, war vom «Führer» auch in den kommenden Wochen nicht zu hören. Die über eine Million Soldaten, die außerhalb Deutschlands in Norwegen, in Ungarn und Italien standen oder das eingeschlossene Kurland sicherten, ins Reich umzudirigieren lehnte der Oberbefehlshaber des Heeres ab. Anders als seine Militärs, die an eine Verteidigung des Reiches dachten, wollte Hitler nur an die Offensive glauben – oder den totalen, aber heroischen Untergang realisieren. Der «Führer» blieb fixiert auf Erlösung durch Vernichtung, im Falle einer Niederlage durch heldische Selbstzerstörung seines kriegführenden Reiches. Mit Hitlers Untergang und allem, was anschließend kommen sollte, befasste sich das nächste Gipfeltreffen der Alliierten Anfang Februar 1945. Roosevelt war gerade zum vierten Mal zum 281
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Präsidenten gewählt worden. Man tagte auf Wunsch Stalins in Jalta. Die Stadt auf der Krim war ein symbolträchtiger Ort, war sie doch bis vor einem Jahr noch in deutscher Hand gewesen. Und in der Tat wurde die Konferenz für Uncle Joe zum Heimspiel: Die West-Alliierten hatten ihre zweite Front zu spät aufgebaut, die Rote Armee stand tief in Deutschlands Osten, beherrschte weite Teile Mittel- wie Südosteuropas, hatte dort genehme Regierungen installiert und Vertreibungen eingeleitet. Das 1941 in der Atlantikcharta verankerte Recht aller Völker, die Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollten, war Makulatur geworden. Der Diktator war dabei, seinen Sicherheitskordon um die Sowjetunion zu errichten. Der schwerkranke Roosevelt konnte Stalin nicht aufhalten, ohnehin war es zu spät für Kurskorrekturen. Dabei herrschte unter den Delegationen der Großen Drei über die Zukunft Deutschlands noch Abstimmungsbedarf. Gemeinsames Ziel war, nach der bedingungslosen Kapitulation die Macht des Deutschen Reiches zu brechen. Man verständigte sich auf «vier Ds»: Demilitarisierung und Denazifizierung, Dekartellisierung und Demontage der deutschen Industrie. Besatzungszonen, von denen eine an Frankreich gehen würde, sollten an die Stelle territorialer Einheit treten, ebenso würde Berlin in vier Sektoren aufgeteilt. Ökonomisch allerdings, so wandten insbesondere die britischen Experten ein, wäre diese Kleinstaaterei wenig sinnvoll. Wie sollte ein zerstückeltes Deutschland die gerade von Stalin vorgebrachte Forderung nach hohen Reparationszahlungen erfüllen? Und ob die deutsche Macht mit der politischen Zerglie derung gebannt wäre, ob die Deutschen wirklich Ruhe geben würden, bezweifelten Churchills Beamten ebenso. So blieb Wesentliches offen. Noch während die Konferenz lief, starteten am 8. Februar 1945 die Westalliierten ihren Angriff auf das Altreich. Die Rückschläge in Arnheim und die deutsche Winteroffensive ließen sie nochmals die Intensität der Luftschläge erhöhen im Glauben, Deutschland in die Kapitulation bomben zu müssen. Mit den massiven 282
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Fliegerangriffen wollte vor allem Churchill zudem seinem ungeliebten Partner in Moskau die westliche Luftmacht demonstrieren. Tausend Menschen pro Tag sollten zwischen Januar und Mai 1945 ihr Leben lassen. Insgesamt verzeichnete das Deutsche Reich etwa 420 000 Tote durch den Luftkrieg, darunter auch Soldaten, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene; über die Hälfte davon starb allein im letzten Kriegsjahr. Die Flächenbombardements spielten der NS-Propaganda in die Hände. Das galt insbesondere für den großen Brandbomben angriff auf das mit Flüchtlingen überfüllte und bis dato weitgehend verschonte Dresden zwischen dem 13. und 15. Februar. Das Auswärtige Amt wies seine Auslandsvertretungen an, von bis zu 200 000 Toten zu sprechen; an den ursprünglichen Bericht der SS hängte es einfach eine Null an. Tatsächlich kamen etwa
23 000 Menschen ums Leben. Die Botschaft war klar: Die Alliierten verfolgten nicht etwa militärische Absichten, sondern wollten die Deutschen vernichten. So projizierte man die eigene Vernichtungspolitik auf die Kriegsgegner. Dabei war das Regime schon längst dabei, seine Volksgenossen nicht nur mit Propa ganda, sondern auch mit Terror zur Pflichterfüllung bis zum Letzten zu treiben. Dass Hitler als Reaktion entschied, Berlin mit «‹Krallen und Zähnen› zu verteidigen»,79 und dafür gleich vier S S-Divisionen mobilisierte, ließ Ruth Andreas-Friedrich in der
Hauptstadt schaudern. Die Bombardierung Dresdens bedeutete hingegen für Klemperer die Rettung. Er hatte gerade als «Hiobsbote»80 Deportationsbescheide an Mischlinge und Partner in Mischehen zustellen müssen. In größter Verzweiflung, bald ebenfalls auf den Listen zu stehen, nutzte das Ehepaar das Chaos der brennenden Stadt und tauchte unter. Eva Klemperer entfernte «mit einem Taschenmesserchen»81 ihrem Mann den vermaledeiten Stern von der Jacke, Victor Klemperer wurde zum «arischen» Flüchtling – wie Millionen andere auch. Die Zahl der Menschen, die durch die immer kleiner und immer stärker zum Schlachtfeld werdende «Festung Deutschland» 283
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zogen, schwoll weiter an durch ausländische Zwangsarbeiter. Durch die Bombenangriffe waren diese Männer und Frauen ihren Bewachern entkommen oder im allgemeinen Chaos obdachlos geworden und befanden sich nun auf der Suche nach Unterkunft und Nahrungsmitteln. Die schon vorher geäußerten Befürchtungen über das «Ausländerunwesen» und auftrumpfende Zwangsverpflichtete bekamen immer wieder Nahrung, wenn Zeitungen Banden» berichteten, die stahlen oder ihre über «Ostarbeiter- ehemaligen Chefs erschlugen. In Europa verstärkten die Untergrundbewegungen den Druck auf die deutschen Noch-Besatzer. Luise Solmitz las am 22. Februar in der Zeitung, dass «in Norwegen schwere Sprengstoffattentate, Mordanschläge, Anschläge gegen Eisenbahnen, Garagen, Tankstellen, Fabriken, Betriebe, Mitglieder der norwegischen Polizei» verübt worden waren, über 30 «Terroristen»82 seien hingerichtet worden. Dann, am 7. März, gelang den westlichen Streitkräften der Anti- Hitler-Koalition der entscheidende Sprung. Amerikanische Verbände eroberten die einzig verbliebene Brücke über den Rhein bei Remagen. Die Sprengung der Trasse war den Deutschen missglückt, der direkte Weg ins Reich war frei. Hitler entließ den mittlerweile wieder eingesetzten Oberbefehlshaber West, General feld marschall Gerd von Rundstedt, ein weiteres Mal in den Ruhestand, sein Nachfolger Albert Kesselring erklärte Remagen zur «Schande»83, der verantwortliche Major wurde zum Tode verurteilt, was Goebbels als «Lichtzeichen» deutete. «Nur mit solchen Maßnahmen können wir das Reich noch retten.»84 Nun stand der Feind tatsächlich in Deutschland. Jenseits aller Propaganda hatte die Mär vom Verteidigungskrieg, einerlei, ob sie bislang geglaubt worden war oder nicht, einen realen Gehalt bekommen. Jede alliierte Bombe, jeder sowjetische Übergriff bekräftigte die Rhetorik von der Heimatverteidigung. Gegen die Drohungen der braunen «Bankrotteure» mit dem «Untergang» und die Ängste vieler Deutscher vor einer Ausradierung ihres 284
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Landes focht Thomas Mann, als er via BBC statuierte: «Das ist ja Unsinn!» Deutschland sterbe nicht, sondern sei «im Begriff, eine neue Gestalt anzunehmen»85. Nicht zuletzt aufgrund dieser Zukunftsverweigerung sei die Fortsetzung des Krieges «ein Ver brechen – begangen am deutschen Volk durch seine Führer».86 Dieses Urteil wiederum wollte Oberwachtmeister Peter B. nicht wahrhaben. Er erschrieb sich Anfang März noch einmal sein ganzes Vertrauen in Hitler: «Der Führer ist kein Lump und nicht so schlecht, ein ganzes Volk zu belügen und in den Tod zu jagen. Bis heute hat der Führer immer uns seine Liebe geschenkt und uns die Freiheit versprochen und all seine Planungen wahr gemacht. […] Nur unser Glaube macht uns stark, und ich baue auf die Worte des Führers, daß am Ende allen Kampfes der deutsche Sieg stehen wird.»87 Gleiches hoffte auch eine Mutter in Kaarßen bei Lüneburg und schloss den Brief an ihren Sohn: «Es grüßt Dich von ganzem Herzen mit heil Hitler Mamma.»88 In Hamburg dagegen registrierten Stimmungsberichte eine weitverbreitete Sehnsucht nach dem Ende des Krieges: Äußerungen wie «Ganz gleich, was kommt, nur Schluß machen» zeigten, dass der Krieg als verloren akzeptiert werde und die Hoffnungen auf das Regime auf fast Null gesunken seien. Zugleich sei in der Hansestadt die Furcht vor einer britischen Besatzung, die als die wahrscheinlichste gelte, wenig ausgeprägt. In Bunkern, Kneipen, Straßenbahnen würden Sätze fallen wie: «Jetzt aber soll der Tommy kommen und Schluß machen, damit wir wieder ein vernünftiges und geordnetes Leben führen können.»89 Das «vernünftige Leben» aber sollte noch auf sich warten lassen. Am 22. März schrieb Klemperer, die Anglo-Amerikaner und Russen kämen zwar schrittweise vorwärts, «aber es geht nervenzermürbend langsam, und die eigentliche Schlußoffensive, auf das Ruhrgebiet, auf Berlin, steht immer noch bevor»90. Hitler ignorierte unterdessen die leisen Beschwörungen aus den eigenen Reihen, die Niederlage einzugestehen, und reagierte auf Remagen mit einer weiteren Eskalation. Er erließ am 19. März 1945 285
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den Befehl über «Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet». Dem Gegner sollte nun auch in Deutschland und ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nur verbrannte Erde überlassen werden. Inzwischen hatten sich die Westalliierten aufgeteilt. Kana disch-britische Einheiten rückten in die Niederlande vor. Die Bevölkerung dort geriet immer stärker zwischen die Fronten, «Beschießungen aus englischen Flugzeugen»91 einerseits und der «Menschenfang»92 der Deutschen andererseits, die nach Männern zum Ausschanzen suchten. Auch hier häuften sich die Attentate. Im März führten Untergrundkämpfer einen Anschlag auf den HSSPF Hanns Albin Rauter durch. Als Vergeltung ließen die deutschen Besatzer noch einmal 263 politische Gefangene hinrichten. In Amersfoort hielt die Nichte von Eberhard Gebensleben, die 15-jährige Hedda Kalshoven, am 23. April in ihrem Tagebuch fest, welche Spannung über ganz Europa liege, und fluchte: «Daß wir immer noch nicht befreit sind, verdammt noch mal.»93 Während britische Truppen sich nach Norden wandten, marschierten amerikanische Verbände nach Osten und Süden, französische nach Südwesten. Die Deutschen im Reich erlebten nun nach den ständigen Luftangriffen auch den Bodenkrieg. Panzer an Panzer rollten durch die Straßen, Artilleriebeschuss und Tief flieger beherrschten die Szenerie, es roch nach verkohlten Körpern. «Deutschland ist auf dem Weg, dem Erdboden gleichgemacht zu werden»,94 resümierte Astrid Lindgren ihre tägliche Presselektüre am 23. März. Melvin Lasky, 25 Jahre alt und im Tross der US-Armee als Militärhistoriker dabei, war am 9. April entsetzt über die Ruinenlandschaft von Darmstadt: Man finde «kein einziges intaktes Haus! Alle Gebäude zerbombt, ganze Häuserblocks dem Erdboden gleichgemacht. Wir sind viele Kilometer gefahren und trauten unseren Augen nicht. Eine ganze Stadt war verschwunden.»95 In Frankfurt hörte er zwei Tage später keinen Laut, die «Stille war überwältigend». Er sah «den verkohlten, geschrumpften Leichnam einer Großstadt»96. Erst als er durch deutsche Trümmerlandschaften zog, erkannte Lasky das Ausmaß der 286
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Katastrophe dieses Krieges für Deutschland. Die Verheerungen auf dem osteuropäischen Kriegsschauplatz hingegen blieben ungesehen und Berichte hierüber im Westen eher vereinzelt. In Großbritannien entspann sich eine Debatte darüber, ob die Bombenangriffe auf das Reich in diesem Ausmaß noch ethisch vertretbar seien. Churchill beugte sich der Kritik und ließ am 28. März den Luftkrieg über Deutschland weitgehend einstellen. Allerdings vergaß er nicht anzufügen, dass man andernfalls nur die Kontrolle über ein verwüstetes Land übernehmen würde. Mittlerweile waren etwa 250 000 Juden in Konzentrations- und anderen Lagern im Reich eingesperrt worden, die, je näher die Front im Osten wie im Westen rückte, umso hektischer aufgelöst wurden. Zusammen mit rund 500 000 nichtjüdischen Gefangenen wurden sie auf Todesmärsche geschickt. Ziele sollten Orte im zusammenschmelzenden Reichsinneren sein. Aufgrund der weitgehenden Improvisation – Straßen waren unpassierbar, von Flüchtlingen und Armeefahrzeugen verstopft – konnten sich die Routen aber auch schnell ändern. Weiterhin galt: Kein Gefangener sollte lebend dem Gegner in die Hände fallen. Vermeintlich arbeitsfähige Männer und Frauen, so Himmler, sollten noch schnell uneinnehmbare Festungen errichten oder das zukünfWirtschaftsimperium begründen. Zudem revitalisierte tige SS- er die Idee, Juden als politische Geiseln einzusetzen. Mit ihnen wollte er die Westmächte zum Separatfrieden zwingen. Den Wachposten, die die Transporte begleiteten, war es am wich tigsten, ihren Zielort so rasch wie möglich zu erreichen, sie hatten Angst vor Repressalien der Alliierten. Verluste waren den Auf sehern egal. Besser ein toter Häftling als ein geflohener, lautete das Prinzip. Vermutlich 80 000 Juden und 170 000 Nichtjuden starben. Die deutsche Zivilbevölkerung beobachtete den Durchzug der geschwächten Gestalten argwöhnisch. Wenige halfen, viele verhielten sich feindselig gegenüber den ausgezehrten «Kriminellen» und wiederkommenden Juden. Manchen erschienen die Gefangenen als eine Art Menetekel für die Niederlage 287
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und die eigene Komplizenschaft. Wie die SS-Posten suchten auch lokale NS-Funktionäre, Volkssturmleute, Polizisten und Bürgermeister ebenso wie selbsternannte Ordnungshüter sich ihrer fieberhaft zu entledigen – und das hieß in der Regel Mord. Im Westen nahmen die alliierten Streitkräfte nun täglich deutsche Städte ein. Die Reichsverteidigung brach zusammen, und der erwartete Partisanenkrieg blieb aus. Wenn sie sich dazu entschlossen hatten und nicht durch Fliegende Standgerichte oder plötzlich auftauchende SS-Einheiten daran gehindert wurden, schwenkten Bürgermeister und Honoratioren weiße Fahnen – nichts so sehr fürchtend, als ihre Ortschaften sinnlos kaputt schießen zu lassen. Mutige beseitigten Panzersperren – und verbrannten ihre Parteiuniform. Andere entfernten Hitler-Bilder aus ihrer Wohnung, eine Dame auf Besuch brachte es, wie Klemperer niederschrieb, auf die Formel: «Ich habe ihn eingeäschert.»97 Himmler versuchte, diese Akte des vorgeblichen Hochverrats mit dem bewährten Mittel der Gewalt aufzuhalten. Anfang April 1945 ordnete er als Befehlshaber des Ersatzheeres an, alle männlichen Personen eines Hauses, an dem eine weiße Fahne erscheine, zu erschießen. Unterstützt wurde er durch seine «Nazi-Freiheits bewegung»98, wie Thomas Mann die von Himmler organisierten Paramilitärs der «Werwölfe» ironisierte, sowie wiederum von selbsternannten Rächern der Volksgemeinschaft. In der sich auflösenden staatlichen Ordnung wurden Tötungen von Volksgenossen durch Volksgenossen zur alltäglichen Erscheinung. Aber alle Gewaltakte, alles Drohen und alle Durchhalteparolen brachten nichts: Das Dritte Reich war geschlagen. Nicht nur die Mehrheit der Zivilisten, auch die Wehrmachtsverbände zeigten sich ermüdet. Schon Ende März hatte Lasky erkannt: «Seit den Stellungen am Westwall hatten die Deutschen nichts mehr zu bieten. Sie ergeben sich zu Hunderten und marschieren praktisch ohne Bewachung zu den Sammelplätzen.»99 Der letzte Brief von Böll datierte vom 3. April 1945, geschrieben in Oberauel, einem kleinen Ort am Rhein. Die Amerikaner am gegenüberliegen288
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den Ufer beobachtend, ließ Böll noch einmal kurz die Überlegung zu, dass «wir» Deutsche «wirklich spielend» mit den Amerikanern «fertig»würden, die «ganz unerfahren und naiv» herumlaufen, «[w]enn wir mehr und bessere Waffen hätten». Aber dann rang sich der Patriot und Hitler-Gegner doch dazu durch, nicht nur aufs Ende zu blicken, sondern die Niederlage auch gutzuheißen. Es «geht ja nun wirklich nicht mehr weiter. Allem menschlichen Wahn ist ja eine Grenze gesetzt, und diese Grenze ist erreicht.»100 Anders war die Lage an der Ostfront. Hier schlugen sich die deutschen Soldaten «wie irrsinnig»101 mit den sowjetischen Soldaten um eine unbedeutende Bahnstation, wie Stalin, ob der ungleichen Verhältnisse in West und Ost misstrauisch geworden, am 7. April 1945 Roosevelt in einem Brief vorhielt. Er hatte im Kern richtig beobachtet. Gegen die Rote Armee kämpften die Wehrmachtsangehörigen verzweifelt; die Angst um sich und ihre Familien, das Gefühl vollkommener Alternativlosigkeit waren wesentlich ausgeprägter als im Westen. Ein im Kurland eingeschlossener Stabsgefreiter mahnte Ende März seine Frau in Württemberg, bloß nicht zu fliehen. «Vor dem Amerikaner» habe er – anders als vor dem «Iwan» – «keine Angst». Indirekt deutete auch er an, dass er den Krieg für verloren hielt. Flüchten, so fügte er nämlich an, sei überhaupt sinnlos, denn: «einmal kommt der Feind doch zu Euch»102. Rotarmist Gelfand wiederum beschrieb diese Schlachten mit der Wehrmacht als unbeschreiblichen «Alptraum». Wenigstens die Hälfte der Mannschaften an seinem Frontabschnitt 70 km vor Berlin sei in die «Fänge des Todes»103 geraten oder habe Verwundungen erlitten. Aus Ungarn mussten sich Anfang April die letzten Wehrmachtseinheiten zurückziehen, das Land wurde vollständig von der Sowjetunion besetzt. Am 3. April nahmen Stalins Truppen Wien ein. Hier wie dort wiederholte sich, was sich auf ihrem gesamten Vormarsch in Dörfern wie in Städten schon abgespielt und was zumindest in diesem Umfang keine Entsprechung im Westen hatte: Eine Soldateska brandschatzte, plünderte, verge289
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waltigte, tötete. Auf Wien folgte Berlin. Wie die österreichische Metropole überließ Eisenhower die deutsche Hauptstadt Stalin. Den Amerikanern war vor allem daran gelegen, die anstehende letzte Schlacht im Ruhrkessel zu gewinnen und damit die Rüstungsschmiede und das Industriezentrum Deutschlands zu erobern. Außerdem wollte er «schnurgerade nach Osten»104 bis etwa Dresden vordringen. Ziel war hierbei, die deutschen Armeen in einen nördlichen und einen südlichen Teil zu spalten, um sie damit endgültig zu schwächen. Die US-Stabschefs glaubten überdies aufgrund des hartnäckigen Widerstands in Norditalien und an der Donau an eine «Alpenfestung» der braunen Elite. Und noch etwas machte Sachsen wie auch Thüringen interessant: Neben Bayern und Tirol waren in den Monaten zuvor auch diese beiden Regionen, damals noch frontfern, zum Unterschlupf vieler am deutschen Fernraketenprogramm und anderen Spezialprojekten beteiligter Spitzenwissenschaftler und Techniker geworden. Zahllose kriegswichtige Produktionsanlagen hatte das NS- Regime hierhin verlagert. Nun galt es, diese einmalige Chance zu nutzen, Experten wie Maschinen aufzuspüren und für den eigenen Krieg in Fernost abzuschöpfen. Churchill bedauerte die Entscheidungen des US-Stabes, hätte er es doch vorgezogen, weit in die für die Sowjetunion vorgesehene Besatzungszone und vor allem in die Reichshauptstadt vorzustoßen. Auf diese Weise hätte man Moskau unter Druck setzen und dazu bewegen können, in den nach wie vor strittigen Punkten nachzugeben. Für Polen beispielsweise drängte Stalin auf eine Anerkennung des Lubliner Komitees – gegen die Exilregierung in London. Doch die Würfel waren gefallen. Die Alliierten überließen der Roten Armee die zwar unendlich verlustreiche, aber den Triumph darstellende Eroberung von Berlin – der Stadt, von der der Krieg ausgegangen war. Hier saß Hitler in seinem Bunker fest und versuchte, seine schwindenden Armeen zu dirigieren. Über dem Gelände der Reichskanzlei dröhnten die amerikanischen und britischen Bom290
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berverbände. Als der «jüdische Erzfeind» Roosevelt am 12. April starb, flackerte noch einmal kurz Hoffnung in den Räumen unter der Erde auf. Doch am 16. April begann der Umfassungsangriff auf Berlin. 2,5 Millionen Soldaten hatte Stalin seit Februar an der Oder versammelt, zusätzlich waren polnische Truppen beteiligt. Gut die Hälfte von ihnen sollte bei Stettin und bei Forst die Oder überqueren, schnell vorstoßen und Berlin von Norden und Süden einkesseln. Der andere Teil würde unter der Führung von Stalins Lieblingsmarschall, dem Helden von Stalingrad Georgi Schukow, den Hauptstoß führen: Durch das Oderbruch und über die Seelower Höhen sollten sie auf schnellstem Weg an den Ostrand von Berlin vorrücken, um am 1. Mai in Berlin zu sein. Mehr als 9 000 Geschütze, Raketenwerfer und über 6 200 Panzer eröffneten das Feuer, über eine Million Granaten wurden abgeschossen. Allein die Schlacht bei den Seelower Höhen kostete 100 000 Menschen das Leben, ein unglaublicher Verlust für eine, militärisch gesehen, nicht unbedingt notwendige Unternehmung. Nach drei Tagen war die Verteidigungsstellung erobert, Schukow hatte seine Ruhmestat vollbracht, der Weg in die Hauptstadt war frei. «Berlin, ach Berlin»,105 seufzte Luise Solmitz. Was folgte, war nicht zuletzt durch Goebbels’ Entscheidung, die Stadt zur Festung zu erklären, ein hartnäckiger Kampf um jeden Zentimeter Boden mit mehreren Zehntausend Toten auf beiden Seiten. Manchem war klar, dass sich wiederholte, «was wir sechs Jahre lang mit ihnen gemacht haben», wie ein deutscher Soldat Mitte April in einer von Flüchtlingen überfüllten Berliner S-Bahn ausrief. Er beschwor seine stumm lauschenden Mitreisenden, jetzt «nicht schlapp[zu]machen»106. Aber nicht nur an «ihnen», an den «Untermenschen» im Osten, hatten die deutschen Besatzer und ihre Helfer unvorstellbare Gewalttaten ausgeübt. Am 15. April betraten die Briten Bergen- Belsen – Himmler hatte eingewilligt, das Lager zu übergeben. Die Soldaten erwarteten Hurrarufe und enthusiastische Reaktionen. Aber nichts davon geschah. Stattdessen begegneten ihnen 60 000 291
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ausgemergelte Menschen in zerlumpter Häftlingskleidung, mehr tot als lebendig, die apathisch vor Leichnamen standen, die nackt im Staub lagen oder zu Halden aufgestapelt waren. Das Lager, zentral gelegenes Ziel vieler «Evakuierungen» unterschiedlichster Gefangenengruppen, hatte sich rasch zu einem völlig überfüllten und verwahrlosten Ort entwickelt. Es grassierten Ruhr und Fleckfieber, weshalb die SS es nicht hatte räumen wollen. Auch Anne Frank war wie ihre Schwester Margot vermutlich im Februar 1945 einer dieser Epidemien zum Opfer gefallen. Ähn liche Eindrücke wie in Belsen sollten Ende des Monats die amerikanischen Soldaten erschüttern, die Dachau befreiten. Weltweit schilderten Presse und Rundfunk ausführlich die grauenhaften Zustände, Lindgren brauchte «Stunden, um alles aus den Zeitungen auszuschneiden. […] Ein Geruch nach Blut liegt über Deutschland».107 Der im New Yorker Exil lebende 45-jährige jüdische Publizist Alfred Kantorowicz empfand diese mediale Aufmerksamkeit als heuchlerisch, wisse die demokratische Welt doch seit zwölf Jahren um die Lager. Jetzt aber «‹entdeckt› man, daß Nazis wie Nazis handeln. Es wird die Toten nicht wieder erwecken.»108 Unterdessen konnte die deutsche Führungsriege das Grollen der Front im kraterübersäten Garten der Reichskanzlei an Hitlers 56. Geburtstag, dem 20. April, deutlich hören, während der stark gealterte Jubilar einigen angetretenen Kindersoldaten die Wange tätschelte. In München stimmte die 19-jährige Wolfhilde von König, NSDAP-Mitglied, «mit ganzem Herzen» den Worten des Gratulanten Goebbels zu: «Möge er immer bleiben, was er uns ist und immer war: unser Hitler!»109 Die US-Armee besetzte zur selben Zeit nach fünftägigem furchtbarem Kampf Nürnberg, angeblich zur Musik des Walt-Disney-Zeichentrickfilms mit Donald Duck «Der Fuehrer’s Face». Damit war auch die Stadt der Reichsparteitage «futsch». Den Sieg vor Augen, gab Lasky den zornig-zyni schen Kommentar eines Kameraden zur geplanten Teilung Deutschlands wieder: «Das Land teilen? Nicht doch, wir vermieten es! Dieses Land wird ein einziges großes Zu-vermieten-An 292
Verteidigungen
gebot! Oder wenn alle Bomben abgeworfen sind, ist es vielleicht ein einziger Bombenkrater, so tief, dass das Meer reinrauschen kann. Dann nehmen wir alle Urlaub und gehen angeln. Dann und wann wird was anbeißen, und wir ziehen einen Heidelberger heraus, einen netten fetten Arier oder einen Frankfurter.»110 Im Bunker ging unterdessen die wirkliche Groteske weiter. Kaum war die Feier vorbei, verließen Speer, Dönitz, Rosenberg, Himmler, Kaltenbrunner und Ribbentrop Berlin – die letzten drei hatten schon im Verborgenen Kontakt zu den Westmächten aufgenommen. Göring, in Berchtesgaden angelangt, kündigte – umgeben von seinem in den Alpenort geschafften Kunstbesitz und im Glauben, Hitler wolle nicht mehr die Führung ausüben – am 23. April an, wie 1941 besprochen sein Nachfolger zu werden, falls er nichts mehr hören würde. Der «Führer» mutmaßte einen Treuebruch und ließ ihn von SS-Einheiten verhaften. Am 28. April bekräftigten die USA, Großbritannien und die Sowjetunion ihre Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation. Am gleichen Tag musste Hitler über eine abgefangene Agenturnachricht erfahren, dass Himmler den Westalliierten eine Teilkapitulation angeboten hatte. Noch in der Nacht zum 29. April verfasste er ein privates und ein politisches Testament. In Letzterem setzte er Göring und Himmler von ihren Staats- und Regierungsämtern ab und schloss sie aus der NSDAP aus, da sie versucht hätten, «die Macht im Staate an sich zu reißen». Dies habe «dem Lande und dem gesamten Volk unabsehbaren Schaden zugefügt, gänzlich abgesehen von der Treulosigkeit gegenüber meiner Person». Seine Nachfolge solle sein zuverlässiger Gefolgsmann Dönitz als neuer Reichspräsident und Oberbefehlshaber antreten. Vor allem verpflichte er «die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum»111. Auch die Tatsache, dass eine deutsch-britische Allianz nie zustande gekommen war, erklärte er mit dem jüdischen Einfluss auf Churchill. 293
V. Die Zeit bis Kriegsende
Am gleichen Tag gaben in Norditalien Wehrmacht und Waffen-SS auf. In Berlin weigerte sich Heinrici als verantwortlicher Kommandeur, sinnlose Befehle zur Verteidigung der Stadt auszuführen, und das OKW in Gestalt der beiden Kettenhunde Keitel und Alfred Jodl enthob ihn seines Kommandos. Seine Entscheidung gegen den Gehorsam und für sein Gewissen peinigte Heinrici, ersparte ihm aber auch den Akt der Kapitulation, das «Schlimmste[n]»112, was einem Heerführer zustoßen könne. Derweil informierten Außenposten Hitler telefonisch, dass sich sowjetische Stoßtrupps auf wenige 100 Meter an den Führer bunker herangekämpft hätten. In Hamburg notierte die 23-jäh ri ge Büroangestellte Lisa S. in ihr Tagebuch: «Es steht jetzt schlimm um Deutschland. Der Krieg hat Ausmaße angenommen, die wir uns nie hätten träumen lassen […]. Der Feind hat fast unser ganzes Land erobert. Die Russen stehen von Osten bis Berlin […]. Und die Amerikaner haben von Westen und Süden her alles genommen […]; es ist also von Deutschland nur noch Schleswig-Holstein und etwas von Mecklenburg nach.»113 Noch beklagenswerter fand von König die Lage. Sie konnte kaum fassen, dass das zur Weltherrschaft berufene Herrenvolk sich nun seinerseits einer Besatzung fügen solle: «Wir, die wir bis zum Kaukasus, bis am Nordmeer und an den Pyrenäen, in Tripolis und am Balkan waren, wir haben den Feind im Lande.»114 Abends wurde Hitler die Hinrichtung seines Verbündeten Mussolini durch italienische Partisanen gemeldet. Zur selben Zeit verwunderte Lasky, wie sehr alle Ereignisse, «das chaotische Melodram», auf das Ende einer Epoche hinausliefen: «Diese Tage sind der Abschluss aller Kapitel in der Geschichte ‹unserer Zeit›».115 Der Amerikaner hatte recht, am 30. April 1945 schien alles auf das Ende des Krieges zuzulaufen. In Theresienstadt erreichte das Rote Kreuz, dass die SS das Lager nicht auflöste, sondern in seine Obhut übergab. Die Festungsstadt, bislang nicht eingenommen, war in den vorangegangenen Wochen immer mehr zu einem Sam mellager für Evakuierungen aus anderen KZ, insbeson 294
Verteidigungen
dere aus Bergen-Belsen, und für eilig angesetzte Deportationen geworden. Noch am 4. April war ein Zug mit neun Juden aus We sermünde und Umgebung eingetroffen. Am Nachmittag, amerikanische Einheiten besetzten gerade München, ehemals «Hauptstadt der Bewegung», war es dann so weit: Der «Völkermörder»116 (Thomas Mann) erschoss sich. Noch in ihrer Todesanzeige hielten die Berichterstatter der Wehrmacht zum «Führer», sie verkündeten, Hitler sei «bis zum letzten Atemzuge gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen»117. Lindgren beglaubigte die erlösende Nachricht gleich mehrmals: «Dies ist ein historischer Moment. Hitler ist tot. Hitler ist tot. Mussolini ist auch tot. Hitler ist in seiner Hauptstadt gestorben, in der Ruine seiner Hauptstadt und zwischen den Ruinen und Trümmerhaufen seines Landes.»118 Mit dem Tod des «Führers» hielt das Reich nichts mehr zusammen, die Militärs konnten die Waffen niederlegen – theoretisch. Denn Dönitz wollte Verhandlungen mit den Westalliierten. Ziel sollte eine Teilkapitulation sein, um sich nicht dem verhassten jüdischen Bolschewismus unterwerfen zu müssen. Zudem beabsichtigte das neue Staatsoberhaupt, Zeit zu gewinnen, um zumindest einen Teil der über zwei Millionen Wehrmachtssoldaten, die noch an der Ostfront standen, die Chance zu geben, in den Westteil und damit außerhalb der Reichweite der Roten Armee zu gelangen. Das glückte zwar weitgehend: Insgesamt sollten sich Mitte 1945 über sechs Millionen Wehrmachtssoldaten in amerikanischer oder britischer Gefangenschaft und über zwei Millionen in sowjetischem Gewahrsam wiederfinden. Doch alle Hoffnung auf einen Separatfrieden mit Washington und London scheiterte am Widerstand vor allem Eisenhowers, einen Bruch mit Stalin überhaupt nur in Betracht zu ziehen. So mussten sich die Deutschen dreimal ergeben: am 4. Mai 1945 den Briten in der Lüneburger Heide, am 7. Mai den Amerikanern in Reims und am 8./9. Mai den Sowjets in Berlin- Karlshorst. Damit waren auch Dänemark, die Niederlande und Norwegen 295
V. Die Zeit bis Kriegsende
«frei»119, wie Lindgren erleichtert notierte. Die deutsche Armee hatte die schlimmste Niederlage ihrer Geschichte erfahren, die deutsche Gewaltherrschaft in Ost- wie in abgeschwächter Form in Westeuropa war beendet. Liberale Demokratien und eine stalinistische Sowjetunion hatten den Nationalsozialismus besiegt, der «Weltmachttraum» war ausgeträumt. Über zehn Prozent der deutschen Generalität wählte den Tod durch die eigene Hand, um der Demütigung der Kapitulation, der Gefangennahme oder einer vermeintlichen Siegerjustiz zu entgehen. Klemperer hingegen registrierte, verwundert über seine andauernde Dankbarkeit, dass seine Frau und er außer Lebensgefahr seien, dass «keine Gestapo», aber auch «keine Bombe»120 mehr zu fürchten sei. Die elf in Liepāja versteckten Juden krochen aus ihrem Keller hervor, sie hatten anders als ihr Retter Seduls, der bei einem Luftangriff der Roten Armee im März getötet worden war, überlebt. Die ganze Welt jubele, schrieb Lindgren am 7. Mai. Das war etwas zu überschwänglich. Der Krieg im Pazifik war noch längst nicht beendet. Und in Europa stand den meisten deutlich vor Augen, welches Leid der Nationalsozialismus gebracht hatte. Über 40 Millionen Menschen, etwa zur Hälfte Kombattanten und Nichtkombattanten, waren allein auf diesem Schauplatz gestorben. Für den Moment jedoch gab es ein kollektives Aufatmen. Zugleich fragte die Schwedin sich, warum eine Nation so «derartig bestialische Taten» begangen habe, dass sie jetzt «verabscheut», ja «gehasst»121 werde? Ja, warum? Thomas Mann und viele ausländische Beobachter gaben nach sechs Jahren deutscher Kriegführung eine klare Antwort: Es sei die Hybris der Deutschen gewesen, ihr «Hochmutswahn[], ein auserwähltes Volk zu sein, das die Welt unterwerfen muß»122. Diese für den Dichter eher zurückhaltende Formulierung traf die Spezifik des kolonialen Eroberungs- und rassistischen Ausrottungskrieges nicht ganz. Ein Mann wie Ge neral Bernhard Ramcke ließ sie mit seiner Rechtfertigung des nationalsozialistischen Amalgams aus Finalität und Brutalität, aus Besessenheit und Gewaltanbetung zumindest noch einmal erah296
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nen: Schon in alliiertem Gewahrsam, äußerte er ganz unverhohlen, dass die Weltgeschichte «dem Führer mal Recht geben» werde, als dieser die «jüdisch-kommunistische Gefahr im Osten» für Europa erkannt habe. Insofern habe es keine Alternative gegeben, man habe sich dem jüdischen Bolschewismus «entgegen stemmen»123 müssen. Soldaten wie August Töpperwien, der lange im rückwärtigen Heeresgebiet an der Ostfront stationiert gewesen war, wollten nicht wahrhaben, dass die deutsche Seite diesen Krieg von vornherein als Vernichtungsschlacht initiiert hatte. Töpperwien sah Akte der Zerstörung bei allen Beteiligten einer leider «gottlos»124 gewordenen «Menschheit». Generalmajor Johannes Bruhn hingegen befragte sich auf seine Mitverantwortung. Vielleicht stand ihm das Kaleidoskop aus Empathieverlust, Selbstmobilisierung, Karrierestreben, Habgier und der trotz mancher Zweifel doch geleisteten Anpassung vor Augen, als er, ebenfalls schon in Gefangenschaft, sich in einem Gespräch vortastete: «Wir haben uns ja versündigt, […] als Repräsentanten dieses Systems, in dem wir gehaust haben gegen alle sittlichen Gesetze auf der ganzen Welt.» Wenn man das anerkenne, dann müsse «man sich ja selbst schuldig sprechen»125. An der «Heimatfront» gingen manche über die politischen Raubüberfälle und monströsen Gewalttaten wortlos hinweg und fühlten sich als doppeltes Opfer, zum einen der Alliierten, zum anderen des NS-Regimes. Letzteres habe, alle Versprechen brechend, schließlich seine eigenen Volksgenossen gepeinigt und lasse diese nun die «Suppe auslöffeln»126, beschwerte sich Lisa S. in ihrem Tagebuch. Doch dass «Nazis wie Nazis handeln»127, hätte die deutsche Gesellschaft eigentlich nicht erstaunen dürfen. Am 6. Mai besichtigte Melvin Lasky die Trümmerschäden am Augsburger Münster. «Grüße von Amerika», sagte der Küster. «Ich brauste einen Moment lang auf. Nein, nein, das sind keine Grüße von Amerika und von den Amerikanern, sondern von dem Führer selbst!»128 Er legte noch einmal nach, aber der Küster hatte ihn schon verstanden. 297
Schluss
Herrmann Göring hatte 1942 den nationalsozialistischen Leittenor formuliert, als er verkündete, dieser Krieg sei der «große Rassenkrieg». Gemeint war damit, dass das «internationale Judentum» und der «jüdische Bolschewismus» den «Ariern» den Krieg erklärt hätten. Mit dieser Argumentation kehrte das NS- Regime Täter und Opfer um: Angriffskriege mutierten zu präventiver Selbstverteidigung, die Eroberung von Lebensraum galt als Zukunftssicherung, und die Ermordung der europäischen Juden avancierte zum Kriegsziel. Aus diesem Szenario entwickelte sich eine eskalierende militärische Auseinandersetzung, die vor allem in Osteuropa keine Einhegungen der Gewalt mehr kannte und dann im Holocaust den Übergang vom Massenmord zum Völkermord vollzog. Die Deutschen, Soldaten wie Zivilisten, pendelten in ihrer Wahrnehmung der Ereignisse zwischen Einverständnis, Skepsis, Faszination und Distanzierung. Letztere setzte vor allem ein, als die Erfolge ausblieben, die Gefallenenlisten länger wurden und der Sinn der ruchlosen Kriegführung immer fragwürdiger wurde. Dass dieser Krieg kein «normaler» Krieg war, sondern ebender genozidale «große Rassenkrieg», war spätestens Ende 1942 den Deutschen klar. Die Ermordung der europäischen Juden war weit fortgeschritten, das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen schon fast beendet, Leningrad immer 298
Schluss
noch belagert, und in West- wie Osteuropa fingen weite Teile der Bevölkerung an zu hungern. Nicht zufällig wählte Göring diesen Zeitpunkt, um den Volksgenossen noch einmal einzubläuen, was es bedeute, einen finalen «Rassenkrieg» zu führen – und dass dabei die deutsche Bevölkerung doch vergleichsweise wenig belastet werde. Mit den sowjetischen Gegenoffensiven und ab Mitte 1944 der Operation Bagration sowie der Landung der Westalliierten in der Normandie begann die Befreiung Europas von der braunen Besatzung – Landstrich um Landstrich in für Zivilisten wie Soldaten schrecklichen Kämpfen. «Blut, Dreck, Schweiß und Elend» – das war der Krieg für den Soldaten Heinrich Böll. Ein deutscher Sieg wurde immer unwahrscheinlicher. Dennoch kämpften die Angehörigen der Wehrmacht – im Osten intensiver als im Westen – weiter, blieben Akte spontaner Ergebung zunächst selten. Das Dritte Reich musste von außen zur Kapitulation gezwungen werden. Eine Erklärung hierfür war die Loyalität der Deutschen zum «Führer». Sie glaubten an ihn und vertrauten seinem Charisma. Jedoch: Von dem Popularitätsgipfel Mitte 1940 war Hitler in den letzten Wochen, wenn nicht gar Monaten weit entfernt. Auch die Erleichterung in der deutschen Bevölkerung nach dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944 währte nicht lange. Sicherlich gab es in der Wehrmacht wie in der Zivilgesellschaft noch glühende Hitlerianer, gerade unter den Jüngeren. Vielen war dann aber sein Tod kaum mehr einen Satz im Tagebuch wert. Diejenigen Soldaten, die weiterkämpften, taten dies wohl eher aus einer Gemengelage von Gründen. Zu ihnen zählten Antisemitismus, der Glaube an den Nationalsozialismus oder auch Patriotismus. Nicht zu vergessen sind zwei weitere Motive: die Sorge um die Familie und um sich selbst sowie Alternativlosigkeit. Die Alliierten standen auf deutschem Boden, die Zahl der Toten schnellte in die Höhe, die Pflicht, das Land, vor allem aber die Daheimgebliebenen zu verteidigen, setzte wie so häufig in Kriegssituationen 299
Schluss
Energien frei. Dies galt besonders im Kampf gegen die Rote Armee, deren Rache man insbesondere fürchtete, in geringerem Maße gegen die westlichen Alliierten. Zudem fragten sich die Männer, was sie sonst tun könnten, als weiterzukämpfen und zu hoffen, den Krieg irgendwie zu überstehen. Denn im Hintergrund lauerte eine Diktatur, die ihre bislang eher partikulare Gewaltandrohung nun auf alle Volksgenossen, gleich ob Militärs oder Zivilisten, ausdehnte. Wenige also kämpften in den letzten Wochen für Hitler, wenige kämpften für Deutschland, die meisten wohl eher für sich, für ihr Überleben und ein Wiedersehen mit ihren Familien. Insbesondere in dieser Endphase, als die Front tatsächlich durch Deutschland verlief, gewann die Propagandalüge vom Verteidigungskrieg gegen den jüdischen Aggressor noch einmal an Überzeugungskraft. Die überzeugten Weltanschauungstäter in der Wehrmacht, der SS, Gestapo, Polizei, in der Zivilverwaltung der b esetzten Gebiete, in Staat, Partei und Gesellschaft hatten die Formel vom jüdischen Krieg ohnehin nie bezweifelt. Aber auch dieser Erklärungsansatz greift nur zum Teil. Denn es erklangen ebenso Stimmen, die die imperiale Expansion, das Großgermanische Reich, höchst attraktiv fanden, die aber der antisemitischen Begründung wenig Aufmerksamkeit schenkten. Andere wiederum sahen in der Annexion fremder Länder eine rote Linie überschritten. Im Laufe des Krieges kamen zudem bei etlichen Zweifel auf, wenn sie sahen oder hörten, dass Hunderte, Tausende Frauen und Kinder, Greise und Babys, Juden und Nichtjuden, unschuldige Zivilisten und Kriegsgefangene starben, ja sogar erschossen oder durch Gas erstickt wurden. Viele beruhigten ihr Gewissen dadurch, dass diese Menschen ebender Feind seien, dass es die «Kriegsnotwendigkeit» gebiete, sie zu töten. Und jüdische Deutsche gehörten ohnehin, so die vox populi, schon seit der Vorkriegszeit nicht mehr zur «Volksgemeinschaft». 300
Schluss
Eine moralische Grenze überschritten zu haben, bis auf eine verschwindend kleine Minorität nichts dagegen getan und durch Schweigen die Verbrechen mitgetragen zu haben: Dieses Eingeständnis machten sich wenige – manche früher, manche mitunter erst im Angesicht der Niederlage, manche fühlten auch Schuld und Scham. Die Erfahrungsgeschichte der Deutschen im Zweiten Weltkrieg ist vielstimmig, und diese Vielfalt ist es, die einfache Antworten verhindert. Es ist eine Geschichte von deutschen Großmacht allüren, Rassismus und Erbarmungslosigkeit, von Mitläufertum, Beutelust, Selbsterhebung und am Ende Selbstmitleid, von kriegs bedingter Abstumpfung, mitunter aber auch von verzweifelter Rohheit, Resignation und dem Erschrecken vor dem eigenen Zerstörungswerk.
Anmerkungen
«Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg»
1 «Unser einziger Weg ist Arbeit». Das Getto in ŁódŹ 1940–1944, hrsg. vom Jüdischen Museum Frankfurt am Main, Red. Hanno Loewy und Gerhard Schoenberner, Wien 1990, S. 104. 2 Zit. n. Herbert Michaelis/Ernst Schraepler (Hrsg.): Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, Bd. 19: Das Dritte Reich. Auf dem Weg in die Niederlage, Berlin o. J., S. 85. I. «Wir sind vom Schicksal ausersehen …» Deutsche Außenpolitik bis September 1939
1 Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe. Erster Band: Eine Abrechnung; Zweiter Band: Die nationalsozialistische Bewegung, München 131932, S. 179, S. 222, S. 223, S. 225. 2 Ebd., S. 751. 3 Ebd., S. 742. 4 Ebd., S. 742 f. 5 Ebd., S. 742. 6 Ebd., S. 1. 7 Zit. n. Ian Kershaw: Hitlers Freunde in England. Lord Londonderry und der Weg in den Krieg, München 2005, S. 53; Hervorhebung im Original. 8 Thilo Vogelsang, Neue Dokumente zur Geschichte der Reichswehr 1930 – 1933, in: VfZ 2 (1954), S. 397 – 436, hier S. 434 f. 9 Andreas Wirsching, «Man kann nur Boden germanisieren». Eine neue Quelle zu Hitlers Rede vor den Spitzen der Reichswehr am 3. Februar 1933, in: VfZ 49 (2001), S. 517 – 550, hier S. 547. 10 Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932 – 1945. Kommentiert von einem Zeitgenossen, 4 Bde. in 2 Teilen, Leonberg 41988, hier Bd. 1, T. 1, S. 273, 17.5.1933. 11 Zit. n. Frank Bajohr/Christoph Strupp (Hrsg.): Fremde Blicke auf das «Dritte Reich». Berichte ausländischer Diplomaten über die Herrschaft und Gesellschaft in Deutschland 1933 – 1945, Göttingen 2011, S. 372.
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zu Seite 7 bis Seite 37 12 Zit. n. Volker Ullrich: Adolf Hitler. Biographie. Band 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939, Frankfurt am Main 2013, S. 533. 13 Joseph Goebbels: Die Tagebücher, hrsg. von Elke Fröhlich, 32 Bde., München 1993 – 2008, hier T. I, Bd. 2/III, S. 293. 14 Ullrich, Hitler, S. 535. 15 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 391 f. 16 Zit. n. Heinz Hürten: Deutsche Katholiken 1918 – 1945, Paderborn/München/ Wien/Zürich 1992, S. 253. 17 Winston S. Churchill: Great Contemporaries, London 1937, S. 262, S. 268. 18 Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 – 1941, 1942 – 1945, hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, 2 Bde., Berlin 1995, hier Bd. 1, S. 81, 27.1.1934. 19 Ebd., Bd. 1, S. 177, 15.1.1935. 20 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 3/I, S. 193, 2.3.1935. 21 Domarus, Hitler, Bd. 2, T. 1, S. 494 f. 22 Thomas Mann: Bruder Hitler, in: Thomas Koebner (Hrsg.): «Bruder Hitler» (Thomas Mann). Autoren des Exils und des Widerstands sehen den «Führer» des Dritten Reiches, München 1989, S. 24 – 31, hier S. 30. 23 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 189, 17.3.1935. 24 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 3/I, S. 201, 18.3.1935. 25 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934 – 1940, neu hrsg. von Klaus Behnken, 7 Bde., Salzhausen/Frankfurt am Main 1980, hier Zweiter Jahrgang 1935, S. 278. 26 Domarus, Hitler, Bd. 2, T. 1, S. 506. 27 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 206 f., 20.5.1936. 28 Joachim von Ribbentrop: Zwischen London und Moskau. Erinnerungen und letzte Aufzeichnungen. Aus dem Nachlaß hrsg. von Annelies von Ribbentrop, Leoni am Starnberger See 1953, S. 64. 29 Zit. n. Kershaw, Hitlers Freunde, S. 147. 30 Zit. n. Lars Lüdicke: Griff nach der Weltherrschaft. Die Außenpolitik des Dritten Reiches 1933 – 1945, Berlin 2009, S. 71. 31 Zit. n. Rainer F. Schmidt: Die Außenpolitik des Dritten Reiches 1933 – 1939, Stuttgart 2002, S. 61. 32 Zit. n. James J. Sheehan: Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden, München 2008, S. 146. 33 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 250 f., 8.3. und 23.3.1935. 34 Wilhelm Treue, Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, in: VfZ 3 (1955), S. 184 – 210, hier S. 204 f. 35 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 449, 31.1.1936. 36 Schmidt, Außenpolitik, S. 121. 37 FZH, 11/S11 Solmitz Tagebücher, S. 366, 9.8.1937. 38 Zit. n. Klaus A. Maier: Guernica, 26.4.1937. Die deutsche Intervention in Spanien und der «Fall Guernica», Freiburg 1975, S. 56 f.
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Anmerkungen 39 Walter Bussmann, Zur Entstehung und Überlieferung der «Hoßbach- Nie der schrift», in: VfZ 16 (1968), S. 373 – 384. 40 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 457, 18.6.1936. 41 Zit. n. Hedwig Pringsheim: Mein Nachrichtendienst. Briefe an Katia Mann 1933 – 1941, hrsg. und komm. von Dirk Heißerer, 2 Bde., Göttingen 2013, hier Bd. 2, S. 420, Kommentar zu Brief 224 vom 5.2.1938. 42 Zit. n. Lüdicke, Griff, S. 79. 43 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 397 – 401, 12. und 13.3.1938. 44 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 5, S. 209, 15.3.1938. 45 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 479. 46 Zit. n. Florian Schweitzer (Hrsg.): 50 Jahre danach. Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und die Nachkriegszeit auf dem Lande, erlebt in der Landpfarre Thaya/Thaya im niederösterreichischen Waldviertel, Thaya 1995, S. 15. 47 Deutschland-Berichte der Sopade, Fünfter Jahrgang 1938, S. 260. 48 Pringsheim, Nachrichtendienst, Bd. 2, S. 110, Brief 228 vom 15.3.1938. 49 Zit. n. ebd., S. 430, Kommentar zu Brief 228 vom 15.3.1938. 50 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 5, S. 256, 11.4.1938. 51 Ebd., T. I, Bd. 5, S. 221, 20.3.1938. 52 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalso zialistische Deutschland 1933 – 1945, hrsg. von Susanne Heim u. a., Bd. 3: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren September 1939–September 1941, bearb. von Andrea Löw, München 2012, S. 34 (Künftig: VEJ 3). 53 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 113. 54 Schweitzer, 50 Jahre danach, S. 20. 55 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 399, 20.3.1938. 56 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 5, S. 222. 57 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 474, 3.2.1938. 58 Ruth Andreas-Friedrich: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938 – 1945, Berlin 41985, S. 18, 15.10.1938. 59 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 478. 60 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 5, S. 227, 24.3.1938. 61 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 409. 62 Zit. n. Wolfgang Schuhmann/Gerhart Hass (Autorenkollektiv): Deutschland im zweiten Weltkrieg. Bd. 1: Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis zum 22. Juni 1941, Berlin 1974, S. 120. 63 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 410. 64 Keiner will sie haben, in: Völkischer Beobachter, 13.7.1938. 65 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 5, S. 393, 25.7.1938. 66 Ebd., T. I, Bd. 6, S. 49, 19.8.1938. 67 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 493, 5.10.1938. 68 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 432 – 433, 14. und 15.9.1938. 69 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 424, 20.9.1938; Hervorhebung im Original. 70 Andreas-Friedrich, Schattenmann, S. 11, 27.9.1938.
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zu Seite 38 bis Seite 67 71 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 440, 26.9.1938. 72 Zit. n. Ullrich, Hitler, S. 823. 73 Pringsheim, Nachrichtendienst, Bd. 2, S. 150, Brief 254 vom 29.9.1938. 74 Zit. n. Sheehan, Kontinent, S. 148. 75 Robert Self: Neville Chamberlain. A Biography, Aldershot 2006, S. 326. 76 Pringsheim, Nachrichtendienst, Bd. 2, S. 483, Kommentar zu Brief 254, Tagebucheintrag vom 29.9.1938; Hervorhebung im Original. 77 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 444, 30.9.1938. 78 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 425 f., 2.10.1938; Hervorhebung im Original. 79 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 6, S. 209. 80 Zit. n. Sheehan, Kontinent, S. 149. 81 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 493, 5.10.1938. 82 Winston S. Churchill: Reden, Bd. 1: 1938 – 1940. Ins Gefecht, gesammelt von Randolph S. Churchill, Zürich 1946, S. 76, S. 89. 83 Domarus, Hitler, Bd. 2, T. 1, S. 974, 10.11.1938. 84 Bradley F. Smith/Agnes F. Peterson (Hrsg.): Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1974, S. 49. 85 Domarus, Hitler, Bd. 3, T. 2, S. 1058, 30.1.1939. 86 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 6, S. 279, 11.3.1939. 87 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 483, 13.3.1939. 88 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 6, S. 287, 15.3.1939. 89 Zit. n. Angela Hermann: Der Weg in den Krieg 1938/39. Quellenkritische Studien zu den Tagebüchern von Joseph Goebbels, München 2011, S. 444 – 447. 90 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 465, 14.3.1939. 91 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 486. 92 Ebd., S. 485. 93 Ebd., S. 486, 22.3.1939. 94 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 6, S. 323, 21.4.1939. 95 Zit. n. Philipp Gassert: Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung 1933 – 1945, Stuttgart 1997, S. 248. 96 Deutschland-Berichte der Sopade, Sechster Jahrgang 1939, S. 431. 97 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 487, 23.3.1939. 98 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 528. 99 Zit. n. ebd., S. 479. 100 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 452, 14.10.1938. 101 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 535, 6.7.1939. 102 Ebd., S. 530 f. 103 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 487, 24.3.1939. 104 Mann, Bruder Hitler, S. 24 ff. 105 Zit. n. Rolf-Dieter Müller: Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939, Berlin 2011, S. 121. 106 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 472, 7.6.1939; Hervorhebung im Original. 107 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 510, 19.8.1939.
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Anmerkungen 108 Ebd., S. 510, 22.8.1939. 109 Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914 – 1945, München 2011, S. 891. 110 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 509, 19.8.1939. 111 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 473, 7.6.1939; Hervorhebung im Original. 112 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 510, 24.8., und S. 514, 29.8.1939. 113 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 479, 29.8.1939. 114 Zit. n. Wolfgang Michalka (Hrsg.): Deutsche Geschichte 1939 – 1945. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Frankfurt am Main 1999, S. 165. 115 RM Schwerin von Krosigk an RM von Ribbentrop am 26.8.1939, in: Akten der Reichskanzlei, Regierung Hitler 1933 – 1945, Die Regierung Hitler, Band VI: 1939, bearb. von Friedrich Hartmannsgruber, München 2012, S. 519 f. 116 Winfried Baumgart, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939, in: VfZ 16 (1968), S. 120 – 149, hier S. 145 f. Hervorhebung im Original. 117 Zit. n. Friederike Gräff, Sich einmischen, in: die tageszeitung, 25./26.10.2014. II. «Was wird aus der Welt, wenn Deutschland siegt?» Kriege und Besetzungen bis Juni 1941
1 Zit. n. «Größte Härte …». Verbrechen der Wehrmacht in Polen September/Oktober 1939. Ausstellungskatalog, hrsg. vom Deutschen Historischen Institut Warschau, Osnabrück 2005, S. 71. 2 Zit. n. Hans-Erich Volkmann, Wolfram von Richthofen, die Zerstörung Wieluńs und das Kriegsvölkerrecht, in: MGZ 70 (2011), S. 287 – 328, hier S. 324 f. 3 Zit. n. ebd., S. 326. 4 Zit. n. Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2: 1939 – 1945, München 22006, S. 43. 5 Willy Cohn: Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933 – 1941, hrsg. von Norbert Conrads, 2 Bde., Köln/Weimar/Wien 2006, hier Bd. 2, S. 688, 10.9.1939. 6 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 490, 18.9.1939. 7 Gustav Schmidt: Kriegstagebuch 1939 – 1945, Hamburg 2004, S. 13. 8 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 482 f. 9 Wilm Hosenfeld: «Ich versuche jeden zu retten». Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern, hrsg. von Thomas Vogel, München 2004, S. 245, 1.9.1939. 10 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 7, S. 92, 4.9.1939. 11 Paul Schmidt: Statist auf diplomatischer Bühne 1923 – 1945. Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas, Bonn 1949, S. 464. 12 Andreas-Friedrich, Schattenmann, S. 63, 4.9.1939. 13 Zit. n. Christian Hartmann: Halder. Generalstabschef Hitlers 1938 – 1942, Paderborn/München/Wien/Zürich 22010, S. 145, 7.9.1939.
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zu Seite 67 bis Seite 83 14 Zit. n. Christian Hartmann/Sergej Slutsch, Franz Halder und die Kriegsvorbereitungen im Frühjahr 1939. Eine Ansprache des Generalstabschefs des Heeres, in: VfZ 45 (1997), S. 467 – 495, hier S. 486. 15 Zit. n. «Größte Härte …», S. 60. 16 Akten zur deutschen auswärtigen Politik, Serie D (1937 – 1941), Bd. 7: Die letzten Wochen vor Kriegsausbruch. 9. August bis 3. September 1939, Baden-Baden 1956, S. 172. 17 Zit. n. Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt am Main 2006, S. 202. 18 Zit. n. Klaus-Michael Mallmann/Jochen Böhler/Jürgen Matthäus: Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, hrsg. im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Warschau und der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Darmstadt 2008, S. 16. 19 Zit. n. Jochen Böhler: Die Wehrmacht in Polen 1939 und die Anfänge des Vernichtungskrieges, in: «Größte Härte …». Verbrechen der Wehrmacht in Polen September/Oktober 1939. Ausstellungskatalog, hrsg. vom Deutschen Historischen Institut Warschau, Osnabrück 2005, S. 15 – 25, hier S. 17. 20 Zit. n. Böhler, Auftakt, S. 148, o. D. 21 Zit. n. ebd., S. 109. 22 Zit. n. Ortwin Buchbender/Reinhold Sterz (Hrsg.): Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939 – 1945, München 1982, S. 40, 10.9.1939. 23 Zit. n. Hans Umbreit: Deutsche Militärverwaltungen 1938/39. Die militärische Besetzung der Tschechoslowakei und Polens, Stuttgart 1977, S. 151. 24 Zit. n. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945, hrsg. von Susanne Heim u. a., Bd. 4: Polen September 1939–Juli 1941, bearb. von Klaus-Peter Friedrich, München 2011, S. 81, Dok. 5 (Künftig: VEJ 4). 25 Zit. n. Alfred M. de Zayas: Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle. Dokumentation alliierter Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg, unter Mitarbeit von Walter Rabus, München 61998, S. 160. 26 Hedda Kalshoven: Ich denk so viel an Euch. Ein deutsch-holländischer Briefwechsel 1920 – 1949, München 1995, S. 305 f., 13.9.1939, und S. 312, 16.10.1939; Hervorhebung im Original. 27 Zit. n. Elke Fröhlich: Der Zweite Weltkrieg. Eine kurze Geschichte, Stuttgart 2013, S. 35. 28 Zit. n. ebd., S. 35. 29 Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939 – 1945, Berlin 2015, S. 25, 8.9.1939. 30 Zit. n. Helmuth Groscurth: Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938 – 1940. Mit weiteren Dokumenten zur Militäropposition gegen Hitler, hrsg. von Helmut Krausnick/Harold C. Deutsch unter Mitarbeit von Hildegard von Kotze (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 19), Stuttgart 1970, S. 358, Aktenvermerk von Erwin von Lahousen vom 14.9.1939.
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Anmerkungen 31 Zit. n. Johannes Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006, S. 191. 32 Deutschland-Berichte der Sopade, Siebter Jahrgang 1940, S. 29. 33 Zit. n. Führer-Erlasse 1939 – 1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, zusammengest. und eingel. von Martin Moll, Stuttgart 1997, S. 100. 34 VEJ 3, S. 128, Dok. 27. 35 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, hrsg. vom International Military Tribunal, 42 Bde., Nürnberg 1947 – 1949, hier Bd. 26, S. 379, Dok. 864PS (Künftig: IMG Nürnberg).
36 Hosenfeld, Ich versuche jeden zu retten, S. 286, 10.11.1939. 37 Hellmuth Stieff: Briefe, hrsg. von Horst Mühleisen, Berlin 1991, S. 107. 38 Ebd., S. 108, 21.11.1939; Hervorhebung im Original. 39 Zit. n. Hartmann, Halder, S. 154; Hervorhebung im Original. 40 Zit. n. Markus Roth: Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen – Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte, Göttingen 2009, S. 39, 1.9.1940. 41 Zit. n. ebd., S. 50. 42 Zit. n. ebd., S. 10. 43 Sybille Steinbacher: «Musterstadt» Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000. 44 Zit. n. Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. «Ethnische Säuberungen» im modernen Europa, Göttingen 2011, S. 114. 45 Zit. n. Johannes Hürter (Hrsg.): Notizen aus dem Vernichtungskrieg. Die Ostfront 1941/42 in den Aufzeichnungen des Generals Heinrici, Darmstadt 2016, S. 188, 16.10.1939. 46 Zit. n. Ther, Dunkle Seite, S. 116 f. 47 Konrad H. Jarausch/Klaus Jochen Arnold (Hrsg.): «Das stille Sterben …». Feldpostbriefe von Konrad Jarausch aus Polen und Russland 1939 – 1942, Paderborn/ München/Wien/Zürich 2008, S. 132. 48 Ebd., S. 147. 49 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 7, S. 281, 23.1.1940. 50 Zit. n. Isabel Heinemann: «Rasse, Siedlung, deutsches Blut». Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003, S. 195, 13.12.1939. 51 Zit. n. VEJ 4, S. 182 f., Dok. 61. 52 Helmut Krausnick, Denkschrift Himmlers über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten (Mai 1940), in: VfZ 5 (1957), S. 194 – 198, hier S. 198. 53 IMG Nürnberg, Bd. 29, S. 109, 1918-PS vom 7.9.1940. 54 Zit. n. Heinemann, Rasse, S. 293.
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zu Seite 83 bis Seite 113 55 Zit. n. ebd., S. 295 f. 56 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 509, 13.1.1940. 57 Ebd., S. 533, 11.6.1940. 58 Deutschland-Berichte der Sopade, Siebter Jahrgang 1940, S. 259. 59 Zit. n. Ther, Dunkle Seite, S. 126. 60 Zit. n. VEJ 3, S. 179, Dok. 56. 61 Lindgren, Menschheit, S. 108, 27.3.1941. 62 Zit. n. Elizabeth Harvey, «Der Osten braucht dich!» Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik, Hamburg 2010, S. 176 f., Ilse P. im Sommer 1940. 63 Zit. n. ebd., S. 177 f., Gertrud F. am 10.10.1940. 64 Jarausch, Sterben, S. 214, 7.6.1940. 65 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 500, 21.11.1939. 66 Zit. n. Andreas Hillgruber: Die Zerstörung Europas. Beiträge zur Weltkriegsepoche 1914 bis 1945, Berlin 1988, S. 211, 9.10.1939. 67 Groscurth, Tagebücher, S. 225. 68 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 511. 69 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 540. 70 Deutschland rettet Skandinavien!, in: Völkischer Beobachter, 10.4.1940. 71 Zit. n. VEJ 3, S. 205 f., Dok. 69 v. 16.4.1940. 72 Jarausch, Sterben, S. 202, 9.4.1940. 73 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 547, 6.5.1940. 74 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 520. 75 Lindgren, Menschheit, S. 56, 6.5.1940. 76 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 548. 77 Zit. n. Fred Grimm (Hrsg.): «Wir wollen eine andere Welt». Jugend in Deutschland 1900 – 2010. Eine private Geschichte aus Tagebüchern, Briefen, Dokumenten, Frankfurt am Main 2010, S. 185, 11.5.1940. 78 Heinrich Böll: Briefe aus dem Krieg 1939 – 1945, hrsg. von Jochen Schubert, 2 Bde., Köln 2001, hier Bd. 1, S. 90, 4.8.1940. 79 Zit. n. Ronald D. Gerste: Roosevelt und Hitler. Todfeindschaft und Totaler Krieg, Paderborn 2011, S. 151. 80 Zit. n. Rainer F. Schmidt: Der Zweite Weltkrieg. Die Zerstörung Europas, Berlin 2008, S. 65. 81 Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg, 6 Bde. in 12 Büchern, Hamburg/ Stuttgart 1949 – 1954, hier Bd. 2/1, S. 61. 82 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 565. 83 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bd. 2/1, S. 65. 84 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 554. 85 Lindgren, Menschheit, S. 61, 18.6.1940. 86 Ebd., S. 60, 10.6.1940. 87 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 561, 14.6.1940. 88 Stieff, Briefe, S. 112, 25.10.1940. 89 Zit. n. Hartmann, Halder, S. 199, 17.6.1940.
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Anmerkungen 90 Zit. n. Buchbender/Sterz, Gesicht des Krieges, S. 54, 16.5.1940. 91 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 563, 15.6.1940. 92 Kalshoven, Ich denk so viel an Euch, S. 343, Lisbeth Baumgarte-Mückenheim am 17.6.1940. 93 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 8, S. 209, 7.7.1940. 94 Heinrich Böll: Hierzulande, in: Briefe aus dem Rheinland. Schriften und Reden 1960 – 1963, München 1985, S. 55. 95 Zit. n. Hartmann, Halder, S. 205. 96 Hosenfeld, Ich versuche jeden zu retten, S. 355 f. 97 Brief vom 19.7.1940, in Privatbesitz BK. 98 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 524 f. 99 Ebd., S. 527, 22.5.1940. 100 Völkischer Beobachter, 31.5.1940. 101 Zit. n. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945, hrsg. von Susanne Heim u. a., Bd. 5: West- und Nordeuropa 1940–Juni 1942, bearb. von Katja Happe/Michael Mayer/ Maja Peers, München 2012, S. 455, Dok. 165 v. 20.2.1941 (Künftig: VEJ 5). 102 Zit. n. ebd., S. 29. 103 Zit. n. ebd., S. 191, Dok. 50. 104 Zit. n. ebd., S. 248 – 251, Dok. 74. 105 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 539, 9.7.1940. 106 FZH, 11/S12 Solmitz Tagebücher, S. 588, 4.9.1940. 107 Zit. n. Ther, Dunkle Seite, S. 124. 108 Norbert Giovannini/Frank Moraw (Hrsg.): Erinnertes Leben. Autobiographische Texte zur jüdischen Geschichte Heidelbergs, Heidelberg 1998, S. 264. 109 Zit. n. VEJ 3, S. 253, Dok. 92 v. 3.7.1940. 110 Böll, Briefe, Bd. 1, S. 94. 111 Zit. n. Klaus Latzel: Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegs erlebnis – Kriegserfahrung 1939 – 1945, Paderborn/München/Wien/Zürich 1998, S. 137. 112 Stieff, Briefe, S. 112, 25.10.1940. 113 Lindgren, Menschheit, S. 62, 18.6.1940. 114 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 538. 115 Böll, Briefe, Bd. 1, S. 84 f., 23.7.1940. 116 Ebd., S. 112, 12.9.1940. 117 Jarausch, Sterben, S. 236, 19.8.1940. 118 Heinz Boberach (Hrsg.): Meldungen aus dem Reich 1938 – 1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, 17 Bde., Herrsching 1984, hier Bd. 4, S. 1164, Nr. 90 vom 23.5.1940; Hervorhebung im Original. 119 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 534, 23.6.1940. 120 Walther Hubatsch (Hrsg.): Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939 – 1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, Frankfurt am Main 1962, Wei s ung Nr. 21, S. 84.
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zu Seite 114 bis Seite 140 121 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 578, 20.2.1941. 122 Zit. n. Werner Präg/Wolfgang Jacobmeyer (Hrsg.): Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939 – 1945, Stuttgart 1975, S. 335. 123 Andreas-Friedrich, Schattenmann, S. 76. 124 Ebd., S. 77 f., 7.4.1941. 125 Zit n. IMG Nürnberg, Bd. 3, S. 360. 126 Zit n. Leonidas E. Hill (Hrsg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933 – 1950, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1974, S. 244. 127 Zit. n. Pringsheim, Nachrichtendienst, Bd. 2, S. 654, Kommentar zu Brief 359 vom 30.4.1941. 128 Lindgren, Menschheit, S. 110, 28.4.1941. 129 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 596. 130 Zit. n. Sven Felix Kellerhoff: Berlin im Krieg. Eine Generation erinnert sich, Berlin 2011, S. 140. 131 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 597, 9.6.1941. 132 Böll, Briefe, Bd. 1, S. 92, 5.8.1940. 133 Bruno E. Werner: Die Galeere, Frankfurt am Main 1949, S. 214. 134 FZH, 11/S13 Solmitz Tagebücher, S. 625, 6.3.1941. 135 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 600. III. «… nur ein Wind in diesen Steppen» Der Krieg gegen die Sowjetunion und die Besatzung in Europa 1941 – 1944
1 Zit. n. Anna Reid: Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1941 – 1944, Berlin 2011, S. 428. 2 Zit. n. Schmidt, Außenpolitik, S. 342. 3 Zit. n. Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42, München 2009, S. 248. 4 FZH, 11/S13 Solmitz Tagebücher, S. 639. 5 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 9, S. 378 f. 6 Generaloberst Halder: Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939 – 1942, hrsg. vom Arbeitskreis für Wehrforschung, 3 Bde., Stuttgart 1962 – 1964, hier Bd. 2, S. 320, 17.3.1941 (Künftig: Halder, KTB). 7 Ebd., Bd. 2, S. 336 f., 30.3.1941. 8 Percy Ernst Schramm (Hrsg.): Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab), Bd. 1: 1. August 1940 – 31. Dezember 1941, bearb. von Hans-Adolf Jacobsen, Frankfurt am Main 1965, S. 341. 9 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 9, S. 377, 16.6.1941. 10 Zit. n. Albert Speer: Erinnerungen, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1969, S. 188. 11 Zit. n. Johannes Hürter, Die Wehrmacht vor Leningrad. Krieg und Besatzungspolitik der 18. Armee im Herbst und Winter 1941/42, in: VfZ 49 (2001), S. 377 – 440, hier S. 409, AOK 18 am 3.10.1941. 12 IMG Nürnberg, Bd. 31, S. 84, Dok. 2718-PS.
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Anmerkungen 13 Zit. n. Jürgen Förster: Die Wehrmacht im NS-Staat. Eine strukturgeschichtliche Analyse, München 2007, S. 178, der Generalstab der 16. Armee am 5.1.1942. 14 Zit. n. Hürter, Hitlers Heerführer, S. 253. 15 Zit. n. Martin Röw: Militärseelsorge unter dem Hakenkreuz. Die katholische Feldpastoral 1939 – 1945, Paderborn 2014, S. 413, 21.6.1941. 16 Zit. n. Gerd R. Ueberschär: Dokumente zum «Unternehmen Barbarossa» als Vernichtungskrieg im Osten, in: ders./Wolfram Wette (Hrsg.): Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. «Unternehmen Barbarossa» 1941, Frankfurt am Main 1991, S. 241 – 348, hier S. 253; Hervorhebung im Original. 17 Zit. n. Manfred Messerschmidt, Ideologie und Befehlsgehorsam im Vernichtungskrieg, in: ZfG 49 (2001), S. 905 – 926, hier S. 913, Fedor von Bock am 9.11. 1941. 18 Zit. n. Felix Römer: Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42, Paderborn/München/Wien/Zürich 2008, S. 510. 19 Zit. n. Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941 – 1944, München 2008, S. 127, 8.5.1941. 20 Zit. n. Hans-Heinrich Wilhelm: Rassenpolitik und Kriegführung. Sicherheitspolizei und Wehrmacht in Polen und der Sowjetunion 1939 – 1942, Passau 1991, S. 139. 21 Domarus, Hitler, Bd. 4, T. 2, S. 1731, 22.6.1941. 22 Katrin Himmler/Michael Wildt (Hrsg.): Himmler privat. Briefe eines Massenmörders, München/Zürich 2014, S. 232. 23 Walter Kempowski: Das Echolot. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch, München 2002, S. 46, 22.6.1941. 24 Ebd., S. 47. 25 Goebbels, Tagebücher, T. I, Bd. 9, S. 398, 23.6.1941. 26 Ebd., S. 400, 24.7.1941. 27 Zit. n. Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 247 f. 28 Hosenfeld, Ich versuche jeden zu retten, S. 504, 22.6.1941. 29 Zit. n. Kempowski, Echolot. Barbarossa ’41, S. 17, 21.6.1941. 30 Lindgren, Menschheit, S. 117, 28.6.1941. 31 Zit. n. Hannes Heer: Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei, Berlin 2004, S. 72. 32 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 653, 21.7.1941. 33 Zit. n. Kempowski, Echolot. Barbarossa ’41, S. 136. 34 Vermerk Bormanns über eine Besprechung Hitlers mit Rosenberg, Lammers, Keitel und Göring am 16. Juli 1941, in: IMG Nürnberg, Bd. 38, S. 88, Dok. 221-L. 35 Zit. n. Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 658. 36 Zit. n. Ueberschär, Dokumente, S. 285, 10.10.1941. 37 Halder, KTB, Bd. 3, S. 38, 3.7.1941. 38 Vermerk Bormanns über eine Besprechung Hitlers mit Rosenberg, Lammers, Keitel und Göring am 16. Juli 1941, in: IMG Nürnberg, Bd. 38, S. 88, Dok. 221-L.
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zu Seite 140 bis Seite 160 39 Zit. n. Mark Mazower: Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, München 2009, S. 145. 40 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 4, S. 449, 5.6.1941. 41 Zit. n. Hürter, Notizen, S. 50 f., 20.7.1941. 42 Zit. n. Michaela Kipp: «Großreinemachen im Osten». Feindbilder in deutschen Feldpostbriefen im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main/New York 2014, S. 400, 27.7.1941. 43 Zit. n. Hürter, Notizen, S. 51, 20.7.1941. 44 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 1, S. 260. 45 Zit. n. Hürter, Hitlers Heerführer, S. 292, 12.8.1941. 46 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bd. 3/1, S. 441. 47 Stieff, Briefe, S. 131, 17.10.1941. 48 Zit. n. Kerstin Wölki: «Und ab ging die Reise!» Kriegserfahrung deutscher Soldaten in Frankreich, in: Veit Didczuneit/Jens Ebert/Thomas Jander (Hrsg.): Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 511 – 524, hier S. 519, Ernst Guicking am 16.8.1943. 49 Zit. n. Hürter, Notizen, S. 79. 50 Ingo Stader (Hrsg.): Ihr daheim und wir hier draußen. Ein Briefwechsel zwischen Ostfront und Heimat Juni 1941 – März 1943, Köln 2006, S. 31. 51 Jarausch, Sterben, S. 291, 16.8.1941. 52 Stieff, Briefe, S. 119; Hervorhebung im Original. 53 Zit. n. Müller, Feind, S. 247, 28.7.1941. 54 Jarausch, Sterben, S. 329 f., 25.10.1941. 55 Zit. n. Hartmann, Halder, S. 286. 56 Zit. n. Peter Steinkamp/Gerd R. Ueberschär: Die Haltung militärischer Verschwörer zum Antisemitismus und zu den NS-Verbrechen im Spiegel von Dokumenten, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): NS-Verbrechen und der militärische Widerstand gegen Hitler, Darmstadt 2000, S. 137 – 206, hier S. 187, Dok. 28 vom 24.10.1941. 57 Zit. n. Reid, Blokada, S. 429. 58 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 1, S. 482, 24.9.1941. 59 Zit. n. Römer, Kommissarbefehl, S. 528. 60 FZH, 11/S13 Solmitz Tagebücher, S. 669. 61 Zit. n. Kipp, Großreinemachen, S. 369. 62 Zit. n. Römer, Kommissarbefehl, S. 176. 63 Domarus, Hitler, Bd. 4, T. 2, S. 1762. 64 Ebd., S. 1754, 24.9.1941. 65 Werner Jochmann (Hrsg.): Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941 – 1944, Hamburg 1980, S. 90 f., 17.10.1941. 66 Zit. n. Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 310. 67 Zit. n. ebd., S. 311, 19.10.1941. 68 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 697; Hervorhebung im Original. 69 Zit. n. Fröhlich, Weltkrieg, S. 98. 70 Zit. n. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5, Erster Halbbd., hrsg.
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Anmerkungen vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt von Bernhard R. Kroener/Rolf- Dieter Müller/Hans Umbreit, Stuttgart 1988, S. 857. 71 Stieff, Briefe, S. 135, 19.11.1941. 72 Zit. n. Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 345, 26.10.1941. 73 Thomas Mann: Tagebücher 1940 – 1943, hrsg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1982, S. 366, 22.12.1941. 74 Zit. n. Hartmann, Halder, S. 294, 9.11.1941. 75 Zit. n. Hürter, Notizen, S. 45, 4.7.1941. 76 Zit. n. ebd., S. 92. 77 Zit. n. Johannes Hürter: Nachrichten aus dem «Zweiten Krimkrieg» (1941/42). Werner Otto von Hentig als Vertreter des Auswärtigen Amts bei der 11. Armee, in: Christian Hartmann/Johannes Hürter/Peter Lieb/Dieter Pohl (Hrsg.): Der deutsche Krieg im Osten 1941 – 1944. Facetten einer Grenzüberschreitung, München 2009, S. 369 – 391, hier S. 377. 78 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozia listische Deutschland 1933 – 1945, hrsg. von Susanne Heim u. a., Bd. 8: Sowjetunion mit annektierten Gebieten II, bearb. von Bert Hoppe, Berlin/Boston 2016, S. 141, Dok. 31; Hervorhebung im Original (Künftig: VEJ 8). 79 David Low: Dreizehn Jahre Weltgeschehen, Zürich 21946, S. 127, 10.7.1942. 80 Zit. n. Heer, Verschwinden, S. 129 f. 81 Zit. n. Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 765. 82 Zit. n. Frank Werner: Soldatische Männlichkeit im Vernichtungskrieg. Geschlechtsspezifische Dimensionen der Gewalt in Feldpostbriefen 1941 – 1944, in: Veit Didczuneit/Jens Ebert/Thomas Jander (Hrsg.): Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 283 – 294, hier S. 286, Hans S. am 30.1.1943. 83 Stieff, Briefe, S. 140 f., 7.12.1941; Hervorhebung im Original. 84 Zit. n. Heer, Verschwinden, S. 124. 85 Stieff, Briefe, S. 150, 10.1.1942. 86 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 5, S. 453, 8.12.1941. 87 Zit. n. Kempowski, Echolot. Barbarossa ’41, S. 401, 11.12.1941. 88 Hosenfeld, Ich versuche jeden zu retten, S. 560, 9.12.1941. 89 Mann, Tagebücher 1940 – 1943, S. 360, 11.12.1941. 90 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bd. 3/2, S. 270. 91 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 20, 8.2.1942. 92 VEJ 5, S. 120 f., Dok. 19 v. 10.1.1942. 93 Thomas Mann: Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940 – 1945, Frankfurt am Main 42004, S. 59, April 1942. 94 Zit. n. Schweitzer, 50 Jahre danach, S. 60. 95 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 142. 96 Zit. n. Ines Hopfer: Geraubte Identität. Die gewaltsame «Eindeutschung» von polnischen Kindern in der NS-Zeit, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 261, Hermann H. am 14.3.1943.
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zu Seite 160 bis Seite 181 97 Jarausch, Sterben, S. 312, 16.9.1941. 98 Stieff, Briefe, S. 134, 11.11.1941. 99 Zit. n. Richard Overy: Russlands Krieg 1941 – 1945, Hamburg 2003, S. 233. 100 Zit. n. Dieter Pohl: Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941 – 1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996, S. 177. 101 Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011. 102 Lindgren, Menschheit, S. 123, 5.11.1941. 103 Zit. n. Römer, Kommissarbefehl, S. 535. 104 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 140, 23.6.1942. 105 FZH, 11/S13 Solmitz Tagebücher, S. 712, 25.1.1942. 106 Zit. n. «Unsere Opfer zählen nicht». Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, hrsg. von Rheinisches JournalistInnenbüro/Recherche International e. V., Berlin/ Hamburg 2005, S. 190. 107 Zit. n. Gudrun Krämer: Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, München 42003, S. 349. 108 Brief von We am 23.07.1942, in Privatbesitz BK. 109 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 193. 110 Brief von We am 8.8.1942, in Privatbesitz BK. 111 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 567, 5.9.1942. 112 Zit. n. Hürter, Notizen, S. 112, 6.12.1941. 113 Halder, KTB, Bd. 3, S. 489. 114 Lindgren, Menschheit, S. 188, 8.11.1942. 115 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 274, 15.11.1942. 116 Lindgren, Menschheit, S. 189, 30.11.1942. 117 Zit. n. Messerschmidt, Ideologie, S. 920. 118 Zit. n. Ueberschär, Dokumente, S. 285, Walter von Reichenau am 10.10.1941; Hervorhebung im Original. 119 Zit. n. Hürter, Nachrichten, S. 388. 120 Zit. n. Präg/Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 561. 121 Zit. n. Jens Ebert (Hrsg.): Feldpostbriefe aus Stalingrad, Göttingen 2003, S. 108. 122 Zit. n. ebd., S. 173 f., 20.12.1942. 123 Zit. n. Rolf-Dieter Müller: «Was wir an Hunger ausstehen müssen, könnt Ihr Euch gar nicht denken». Eine Armee verhungert, in: Wolfram Wette/Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt am Main 52012, S. 131 – 145, hier S. 143. 124 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 318, 27.1.1943. 125 Zit. n. Frank Bajohr: Die Zustimmungsdiktatur. Grundzüge nationalsozialistischer Herrschaft in Hamburg, in: Hamburg im «Dritten Reich», hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Göttingen 2005, S. 69 – 121, hier S. 110. 126 Böll, Briefe, Bd. 1, S. 599, 29.1.1943. 127 Herbert Johannes Veigel: Christbäume. Briefe aus dem Krieg, Berlin 1991, S. 201.
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Anmerkungen 128 Hans Fallada am 27.9.1943, zit. n. Else Marie Bakonjé, Offener Brief an Fallada, in: Hannoverscher Kurier, 31.12.1945, S. 5. 129 Zit. n. Ebert, Feldpostbriefe, S. 143, Herwig Schürl am 13.12.1942. 130 Schmidt, Kriegstagebuch, S. 85, 3.2.1943. 131 Zit. n. Hürter, Notizen, S. 206, 23.1.1943. 132 Walter Manoschek (Hrsg.): «Es gibt nur eines für das Judentum: Vernichtung». Das Judenbild in deutschen Soldatenbriefen 1939 – 1944, Hamburg 1995, S. 66, 30.1.1943. 133 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 571, 22.4.1943. 134 Böll, Briefe, Bd. 1, S. 599. 135 Zit. n. Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 1002. 136 VEJ 8, S. 601, Dok. 250 v. 10.4.1943. 137 Zit. n. Krijn Thijs: «Die müssen ein bisschen aufgemöbelt werden, die Holländer». Deutsche Feldpostbriefe aus den besetzten Niederlanden – eine Annäherung, in: ders./Rüdiger Haude (Hrsg.): Grenzfälle. Transfer und Konflikt zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden im 20. Jahrhundert, Heidelberg 2013, S. 85 – 107, hier S. 98, 1.5.1943. 138 Hosenfeld, Ich versuche jeden zu retten, S. 765, 24.11.1943. 139 Böll, Briefe, Bd. 1, S. 760/762, 14.5.1943. 140 Zit. n. Herwig Baum: «Für die Stadt Kiew wird eine ‹Fangaktion› vorbereitet …». Akteure und Praxis der Zwangsarbeiterrekrutierungen in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs, in: Karsten Linne/Florian Dierl (Hrsg.): Arbeitskräfte als Kriegsbeute. Der Fall Ost- und Südosteuropa 1939 – 1945, Berlin 2011, S. 270 – 302, hier S. 285. 141 Stieff, Briefe, S. 169. 142 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 571, 22.4.1943. 143 Schmidt, Kriegstagebuch, S. 89, 15.5.1943. 144 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 367, 1.5.1943. 145 Zit. n. Hürter, Notizen, S. 199, 10.11.1942. 146 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 379, 20.5.1943. 147 Manoschek, Es gibt nur eines, S. 68, 15.5.1943. 148 Schmidt, Kriegstagebuch, S. 90, 15.5.1943. 149 Böll, Briefe, Bd. 1, S. 359, 5.6.1942. 150 Zit. n. Renate Hauschild-Thiessen (Hrsg.): Die Hamburger Katastrophe vom Sommer 1943 in Augenzeugenberichten, Hamburg 1993, S. 131 f. 151 Lindgren, Menschheit, S. 239, 26.7.1943. 152 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 410, 26.7.1943. 153 FZH, 11/S13 Solmitz Tagebücher, S. 862. 13.9.1943. 154 Zit. n. Schweitzer, 50 Jahre danach, S. 74, 8.9.1943. 155 FZH, 11/S13 Solmitz Tagebücher, S. 868, 4.10.1943. 156 Zit. n. Kerstin von Lingen, Soldatenperspektive auf Bündnispartner und Besatzungsherrschaft. Briefe aus Italien, 1943 – 1945, in: Veit Didczuneit/Jens Ebert/
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zu Seite 181 bis Seite 206 Thomas Jander (Hrsg.), Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 469 – 480, hier S. 473, 27.9.1943. 157 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 577, 5.10.1943. 158 FZH, 11/S13 Solmitz Tagebücher, S. 852. 159 Zit. n. Hürter, Notizen, S. 224, 3.11.1943. 160 Zit. n. ebd., S. 220 f., 19.9. u. 10.10.1943. 161 Andreas-Friedrich, Schattenmann, S. 83, 17.10.1941. 162 Zit. n. Peter Lieb: Unternehmen Overlord. Die Invasion in der Normandie und die Befreiung Westeuropas, München 2014, S. 56 f. 163 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 579. 164 Zit. n. Latzel, Deutsche Soldaten, S. 80, 25.5.1944. IV. «Wir könnten dann Europa in kürzester Zeit judenfrei haben» Der Holocaust 1941 – 1944
1 Norbert Haase, «… eine Sportveranstaltung, wenn auch etwas anderer Art …». Der Mord an den Libauer Juden im Sommer 1941. Aus dem Tagebuch eines Augenzeugen, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 30 (1991), S. 200 – 208, hier S. 206 f. 2 Ueberschär, Dokumente, S. 286, 10.10.1941; Hervorhebung im Original. 3 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozia listische Deutschland 1933 – 1945, hrsg. von Susanne Heim u. a., Bd. 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I. Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien, bearb. von Bert Hoppe/ Hildrun Glass, München 2011, S. 146 f., Dok. 15 v. 2.7.1941 (Künftig: VEJ 7). 4 VEJ 7, S. 158, Dok. 19 v. 6.7.1941. 5 Ebd., S. 200, Dok. 35 v. 23.11.1941 über die Zeit vom 21.6. bis 23.11.1941. 6 Zit. n. Friedländer, Jahre der Vernichtung, Bd. 2, S. 238. 7 VEJ 7, S. 223, Dok. 48 v. 23.7.1941. 8 Zit. n. Ernst Klee/Willi Dreßen/Volker Rieß (Hrsg.): «Schöne Zeiten». Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt am Main 1988, S. 35 f. 9 Zit. n. Andrej Angrick/Klaus-Michael Mallmann/Jürgen Matthäus/Martin Cüppers (Hrsg.): Deutsche Besatzungsherrschaft in der UdSSR 1941 – 1945. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion II, Darmstadt 2013, S. 35, Dok. 7. 10 Angrick/Mallmann/Matthäus/Cüppers, Besatzungsherrschaft, S. 168, Dok. 70 v. 15.10.1941. 11 VEJ 3, S. 496 f., Dok. 196 v. 31.7.1941. 12 Zit. n. Kurt Pätzold (Hrsg.): Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, Leipzig 41991, S. 305, Dok. 279 v. 21.8.1941. 13 VEJ 4, S. 680 f., Dok. 314 v. 16.7.1941. 14 Zit. n. VEJ 7, S. 228. 15 Ebd., Dok. 51. 16 Ebd., S. 287, Dok. 79.
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Anmerkungen 17 Ebd., S. 296, Dok. 84. 18 Ebd., S. 312, Dok. 94, 2.10.1941. 19 Zit. n. Manoschek, Es gibt nur eines, S. 45. 20 Irene Eber: Ich bin allein und bang. Ein jüdisches Mädchen in Polen 1939 – 1945, München 2007, S. 116. 21 VEJ 8, S. 206, Dok. 61 v. 25.1.1942. 22 Julia Paulus/Marion Röwekamp (Hrsg.): Eine Soldatenheimschwester an der Ostfront. Briefwechsel von Annette Schücking mit ihrer Familie (1941 – 1943), Paderborn/München/Wien/Zürich 2015, S. 145, 3.11.1941. 23 Zit. n. Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 254. 24 Zit. n. Manoschek: «Serbien ist judenfrei». Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1993, S. 195, 29.8.1942. 25 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 663, 8.9. und 15.9.1941. 26 VEJ 3, S. 743, Dok. 318 v. 19.9.1941. 27 Zit. n. ebd., S. 63. 28 Ebd., S. 542, Dok. 223. 29 Zit. n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 563. 30 Ursula von Kardorff: Berliner Aufzeichnungen 1942 – 1945. Unter Verwendung der Original-Tagebücher neu hrsg. und komm. von Peter Hartl, München 1992, S. 72, 3.3.1943. 31 Helmuth James von Moltke: Briefe an Freya 1939 – 1945, hrsg. von Beate Ruhm von Oppen, München 21991, S. 308. 32 Klemperer, Zeugnis, Bd. 1, S. 685, 9.11.1941. 33 Ebd., S. 689. 34 VEJ 8, S. 159, Dok. 38 v. 10.12.1941. 35 Ebd., S. 172, Dok. 48 v. 21.12.1941. 36 Auszüge aus einem Briefwechsel, in Privatbesitz BK. 37 Stieff, Briefe, S. 137, 19.11.1941; Hervorhebung im Original. 38 Zit. n. Friedländer, Jahre der Vernichtung, Bd. 2, S. 345. 39 Zit. n. Wolfram Wette: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden, Frankfurt am Main 2011, S. 243. 40 Kube an Lohse am 16.12.1941, zit. n. Christopher Browning: Die Entfesselung der «Endlösung». Nationalsozialistische Judenpolitik 1939 – 1942, München 2003, S. 563. 41 VEJ 7, S. 578, Dok. 213. 42 Zit. n. Peter Longerich: Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der na tionalsozialistischen Judenverfolgung, München/Zürich 1998, S. 462. 43 Zit. n. VEJ 8, S. 37, 14.11.1941. 44 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 2, S. 498, 13.12.1938. 45 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalso zialistische Deutschland 1933 – 1945, hrsg. von Susanne Heim u. a., Bd. 9: Polen:
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zu Seite 207 bis Seite 236 Generalgouvernement August 1941 – 1945, bearb. von Klaus- Peter Friedrich, München 2014, S. 159 – 161, Dok. 26 (Künftig: VEJ 9). 46 VEJ 5, S. 787, Dok. 313. 47 Ebd., S. 718, Dok. 282. 48 Ebd., S. 308, Dok. 104 v. 25.11.1941. 49 Ebd., S. 323, Dok. 108. 50 Zit. n. Andrea Löw: Das Getto Litzmannstadt – eine historische Einführung, in: Sascha Feuchert/Erwin Leibfried/Jörg Riecke (Hrsg.): Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt. Supplemente und Anhang, Göttingen 2007, S. 145 – 165, hier S. 153. 51 Zit. n. Norbert Kampe/Peter Klein (Hrsg.): Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 40 – 54, Dok. 4.7 (Protokoll der Wannsee-Konferenz) v. 20.1.1942; Hervorhebung im Original. 52 Mark Roseman: In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund, Berlin 2002, S. 232, 22.8.1942. 53 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 3, S. 561. 54 VEJ 8, S. 435, Dok. 192 v. 3.9.1942. 55 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 47. 56 Zit. n. VEJ 9, S. 25. 57 Józef Zelkowicz: In diesen albtraumhaften Tagen. Tagebuchaufzeichnungen aus dem Getto Lodz/Litzmannstadt, September 1942, hrsg. und komm. von Angela Genger/Andrea Löw/Sascha Feuchert, Göttingen 2015. 58 Blanka Alperowitz: Die letzten Tage des deutschen Judentums (Berlin Ende 1942), hrsg. von Klaus Hillenbrand, Berlin 2017, S. 60. 59 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 206. 60 Calel Perechodnik: Bin ich ein Mörder? Das Testament eines jüdischen Ghetto- Polizisten, Berlin 1999, S. 71, 19.8.1942. 61 Zit. n. VEJ 8, S. 38. 62 Zit. n. ebd., S. 34, 31.8.1942. 63 Zit. n. Jürgen Matthäus/Frank Bajohr (Hrsg.): Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, Frankfurt am Main 2015, S. 89. 64 VEJ 7, S. 627, Dok. 241. 65 VEJ 8, S. 584, Dok. 243 v. 8.2.1943. 66 IMG Nürnberg, Bd. 29, S. 145, Dok. 1919-PS vom 4.10.1943. 67 Vermerk Danneckers vom 15.6.1942, zit. n. Jan Erik Schulte, Vom Arbeits- zum Vernichtungslager. Die Entstehungsgeschichte von Auschwitz-Birkenau 1941/42, in: VfZ 50 (2002), S. 41 – 69, hier S. 65. 68 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozia listische Deutschland 1933 – 1945, hrsg. von Susanne Heim u. a., Bd. 12: West- und Nordeuropa Juni 1942 – 1945, bearb. von Katja Happe/Barbara Lambauer/Clemens Maier-Wolthausen, Berlin/München/Boston 2015, S. 665, Dok. 254 (Künftig: VEJ 12).
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Anmerkungen 69 Die Tagebücher der Anne Frank, hrsg. von Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie/Niederländisches Staatliches Institut für Kriegsdokumentation, Frankfurt am Main 1988, S. 368 f., Version b, 19.11.1942. 70 Zit. n. Friso Wielenga: Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Münster/New York/München/Berlin 2008, S. 215. 71 Zit. n. Serge Klarsfeld/Maxime Steinberg (Hrsg.): Die Endlösung der Judenfrage in Belgien. Dokumente, New York/Paris 1980, S. 27, Tätigkeitsbericht Nr. 20 der Militärverwaltung für die Zeit vom 15. März– 1. Juni 1942, 15.6.1942. 72 Zit. n. VEJ 5, S. 56. 73 Ebd., S. 511, Dok. 193 v. 4.6.1942. 74 Die Tagebücher der Anne Frank, S. 480, Version b, 8.11.1943. 75 VEJ 7, S. 609 f., Dok. 232. 76 Hosenfeld, Ich versuche jeden zu retten, S. 834, 23.8.1944. 77 VEJ 12, S. 279, Dok. 77. 78 Ebd., S. 187, Dok. 32. 79 Mann, Hörer, S. 76, 27.9.1942. 80 Karl Dürkefälden, «Schreiben, wie es wirklich war …». Die Aufzeichnungen Karl Dürkefäldens aus der Zeit des Nationalsozialismus, bearb. und komm. von Herbert und Sybille Obenaus, Hannover 1985, S. 117. 81 VEJ 9, S. 307, Dok. 87 v. 26.6.1942. 82 Zit. n. Karl-Heinz Janßen: Und morgen die ganze Welt… . Deutsche Geschichte 1871 – 1945, Bremen 2003, S. 482. 83 Zit. n. Friedländer, Jahre der Vernichtung, Bd. 2, S. 494. 84 Helmuth James von Moltke: Bericht aus Deutschland im Jahre 1943. Letzte Briefe aus dem Gefängnis Tegel 1945, Berlin 111971, S. 31. 85 Zit. n. Friedländer, Jahre der Vernichtung, Bd. 2, S. 502; Hitler am 21.3.1943. 86 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 7, S. 454, 2.3.1943. 87 Zit. n. Ian Kershaw: Hitler. 1936 – 1945, Stuttgart 2000, S. 758. 88 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 8, S. 192, 1.5.1943. 89 VEJ 9, S. 648, Dok. 243. 90 Zit. n. ebd., S. 48. 91 Hosenfeld, Ich versuche jeden zu retten, S. 719. 92 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 386, 1.6.1943. 93 Zit. n. Helmut Krausnick: Judenverfolgung, in: Hans Buchheim/Martin Broszat/ Hans-Adolf Jacobsen/Helmut Krausnick (Hrsg.): Anatomie des SS-Staates, Bd. 2, München 21979, S. 233 – 366, hier S. 365. 94 Zit. n. Wolfgang Benz: Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, München 2013, S. 191. 95 Lindgren, Menschheit, S. 250, 3.10.1943. 96 Wassili Grossman: Ukraine ohne Juden. Aus dem Russischen übertragen und eingeleitet von Jürgen Zarusky, in: Johannes Hürter/Jürgen Zarusky (Hrsg.): Besatzung, Kollaboration, Holocaust. Neue Studien zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München 2008, S. 189 – 200, hier S. 196 – 198.
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zu Seite 237 bis Seite 264 97 Zit. n. Timothy Snyder: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wieder holen kann, München 2015, S. 257. V. «Einmal kommt der Feind doch zu Euch» Die Zeit bis Kriegsende
1 Lindgren, Menschheit, S. 377; Hervorhebung im Original. 2 Zit. n. Christian Th. Müller, Tag der Entscheidung – Der «D-Day», in: Damals 46 (2014), Heft 6, S. 26 – 32, hier S. 28. 3 Zit. n. Lieb, Unternehmen Overlord, S. 106 f. 4 Zit. n. Peter Lieb: «Dschungelkrieg» und «ungeheure Blutmühle». Gelände und Material als determinierende Faktoren der Normandieschlacht 1944, in: Marian Füssel/Michael Sikora (Hrsg.): Kulturgeschichte der Schlacht, Paderborn 2014, S. 269. 5 Zit. n. ebd., S. 265. 6 Zit. n. Lieb, Unternehmen Overlord, S. 130. 7 Zit. n. Michael Alberti: Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939 – 1945, Wiesbaden 2006, S. 483. 8 Schmidt, Kriegstagebuch, S. 94, 26.6.1944. 9 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 539, 1.7.1944; Hervorhebung im Original. 10 Zit. n. Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871 – 1945, Stuttgart 1995, S. 786. 11 Böll, Briefe, Bd. 2, S. 1090, 18.7.1944. 12 Himmler/Wildt, Himmler privat, S. 329, 15.7.1944. 13 Zit. n. Lieb, Dschungelkrieg, S. 269. 14 Zit. n. Sönke Neitzel: Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Gefangenschaft 1942 – 1945, Berlin 2005, S. 62. 15 Lindgren, Menschheit, S. 379, 19.7.1944. 16 Die Tagebücher der Anne Frank, S. 787, Version a, 21.7.1944. 17 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 549, 21.7.1944, Hervorhebung im Original. 18 Henning von Tresckow: Ich bin der ich war. Texte und Dokumente, hrsg. von Sigrid Grabner und Hendrik Röder, Berlin 2001, S. 114. 19 Zit. n. Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 529. 20 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 13, S. 140, 23.7.1944. 21 Buchbender/Sterz, Gesicht des Krieges, S. 142, 21.7.1944. 22 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 553, 23.7.1944. 23 Andreas-Friedrich, Schattenmann, S. 159, 31.7.1944. 24 Zit. n. von Lingen, Soldatenperspektive, S. 477. 25 Mann, Hörer, S. 133, 14.1.1945. 26 Hosenfeld, Ich versuche jeden zu retten, S. 827, 11.8.1944. 27 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 555, 2.8.1944. 28 Schmidt, Kriegstagebuch, S. 104, 27.8.1944. 29 Low, Weltgeschehen, S. 169, 10.8.1944. 30 Lindgren, Menschheit, S. 380, 23.8.1944.
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Anmerkungen 31 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 567, 25.8.1944. 32 Lindgren, Menschheit, S. 380 f., 27.8.1944. 33 Ebd., S. 381, 7.9.1944. 34 Ebd. 35 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 12, S. 202, 27.4.1944. 36 Martin Doerry: «Mein verwundetes Herz». Das Leben der Lilli Jahn 1900 – 1944, Stuttgart/München 2002, S. 333. 37 Zit. n. Manoschek, Es gibt nur eines, S. 77, 4.9.1944. 38 Werner Otto Müller-Hill: «Man hat es kommen sehen und doch ist man erschüttert». Das Kriegstagebuch eines deutschen Heeresrichters 1944/45, mit einem Vorwort von Wolfram Wette, München 2012, S. 121, 6.2.1945. 39 Ebd., S. 21, 29.3.1944. 40 Zit. n. Daniel Brewing: Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939 – 1945, Darmstadt 2016, S. 284. 41 Hans Thieme: Erinnerungen eines deutschen Stabsoffiziers an den Warschauer Aufstand, in: Bernd Martin/Stanisława Lewandowska (Hrsg.): Warschauer Aufstand 1944, Warschau 1999, S. 304. 42 Zit. n. Norman Davies: Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau 1944, München 2004, S. 344 f. 43 Zit. n. Hanns von Krannhals: Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt am Main 1962, S. 309; Himmler in einer Rede vor den Wehrkreisbefehlshabern und Schulkommandeuren in Jägershöhe am 21.9.1944. 44 Hosenfeld, Ich versuche jeden zu retten, S. 828, 11.8.1944. 45 Zit. n. Jörg Echternkamp: Kriegsschauplatz Deutschland 1945. Leben in Angst – Hoffnung auf Frieden: Feldpost aus der Heimat und von der Front, Paderborn 2006, S. 115, 18.11.1944. 46 Andreas-Friedrich, Schattenmann, S. 144, 18.6.1944. 47 Hamburger Zeitung, 19.10.1944, Ausgabe A, S. 1. 48 FZH, 11/S13 Solmitz Tagebücher, S. 964, 12.11.1944. 49 Zit. n. Gerd R. Ueberschär/Rolf-Dieter Müller: 1945. Das Ende des Krieges, Darm stadt 2005, S. 160. 50 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 605, 17.10.1944. 51 Ebd., S. 606, 24.10.1944. 52 Lindgren, Menschheit, S. 383, 26.11.1944. 53 Zit. n. Lüdicke, Griff, S. 162. 54 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 14, S. 450, 20.12.1944. 55 Zit. n. Hürter, Notizen, S. 233. 56 FZH, 11/S13 Solmitz Tagebücher, S. 972. 57 Lindgren, Menschheit, S. 386, 25.12.1944; Hervorhebung im Original. 58 Domarus, Hitler, Bd. 4, T. 2, S. 2182. 59 Zit n. Bajohr/Strupp, Fremde Blicke, S. 572, 22.4.1943. 60 Schweitzer, 50 Jahre danach, S. 89, 11.9.1944. 61 Zit. n. Hildebrand, Reich, S. 811.
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zu Seite 265 bis Seite 286 62 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 643. 63 Lindgren, Menschheit, S. 437, 21.1.1945. 64 Wladimir Gelfand: Deutschland-Tagebuch. Aufzeichnungen eines Rotarmisten, ausgew. und komm. von Elke Scherstjanoi, Berlin 2005. S. 27. 65 Zit. n. Elisabeth Kohlhaas: 1945 – Krieg nach innen. NS-Verbrechen in Aschaffenburg und an Aschaffenburgern, Aschaffenburg 2005, S. 37, Anordnung vom 6.3.1945. 66 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 15, S. 214, 25.1.1945. 67 Kardorff, Aufzeichnungen 1942 – 1945, S. 285, 30.1.1945. 68 Gelfand, Deutschland-Tagebuch, S. 28, 28.1.1945. 69 Ebd., S. 29, 30.1.1945. 70 Ebd. 71 Zit. n. Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2016, S. 639. 72 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 649, 29.1.1945. 73 Zit. n. Heinrich Schwendeman: Der deutsche Zusammenbruch im Osten 1944/45, in: Bernd-A. Rusinek (Hrsg.): Kriegsende 1945. Verbrechen, Katastrophen, Befreiungen in nationaler und internationaler Perspektive, Göttingen 2004, S. 137. 74 Zit. n. Hürter, Notizen, S. 235, 31.1.1945. 75 Zit. n. Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang, NS-Deutschland 1944/45, München 2011, S. 230, 4.2.1945. 76 Zit. n. ebd., S. 230, 6.1.1945. 77 Lindgren, Menschheit, S. 430 f. 78 Zit. n. Helmut Heiber (Hrsg.): Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942–1945, Stuttgart 1962. S. 721, 12.12.1944. 79 Andreas-Friedrich, Schattenmann, S. 200, 19.2.1945. 80 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 661, 22.– 24.2.1945. 81 Ebd., S. 667, 22.– 24.2.1945. 82 FZH, 11/S13 Solmitz Tagebücher, S. 992. 83 Zit. n. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 10, Erster Halbbd., hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt von Rolf-Dieter Müller, München 2008, S. 316. 84 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 15, S. 504, 14.3.1945. 85 Mann, Hörer, S. 142, 4.3.1945. 86 Ebd., S. 143, 20.3.1945. 87 Zit. n. Kershaw, Ende, S. 366 f., 9.3.1945. 88 Zit. n. Echternkamp, Kriegsschauplatz, S. 196, 28.3.1945. 89 Zit. n. Joachim Szodrzynski: Die «Heimatfront» zwischen Stalingrad und Kriegsende, in: Hamburg im «Dritten Reich», hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Göttingen 2005, S. 675. 90 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 706. 91 Kalshoven, Ich denk so viel an Euch, S. 439, 4.1.1945. 92 Goebbels, Tagebücher, T. II, Bd. 14, S. 314, 2.12.1944.
323
Anmerkungen 93 Kalshoven, Ich denk so viel an Euch, S. 444. 94 Lindgren, Menschheit, S. 439. 95 Melvin Lasky: Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Schuller, Berlin 2014, S. 141, 9.4.1945. 96 Ebd., S. 146, 11.4.1945. 97 Zit. n. Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 657, 12.2.1945. 98 Mann, Hörer, S. 147, 5.4.1945. 99 Lasky, Und alles war still, S. 106, 25./26.3.1945. 100 Böll, Briefe, Bd. 2, S. 1126 f. 101 Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941 – 1945, hrsg. vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Berlin 1961, S. 704. 102 Zit. n. Echternkamp, Kriegsschauplatz, S. 167. 103 Gelfand, Deutschland-Tagebuch, S. 31.6./7.2.1945. 104 Zit. n. Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995, S. 662. 105 FZH, 11/S13 Solmitz Tagebücher, S. 1017, 22.4.1945. 106 Zit. n. Gerhard Hirschfeld/Irina Renz (Hrsg.): «Vormittags die ersten Amerikaner». Stimmen und Bilder vom Kriegsende 1945, Stuttgart 2005, S. 135, 15.4.1945. 107 Lindgren, Menschheit, S. 440, 25.4.1945. 108 Zit. n. Hirschfeld/Renz, Amerikaner, S. 155, 26.4.1945. 109 Sven Keller (Hrsg.): Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin. Die Aufzeichnungen Wolfhilde von Königs 1939 – 1946, Berlin/Boston 2015, S. 210. 110 Lasky, Und alles war still, S. 175, 20.4.1945. 111 Domarus, Hitler, Bd. 4, T. 2, S. 2238 f. 112 Zit. n. Hürter, Notizen, S. 240, 5.5.1945. 113 Zit. n. Heinrich Breloer (Hrsg.): Mein Tagebuch. Geschichten vom Überleben 1939 – 1947, Köln 1984, S. 212 f. 114 Keller, Kriegstagebuch, S. 212, 29.4.1945. 115 Lasky, Und alles war still, S. 206, 30.4.1945. 116 Mann, Hörer, S. 149, 19.4.1945. 117 Domarus, Hitler, Bd. 4, T. 2, S. 2250. 118 Lindgren, Menschheit, S. 445, 1.5.1945. 119 Ebd., S. 446, 7.5.1945. 120 Klemperer, Zeugnis, Bd. 2, S. 769, 5.5.1945. 121 Lindgren, Menschheit, S. 447 f., 7.5.1945. 122 Mann, Hörer, S. 138, 31.1.1945. 123 Neitzel, Abgehört, S. 174 f., 26./27.1.1945. 124 Zit. n. Nicholas Stargardt: Der deutsche Krieg. 1939 – 1945, Frankfurt am Main 2015, S. 636, 2.5.1945. 125 Neitzel, Abgehört, S. 195, 10.– 13.4.1945. 126 Zit. n. Breloer, Mein Tagebuch, S. 213. 127 Zit. n. Hirschfeld/Renz, Amerikaner, S. 155, 26.4.1945. 128 Lasky, Und alles war still, S. 212; Hervorhebung im Original.
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Bildnachweis S. 12 © David Low, Evening Standard vom 2.8.1939, Solo Syndication London S. 72 © Muzeum Ziemi Wieluńskiej
S. 134 © RIA Novosti/Lebrecht S. 196 © Bundesarchiv, B 162 Bild 04 997, Fotograf: Reinhard Wiender S. 254 © Frank Scherschel/The LIFE Picture Collection/Getty Images
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Personenregister
Abetz, Otto 120, 204
Boehm, Ilse 117
Alperowitz, Blanka 229 f.
Böhme, Franz 209
Alten-Rauch, Minna von 81
Böll, Heinrich 110, 122 f., 133, 180, 183, 185,
Altenburg, Günther 247
188, 260, 288 f., 299
Alvensleben, Ludolf von 78
Bormann, Martin 277
Andreas-Friedrich, Ruth 46, 52, 76, 128,
Bose, Subhas Chandra 153
240, 262, 270, 283
Bouhler, Philipp 228
Ansat, John 157
Brack, Viktor 217, 228
Antonescu, Ion 265
Bradley, Omar 257
Arājs, Viktors 201
Brauchitsch, Walther von 40, 50, 77, 88 f.,
Bach, Erich von dem 178
Bruhn, Johannes 297
Backe, Herbert 139, 169, 231
Brunner, Alois 45
Badoglio, Pietro 189
Bühler, Josef 223 f.
Baldwin, Stanley 27
Bürckel, Josef 121
Bauer, Franz (Pfarrer in Thaya) 43, 45 f.,
Burgdörfer, Friedrich 122
124, 142, 153, 162
171, 189, 275 Beck, Ludwig 50
Chamberlain, Neville 36, 48, 51 – 54, 60,
Beer, Karl Willy 277
62, 110
Beneš, Edvard 48, 52 f., 57
Charlotte (Großherzogin von Luxem-
Berg, Wolfgang 179
burg) 110
Best, Werner 78, 174, 178, 186, 243, 250 f.
Chauvel, Jean 43
Biebow, Hans 7 f., 11, 221
Chiczewski, Feliks 47, 62 f.
Bielski, Tuvia, Zusja, Asael und Aron 239
Choltitz, Dietrich von 258, 264
Bischoffshausen, Lothar von 202
Chorošunova, Irina A. 207
Bismarck, Otto von 22, 42, 64
Christian X. (König von Dänemark) 107
Blaskowitz, Johannes 80, 88
Churchill, Winston 25, 30, 36, 56, 110 – 113, 125, 137, 151, 167, 182, 191 f., 206, 268,
Blomberg, Werner von 31, 38, 40
282 f., 287, 290, 293
Blum, Léon 56 Blumentritt, Günther 143
Chvalkovský, František 58
Bock, Fedor von 160
Cohn, Willy 74
331
Personenregister Daladier, Édouard 53
Gerron, Kurt 272
Dannecker, Theodor 120, 122
Globocnik, Odilo 216 f., 226, 228, 231, 250
D’Arcy Osborne, Francis 245
Goebbels, Joseph 13 f., 20, 24, 26 f., 34,
Darré, Walther 169
42, 44 – 47, 49 f., 55 – 58, 61, 68, 75, 98,
Davies, Norman 21
106, 114, 137, 139, 145, 150 f., 156, 167,
Dinichert, Paul 25
178, 180 f., 183, 191, 219, 226, 246, 248,
Dölker-Rehder, Grete 167
255, 262, 265, 272 f., 277, 280, 284,
Dönitz, Karl 127, 187, 257, 293, 295 Dschugaschwili, Jakow 150
291 f. Göring, Hermann 9 f., 20, 30, 38, 40, 42,
Dürkefälden, Karl 244
55, 58, 86, 89, 102 f., 125, 127, 140, 150, 179, 199, 203, 205, 211, 218, 246, 257,
Eber, Irene 208
293, 298 f.
Edward (Herzog von Windsor) 36
Göth, Amon 234
Eichmann, Adolf 45, 55, 59, 85 f., 103, 120,
Gottberg, Curt von 184
203 f., 213, 223, 242, 250, 252 Eisenhower, Dwight D. 189, 257, 290, 295
Gramß, Ernst 91 Greiser, Arthur 91 f., 94 f., 103, 211 f., 215,
Elser, Georg 106
229, 246, 251, 277
Ephrussi (Wiener Familie) 45
Gremminger, Hans 176
Erren, Gerhard 208
Gröning, Oskar 234 f. Groscurth, Helmuth 106
Falkenhausen, Alexander von 116, 237
Grossman, Wassili 251
Fallada, Hans 181 Farnbacher, Fritz 165
Haakon VII. (König von Norwegen) 107 f.
Feldberg, Rudolf 233
Hácha, Emil 57 f., 60
Fiedler, Friedrich 146
Halder, Franz 50, 77, 88 f., 113, 138, 148, 153, 156, 177
Forster, Albert 90 f. Franco, Francisco 37
Halifax, Edward Wood, 1. Earl of (Viscount Halifax) 124
François-Poncet, André 38 Frank, Anne 237, 240, 261, 266, 292
Hammerschlag, Steffi 70
Frank, Hans 90, 103, 121, 127, 178, 212, 219,
Hanke, Karl 278
223, 276
Hanneken, Hermann von 186
Frank, Karl Hermann 59
Hansen, Josef 169
Frank, Margot 236 f., 266, 292
Harris, Arthur 170
Freisler, Roland 262
Hassell, Ulrich von 31, 40 f.
Fritsch, Werner von 38, 40
Hauswedell, Ludwig 137
Fromm, Friedrich 162
Heesen, Edith van 117 Heinrici, Gotthard 96, 150 – 152, 163 f., 177, 181, 187, 192, 273, 279, 294
Gamelin, Maurice 112 Gaulle, Charles de 119 f., 177, 244, 264
Henlein, Konrad 47
Gebensleben, Eberhard 80 f., 186, 286
Hentig, Werner Otto von 178
Geist, Raymond 64
Herrmann, Paul 155
Gelfand, Wladimir 276 – 278, 289
Heß, Rudolf 86, 132
Genewein, Walter 8, 11
Heydrich, Reinhard 44 f., 55, 78, 84 f., 103,
332
Personenregister 130, 143, 171 f., 199, 202 f., 212, 218, 221 –
Keitel, Wilhelm 40, 66, 82, 86, 114, 156,
224, 229, 231
260, 294
Himmler, Gudrun 144, 260
Kesselring, Albert 284
Himmler, Heinrich 20, 39 f., 42, 44, 56,
Kirk, Alexander C. 102
78, 85 f., 93, 95, 97 f., 100, 103, 109, 130,
Klausener, Erich 25
144, 148 – 150, 159, 165, 171 f., 174, 178,
Klemperer, Eva 102, 177, 260, 272, 283,
190 f., 205, 208, 211 – 213, 215 – 218, 223 f.,
296
228 f., 231, 235 f., 243, 248 f., 252, 258,
Klemperer, Victor 24, 26 f., 29, 32, 46, 48,
260, 262, 269, 278, 287 f., 291, 293
51, 54, 59, 66, 68 f., 74 f., 101 f., 105 f.,
Hindenburg, Paul von 22
108, 115, 119, 123, 125, 132 f., 146, 160,
Hitler, Adolf 9, 13 – 34, 36 – 44, 46 – 71,
168, 171, 175 – 177, 180, 187, 189, 210, 214,
74 – 77, 82, 84 – 90, 93, 95 f., 100, 102 f.,
220, 227, 230, 246, 249, 260 – 263, 265,
105 – 108, 110 f., 113 – 119, 123 – 129, 131 f.,
271 f., 276, 279, 283, 285, 288, 296
136 – 140, 144 – 149, 151, 153 – 155, 157 f.,
Klepper, Jochen 115
162, 165, 167 – 169, 172, 174 – 177, 179 – 183,
Kluge, Günther von 260
186 – 189, 193 f., 203 f., 210 f., 217 – 220,
Klukowski, Zygmunt 90
222 f., 231, 243 – 245, 247, 249 – 252, 255,
Koch, Erich 147, 149, 203, 233, 279
257, 260 – 262, 264 f., 268 – 270, 272 f.,
Köhler, Fritz 110
275 f., 281, 283 – 285, 288 – 290, 292 – 295,
König, Wolfhilde von 292, 294
297, 299 f.
Koppens, Leon 51, 56
Hoepner, Erich 81, 160
Krämer, Kurt 145
Höppner, Rolf-Heinz 204 f., 215
Krombach, Ernst 225
Hörmann, Pieter Hendrik 117
Krüger, Friedrich Wilhelm 216
Höß, Rudolf 227
Kube, Wilhelm 217, 234
Horthy, Miklós 129, 194, 247 f., 267, 271
Küchler, Georg von 144, 156
Hosenfeld, Wilhelm «Wilm» 75, 87, 114,
Kuntze, Walter 177
145, 167, 185, 240 f., 249, 263, 269 Hoßbach, Friedrich 38, 279
Lange, Herbert 97, 215, 246
Husayni, Amin al- 153
Lasky, Melvin 286, 288, 292, 294, 297 Laval, Pierre 177
Jäger, Karl 217
Lenin, Wladimir Iljitsch 141, 158
Jahn, Lilli 266
Leopold III. (König von Belgien) 110
Jarausch, Konrad 97 f., 104, 107, 124, 152,
Lettow-Vorbeck, Paul von 175
154, 172
Liebmann, Curt 70
Jeckeln, Friedrich 206, 217, 234
Lindenbach, Willi 144
Jodl, Alfred 294
Lindgren, Astrid 82, 103, 108, 113, 123, 131, 145, 174, 177, 189, 251, 255, 260, 264 f., 273 f., 276, 281, 286, 292, 295 f.
Kalshoven, Hedda 286 Kaltenbrunner, Ernst 174, 293
Lion, Pierre 219
Kantorowicz, Alfred 292
Lipski, Józef 65
Kardorff, Ursula von 212, 277
Lloyd George, David 30
Kaufmann, Karl 211
Löwenherz, Josef 45
Kawelmacher, Hans 198
Lohse, Hinrich 149, 203, 217 f., 233
333
Personenregister Lombard, Gustav 205
Oberg, Carl-Albrecht 174
Londonderry, Charles Vane-Tempest-
Ohlendorf, Otto 143
Stewart, 7. Marquess of 30 Londonderry, Edith Vane-Tempest- Stewart, Marchioness of 30 Lothian, Philip Kerr, 11. Marquess of 30
Olbricht, Friedrich 160 Olivera, Ricardo 212 Olte, Hans 194 Oppenheimer, Hans Bernd 121 Orsenigo, Cesare (päpstlicher Nuntius)
Low, David 13 f., 70 f., 165, 264 Luhan, Walter 165
60 Ossietzky, Carl von 107
Luther, Martin 223 Pankiewicz, Tadeusz 228 Maier, Ruth 243
Papen, Franz von 41
Mann, Katia 43
Paulus, Friedrich 175, 179 f., 194
Mann, Thomas 27, 43 f., 64, 131, 163, 167,
Pavelić, Ante 241
170, 244, 263, 285, 288, 295 f.
Perechodnik, Anka 232
Mannheimer, Max 248
Perechodnik, Calel 232, 269
Manstein, Erich von 111, 113, 194
Pétain, Philippe 113, 119, 177, 219
Martin du Gard, Roger 32
Peter II. (König von Serbien) 129
Masaryk, Jan 53
Pius XII. 244 f., 267
Melchinger, Walter 146
Pfarschner, Werner 133
Meltzer, Yulia 150
Pfeffer, Fritz 237
Mengele, Josef 234
Prien, Günther 127, 132
Messersmith, George S. 23
Princental, Chaim 226
Meyer, Konrad 93, 149, 159
Pringsheim, Hedwig 43, 53 f.
Michael I. (König von Rumänien) 265 Molotow, Wjatscheslaw M. 67, 126
Quisling, Vidkun 109, 243
Moltke, Helmuth James Graf von 182, 212 f., 245
Rademacher, Franz 122, 209
Montgomery, Bernard 177
Raeder, Erich 38, 187
Morris, Leland 213
Ramcke, Bernhard 296
Müller, Heinrich 85
Rasch, Otto 143
Müller, Paul 85
Rauter, Hanns Albin 117, 286
Müller-Hill, Werner Otto 268
Reeder, Eggert 237
Mussert, Anton 117
Reich, Marcel (später Reich-Ranicki) 239
Mussolini, Benito 17, 30, 35, 38, 52 f., 113, 128, 136, 189, 245, 250, 294 f.
Reich, Teofila «Tosia» (später ReichRanicki) 239
Napoleon Bonaparte 138, 194
Reichenau, Walter von 79, 147, 175, 178, 198
Nartova, L. 206 Nebe, Arthur 143, 182, 208
Reinsberg, Ernst «Erni» 236
Nedić, Milan 130
Reinsberg, Karl Heinz 236
Neurath, Konstantin von 21, 24, 31, 38,
Renthe-Fink, Cecil von 108, 243
40, 58, 60, 171
Reynaud, Paul 111, 113
334
Personenregister Ribbentrop, Joachim von 30, 40, 65, 67,
Simon, Gustav 118 Simpson, Wallis 36
69, 75, 243, 293 Richthofen, Wolfram von 37, 74
Solmitz, Friedrich 37, 54, 67, 246
Rilke, Rainer Maria 163
Solmitz, Luise 37, 42, 51 f., 54, 58 – 60,
Ringelblum, Emanuel 244
62 – 64, 67 f., 74, 107 f., 110, 112 – 114, 120,
Rohwerder, Max 209
133, 137, 157, 175, 189, 191, 220, 246, 270, 273, 284, 291
Rommel, Erwin 129, 131, 153, 175, 187, 193, 255 – 257
Speer, Albert 129, 168 f., 293
Roosevelt, Franklin D. 48, 52, 61 f., 65,
Stahlecker, Walter 143, 201, 203 Stalin, Josef 50, 53, 66 – 68, 75 f., 83, 95 – 97,
124 f., 128, 137, 151, 167, 182, 192, 252,
105, 110, 126, 136 – 138, 141, 146 f., 150,
267 f., 281 f., 289, 291
152, 156, 158, 161, 168, 170, 172, 175 f., 179,
Rosenberg, Alfred 45, 140, 149, 178, 203,
182 f., 192, 202 f., 210, 219, 224, 252, 257,
205, 211, 218, 293
259, 263 f., 268, 271 – 274, 276 – 278, 282,
Rothermere, Harold Harmsworth,
289 – 291, 295
1. Viscount 30 Roubíčková, Eva 210
Stangl, Franz 228, 231
Różycki, Stanisław 200
Stauffenberg, Claus Schenk Graf von
Rudner, Berthold 214
261 f.
Rumkowski, Mordechai Chaim 221, 259
Stieff, Hellmuth 87 f., 113, 122, 153, 162,
Rundstedt, Gerd von 83, 113, 151, 260, 284
166, 172, 182, 186, 213 – 215, 262
Ryszanek, Władysław 63
Stroop, Jürgen 248 Stülpnagel, Carl-Heinrich von 174
Sakakini, Khalil 175
Stülpnagel, Otto von 120, 174
Sakowicz, Kazimierz 202
Sulzenbacher (Kriegspfarrer) 141
Sauckel, Fritz 168 f.
Svoboda, Martha 85, 107
Scherschel, Frank 256 Schmid, Anton 240
Terboven, Josef 109, 243
Schmidt, Gustav 75, 181, 187 f., 259, 264
Thomas, Georg 139 f.
Schmitz, Rudolf 185
Thomas, Max 218
Schostakowitsch, Dmitri 135 f., 150, 156,
Tiso, Jozef 57, 59 f., 241
195
Tito, Josip Broz 172
Schramm, Wilhelm Ritter von 84
Todt, Fritz 162, 168
Schücking, Annette 209
Töpperwien, August 297
Schukow, Georgi 291
Tresckow, Henning von 182, 261
Schuschnigg, Kurt 41 f., 44
Trimborn, Curt 233
Schwede-Coburg, Franz 101
Turner, Harald 210
Schwerin von Krosigk, Johann Ludwig Graf 69
Ulex, Wilhelm 79, 88
Sedula, Johanna 253 Seduls, Peteris-Roberts 253, 296
Veigel, Johannes 180
Senkel, Wernfried 179
Vinke, Gerrit 241
Seyß-Inquart, Arthur 41 f., 44, 90, 117, 220
Vittorio Emanuele III. (König von
Sikorski, Władysław 83
Italien) 189
335
Personenregister Wagner, Eduard 78, 143, 155, 181
Wilson, Hugh R. 45
Wagner, Richard 180
Wilson, Woodrow 28
Wagner, Robert 121
Wirth, Christian 216 f., 250
Weichs, Maximilian von 81 Weiss, Franz-Rudolf von 191
Yerushalmi, Eliezer 200
Weizsäcker, Ernst von 39, 50, 129 Wells, H. G. 36
Zahle, Herluf 34, 46
Werner, Bruno E. 133
Zeitschel, Carltheo 204
Wiener, Reinhard 197
Zeitzler, Kurt 177, 179
Wilhelmina (Königin der Niederlande)
Zelkowicz, Józef 229
110 Wilke, Artur 234
Zimmermann, Magdalena 188 Zurlinden, Hans 183, 186 f., 194, 275
Zum Buch «Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg», verkündete Hermann Göring im Oktober 1942 im Berliner Sportpalast. In den Worten des «Reichsmarschalls» spiegelte sich der Wille des NS-Regimes, die Vernichtung der europäischen Juden rücksichtslos voranzutreiben, notfalls bis zum eigenen Untergang. Birthe Kundrus legt eine moderne Gewaltgeschichte des nationalsozialistischen Expansionsstrebens vor und zeichnet nach, wie das Regime im Verlauf des Zweiten Weltkriegs alle zivilisatorischen Brücken hinter sich abbrach. Wieder Weltmacht sein, «Lebensraum» im Osten erobern, die „minderwertigen“ Rassen aushungern und die Juden ein für alle Mal aus Europa «verschwinden» zu lassen: Diese ebenso hypertrophen wie gewaltverliebten Zielvorstellungen waren, wie Birthe Kundrus zeigt, die Antriebskräfte hinter der Kriegspolitik des Dritten Reichs. Die anfänglichen Erfolge in Polen, Frankreich, in Nord- und Südosteuropa versetzten die Deutschen regelrecht in einen Siegesrausch. Spätestens aber der Überfall auf die Sowjetunion sollte die militärischen Kräfte überdehnen, und am Ende schlug die entfesselte Gewalt auf die Deutschen zurück. Die Deutschen und der Nationalsozialismus Die sieben Bände der von Norbert Frei herausgegebenen Reihe bieten eine Erfahrungsgeschichte der deutschen Gesellschaft im Dritten Reich. Sie erzählen die Geschichte dieser Jahre neu: nah an den Menschen und in einer Sprache, die die Lebensrealität unter dem Hakenkreuz begreiflich macht – für die Zeit nach der Zeitgenossenschaft. Bald schon werden keine Menschen mehr unter uns sein, die aus eigener Erfahrung über die Zeit des Nationalsozialismus sprechen können. Deshalb muss, wenn unser Bild von dieser Epoche nicht in leeren Formeln erstarren soll – das Dritte Reich als Inbegriff des Bösen, aber unserer Gegenwart scheinbar ganz entrückt –, die Lebensrealität dieser Jahre neu erzählt werden. Sonst bleibt unverständlich, warum sich so viele Deutsche für das Regime begeisterten und sich mit ihm identifizierten. Wie erlebten die Deutschen Hitlers Herrschaft, und wie veränderten sie sich in den zwölf Jahren der Diktatur? Warum war das Dritte Reich für viele so attraktiv? Und schließlich: Welche politischen, moralischen und sozial- psychischen Folgen hatte dies über das Jahr 1945 hinaus?
Über die Autorin Birthe Kundrus ist Professorin für Sozial und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Hamburg.