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German Pages [329] Year 2018
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit
Philosophische Reflexionen zur Kulturanthropologie und zur Interkulturellen Philosophie
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813638
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B
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit
VERLAG KARL ALBER
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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit Philosophische Reflexionen zur Kulturanthropologie und zur Interkulturellen Philosophie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik The diversity of cultures and the responsibility for the one humanity Philosophical reflections on cultural anthropology and intercultural philosophy This volume brings together a thematically concentrated selection of works on the basic theoretical framework of the author on cultural anthropology and intercultural philosophy, which appeared between 1966 and 2016. All of these are based upon the same assumption, that the diversity of cultures does not only represent the richness of the human development but also represents an indispensable prerequisite for the humane development of humanity. The first part of the volume discusses the two main tasks of cultural anthropology: (1) understanding each individual culture from its own objectivations, and (2) the reconstruction of the history of cultural development of humankind. The second part discusses the task of intercultural philosophy to contribute to the communication between cultures and religions. Philosophy is not limited to basic theoretical reflections on the possibilities and limitations of cultural anthropology, but has to question itself on how it can actively engage with intercultural discourse. The volume is concluded by an appendix on the scientific debate (Wissenschaftsstreit) on the unity of the human race between Georg Forster and Immanuel Kant, partly also Johann Gottfried Herder, which ignited mainly in consideration of the ethical consequences; a debate which remains highly relevant until today. The Author: Professor Dr Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, born in 1939, studied philosophy and ethnology at Vienna University, completed his PhD on Meaning and Existence of Shelling’s later Work on Philosophy (Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings). He habilitated in 1970 at Bonn University with his work on Richard Hönigswald’s Philosophy of Pedagogy (Richard Hönigswalds Philosophie der Pädagogik) and taught philosophy at Kassel University between 1971 and 2007.
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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit Philosophische Reflexionen zur Kulturanthropologie und zur Interkulturellen Philosophie Der vorliegende Band versammelt thematisch gebündelt eine Auswahl der grundlagentheoretischen Arbeiten des Autors zur Kulturanthropologie und zur Interkulturellen Philosophie, die zwischen 1966 bis 2016 erschienen sind. Ihnen allen liegt die These zugrunde, dass die Vielheit der Kulturen nicht nur den Reichtum der menschheitlichen Entwicklung repräsentiert, sondern auch eine unentbehrliche Voraussetzung für die humane Weiterbildung der Menschheit darstellt. Der erste Teil des Bandes diskutiert die beiden Hauptaufgaben der Kulturanthropologie: (1) das Verstehen jeder einzelnen Kultur aus ihren je eigenen Objektivationen und (2) die Rekonstruktion der kulturellen Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Der zweite Teil thematisiert die Aufgabe der Interkulturellen Philosophie, zur Verständigung zwischen den Kulturen und Religionen beizutragen. Die Philosophie bleibt hier nicht nur auf eine grundlagentheoretische Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen der Kulturanthropologie beschränkt, sondern hat sich nun selbst zu befragen, inwiefern sie sich aktiv in den interkulturellen Diskurs einzubringen vermag. Den Band beschließt ein Anhang zum Wissenschaftsstreit über die Einheit des Menschengeschlechts zwischen Georg Forster und Immanuel Kant, in den teilweise auch Johann Gottfried Herder einbezogen war, der sich vor allem an den ethischen Konsequenzen entzündete und der heute noch von bleibender Aktualität ist. Der Autor: Professor Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, geb. 1939, studierte an der Universität Wien Philosophie und Ethnologie, wurde 1963 mit der Dissertation Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings promoviert, habilitierte sich 1970 an der Universität Bonn mit einer Arbeit über Richard Hönigswalds Philosophie der Pädagogik und lehrte von 1971 bis 2007 Philosophie an der Universität Kassel.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Sydney Parkinson, Porträt eines Maori, 1769 (links); Allan Ramsey, Jean-Jacques Rousseau, 1766 (rechts) Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48927-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81363-8
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Inhalt
Vorwort Die Vielfalt der Kulturen der einen Menschheit, für die wir verantwortlich sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Philosophische Überlegungen zur Ethnologie als einer Wissenschaft der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Methodologische Vorklärungen zu den Grundlagen der Völkerkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
Überblickgebende Erörterungen zum Stand der Kulturanthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Das Verstehen fremder Kulturen und die Entwicklung menschlicher Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
Strukturale Ethnologie und geschichtsmaterialistische Kulturanthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
Kultur – symbolische oder praktische Vernunft? Eine Verteidigung von Karl Marx gegen Marshall Sahlins . .
173
Interkulturelle Philosophie 7. 8. 9.
Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
Verstehen, Anerkennen und Verständigung. Eine methodologische Vorklärung . . . . . . . . . . . . .
210
Ethnologie, Xenologie und Interkulturelle Philosophie. Versuch einer Klärung ihrer Verhältnisse . . . . . . . . .
223 7
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Inhalt
10. Aspekte der Interkulturellen Philosophie. Ein Tagungsbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
11. Ethik – ein Menschheitsprojekt . . . . . . . . . . . . . .
254
Anhang Ein Wissenschaftsstreit zwischen Gleichgesinnten . . . 273 12. Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts. Gedanken zu Forster, Herder und Kant . . . . . . . . . . Personenregister
275
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
305
Meinem Sohn Dr. Robin Schmied-Kowarzik gewidmet, der sich über sein Studium der Politik-, Rechtswissenschaft und Ethnologie mit den konkreten Fragen des Schutzes ethnischer Minderheiten und mit der Integration ausgegrenzter Menschen befasst.
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Vorwort Die Vielfalt der Kulturen der einen Menschheit, für die wir verantwortlich sind
In einer Zeit, in der große Wanderungsbewegungen die Welt durchziehen auf der Flucht vor Kriegen und dem erneuten Aufbrechen von Nationalismen und xenophobischen Exzessen, einer Zeit, in der durch die fortschreitende wertbestimmte ökonomische Expansion in ungeahntem Ausmaß kulturelle Lebenszusammenhänge und natürliche Lebensgrundlagen vernichtet werden, einer Zeit also, in der Errungenschaften menschlicher Zivilisation sich gegen diese selbst zu richten beginnen, ist die Frage nach einer humanen Perspektive menschlichen Zusammenlebens zu einer der zentralsten Fragen der Erhaltung der Menschheit überhaupt geworden. Damit stellt sich auch die Frage neu, welche Bedeutung der Vielfalt der Kulturen für die eine Menschheit zukommt. Haben wir früher die Vielfalt der Kulturen nur als Zeugnis für den Reichtum menschlicher Ausdrucksformen angesehen, so beginnen wir sie inzwischen angesichts der fortschreitenden kulturzerstörenden Globalisierung auch als Potenz für einen humanen Fortbestand der Menschheit zu erkennen. Unter wertbestimmten ökonomischen Gesichtspunkten ist die Vielfalt der Kulturen mit ihren Eigenheiten und nationalen Grenzen nur ein hemmendes Hindernis für den globalen Fortschritt des wertbestimmten Wirtschaftswachstums. Aus dieser Sicht wäre es ideal, wenn sich die Menschen nur in einer Sprache verständigen würden und als Konsumenten und als Arbeitskräfte eine einzige globale Zivilisationsgemeinschaft bildeten, die allenfalls in ihrer Privatsphäre ihre kulturellen Eigenheiten und religiösen Vorstellungen praktizieren dürfen. Entgegen dieser funktional-rationalen Reduzierung der Menschen zu Anhängseln einer wertbestimmten Ökonomie, müssen wir die Vielfalt der Kulturen vielmehr ins Zentrum unserer Betrachtungen rücken. Es gibt nur eine Menschheit, ihr gehören wir an, für sie sind wir verantwortlich. Aber diese eine Menschheit wird nur dann menschlich vorankommen können, wenn sie die Vielfalt der Kulturen nicht unterdrückt und verdrängt, sondern wenn es ihr gelingt, die 11 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Vorwort
Kulturen in einen fruchtbaren Austausch zu bringen. Dazu müssen die Mitglieder der verschiedenen Kulturen sich wechselweise verstehen, sich gegenseitig anerkennen und sich gemeinsam verständigen lernen. Die Menschheit ist ein Projekt, das die Menschen allein auf sich gestellt, mit sich selbst zu vollbringen haben. Damit wird den Menschen keineswegs eine willkürliche Selbstherrlichkeit zugesprochen, vielmehr sind sie sowohl in die Natur einbezogene Naturwesen als auch aufeinander angewiesene Vernunftwesen, die ihre menschlichen Potentiale nur schrittweise in kulturellen Gemeinschaften zu entbergen und zu verwirklichen vermögen. Gerade deshalb sind die Menschen auf die Kreativität aller kultureller Gemeinschaften und deren Kommunikation untereinander angewiesen. Der vorliegende Band versammelt überarbeitet und thematisch gebündelt eine Auswahl meiner kulturanthropologischen, interkulturellen und kulturphilosophischen Abhandlungen und Vorträge, die zwischen 1966 und 2016 entstanden sind und größtenteils verstreut in Zeitschriften und Sammelbänden erschienen sind bzw. hier erstmals veröffentlicht werden. Ihnen allen liegt die These zugrunde, dass die Vielheit der Kulturen nicht nur den Reichtum der menschheitlichen Entwicklung repräsentiert, den es zu erhalten gilt, sondern auch eine unentbehrliche Voraussetzung darstellt für die humane Weiterbildung der Menschheit. Unter »Erhalten« ist dabei kein Konservieren eines bestehenden kulturellen Zustandes – weder einzelner Kulturen noch der gegenwärtigen Zivilisation – gemeint, sondern, was es zu bewahren gilt, ist die kommunikative Interaktion unter den Kulturen, bezogen auf das Überleben der Menschheit, und hierfür sind die Mitsprachepotentiale aller Kulturen gefragt. Der Band gliedert sich in zwei Teile und einen Anhang zur Kontroverse zwischen Kant und Forster über die Einheit des Menschengeschlechts und der daraus erwachsenden ethischen Verantwortung. Der erste Teil versucht, die Kulturanthropologie als eine Wissenschaft der Kulturen stark zu machen. Als ich 1960 diese Disziplin an der Universität Wien neben der Philosophie zu meinem zweiten Hauptfach wählte, hieß sie noch Völkerkunde und befasste sich ausschließlich mit den damals noch zahlreichen »schriftlosen Völkern«, heute hat sich unter anglo-amerikanischem Einfluss an vielen deutschsprachigen Universitäten – und so auch in Wien – die Bezeichnung Kultur- und Sozialanthropologie durchgesetzt, und sie befasst sich zwar auch immer noch mit den wenigen noch existierenden 12 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Vorwort
»schriftlosen Völkern«, aber auch mit Stammes- und Dorfkulturen der vielen neugegründeten Staaten rund um den Globus. Die angelsächsische Social Anthropology bzw. die amerikanische Cultural Anthropology sind demgegenüber wesentlich weiter auf alle Kulturen bezogen, dabei ist aber zu beachten, dass beide Bezeichnungen zugleich für ganz bestimmte Schulrichtungen mit unterschiedlichen Forschungsprofilen stehen. Im französischen Sprachraum wird dagegen meist von Ethnologie gesprochen, wenn es um die Vielheit der Kulturen geht, und von Anthropologie, wenn die Einheit des Kulturellen angesprochen wird. Während jedoch in der französischen Diskussion beide Fragestellungen eng aufeinander bezogen sind, bildete sich in Deutschland eine weitgehend von der Ethnologie losgelöste Philosophische Anthropologie heraus, die sich rein als philosophische Disziplin verstand. Im Hinblick auf all diese Differenzierung werden wir zwar die Disziplinbezeichnungen Ethnologie und Kulturanthropologie weitgehend gleichwertig benutzen, verstehen aber, da wir keine ethnologischen Einzelstudien vorlegen, unsere eigenen grundlagentheoretischen Reflexionen eher als einen kulturanthropologischen Beitrag, der jedoch eng auf die ethnologische Forschung rückbezogen wird. Der Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen kommen – wie schon im Einleitungsbeitrag angesprochen – zwei große Aufgaben zu: (1) das Verstehen jeder einzelnen Kultur aus ihren je eigenen Objektivationen – den Arbeitsprozessen ihrer Lebenserhaltung, den sozialen Institutionen zur Sicherung ihres generativen Fortbestandes sowie ihren Sinndeutungen des Weltzusammenhangs, in den sie gestellt sind – und (2) der Versuch, aus diesem ethnographischen Material eine uns mitumfassende Entwicklungsgeschichte der menschheitlichen Kultur herauszuarbeiten. Sowohl das Verstehen einer fremden Kultur als auch die Deutung der menschlichen Entwicklungsgeschichte lassen keine erklärenden und objektivierenden Forschungsmethoden zu, denn immer muss der Kulturanthropologe als verstehendes Subjekt und als selbst an der menschheitlichen Kulturentwicklung Teilhabender sich selbst mit zu reflektieren versuchen. Dies wird in den beiden ältesten methodologischen Beiträgen kurz und überblicksgebend skizziert, um danach in den beiden systematischen Grundlegungen »Das Verstehen fremder Kulturen und die Entwicklung menschlicher Kultur« und »Strukturale und geschichtsmaterialistische Kulturtheorie« ausführlich erörtert und dargelegt zu werden. In der abschließenden Auseinandersetzung mit dem ame13 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Vorwort
rikanischen Ethnologen Marshall Sahlins soll nochmals unterstrichen werden, dass die Kulturanthropologie, wie alle anderen Humanwissenschaften auch, im letzten der praktischen Vernunft – im Sinne von Kant – verpflichtet ist, d. h. dass ihr verstehendes Wissen von fremden Kulturen und von der kulturellen Entwicklungsgeschichte kein Wissen um des Wissens willen ist, sondern dem sittlich-praktischen Selbstverständnis des Menschen dient. Dies führt uns auch schon zum zweiten Themenkreis: der Interkulturellen Philosophie und deren Auftrag, zur Verständigung zwischen den Kulturen und Religionen beizutragen. Bleibt die Philosophie in der ersten Gruppe der Beiträge mit ihrer grundlagentheoretischen Reflexion der Kulturanthropologie gleichsam nur im Hintergrund tätig, so muss sie sich nun nicht nur ihrer kulturellen Selbstreflexion bewusst werden, sondern sich auch aktiv in den interkulturellen Diskurs einbringen. Dieses Bekenntnis der Philosophie zu ihrer interkulturellen Vermittlungsaufgabe wird vor allem im ersten Beitrag »Das interkulturelle Selbstverständnis der Philosophie« dargelegt. Danach folgen Klärungen der methodischen Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens, der Anerkennung und der Verständigung sowie darauf bezogen Differenzierungen der Aufgaben der verstehenden Disziplin der Ethnologie, des politischen Anliegens der Xenologie und der praxisphilosophischen Aufgabenstellung der Verständigung. Abschließend wird dem noch ein Beitrag zum Selbstverständnis der philosophischen Ethik angefügt, der keine umfassende Grundlegung der Ethik zu geben versucht, sondern aufzeigen will, dass das Gewissen und das Sittengesetz in ihrer wechselseitigen Bezogenheit die unabdingbaren Instanzen der sittlichen Bestimmtheit darstellen, aber in ihrer Konkretion und Festigung von sittlichen Ansprüchen auf eine beständig sich kulturell erneuernde pädagogische und politisch-soziale Praxis der Kommunikation angewiesen bleiben. Wie eine solche Aufklärungsarbeit aus der sittlichen Praxis für die sittliche Praxis angelegt werden kann, wird an Schleiermachers dialektisch-heuristischer Praxisanalyse verdeutlicht. Allerdings kann eine solche Praxisanalyse immer nur an eine positiv vorgängige sittliche Praxis anknüpfen. Doch kann die gesellschaftliche Praxis auch strukturell korrumpiert sein, sodass sie durch die bloße Aufklärung der handelnden Individuen nicht überwunden werden kann, da diese Verkehrung gesellschaftlicher Verhältnisse der politisch-ökonomischen Praxis insgesamt zugrunde liegt. Um diese Verkehrung zu überwin14 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Vorwort
den, bedarf es einer kritischen Aufklärung und eines solidarischen Widerstands der Betroffenen, wie dies Karl Marx aufgezeigt hat. Ziel einer solchen revolutionären Umwendung ist eine alle Kulturen und Menschen einbeziehende sittliche Praxis, um deren menschheitliche Verwirklichung wir alle gemeinsam zu ringen haben. Doch auch dann wird es keine normative Ethik in dem Sinne geben, dass inhaltliche Handlungsanweisungen für alle Kulturen und alle Zeiten festgelegt werden können, denn eine solche würde die sittliche Selbstbestimmung der Menschen verunmöglichen. Vielmehr stellen sowohl die Bildung des Gewissens als auch die kulturspezifische Ausformung des Sittengesetzes individual- bzw. kulturgeschichtliche Entbergungsprozesse dar, die jeweils anknüpfend an vorausgehende sittliche Ansprüche in kommunikativer Praxis zu neuen sittlichen Einsichten und Überzeugungen fortgeführt werden können. Keine gegenwärtige Kultur kann den Anspruch erheben, absoluter sittlicher Richter über die anderen sein zu können. Dies ist kein Plädoyer für einen Kulturrelativismus, sondern eine Aufforderung, den interkulturellen Diskurs auch in sittlichen Belangen verstärkt zu führen – hierfür kommt der praktischen Philosophie eine aktiv vermittelnde Rolle zu. Den Band beschließt ein Anhang, der einen Wissenschaftsstreit zwischen Georg Forster und Immanuel Kant aus dem Ende des 18. Jahrhunderts aufgreift, in den teilweise auch Johann Gottfried Herder einbezogen war. Während der nie über Königsberg hinausgekommene Philosoph Kant aufgrund seines modernen genetischen Naturverständnisses zwar drei bzw. vier verschiedene Menschenrassen unterscheidet, aber konsequent unterstreicht, dass sie alle aus einem Ursprung stammend der einen Menschheit angehören, hält der Weltumsegler und Naturforscher Forster, der vorausgehenden Naturauffassung verpflichtet, eine mehrfache autochthone Entstehung der Menschen für möglich, betont aber entschieden, dass daraus keine Überlegenheit des einen Menschenstammes über den anderen gerechtfertigt sei. Der eigentliche Streit dreht sich jedoch um die ethischen Konsequenzen, die aus der unterschiedlichen Einschätzung der Naturgeschichte zu ziehen sind, und hierin stimmen Kant, Forster und auch Herder durchaus miteinander überein, ohne dass sie das so recht bemerken. Gerade im Hinblick auf diese gemeinsame ethische Perspektive kommt dem wissenschaftlichen Streit um die Einheit des Menschengeschlechts eine auf unsere heutige Diskussion durchaus übertragbare bleibende Bedeutung zu. 15 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen
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1. Philosophische Überlegungen zur Ethnologie als einer Wissenschaft der Kulturen 1
Vorbemerkungen Alle Wissenschaften sind einst aus der Philosophie hervorgegangen. Einige behalten ihre Herkunft in Erinnerung und pflegen auch heute noch fruchtbare Austauschbeziehungen zu ihr. Andere sind stolz auf ihre Abnabelung und haben zur Philosophie jeglichen Kontakt abgebrochen. Sie bemerken jedoch nicht, dass sie damit auch das freie, kritische Denken aus sich verbannt haben. Sie erfüllen in methodologischer Gewissenhaftigkeit ihre alltagspragmatischen Aufgabenstellungen, sammeln Daten, berechnen Korrelationen und stellen Resultate zur Verfügung. Darüber nachzudenken, was sie da sammeln, was sie mit ihren Berechnungen tun und was aus ihren Resultaten wird, verbieten sie sich, weil es sich dabei um »unwissenschaftliche«, sie übersteigende Fragestellungen handelt. Sie begnügen sich mit dem Glauben an die Objektivität ihres Wissens. Ein Zweifel, ob das Wissen ihres Wissens überhaupt objektiv sein könne, ist ihnen noch nie gekommen. Hat je schon ein Physiker darüber einen Gedanken verloren, dass die Aussagen seines Physikbuchs, in denen die ganze Welt in ihrer physikalischen Objektivität dargelegt werden soll, selber in dieser physikalischen Welt gar nicht vorkommen? Dämmerte ihm diese Einsicht, so könnte dies ihn beunruhigen und aufschrecken. Er würde dann vielleicht sogar ins Grübeln geraten, wo er denn selber geblieben sei: doch wohl weder in den Aussagen des Physikbuches noch in der ausgesagten physikalischen Welt. So in ein philosophierendes Sinnen geraten, würde er erschauernd entdecken, dass sein ganzes physikalisches Weltgebäude mit seinen reinen Objektivitäten auf
Eine stark gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien unter dem Titel »Vom Verstehen fremder Kulturen. Philosophische Reflexionen zur Ethnologie als Kulturwissenschaft«, in: Georg-Forster-Studien II (1998), Berlin (Berlin Verlag) 1998: 1 ff.
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Überlegungen zur Ethnologie als einer Wissenschaft der Kulturen
einem Abgrund ruht – wie im indischen Mythos die Schildkröte, auf der der Elefant steht, der auf seinem Rücken die Welt trägt. Alle Wissenschaften untersuchen mit den von ihnen hierfür entwickelten Methoden einen bestimmten Gegenstandsbereich. Über die Geschichte der Wissenschaftsentstehung und die Systematik der Wissenschaftsgliederung ganz generell nachzudenken, ist hier nicht der Ort. Es genügt darauf hinzuweisen, dass das Bild von der Wissenschaft, die mit stetig verfeinerten Methoden ein von Anfang an klar umrissenes Gegenstandsfeld erforscht, selbst im Bereich der Naturwissenschaften ein Trugbild ist, das meist auch nur in den Lehrbüchern für Schüler, Studierende und Wissenschaftsanwender auftaucht. Die Gegenstandsfelder der Wissenschaften variieren beständig, verengen sich unter dem allzu mächtig werdenden Einfluss einer standardisierten Erhebungsmethode, die nur gelten lassen will, was sie zu erfassen vermag, und erweitert sich wieder unter der Dominanz überraschender Fragestellungen. An ihren Grenzen entbrennen Gebietsstreitigkeiten mit benachbarten Disziplinen, die sich bis zu strategisch vorgetragenen Eroberungszügen ausweiten können. Manchmal auch greifen wissenschaftliche Ideologien inhaltlicher oder formaler Art gleich Epidemien über ganze Wissenschaftszweige aus, bis sie dann irgendwann an Selbstauszehrung absterben; sie hinterlassen geschwächte Disziplinen, deren eigenständige Kräfte sich nur sehr langsam regenerieren. Es spricht keineswegs gegen die Vitalität und Wissenschaftlichkeit einer Disziplin, wenn sie an den Grenzen bestimmter Sprachund Kulturräume haltmacht, solange sie mit Neugier und Interesse auch über die Grenzen zu schauen vermag. Es ist ja auch keineswegs so, dass jenseits der Grenzen ihr Gegenstandsfeld unbearbeitet brachliegt, sondern dort herrscht nur eine andere Wissenschaftssystematik mit einer andersartigen Gebietsverteilung. Aus solchen sprach- und kulturbedingten Variationen von Wissenschaftsgliederungen sollten keineswegs voreilig Angleichungs- und Vereinheitlichungstendenzen hergeleitet werden. Wohl aber sollten sie interessiert beobachtet und gründlich bedacht bleiben und als Anregungen zu Differenzierungen des eigenen Ansatzes genutzt werden. Völkerkunde, Ethnographie, Ethnologie, Sozialanthropologie, Kulturanthropologie, Wissenschaft vom Menschen, Wissenschaft von den Kulturen, Kulturwissenschaft, Kulturgeschichte, Kulturphilosophie – dies alles sind keineswegs nur verschiedene Namen für ein und denselben Gegenstand und ein und dieselbe Disziplin, sondern 20 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Vorbemerkungen
sie lassen, zumal wenn wir den kulturellen Raum und die geschichtliche Zeit ihrer Verwendung berücksichtigen, ganz Unterschiedliches über ihre jeweilige Gegenstandsbegrenzung und ihren Methodeneinsatz im Kontext differenter Wissenschaftssystematiken erkennen. 2 Ethnographie beispielsweise bezeichnet im russischen Sprach- und Wissenschaftsraum die historisch orientierte Gesamtdisziplin der Völkerkunde, im deutschsprachigen Raum werden darunter meist die Verfahren der Datenerhebung in der Feldforschung verstanden und im anglo-amerikanischen Sprachraum meint diese Bezeichnung zunehmend die literarische Form der Darstellung ethnologischer Texte. Cultural Anthropology dagegen tritt im nordamerikanischen Kulturbereich – anders als im britischen Commonwealth, wo der Begriff Social Anthropology dominiert – als Gesamtbezeichnung einer integrativen Disziplinenvielfalt auf, die unter psychologischen, soziologischen, historischen Themenstellungen fremde Kulturen untersucht. Demgegenüber kommt im deutschen Sprachraum der Begriff Kulturanthropologie vornehmlich im Kontext der Philosophischen Anthropologie vor, einer philosophischen Schulrichtung, die sich nur hier ausgebildet hat und die sich um eine philosophische Durchdringung des Wissens vom Menschen – von der Humanbiologie bis zur Kulturgeschichte – bemüht. Damit soll keineswegs einem totalen Relativismus im Bereich kulturanthropologischer Disziplinbegrenzungen das Wort geredet werden. Vielmehr zeigt sich im Gegenteil, dass die kulturellen und geschichtlichen Differenzen in der Wissenschaftsbegrenzung sehr wohl gegenseitig wahrgenommen und eingeschätzt werden können, und dass sie gerade deshalb anregend aufeinander zu wirken vermögen, da sie um diese Differenzen wissen. Keineswegs kommt es in diesem Wissenschaftsbereich darauf an, dass alle Forscher möglichst mit einer wissenschaftlich standardisierten Einheitsmethodologie ein objektiv klar umgrenztes Gegenstandsfeld vermessen. Eine solche Vereinheitlichungstendenz ist nicht nur dem Gegenstand und der Methode einer Kulturanthropologie unwürdig, sondern liefert obendrein ein allenfalls nur kurzfristig sozialtechnisch brauchbares Datenmaterial, das von anderen Forschern mit anderen Fragestellungen und in anderen Kontexten nicht mehr nachvollziehbar und verwendbar ist. Siehe Walter Hirschberg (Hg.), Wörterbuch der Völkerkunde (1999). Vgl. Carl A. Schmitz (Hg.), Kultur (1963).
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Überlegungen zur Ethnologie als einer Wissenschaft der Kulturen
Die starken Behauptungen dieser Aussagen verdienen eine Aufklärung, die allerdings hier nur skizzenhaft aus dem Wechselbezug von Gegenstandsbereich und methodischer Fragestellung philosophisch reflektiert und umrissen werden kann.
1.
Eine erste Annäherung an die Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen
Die Ethnologie stellt sicherlich das Rückgrat einer Wissenschaft der Kulturen dar, aber sie ist keineswegs die einzige kulturwissenschaftliche Disziplin. Einst war sie mit dem Anspruch angetreten, alle Völkerschaften in ihrer jeweiligen kulturellen Besonderheit zu erfassen und damit etwas über die kulturelle Entwicklung der Menschheit aussagen zu können, wie dies wohl immer noch am eindrucksvollsten und überzeugendsten Johann Gottfried Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) 3 vorentworfen hat. Doch konkret war ihr Forschungsfeld von Anbeginn an auf die archaischen Kulturen, die Stammesgesellschaften, die schriftlosen Völker eingegrenzt. Hier auf diese kleinen, überschaubaren Völkerschaften bezogen, hat die Ethnologie ihre besondere Methode des Verstehens und Deutens fremder Kulturen ausgebildet. Zum weiteren Feld der Wissenschaften der Kulturen gehört die Ur- und Frühgeschichte, die zwar in ihren archäologischen Grabungsund Rekonstruktionsmethoden gänzlich von der Ethnologie divergiert, aber in der kulturanthropologischen Interpretation ihrer Funde in enger Kooperation mit der Ethnologie steht. 4 Klassische Wissenschaften der Kulturen sind auch die auf die frühen Hochkulturen bezogenen Disziplinen der Ägyptologie, Altorientalistik, Altindologie, Altsinologie oder Altamerikanistik. Mit der Entzifferung der ersten Schrifttexte dieser Kulturen steht hier neben der Archäologie ein völlig anders geartetes, sich selbst explizierendes und interpretierendes Datenmaterial zur Erforschung an. Der große Aufwand des Erlernens der Sprachen dieser ersten Staaten und Reiche sowie der Reichtum und die Komplexität der aus den Funden zu rekonstruierenden GeHinweise auf Buchtitel erfolgen mit Angabe des Ersterscheinungsjahres, bei wörtlichen Zitaten folgt darauf die Jahreszahl der zitierten Ausgabe; alle genaueren Quellenangaben finden sich sodann im Literaturverzeichnis. 4 Herbert Melichar, Aspekte der Urgeschichte Japans (1970). 3
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Eine erste Annäherung an die Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen
samtkultur – von den Tempel- und Stadtanlagen über Feldbau und Sozialstruktur bis hin zu Geschichte und Religion – führen bedauerlicherweise zur Isolierung der sie erforschenden Disziplinen gegeneinander und zur Abgrenzung von der Ethnologie. Ähnlich um eine Sprache zentriert ist die Erforschung der gegenwärtigen Kulturen – wie die Arabistik, Tibetologie, Sinologie oder Japanologie –, wobei es hier mehr um das Verstehen ihrer jeweiligen Selbstdeutungen in Literatur und Geschichte geht. Obendrein rückt dabei – je mehr es sich um mächtige Großstaaten handelt – das pure Erlernen der Sprache als politisches und ökonomisches Verständigungsmittel in den Vordergrund. Vollends tritt das kulturwissenschaftliche Verstehen der fremden Kultur als ein Aspekt unter vielen zurück, wo es um die Auseinandersetzung mit geschichtlich eng verwandten Kulturen geht. Auch hier wird der Zugang primär über die Sprache – Romanistik, Anglistik, Slawistik – erschlossen, vielleicht noch etwas mit Geschichtskunde, Soziologie, Ökonomie und Staatskunde unterfüttert. Allenfalls wird die Kultur dabei als eine Dimension neben anderen wahrgenommen und meint nun den Bereich von Kunst, Theater, geselligem Verkehr. Auch bei der eigenen Kultur ist nur in dieser eingeschränkten Bedeutung von »Kultur« die Rede. 5 Angesichts dieses Disziplinenwirrwarrs stellt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, von einer Kulturwissenschaft bzw. Wissenschaft der Kulturen zu sprechen. Das Bild verkompliziert sich weiterhin, wenn wir nochmals zur Ethnologie als dem Rückgrat der Wissenschaft der Kulturen zurückkehren und die Besonderheit ihrer Forschungsmethoden näher bedenken. Angetreten, fremde Kulturen je aus ihrem besonderen Lebenszusammenhang zu verstehen, hat die Ethnologie von der Reisebeschreibung 6 über die teilnehmende Beobachtung bis hin zu den subtilen hermeneutisch-phänomenologischen Verfahren (Ethnomethodologie, symbolische Interaktionsforschung, Phänomenologie der Alltagswelten) immer feinere Methoden des Erfassens und Beschreibens fremder Lebenswelten entwickelt. Bei diesem Verstehen geht es darum, das beobachtete Zusammenleben in seinen verschieVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Dirk Stederoth (Hg.), Kultur – Theorien. Annäherungen an die Vielschichtigkeit von Begriff und Phänomen der Kultur (1993). Siehe auch Wolfgang Fritz Haug, Die kulturelle Unterscheidung. Elemente einer Philosophie des Kulturellen (2011): 15 ff. 6 Vgl. Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier. Die Lust des Reisens 1550–1800 (2002). 5
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Überlegungen zur Ethnologie als einer Wissenschaft der Kulturen
denen Dimensionen von Arbeitsverrichtungen, sozialen Beziehungen und Sinndeutungen aus dem ihm eigenen kulturellen Gesamtzusammenhang zu erfassen. Die hierbei gewonnenen hermeneutisch-phänomenologischen Methoden wurden inzwischen erfolgreich von den Nachbarwissenschaften – Soziologie, Geschichtswissenschaft, aber auch Psychologie – übernommen und überall dort eingesetzt, wo es um ein Verstehen kleiner sozialer Gruppen, überschaubarer geschichtlicher Prozesse oder psychosozialer Biographien geht. Man kann geradezu von einer Ethnologisierung der Geschichts-, Gesellschafts- und Humanwissenschaften sprechen. Nicht nur die Volkskunde erlebt hierdurch eine Erneuerung und nennt sich daher heute lieber Europäische Ethnologie 7, sondern von der Geschichte des Alltagslebens über die Subkulturforschung 8 bis hin zum Studium geschlechtsspezifischer Lebensverläufe werden mit ethnologischem Blick zunehmend die lebensweltlichen Mikrobereiche entdeckt und erforscht. Während sich in den Nachbardisziplinen die ethnologischen Forschungsmethoden als Bereicherung zu den eigenen durchsetzen, schreitet dementgegen in der Ethnologie der Verlust des ursprünglichen Forschungsgegenstandes stetig voran. Abgesehen von den immer kleiner werdenden Rückzugsgebieten, in denen noch autochthone Ethnien um ihr von außen bedrohtes Überleben kämpfen, werden immer mehr Stammeskulturen in den rasant und weltweit expandierenden Zivilisationsprozess eingesogen und scheiden so aus dem klassischen Gegenstandsfeld der Ethnologie aus. Jene Völker, die inzwischen zu eigenen Staaten avancieren konnten, wollen nicht länger von der Ethnologie erforscht werden, da sie in ihr – und dies sicherlich nicht ganz zu Unrecht – ein Relikt kolonialer Herrschaft erblicken. Hier tritt die nationale Geschichtsschreibung das Erbe der Ethnologie an. In der überwiegenden Mehrzahl werden jedoch die ehemals von der Ethnologie erforschten Kulturen zu mehr oder weniger gut integrierten Minderheitengruppen moderner Staaten, und als solche werden sie zunehmend in das Forschungsfeld der Soziologie einbezogen. Nun gibt natürlich die Ethnologie die ihr durch langjährige ForVgl. Konrad Köstlin/Herbert Nikitsch (Hg.), Ethnographisches Wissen. Zu einer Kulturtechnik der Moderne (1999). 8 Vgl. Rolf Schwendter, Theorie der Subkultur (1973). Roland Gritler, Randkulturen: Theorie der Unanständigkeit (1995). 7
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Eine erste Annäherung an die Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen
schungen vertrauten Ethnien nicht völlig kampflos auf, vielmehr übernimmt sie ihrerseits Problemstellungen und Untersuchungsmethoden der Soziologie und begleitet somit den Wandlungsprozess der von ihr erforschten Stammeskulturen zu Minderheitenkulturen in modernen Industriestaaten gleichsam mit einem eigenen Anpassungsprozess. In die Erforschung solcher Akkulturationsprozesse und -konflikte bringen die beiden um den Forschungsstand rivalisierenden Disziplinen unterschiedliche Stärken ein; wobei es der Ethnologie besser gelingt, die je besonderen kulturellen Umbrüche und Konflikte herauszuarbeiten, währenddessen die Soziologie stärker die allgemeinen Strukturen des industriell bedingten sozialen Wandels zu analysieren vermag. Zwar ist die gegenwärtige Situation noch keineswegs dramatisch, aber der Trend geht ohne Zweifel dahin, dass die Ethnologie ihr großes Aufgabenfeld verliert. Einerseits werden die größeren Völkerschaften immer mehr darauf drängen, zentriert um ihre Sprache, Geschichte und Volkskunde, die Interpretation ihrer Kultur in ihre eigene nationale Regie zu nehmen; diese Tendenz, die schon seit längerem für viele asiatische Völker gilt, setzt sich inzwischen zusehends auch in der Afrikanistik durch. 9 Andererseits werden in einer globalisierten Industriezivilisation die sozialen Wandlungen, Migrationsprozesse und Konflikte so sehr in das Zentrum der Untersuchungen gerückt, dass die Erforschung kultureller Besonderheiten zwar keineswegs ganz übergangen, wohl aber doch nur als Unterproblem soziologischer Forschung fortgeführt wird. Der Ethnologie bleiben dann immer noch die survivals kultureller Kleinstgruppen, die es in bestimmten Rückzugsgebieten und Reservaten überall auf der Erde noch geben wird. Zwar wäre es nicht tragisch, wenn die Soziologie die Ethnologie ganz in sich integrieren würde, sofern sie deren Aufgabenstellung als umgreifende Kulturanthropologie übernähme. Schließlich hat die Soziologie ursprünglich selber mit kulturwissenschaftlichen Themen begonnen, hat sich beispielsweise in Frankreich nie ganz von der Ethnologie getrennt und kehrt heute auch im deutschen Sprachraum zunehmend wieder zu kultursoziologischen Problemstellungen zurück. Obwohl es durchaus nicht tragisch wäre, wenn es hier zu Veränderungen in der Wissenschaftssystematik käme, so scheint gegenwärtig Vgl. Miklos Szalay, Ethnologie und Geschichte. Zur Grundlegung einer ethnologischen Geschichtsschreibung (1983).
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doch noch die Ethnologie am besten vorbereitet und geeignet zu sein, die beiden großen Aufgaben einer Kulturanthropologie – wie wir sie von Herder her kennen – wahrzunehmen: sowohl die einzelnen Kulturen in ihrer je spezifischen Besonderheit als auch die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Kultur insgesamt zu erforschen. Würde sich die Ethnologie wieder auf diese großen Forschungsleitlinien besinnen, so brauchte sie sich keineswegs allein auf die marginale Rolle des Studiums von Survival-Kulturen begrenzen zu lassen, sondern es fiele ihr – analog zur Allgemeinen Sprachwissenschaft – die ausgreifende Aufgabe zu, in bewusster Kooperation mit allen Einzel-Kulturwissenschaften, die sich immer weiter ausdifferenzieren werden, an dem Problemfeld einer umgreifenden Kulturgeschichte der Menschheit zu arbeiten – natürlich mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen einzelner Forscher und Forschungsinstitute auf bestimmte Epochen und Regionen. Kultur meint in diesem Zusammenhang nicht einen speziellen Teilbereich des menschlichen Zusammenlebens, wie er sich in den modernen Gesellschaften neben der Arbeitswelt und den sozialen Institutionen als eigenes Kulturleben ausdifferenziert hat, sondern das Insgesamt kultureller Hervorbringungen im Laufe der Menschheitsgeschichte. Überhaupt ist es nicht sinnvoll, die kulturellen Ausdifferenzierungen unserer Moderne auf die archaischen Gesellschaften oder andere Kulturtraditionen zu übertragen, sondern es ist vielmehr die Aufgabe einer Wissenschaft der Kulturen, die Ausdifferenzierungen von gegeneinander isolierbaren Bereichen, Techniken und Institutionen in ihrer kulturgeschichtlichen Entwicklung allererst herauszuarbeiten sowie deren Bedeutung für den weiteren kulturellen Entwicklungsprozess aufzuzeigen. So können bei der Erforschung archaischer Kulturen nicht sinnvoller Weise einzelne Phänomenbereiche voneinander isoliert werden, um sie gesondert zu untersuchen, sondern es kommt hier vielmehr darauf an, alle Phänomene – die Lebens- und Arbeitsweisen, die Verwandtschaftsverhältnisse, die Selbst- und Weltdeutungen der Mythen – in ihrer kulturell bestimmten wechselseitigen Durchdringung zu erfassen. Beginnend mit den frühen Hochkulturen kommt es zu immer weiter fortschreitenden Ausdifferenzierungen von relativ gegeneinander abgrenzbaren kulturellen Teilsystemen, die nun auch isoliert voneinander von Spezialdisziplinen erforscht werden können. Doch noch bleibt für uns, besonders wenn es sich um geschichtlich und geographisch weit entfernte Kulturen handelt, die Frage nach 26 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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dem kulturellen Gesamtzusammenhang erhalten. 10 Erst bezogen auf die europäische Geschichte und ganz besonders ab Beginn der Neuzeit verdrängen die Spezialdisziplinen der Ökonomie und Industriegeschichte, der politischen Geschichte und Soziologie, der Wissenschafts-, Kunst- und Religionsgeschichte den auf die Einheit der Kulturgeschichte gerichteten kulturwissenschaftlichen Fragehorizont. Dieser wird – etwas überspitzt gesagt – in die Marginalität touristischer Reiseliteratur abgedrängt. Dies resultiert letztlich aus zwei ganz unterschiedlichen Gründen: Der erste Grund liegt darin, dass die eigene Kultur nicht wie die fremde thematisiert werden kann. Im besten Fall tritt das Eigene, von dem her immer schon die fremde Kultur befragt wird, indirekt aus dem Kontrast zum Fremden ins Bewusstsein. Das Eigene hat, je nachdem was als Fremdes thematisiert wird, unterschiedlich weite oder enge Radien. Ein weiterer Kreis des Eigenen ist die gemeinsame abendländische Geschichte und noch bestimmter die gemeinsame Basis der neuzeitlichen Humanwissenschaften, von der her fremde Völker von den archaischen Stämmen über die städtischen Tempelkulturen bis zu den modernen Großstaaten befragt und erforscht werden können, nicht aber die Völker, die von denselben Fragevoraussetzungen ausgehen. Sollen kulturelle Eigentümlichkeiten benachbarter Völker thematisiert werden, so ist der Kreis des Eigenen enger zu ziehen. Natürlich gibt es auch Fremdes im unmittelbaren Umfeld des Eigenen, die regionale Volkskultur oder die Subkultur von Jugendgruppen, die ethnomethodologisch erforscht werden kann. Aber die jeweils eigene Kultur, von der her man sich der fremden nähert, kann selbst nicht verstehend erschlossen werden. In sie wächst man durch Spracherwerb und lebenspraktischen Umgang, durch mehr oder weniger intensive Aneignung der eigenen Geschichte und Literatur unmittelbarer hinein. Sie kann selbst wiederum nur von außen als fremde Kultur thematisiert und gedeutet werden, wie beispielsweise die europäischen Ethnien von Nordamerika und Japan aus. Der zweite Grund dafür, dass die Gegenwartskultur kaum kulturanthropologisch thematisiert wird, liegt jedoch vor allem darin, dass der dominante ökonomisch bestimmte Industrialisierungsprozess sowohl überall dort, wo er sich durchsetzt und ausbreitet, strukSiehe beispielsweise Jacques Gernet, Die chinesische Welt. Die Geschichte Chinas von den Anfängen bis zur Jetztzeit (1979) sowie Marcel Granet, Das chinesische Denken. Inhalt – Form – Charakter (1963).
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turell gleiche ökonomische, politische, soziale, ökologische Probleme schafft als auch alle übrigen kulturellen Dimensionen zu Randphänomenen abdrängt oder sie ganz zerstört. Verständlicherweise treten daher die systemtheoretischen Disziplinen in den Vordergrund der Gesellschaftsanalyse, da diese die allgemeine Dynamik der vorherrschenden Prozesse und Konflikte zu erklären versuchen. Gleichwohl schlummern unter der Oberfläche der äußerlich gleichen ökonomisch-sozialen Strukturen zu Unrecht vernachlässigte kulturelle Differenzen, die in Konfliktsituationen sogar wieder ausbruchsartig zum Vorschein kommen können. Für die Gegenwartsforschung jedoch noch entscheidender ist es, dass die gesamte wissenschaftlich-technische Zivilisation selbst eine besondere Entwicklungsform der Kulturgeschichte darstellt, die als solche sowohl im Verhältnis zu den vorhergehenden und heute noch sich behauptenden kulturellen Entwicklungsformen analysiert als auch im Hinblick auf die in ihr fortwirkenden widersprüchlichen Tendenzen bedacht zu werden verdient. Wenn von der Kulturgeschichte als dem zweiten Problemfeld der Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen die Rede ist, so ist damit nicht eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft gemeint, die in ihrem Kernbestand nach wie vor politische Ereignisgeschichte ist und bleiben muss, 11 sondern eine struktural-genetische Rekonstruktion kultureller Entwicklung, wie sie bereits von Friedrich Jodl (Die Culturgeschichtsschreibung, ihre Entwickelung und ihre Probleme, 1878) vor rund hundertfünfzig Jahren umrissen wurde. Da sich die Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen bisher nur wenig um dieses Problemfeld bemüht hat, entstanden Ansätze in der Soziologie, vor allem aber in der Geschichtswissenschaft, die sich dieser Aufgabenstellung als Sozial- und Wirtschaftsgeschichte angenommen haben. 12 Auch hier bleibt es letztlich egal, welche Disziplin sich der kulturanthropologischen Aufgabe einer zudem die Gegenwartskultur mit umgreifenden strukturellen Kulturgeschichte annimmt. Nach wie vor spricht jedoch immer noch vieles dafür, dass beide kulturanthropologischen Aufgabenstellungen – das Verstehen fremder Kulturen und das Projekt einer umfassenden Kulturgeschichte – Johann Gustav Droysen, Historik (1868). So insbesondere in der Geschichtswissenschaft die Schule um die Zeitschrift Annales: Marc Bloch, Fernand Braudel, Lucien Febvre u. a., Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse (1949).
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sich wechselseitig durchdringend und befruchtend im Bearbeitungshorizont einer Wissenschaft der Kulturen bleiben sollten. Die Grenzüberschreitungen und Bearbeitungsüberlappungen, die sich dabei immer wieder mit der Soziologie einerseits und der Geschichtswissenschaft andererseits ergeben werden, sollten die Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen nicht abschrecken, sondern sollten von ihr als anregende Herausforderung angenommen werden, diese Doppelaufgabe in Angriff zu nehmen. Im Folgenden seien einige philosophische Erwägungen zum Verstehen und Deuten fremder Kulturen, den ersten der beiden Aufgabenstellungen, vorgelegt. 13
2.
Das Verstehen und Deuten fremder Kulturen
Fremde Kulturen üben für uns heute eine eigentümliche Faszination aus. Die andere Art sich zu kleiden und zu schmücken, die andere Art des Wohnens und der Gestaltung des täglichen Lebens, die Andersartigkeit der Sprache, der Sitten und der Weltdeutungen – dies alles erregt Neugier und Interesse, mehr von fremden Kulturen zu erfahren und diese Kulturen aus ihrer je eigenen Perspektive heraus verstehen zu lernen. Dieses Verstehenwollen fremder Kulturen, das älter ist als die Ethnologie als Wissenschaft, geht konstitutiv in sie ein, bildet sich mit ihr fort und trägt auch heute noch das allgemeine Interesse an dieser Disziplin. Gleichwohl gilt es zu erkennen, dass dieses Verstehenwollen keineswegs eine ursprüngliche und allgemeine Haltung fremden Völkern gegenüber darstellt, sondern selbst etwas kulturgeschichtlich Gewordenes ist. Wo fremde Kulturen sich begegnen, kommt es zunächst zu Abgrenzungen, die bestenfalls eine gleichgültige Toleranz der jeweils anderen gegenüber bedeuten, sich jedoch oft auch bis zur pathologischen Angst um das Eigene oder zur feindseligen Aggressivität gegen alles Fremde steigern können. 14 Es kann hier nicht der Versuch unternommen werden, eine kulturgeschichtliche Genese der Ethnologie zu entwerfen. 15 Vielleicht
Zur zweiten Aufgabenstellung siehe die Beiträge: 4 und 5 in diesem Band. Vgl. Erhard Oeser, Die Angst vor dem Fremden. Die Wurzeln der Xenophobie (2015): 16 ff. 15 Vgl. Justin Stagl, Kulturanthropologie und Gesellschaft. Eine wissenssozilogische Darstellung der Kulturanthropologie und Ethnologie (1974). 13 14
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lassen sich die Voraussetzungen, die konstituierend in das Verstehenwollen fremder Kulturen eingehen, am besten stichpunktartig an Herodot, dem Ahnvater der Ethnographie, verdeutlichen. Herodot schreibt seine Historien – halb Völkerbeschreibungen, halb Geschichtsschreibung – für die Griechen des 5. Jahrhunderts v. u. Z., die gerade, nachdem sie die persische Weltmacht geschlagen haben, zu ihrem eigenen Selbstbewusstsein als Hellenen finden. Die Darstellung des gemeinsamen Krieges der griechischen Stadtstaaten gegen die persische Übermacht dient mit zur eigenen Identitätsfindung als eine Kultur mit einer gemeinsamen Geschichte. Auch die ethnographischen Beschreibungen der andersartigen Lebensgewohnheiten und Sitten der Ägypter und Perser, der Babylonier und Skyten erfüllen sicherlich zunächst die Funktion, aus dem Kontrast zu den Anderen das Gemeinsame der Hellenen ins Bewusstsein zu heben. Trotz all dieser unabstreitbar vorhandenen Motive, zur Festigung der eigenen kulturellen und geschichtlichen Identität der Stämme und Städte Griechenlands beizutragen, ist doch das eigentlich kulturgeschichtlich Neue der Historien, dass Herodot nicht nur beschreibend bei den Kontrasten stehen bleibt, sondern sich verstehend auf die Nachbarvölker und Weltreiche einlässt. Ihm gelingt dies dadurch, dass er nicht nur die andersartigen Sitten und Gebräuche, die er auf seinen Reisen beobachtet und von Informanten zusammengetragen hat, anschaulich schildert, sondern indem er versucht, über Mythos und Geschichte der fremden Völker und Reiche, in deren je eigene kulturelle Identität vorzudringen, um von dort her die andersartigen Sitten und geschichtlichen Handlungsweisen verstehbar zu machen. Diese Haltung, sich verstehend auf das Fremde einzulassen, setzt die Fähigkeit voraus, das Eigene relativieren zu können, ohne es dabei in Frage stellen zu müssen, d. h. anders gesagt, sie setzt eine Festigkeit im Eigenen voraus, die sich doch auch öffnen kann, das Fremde von ihm selbst her zu Wort kommen zu lassen. Durch dieses verstehende Sich-Einlassen auf die Identität und Perspektive anderer Kulturen wird erstmals der Horizont einer menschheitlichen Gemeinschaft von Kulturen gestiftet und antizipiert. Dies alles wird von Herodot noch nicht bewusst reflektiert und herausgearbeitet und doch kommt es in seinen Ausführungen klar zum Ausdruck. So schreibt Herodot bereits im ersten Satz seiner Historien: »Herodotos, ein Bürger von Halikarnassos, hat diese Historien aufgezeichnet, damit bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit gerate, was unter Menschen einst geschehen ist; auch soll das Andenken an 30 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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große und wunderbare Taten nicht erlöschen, die die Hellenen und die Barbaren getan haben, besonders aber soll man die Ursachen wissen, weshalb sie gegeneinander Kriege führten.« (Herodot, Historien: 1) Sicherlich ist die Zeit des 18. Jahrhunderts, in der sich erneut und verstärkt Ansätze der Ethnographie regen, die schließlich zur Konstitution der Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen führen, eine völlig andere. Europa ist seit über zwei Jahrhunderten dabei, alle Kontinente zu erobern und die fremden Völker zu unterwerfen. Sicherlich trifft auch zu, dass sich die Ethnologie im Windschatten der europäischen Kolonialisierung der Welt etabliert. Aber man wird der sich langsam herausbildenden Ethnologie nicht gerecht, wenn man sie mit dem Kolonialismus unmittelbar in einen Topf wirft. Ihre auf das Verstehen fremder Kulturen gerichtete Fragestellung steht in grundlegender Gegnerschaft zum Kolonialismus und Imperialismus. Denn im Verstehen liegt die grundsätzliche Anerkennung der Subjektivität der fremden Kulturen begründet. Der Ethnologie geht es gerade nicht um ein Verfügbarmachen fremder Völker durch ein objektivierendes, instrumentelles Wissen von ihnen, sondern um ein Verstehen ihrer kulturellen Lebens- und Sinnzusammenhänge aus ihrer je eigenen Perspektive heraus. Diese grundsätzlich andere Einstellung zum Fremden schließt jedoch keineswegs aus, dass ethnologisches Wissen instrumentell missbraucht worden ist und weiterhin missbraucht werden kann. Es kann auch nicht geleugnet werden, dass es unter den Ethnologen Kollaborateure mit dem Kolonialismus und Imperialismus gegeben hat und dass die Ethnologen gerade heute – oftmals unwissend und wider Willen – für Entwicklungsprojekte eingesetzt werden, die nicht der Selbstbestimmung der fremden Kulturen zuarbeiten, sondern ihrer Unterjochung dienen oder gar ihre Auslöschung betreiben. 16 Doch wenden wir uns dem grundsätzlichen Problem des Verstehens fremder Kulturen zu. Vom Verstehen sprechen wir immer dann – nicht nur in der Ethnologie –, wenn wir einen Anderen von seiner eigenen Subjektivität her erfassen und begreifen wollen. Damit ist jedoch schon das Dilemma des Verstehens ausgesprochen, denn weder subjektiv noch objektiv können wir zur Subjektivität des Anderen vordringen. Das Theorem, das das Verstehen auf die Einfühlung zuVgl. Munasu Duala-M’bedy, Xenologie. Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie (1977): 179 ff.
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rückführt, übersieht, dass die Einfühlung gerade ein Verstehen des Anderen untergräbt, denn sie wäre ein Eindringen in den Anderen und ein Übertragen eigener Gefühle, Anschauungen und Gedanken auf den Anderen, ohne auf die Äußerungen des Anderen zu achten. Ein Verstehen des Anderen erfordert genau umgekehrt ein Absehen von der eigenen Subjektivität, von den eigenen Gefühlen, Anschauungen und Gedanken, um sich den Äußerungen und Bekundungen des Anderen zu öffnen. Verstehen des Anderen setzt die unbedingte Anerkennung der Subjektivität des Anderen voraus. Das Verstehen ist also, da es nicht in die Subjektivität des Anderen eindringen kann, auf die Kundgaben und Objektivationen des Anderen verwiesen, denn es kann den Anderen nur aus dessen Gesten, Äußerungen, Handlungen, Hervorbringungen erfassen. 17 Aber gerade in den Objektivationen tritt die Subjektivität des Anderen nicht in Erscheinung. Die Objektivationen müssen erst interpretativ auf die Subjektivität des Anderen zurückbezogen werden, wobei dieser interpretative Akt ein Akt des Deutens ist, der von der eigenen Subjektivität ausgeht. Wir haben also im Verstehen zwei widerläufige, dialektisch unablässig aufeinander bezogene Bewegungen vor uns, die niemals völlig zur Ruhe kommen, da sie auf die Subjektivität des Anderen verweisen, ohne sie je erreichen zu können. 1. Die materiale Grundlage des Verstehens des Anderen beruht auf der Erfahrung vorliegender Äußerungen und Objektivationen des Anderen. In ihrer objektiven Erscheinungsform erschließen sie uns aber noch nicht den Anderen, sie müssen erst durch uns interpretativ auf die Subjektivität des Anderen rückbezogen werden. Dieser interpretative Akt ist jedoch immer nur unsere deutende Annäherung an die Subjektivität des Anderen. 2. Die formale Grundlage des Verstehens besteht demgegenüber in der unbedingten Anerkennung der Subjektivität des Anderen, was ein Absehen vom Interpretationsmonopol der eigenen Subjektivität impliziert, um dadurch für die Äußerungen und Objektivationen des Anderen offen zu werden, um ihn von ihm her verstehen zu können. Obwohl das Verstehen eine Erkenntnisbewegung ist, die allein Vgl. Walther Schmied-Kowarzik, Die Objektivation des Geistigen. Der objektive Geist und seine Formen (1927). Siehe auch: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Objektivationen des Geistigen. Beiträge zur Kulturphilosophie in Gedenken an Walther Schmied-Kowarzik (1985).
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von einem Subjekt auf ein anderes bezogen geleistet wird, setzt es 3. prinzipiell die Möglichkeit der Verständigung mit dem anderen Subjekt voraus. Eine solche Basis möglicher Verständigung besteht grundsätzlich mit allen menschlichen Wesen. 18 Die Verständigung ist aber auch der letzte Zielhorizont jeglichen Verstehens des Anderen, denn das Verstehen erfüllt sich nicht in einem reinen Erkenntnisinteresse, sondern erschließt gerade über die unbedingte Anerkennung des Anderen den Horizont für eine mitmenschliche, sittlichpraktische Verständigung mit ihm. Auf die Ethnologie übertragen, bedeuten diese allgemeinen Überlegungen, dass es beim Verstehen fremder Kulturen darum geht, sie aus ihrem jeweiligen gelebten, kulturellen Gesamtzusammenhang zu erfassen und zu interpretieren. 19 Als Material für ein solches Verstehen gehen sämtliche Informationen ein, die über diese Kultur in all ihren Bereichen vom Lebensalltag bis zur Weltdeutung, von den Arbeitsprozessen bis zu den Verwandtschaftsbeziehungen verfügbar sind. Aber nicht die einzelnen, für sich genommenen Daten interessieren, sondern sie sind nur Ausdrucksformen und Objektivationen, die es auf die Subjektivität der fremden Kultur, das Aktivzentrum ihres Lebenszusammenhangs hin zu interpretieren gilt. Diese deutende Interpretation des Lebenszusammenhangs der fremden Kultur wird aber immer von unserem eigenen Verständnishorizont geprägt sein. Es muss daher immer auch Aufgabe ethnologischen Verstehens sein, der eigenen Interpretation inne zu werden, um durch ihre Relativierung das Fremde von ihm selbst her zur Sprache kommen zu lassen. Beide hier getrennt benannten Aspekte des Verstehens und Deutens sind nicht voneinander ablösbar, sondern können sich nur aufeinander bezogen im Verstehensprozess erfüllen, denn nur von den Erfahrungen der fremden Kultur gehen Impulse zur Relativierung des eigenen Verständnishorizontes aus, aber nur vom eigenen Verständnishorizont her können die Einzelerfahrungen auf den gelebten Zusammenhang der fremden Kultur deutend bezogen werden. Was hier in der Reflexion auf die impliziten Momente des VerAuch ein Verstehen von Tieren ist auf der Grundlage der Verständigung mit Tieren möglich, sie muss aber von der symbolischen Verständigung zwischen Menschen gesondert diskutiert werden. Vgl. Richard Hönigswald, Philosophie und Sprache. Problemkritik und System (1937/1970): 269 ff. 19 Siehe hierzu »8. Verstehen, Anerkennen und Verständigung. Eine methodologische Vorklärung« in diesem Band. 18
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stehens sehr abstrakt expliziert wurde, lässt sich vielleicht konkreter an der Geschichte des ethnologischen Verstehens verdeutlichen; dies soll an drei Beispielen geschehen.
2.1. Georg Forster Sicherlich ist die Reise um die Welt (1777) des 23-jährigen Georg Forster ein Musterbeispiel ethnologischen Verstehens von den allerersten Anfängen der Entstehung der Ethnologie aus der Reiseberichterstattung. Zusammen mit seinem Vater Johann Reinhold Forster von Captain James Cook angeheuert, bei der zweiten Weltumseglung als wissenschaftliche Chronisten tätig zu werden, entwickeln die beiden Forsters neben ihrer Erkundung der Fauna und Flora der Südseeinseln, wo sich die Expedition in den Süd-Wintermonaten aufhält, auch eine Methode ethnographischer Beschreibung, die bis heute überraschend genau und lebendig geblieben ist. 20 Zunächst handelt es sich durchweg um einen tagebuchartigen Reisebericht, der die Streifzüge der Beobachter durch die Südseeinseln, ihre Besuche bei den Eingeborenen, ihre Beobachtungen, ihre Informanten und ihren Betrachterstandpunkt keineswegs in einer scheinbaren Anonymität verschwinden lässt, sondern sichtbar macht. Gerade diese – sicherlich methodologisch noch nicht intendierte – Offenlegung des eigenen Standorts macht Georg Forsters Reise um die Welt als ethnographischen Forschungsbericht über 240 Jahre hinweg in seinen Aussagen als historisches Zeugnis glaubwürdig und verwendbar. Doch das eigentliche ethnologische Verstehen kommt erst dort voll zum Ausdruck, wo Georg Forster aus seinen Beobachtungen und Informationen beispielsweise versucht, die dreischichtige Sozialstruktur der Gesellschaft auf Tahiti zu erläutern. Einerseits geht es ihm hierbei durchaus darum, diese Sozialstruktur ganz von ihr selbst her zu erfassen, greift aber andererseits zum besseren Verständnis für sich und seine Leser vergleichsweise auf das »alte europäische FeudalSpäter hat Georg Forster seine ethnologische Methode auch auf die Beobachtung europäischer Regionen, Städte, Länder (Ansichten vom Niederrhein, Brabant, Flandern, Holland und Frankreich, 1791) und schließlich auch auf den Prozess der Französischen Revolution (Parisische Umrisse, 1793) angewandt. Siehe hierzu: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Georg Forster. Pionier der Wissenschaft und der Freiheit (1989) sowie der Beitrag »12. Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts« im Anhang.
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System« zurück, relativiert jedoch sogleich wiederum diesen Vergleich, um die Differenzierungen der »drei Klassen« der Gesellschaft auf Tahiti in ihrer Besonderheit sichtbar machen zu können: »Das Volk lebt in einer Verfassung die sich gewissermaaßen mit dem alten europäischen Feudal-System vergleichen läßt; es stehet nemlich unter einem allgemeinen Oberherren, und ist in die drey Classen von Erihs, Manahauna’s und Tautaus getheilt. Ohnerachtet zwischen diesen dreyen Classen ein wesentlicher Unterschied vorhanden ist; so wird die Glückseligkeit des Volkes, im Ganzen genommen, doch ungleich weniger dadurch beeinträchtiget, als man glauben sollte, denn die Lebensart der Nation ist überhaupt zu einfach, als daß die Verschiedenheit des Standes einen merklichen Unterschied in selbige zulassen könnte.« (Forster, Reise um die Welt, I: 330) 21 Noch tiefer taucht Georg Forster dort ins Element ethnologischen Verstehens ein, wo er das Phänomen des Kannibalismus auf Neuseeland diskutiert. Nach der Beschreibung einer Szene von Kannibalismus, die sich vor den Augen der ganzen Schiffsmannschaft abgespielt hat, schildert Georg Forster zunächst die Reaktionen der europäischen Schiffsleute: »Dieser Anblick brachte bey allen denen die zugegen waren, sonderbare und sehr verschiedene Würkungen hervor. Einige schienen, den Eckel zum Trotz, der uns durch Erziehung gegen Menschenfleisch beygebracht worden, fast Lust zu haben mit anzubeißen […]. Andere hingegen waren auf die Menschenfresser unvernünftigerweise so erbittert, daß sie die Neu-Seeländer alle todt zu schießen wünschten, gerade als ob sie Recht hätten über das Leben eines Volkes zu gebieten, dessen Handlungen gar nicht einmal für ihren Richterstuhl gehörten!« (Forster, Reise um die Welt, I: 444) Gleich danach wird Georg Forster in der Relativierung eigener Vorurteile noch deutlicher, indem er auf europäische Barbareien von Unterdrückung, Kindesmord und Kriegsgrausamkeiten verweist, über die wohl andere Völker so entsetzt sein könnten, wie die Europäer dem Kannibalismus gegenüber. Schließlich kommt Forster sodann auf die anrührende Reaktion eines jungen Societäts-Insulaners zu sprechen, dem der Kannibalismus so fremd ist wie den Europäern, der in Gedanken an die unglücklichen Eltern des Opfers in Tränen ausbricht. In der bekundeten Solidarität mit seinem Altersgenossen Claus-Volker Klenke i. Z. m. Jörn Garber und Dieter Heintze (Hg.), Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Beiträge des Internationalen Georg Forster-Symposions in Kassel (1993): 45 ff.
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macht Georg Forster deutlich, dass ethnologisches Verstehen, bei aller Relativierung eigener kultureller Vorurteile, doch nicht in eine unmenschliche Neutralität ausarten muss, denn letztendlich ist die Mitmenschlichkeit auch die Basis allen Verstehens anderer Menschen. »Er wandte die Augen von dem gräßlichen Schauspiel weg […]. Auf unser Befragen, erfuhren wir, daß er über die unglücklichen Eltern des armen Schlacht-Opfers weine! Diese Wandlung seiner Betrachtungen machten seinem Herzen Ehre; denn man sahe daraus, daß er für die zärtlichsten Pflichten der Gesellschaft ein lebhaftes inniges Gefühl haben und gegen seine Nebenmenschen überaus gut gesinnt seyn mußte.« (Forster, Reise um die Welt, I: 445)
2.2. Bronislaw Malinowski Wenden wir uns nun mit einem Sprung über fast 150 Jahre hinweg Bronislaw Malinowski zu, dessen Bücher Argonauten des westlichen Pazifik (1922), Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien (1929) und Korallengärten und ihre Magie (1935) zum Initialwerk für die Methode der teilnehmenden Beobachtung, dem Herzstück ethnologischer Forschung, geworden ist. Als alt-österreichischer Pole von den Briten im I. Weltkrieg in Australien interniert, kann der Anthropologe Malinowski mit seinen Bewachern aushandeln, die Internierungszeit unter Einheimischen zu verbringen – zunächst auf Neuguinea und dann auf dem Trobriand-Archipel, wo er zwei Jahre lang unter den Eingeborenen lebt und ihre Kultur in all ihren Aspekten aus nächster Nähe erforschen kann. 22 Die von Malinowski praktizierte teilnehmende Beobachtung wurde sehr rasch zum Ideal ethnologischer Feldforschung erhoben, dabei aber auch über Gebühr verklärt und zum Mythos stilisiert. Schon Malinowskis Lehrer Sir James Frazer schreibt im Vorwort zu den Argonauten des westlichen Pazifik emphatisch: »Auf den Trobriand-Inseln östlich von Neuguinea […] lebte Malinowski als Eingeborener unter Eingeborenen […] und bezog all seine Informationen aus der sichersten Quelle: aus persönlichen Beobachtungen und Erklärungen, die ihm die Eingeborenen in ihrer eigenen Sprache ohne das Dazwischentreten eines Dolmetschers gaben.« (Frazer in: Mali22
Vgl. Justin Stagl, »Malinowskis Paradigma« (1993).
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nowski, 1922/1979: 7) Das hier suggerierte völlige Eintauchen in die Lebenswelt der Eingeborenen, von der her nun eine authentische Darlegung aus der Innenperspektive der fremden Kultur gegeben werden könne, erfuhr fünfundzwanzig Jahre nach Malinowskis Tod (1942) eine herbe Ernüchterung, als 1967 Malinowskis Tagebuch aus jener Zeit erschien, denn es zeigte nicht nur die wohlgehütete Distanz, die der polnische Aristokrat Malinowski zwischen sich und seinen Wilden aufzubauen wusste, sondern es offenbarte auch, wie sehr Malinowski seinen Zwangsaufenthalt verwünschte und wie abfällig er sich über die »Wilden« äußerte. 23 Die hitzige Debatte, die die Veröffentlichung des Tagebuchs auslöste, demonstriert, wie viel an Überinterpretation die Ethnologen in die teilnehmende Beobachtung hineingelegt haben. Malinowski selbst hat niemals vorgegeben oder aufgefordert, dass der Ethnologe »als Eingeborener unter Eingeborenen« völlig in der fremden Kultur aufgehen könne oder solle. Bei der teilnehmenden Beobachtung liegt für ihn der Akzent immer auf der distanzierten »Beobachtung«, d. h. der Ethnologe bleibt immer der Forscher, der keineswegs beabsichtigt, gänzlich in der fremden Kultur aufzugehen. Seine beobachtende Teilnahme soll nur so nah als möglich und nötig am alltäglichen Leben der Eingeborenen liegen, sodass er es aus deren Perspektive aufzunehmen vermag. Hierfür ist natürlich die Beherrschung der Sprache der Eingeborenen eine wichtige Voraussetzung. Darüber hinaus hat Malinowski aber nie einen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass die eigentliche Aufgabe des Verstehens der fremden Kultur nicht schon selbst in den Beobachtungen und den Aussagen der Eingeborenen liege, sondern der interpretierenden und deutenden Gestaltung des Ethnologen bedürfe. So schreibt er bereits in den Schlussreflexionen der Argonauten des westlichen Pazifik: »Zu Beginn dieses Buches […] habe ich dem Leser in gewisser Weise versprochen, dass er einen lebendigen Eindruck von den Ereignissen erhalten würde, der es ihm ermöglichen würde, sie vom Standpunkt der Eingeborenen aus zu sehen, ohne dabei den Blick auf die Methode zu verlieren, mit deren Hilfe ich meine Materialien erhalten habe. Ich habe versucht, alles so weit wie möglich durch die konkreten Tatsachen auszudrücken, die Eingeborenen für sich selbst sprechen zu
Bronislaw Malinowski, Ein Tagebuch im strikten Sinn des Wortes. Neuguinea 1914–1918 (1967).
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lassen. […] Ich hege aber zugleich die Überzeugung […], daß nicht die Einzelheit und die Tatsache wirklich zählt, sondern der wissenschaftliche Gebrauch, den wir von ihr machen.« (Malinowski, 1922/ 1979: 556) In seiner theoretischen Grundlegung Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (1944) wird Malinowski dann noch genauer, indem er herausarbeitet, dass weder eine verstehende Beobachtung vor Ort noch erst recht eine interpretierende Darstellung fremder Kulturen ohne eine vorausgehende Theorie der Kultur möglich ist. Aus den Beobachtungen lässt sich keine Theorie der Kultur gewinnen, weder eine Theorie dieser Kultur und noch weniger eine von der menschlichen Kultur als solcher, sondern gerade umgekehrt müssen wir bereits eine Theorie von der Kultur überhaupt haben, um eine bestimmte fremde Kultur adäquat beobachten und interpretieren zu können. Erst über die Theorie der Kultur wissen wir, dass jede Kultur eine sich selbst erhaltende funktional-strukturale Einheit darstellt, die daher auch aus ihr selbst heraus zu verstehen und zu deuten ist. Auf einen Kernsatz verdichtet, erläutert Malinowski diesen theoretischen Ausgangspunkt so: »Was ist Kultur? […] Sie ist offensichtlich jenes umfassende Ganze, das sich zusammensetzt aus Gebrauchsund Verbrauchsgütern, den konstitutionellen Rechten und Pflichten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, aus menschlichen Ideen und Fertigkeiten, aus Glaubenssätzen und Bräuchen. Ob wir uns mit einer ganz einfachen, primitiven Kultur oder aber mit einer außerordentlich komplizierten und entwickelten befassen, immer treffen wir auf einen großen, teils materiellen, teils personellen und teils geistigen Apparat, der es dem Menschen ermöglicht, mit den besonderen konkreten Problemen, denen er sich gegenübergestellt sieht, fertig zu werden.« (Malinowski, 1944/1974: 74 f.) Nur der Ethnologe, der diese gelebte Einheit der fremden Kultur sucht, kann sie in seinen Beobachtungen aufspüren und später aus seinen Aufzeichnungen interpretierend und zusammenfassend aufscheinen lassen. Die Eingeborenen leben in der Einheit ihrer Kultur und aus ihr, ohne sie selbst bewusst explizieren zu können. Aber das theoretische Wissen, dass jede Kultur eine Einheit ist, aus der heraus ihre Mitglieder ihr Zusammenleben erhalten und gestalten, ersetzt nicht die ethnologische Erforschung jeder einzelnen Kultur, denn der teilnehmenden Beobachtung geht es gerade darum, diese bestimmte fremde Kultur aus ihrer je bestimmten Lebensgestaltung zu verstehen und zu deuten. Erst über ein solches Verstehen fremder 38 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Das Verstehen und Deuten fremder Kulturen
Kulturen, das indirekt auch ein Licht auf unsere eigene Kultur wirft, können wir dann zu einem umfassenden Verständnis menschlicher Kultur überhaupt kommen – wie Malinowski in den Schlusssätzen der Argonauten des westlichen Pazifik unterstreicht: »Was mich beim Studium des Eingeborenen wirklich interessiert, ist seine Auffassung von den Dingen, seine Weltanschauung, die Atemluft des Lebens und der Wirklichkeit, die er atmet und durch die er lebt. […] Obwohl es für einen Augenblick gelingen mag, uns in die Seele eines Wilden zu versetzen, die Welt durch seine Augen zu betrachten […], ist es doch unser Endziel, unser eigenes Weltbild zu bereichern und zu vertiefen, unsere eigene Natur zu verstehen. […] Die Wissenschaft vom Menschen sollte uns in ihrer entwickelten und tiefsten Gestalt zu solchem Wissen und zu Toleranz und Großmut führen, die auf dem Verständnis der Standpunkte anderer Menschen beruhen.« (Malinowski, 1922/1979: 557)
2.3. Clifford Geertz Während Bronislaw Malinowski theoretisch und methodisch die Erfahrungsseite des ethnologischen Verstehens und Deutens herausgearbeitet hat, wendet sich Clifford Geertz rund 50 Jahre danach reflexiv auf die ethnologische Interpretation zurück. In seinem Buch Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller (1988) untersucht Geertz an großen Ethnologen – Bronislaw Malinowski, Ruth Benedict, Edward E. Evans-Pritchard und Claude LéviStrauss –, wie sie ihr Erfahrungsmaterial jeweils zu ihrer Interpretation fremder Kulturen verdichteten. Hier wird das ethnologische Verstehen und Deuten selber zu einem Gegenstand verstehender und interpretierender Betrachtungen. Bereits in einer vorhergehenden methodologischen Reflexion »Aus der Perspektive des Eingeborenen« geht Geertz auf das »professionelle Dilemma« des »ethnologischen Verstehens« (in Geertz, Dichte Beschreibung, 1987: 289 ff.) ein. Natürlich geht es dem Ethnologen immer um ein Verstehen und Interpretieren »aus der Perspektive des Eingeborenen«. Aber wie ist dies zu bewerkstelligen? Die Leser ethnographischer Darstellungen sollten sich hüten zu glauben, der Ethnologe könne aus dem Inneren einer fremden Kultur berichten. Es gibt keine »ethnographische Bauchrednerei«. (Geertz, 1988/ 1990: 139) Immer ist die Darstellung von einer fremden Kultur die 39 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Überlegungen zur Ethnologie als einer Wissenschaft der Kulturen
interpretative Leistung eines Ethnologen, der seine Beobachtungen zu einem deutenden Gemälde der fremden Kultur zusammenfasst. Um das Verstehen der fremden Kultur zu verstehen, muss der Leser verstehen, wie der Autor sich selbst als Ethnograph versteht. (Geertz, Dichte Beschreibung: 292) Um dem ethnologischen Verstehen näherzukommen, gilt es daher, genauer zu betrachten, wie ethnologische Untersuchungen durchgeführt und wie sie zu ethnologischen Berichten verdichtet werden. Wobei wir es beide Male mit einem »dialektischen Lavieren« zu tun haben. (Geertz, Dichte Beschreibung: 307) In die ethnologische Untersuchung geht zweierlei ein: die »erfahrungsnahe« Beobachtung und Aussage der Informanten, zugleich aber auch das »erfahrungsferne« Wissen, das der Ethnologe aus Studium und Literatur immer schon mitbringt. Beide Extreme für sich genommen führen nicht zu einem Verstehen der beobachteten Kultur. So wie wir das Verstehen der Hexerei weder den Hexern noch den Geometern überlassen können, so darf sich der Ethnologe in seiner teilnehmenden Beobachtung weder allein auf die Aussagen seiner Informanten verlassen, noch darf er glauben, mit abstrakt-allgemeinen Erhebungsmethoden die fremde Kultur objektiv vermessen zu können. (Geertz, Dichte Beschreibung: 291) Überhaupt erschließt sich die fremde Kultur als Untersuchungsgegenstand weder aus den Selbstaussagen ihrer Mitglieder noch aus einem ihr äußerlichen statistischen Vergleich mit ebenso äußerlich untersuchten anderen Kulturen. Die fremde Kultur muss vielmehr aus den je besonderen »symbolischen Formen« (Sprache, soziales Handlungsgeflecht, Mythos), in denen sie sich ausdrückt, erschlossen werden. »Um zu solch intimen Kenntnissen zu gelangen, habe ich also nicht jeweils versucht, mich als jemand anderen – als Reisbauern oder Scheich eines Stammes – vorzustellen und dann herauszufinden, wie ein solcher denkt. Ich suchte und untersuchte vielmehr die symbolischen Formen – Worte, Bilder, Institutionen, Verhaltensweisen –, mit denen die Leute sich tatsächlich vor sich selbst und vor anderen darstellen.« (Geertz, Dichte Beschreibung: 293) 24 Von der strukturellen Deutung der symbolischen Formen her kann es dem Ethnologen Mit dem Begriff »symbolische Formen« schließt sich Clifford Geertz vor allem Susanne Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst (1965) an, die selbst wiederum in der Tradition von Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) steht.
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Das Verstehen und Deuten fremder Kulturen
gelingen, sowohl die unterschiedlichen Selbstinterpretationen seiner Informanten zu relativieren als auch bei aller äußerlichen statistischen Ähnlichkeit mit anderen Kulturen das je Besondere der speziell untersuchten fremden Kultur festzuhalten. Mindestens ebenso wichtig wie die ethnologische Feldforschung ist aber die »ethnologische Schriftstellerei«, die Verdichtung der Forschungsergebnisse in der ethnographischen Darstellung, durch die die fremde Kultur dann endgültig einer größeren Öffentlichkeit der eigenen Kultur präsentiert wird. Hier beginnt das eigentliche Werk der »ethnographischen Deutung«, d. h. die interpretierende Zusammenfassung einzelner Beobachtungen. Auch hier gibt es ein »dialektisches Lavieren« zwischen den Extrempolen unmittelbarer Wiedergabe von Aussagen der Informanten einerseits, die die Aufgabe der ethnographischen Deutung gleichsam an den Leser weitergeben, und einer abstrakt verdünnten Kategorisierung andererseits, die nichts mehr von der Lebendigkeit einer fremden Kultur wiederzugeben vermag. Das angestrebte Ziel einer ethnographischen Deutung sollte, wie Clifford Geertz herausarbeitet (Dichte Beschreibung: 20), zum einen in der »dichten Beschreibung« liegen und zum anderen in der offenkundig gemachten Interpretation der symbolischen Formen durch den Ethnologen. Denn nur dadurch beschreibt der Ethnologe nicht nur, was er erlebt hat, sondern sagt etwas eigenverantwortlich über die fremde Kultur aus. An solche »dichte Beschreibungen«, die die deutende Arbeit des Ethnologen nicht unterschlagen, sondern sichtbar machen, können dann andere Forscher, aber auch allgemeine Kulturtheoretiker und Praktiker, die mit dieser Kultur in Kontakt treten, anknüpfen. »Diese Auffassung vom Funktionieren der Theorie in einer deutenden Wissenschaft legt nahe, daß die – wie immer relative – Unterscheidung der experimentellen Wissenschaften zwischen ›Beschreibung‹ und ›Erklärung‹ hier als – noch relativere – Unterscheidung zwischen ›Niederschrift‹ (›dichte Beschreibung‹) und ›Spezifizierung‹ (›Diagnose‹) wiederkehrt. Es wird also unterschieden zwischen dem Festhalten der Bedeutung, die bestimmte soziale Handlungen für die Akteure besitzen, und den möglichst expliziten Aussagen darüber, was das so erworbene Wissen über die Gesellschaft, in der man es vorfand, und darüber hinaus über das soziale Leben im allgemeinen mitteilt. […] Die Aufgabe der Theorie in der Ethnographie besteht darin, ein Vokabular bereitzustellen, in dem das Wissen, das das symbolische Handeln über sich selbst, d. h. über die Rolle der Kultur im mensch41 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Überlegungen zur Ethnologie als einer Wissenschaft der Kulturen
lichen Leben hat, ausgedrückt werden kann.« (Geertz, Dichte Beschreibung: 39)
Schlussbemerkung An den drei skizzierten Ansätzen sollte eine Bewegung sichtbar gemacht werden. Sie hebt an mit Georg Forsters intuitivem Pendeln zwischen Beobachtungen des Fremden und Interpretationen vom Eigenen her; schreitet dann fort in Bronislaw Malinowskis Versuch, so weit als irgend möglich sich beobachtend auf das Fremde einzulassen, wohl wissend, dass es ein völliges Eindringen in die fremde Kultur nicht geben kann; und wendet sich schließlich bei Clifford Geertz reflexiv auf den aktiven Beitrag des Ethnologen im Verstehen und Deuten der fremden Kultur zurück. Von dieser »Bürde der Autorenschaft« des Ethnologen kann im Verstehensprozess niemals abstrahiert werden. Gerade deshalb gilt es, das aktiv deutende Element des Ethnologen bewusst und sichtbar zu machen. (Geertz, 1988/1990: 35 ff.) Alle drei Autoren – und sie stehen hier repräsentativ für die ganze Geschichte der Ethnologie – unterstreichen, dass es im ethnologischen Verstehen darum geht, einen »Zugang zur Gedankenwelt der von uns untersuchten Subjekte [zu] erschließ[en], so dass wir – in einem weiteren Sinn des Wortes – ein Gespräch mit ihnen führen können«. (Geertz, Dichte Beschreibung: 35) Dies setzt die unbedingte Anerkennung der »Subjektivität der anderen Völker«, der Menschen dieser anderen Kulturen voraus. Gleichwohl kann nicht übersehen werden, dass das ethnologische Verstehen ein einseitiger Prozess ist, der uns die fremden Kulturen erschließt. So ist es durchaus verständlich, dass immer mehr Völkerschaften sich gegen eine ethnologische Erforschung verwahren, zumal die Ethnologie – worauf schon Georg Forster 1777 hingewiesen hat – im Schlepptau der Eroberung fremder Länder und der Kolonisierung ihrer Völkerschaften in Erscheinung trat und daher oftmals nur als Instrument der Unterwerfung wahrgenommen worden ist. (Forster, Reise um die Welt, I: 207 ff.) Die daraus gezogenen Konsequenzen, die von außen kommende Ethnologie durch die nationale Geschichtsschreibung ersetzen zu wollen, erscheinen uns jedoch als ein zu voreiliger Schritt. Die nationale Geschichtsschreibung dient – wie man an Herodot bereits sehen kann – der nationalen Identitätsstiftung und -festigung. Sie erfüllt 42 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Schlussbemerkung
daher für die neuen Staatsgründungen und für das Zusammenwachsen von verschiedenen Völkerschaften zu einem gemeinsamen Staat auch eine wichtige Aufgabe, die die Ethnologie für diese neuen Staaten niemals leisten kann und will. Allerdings ersetzen die nationalen Geschichtsschreibungen nicht die Aufgabe des Verstehens fremder Kulturen. Die notwendige Einseitigkeit der Forschungsperspektive der Ethnologie kann nur dadurch in eine Zwei- oder Mehrseitigkeit aufgehoben werden, wenn sie auf Europa und Nordamerika rückangewandt wird. Die von Nordamerika aus bereits etablierte Ethnologie der europäischen Völker, die es bezogen auf kulturelle Teilperspektiven auch in Japan und Lateinamerika gibt, muss intensiviert und erweitert werden. 25 Das ethnologische Verstehen und Deuten kann sich immer nur auf fremde Kulturen richten und niemals auf die eigene angewandt werden. Wir selbst können für unsere eigene Kultur nur Informanten, nicht ihre Beobachter und Interpreten sein. Nach einer über anderthalb Jahrtausenden währenden Selbstauslegung der christlichen Religion hat uns erst die verstehend-deutende Analyse des Japaners Keiji Nishitani Was ist Religion? (1986) einen ethnologischen Blick auf das Eigentümliche der monotheistischen Religionen gewährt, die das okzidentale Denken bestimmen. Die richtige Forderung aus der sich wandelnden Weltlage des Miteinanders souveräner Völker ist also nicht die Abschaffung der Ethnologie, sondern die Vervielfältigung ihrer Forschungsperspektiven in alle möglichen Richtungen. Immer steckte im ethnologischen Verstehen des Fremden auch ein Moment des Bewusstmachens des Eigenen – Malinowski hat dies ausdrücklich thematisiert. (Malinowski, 1922/1979: 556) Aber ungleich aussagekräftiger werden wir mit unserer eigenen Kultur konfrontiert, wenn die ethnologische Deutung aus der Fremde uns selbst betrifft. Erst ein solches multiethnisches Verstehen und Deuten, kann den Zielhorizont kultureller Verständigung, auf den die Ethnologie auch schon bisher gerichtet war, wahrhaft einlösen.
Vgl. auch Armand Duchâteau, »Konfrontation und Akkulturation. Das Bild der Weißen in früheren afrikanischen Mythen und Legenden« (1981). Siehe auch Mark Münzel (Hg.), Die indianische Verweigerung. Lateinamerikas Ureinwohner zwischen Ausrottung und Selbstbestimmung (1978).
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2. Methodologische Vorklärungen zu den Grundlagen der Völkerkunde 1
Um weder in vorwissenschaftlichen Materialhäufungen noch in pseudowissenschaftlichen Theorien hängen zu bleiben, bedarf auch die Ethnologie der philosophischen Grundlagenbesinnung, um ihre Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen abzustecken. Die allgemeinen Umrisse einer solchen Besinnung auf Gegenstand, Methode und Techniken der Völkerkunde und ihr Verhältnis zur Philosophie versucht dieser Beitrag aufzuzeigen.
1.
Der Gegenstand oder das Erfahrungsgebiet der Völkerkunde
Die Völkerkunde ist eine Erfahrungswissenschaft im klassischen Sinne. Sie hat ein eigenes Gebiet zu ihrem Forschungsgegenstand, über den nur sie allein erfahrend etwas ermitteln kann. Gegenstände ihrer Forschung sind die Kulturen in ihrer je bestimmten, jeweils einmaligen Ausprägung bei den verschiedenen Völkern. Zum Gebiet ihrer Forschung gehören eigentlich alle Kulturen. Aus pragmatischen Gründen ist dieses Forschungsgebiet heute aufgeteilt in (a) die Ethnologie im engeren Sinne, die sich mit den schriftlosen Kulturen beschäftigt, (b) die Hochkulturwissenschaften (Ägyptologie, Sinologie, Japanologie usw.), (c) die modernen Einzelkulturwissenschaften (die meist linguistisch orientiert sind), während die modernen europäischen Kulturen lediglich von den Nachbardisziplinen Soziologie und Historie untersucht werden. Diese Aufteilungen sind von systematiVortag gehalten auf dem XII. Kongress »Historische Ethnologie – heute« der Gesellschaft für Völkerkunde in Wien im Oktober 1965, unter dem Titel »Philosophische Besinnung auf die Grundlagen der Völkerkunde als einer eigenständigen Wissenschaft« erschienen in: Mitteilungen zur Kulturkunde I = Paideuma XII (1966): 41 ff. Diese vor 52 Jahren entstandene grundlagentheoretische Abhandlung mutet in ihrer damaligen abstrakten Begrifflichkeit antiquiert an, entwirft aber die Konturen der Systematik einer Kulturanthropologie, die bis heute Geltung behalten hat.
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Der Gegenstand oder das Erfahrungsgebiet der Völkerkunde
schen Gesichtspunkten her nicht zu rechtfertigen. Es muss aber immer das Fernziel der Ethnologie bleiben, sich als umfassende Wissenschaft der Kulturen zu begreifen, d. h. alle Kulturen der Menschheitsgeschichte unter kulturanthropologischen Gesichtspunkten systematisch in den Blick zu nehmen. Gerade weil sich die Ethnologie noch nicht zu einer umfassenden Wissenschaft der Kulturen emanzipiert hat, machen ihr die Nachbardisziplinen (so die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft und die Historie als Wissenschaft von der Geschichte) nicht nur ihren Platz streitig, sondern leugnen sogar die Existenz von Kultur als eigenes Erfahrungsgebiet und als eigener Forschungsgegenstand. So wird Kultur entweder aus der Sozialstruktur oder der Tradition eines Volkes oder aus dem Zusammenwirken beider verstanden. Keine Einzelwissenschaft kann aus ihren Grenzen heraus; untersucht sie mit ihren Methoden ein ihr fremdes Gebiet, so denaturiert sie dieses notwendig: Subsumiert die Soziologie die Kultur unter ihr Forschungsgebiet, dann reduziert sie notwendigerweise den einmalig geschichtlichen Verlauf einer Kultur auf einen gesetzmäßigen Sozialprozess. Denn alles, was die Soziologie untersucht, wird ihr notwendig – darin besteht nun einmal die Wissenschaftlichkeit und Objektivität ihrer Aussagen, sofern sie methodenimmanent bleibt – zur Sozialfunktion in einem Strukturgefüge menschlicher Beziehungen. Subsumiert die Historie die Kultur unter ihr Forschungsgebiet, dann reduziert sie notwendigerweise die gesellschaftlichen Beziehungen einer Kultur auf einmalige Tathandlungen der Individuen eines Volkes (dann erscheint eine Staatsgründung z. B. als Ereignis). Denn alles, was die Historie untersucht, wird ihr notwendig zum einmaligen geschichtlichen Geschehen, zur einmaligen menschlichen Tathandlung, welche bedeutsame Folgen zeitigt. 2 Schon allein aus den berechtigten Widerlegungsargumenten beider Seiten zeigt sich, dass keine der beiden Disziplinen das, was Kultur ist, zur Gänze erfassen kann. Zu sagen, Kultur sei daher eben nichts anderes als das Zusammenwirken von Gesellschaft und Geschichte, ist eine unlautere Umschreibung des Problems, um das es uns geht; denn dass es ein solches Zusammenwirken gibt, kann nicht aus Gesellschaft und Geschichte abgeleitet werden, sondern setzt beWolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Geschichtswissenschaft – Geschichtlichkeit – Geschichte« (1966): 133 ff.
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Methodologische Vorklärungen zu den Grundlagen der Völkerkunde
reits ein Drittes voraus. Dieses Dritte ist das eigene Erfahrungsgebiet und der eigene Forschungsgegenstand, den wir Kultur nennen. Während es der Historie immer um einen bestimmten Ereigniszusammenhang im Rahmen der Menschheitsgeschichte als Universalgeschichte zu tun ist und der Soziologie um gesellschaftliche Strukturzusammenhänge innerhalb einer Typologie menschlicher Sozialbeziehungen, geht es der Kulturanthropologie – und eine solche ist die Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen – um die bestimmte Geprägtheit und Leistung eines Volkes innerhalb des gesamten menschheitlichen Kulturfortschritts. In der doppelten Gebundenheit an Gesellschaft und Geschichte liegt die relative Freiheit des kulturell bestimmten Menschen gegenüber Gesellschaft und Geschichte. Der kulturell bestimmte Mensch ist gesellschaftlich bestimmt, denn er ist notwendig ein Glied einer Gemeinschaft, aber er hat auch Macht über seine Gesellschaftlichkeit und kann diese in der Geschichte verändern. Der kulturell bestimmte Mensch hat Geschichte, indem er durch seine Taten Geschichte macht, aber er ist auch an die Geschichte gebunden, da seine gesellschaftlichen Handlungen ihm zum Schicksal werden. Die Bestimmtheit und Geprägtheit der Kultur ist des Menschen Macht und Abhängigkeit. Kultur ist das bestimmte, vom Menschen geprägte und den Menschen prägende gesellschaftliche und geschichtliche Leben eines jeden Volkes. Alles Kulturelle ist bewusst-gewollte Setzung des Menschen, ist seine Leistung, und doch ist es nicht immer wissentlich Erfundenes und willentlich Erschaffenes des Menschen. Dass Kulturelles menschliche Leistung ist, zeigt sich darin, dass alles Kulturelle sich nur durch Überlieferung erhalten kann. Jede Generation, ja jedes Individuum muss sich lernend und übend Kulturelles neu aneignen (von der Herstellung und Verwendung von Geräten über die Ausübung von Wirtschaftspraktiken und Brauchtum bis zum Wissen um Profanes und Heiliges). Der Einzelne muss kein Wissen von diesem Überlieferungsvorgang haben, und er muss ihn auch nicht willentlich fortsetzen, und doch ist sein Denken und Tun immer eine erneute Setzung von Kultur, ist immer – auch dann, wenn sie nur Überliefertes erneuert – eine menschliche Leistung. Die Doppelgesichtigkeit von Kulturprägen und Geprägtsein zeigt sich auch in der Sprache. Alles Kulturelle lebt in der Sprache, denn nur durch sie und soweit sie reicht, hat der Mensch Umgang mit der Natur und dem Mitmenschen. Nur, was der Mensch sprachlich zu differenzieren 46 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Die Methode oder die Prinzipien der wissenschaftlichen Fragestellung
und mitzuteilen vermag, ist als Kulturelles der Überlieferung fähig. In der Sprache hat der Mensch seine Kultur verfügbar, und doch ist sie eine kulturprägende Macht, die den Einzelnen in die Grenzen seiner Kultur zwingt und der er sich nicht entziehen kann. Überlieferung und Sprache in ihrem lebendigen Vollzug sind die beiden Grundfesten einer Kultur, sie sind die einheitsstiftenden Bande einer Volks- und Traditionsgemeinschaft. Geprägtheit und Leistung des kulturellen Menschen können in drei Bereichen untersucht werden: 1. in der Bestimmtheit menschlicher Auseinandersetzung mit der Natur – Fauna, Flora, Klima, geographische Verhältnisse können Limit und Material seiner Arbeit sein –; 2. in der Bestimmtheit seiner Verhältnisse zum Mitmenschen – Verwandtschaft, Arbeitsteilung, Sitte, Institution und Organisation regeln nach innen die Sozialverhältnisse einer Gemeinschaft; materielle und personelle Macht bestimmen nach außen das Konfliktverhältnis zum Fremden und Feind –; 3. in der Bestimmtheit seiner Besinnung auf die Welt, auf sich selbst und auf Gott. An dieser dreifachen, in Sprache und Überlieferung sich immer wieder erneuernden und verändernden Prägung und Leistung können Konstanz und Wandel einer Kultur sowie Kontinuität und Fortschritt der menschheitlichen Kultur überhaupt beurteilt werden.
2.
Die Methode oder die Prinzipien der wissenschaftlichen Fragestellung
Die Eigenart des Erfahrungsgebietes bedingt die Forschungsmethode einer Einzelwissenschaft; aber erst durch das richtige methodische Fragen nimmt das erfragte Gebiet – in diesem Falle die Kultur – Gestalt im Wissen an, erst durch die Methode wird das Erfragte zum bewussten Gegenstand konstituiert. Insofern ist die Methode bestimmend und konstituierend für den Gegenstand, der erst durch jene wird, was er im System der Wissenschaften ist. Was sich nun im System der Wissenschaften als säuberlich geschieden nebeneinanderstellen lässt: etwa Rasse, Ökonomie, Volkscharakter, Gesellschaft, Kultur, Geschichte, Kunst, Religion, ist in dieser Weise weder geschieden noch nebeneinandergestellt in der gelebten Wirklichkeit eines bestimmten Volkes. Erst durch das abstrahierende und isolierende Verfahren einer wissenschaftlichen Methode wird das Ganze in seiner Lebendigkeit in Gegenstände der For47 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Methodologische Vorklärungen zu den Grundlagen der Völkerkunde
schung zerlegt. Forschungsgegenstände sind durchaus nicht willkürliche und beliebige Produkte, sondern Aspekte und Momente eines Ganzen, die nun, aus der Lebendigkeit isoliert und abstrahiert, eine neue Stelle in einem methodisch-objektiven Wissensgefüge erhalten. Ein und dieselbe gelebte Wirklichkeit nimmt unter unterschiedlichen methodischen Zugriffen ganz verschiedene Gestalten an und erhält einen jeweils anderen Stellenwert im Wissenszusammenhang einer Wissenschaft. So kann die Lebendigkeit einer Volksgemeinschaft unter physisch-anthropologischen Kategorien als Rasse, unter psychologischen Kategorien als Volkscharakter oder cultural pattern und unter soziologischen Kategorien als Gesellschaftsstruktur, unter historischen Kategorien als Kulturtradition erscheinen, ganz abgesehen davon, dass diese Kulturgemeinschaft in eine weltweite Wirtschaftstypologie, Rechtsphänomenologie oder Religionsgeschichte eingeordnet werden kann. Ein und dasselbe Faktum, ein und dieselbe Aussage erhält durch verschiedene methodische Zugriffe einen nur innerhalb der Grenzen dieser Methode und Wissenschaft geltenden Stellenwert. Die systematischen Ordnungszusammenhänge zwischen Fakten und Daten innerhalb einer Wissenschaft stellen nicht die Realbeziehungen der wirklichen Verhältnisse und Ereignisse dar. Jede Wissenschaft – wenn sie nicht dem Wahn verfallen will, über all ihre methodischen Grenzen hinweg absolut und autonom zu sein – muss die Untersuchungen der Nachbardisziplinen als Ergänzung fordern. Sie muss aber darüber hinaus noch wissen, dass auch die Summation aller Wissenschaften nicht die Wirklichkeit in ihrer Lebendigkeit einzuholen vermag.
2.1. Versuche einer Abgrenzung der Ethnologie von ihren unmittelbaren Nachbardisziplinen 1. Jedes ethnologisch relevante Faktum kann auch soziologisch erfragt werden, nur wird es dadurch in einen anderen Wissenshorizont hineingestellt. Wendet sich die Soziologie einem ethnologischen Faktum zu, so greift sie aus der zugrunde liegenden Handlungssituation das für die Funktion dieser Handlung typische Verhalten heraus. Sie sieht den Handelnden in der Rolle, die er bei Verwirklichung dieser Handlung im ganzen Funktionsgefüge spielt. Jede Einzelfunktion
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Die Methode oder die Prinzipien der wissenschaftlichen Fragestellung
trägt letztlich zur Erhaltung der Gesellschaftsstruktur bei, innerhalb der jedem Funktionsträger ein Status zukommt. Aus der Befriedigung von Funktionsbedürfnissen und der daraus resultierenden Statusveränderung ergibt sich ein strukturtypischer Prozess der Verwirklichung einer Gesellschaft. Funktion und Struktur von Sozialbeziehungen und -handlungen sind so die differenzierenden Kategorien, nach denen die Gesellschaften in ein System der Sozialtypologie gebracht werden. Diese Systematik ist notwendigerweise ahistorisch und ihr letztes Ziel ist daher immer und unabdingbar eine weltweite Typologie menschlicher Sozialbeziehungen. 2. Das gleiche ethnologische Faktum, unter historischen Gesichtspunkten betrachtet, ergibt ein völlig anderes Bild. Für die Historie ist alles eine individuelle, einmalige Tathandlung oder ein einmaliges Ereignis für eine Tathandlung, welche nun nach der Kategorie der Bedeutsamkeit für die geschichtliche Folgezeit ausgewählt und untersucht wird. Die bestimmte Einmaligkeit einer Handlung oder eines Ereignisses einerseits und die Bedeutsamkeit für die geschichtliche Folge andererseits sind die beiden methodenimmanenten Kategorien der Historie, von denen her das Erfahrungsmaterial für eine umgreifende Universalgeschichte ausgesucht wird. Die Historie untersucht also gerade das, was die Soziologie an einer Handlungssituation unberücksichtigt lässt, nämlich die unwiederholbare Einmaligkeit. Deshalb werden auch die Handelnden in ihrer einmaligen Persönlichkeit innerhalb des Handlungsgeflechtes tätiger Individuen eines Volkes gesehen und gewürdigt. Dabei werden aber die Taten nicht in ihrer Funktion, sondern in ihrer Bedeutsamkeit für die Folgezeit betrachtet, d. h. die Historie ist das zurückschauende Verstehen der Bedeutsamkeit einer bestimmten einmaligen Tathandlung für die Geschichte. Letztes Ziel der Historie ist immer notwendigerweise die Universalgeschichte, d. h. die Herleitung der jetzigen Geschichte aus den bedeutenden Ereignissen und Tathandlungen der Menschheit in der Vergangenheit. Die Historie ist deshalb notwendigerweise nicht typologisierbar, da sie alle Tathandlungen, soweit sie historische Folgen zeitigten, in ihrer jeweiligen Einmaligkeit als ihr Erfahrungsmaterial anerkennen muss. Beide Wissenschaften können dasselbe ethnologische Material bearbeiten oder dieselbe Situation kulturellen Verhaltens beobachten, aber sie entfremden die Eigenart des Kulturellen und gliedern dieses in ihre eigene Systematik ein. Weder die soziologische Funktionsanalyse noch die historische Beziehungsforschung wird der besonderen 49 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Methodologische Vorklärungen zu den Grundlagen der Völkerkunde
Geprägtheit eines Volkes gerecht; weder in einer Sozialtypologie noch in einer Universalgeschichte kann der kulturelle Fortschritt der Menschheit gewürdigt werden. Wenn weder die Kategorien der Funktion und Struktur und die daraus entwickelte Sozialtypologie noch die Kategorien der Einmaligkeit und der Bedeutsamkeit und der daraus entfalteten Universalgeschichte eine gegenstandsadäquate Methode der Kulturanthropologie konstituieren können, so muss die Völkerkunde nach geeigneten Mitteln der Erfahrungsdifferenzierung und Wissenschaftssystematik suchen. Bereits die Wiener Schule der Völkerkunde hat trotz ihrer historischen Orientierung erkannt, dass sie methodisch keine reine Geschichtswissenschaft zu sein vermag. 3 Allerdings begründet sie ihre Abhebung nicht systematisch vom eigenen Gegenstand der Kultur her, sondern macht die Andersartigkeit des Quellenmaterials und die Schwierigkeit seiner historischen Auslegung dafür geltend. Deshalb auch entlehnt sie noch ruhig historische Kategorien, um sie lediglich etwas modifiziert für ihr Material anzuwenden. So gebraucht sie die Kategorie der Einmaligkeit, welche nur in Bezug auf eine Tathandlung oder ein Ereignis absolute Gültigkeit haben kann, zur Charakterisierung der besonderen Geprägtheit einer Kultur. Notwendige Folge war natürlich, dass nun Kulturähnlichkeiten historisch voneinander abgeleitet werden mussten, denn jede kulturelle Geprägtheit musste aus einem einmaligen Ursprung erklärt werden können, falls die Kategorie überhaupt irgendeinen Sinn haben sollte. In ähnlicher Weise wurde der Entwicklungsgedanke, also die Aufeinanderfolge kultureller Leistungen unter eine Universalgeschichte subsumiert. Die Schwächen dieser Methode waren bald durchschaut. Die massivsten Angriffe gegen die Wiener Schule kamen aus den verschiedenen Lagern der Sozialanthropologen. 4 Auch diese waren sich der Tatsache bewusst, in der Ethnologie nicht rein soziologisch arbeiten zu können, gerade weil eine Funktionsanalyse der Geschichtlichkeit der Völker nicht gerecht werden kann. Trotzdem können sie sich Vgl. Wilhelm Schmidt, Handbuch der Methode der kulturhistorischen Ethnologie (1937); Wilhelm Koppers, »Der historische Grundcharakter der Völkerkunde« (1954): 135 ff.; Josef Haekel, »Zum heutigen Forschungsstand der historischen Ethnologie« (1956): 17 ff. 4 Vgl. Richard Thurnwald, Menschliche Gesellschaft in ihren ethno-soziologischen Grundlagen (1931–1935). Wilhelm E. Mühlmann/Ernst W. Müller (Hg.), Kulturanthropologie (1966). Zu den britischen Sozialanthropologen siehe den folgenden Beitrag. 3
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Die Methode oder die Prinzipien der wissenschaftlichen Fragestellung
– z. B. auch Wilhelm Mühlmann (Geschichte der Anthropologie, 1948), der am stärksten versucht, in seiner Systematik und Methodik die Geschichte zu berücksichtigen –, nicht von den soziologischen Kategorien der Funktion und Struktur trennen, sodass hier immer wieder die Gefahr auftaucht, Kulturelles zu typisieren und sozio-kulturelle Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten, anstatt die besondere Eigenart einer jeden Kultur und ihren Leistungsfortschritt im Ganzen menschheitlicher Kultur zu würdigen. Im deutschen Sprachraum waren es vor allem die Kulturmorphologen, die, um den eigenen Gegenstand der Kultur wissend, sich um eine diesem Gegenstand adäquate Methode bemühten. 5 Doch ist ihnen vorzuwerfen, dass sie zwar eine eigenständige Kulturkunde entwickelt haben, sich aber dann vor der Aufgabe einer systematischen Kulturgeschichte gedrückt und in eine vergleichende Kulturmorphologie geflüchtet haben und somit ein wichtiges Gebiet der Ethnologie und Kulturanthropologie letztlich unbearbeitet ließen. Im angelsächsischen Sprachraum ist es der theoretische Anthropologe David Bidney (Theoretical Anthropology, 1953), der, aus der dortigen Wissenschaftstradition verständlich, die Eigenständigkeit der Ethnologie oder Kulturanthropologie gegen die Versuche, Kulturelles einerseits psychologisch und andererseits soziologisch zu erklären, verteidigt. Er kommt so zu dem Ergebnis, dass man Kulturelles nur als aktives Selbstformen des Menschen in der Geschichte würdigen kann, dass die Eigenart des kulturellen Menschen weder aus den Verhaltensmöglichkeiten der menschlichen Natur noch aus sozialen Strukturbeziehungen verstehbar und erklärbar werden. Allerdings bleibt Bidney bei einer negativen Abhebung von diesen Versuchen stehen und kommt nicht mehr zu einer eigenständigen Methode für die Ethnologie.
2.2. Darlegung der grundlegendsten Kategorien einer Ethnologie Gegenstand der Ethnologie ist die Kultur in ihrer bestimmten gesellschaftlichen und geschichtlichen Ausprägung. Kultur ist die durch Überlieferung und Sprache gewährleistete, gelebte Einheit von Individuen eines Volkes in einer Tradition. Kultur ist die gemeinsame Leo, Frobenius, Paideuma – Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre (1921); Adolf Ellegard Jensen, Mythos und Kultur bei Naturvölkern (1951).
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Methodologische Vorklärungen zu den Grundlagen der Völkerkunde
Bewältigung und Leistung von Aufgaben, die sich dem kulturellen Menschen in seiner Auseinandersetzung mit der Natur, in seinem Verhältnis zu seinen Mitmenschen und durch die Besinnung auf Welt, Selbst und Gott ergeben. Was es zunächst zu erforschen gilt, ist somit die besondere Geprägtheit einer Kultur, in dieser unterscheidet sie sich von jeder anderen, in dieser manifestiert sie sich als Traditionsgemeinschaft. Jede Kultur ist anders geprägt, hierin liegt ihre völlige Eigenständigkeit. Bei noch so vielen Ähnlichkeiten zwischen historisch oder geographisch voneinander abhängigen Kulturen entspricht doch keine der anderen ganz und gar, sondern hat das Gemeinsame besonders ausgeprägt; nur deshalb kann man sie als eigenständige Kultur von den anderen abheben, andernfalls handelte es sich nur um einen Volksstamm innerhalb einer Kultur. Die Geprägtheit ist die erste Kategorie der Ethnologie, doch leistet sie zunächst nur eine quantitative Differenzierung des kulturanthropologischen Erfahrungsmaterials. Quantitativ insofern, als jede Kultur ihre eigene Geprägtheit aufweist, die zwar von allen anderen verschieden, aber nicht qualitativ unterschieden ist. Nun erweisen sich die Kulturen, von denen wir völkerkundliches Erfahrungsmaterial haben, auch qualitativ als sehr unterschiedlich geprägt. Die alte – völlig unwissenschaftliche – Rede von den primitiveren und höheren Kulturen hat einen wahren Kern. Kulturen unterscheiden sich qualitativ in ihrer kulturellen Leistung, im Leistungsstand körperlicher und geistiger menschlicher Arbeit. Die besondere Leistung einer Kultur drückt sich in ihrer Bestimmtheit der Auseinandersetzung mit der Natur, ihrem Verhältnis zum Menschen und in ihrer geistigen Besinnung aus. In der Leistung ist die geschichtliche Entwicklung einer Kultur Gestalt geworden; in den materiellen, sozialen und geistigen Errungenschaften eines Volkes manifestiert sich die aus der Tradition erwachsene gemeinschaftliche Arbeit des Menschen. Der Ethnologie oder Kulturanthropologie ist es aber nicht nur um eine Erfahrungsdifferenzierung, sondern ebenso um eine Systematik zu tun, von der her alle Kulturen in einen wissenschaftlichen – nicht realen – Zusammenhang gesetzt werden können. Dieser Zusammenhang wurde bisher fast durchwegs in der Kulturevolution oder Kulturgeschichte gesehen. Da diese Begriffe in der Gefahr der Missdeutung stehen – entweder einen biologischen oder sozialen Prozess oder eine Universalgeschichte vermuten lassen – wird hier im Folgenden von der Systematik des Kulturfortschritts gesprochen. 52 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Die Methode oder die Prinzipien der wissenschaftlichen Fragestellung
Auch soll im Wort Fortschritt die Leistung des kulturell schöpferischen Menschen besser zum Ausdruck kommen. Mit dieser Systematik des Kulturfortschritts soll sowohl der Stufenfolge von Leistungsphasen als auch dem historischen Wandel und Stagnieren von Geprägtheiten Rechnung getragen werden. Bei dieser Systematik geht es der Ethologie nicht um die Feststellung der geschichtlichen Folge kultureller Ereignisse – weil diese die kulturelle Erneuerung nicht aus den Vorbedingungen erklären kann – und nicht um die Feststellung der Strukturveränderung von Kulturen – weil diese nicht die Veränderungen selbst verstehen kann –, sondern es geht um eine wissenschaftliche Interpretation der Entfaltung und Gestaltung des Kulturellen am Menschen und durch den Menschen. Die Bedeutung dieser Kategorien und der sich daraus ergebenden Systematik soll nun in Umrissen skizziert werden: 1. Geprägtheit zeigt sich in der Doppelgesichtigkeit menschlichen Prägens und menschlichen Geprägtseins; hierin unterscheidet sich diese Kategorie wesentlich von der historischen, der einmaligen Tathandlung genauso wie von der soziologischen, der tatunabhängigen Handlungsfunktion. So einmalig auch eine kulturelle Tat sein mag, immer ist sie eine Tat, die aus einem bestimmten Volk und einer bestimmten Tradition erwachsen ist; und gerade darin liegt ihre Geprägtheit. Jedes Individuum ist Kind seiner Kultur. Die kulturelle Geprägtheit darf aber nicht als Funktion einer Kultur missdeutet werden, denn jedes Individuum muss sich alle Geprägtheit erst über Sprache und Überlieferung erwerben, um sie bewähren und verwirklichen zu können. Jedes Individuum ist Gestalter seiner Kultur. Durch die Geprägtheit unterscheidet sich eine Kultur signifikant von jeder anderen, und diese Unterscheidung versucht, sie als Tradition zu erhalten; so liegt in der Geprägtheit die Behauptung einer Kultur in der Welt und in der Geschichte. Die Geprägtheit stand schon immer ethnologischen Forschungen Pate: der kulturkundlichen Lokalinterpretation als strukturelle Ganzheit und der kulturgeschichtlichen Beziehungsforschung als Formkriterium. Nur die kulturelle Geprägtheit, niemals aber eine Funktionsbedingtheit kann in ihrer geprägten Form auch in ihrer Geschichte verfolgt werden, nur sie, niemals aber eine Anhäufung einmaliger Kulturelemente kann als geprägte Ganzheit funktionsbestimmend sein. 2. Leistung ist das, was der kulturelle Mensch in gemeinsamer körperlicher und geistiger Arbeit der Natur abtrotzt, was er sich dem Mitmenschen gegenüber abringt und was er sich durch geistige Be53 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Methodologische Vorklärungen zu den Grundlagen der Völkerkunde
sinnung erwirbt. Jede kulturelle Leistung baut auf vorausgehende Leistungen auf, doch kann auch eine Leistung wieder verloren gehen, denn jede Generation, ja jedes Individuum muss sich das bisher Geleistete neu aneignen und muss es bewähren; wo dies nicht oder unzulänglich geschieht, geht eine Leistung verloren. In der Leistung hat sich die geschichtliche Arbeit eines Volkes verfestigt, darin unterscheiden sich die Kulturen qualitativ. Die Leistung ist niemals ein endgültig erworbener Besitzstand einer Kultur, denn sie lebt einzig und allein in der von Generation zu Generation sich erneuernden kulturellen Aktivität. Von der soziologischen Kategorie der Struktur unterscheidet sich die Leistung darin, dass sie die in der kulturellen Tat steckende geschichtliche Arbeit berücksichtigt, von der historischen Kategorie der Bedeutsamkeit für die Folgezeit dadurch, dass sie das Geleistete unabhängig von den möglichen Folgen aufzeigt. Auch die Leistung ist eine Kategorie, die in der Ethnologie immer schon zu Hause war, von ihr her wurde in der Kulturgeschichtsforschung eine chronologische Schichtenfolge entworfen und in der Kulturkunde eine Entwicklungstypologie erstellt. Durch die Kategorie der Leistung werden, über Zeiten und Kontinente hinweg, Kulturen miteinander vergleichbar, wenn sie den gleichen Leistungsstand aufweisen, etwa im Gerät gegenüber den Anforderungen der Natur oder im Geistigen in der Welt- und Selbsteinschätzung. Über die Leistung im Materiellen, Sozialen und Geistigen, welche voneinander unabhängig sich entfalten können, können aber auch geschichtliche Folgen erschlossen werden. Konstanz und Wandel einer Kultur werden durch ihre Geprägtheit und Leistung bestimmbar, ebenso wie Abkunft und Auswirkung von Geprägtheit und Leistung einer Kultur auf andere Auskunft geben und dieser Kulturen auf jene über das Verhältnis der Kulturen untereinander. 3. Mit Hilfe dieser beiden Kategorien kann die Ethnologie eine ihnen adäquate Systematik des Kulturfortschritts entwerfen. In dieser Systematik muss die Kulturanthropologie alle Kulturen relational erfassen können. Während die Historie an den rezenten Naturvölkern völlig vorbeisieht, da deren Eigengeschichte nicht bedeutsam ist im Hinblick auf die Universalgeschichte, ordnet die Soziologie in ihrer ahistorischen Sozialtypologie alle Gesellschaften gleichrangig nebeneinander. Lediglich eine Systematik des Fortschritts erlaubt es, alle Kulturen in ihrer geschichtlichen Eigenleistung ebenso wie in ihrer besonders gearteten Prägung zu berücksichtigen und zu erfor54 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Die Techniken und Arbeitsmethoden der Völkerkunde
schen und, ohne unwissenschaftlich wertend zu sein, ihre jeweilige Geprägtheit und Leistung im gesamtmenschheitlichen Fortschritt zu bewerten. Über die Systematik des Kulturfortschritts kommen Kontinuität und Leistungssprung der menschlichen Kulturen in ein objektives Zusammenhangsgefüge. So ist es nun durchaus möglich, eine rezente Stammeskultur mit einer frühgeschichtlichen Kultur über die Systematik des Kulturfortschritts zu vergleichen; allerdings wird man auch die Aufgabe haben zu begründen, wie eine solche Geprägtheits- und Leistungskonstanz – die nichts mit einem Geschichtsstillstand zu tun hat, und die deshalb auch nicht historisch auswertbar ist, zustande kommen konnte; ebenso wie man Bedingungen wird erforschen müssen, wie es zu solchen Leistungssprüngen wie Bodenbau, Stadtkultur, Industrialisierung usw. gekommen ist. Die Systematik muss sich aber streng an das der Ethnologie zugängliche Erfahrungsmaterial halten, jede spekulative und rein theoretische Hypothesenbildung ohne Erfahrungsgrundlage muss ausgeschlossen bleiben. So darf z. B. nicht ohne geeignetes Quellenmaterial vom Kulturfortschritt einer Leistungsform auf die anderen rückgeschlossen werden; Bodenbau und Mutterrecht 6 hängen genauso wenig unmittelbar zusammen wie Jägertum und Hochgottglaube 7. Die Systematik des Kulturfortschritts weist die Kulturanthropologie bzw. Ethnologie als eine Wissenschaft von der Geschichte aus, aber sie zeigt zugleich auch ihre Eigenständigkeit gegenüber der reinen Historie, denn sie würdigt im Gegensatz zu dieser die geschichtliche Eigenleistung und -prägung eines jeden Volkes und ordnet diese dann zu einem auseinander sich entfaltenden und voneinander sich gestaltenden Fortschreiten menschheitlicher Kultur.
3.
Die Techniken und Arbeitsmethoden der Völkerkunde
Mit den Kategorien können nur die allgemeinen Prinzipien des Forschens aufgezeigt werden; die Völkerkunde muss aber nun empirisches Material über alle Kulturen nach diesen Prinzipien zusammenJohann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht: eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur (1861). 7 Wilhelm Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie. 12 Bde. (1912–1955). 6
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Methodologische Vorklärungen zu den Grundlagen der Völkerkunde
tragen und das ermittelte Erfahrungswissen in konkret systematischen Bezug setzen. Zur Bewältigung dieser empirischen und systematischen Forschungsarbeit kann die Methode der Völkerkunde sich verschiedenster Techniken bedienen. (Die meisten Diskussionen über die Methode der Völkerkunde betreffen im Grunde nicht das Prinzipielle, sondern die Ermittlungs- und Verfahrenstechniken: so die Technik der Feldforschung oder die Technik der Auswertung von Quellenmaterial. Von diesen Techniken her lässt sich aber nichts über Gegenstand und Methode ermitteln.) Die Techniken sind das Handwerkszeug des methodischen Forschens, sie dienen dazu, verlässliches Quellenmaterial zu liefern und dieses nach festen Regeln zusammenzufassen, sie dienen also zur Erfahrungsermittlung und -verarbeitung. Techniken lassen sich prinzipiell immer mechanisieren und quantifizieren, d. h. man kann mit ihnen Erfahrungen in typisierten Erhebungen erfassen und in strukturierten Statistiken auswerten. Erhebungen und Statistiken dienen letztlich auch nur der quantitativen Verlässlichkeit eines empirischen Sachverhalts, der von der Methode gezielt erfragt wird. Einzig und allein die methodische, gegenstandsadäquate Frage kann den Einsatz einer bestimmten Technik diktieren. Die Techniken selbst sind völlig wissenschaftsneutral, das von ihnen gelieferte Material der empirischen Daten kann – bei Berücksichtigung ihrer besonderen technikimmanenten Grenzen – von jeder Wissenschaft innerhalb ihrer Methode aufgenommen und ausgewertet werden. Nur dort, wo die Techniken in gezielt methodischem Einsatz und unter methodischer Kontrolle stehen, haben sie wissenschaftlichen Aussagewert, können das Wissensgefüge einer Wissenschaft mit Erfahrungen anreichern, erweitern und festigen. Die Methode der Völkerkunde sucht Konkretes über die Geprägtheit einer Kultur und über ihren geschichtlichen Leistungsstand in Erfahrung zu bringen. Ihr Fragen ist dabei – wie bei jeder Erfahrungswissenschaft – methodisch-pragmatisch und empirisch-hypothetisch, d. h. immer auf konkretes, nur von ihr erfassbares Erfahrungswissen aus, das aber in seiner empirischen Bestimmtheit noch nicht ermittelt, sondern erst antizipiert ist. Hierin liegt die Heuristik all ihres methodischen Forschens – nicht in ihrer Systematik und ihren prinzipiellen Forderungen, wohl aber in dem von ihr konkret Erforschten stellt sie sich selbst immer wieder in Frage, muss durch immer neues Quellenmaterial das Hypothetische ihrer Erfahrungsaussagen erhärten oder auf neue adäquatere Erfahrungshypothesen hin überholen. Die empirische Hypothese ist der Motor alles wissen56 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Die Techniken und Arbeitsmethoden der Völkerkunde
schaftlichen Forschens und darf nicht mit der außerwissenschaftlichen Spekulation verwechselt werden, welche nicht auf EmpirischKonkretes, sondern auf abstrakte Theorie hinzielt. Die empirische Hypothese bezieht sich immer nur auf einen ganz bestimmten konkreten Fall. Um das von ihr pragmatisch geforderte und hypothetisch antizipierte Erfahrungswissen zu ermitteln, setzt die Methode eine bestimmte, hierfür geeignete Technik ein. So werden, um historische Beziehungen zwischen Völkern zu ermitteln, die Techniken der sogenannten historischen Hilfswissenschaften anzuwenden sein, während man zur Ermittlung des kulturgeprägten, alltäglichen Lebens eines Volkes die Techniken der Feldforschung einsetzen wird. Von den technischen Begriffen Konvergenz, Evolution, Diffusion lassen sich keine prinzipiell-methodischen Forschungsrichtlinien ableiten. 8 Diese Begriffe lassen sich nur hypothetisch für konkrete Forschungsziele einsetzen und müssen in jedem konkreten Fall empirisch erwiesen werden. Wollte man die Diffusion zum Prinzip machen, anstatt sie als Arbeitsmethode anzusehen, so müsste man wieder die historische Kategorie der Einmaligkeit inaugurieren, was aber bedeuten würde, dass man Leistungen wie Bodenbau, Stadtstaatenbildung u. ä. aus einem einzigen historischen Ursprung ableiten müsste, was prinzipiell das kulturelle Schaffen des Menschen in Frage stellen würde. Die Konvergenz zum Prinzip erhoben, würde andererseits bedeuten, dass alle ähnlichen Geprägtheiten auf universale menschliche elementar-funktionale Gegebenheiten zurückzuführen wären, was wiederum die geschichtliche Gestaltungskraft des Menschen in Frage stellen würde. Es zeigt sich also, dass diese Begriffe nur für konkrete Forschungsfragen von Fall zu Fall eingesetzt werden können. Allerdings steht jeder Forscher unter dem permanenten Anspruch, alle historisch möglichen Beziehungen zwischen den Völkern ebenso zu berücksichtigen wie alle natürlichen und sozialen Vorausgegebenheiten in ihrer funktionalen Gesetzlichkeit zu erforschen. Jede konkrete Situation kann nach verschiedenen Techniken ausgewertet werden, die Auswertung geschieht aber bereits von einer bestimmten methodischen Fragestellung her. Ohne methodische Fragestellung ist nicht anzugeben, welche Technik zur Anwendung gelangen soll und was das ermittelte empirische Material eigentlich zu sagen hat. Je nachdem, was man im besonderen Fall methodisch zu erfahren sucht, wird man neben den verschiedenen Techniken auch 8
Vgl. Wilhelm Koppers, »Diffusion: Transmission and Acceptance« (1956): 160 ff.
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Methodologische Vorklärungen zu den Grundlagen der Völkerkunde
die Ergebnisse von Nachbardisziplinen heranziehen. Für historische Fragen ist die Zusammenarbeit mit der Frühgeschichte, Archäologie, historische Linguistik, physischen Anthropologie, für Fragen in Bezug auf das kulturelle Leben die Zusammenarbeit mit Psychologie, Soziologie, Religionsphänomenologie unerlässlich. Fragen nach dem kulturellen Fortschritt werden nur in Zusammenarbeit mit Wirtschaftsgeschichte, Staats- und Rechtsgeschichte und Religions- und Kunstgeschichte eine befriedigende Breite und Genauigkeit erlangen. Immer aber müssen diese Ergebnisse und die Verwendung bestimmter Techniken unter dem Primat der kulturanthropologisch-ethnologischen Methode stehen. Die Forschungsweisen anderer Wissenschaften und die Techniken dürfen niemals zum Selbstzweck werden. Die unter dem Primat der Methode technisch ermittelten Erfahrungsdaten können dann auch anderen Wissenschaften zugutekommen – allerdings erfahren sie dabei eine Transformation in eine andere Wissenschaftssystematik. 9
4.
Kulturanthropologie und Philosophie
Bedenken wir noch kurz die Grenzen, die einer Wissenschaft durch Gegenstand, Methode und technisch ermitteltes Erfahrungswissen gesetzt sind. Die Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen ist eine Erfahrungswissenschaft, sie bringt die Geprägtheit und Leistung von ganz verschiedenen Kulturen in Erfahrung. Wie jede Einzelwissenschaft setzt sie ihren Gegenstand, die Kultur, in all ihrem Fragen voraus. Daher ist es ihr unmöglich, nach dem Ursprung ihres Gegenstandes zu fragen. Die Entstehung der Kultur oder, damit zusammenhängend, der Sprache, Religion oder des Menschen überhaupt zu erDie sogenannte angewandte Völkerkunde ist – prinzipiell betrachtet – weder eine Technik der Kulturanthropologie noch gehört sie überhaupt zur Systematik der Völkerkunde. Sie steht unter dem Primat der Pragmatik, d. h. in irgendwelchem – wie auch immer bestimmten – politisch-pädagogischen Aufgabenstellungen. Zwar hat sie ethnologisches Wissen zu ihrer unersetzbaren Voraussetzung, dieses Wissen aber steht im Dienste einer politisch-pädagogischen Aktion und nicht umgekehrt diese im Dienste der Wissenschaftlichkeit der Ethnologie. Etwas anderes ist die rein wissenschaftlich betriebene Akkulturationsforschung, die ganz nach den Prinzipien der Ethnologie als einer eigenständigen Wissenschaft betrieben wird, auch dann, wenn das dabei erworbene Wissen nachträglich für politisch-pädagogische Planung nutzbar gemacht wird. Vgl. Hans Manndorff, »A Report on the Establishment of a Tribal Research Center in Northern Thailand« (1965): 23 ff.
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Kulturanthropologie und Philosophie
klären, ist ihr genauso unmöglich wie den anderen Wissenschaften, die Sprache, Religion und den Menschen bereits durch ihr Fragen voraussetzen. Geben Wissenschaftler trotzdem über den vermuteten Ursprung Erklärungen ab, so sind diese Aussagen nicht mehr wissenschaftsimmanent, sie haben dann bereits die Grenzen des ihnen Möglichen überschritten. Als Erfahrungswissenschaft hat sich die Ethnologie wie jede andere Einzelwissenschaft an die Grenzen des an ihrem Gegenstand Erfahrbaren zu halten. Der Ursprung der Kultur, des Menschen, der Sprache, der Religion ist aber niemals ein möglicher Inhalt der Erfahrung, denn das kulturanthropologische Fragen setzt ja das, was die Kultur zur Kultur macht, bereits voraus. Fragt man aber mit vorkulturellen, biologischen oder naturwissenschaftlichen Methoden nach dem Menschen, der Kultur, der Sprache, der Religion, so fehlen genau die Kategorien, die zur Erklärung des Menschen, seiner Kultur, seiner Sprache, seiner Religion benötigt werden. Die Ursprungsfrage ist somit immer eine wissenschaftstranszendente, philosophische Frage, eine Frage der philosophischen Anthropologie. Hauptaufgabe der philosophischen Anthropologie ist es, aporetisch die unwissenschaftlichen und pseudophilosophischen Theorien der Einzelwissenschaft von ihren undurchschauten Ungereimtheiten zu befreien. Ob es nun der Urmonotheismus ist, die Entstehung der Sprache aus dem Lallen der noch nicht menschlichen Menschen, der Ursprung der Kultur aus dem Inzesttabu oder der Anfang der Menschheit aus Gehirnwachstum und aufrechtem Gang, immer wird entweder bei diesen Erklärungen mit voranthropologischen Kategorien gerade das Anthropologische nicht erklärt oder es wird ein dogmatischer Anfang gesetzt, der somit ebenfalls nichts erklärt. Diese undurchschaute Pseudophilosophie wird von der philosophischen Anthropologie aporetisch bloßgestellt. Zu einer positiven Erklärung kommt auch sie nicht, sie deckt nur die Schwierigkeiten auf und führt so das menschliche Wissen an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Was hier exemplarisch an der Frage nach dem Ursprung der Kultur dargelegt wurde, gilt ebenso für die Frage nach dem Ziel und Endzweck menschlicher Kultur oder für die Frage nach dem Warum des kulturellen Fortschrittes. Die Ethnologie oder Kulturanthropologie kann lediglich aufgrund ihres Erfahrungsmaterials über Geprägtheit und Leistung der Kulturen das Wie des Fortschritts zu ermitteln suchen, so kann sie die Vorausbedingung eines Leistungssprungs zu erfahren suchen oder die Tendenzen einer Prägungsänderung verfolgen, niemals aber darüber hinaus über das Woher, Warum und Wo59 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Methodologische Vorklärungen zu den Grundlagen der Völkerkunde
hin der menschlichen Kultur überhaupt Auskunft geben. Die Völkerkunde kann sich nur auf die ihrer Methode immanenten Kategorien der Geprägtheit und der Leistung berufen. Die nach diesen Kategorien aus der Erfahrung gebildete Systematik des Kulturfortschritts ist eine phänomenal-differenzierende, keine begründende Systematik. Die Bedingungen der Möglichkeit menschheitlichen Fortschritts und sein Ursprung und Ziel sind wissenschaftstranszendente, philosophische Probleme; lediglich der tatsächlich erfolgte Fortschritt lässt sich völkerkundlich beschreiben, das eigentliche Warum geht nicht mit in ihr empirisches Material ein. Auch hier hat eine philosophische Anthropologie in aporetischer Abhebung von allen voreiligen Theorien das eigentliche Problem bei der Frage nach dem Ermöglichenden des menschheitlichen Fortschritts bewusst zu machen. Jeder Wissenschaftler muss den Mut besitzen, sich auf die Grenzen seiner wissenschaftlichen Methode zu besinnen. Dadurch verhindert er, dass er pseudowissenschaftlich über die Grenzen seiner Wissenschaft hinaus- und in ihm fremde Wissenschaftsgebiete eingreift, anstatt mit den benachbarten Wissenschaften – um eines umfassenden Wissens vom Menschen willen – zusammenzuarbeiten. Eine solche Besinnung auf die Möglichkeiten und Grenzen der Ethnologie oder Kulturanthropologie wurde hier in groben Umrissen versucht.
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3. Überblickgebende Erörterungen zum Stand der Kulturanthropologie 1
Dieser Beitrag befasst sich mit den theoretischen Grundlagenfragen der Ethnologie als einer Wissenschaft vom Menschen und der menschlichen Kultur. Die Bezeichnung »Kulturanthropologie« steht dabei – jenseits terminologischer Streitigkeiten – für alle Versuche, über die ethnographische Forschung hinaus, zu wissenschaftlich fundierten und allgemein geltenden Aussagen über den Menschen zu kommen. Seit dem Scheitern des großen Versuchs der Wiener Schule, eine umfassende Frühgeschichte des Menschen zu geben, besteht im deutschen Sprachraum eine geradezu ängstliche Beschränkung auf ethnographische Quellensammlungen. Ganz anders steht es mit der angloamerikanischen Kulturanthropologie und der französischen Ethnologie. Erstere kennzeichnet Wolfgang Rudolph in seinem Buch Die amerikanische Cultural Anthropology und das Wertproblem (1959) als »eine gesteigerte Besinnung auf grundsätzliche wissenschaftstheoretische Fragen und eine energische Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Wissenschaften, die sich dem Problem des Menschen unter anderen Aspekten zu nähern versuchen.« (Rudolph, 1959: 30) In weit verstärktem Maße können wir solches auch vom französischen Strukturalismus behaupten, dem es um eine einheitliche Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen zu tun ist. Es kann sich keine Wissenschaft als eigenständige Disziplin etablieren, wenn sie sich nicht um ihre theoretischen Grundlagen in AusVortrag gehalten auf dem XIII. Kongress der Gesellschaft für Völkerkunde in St. Augustin im Oktober 1967, erschienen unter dem Titel »Philosophische Erörterungen zum gegenwärtigen Stand der Kulturanthropologie« in: Anthropos – Internationale Zeitschrift für Völker- und Sprachkunde 62 (1967): 823 ff. Auch diese grundlagentheoretische Studie gibt nur den Diskussionsstand vor 50 Jahren wieder, seither haben sich sicherlich die Forschungsansätze der Ethnologie wesentlich differenziert, worauf die beiden folgenden Abhandlungen auch Bezug nehmen, aber unter systematischen Gesichtspunkten betrachtet, beschreibt diese Skizze aus dem Jahre 1967 noch immer die beiden Hauptforschungslinien innerhalb der Kulturanthropologie.
1
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Überblickgebende Erörterungen zum Stand der Kulturanthropologie
einandersetzung mit ihren Nachbardisziplinen und in Verbindung mit der Philosophie bemüht. Diese Erörterung möchte zu der immer notwendiger werdenden Zusammenarbeit zwischen Kulturphilosophie und Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen beitragen.
1.
Die anglo-amerikanische Kulturanthropologie
Es scheint gewagt, bei der Fülle der gegeneinander polemisierenden Richtungen in Amerika und England von einer anglo-amerikanischen Kulturanthropologie zu reden. Wir wollen hier jedoch keineswegs parteinehmend in die verschiedenen Diskussionsfelder (zu Kultur und Persönlichkeit, Kultur und Gesellschaft, Persönlichkeit und Gesellschaft usw.) eingreifen, sondern es geht uns darum, in einem skizzenhaften Überblick die gemeinsame theoretische Grundhaltung zu kennzeichnen, die uns zur Sammelbezeichnung »anglo-amerikanische Kulturanthropologie« berechtigt. Die Anregung zur Breite ihrer Forschung verdankt die amerikanische Ethnologie ihrem großen Pionier Franz Boas (»The Limitations of the Comparative Method in Anthropology«, 1896), der durch seine unermüdliche und geradezu aufopfernde ethnographische Forschung den hybriden Theorien seiner Zeit, dem Evolutionismus (Lewis H. Morgan, Eduard B. Tylor) 2 und dem Diffusionismus (W. H. R. Rivers) 3, den spekulativen Boden entzog. Boas entsagt aller voreiligen, den Blick des Forschers trübenden kulturanthropologischen Theorie und reduziert die vorläufige Aufgabe der Ethnologie auf die Bestandsaufnahme des phänomenal Erfassbaren in lokal und historisch überschaubaren Bereichen. Von Boas haben Generationen amerikanischer Ethnologen Anregung und Ethos für ihre sich aller Theorie enthaltenden groß-angelegten Feldforschungen und Monographien erhalten. Doch da jede Wissenschaft einer systematischen Geordnetheit bedarf und nicht nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Sammlung von Monographien bestehen kann, haben sich bereits die unmittelbaren Schüler von Boas der Theorienbildung nicht enthalten können. So ist für Edward Sapir und Benjamin L. Whorf
Lewis H. Morgen, Die Urgesellschaft (engl. 1877). Edward B. Tylor, Primitive Culture (1871). 3 W. H. R. Rivers, Psychology and Ethnology (1926). 2
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Die anglo-amerikanische Kulturanthropologie
die Sprache 4, für Robert H. Lowie und Ruth Benedict die charakterologische Kulturprägung (pattern) 5, für Clark Wissler und Alfred L. Kroeber die sozio-kulturelle Kulturprovinz (cultural area) 6 nicht nur eine systematisierende Kategorie der Materialordnung, sondern bereits ein Bekenntnis zu einer ganz bestimmten kulturanthropologischen Theorie. Unabhängig von Boas, aber ebenfalls gegen den Evolutionismus und Diffusionismus gerichtet, hat sich der angelsächsische Funktionalismus durch A. R. Radcliffe-Brown und Bronislaw Malinowski ausgebildet. 7 Auch diese beiden betonen die Feldforschung, kennen aber nicht Boas’ Bescheidung in die ethnographische Deskription, sondern legen ihren Untersuchungen von vornherein die sozio-biologische Theorie des Funktionierens sozialer Organismen bzw. die psycho-biologische Theorie des bedürfnisgeregelten Funktionierens zugrunde. Gerade die sozio-biologischen und die psycho-biologischen Grundeinstellungen sind mit Abwandlungen durch den Einfluss des großen Theoretikers der Soziologie Talcott Parsons 8 und durch Géza Roheims Psychoanalyse 9 für die heutige anglo-amerikanische Kulturanthropologie bestimmend geworden. Die dadurch angeregte Auseinandersetzung mit der Soziologie hat der Ethnologie ganz neue Forschungsbereiche und Frageweisen eröffnet, die vor allem durch Melville J. Herskovits, Robert Redfield und Homer C. Barnet zu einer vertieften Erforschung des sozialen Wandels und der Akkulturation 10 und durch Eduard E. Evans-Pritchard, Raymond Firth und George P. Edward Sapir, The Unconscious Patterning of Behavior in Society (1927). Benjamin L. Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit (engl. 1956). 5 Robert H. Lowie, The History of Ethnological Theory (1937). Ruth Benedict, Urformen der Kultur (engl. 1934). 6 Clark Wissler, An Introduction to Social Anthropology (1929). Alfred L. Kroeber, Anthropology (1923). 7 A. R. Radcliffe-Brown, Structure and Function in Primitive Society (1952). Bronislaw Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (engl. 1944). 8 Talcott Parsons, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven (engl. 1966). 9 Géza Roheim, Psychoanalyse und Anthropologie (engl. 1950). Kritisch dazu: Georges Devereux, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften (engl. 1967). 10 Melville J. Herskovits, Acculturation, a Study of Contacts (1938). Robert Redfield, Human Nature and the Study of Society (1962). Homer G. Barnett, Culture processes (1940). 4
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Überblickgebende Erörterungen zum Stand der Kulturanthropologie
Murdock zu großangelegten Typisierungen von Sozialverhalten und Sozialorganisationen 11 geführt haben. Ebenso hat die Auseinandersetzung mit der Psychologie die Ethnologie zu einer intensivierten Erforschung der kulturellen Angepasstheit und Integration des Individuums (durch Ralph Linton, Abram Kardiner, Clyde Kluckhohn und Meyer Fortes) und der psychologischen Seite der Akkulturation (A. Irving Hallowell) angeregt. 12 Trotz dieser Verbreiterung der ethnographischen Forschungsrichtungen um die soziale und psychische Dimension darf jedoch nicht übersehen werden, dass hier ein sich gegenseitig ausschließender theoretischer Reduktionismus auf das phänomenal Erfassbare an den sozialen Verhaltensformen oder an den psychischen Verhaltensweisen am Werk ist. Gegen diese beiden großen Richtungen in der gegenwärtigen anglo-amerikanischen Kulturanthropologie behauptet sich noch die an Robert H. Lowie und Alfred L. Kroeber anknüpfende kulturologische Richtung von Walter W. Taylor und Leslie A. White 13, die sich in starker Polemik gegen die psychologische und soziologische Verhaltensforschung befindet und versucht, die Kultur als geschichtliches und geistig-symbolhaftes Phänomen in ihrer Eigenständigkeit zu bewahren. Aber auch dieser Richtung liegt ein an den Evolutionismus erinnernder theoretischer Reduktionismus zugrunde, der alles Kulturelle auf phänomenal erfassbare natürliche Reaktionen des menschlichen Geist-Organismus zurückführt. Wie sehr diese Richtungen, die ihren Wert für die ethnographische Forschung gerade in der Verschiedenheit der Frageweisen haben, zu sich gegenseitig ausschließenden Theorien geworden sind, zeigt die Polemik in der ihnen allen gemeinsamen Wertorientierungsforschung. Anstatt im individuellen Verhalten zu den Werten, den Werten als Regeln des sozialen Verkehrs und den Werten als Ausdruck geistigen Symbolschaffens, verschiedene sich ergänzende Aspekte
Edward E. Evans-Pritchard, Social Anthropology (1951). Raymond Firth, Elements of Social Organization (1951). George P. Murdock, Social Structure (1949). 12 Ralph Linton, The Cultural Background of Personality (1945). Abram Kardiner, The Individual and his Society (1939). Clyde Kluckhohn, »Theoretical Bases for an Empirical Method of Studying the Acquisition of Culture by Individuals« (1939). Meyer Fortes, Ödipus und Hiob in westafrikanischen Religionen (engl. 1959). A. Irving Hallowell, »Personality Structure and the Evolution of Man« (1950). 13 Walter W. Taylor, A Study of Archeology (1948). Leslie A. White, The Science of Culture (1949). 11
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Die anglo-amerikanische Kulturanthropologie
eines kulturellen Phänomens zu sehen, versucht hier eine Theorie der anderen ihren Gegenstand der Forschung streitig zu machen. Diese grobe Skizzierung der anglo-amerikanischen Strömungen in der Kulturanthropologie dient nur als Hintergrund für unsere eigentliche Problemstellung, denn in die theoretische und polemische Auseinandersetzung selbst einzugreifen scheint ein nahezu unmögliches und unnötiges Unterfangen. Verwiesen sei hier auf die theoretisch anspruchsvolleren Kulturanthropologen Pitirim A. Sorokin, F. S. C. Northrop und David Bidney, die sich die Mühe gemacht haben, in diesem Theoriengestrüpp klärend zu wirken. 14 Uns geht es hier um die Aufdeckung der wissenschaftstheoretischen und philosophischen Voraussetzungen, die diesen kulturanthropologischen Ansätzen zugrunde liegen. Franz Boas hatte sich auf die ethnographische Feldforschung zurückgezogen, weil er der Hybris und Primitivität der Theorien seiner Zeit entgehen wollte; aber jede Kultur allein für sich aus ihrer eigentümlichen Geprägtheit erklären zu wollen, führt zu einer chaotischen Wissensansammlung ohne Wissenschaftlichkeit. Um einer Systematik willen führte der Weg der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie zurück zur Hybris und Vereinseitigung neuer Theorien, wie in dem Soziobiologismus Murdocks, dem Psychobiologismus Kluckhohns, dem Kulturbiologismus oder dem wiedererwachten Evolutionismus Whites. Es erhebt sich die Frage, ob die Entscheidung Ethnographie oder hybride Theorie eine wirkliche Alternative für die Kulturanthropologie darstellen muss. Eine Klärung dieses Problems mag der Rückgriff auf Richard Thurnwald bringen, dessen Forschungsthemen mit denen der angloamerikanischen Ethnologie eng verwandt sind. 15 Wir finden bei ihm den gleichen Reduktionismus auf das phänomenal Erfassbare des Sozialverhaltens und der psychischen Ausdrucksformen des Individuums, trotzdem ist er weder nur Ethnograph noch Anhänger einer sozio-, psycho- oder kulturbiologischen Theorie. Thurnwald selbst gibt uns, mit Berufung auf Max Weber 16, die Erklärung: Jede empiriPitirim A. Sorokin, Society, Culture and Personality (1947). F. S. C. Northrop (Hg.), Ideological Differences and World Order (1949). David Bidney, Theoretical Anthropology (1953). 15 Richard Thurnwald, Menschliche Gesellschaft in ihren ethno-soziologischen Grundlagen (1931/35). 16 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (1920). 14
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Überblickgebende Erörterungen zum Stand der Kulturanthropologie
sche Wissenschaft muss sich um der Objektivität willen auf das phänomenal Erfassbare beschränken, aber sie bedarf zur Erforschung und Ordnung ihres Forschungsmaterials systematisierender Kategorien. Diese Kategorien (z. B. Struktur und Funktion) sind aber selbst nicht wieder phänomenal Erfassbares, sondern – wie er sagt – »Abstraktionen und Deutungen«. Sie sind das notwendige, aber nur heuristische Rüstzeug für die Wissenschaft, um die Fülle des Materials zu durchdringen und zu ordnen. Sie sind Prinzipien für die Strukturierung des phänomenal Erfassbaren, aber nicht Abbild der Wirklichkeit selbst. Genau gegen diese wissenschaftstheoretische Einsicht aber verstößt die anglo-amerikanische Kulturanthropologie. Murdock hält seine statistisch gewonnenen Sozialtypen nicht nur für beschreibende Charakteristika, sondern für natürliche, ontische Wirklichkeiten; Kluckhohn spricht nicht nur heuristisch von einer Persönlichkeitsstruktur, die uns Psychisches erschließen lässt, sondern glaubt eine psychisch-organische, d. h. ontische Wirklichkeit erklären zu können; White sieht im Symbolhaft-Geistigen nicht eine beschreibende und ordnende Kategorie, vielmehr ist das sogenannte »Symbolat« ihm eine dinghafte Größe, die die kulturorganische Entwicklung des Menschen beherrscht. Die anglo-amerikanische Kulturanthropologie ist also dadurch gekennzeichnet, dass sie in naiver Weise glaubt, mit heuristischen Kategorien und modellhafter Wissenschaftssystematik über die Wirklichkeit, das Wesen, den Sinn des Menschseins selbst etwas aussagen zu können. Mit dieser Kritik soll keineswegs der Reichtum der anglo-amerikanischen ethnographischen Forschung in Frage gestellt werden, denn verständlicherweise haben sich für die Feldforschung die theoretischen Grundkonzepte nur als heuristische Richtlinien ausgewirkt und haben dadurch ganz neue Fragedimensionen erschlossen. In ihren theoretischen Grundlegungsversuchen jedoch verfällt die anglo-amerikanische Cultural Anthropology immer wieder erneut der philosophischen Naivität, den methodisch notwendigen Reduktionismus einer jeden empirischen Forschung – durch bestimmte Kategorien (wie Funktion und Struktur) das ihr phänomenal Erfassbare in eine systematische Ordnung zu bringen – für die jeweils einzig mögliche Erkenntnis- und Aussageweise der Wirklichkeit des Menschen selbst zu halten, wodurch sie ihre Modelle zwangsläufig ontisiert bzw. biologisiert.
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Der französische Strukturalismus
2.
Der französische Strukturalismus
Der französische Strukturalismus, d. h. Claude Lévi-Strauss 17 und seine Schule, bestimmt – abgesehen von den marxistischen Anthropologen 18 – heute in Frankreich die Wissenschaft vom Menschen. Auch Lévi-Strauss’ Strukturale Anthropologie ist wie die anglo-amerikanische durch die Begriffe »Funktion« und »Struktur« bestimmt, aber die Gleichheit der Terminologie darf uns nicht über die gänzlich andere Perspektive hinwegtäuschen. Die beiden verschiedenen Blickrichtungen erkennen wir am besten, wenn wir der Unterscheidung von Ethnographie und Ethnologie bei Lévi-Strauss folgen. Ethnographie im positiven Sinne des Wortes bedeutet Feldforschung, bedeutet wissenschaftliche Deskription der Kulturen in ihrer je eigentümlichen Geprägtheit und Leistung. Der Schwerpunkt der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie liegt in der Ethnographie; Struktur und Funktion sind hier – im guten Sinne genommen – das heuristische Rüstzeug zur phänomenalen Erforschung und systematischen Ordnung der kulturellen Erscheinungen. Ethnologie dagegen – so sieht Lévi-Strauss seine strukturale Ethnologie – fragt gleichsam nach dem Logos, der in den kulturellen Erscheinungen waltet. Sie setzt die Feldforschung und Materialbeschreibung in kulturspezifischen Monographien in ganzer Breite voraus und sucht nun, in zweiter Instanz durch Vergleiche und Analysen die Strukturgesetzmäßigkeiten aufzudecken, die besonderen kulturellen Geprägtheiten zugrunde liegen. Sie ist deshalb notwendigerweise eine Analyse »am Schreibtisch« und darf niemals mit der ethnographischen Feldforschung vermengt werden, wenn man in beiden Bereichen auf wissenschaftliche Objektivität bedacht ist. In der Ethnologie nun sind Funktion und Struktur logische Kategorien und stehen für Gesetzmäßigkeiten in bestimmten Phänomenbereichen. So wie Karl Marx im Kapital (1867) nicht etwa eine historiographische Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft gegeben hat, sondern sich bemühte, die Strukturgesetzmäßigkeit der durch das Kapital beherrschten Ökonomie aufzudecken, so wie der sprachwissenschaftliche Strukturalismus (Nikolai S. Trubetzkoi, Roman O. Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie (fr. 1958/1967). Maurice Godelier, Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften (fr. 1973/1975). Siehe hierzu den Beitrag »5. Strukturale und geschichtsmaterialistische Kulturtheorie« in diesem Band.
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Überblickgebende Erörterungen zum Stand der Kulturanthropologie
Jakobson) 19 nicht bei einer phänomenalen Erfassung der Verschiedenheiten der Sprachen stehen bleibt, sondern nach den die grammatischen und lexikalischen Regeln beherrschenden Gesetzmäßigkeiten fragt, so versucht auch Lévi-Strauss, in der Ethnologie die strukturale Gesetzmäßigkeit von Verwandtschaftssystemen und sozialen Ordnungen hinter den nur phänomenalen Erscheinungen aufzudecken. Wir müssen dabei drei Gesichtspunkte im Auge behalten, die LéviStrauss immer wieder betont: 1. Die strukturale Analyse isoliert aus dem gelebten Zusammenhang verschiedener Kulturen einzelne Phänomenbereiche, wie etwa die Sprache, die Wirtschaft, die Sozialorganisation, die Kunst oder die Mythologie, und fragt nach deren innerer, eigenfunktionaler Gesetzmäßigkeit, ihrer logischen Struktur sui generis. 2. Diese isolierten Strukturen (Sprache, Verwandtschaft usw.) werden in ihren logischen Verhältnisbeziehungen, ihrem idealen Funktionieren betrachtet, also gerade nicht in ihrer je und je kulturell anders geprägten Wirklichkeit. Es sollen also die logischen Verhältnisgesetze der Sprache selbst, der Verwandtschaft selbst usw. und nicht das je und je andere sprachliche und soziale Verhalten aufgedeckt und bestimmt werden. 3. Die Strukturanalyse steht in keinerlei Widerspruch oder auch nur Konkurrenz zur empirisch-historischen Forschung und Betrachtung der Kulturen, sondern verläuft gleichsam quer zu ihr. Weder will noch kann der Strukturalismus historische oder evolutionistische Aussagen machen. Die Bereiche, die der Strukturalismus analysiert, sind die Fundamentalstrukturen (Sprache, Wirtschaft, Verwandtschaft, Kunst, Religion) von allem Kulturellen überhaupt. Von hier aus können wir nun den Sinn der Ethnologie als Strukturanalyse präziser formulieren: Die strukturale Ethnologie bzw. Anthropologie ist grundsätzlich eine Forschung zweiter Hand, der es nicht um die Beschreibung, sondern um die Deutung und das Verstehen verschiedener Phänomenbereiche geht. 20 Es kann sich z. B. in der Strukturanalyse der Heiratsregeln ergeben, dass die bevorzugte patrilaterale oder matrilaterale Kreuzvetternheirat, die strukturgesetzlich an mindestens drei exogame Gruppen (Clan, Familie) gebunNikolai S. Trubetzkoi, Grundzüge der Phonologie (1949). Roman O. Jakobson (mit M. Halle), Grundlagen der Sprache (1956). 20 Ausführlicher dargelegt im nächsten Beitrag »4. Das Verstehen fremder Kulturen und die Entwicklung menschlicher Kultur« in diesem Band. 19
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Der französische Strukturalismus
den ist, notwendigerweise mit der Abstammungs- und Verwandtschaftsordnung –sei sie patrilinear oder matrilinear – in Konflikt geraten muss, wenn in einer sozialen Gemeinschaft nur eine beschränkte Anzahl von exogamen Gruppen (jede soziale Gemeinschaft ist endogam beschränkt) vorhanden ist. Hier kann nun die Forschung zweiter Hand zu ergründen und zu verstehen suchen, wie dieser logisch-gesetzmäßige Widerspruch zweier Prinzipien, der sich ja in immer wiederkehrenden Konflikten einzelner Individuen mit der bestehenden Ordnung ausdrücken muss, durch wirtschaftliche oder rituelle Hilfskonstruktionen, die die ideale Ordnung wieder herzustellen haben, im Bewusstsein der betreffenden Gesellschaftsmitglieder ausgeglichen werden kann. Dies sei nur ein Beispiel für die Forschung zweiter Hand; prinzipiell lässt sich sagen, dass es der strukturalen Ethnologie um ein Deuten und Verstehen bestimmter, als logischer Strukturen erfassbarer Phänomenbereiche in ihrer Konstanz und in ihrem Wandel geht. Dieses Deuten und Verstehen setzt zwar die ethnographische Beschreibung und Gliederung der Phänomene einer Kultur voraus, kann aber niemals durch diese ersetzt werden, denn zur Deutung und zum Verstehen bestimmter Konstanz- und Wandelerscheinungen bedarf es immer schon einer gründlichen Analyse der die betreffenden Phänomenbereiche beherrschenden logischen Faktoren mit ihren Funktionen im strukturellen Zusammenhang. Damit werden wir aber auch auf ein Problem und eine Gefahr im Strukturalismus aufmerksam gemacht. Es liegt eine ständige Doppeldeutigkeit in den idealen Strukturgesetzmäßigkeiten, die doch auch wirklichkeitsregierend sein sollen; eine Doppeldeutigkeit, die LéviStrauss mit jedem ontologisch missverstandenen Platonismus teilt. Wenn z. B. Lévi-Strauss im Zusammenhang mit der Grundstruktur der Verwandtschaft von einem »Verwandtschaftsatom« (Mann, Frau, Bruder der Frau, Kind) spricht, 21 so ist damit die Gefahr eines Missverständnisses mitgegeben, das dieses Verwandtschaftsatom zu einer universellen Substanz, zu einer ontologischen Einheit ausdeutet; und wir wären damit keinen Schritt über Bastians Elementargedanken 22 und ontologische Universalien hinausgelangt. Wir hätten damit unClaude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (fr. 1949/ 1981). 22 Philipp Wilhelm Adolf Bastian, Ethnische Elementargedanken zu der Lehre vom Menschen (1895). 21
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Überblickgebende Erörterungen zum Stand der Kulturanthropologie
philosophisch einen teleologischen Wesensbegriff vom Menschen der logischen Analyse untergeschoben. Nur wenn man durch Analyse die grundsätzlichen und logischen Beziehungen der Verwandtschaft (die notwendig verschiedene Abstammung von Mann und Frau – Inzestverbot –, die Heirats- und Eheregelung, die Abstammungsverwandtschaft der Kinder) in ihrer allgemeinen Sinnstruktur aufdeckt, ohne die Verwandtschaft logisch nicht denkbar und bestimmbar ist, kann man hoffen, über die Primitivität der ontisch verstandenen natürlichen Familie und der ontologisch behaupteten Universalien hinauszugelangen. Gerade aus diesem Grunde haben sich die jüngeren und philosophisch-orientierten Schüler von Lévi-Strauss – so vor allem Lucien Sebag 23 – bemüht, in einem Rückgriff auf die Phänomenologie Edmund Husserls 24 dem Strukturalismus ein philosophisches Fundament zu errichten, das ihn vor Missdeutungen und eigenen Missverständnissen bewahren soll. Es wird dadurch versucht, die stark an der Ordnungsmathematik orientierten Analysen von Lévi-Strauss aufzufangen und das Fragen mehr auf Sinn und Logos der Phänomene des gesellschaftlichen Lebens selbst zu lenken.
3.
Die Suche nach einer philosophischen Kulturanthropologie
Wie immer sich auch hier der Strukturalismus wandeln mag, er kann nicht der letzte Schritt einer kulturanthropologischen Forschung sein, wenn er auch neben der Ethnographie eines ihrer notwendigen Momente darstellt. Das hat Lévi-Strauss selbst gesehen und immer wieder ausgesprochen. Die strukturale Ethnologie isoliert ja bewusst einen einzelnen Phänomenbereich aus dem Gesamtzusammenhang der Kultur, ähnlich der strukturalen Sprachwissenschaft oder Wirtschaftswissenschaft, um diese auf ihre Eigengesetzlichkeit und Sinnhaftigkeit hin zu befragen. Die von Lévi-Strauss geforderte dritte Stufe der Forschung soll nun die kulturanthropologische Integration aller strukturalen Analysen darstellen. Gerade dies aber scheint uns zu wenig zu sein, denn diese dritte Frageweise wäre damit letztlich nur eine Addition von idealen Gesetzlichkeiten, ohne uns näher an 23 24
Lucien Sebag, Marxismus und Strukturalismus (fr. 1964). Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft (1910/11).
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Die Suche nach einer philosophischen Kulturanthropologie
die Erkenntnis der konkreten Wirklichkeit des Menschen heranzubringen. Aus ähnlichen Motiven wie Claude Lévi-Strauss versucht auch Wilhelm E. Mühlmann, eine Kulturanthropologie als umfassende Wissenschaft vom Menschen zu begründen. 25 Aber sein Rückgang auf die phänomenal erfassbaren kulturellen Verhaltensweisen des Menschen hat entweder nur heuristischen Aussagewert für die Feldforschung und Ethnographie im weitesten Sinne, oder wir nehmen Mühlmanns Bezugnahme auf die Phänomenologie von Husserl ernst, dann aber sind die Aussagen über das menschliche Verhalten wiederum nur rein ideale Sinnstrukturen, die nach Husserl ausdrücklich nicht die konkrete Wirklichkeit des Menschen meinen können. Alle anderen Behauptungen, die diese Differenz in ein Einerlei von phänomenaler Forschung und phänomenologischer Sinnanalyse bringen, sind zwangsläufig naive Philosophie, weil sie glauben, über das Wesen des Menschen wie von einem Ding, einem wirklichen, greifbaren Seienden reden zu können. Was also als dritte Stufe der kulturanthropologischen Forschung gefordert werden muss, ist nicht eine Integration des Wissens vom Menschen, sondern ist die philosophische Besinnung auf Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Aussagen in Bezug auf die Wirklichkeit des Menschen selbst. Wenn wir Lévi-Strauss’ Unterscheidung von deskriptiver Ethnographie und strukturaler Ethnologie ernst nehmen – und wir müssen Sinn und Notwendigkeit dieser beiden verschiedenen Fragerichtungen anerkennen –, dann ist doch das noch ausstehende Problem, wie diese beiden Aspekte untereinander zusammenhängen und in welcher Weise jede für sich etwas über die konkrete Wirklichkeit des Menschen aussagen kann. Es ist die Frage gestellt, wie die heuristischen mit den strukturalen Kategorien zusammenhängen und was sie zur Erfassung der konkreten Wirklichkeit des Menschen zu leisten vermögen. Denn die heuristischen Kategorien direkt auf die Wirklichkeit zu beziehen, bedeutet eine Biologisierung (Ontisierung) des Wissens vom Menschen, und die strukturalen Prinzipien statt als logische Bestimmungen für Wirklichkeiten auszugeben, bedeutet eine Substanzialisierung (Ontologisierung) des Begriffs vom Menschen. Diese dritte kulturanthropologische Frage aber, die hier aufbricht, ist nur in einer philosophischen Besinnung auf die prinzipiellen Mög25
Wilhelm E. Mühlmann, Homo Creator (1962).
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Überblickgebende Erörterungen zum Stand der Kulturanthropologie
lichkeiten und Grenzen kulturanthropologischer Rede bzw. in philosophischer Selbstbesinnung der Kulturanthropologie auf ihre Aussagen über den Menschen, die ja immer Aussagen des Menschen für den Menschen sind, möglich. Ein großer Kulturphilosoph sei zum Schluss genannt, auf den sich Mühlmann, die anglo-amerikanische Kulturanthropologie und auch der jüngere französische Strukturalismus – alle leider zu Unrecht – als Kronzeugen für sich berufen: Ernst Cassirer. Er hat in seinem auf die Anthropologie bezogenen Philosophieren 26 den Weg gezeigt, wie hier der dritte kulturanthropologische Fragenkreis, die kritisch-philosophische Besinnung auf die Möglichkeiten und Grenzen der Aussagen des Menschen vom Menschen, bindend wird für die Bestimmung heuristischer und phänomenologischer Kategorien. In seiner kritischen Philosophie versucht Cassirer, die Voraussetzungen aufzudecken, die in jede Rede des Menschen vom Menschen eingeht, um so die Distanz zwischen Aussage und Wirklichkeit zu bestimmen und nicht unkritisch zu einem ontischen oder ontologischen Einerlei werden zu lassen. Diese philosophische Besinnung ersetzt also keineswegs die ethnographische und ethnologische Forschung – im Gegenteil, sie will lediglich zum Bewusstwerden der methodischen Eigenständigkeit der kulturanthropologischen Forschung beitragen. Cassirers philosophisches Werk darf nicht als autoritative »Letztaussage« vom Menschen missverstanden werden; denn es will den Weg zu einer für beide Seiten notwendigen und fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Kulturphilosophie und Kulturanthropologie weisen. Erst durch die Begegnung mit dem Reichtum des Wissens vom Menschen kann die philosophische, und erst aus der Kritik durch die Philosophie kann uns die kulturanthropologische Aussage vom Menschen – bewahrt vor pseudophilosophischen Scheinfundamenten – die konkrete Wirklichkeit des Menschen erschließen, sodass diese Erkenntnis vom Menschen auch für unser Menschsein von Bedeutung werden kann.
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen 3 Bde. I: Die Sprache (1923), II: Das mythische Denken (1924), III: Phänomenologie der Erkenntnis (1929); Zur Logik der Kulturwissenschaft (1942); Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur (engl. 1944). Vgl. Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext (1994).
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4. Das Verstehen fremder Kulturen und die Theorie der menschlichen Kultur 1
Vorbemerkung Es gibt nur sehr wenige Ethnologen, die sich den philosophischen Grundfragen ihrer Disziplin gestellt haben. Jedoch liegt dies wahrscheinlich auch daran, dass wiederum nur sehr wenige Philosophen von den archaischen Gesellschaften Notiz genommen und unser Verhältnis zu ihnen bedacht haben. Diese nicht sehr zahlreichen philosophischen Auseinandersetzungen mit fremden Kulturen und der Geschichte der Kulturentwicklung gilt es, in einem ersten Abschnitt kurz in Erinnerung zu rufen; danach soll versucht werden, in einigen grundsätzlichen Aspekten das Verhältnis der Philosophie zur Ethnologie und Kulturanthropologie zu reflektieren, und schließlich werden in den letzten beiden Abschnitten, am Problem des Verstehens fremder Kulturen einerseits und am Problem einer umfassenden Theorie der menschlichen Kultur andererseits, zwei grundlegende Fragenkomplexe der aktuellen philosophisch-ethnologischen Diskussion, wie sie in der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie bzw. in der französischen Ethnologie erörtert werden, dargestellt, um so ihre Rezeption und Fortsetzung bei uns anzuregen.
Unter dem Titel »Philosophische Überlegungen zum Verstehen fremder Kulturen und zu einer Theorie der.menschlichen Kultur« erstmals erschienen in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Justin Stagl (Hg.), Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion (1981), Berlin (Dietrich Reimer Verlag) 1993: 51 ff.
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Das Verstehen fremder Kulturen und die Theorie der menschlichen Kultur
1.
Zur Geschichte des Verhältnisses der Philosophie zur Kulturanthropologie
1.1. Zur Vorgeschichte Am Anfang der im Ganzen gesehenen kümmerlichen Geschichte des Verhältnisses der Philosophie zur Kulturanthropologie steht noch vor Entstehung der Ethnologie als Wissenschaft das bedeutende Werk von Johann Gottfried Herder Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1787–1791). 2 Es ist dies der bis heute umfassendste Versuch, alles Wissen vom Menschen, von seiner Natur, der Vielgestaltigkeit seiner Kulturen und seiner Geschichte zu einem Gesamtbild des Menschseins zusammenzufügen. Es gibt kaum eine inhaltliche Thematik der heutigen anthropologischen und humanwissenschaftlichen Diskussion, die nicht schon in Herders Ideen anklingt, ja oft sogar darin bereits eine viel grundsätzlichere Erörterung gefunden hat als heutzutage üblich. Zweieinhalbjahrhunderte später wissen wir im Einzelnen wesentlich mehr von der Natur des Menschen, den kulturellen Gestaltungen seines Lebens und deren Geschichte, uns fehlt jedoch die systematische Synthese dieser Einzelerkenntnisse zu einer umfassenden Humanwissenschaft, wie sie Herder vorschwebt. Was uns heute an Herders großem Wurf besonders beeindruckt, ist – da dieser Zusammenhang in der Folgezeit auseinanderfällt –, dass Herder die Geschichte der Menschheit in den Kontext der Geschichte der Erde stellt, in seinen naturgeschichtlichen Überlegungen also tiefer zurückgreift als die heutige Humanbiologie, und dass er von diesem Horizont aus beispielsweise zu erstaunlich aktuellen Erörterungen des Themas Kultur und Ökologie gelangt. Trotz dieser naturgeschichtlichen Fundierung ist es jedoch gerade Herder, der das BeNeben Herder sind für die Vorgeschichte der Ethnologie besonders interessant: Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker (1744). Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (1748). Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1754). Georg Forster, Reise um die Welt (1778–1780). Vgl. Wilhelm E. Mühlmann: Geschichte der Anthropologie (1948). Fritz Kramer, Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts (1977). Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation (1981). Eberhard Berg, Zwischen den Welten. Anthropologie der Aufklärung und das Werk Georg Forsters (1982). Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Georg Forster. Pionier der Wissenschaft und der Freiheit (1989).
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Zur Geschichte des Verhältnisses der Philosophie zur Kulturanthropologie
sondere der kulturschaffenden und geschichtemachenden Potenzen des gesellschaftlichen Lebens der Menschen herausarbeitet. In diesem Zusammenhang diskutiert er vor allem die Bedeutung der Sprache für die kulturelle Identitätsfindung und Traditionsbildung, aber ebenso auch die Bedeutung der edukativen Sozialisation für die Reproduktion der gesellschaftlichen und kulturellen Lebenspraxis. Schließlich sei noch hervorgehoben, dass Herder nicht nur Wissen um die Gegebenheiten der kulturellen Existenz des Menschen zusammenträgt, sondern seinen ganzen Versuch in die praktische Problematik unseres Verhältnisses zu fremden Völkern und der gemeinsamen Aufgabe einer menschenwürdigen Geschichte stellt. Als Kritiker des eurozentristischen Fortschrittsglaubens (Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit 1774) kann er uns auch hierin heute noch Anregungen zum Bedenken des praktischen Aufgabenhorizonts geben, vor dem alle wissenschaftliche Erforschung fremder Kulturen sich zu rechtfertigen hat. Diese Rückbesinnung auf Herder beinhaltet keineswegs die Forderung, erneut eine Philosophie der Menschheit im Sinne von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1884 ff.) zu versuchen, weder lässt die heutige Differenziertheit der Methoden und Resultate der verschiedenen Spezialwissenschaften vom Menschen ein solches Unternehmen als rein philosophisches möglich und sinnvoll erscheinen, noch war Herder der philosophische Kopf, der die grundlegenden systematischen Probleme einer Philosophie der menschlichen Existenz prinzipientheoretisch aufzudecken vermochte – hierin trifft die Kritik seines Lehrers Immanuel Kant zu. 3 Trotzdem sollten wir würdigen, dass Herder in einem genialen Vorentwurf das Feld absteckte, das Philosophie und Einzelwissenschaften vom Menschen zur gemeinsamen Bearbeitung auch heute noch aufgegeben ist. Noch zwei bedeutende Werke aus der Frühgeschichte des Verhältnisses von Philosophie und Kulturanthropologie müssen wir in Erinnerung rufen: Wilhelm von Humboldts Arbeit Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf
Siehe hierzu Immanuel Kants Rezension der Ideen Herders, aber auch seine späteren geschichtsphilosophischen Schriften in: Kant, Werke VI. Zur Gegenkritik gegenüber Kant siehe: Georg Forster, Noch etwas über die Menschenrassen in: Forster, Werke II. Siehe auch den Beitrag zu Forster, Herder und Kant im Anhang dieses Bandes.
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Das Verstehen fremder Kulturen und die Theorie der menschlichen Kultur
die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830–1835), die nicht nur anerkanntermaßen zu den Grundschriften der Sprachwissenschaft gehört, und ihr damit bis heute einen philosophischen Problemhorizont gegeben hat, sondern die auch von grundlegender Bedeutung für alle kulturanthropologischen Disziplinen ist, da sie auf die kulturprägende und -entwickelnde »energeia« der Sprache reflektiert. 4 Humboldt entdeckt hier die Möglichkeit, über die Erforschung der Struktur der Sprachen als Objektivationen geistiger Arbeit zu einer Rekonstruktion der geistigen Entwicklung des Menschengeschlechts, zu einer umfassenden »Culturgeschichte« zu kommen. Von nicht minderer Potenz ist Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Philosophie der Mythologie (1831–1845). 5 Aufgrund der darin abverlangten Anstrengung des philosophischen und theologischen Begriffs ist dieses gewaltige Werk bis heute fast nicht rezipiert worden, dabei stellt es in gewisser Beziehung alles in den Schatten, was seither zum Problem der Mythologie und zum Problem der Frühgeschichte menschlichen Denkens geschrieben worden ist – selbst die bedeutenden Untersuchungen zum »wilden Denken« von Claude Lévi-Strauss 6, der übrigens von Schelling nichts zu wissen scheint. Was Schelling in seiner Philosophie der Mythologie versucht, ist die systematische Rekonstruktion der naturwüchsig-gesellschaftlichen Geschichte der menschlichen Bewusstseinsgestalten, die das menschliche Bewusstsein erst durchlaufen musste, bevor es mit Beginn der griechischen Philosophie als freies Selbstbewusstsein gegenüber der Natur und gegenüber Gott hervortreten konnte. 7 Die theologischen Implikationen der Philosophie der Mythologie von Schelling mögen manchen stören, doch die Problemstellung, das mythische Denken aus der Geschichte des Zu-sich-selber-Kommens des menschlichen Denkens selbst zu begreifen, ist die unabweisbare Aufgabe aller wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Mythologie, mit den Denkformen archaischer Gesellschaften. Wilhelm von Humboldt, Werke in 5 Bde. Vgl. Hans-Ernst Schiller, Die Sprache der realen Freiheit. Sprache und Sozialphilosophie bei Wilhelm von Humboldt (1998). Dietrich Benner, Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie (1990). 5 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämtliche Werke in 14 Bde.: Philosophie der Mythologie Bd. XI und XII. 6 Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken (fr. 1962). Siehe dazu den folgenden Beitrag in diesem Band. 7 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015): 318 ff. 4
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Zur Geschichte des Verhältnisses der Philosophie zur Kulturanthropologie
Nach dieser Frühgeschichte großer philosophischer Impulse sind es vor allem zwei Entwicklungsstränge, in denen wir das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften vom Menschen zu verfolgen haben. Der eine knüpft an die dialektische Konzeption des Geschichtsmaterialismus von Karl Marx an, der andere ist geprägt durch den Zerfall der Thematik der Wissenschaften vom Menschen in eine die Natur des Menschen bedenkende philosophische Anthropologie und eine die historische Entwicklung nachvollziehende Kulturgeschichte.
1.2. Zum Geschichtsmaterialismus Der Geschichtsmaterialismus ist seinem methodischen Ansatz nach der einzige theoretisch grundlegende Versuch, der das umfassende Programm Herders wissenschaftlich bewältigen könnte; doch bis heute sind die grundlegenden theoretischen Anregungen von Marx noch nicht voll aufgearbeitet. Mehrfach seither in vulgärmaterialistische Umdeutungen geraten, blieb der offizielle Marxismus der Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende und später im real-existierenden Sozialismus der Sowjetunion von der Erfüllung seines Anspruchs, eine umfassende Theorie der Menschheitsgeschichte zu erstellen, weit entfernt. Ausgangspunkt der authentischen marxschen Theorie ist die gesellschaftliche Praxis, aus deren Strukturierungen die ganze gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungsgeschichte der Menschheit begriffen werden muss. Karl Marx hat diesen Begriff der gesellschaftlichen Praxis entwickelt 8 vor allem in Abhebung sowohl gegenüber dem idealistischen Begriff des Geistes, wie er Hegels Geschichtsphilosophie 9, aber auch den Konzeptionen von Humboldt und Schelling zugrunde liegt, als auch gegenüber dem anthropologischen Materialismus von Ludwig Feuerbach. 10 In seiner grundlegendsten Bedeutung besagt der Begriff der gesellschaftlichen Praxis, dass die Menschen selbst die Produzenten
Karl Marx, Thesen ad Feuerbach, in: Marx/Engels, Werke in 43 Bde., 3: 5 ff. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke in 20 Bde., 12: 29 ff. 10 Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Werke in 6 Bde., III: 247. 8 9
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Das Verstehen fremder Kulturen und die Theorie der menschlichen Kultur
ihres Verhältnisses zur Natur und ihrer sozialen Beziehungen sind. Selbstverständlich gibt es naturgeschichtliche Voraussetzungen des Menschseins, die jedoch durch die gesellschaftliche Praxis selbst in der Geschichte verändert werden. 11 Insofern verbietet sich von vornherein jeder ungeschichtliche Ansatz, der rein anthropologisch das Menschsein allein aus seiner Natur zu bestimmen versucht, denn das Strukturierende des Menschseins liegt gerade in der die menschliche Lebenswelt und die Menschen selbst mitverändernden gesellschaftlichen Praxis. Allerdings sind die Menschen und so auch ihre gesellschaftliche Praxis in all ihren geschichtlichen Entwicklungsstufen doch auch Teil der Natur; und somit verbietet sich ein rein kulturgeschichtlicher Ansatz, der nicht zugleich das Verhältnis der gesellschaftlichen Praxis aus der und zur Natur berücksichtigt. Im Versuch, die ganze Menschheitsgeschichte systematisch aus der gesellschaftlichen Praxis zu begreifen, ist die Auseinandersetzung mit den archaischen Gesellschaften zentral im Themenbereich der marxschen Theorie. Da die Konzeption des Geschichtsmaterialismus von Marx gemeinsam mit Engels bereits in der Deutschen Ideologie (1846) 12 entwickelt wurde, also noch bevor die Ethnologie sich als wissenschaftliche Disziplin herausgebildet hat, ist es verständlich, dass die sporadischen Bemerkungen zu den archaischen Gesellschaften und zu den frühen agrarischen Staatsgründungen, die sich im Werk von Marx finden, obwohl theoretisch grundlegend, in ihrer empirischen Konkretion noch sehr dürftig erscheinen. Erst in den letzten Jahren seines Lebens (1879–1883) stürzte sich Marx begierig auf die ersten ethnologischen Studien jener Zeit, insbesondere auf Lewis H. Morgans Ancient Society (1877) 13, die er wie eine einzige empirische Bestätigung seines geschichtsmaterialistischen Ansatzes las und kommentierte. Eine eigene Studie zur Entwicklung der Gesellschaftsformationen hat Marx jedoch nicht hinterlassen. 14 Gestützt auf Marx’ Exzerpthefte und in Anlehnung an Lewis H. Morgan hat Friedrich Engels dann nach Marx’ Tod in seiner Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genesis und Kernstruktur der Marxschen Theorie (1981). 12 Marx/Engels, Werke 3: 9 ff. 13 Lewis H. Morgan, Die Urgesellschaft (engl. 1877/1891). 14 Siehe hierzu die Einleitung von Lawrence Krader zur Erstausgabe der ethnologischen Exzerpthefte: Karl Marx, Die ethnologischen Exzerpthefte, hg. v. Lawrence Krader (engl. 1972/1976). 11
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Zur Geschichte des Verhältnisses der Philosophie zur Kulturanthropologie
(1884) 15 diese ethnologischen Studien in den Historischen Materialismus eingefügt. Theoretisch aber viel eher der Deskription Herders verwandt als der marxschen Dialektik gewachsen, gerinnt die Darstellung bei Engels zu einer evolutionistischen Beschreibung, die gerade die dialektische Bestimmung der kulturellen Entwicklung aus der Struktur der gesellschaftlichen Praxis in eine narrative Geschichtenfolge einebnet. Noch schlimmer wurde dann der Historische Materialismus über Heinrich Cunow (1920 f.) und Karl Kautsky (1927) 16 bis zu den Primitivismen einer Theorie der gesetzmäßigen Stufenfolge von fünf gesellschaftlichen Grundtypen unter Stalin weiter positivistisch verstümmelt. Eine Ausnahme in dieser theoretischen Verfallsgeschichte bilden die ethnologischen und kulturhistorischen Arbeiten von Karl August Wittfogel 17, doch fand dieser Ansatz, durch den Nationalsozialismus verfolgt und durch den Stalinismus unterdrückt, keine Fortsetzung. Erst in jüngerer Zeit erfährt durch die erneute Rezeption der marxschen Theorie vor allem in Frankreich die Konzeption einer geschichtsmaterialistischen Anthropologie einen mächtigen Aufschwung und ist heute wohl eine der führenden Richtungen in der theoretischen Diskussion um die Grundprobleme der Kulturanthropologie. 18
1.3. Philosophische Anthropologie versus Kulturgeschichte Der zweite Strang philosophischer Bemühungen um die Grundlegung einer Theorie der kulturellen Existenz des Menschen, der die Hauptströmungen der Philosophie der letzten hundert Jahre umschließt, ist markiert durch eine Polarisierung der Problemstellung: zum einen in eine Seinsbestimmung des Menschen als kulturellem Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: Marx/Engels Werke 21. 16 Heinrich Cunow, Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie. Grundzüge der Marxschen Soziologie, 2 Bde. (1920–23). Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, 2 Bde. (1927). 17 Karl August Wittfogel, »Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxismus« (1929); Wirtschaft und Gesellschaft Chinas (1931); »Die natürlichen Ursachen der Wirtschaftsgeschichte« (1932). 18 Maurice Godelier, Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften (fr. 1973). 15
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Wesen, wie sie in der philosophischen Anthropologie etwa von Max Scheler (1928), Helmuth Plessner (1928) und Arnold Gehlen (1940) 19 bis hin zur Kultur- und Geschichtsontologie von Nikolai Hartmann in Das Problem des menschlichen Seins (1932) unternommen wird 20, zum anderen im Versuch des Verstehens der kulturellen Sinndimensionen aus den menschlichen Selbstzeugnissen der jüngeren Geschichte, wie sie vor allem von Wilhelm Dilthey (1883, 1910) 21 und seiner Schule geisteswissenschaftlicher Hermeneutik, aber auch von den Neukantianern Wilhelm Windelband (1894) und Heinrich Rickert (1899) 22 inauguriert wurde, bis hin zu Richard Kroners (1928) systematischer Grundlegung einer Kulturphilosophie als Theorie der Selbstverwirklichung des Geistes. 23 Durch diese Polarisierung gerät eigentümlicherweise die gesamte Thematik archaischer Kulturen aus dem Blickfeld philosophischer Reflexion. Die einen bedenken die Besonderheit der menschlichen Existenz in und gegenüber der Natur, während die anderen die menschliche Existenz im Nachvollzug überlieferter Geschichte und von der Differenziertheit unserer Kultur her thematisieren; so werden von beiden Blickrichtungen aus die archaischen Kulturen übersehen. Natürlich gibt es auch gegenseitige Annäherungen, die zugleich versuchen, die kulturanthropologischen und kulturgeschichtlichen Forschungen mit zu berücksichtigen. Von der Seite der philosophischen Anthropologie her sind hier vor allem Erich Rothacker (1948), Arnold Gehlen (1956) und Michael Landmann (1961) zu nennen, die sich um eine Differenzierung des kulturellen Daseins des Menschen bemühen. Ihnen geht es darum, das doppelte Paradox, dass »der Mensch von Natur ein Kulturwesen« ist (Gehlen 1961: 78) und dass er sich dabei selbst als »Produkt seines eigenen Produkts« gestaltet (Landmann 1979: 54), aus der Vielfalt kultureller Lebensentwürfe Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928). Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928). Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940). 20 Nikolai Hartmann, Das Problem des menschlichen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften (1932). 21 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (1883). Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910). 22 Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (1894). Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenshaft (1899). 23 Richard Kroner, Die Selbstverwirklichung des Geistes. Prolegomena zur Kulturphilosophie (1928). 19
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des Menschen und seiner auf ihn zurückwirkenden Objektivationen in ihren grundlegenden Dimensionen und Wandlungsprozessen kategorial aufzuklären. 24 Auf der anderen Seite hatte bereits Friedrich Jodl (1878) 25 im Anschluss an Ludwig Feuerbach eine umfassende, die ethnographischen Forschungen einbeziehende Culturgeschichte eingeklagt, die die Ethnien und die durch sie hindurch sich vollziehende »Culturentwicklung« unter folgenden Gesichtspunkten zu erforschen habe: »1. Der Kampf des Menschen mit der Natur […], die menschliche Arbeit und Technik. 2. Das Streben des Menschen nach Organisation […] durch Ausbildung […] socialer und politischer Verbände. 3. Die Wechselbeziehung und Kämpfe der […] Gruppen untereinander. 4. Das Ringen des Menschen nach dem Ideal. [Religion, Sittlichkeit, Wissenschaft, Kunst]« (Jodl 1878: 112) Dabei geht es Jodl nicht darum, diese Bereiche ontologisch gegeneinander abzuschotten und aus ihnen einen deterministischen Evolutionsprozess abzuleiten, sondern sie dienen ihm vielmehr als heuristische Differenzierungen, um ihr konkretes wechselweises Ineinander sowohl in jeder Kultur als auch im kulturgeschichtlichen Entwicklungsprozess untersuchen zu können. Ohne diesen richtungsweisenden, jedoch in Vergessenheit geratenen Entwurf einer evolutionären Kulturtheorie zu kennen, hat Jürgen Habermas (1976) den Faden dieser Problemstellung erneut wiederaufgenommen und Grundüberlegungen zu einer Theorie der sozialen Evolution vorgelegt, die – zwar wesentlich dogmatischer als der Entwurf von Jodl – ihrerseits sowohl bis zu den anthropologischen Grundbedingungen des Menschseins zurückschreitet als auch in ihrer Durchführung auf eine Auseinandersetzung mit den ethnologischen Forschungsergebnissen nicht verzichten kann. 26 Siehe zur Debatte um die »Objektivation des Geistigen«: Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie (1923). Walther Schmied-Kowarzik, Die Objektivation des Geistigen. Der objektive Geist und seine Formen (1927).Vgl. hierzu Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Objektivationen des Geistigen. Beiträge zur Kulturphilosophie in Gedenken an Walther Schmied-Kowarzik (1985). 25 Friedrich Jodl, Die Culturgeschichtsschreibung, ihre Entwickelung und ihre Probleme (1878). 26 Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (1976). Vgl. auch Klaus Eder, Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften. Ein Beitrag zu einer Theorie sozialer Evolution (1976). Günter Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte (1982). Jürgen Kreft, »Ethnologie und Evolution« (1985): 189 ff. Zur Kritik an der Theorie der sozialen Evolution von Jürgen 24
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Doch insgesamt gesehen, bleibt es bei der Polarisierung der Fragestellungen zur philosophischen Bestimmung der menschlichen Existenz, die ihr Pendant in der Kommunikationslosigkeit der anthropologischen und historischen Wissenschaften hat. 27 Denn es fehlt ihnen – im Gegensatz zum Geschichtsmaterialismus – der dialektische Bezugspunkt, der es ihnen erlauben würde, Natur und Geschichte des Menschen von einem Ansatz her zu bestimmen und dann auch die archaischen Gesellschaften sowohl in ihrer kulturellen Eigenart als auch im Kontext menschheitlicher Entwicklung thematisieren zu können. Einen einzigen Denker haben wir in unserer kurzen Negativgeschichte des Verhältnisses der Philosophie zur Kulturanthropologie ausgespart, denn Ernst Cassirer verdient es, gesondert hervorgehoben zu werden. Wie kein anderer hat er sich in seinen grundlegenden kulturphilosophischen Arbeiten (Cassirer, 1923–1929; 1942; 1944) gerade darum bemüht, das Wissen von den archaischen Kulturen in die philosophische Bestimmung unserer menschlichen Existenz mit einzubeziehen. In seinem großen Werk Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) greift er auch als Einziger die genialen Anregungen von Humboldt (1830–1835) und Schelling (1831–1845) auf und entwickelt diese fruchtbar in Richtung auf eine kategorialgenetische Theorie der menschlichen Denkformen weiter. Die deutsche Barbarei in der Zeit des Nationalsozialismus hat diesen hoffnungsvollsten Ansatz philosophischer Grundlegung der Human- und Kulturwissenschaften bei uns zum Schweigen gebracht und ins Vergessen abgedrängt, nur so ist die anhaltende Dürftigkeit philosophischkulturanthropologischer Diskussion im deutschen Sprachraum erklärlich. Die grundlagentheoretische Diskussion hat inzwischen gerade auch mit Hilfe deutscher Emigranten in der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie Fuß gefasst. Im Rückbezug auf verschiedene philosophische Ansätze – George Herbert Mead, Alfred Schütz, Ernst Cassirer – findet dort eine um das Problem des Verstehens fremder Kulturen zentrierte, intensive Grundlagendiskussion statt (David
Habermas siehe Eberhard Rüddenklau, »Zur Theorie gesellschaftlicher Evolution« (1993): 331 ff. 27 Zur Kritik an der Philosophischen Anthropologie und am Historismus siehe Ulrich Sonnemann, Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals (1969).
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Bidney, 1953; Peter Winch, 1958; Edmund R. Leach, 1961; Marvin Harris, 1968; Marshall Sahlins, 1976). 28 Noch fundamentaler und unbestreitbar führend ist heute allerdings die Theoriediskussion in Frankreich. Der seit fünf Jahrzehnten andauernde intellektuelle Streit verschiedener philosophischer Richtungen, der sich bis in die Einzelwissenschaften – vor allem die Humanwissenschaften – hineinzieht und von dort der philosophischen Reflexion neue Problemstellungen und Impulse zurückgibt, hat in Frankreich nicht nur unter Philosophen und Humanwissenschaftlern, sondern auch beim gebildeten Publikum zu einer Schärfung des Problembewusstseins und zu einer Interessiertheit für philosophisch-ethnologische Fragestellungen geführt, die bei uns leider noch immer undenkbar sind. Die für die dortige Diskussion einflussreichsten Richtungen sind die der existentialen Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty und Georges Bataille nahe stehende Richtung von Michel Leiris 29, der Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss und seine Schule – beispielsweise Lucien Sebag, Dan Sperber und Pierre Clastres, um nur die für die philosophisch-ethnologische Diskussion relevantesten Vertreter zu nennen 30 – und schließlich die sich auf den marxschen Theorieansatz direkt rückbeziehende geschichtsmaterialistische Anthropologie von Maurice Godelier, Claude Meillassoux, Emmanuel Terray 31 – um auch hier wiederum nur die ethnologischen Theoretiker hervorzuheben. 32 Schließlich sei jedoch nicht versäumt, eigens Pierre Bourdieus Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen GesellSiehe hierzu die Beiträge »3. Überblickgebende Erörterungen zum Stand der Kulturanthropologie« und »6. Kultur – symbolische oder praktische Vernunft?« in diesem Band. 29 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (fr. 1945). Georges Bataille, Das theoretische Werk I. Die Aufhebung der Ökonomie. (fr. 1970). Michel Leiris, Die eigene und die fremde Kultur (fr. 1977). 30 Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie (fr. 1958/1967). Lucien Sebag, Marxismus und Strukturalismus (fr. 1964). Pierre Clastres, Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie (fr. 1974). 31 Maurice Godelier, Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften (fr. 1973/1975). Claude Meillassoux, Die wilden Früchte der Frau (fr. 1975). Emmanuel Terray, Zur politischen Ökonomie der ›primitiven‹ Gesellschaften (fr. 1972). 32 Für die philosophische Grundsatzdiskussion sei vor allem auf die beiden bedeutendsten marxistischen Philosophen Frankreichs verwiesen: Henri Lefebvre, Metaphilosophie. Prolegomena (1965). Louis Althusser [et al.], Das Kapital lesen (fr. 1965). 28
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schaft (1972) 33 hervorzuheben, der nicht nur versucht, die verschiedenen Theorieansätze der französischen Diskussion zu integrieren, sondern der darüber hinaus auf die Theoriedebatte in der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie und auch auf verschiedene Positionen deutscher Philosophie Bezug nimmt. 34 Auf diesem theoretischen Niveau sollten wir zu unseren wenigen, aber bedeutsamen Ansätzen eines philosophisch-ethnologischen Dialogs zurückfinden, nicht aus nationalem Interesse, sondern um wenigstens das zu kennen, was die internationale grundlagentheoretische Diskussion heute als deutschen Beitrag rezipiert, und um schließlich wieder mit eigenen theoretischen Arbeiten in diese Diskussion hineinzuwachsen.
2.
Zur Bestimmung des Beitrags der Philosophie zur Ethnologie
2.1. Prinzipientheoretische Grundlagen Wie jede Wissenschaft genügt auch die Ethnologie bestimmten, prinzipientheoretisch angebbaren Kriterien, ohne die sie nicht die bestimmte Wissenschaft sein könnte, die sie ist. Dabei brauchen diese Kriterien dem einzelnen Forscher gar nicht voll bewusst zu sein, aber trotzdem sind sie aufgrund seiner erfolgreich vollzogenen tertiären Sozialisation in die Wissenschaftsgemeinschaft der Ethnologie in seiner Forschungs- und Darstellungspraxis implizit wirksam. Gleichwohl gilt jedoch für jede Wissenschaft: je bewusster ihr die eigenen prinzipientheoretischen Voraussetzungen werden, umso reflektierter vermag sie deren Forschungsgegenstand zu erfassen und ihre Erkenntnisse auch über den Rahmen ihrer Wissenschaft hinaus verständlich zu vermitteln. Auf einer eher allgemeinen Ebene seien hier drei Konstitutiva der Ethnologie benannt, die natürlich sehr viel differenzierter entwickelt werden müssten, was hier nicht geschehen kann. 35 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (fr. 1972/1976). 34 Siehe hierzu den nächsten Beitrag »5. Strukturale und geschichtsmaterialistische Kulturtheorie«. 35 Siehe hierzu den Beitrag »2. Methodologische Vorklärungen zu den Grundlagen der Völkerkunde« in diesen Band. Vgl. Jürgen Contag, Zur Methodologie der deutsch33
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(1) Die Völkerkunde hat die fremden Kulturen zu ihrem Erfahrungs- und Forschungsgegenstand, die sie in ihrer je eigentümlichen kulturellen Geprägtheit und in ihren besonderen kulturellen Leistungen mit wissenschaftlich ausgewiesenen und erprobten Methoden empirisch zu erforschen versucht. Diese erste Bestimmung scheint so selbstverständlich, dass man sie kaum noch auszusprechen wagt, und doch enthält sie bei näherer Differenzierung die entscheidenden Identitätskriterien, die es der Ethnologie ermöglichen, sich als eigenständige Wissenschaft von Nachbardisziplinen mit anderen Erfahrungsgebieten und Forschungsinteressen abzugrenzen. Aber auch auf sie selbst gewendet, liegt in dieser allgemeinsten Charakteristik bereits eine Forschungsorientierung, die Rüdiger Schott so präzisiert: »Wenn aber die Begegnung mit fremden Völkern und Kulturen das wichtigste Anliegen des Ethnologen ist, dann darf von ihm erwartet werden, daß er sich in dieser Begegnung vorbehaltlos allem öffnet, was ihm an geschichtlich gewordenen Besonderheiten anderer Völker entgegentritt. Er […] muß sich bemühen, der Eigenart jedes Volkes gerecht zu werden. Bevor der Ethnologe es wagen darf, ein Volk und seine Kultur einer universalgeschichtlichen Entwicklungsstufe, einem Kulturkreis oder einer soziologischen Kategorie zuzuordnen, muß er es erst einmal unter allen Aspekten als dieses eine Volk studiert haben.« 36 (2) Die Völkerkunde impliziert aber ebenso immer einen Bezug auf eine umfassende Theorie der kulturellen und geschichtlichen Existenz des Menschen. Nur im Horizont einer solchen Theorie der Kultur als Totalitätsphänomen menschheitlicher Existenz vermag sie wissenschaftlich bestimmte Aussagen über einzelne Kulturen und Gesellschaften zu machen. Diese zweite Bestimmung scheint nun gar nicht selbstverständlich, und sie wird daher auch von sehr vielen Ethnographen ignoriert und verleugnet; und doch ist sie in jeder, auch der bewusst nur ethnographischen Untersuchung vorausgesetzt, denn ohne diesen Bezug wäre weder ein Kulturvergleich über die Grenzen einer einzelnen Kultur hinweg noch eine wissenschaftlich bestimmte Aussage in allgemeingültiger Begrifflichkeit über fremde Kulturen und Gesellschaften möglich. In diesem Sinne sagt Claude Lévi-Strauss: »Aber sprachigen Völkerkunde (1971). Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation der Erkenntnis. Zur Anthropologie der Wissenschaft (engl. 1980). 36 Rüdiger Schott, »Aufgaben und Verfahren der Völkerkunde« (1971): 5.
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in Wirklichkeit ist unser letztes Ziel nicht so sehr zu erfahren, was die Gesellschaften, jede für sich genommen, sind, denen unsere Untersuchungen gelten, als vielmehr zu entdecken, wie sie sich voneinander unterscheiden. Wie in der Sprachwissenschaft bilden diese differenziellen Abweichungen den Gegenstand der Ethnologie.« (LéviStrauss, Strukturale Anthropologie, 1958/1967: 351 f.) Und dies setzt voraus, dass die Ethnologie als Wissenschaft von den fremden Kulturen immer und notwendig bezogen ist auf einen Begriff der menschlichen Kultur und ihrer geschichtlichen Entwicklung, von dem her die »Formenmannigfaltigkeit der Kulturen« 37 allererst in ihrer je eigenen Geprägtheit und kulturellen Leistung bestimmbar wird. Beide Bestimmungen fordern sich letztlich wechselseitig; denn die Thematisierung der menschlichen Kultur in ihrer Totalität ist schlechterdings nicht realisierbar, ohne Aufarbeitung aller empirischen Erkenntnisse über Lebenspraxis und Sinnwelt der verschiedenen Kulturen in ihrer je eigenen Ausgeprägtheit. Ja mehr noch, jedes in einer bestimmten Kultur ermittelte kulturelle Faktum kann eine dem entgegenstehende theoretische Aussage über die menschliche Kultur im Allgemeinen als falsch und voreilig erweisen. Aber auch umgekehrt gilt, dass keine noch so monographisch auf die Beschreibung einer Gesellschaft angelegte Studie durchführbar wäre, stünde sie nicht im Horizont einer Theorie menschlicher Kultur. Ja noch entschiedener ist zu sagen, dass überhaupt kein konkretes Faktum aus dem Kontext einer fremden Gesellschaft als kulturelles wissenschaftlich erfahrbar und bestimmbar wäre, wenn dem nicht schon ein Begriff der menschlichen Kultur im Ganzen vorausliegen würde. Alles andere sind Aufzeichnungen von Reisenden über Fremdartiges, die zwar sehr wohl von der Ethnologie kritisch genutzt werden können, selbst aber nicht den Kriterien ethnologischer Studien genügen. (3) Schließlich liegt jeder ethnologischen Untersuchung und Aussage ein selbstreflexiver Bezug auf die Ethnologie als Wissenschaft zugrunde, wie rudimentär auch immer er ausgeprägt sein mag. Es ist dies meist keine ausgebildete Selbstreflexion der Ethnologie in ihren Möglichkeiten und Grenzen, sondern nur eine Bezugnahme auf vorhergehende Forschungen, deren offen gebliebene Fragen und deren methodische Mängel sich der Ethnologe zur Bearbeitung und Behebung vornimmt, sowie die meist selbstverständlich vorgenommene Zurechnung zu einer ethnologischen Schulrichtung. Aber ganz ohne 37
Mühlmann, »Umrisse und Probleme einer Kulturanthropologie«, 1966: 18.
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einen selbstreflexiven Bezug auf den bisherigen Stand der Ethnologie als Wissenschaft und einer von daher motivierten Aufgabenbestimmung der eigenen Forschung ist schlechterdings keine Untersuchung oder Aussage als ethnologische ausweisbar. 38 Gerade aber in dieser dritten Bestimmung liegt auch die Möglichkeit, in prinzipientheoretischer Selbstreflexion über ein naives Praktizieren von Wissenschaft zu einer problembewussten Bestimmung der Aufgabe ethnologischer Erforschung fremder Kulturen zu kommen, nicht nur in Bezug auf die Kriterien der eigenen Wissenschaftlichkeit, sondern auch in Bezug auf die praktische Verantwortung, die der Kulturanthropologie im Hinblick auf unser Verhältnis zu fremden Gesellschaften und unser eigenes Selbstverständnis im Wissen um die Vielfalt menschlicher Kulturen zukommt. In dieser Allgemeinheit werden diese prinzipientheoretischen Bestimmungen der Ethnologie als Wissenschaft kaum auf Widerspruch stoßen, besagen sie doch im Grunde nur das, was alle ethnologischen Forschungen und Darstellungen, sofern sie wissenschaftlich sind, immer schon implizieren. Sie können also – natürlich weiter differenziert und ausgeführt als es hier möglich war – lediglich zu einem bewussteren Selbstverständnis der Kriterien der eigenen Wissenschaftlichkeit beitragen. Aber diese prinzipientheoretischen Bestimmungen erreichen niemals die inner-ethnologischen Auseinandersetzungen, in denen es um die konkrete Ausfüllung der oben genannten Kriterien geht. Für den Ethnologen wird die Reflexion auf seine Wissenschaft erst dort wirklich interessant, wo die prinzipiell geltenden Bestimmungen enden und der konkrete Streit darüber beginnt, wie eng oder weit ihr Erkenntnisgegenstand zu definieren sei und mit welchen Kategorien und Methoden sie vorzugehen haben. Dort also, wo es darum geht, ob unter fremden Kulturen nur die schriftlosen Völker und diese wiederum nur in ihrer ursprünglichen von Kolonial- und Industriemächten unberührten Zustand zu verstehen seien oder generell alle Kulturen, eventuell sogar unter Einschluss der eigenen, sofern diese als fremde etwa aus dem Blickpunkt einer anderen Kultur erforscht wird. Noch hitziger wird die Debatte, wenn es um die Entscheidung geht, mit welchen theoretischen Konzepten die Ethnologie bei der Bestimmung menschlicher Kultur vorzugehen habe, mit dem Konzept der Kulturhistorie, wie einst die klasVgl. Edmund Leach, Rethinking Anthropology (1961). Marshall Sahlins, Kultur und praktische Vernunft (engl. 1976).
38
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sischen Schulen der deutschen Völkerkunde und – unter anderen theoretischen Vorzeichen – die sowjetische Ethnographie, oder mit den Fragestellungen der Sozial- bzw. Kulturanthropologie, wie sie zunächst im anglo-amerikanischen Sprachraum entwickelt wurde, bei denen es primär um den Funktionszusammenhang kultureller Phänomene innerhalb einer Kultur geht.
2.2. Wissenschaftstheoretische Beschreibungen In dieser inner-ethnologischen Auseinandersetzung um die konkrete Bestimmung der eigenen theoretischen Perspektiven und Aufgabenstellungen bilden und tradieren sich Schulen und Richtungen der Ethnologie, die sich gegenseitig befehden oder belächeln, zu widerlegen oder zu ignorieren trachten. Diese Auseinandersetzungen, Schulbildungen und Richtungskämpfe können selber wiederum von einer beschreibenden Wissenschaftstheorie im Sinne von Thomas Kuhn (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, engl. 1962) wissenschaftshistorisch und wissenschaftssoziologisch erforscht werden. Ohne näher auf die Wissenschaftsgeschichte der Ethnologie und ihre wissenschaftssoziologische Analyse eingehen zu können 39, seien hier aus der Sicht deskriptiver Wissenschaftstheorie einige allgemeine Strukturmerkmale hervorgehoben, wie sie nicht nur für die Ethnologie, sondern für alle Human- und Sozialwissenschaften kennzeichnend sind. Jede der Schulen und Richtungen der Ethnologie liegt ein ganz bestimmtes wissenschaftliches Paradigma zugrunde, das sich nicht nur als gegenstandsbestimmend erweist, sondern von dem her auch je spezifische Forschungsmethoden entwickelt werden. Diese Methoden werden keineswegs willkürlich gewählt und fortentwickelt, sondern sie werden in konkreter Auseinandersetzung mit dem empirischen Erfahrungsmaterial differenziert und modifiziert, aber immer unter Kontrolle und Grenzziehung des vorausgesetzten theoretischen Paradigmas. Jede Methode korrespondiert mit einer bestimmten theoretischen Fragestellung; sie drängt dadurch andere Fragestellungen aus dem Blickfeld der Untersuchung, und zwar je differenzierter und spezieller eine Methode entwickelt ist, umso rigoroser grenzt sie alles nicht in ihr Blickfeld Gehörige aus. Im Extremfall führt dies 39
Wilhelm E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie (1948).
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sogar dazu, dass die Ergebnisse einer methodisch hochspezialisierten Erhebung außerhalb des Fragekontextes, dem sie entstammen, völlig unbrauchbar sind. Geht es beispielsweise um einen interkulturellen Vergleich irgendeines kulturellen Phänomens, so schließen die methodischen Erhebungsraster aus, dass dieses Phänomen gleichzeitig noch im konkreten Lebenszusammenhang der jeweiligen Kultur begriffen werden kann, dem es vorher entnommen wurde. Wird beispielsweise nach dem Sinn der Mythen im lebenspraktischen Kontext einer archaischen Gesellschaft gefragt, so kann nicht gleichzeitig die formal-strukturale Logik des mythischen Denkens zum Vorschein kommen. Da die Methoden mit den ihnen vorausgehenden gegenstandskonstituierenden theoretischen Problemstellungen korrespondieren, führen die durch sie ermittelten Ergebnisse, so sehr sie auch im empirischen Material Neues vorstellen, in ihrer theoretischen Fassung im Normalfall zur Erhärtung des vorausgesetzten theoretischen Paradigmas. Dies ist das, was Thomas Kuhn normalwissenschaftliche Forschung nennt, im Gegensatz zu wissenschaftlichen Einsichten, die zu einem revolutionären Umbruch der theoretischen Fragestellung, zu einem Paradigmenwechsel führen. Nun hat Thomas Kuhn seine wissenschaftstheoretischen Reflexionen und wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen an den Naturwissenschaften gebildet und durchstrukturiert. In den Humanwissenschaften, wie etwa der Ethnologie, ist jedoch niemals nur ein einheitliches theoretisches Paradigma gegeben, sondern es bestehen immer nebeneinander eine Reihe verschiedenster theoretischer Konzepte und Schulrichtungen, sodass die auch hier auftretenden Paradigmenwechsel, beispielsweise in der Generationenfolge einer Schulrichtung, nicht so sehr als revolutionärer Umbruch erfahren werden, sondern eher den Wechsel in der Dominanz der verschiedenen Konzeptionen markieren. Insgesamt entsteht dabei viel eher der Eindruck eines Oszillierens zwischen verschiedenen theoretischen Konzeptionen. Einmal dominiert die historische Völkerkunde, dann wird sie durch eine soziologische Orientierung verdrängt, doch danach ersteht jene erneut, wenn auch gewandelt und durch neue Problemstellungen bereichert. Ein wesentlicher Unterschied in der Wissenschaftspraxis der Humanwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften liegt auch darin, dass die nebeneinander bestehenden Forschungsansätze sich trotz aller Gegensätze und Kontroversen doch niemals total gegeneinander abgrenzen, sodass jede Richtung, wenn auch mit Ver89 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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zögerung und Verzerrung, die Forschungsergebnisse der anderen zur Kenntnis nehmen muss und in Auseinandersetzung mit ihnen neue Fragestellungen aufnehmen kann, ohne doch einen vollständigen Paradigmenwechsel zu vollziehen. So unverständlich z. B. den angelsächsischen Sozialanthropologen der französische Strukturalismus bleibt, sie setzen sich doch mit Lévi-Strauss und seiner Schule auseinander, und dies führt zu Modifikationen und Problemerweiterungen der eigenen theoretischen Konzeption (Edmund Leach, Rethinking Antropology, 1961). Eine detaillierte wissenschaftshistorische Untersuchung würde sogar zeigen, dass die großen Impulse und Neuerungen in der Ethnologie nicht nur aus Anregungen von anderen ethnologischen Forschungsrichtungen herrühren, sondern letztlich der produktiven Übertragung von Problemstellungen aus anderen Wissenschaften, nicht zuletzt auch der Philosophie, zu verdanken sind. Wir brechen hier die sehr allgemein gehaltenen strukturellen wissenschaftstheoretischen Erwägungen zum Entwicklungsprozess und zur Wissenschaftspraxis der Ethnologie ab. Sie müssten sehr viel dichter am wissenschaftsgeschichtlichen und wissenschaftssoziologischen Material dokumentiert und konkretisiert werden. Aber auch dann – und dies gilt es zu zeigen – bleibt eine solche deskriptive Wissenschaftstheorie dem Selbstverständigungsprozess und dem Praxishorizont einer Wissenschaft äußerlich. Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen hat viel zur Entmythologisierung der Naturwissenschaften, zum Abbau einer falschen Wissenschaftsgläubigkeit beigetragen, und ebenso könnte eine wissenschaftssoziologische Analyse der Ethnologie einer Dogmatisierung der verschiedenen Forschungsrichtungen entgegenwirken und so relativierend den Blick wieder öffnen für den Reichtum verschiedenster ethnologischer Fragestellungen. 40 Aber weiter kommt eine deskriptive Wissenschaftstheorie nicht an die Praxis und das Selbstverständnis der Ethnologie heran, da sie über keine Entscheidungskriterien verfügt, die den Wahrheitsgehalt der kontroversen Positionen beurteilen könnten. Sie kann immer nur im Nachhinein und von außen Prozesse beschreiben und Abgrenzungen konstatieren, ohne dabei etwas zur Selbstverständigung und zum Entscheidungsprozess innerhalb der Ethnologie selbst beitragen zu können.
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Vgl. Justin Stagl, Kulturanthropologie und Gesellschaft (1974): 37 ff.
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Wenn nun weder die prinzipientheoretische Reflexion noch die deskriptive Wissenschaftstheorie die Ethnologie in ihrer eigenen Problemstellung erreicht, so stellt sich sehr grundsätzlich die Frage, ob die Philosophie überhaupt in irgendeiner Form zum Problemverständnis der Ethnologie und Kulturanthropologie beitragen kann oder ob nicht vielmehr die Ethnologie nur aus ihrer eigenen Wissenschaftspraxis heraus sich theoretisch zu finden und zu bestimmen vermag? Nun fehlen allerdings der Ethnologie – wie jeder anderen Einzelwissenschaft auch – die Kriterien, die es ihr ermöglichten, über Bedingungen und Reichweite, Möglichkeit und Grenzen ihrer theoretischen Konzeptionen zu entscheiden. Gerade die nie abbrechenden Kontroversen der verschiedenen Forschungsrichtungen dokumentieren, dass sie in den Schranken ethnologischer Wissenschaftlichkeit nicht entscheidbar sind, sondern vielmehr eine philosophische Reflexion erforderlich machen, die ihr Verhältnis zu ihrem Erkenntnisgegenstand bedenkt und klärt. Eine solche philosophische Reflexion muss allerdings, anders als die prinzipientheoretischen und wissenschaftshistorischen Untersuchungen, die sich immer schon auf die vorgegebene Wissenschaft der Ethnologie beziehen, tiefer zurück nach den Bedingungen der Möglichkeit unseres Verstehens fremder Kulturen fragen.
2.3. Philosophische Reflexionen Die philosophische Frageweise unterscheidet sich von der wissenschaftlichen grundsätzlich dadurch, dass diese immer ihren Gegenstand in direktem Zugriff angeht, während jene sich auf sich als zu bestimmendes Verhältnis zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem Gegenstand zurückbeugt. So befragt die philosophische Erkenntnistheorie menschliches Erkennen nach den eigenen Möglichkeiten des Erkennens von Wirklichkeit. Hier bezogen auf den Themenbereich der Ethnologie wendet sich die philosophische Reflexion zunächst auf die Bedingungen der Möglichkeit zurück, fremde Kulturen verstehen zu können. Damit tritt zweierlei in den Fragehorizont der Philosophie: Zum einen wendet sie sich auf das Erkenntnissubjekt zurück, das die Ethnologie als Wissenschaft gerade aus ihrer Thematisierung ausklammert, obwohl es natürlich konstitutiv all ihrem Erkennen zugrunde liegt; und zum 91 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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anderen ist ihr die fremde Kultur nicht ein einfach gegebener Erfahrungsgegenstand, sondern ein aufgegebenes Problem: Wie ist es uns möglich, Fremdes zu verstehen? Damit sei keineswegs gesagt, dass dem Ethnologen die eigene Subjektivität und die Erkenntnis des Fremden nicht zum Problem werde, aber doch in ganz anderer Weise weiß er, wenn er ein reflektierter Ethnologe ist, von den Vorurteilen, die er aus seinem eigenen kulturellen Verstehenshorizont mitbringt, er erfährt – wie George Devereux 41 es herausgearbeitet hat – die Ängste, die ihn gegenüber existentiell Befremdlichem befallen, und natürlich ist es ihm ein Problem, das Fremdartige einer fremden Kultur zu verstehen. Aber während er auf der einen Seite versucht, seine subjektiven Vorurteile und Ängste so zu überwinden oder auch zu verdrängen, dass sie nicht in seine wissenschaftliche Aussage eingehen, versucht er auf der anderen Seite, das Fremdartige durch methodische Arrangements in den Griff zu bekommen, indem er sich beispielsweise bemüht, das ihm Unverständliche in seinem historischen oder lebenspraktischen Kontext zu rekonstruieren und sich so aus dem Gesamtzusammenhang ein Verstehen zu erarbeiten. Dabei setzt der ethnologische Forscher die philosophische Frage nach den prinzipiellen Bedingungen, die es uns ermöglichen, dass wir etwas für uns Fremdes verstehen können, immer schon – unbewusst natürlich – als geklärt voraus. Für die Philosophie dagegen beginnen erst hier die Probleme; sie versucht, die Bedingungen und ihre Grenzen aufzuklären, die uns ein Verstehen von fremden kulturellen Phänomenen ermöglichen. Dabei genügt es ihr keineswegs, einfach zu konstatieren, dass ein gewisses Verstehen immer schon stattfindet, sondern sie setzt einen Selbstklärungsprozess in Gang, der uns sowohl in unseren eigenen kulturellen Bedingungen als auch in unserer Beziehungsfähigkeit der fremden Kultur gegenüber bedenkt. Radikal zu Ende geführt, bleibt dieser Klärungsprozess auch nicht dabei stehen, lediglich die theoretischen Bedingungen des Verstehens aufzudecken, sondern er dringt bis in die sittlich-praktische Dimension unseres Verhältnisses zum Fremden vor, indem er sowohl den praktischen Aufgabenhorizont unserer Auseinandersetzung mit fremden Kulturen als auch unser Betroffensein und In-Frage-gestellt-Werden durch das Fremde aufzuklären sucht.
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George Devereux, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften (1967).
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In einer zweiten noch weiter ausgreifenden Fragestellung wendet sich die philosophische Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit zurück, den Menschen in der geschichtlichen Verwirklichung seiner kulturellen Existenz, d. h. in der Totalität menschlicher Kultur zu begreifen. Der Ethnologe geht – so sahen wir – immer von einem bestimmten theoretischen Vorbegriff von Kultur aus, um überhaupt empirisch fremde Kulturen erforschen zu können. Dieser theoretische Vorbegriff erwächst ihm nicht aus seiner empirischen Forschung, sondern liegt umgekehrt dieser immer schon zugrunde. Er geht beispielsweise mit einem kulturhistorischen oder funktionalistischen, einem strukturalistischen oder geschichtsmaterialistischen Konzept von Kultur an die empirische Erforschung bestimmter kultureller Phänomene heran. Natürlich unterliegen diese verschiedenen theoretischen Konzeptionen einer inner-ethnologischen Diskussion und Kritik und natürlich haben sie sich auch immer wieder am gesamten empirischen Material zu bewähren, aber diese inner-ethnologische Debatte verfügt nur über wissenschaftspragmatische Kriterien, die keine grundsätzliche Beurteilung der verschiedenen Vorbegriffe von Kultur zulassen. Erst eine philosophische Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit, Kultur als die Totalität unserer geschichtlichen Existenz zu thematisieren, vermag auch Stellenwert und Schranke der verschiedenen theoretischen Konzeptionen von Kultur kritisch zu bestimmen. Mit dem Begriff »Kultur«, den die Ethnologie immer schon – in je bestimmter Gestalt zwar – als gegeben voraussetzt, beziehen wir uns grundsätzlich auf die Totalität der kulturellen Existenz des Menschen in der Geschichte, d. h. aber, dass wir Kultur als Totalität niemals als einen erfahrbaren und bestimmbaren Gegenstand uns gegenüber haben, da wir selber in unserer kulturellen Existenz in dieser Totalität mitinbegriffen sind; ja mehr noch: auch alle künftigen Kulturen sind bereits mit dem Begriff Kultur umfasst. Die philosophische Reflexion bringt also zu Tage, dass jede theoretische Konzeption von Kultur als Totalität stets auf die kulturelle Existenz der Menschen in ihrer geschichtlichen Verwirklichung bezogen ist, was immer auch eine Selbstbestimmung unserer eigenen kulturellen Existenz impliziert, und dies nicht nur als vorgegebene Wirklichkeit, sondern zugleich auch als aufgegebener Anspruch. Kant nannte diese Form des Begriffs einer Totalität, die notwendig uns selbst mit einbegreift, eine »regulative Idee der reflektierenden Urteilskraft«, im Gegensatz zu den gegenstandsbestimmenden Kategorien der empirischen Erkennt93 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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nis. An der regulativen Idee menschlicher Kultur sind die unterschiedlichen theoretischen Vorbegriffe von Kultur, wie sie den verschiedenen ethnologischen Schulen zugrunde liegen, zu bemessen. Aus den beiden vorhergehenden Überlegungen folgt, dass alle philosophische Reflexion und Rückbesinnung auf das Verstehen fremder Kulturen und auf die uns mitbetreffende kulturelle Existenz des Menschen letztlich immer auch ein sittlich-praktisches Selbstbewusstwerden unserer selbst impliziert. Wo philosophisch nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fremdverstehens gefragt wird, also die eigene Subjektivität im Verstehen des Fremden bedacht wird, tritt notwendig auch die praktische Frage unseres Verhältnisses zum Fremden ins Bewusstsein. Ebenso wie wir dort, wo wir Kultur unter Einbezug unserer eigenen kulturellen Existenz thematisieren, notwendig vor die praktische Aufgabe der Verwirklichung menschlicher Kultur gestellt werden. Die philosophische Reflexion berührt also im letzten sowohl das existentiell-praktische Gefordertsein in der Begegnung mit Fremdem, in welcher jegliches Verstehen gründet, als auch die menschheitspraktische Aufgabe der Verwirklichung menschlicher Kultur, von der her wir das Verhältnis unserer Kultur zur fremden zu bestimmen haben. Dies hat Herder in seinen Ideen zur Philosophie einer Geschichte der Menschheit (1884–1891) in der Problemspannung des Rechts jeder Kultur auf Verwirklichung ihres Glücks und der gemeinsamen Aufgabe des Fortschritts in der Humanität angesprochen.
2.4. Ihre Relevanz für die Ethnologie Trotz der notgedrungen knappen Charakterisierung der Eigentümlichkeit der philosophischen Problemstellung wird doch wohl deutlich geworden sein, inwiefern die reflexiven Rückwendungen der Philosophie auf die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens fremder Kulturen und der Thematisierung der Kultur als die uns mitumfassende Totalität grundlegend auch die Ethnologie betreffen. Denn sowohl die Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen als auch die einzelnen Ethnologen stehen im Horizont der durch die Philosophie aufgeworfenen Fragen. Der Ethnologe, der als teilnehmender Beobachter eine archaische Kultur aus ihr heraus verstehen will, ist zunächst und vor allem Forschersein als Mensch in eine Begegnung mit fremden Menschen ge94 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Zur Bestimmung des Beitrags der Philosophie zur Ethnologie
stellt, er lebt mit ihnen, er geht Beziehungen ein und muss sich als Mensch in diese fremde Kultur einbringen. Er wird mitunter mit Problemen konfrontiert, die ihn existentiell nicht unberührt lassen können. So ist oft genug gar nicht das Verstehen sein Problem, sondern gerade umgekehrt: Er versteht die existentiellen Sorgen und Nöte der Menschen jener fremden Kultur sehr gut, aber er vermag ihren antwortheischenden Fragen nichts anderes als eben sein Verstehen entgegenzubringen, das jenen aber nicht hilft, beispielsweise gegenüber den Zerstörungsmechanismen, die gleichzeitig mit dem Ethnologen aus unserer Kultur in die ihre eindringen. Wir können hier auch nicht annähernd versuchen, eine Phänomenologie der existentiellen Betroffenheit des Ethnologen zu skizzieren. Es galt nur anzudeuten, dass der Ethnologe mit sehr viel größeren Problemen konfrontiert ist, als die wissenschaftlichen Erhebungsmethoden und die Ergebnisse von Forschungsberichten erkennen lassen. Die philosophische Reflexion kann dem Ethnologen keine Anleitung bieten, wie er in Konfrontation mit Fremden als Mensch sittlich-praktisch gefordert sein wird, sie kann aber diese ganze Dimension, die die Wissenschaft in ihrem Purismus verdrängt, als den letzten konstitutiven Grund allen Verstehens von Fremden sichtbar machen und so wissenschaftskritisch ins Bewusstsein, in die Arbeit und in die Diskussion der Forscher zurückholen. 42 Aber nicht nur die einzelnen Ethnologen, sondern auch die Ethnologie als Wissenschaft wurzeln in tieferen Dimensionen, als sie sich selbst vor ihren puristischen Kriterien reiner Wissenschaftlichkeit einzugestehen vermögen. Die Ethnologie kann nicht auf die reine Informationsgewinnung und Wissensanhäufung über archaische Kulturen reduziert werden, vielmehr steht sie von ihren Anfängen als Wissenschaft an unter dem praktischen Auftrag, durch ihre Erkenntnisse von fremden Kulturen zum Selbstverständnis unserer menschlichen Existenz und zur Verständigung zwischen den Völkern beizutragen. Natürlich wurden ihre Erkenntnisse sowie die Völkerkundler selbst von den Kolonialmächten zur Unterdrückung und Ausbeutung archaischer Gesellschaften ausgenutzt, und das geschieht auch heute noch. Aber diesem Missbrauch kann man nicht dadurch entgehen, dass man den sittlich-praktischen Auftrag der Ethnologie verleugnet und sich auf ein »wertneutrales« ErkenntnisinteKlaus-Peter Köpping, »Ethik in ethnographischer Praxis: zwischen Universalismus und pluralistischer Autonomie« (1993): 107 ff.
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resse zurückzieht, denn gerade damit öffnet man der missbräuchlichen Verwertung des gesammelten Wissens Tür und Tor. Dem Missbrauch der Völkerkunde als Wissenschaft kann nur dadurch gegengesteuert werden, dass die politischen und pädagogischen Dimensionen ihres Forschungsauftrages in Bezug auf unsere eigene Kultur als auch gegenüber den fremden Völkern bewusst gemacht und in einer öffentlichen Diskussion bewusst gehalten werden. Dies kann aber nicht ohne gleichzeitige Kritik an den Mechanismen der Kulturzerstörung und der Völkerunterdrückung geschehen, wie sie mit der blindwütigen Expansion unserer wertbestimmten industriellen Zivilisation einhergehen, ein Prozess, der inzwischen auch in Selbstzerstörung unserer eigenen Kultur umgeschlagen ist. Gerade hier kommt der Ethnologie als der Wissenschaft von Lebenspraxis und Sinnwelt fremder Kulturen heute ein ganz neuer pädagogischer und politischer Auftrag zu, der sich kritisch gegen unsere eigene entfremdete und sinnentleerte Lebenswelt wenden muss. Die Ethnologie wird diesen Auftrag nur erfüllen können, wenn sie den Dialog mit einer kritischen Gesellschaftsphilosophie aufnimmt und sich nicht selbst den Sinnentleerungsmechanismen anpasst, indem sie sich auf die Techniken und Normen reiner Wissenschaftlichkeit reduziert. Nochmals gilt es ausdrücklich zu betonen, dass hier keineswegs gefordert wird, dass die Ethnologen nichts anderes betreiben sollten als ständige Reflexion auf ihre theoretisch-praktischen Grundlagen, aber ebenso wenig sollten sie diese auch ihr eigenes wissenschaftliches Selbstverständnis betreffenden Probleme allein den Philosophen überlassen. Worauf es ankommt, ist eine gemeinsame grundlagentheoretische Diskussion zwischen Ethnologen und Philosophen zur Klärung unseres Verhältnisses gegenüber fremden Kulturen, das gleichzeitig Grundlage aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit fremden Kulturen darstellt. Wie es scheint, so ist eine solche Diskussion inzwischen in der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie am Problem des Verstehens fremder Kulturen und im Zwiegespräch zwischen Philosophie und Ethnologie in Frankreich am Problem einer Theorie der menschlichen Kultur bereits in Gang gekommen. Wir sollten diese beiden Diskussionsstränge aufnehmen und in Rückbesinnung auf vergessene Anfänge bei uns fortführen.
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Das Verstehen fremder Kulturen
3.
Das Verstehen fremder Kulturen
3.1. Der ethnologische Verstehensbegriff Dass das Verstehen der fremden Kultur eines ihrer grundlegendsten Probleme ist, ist der Ethnologie seit ihren wissenschaftlichen Anfängen bewusst. »Verstehen« meint dabei das Erfassen der fremden Kultur aus ihrem eigenen Lebenszusammenhang. Somit grenzt sich dieser Begriff des Verstehens, wie er in der Ethnologie verwendet wird, einerseits von einem subjektivistischen Verstehensbegriff ab, der davon ausgeht, dass ein Mensch nur verstehen könne, was ihm aus ihm selbst schon vertraut ist; extrem genommen wäre bei einer solchen subjektivistischen Theorie ein Verstehen von Fremden überhaupt unmöglich. Andererseits wendet sich der ethnologische Verstehensbegriff gegen objektivistische Erhebungsverfahren, die Daten rein für sich ermitteln, ohne Rücksicht zu nehmen auf den fremden kulturellen Kontext, dem sie entnommen werden; auch ein solcher Objektivismus verunmöglicht ein Verstehen, da aus objektiven Daten ein Verständnis für den fremden Lebenszusammenhang nicht mehr zu gewinnen ist. In Abgrenzung von den vorhergehenden Formen völkerkundlichen Sammelns von Kenntnissen über fremde Kulturen, die jedoch allein aus dem Interessenszusammenhang der eigenen europäischen Kultur erfolgten, haben die ersten Generationen einer wissenschaftlich reflektierten Ethnologie die Problematik der Feldforschung durchdacht, erprobt und schließlich die Forschungsinstitution der teilnehmenden Beobachtung als methodische Antwort auf das ihnen aufgegebene Problem des Verstehens fremder Kulturen gefunden (Franz Boas, 1911; Bronislaw Malinowski, 1922). Aber in ihren theoretischen Konzepten, mit denen sie verstehend an die fremden Kulturen herangingen, steckte noch sehr viel Vorverständnis aus der eigenen kulturellen Tradition, die die Interpretation der fremden Lebenspraxis – unbewusst natürlich – steuerte. Erst die nachfolgenden Forschergenerationen bemühten sich mehr und mehr, das aus der eigenen Kultur mitgebrachte Vorverständnis bewusst mit zu reflektieren, um es beim Verstehen der fremden Kultur aus ihrem je eigenen Lebenszusammenhang ausklammern zu können. (Edward E. Evans-Pritchard, 1937) Heute hat die Forschungsinstitution der teilnehmenden Beobachtung über die Grenzen der Ethnologie hinaus in anderen Hu97 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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man- und Sozialwissenschaften allgemeine Anerkennung gefunden und wird unter verschiedener methodischer Akzentsetzung als Ethnomethodologie, symbolischer Interaktionismus oder Phänomenologie der Lebenspraxis diskutiert und verfeinert (Aaron V. Cicourel, 1964; Harold Garfinkel, 1967; Erving Goffmann, 1963), wobei in diese Diskussion insbesondere über die Sozialpsychologie von George Herbert Mead (Identität und Gesellschaft, 1934) und die von Edmund Husserl inspirierte phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz (Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, 1932) sehr stark auch philosophische Grundlagenreflexionen mit einfließen. Ohne hier tiefer in diese Diskussion eindringen zu können, sei nur in einigen Stichworten der allgemeine Rahmen dieser Forschungsansätze skizziert: Eine Kultur ist durch die Lebenspraxis ihrer Mitglieder bestimmt, einer Lebenspraxis, die von den alltäglichen lebensnotwendigen Tätigkeiten und mitmenschlichen Beziehungen bis hin zur symbolischen Sinnwelt reicht, in der die Menschen einer Kultur die Welt und sich in ihr reflektieren. Die Lebenspraxis in ihrem ganzen Umfang konstituiert die Wirklichkeit, in der die Mitglieder einer Kultur die Welt und sich in ihr erfahren. Also nicht etwa nur die Sprache ist wirklichkeitskonstitutiv, wie es zunächst Wilhelm von Humboldt in seinem genialen Werk Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830–1835) und später Benjamin Lee Whorf (Sprache, Denken, Wirklichkeit, engl. 1956) darzulegen versuchten, 43 sondern die Sprache ist selber nur ein Teilmoment des umfassenderen Konstitutionszusammenhangs der gesellschaftlichen und kulturellen Lebenspraxis. 44 Dies bringen Peter L. Berger und Thomas Luckmann bereits im Titel ihres Buches Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1969) zum Ausdruck. Es wird darin unterstrichen, dass nicht nur die materiellen Werke und auch nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse Produkt menschlicher Praxis sind, sondern ebenso jeweils das, was für die Menschen einer Kultur Wirklichkeit insgesamt heißen kann, also auch ihre Erfahrung der Natur und die Deutung der Welt als Totali-
Vgl. Helmut Gipper, Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip? Untersuchungen zur Sapir-Whorf-Hypothese (1972). 44 Siehe hierzu die Darlegungen von Werner Müller, Indianische Welterfahrung (1976) und Neue Sonne – Neues Licht. Aufsätze zu Geschichte, Kultur und Sprache der Indianer Nordamerikas (1981). 43
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tät, in die sie sich einbezogen erleben und aus der heraus sie ihr Handeln praktisch bestimmen. 45 Die Mitglieder jeder Kultur leben und erleben sich in der durch ihre kulturelle Lebenspraxis konstituierten Sinnwelt. Wollen wir fremde Kultur verstehen, so müssen wir diese aus dem Gesamtkontext ihrer lebenspraktisch bestimmten Sinnwelt zu begreifen suchen. Dies scheint zunächst nur eine Neufassung der Forderung nach teilnehmender Beobachtung zu sein, erweist sich jedoch sehr schnell als eine Radikalisierung des Problems, die die gesamte Institution der teilnehmenden Beobachtung als gesicherte Ausgangsbasis des Verstehens fremder Kultur in Frage zu stellen droht. Solange sich die Beobachtungen auf die alltäglichen Tätigkeiten und Lebensgewohnheiten beziehen, scheint es keine Probleme zu geben, da man glaubt, sie aus der Lebenspraxis der eigenen Kultur heraus verstehen zu können. Dort aber, wo wir den uns aus unserer eigenen Lebenspraxis vertraut scheinenden Zusammenhang verlassen und uns in der Sinnwelt einer archaischen Gesellschaft, der uns völlig fremden, uns befremdlichen Sinndeutung der Wirklichkeit in Magie und Mythos konfrontiert sehen, da versagen plötzlich unsere vertrauten Muster des Verstehens von Fremdem. Da nun aber diese uns fremden Sinndeutungen der Wirklichkeit sich bestimmend bis in das alltägliche Handeln und Verständigen der Mitglieder der fremden Kultur hineinziehen, wird nachträglich fraglich, ob wir nicht auch ihr alltägliches Tun aus unserem lebenspraktischen Sinnzusammenhang missverstanden haben. 46 Aufgebrochen ist diese radikalisierte Verstehensfrage an dem Werk von Edward E. Evans-Pritchard Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande (1937), das zu den Großleistungen teilnehmender Beobachtung zählt. Es gelingt Evans-Pritchard, Hexerei, Magie und Orakel, die die ganze Lebenspraxis der Zande durchziehen und beherrschen, aus ihrem eigenen beobachtbaren Kontext zu beschreiben. Er vermag weiterhin sichtbar zu machen, dass es sich dabei für die Zande um eine durchgängige Sinndeutung der Wirklichkeit handelt, die für sie so stimmig und festgefügt ist, dass sie jede Infragestellung durch eklatante Widersprüche doch von ihr her wieder aufarbeiten können, sodass ihr magisches Wirklichkeitsverständnis sogar noch bestimmter daraus hervorgeht. Evans-Pritchard gelingt es stellenweiVgl. Rolf Eickelpach, Mythos und Sozialstruktur (1973). Vgl. Hans-G. Kippenberg/Brigitte Luchesi (Hg.): Magie, Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens (1978).
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se sogar, so aus dem Denkzusammenhang der Zande zu argumentieren, dass man meinen könnte, er »verstehe« sie. Aber genau hier wird dann letztlich die Grenze sichtbar, denn er vermag sich zwar verständlich zu machen, warum in einer bestimmten Situation ein Zande in dieser bestimmten Weise handelt, aber die magische Sinndeutung der Wirklichkeit selbst bleibt ihm verschlossen, weil sie mit seiner Sinndeutung der Wirklichkeit, von der er sich nicht zu lösen vermag, nicht übereinstimmt. Ja, er ist so sehr von seiner Sinndeutung der Wirklichkeit, der wissenschaftlich überformten europäischen Rationalität als der einzig objektiven überzeugt, dass er einerseits detektivisch genau darauf aus ist, die »Tricks und Gaunereien« der Medizinmänner aufzudecken, und dass er andererseits auch immer wieder in die missionarische Rolle des entmythologisierenden Aufklärers verfällt, da für ihn der Sinnzusammenhang, in dem die Zande leben, kein wirklicher, sondern nur ein eingebildeter sein darf.
3.2. Das Verstehen fremder Sinnwelten Nun mag für Viele auch hier noch nicht das Problem sichtbar werden, denn sie leben sicher in dem Glauben, dass unsere wissenschaftliche Erfassung der Wirklichkeit eine schlechthin letztgültige ist, der gegenüber sich das magische und mythische Denken als prälogisch erweist, wie dies Lucien Lévy-Bruhl in Die geistige Welt der Primitiven (fr. 1927) bereits dargelegt hatte. Aber dieser Glaube erweist sich sehr schnell als Aberglaube, wenn wir uns auf unser Denken zurückwenden und wissenschaftstheoretisch nach den Kriterien fragen, die es in der Wirklichkeitserfassung als gültig auszeichnen. Dann nämlich wird sichtbar, dass keine unserer Wissenschaften auch nur in einem einzigen Punkt die Wirklichkeit als solche zu erreichen vermag; vielmehr erweisen sie sich alle als mehr oder weniger in sich selbst stimmige »Sprachspiele« – wie Ludwig Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen, 1958) dargelegt hat –, die uns Strukturierungsregeln geben, unsere Erfahrungen in ein Gefüge zu ordnen, das aber keineswegs die Wirklichkeit an sich abbildet. Insgesamt ist unsere wissenschaftliche Rationalität ebenfalls nur eine Sinndeutung der Wirklichkeit unter vielen und keineswegs eine privilegierte Form der Wirklichkeitserfassung. Sie erweist sich zwar im Kontext unserer Lebenspraxis als den anderen Sinndeutungen in vielen Bereichen überlegen, aber in einigen Bereichen und vor allem im Kontext fremder 100 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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Sinnwelten zugleich als völlig unterentwickelt. Noch radikaler distanziert sich Paul Feyerabend vom Aberglauben der Überlegenheit der Wissenschaften gegenüber anderen Sinndeutungen der Welt: »Die Mythen, die Religionen, die Prozeduren verschwanden nicht, weil die Wissenschaften besser waren, sondern weil die Weißen die entschiedeneren Eroberer waren, weil sie die Träger alternativer Kulturen materiell unterdrückten. […] Einige Wissenschaftler studierten die Stammesideologien: aber sie hatten Vorurteile, sie waren für ihre Aufgabe nur schlecht vorbereitet und so gelang es ihnen nicht, Evidenz für die Überlegenheit oder selbst die Gleichheit ›primitiver‹ Ideen zu finden. Wiederum siegten die Wissenschaften nicht aufgrund der Forschung, sondern aufgrund von politischen, institutionellen, selbst militärischen Druckmaßnahmen.« (Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen, 1979: 177) 47 Über die Rezeption von Ludwig Wittgenstein ist diese philosophische Wissenschaftskritik vor allem in die ethnomethodologische Diskussion eingedrungen und hat den Ethnomethodologen ermöglicht, auch unser Verhalten und Denken genauso teilnehmend zu beobachten und zu beschreiben. Es existiert also keine privilegierte Sinndeutung der Wirklichkeit, sondern es gibt nur verschiedene kulturelle Deutungssysteme, die ethnomethodologisch erschließbar und beschreibbar sind. Allerdings kann es für eine solche wissenschaftliche Rekonstruktion von Sinndeutungen und Handlungskonzepten kein wahrhaftes Verstehen mehr geben; denn man vermag aus dem rekonstruierten Zusammenhang zwar zu erklären, weshalb ein Mitglied einer Kultur eine Situation in diesem bestimmten Sinne deutet und entsprechend agiert, aber das geschieht nicht aus einem »Verstehen« der gelebten Sinndeutung heraus. Selbst die eigenen gelebten Sinndeutungen und lebenspraktischen Entscheidungen werden durch eine solche ethnomethodologische Rekonstruktion ihrer Deutungsund Handlungskonzepte unserem Selbstverständnis entfremdet, d. h. die wissenschaftliche Deskription erreicht niemals den praktischen Grund, aus dem heraus wir oder Mitglieder einer fremden Kultur denken und handeln. Indem die Ethnomethodologie Deutungen und Handlungen aus dem lebenspraktischen Kontext rekonstruiert, entVgl. auch Paul Feyerabend, »Autoritäre Konstruktion oder demokratische Entschlüsse? Bemerkungen zum Problem des kulturellen Pluralismus«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Objektivationen des Geistigen. Beiträge zur Kulturphilosophie in Gedenken an Walther Schmied-Kowarzik (1985): 137 ff.
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fremdet sie diese gleichzeitig dem gelebten Sinn- und Entscheidungshorizont der Handelnden. 48 Ohne hier auch nur annähernd auf alle Nuancen der ethnomethodologischen Diskussion eingehen zu können, wollen wir in einem Sprung zur anderen Seite noch ein zweites Beispiel einbeziehen, und zwar die Wissenschaftsromane von Carlos Castaneda, über die Lehre des Indianers Don Juan. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob es den Indianer Don Juan überhaupt gibt oder ob er eine Erfindung von Castaneda ist oder ob beide, Don Juan und Castaneda, eine geniale Konstruktion darstellen, um die Ethnomethodologie ad absurdum zu führen. 49 In diesen Romanen wird uns der Ethnologe und Ethnomethodologe Castaneda vorgeführt, der auszieht, um von einem Indianer, dem Yaqui-Zauberer Don Juan, etwas über rauscherzeugende Kräuter zu erfahren, und wir erleben dabei, romanhaft in das Geschehen mithineingezogen, wie der Ethnologe von Don Juan durch punktuelle, aber sich steigernde fremdartige Erfahrungen, die er nicht in sein wissenschaftsüberformtes alltägliches Sinndeutungsmuster von Wirklichkeit zu integrieren vermag, Schritt für Schritt in seiner festsitzenden Wissenschaftsgläubigkeit und seiner abendländischen Rationalität erschüttert und dadurch befähigt wird, die fremdartigen Sinndeutungen des Indianers immer mehr zu verstehen. Dabei wird, darstellungstechnisch äußerst geschickt, der Ethnologe als der gewissenhafte Wissenschaftler eingebracht, der nichts anderes will, als getreu teilnehmend zu beobachten, und der sich dabei gleichzeitig in penetranter Hartnäckigkeit weigert, etwas zu verstehen, was ihm nicht aus seiner Lebenspraxis und Wissenschaftssozialisation vertraut ist, und der deshalb auch durch die für ihn unerklärlichen Grenzerlebnisse immer wieder erneut geschockt wird. Don Juan dagegen, obwohl wortkarger Indianer, vereint in sich die Weisheit von Sokrates, Wittgenstein und Heidegger – Sokrates gleicht er in seinem unablässigen mäeutischen Bemühen, den Ethnologen zum Verstehen zu bringen, an Wittgenstein erinnert er, wenn er das Sprachspiel wissenschaftlicher Rationalität zu erschüttern trachtet, mit Heidegger verbindet ihn das Orakeln über die sprachlich nicht erreichbare WirkVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Das Verstehen fremder Sinnwelten«, in: Angelika Tunis (Hg.), Faszination der Kulturen (2001): 167 ff. 49 Carlos Castaneda, The Teaching of Don Juan (1968); A Seperate Reality (1971); Journey to Ixtlan (1972); Tales of Power (1974); The Second Ring of Power (1977). 48
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lichkeit an sich, in der wir doch gleichwohl gründen. Der Fortsetzungsroman von Carlos Castaneda lässt kein anderes Ende zu, als dass eines Tages der Ethnologe so in seinem wissenschaftlichen Selbstverständnis erschüttert sein wird, dass er aufhört, Ethnologe und Wissenschaftler zu sein, und wie Don Juan beginnen wird, aus der Wirklichkeit zu leben, die keiner wissenschaftlich vermittelten Sinndeutung mehr bedarf. Hier wird also ein Weg angedeutet, der ein völliges Verstehen des Denkens des Yaqui-Zauberers ermöglicht, aber dieser Weg führt über eine vollständige Initiation in die Welt des Don Juan, aus ihr gibt es dann kein Zurück mehr. 50 Wir stehen also im Verstehen einer fremden Kultur, wo diese uns in der ganzen Fremdheit ihrer lebenspraktisch bestimmten Sinndeutung der Wirklichkeit zum Problem wird, vor folgendem Dilemma: Auf der einen Seite erscheint es überhaupt kein wahrhaftes Verstehen des Fremden zu geben, da wir alle aus völlig verschiedenen Sinndeutungen der Wirklichkeit leben, die keine gemeinsame Bezugsebene des Verstehens ermöglicht. Dann ist nur ein ethnomethodologisches Beschreiben verschiedener Weltentwürfe und Handlungskonzeptionen möglich. Allerdings können wir unter dieser Voraussetzung nicht einmal die Sinnbestimmung unserer eigenen Lebenspraxis verstehen; diese erscheint uns, wo wir uns ihr ethnomethodologisch zuwenden, entfremdet als ein Aberglaube neben anderen. »Da alle Realitäten letztlich Aberglauben sind, bedeutet die reflexive Verankerung der Reflexivität innerhalb ethnomethodologischer Studien keine zusätzliche Schwierigkeit. Es liefert ihnen vielmehr ein äußerst interessantes Phänomen.« 51 Auf der anderen Seite scheint es durchaus ein Verstehen des Fremden zu geben, aber nur um den Preis einer totalen Aufgabe der eigenen wissenschaftlichen Sinndeutung der Wirklichkeit und vollständigen Initiation in die Lebenspraxis und Sinndeutung des dann nicht mehr Fremden. 52 Allerdings gibt es von dort her und darüber keine wissenschaftliche Aussage mehr, da ja gerade die wissenschaftVgl. Hans Peter Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation (1978): 11; vgl. auch Hans Peter Duerr (Hg.), Der Wissenschaftler und das Irrationale. Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie, Philosophie und Psychologie, 2 Bde. (1981). 51 Vgl. Hugh Mehan/Houston Wood, »Fünf Merkmale der Realität«, in: Elmar Weingarten/Fritz Sack/Jim Schenkein (Hg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns (1976): 44. 52 Tobias Schneebaum, Ich war ein Kannibale (engl. 1969). 50
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liche Sinndeutung der Wirklichkeit abgelegt werden muss, um das völlig andere Denken aus sich selbst heraus zu verstehen. Jede sinnbestimmte Lebenspraxis kann also nur aus sich heraus verstanden werden, d. h. es gibt kein Verstehen durch teilnehmendes Beobachten; und aus sich selbst heraus kann man nur jene Sinndeutung verstehen, von der man existentiell überzeugt ist und die man praktisch lebt. (Carlos Castaneda 1972: 180 ff.). In einem Punkt stimmen beide Richtungen überein: Mit Methoden der Wissenschaft ist kein Verstehen fremder Welten aus ihrem eigenen Sinnzusammenhang möglich, entweder bleibt man ganz in der wissenschaftlichen Einstellung dem Fremden gegenüber, dann gibt es kein Verstehen seiner Sinnwelt, oder man bemüht sich um ein Verstehen aus dem Sinnhorizont des Fremden, dann muss man jedoch die wissenschaftliche Einstellung aufgeben.
3.3. Die ermöglichende Grundlage des Verstehens Nun scheint dieses Dilemma radikal und total zu sein, und doch ist es philosophisch nicht haltbar. Denn es fußt auf der Voraussetzung, dass die lebenspraktisch bestimmte Sinnwelt und die sinnbestimmte Lebenspraxis einer jeden Kultur sich absolut auseinander konstituieren und sich total entsprechen. Beide Ansätze unterschlagen dabei die Möglichkeit, dass wir sehr wohl zu unserer eigenen kulturell geprägten Lebenspraxis und Sinndeutung der Welt kritisch in Distanz treten können und dass diese Distanzierung zu einer praktischen Veränderung unserer kulturellen Einstellung führen kann. D. h. wir sind durchaus nicht an die Sinndeutung unserer abendländischen Lebenspraxis festgekettet, sondern wir können unsere Sinnwelt kritisch relativieren, dies tun wir gerade dort, wo wir uns verstehend auf das Fremde in seinem eigenen Sinnhorizont einlassen. Aber da wir über unsere eigenen kulturellen Deutungsmuster hinaus auf Fremdes eingehen können, bedeutet dies keine Konversion zum Fremden, wohl aber eine über das Fremde veränderte Einstellung in der eigenen Sinnbestimmung. 53 Diese Möglichkeit hat in unserer abendlänSiehe hierzu Hans Peter Duerr: Traumzeit (1978, 156): »Wenn wir also bisweilen mit den Wölfen heulen müssen, dann wird dies bedeuten, daß wir manches von dem Vertrauten vergessen müssen, vor allem das, was uns das Verständnis des Fremden verstellt, aber es muß nicht bedeuten, daß wir für immer alles vergessen werden, wie
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dischen Kultur die auf die Praxis rückbezogene philosophische Reflexion immer schon wahrgenommen. Die Ethnomethodologen rezipieren nur ein Moment der philosophischen Reflexion, wenn sie aus der philosophischen Wissenschaftskritik nur aufnehmen, dass keine Wissenschaft je die Wirklichkeit an sich zu erreichen vermag, sondern immer bloß zu einem geregelten Verfahren kommt, das uns ermöglicht, die uns gegebenen Erscheinungen nach bestimmten Strukturierungsschemata zu ordnen. Sie vergessen hinzuzufügen, dass Kant – von dem diese Einsicht letztlich stammt – zugleich unterstreicht, dass wir als Handelnde und zum Handeln verpflichtete Menschen gleichwohl immer praktisch in der Wirklichkeit an sich stehen und durch sie gefordert sind, obwohl wir sie theoretisch nie einzuholen vermögen. Der von Kant herausgearbeitete Primat der praktischen Vernunft besagt, auf unsere Verstehensproblematik bezogen, dass wir niemals – wie die Ethnomethodologen meinen – bei einer totalen Relativierung von Sinnentwürfen, wie sie vor der theoretischen Vernunft erscheinen, stehen bleiben können, da wir als Menschen immer praktisch gefordert sind, in der Wirklichkeit, in der wir leben, Stellung zu nehmen und Entscheidungen zu treffen. 54 Alle unsere theoretischen Erkenntnisse und so auch die theoretische Relativierung aller Sinndeutungen der Wirklichkeit stehen letztlich – ob sie dies eingestehen oder nicht – im Dienste der praktischen Aufgaben menschlicher Selbstbestimmung. 55 Zweierlei gilt es also festzuhalten: Erstens bewahrt uns die relativierende theoretische Vernunft vor falscher Überheblichkeit der Wissenschaften gegenüber anderen Sinndeutungen und ermöglicht dadurch ein Verstehen fremder Sinnwelten, denn mit unserer wissenschaftlichen Erkenntnis haben wir keineswegs die Wirklichkeit als solche verfügbar, demgegenüber sich alle anderen Sinndeutungen als Illusion und Aberglauben erweisen würden, sondern mit den Wissenschaften gewichten und strukturieren wir unsere Erfahrungen nur völlig anders. Bei dieser Relativierung können wir aber nicht stees ein konsequenter Relativismus nahelegt. Der Ethnologe wird zwar als ein Veränderter, doch nicht als ein ganz anderer zurückkehren, denn sonst hätte nicht er eine Erkenntnis gewonnen.« 54 Kant, KdU, V: 247 f. 55 Siehe hierzu Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Das spekulative Wissen oder die Ekstasis des Denkens«, in: Hans Peter Duerr (Hg.), Der Wissenschaftler und das Irrationale. Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie, Philosophie und Psychologie, 2 Bde. (1981): II, 112 ff.
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hen bleiben, denn zweitens sind wir immer schon in die praktische Forderung sinnbestimmten menschlichen Handelns in die Wirklichkeit gestellt, und all unser theoretisches Erkennen dient im letzten der Erfüllung dieser praktischen Forderung. Nicht aus irgendeinem freischwebenden Erkenntnisinteresse und Sammeltrieb gilt es, fremde Kulturen und fremde Sinndeutungen zu erforschen, sondern das Verstehen des Fremden dient sowohl der uns praktisch aufgegebenen Verständigung mit anderen Völkern als auch der uns gemeinsam aufgetragenen Selbstfindung in unserer menschlichen Existenz. Damit ist nicht gemeint, dass wir in fremden Kulturen nach alternativen Sinndeutungen für uns suchen sollten, obwohl darin individuell eine Lebensalternative liegen kann, wie ja auch Castanedas Roman einem kulturellen Unbehagen der jungen Generation gegenüber Erstarrungen unserer Lebenswelt entspricht. Wohl aber müssen uns fremde Lebenspraxis und Sinnwelt soweit verstehbar werden, dass sie unsere eigene praktische Sinnbestimmung erreichen. Dies wiederum meint nicht, dass das Fremde entfremdet und auf unsere eigene bereits vorgängige Lebenspraxis und Sinnwelt zurückbezogen werden soll, sondern gerade umgekehrt, dass das Fremde als Herausforderung erfahren werden muss, unsere eigene bisherige Lebenspraxis und Sinndeutung der Wirklichkeit neu zu überdenken und möglicherweise auch zu verändern.
3.4. Ernst Cassirers Phänomenologie des mythischen Denkens Nun erst sind wir so weit gekommen, um auf Ernst Cassirers bedeutendes Werk Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) eingehen zu können. Obwohl bereits in den 1920er Jahren erschienen, hat die Philosophie der symbolischen Formen in der kulturphilosophischen und ethnologischen Diskussion noch nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden. Erkenntnistheoretisch Kant und Hegel vermittelnd, thematisch die großen Entwürfe von Humboldt und Schelling aufnehmend, entwirft Cassirer eine Philosophie der Genese von Bewusstseinsformen – im ersten Band auf die Sprache bezogen, im zweiten auf das »mythische Denken« und im dritten auf das begriffliche Denken der Wissenschaften. 56 Cassirer, Ernst, Philosophie der symbolischen Formen 3 Bde. I: Die Sprache (1923), II: Das mythische Denken (1925), III: Phänomenologie der Erkenntnis (1929). Vgl.
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Wer, wie die Ethnomethologen in der heutigen Diskussion, in hochdifferenzierter wissenschaftlicher Begrifflichkeit den totalen Relativismus von Wirklichkeitsentwürfen und Handlungskonzepten – vom Mythos bis zur Wissenschaft, von der Magie bis zur Alltagspraxis – predigt, der weiß eigentlich gar nicht, wovon er redet und was er tut. Denn eine solche Konzeption vergisst, dass sich das begriffliche Denken, von dem her sie selbst operiert, sich nicht nur historisch, sondern in der Logik ihres Wirklichkeitszugriffs durch einen Akt der Negation, der Kritik und der Wende aus dem ihm genetisch vorausliegenden mythischen Denken losgerissen hat. Damit ist keineswegs gesagt, dass durch diesen Akt der Emanzipation aus dem Mythos das Denken nur gewonnen und nicht auch Erfahrungswelten verloren hat. Aber eine Analyse verschiedener Sinndeutungen der Wirklichkeit muss dieser grundlegenden Revolution des Bewusstseins durch Differenzierung des kategorialen Zugriffs im mythischen und wissenschaftlichen Denken Rechnung tragen. Dies versucht Cassirer, indem er Denkform, Anschauungsform und Lebensform des Mythos in den ihm eigenen Kategorien des Begreifens, Erfahrens und sich Bestimmens erkenntniskritisch differenziert. »Nur durch die Analyse seiner geistigen Struktur lässt sich nach der einen Seite sein eigentümlicher Sinn, nach der anderen seine Grenze bestimmen« (Cassirer, 1925: XII). Erst über diese erkenntniskritische Kategorialanalyse, die zugleich eine Genese der menschlichen Denkformen darstellt, können wir einem Verstehen der von mythischen Sinndeutungen gemeinten Wirklichkeit näherkommen. »Statt dessen wird eine kritische Phänomenologie des mythischen Bewußtseins weder von der Gottheit als einer metaphysischen noch von der Menschheit als einer empirischen Urtatsache ausgehen können, sondern sie wird das Subjekt des Kulturprozesses, sie wird den ›Geist‹ lediglich in seiner reinen Aktualität, in der Mannigfaltigkeit seiner Gestaltungsweisen zu erfassen und die immanente Norm, der jede von ihnen folgt, zu bestimmen suchen. Im Ganzen dieser Tätigkeiten erst konstituiert sich die ›Menschheit‹ ihrem ideellen Begriff und ihrem konkreten geschichtlichen Dasein nach; in ihm ergibt sich erst die fortschreitende Scheidung von ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, von ›Ich‹ und ›Welt‹, durch die das Bewußtsein aus
Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext (1994).
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seiner Dumpfheit, aus der Befangenheit im bloßen Dasein und im sinnlichen Eindruck und Affekt, heraustritt und sich zum Kulturbewußtsein formt.« (Cassirer, Das mythische Denken, 1925: 18) Es ist unglaublich, wie naiv Feldforscher heute noch in der Erhebung von Mythen ans Werk gehen; dies zeigt sich beispielsweise in der Darstellung ihrer Ergebnisse, wenn sie, nachdem sie von der fremden Lebenspraxis recht ausführlich berichtet haben, zur Vervollständigung des Bildes einer archaischen Kultur noch ein Kapitel »Mythos« anfügen, in dem nichts anderes gesammelt ist als Erzählungen. Wie aber sollten Feldforscher tiefer in den Problemkomplex des mythischen Denkens eindringen, wenn sie in ihrem Studium nicht auch erkenntniskritisch auf die Erforschung unterschiedlicher Anschauungs- und Denkformen – z. B. der Zeitauffassung, der Raumanschauung, der Gegenstandskonstitution, dem Ichbewusstsein – vorbereitet werden. Zu solcher Vorbereitung gehört aber sowohl eine Beschäftigung mit den Denkformen des »mythischen Denkens« als auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Anschauungsformen und Denkkategorien unserer wissenschaftlichen Erkenntnis, wie sie Cassirer im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen (Phänomenologie der Erkenntnis, 1929) vorgelegt hat. Allerdings scheint es angebracht, Cassirers Ansatz in zwei Punkten eine etwas andere Wendung zu geben. 1) Zwar ist Cassirer als kritischer Philosoph im kantischen Sinne niemals in positivistischer Wissenschaftsgläubigkeit verfangen, ja, er betont sogar ausdrücklich, dass der Mythos niemals ganz durch die Wissenschaft ersetzbar ist, sondern beispielsweise in Formen künstlerischer und religiöser Erfahrung fortlebt (Cassirer, 1925: 19), trotzdem ist seine erkenntniskritische Denkformanalyse durchweg wissenschaftsaffirmativ. Wir dagegen erleben heute bereits viel stärker die krisenhaften Grenzen, die negativen Auswirkungen wissenschaftlicher Rationalität in allen Bereichen unserer eigenen Lebenspraxis, sodass von daher Wissenschaftskritik für uns einen anderen, radikaleren Akzent erhalten muss. Zugleich erfahren wir das mythische Denken nicht nur als fortwirkende Vorstufe, sondern auch als Verdrängtes, noch Unabgegoltenes. Für uns kann es zwar kein Zurück in den Mythos geben, aber das tiefere Verstehen des mythischen Denkens kann uns hilfreich bei der Aufdeckung und Überwindung der negativen Verengungen wissenschaftlicher Rationalität sein. 2) Zwar hebt auch Cassirer hervor, dass der Mythos aus dem Gesamtzusammenhang der Lebensform begriffen werden muss: »Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bil108 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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det vielmehr den Mittelpunkt, von dem für den Menschen die geistige Organisation der Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt« (Cassirer, 1925: 193); und doch ist es für ihn der Mythos, von dem her eine archaische Lebenswelt erschlossen werden muss, und so ist für ihn – wie vorher schon für Schelling – das Werden des mythischen Bewusstseins in den Differenzierungen seiner Kategorien das »Subjekt des Kulturprozesses«. Demgegenüber scheint es uns notwendig, den Mythos als ein Moment des Gesamtkontextes der kulturellen Lebenspraxis zu begreifen und somit geschichtsmaterialistisch die gesellschaftliche Praxis als »Subjekt des Kulturprozesses« zu erkennen, wobei in den archaischen Gesellschaften zur gesellschaftlichen Praxis das mythische Denken als ihre Reflexionsform unmittelbar dazugehört. 57 Damit kehren wir nach einem überlangen Exkurs zu unserem Ausgangsproblem des Verstehens der fremden Kultur aus ihrer eigenen Lebenspraxis zurück. Dieser Exkurs, der uns immer weiter in das Problem des Verstehens fremder Sinnwelten führte, war jedoch notwendig, um wegzukommen von dem Missverständnis, als könnten wir die fremde Lebenspraxis dadurch aus ihrem eigenen Lebenszusammenhang verstehen, dass wir sie aus den Kategorien unseres eigenen Lebens- und Denkzusammenhangs nachvollziehen. Ein solcher Versuch, der vorgibt, von einer allgemeinmenschlichen Lebenspraxis auszugehen, trägt im Grunde unser lebenspraktisches Selbstverständnis verallgemeinert in das Verstehen der fremden Kultur hinein. Dies lässt sich an Bronislaw Malinowskis großem Werk Argonauten des westlichen Pazifiks (1922) aufzeigen. Ihm gelingt es fast vollständig, die Welt der Trobriand-Insulaner mit unseren pragmatischen Lebenskategorien aus ihrem eigenen Lebenszusammenhang zu verstehen, es bleibt nur der für Malinowski völlig überflüssige und illusionäre Rest der Magie. Wollen wir wirklich eine fremde Kultur aus der ihr eigenen Sinndeutung ihrer Lebenspraxis verstehen und vermeiden, sie doch aus unserem Verständnishorizont zu deuten, so müssen wir einerseits mit dem Fremden in eine – auch unsere Sinndeutung in Frage stellende – offene Kommunikation treten und andererseits – so paraSiehe hierzu. Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit (1970) sowie Maurice Godelier, Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften (fr. 1973). Siehe dazu den nächsten Beitrag »5. Strukturale und geschichtsmaterialistische Kulturtheorie«.
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dox dies auch zunächst klingen mag – zu einer umfassenden Theorie der Formgestalten gesellschaftlicher Praxis in der Geschichte kommen, von der her wir die Lebenswelt einer fremden Kultur einschließlich ihrer mythischen Sinndeutungen aus den strukturierenden Momenten menschlicher Praxis begreifen können. Einer solchen Theorie wollen wir uns im nächsten Abschnitt annähern.
4.
Zur Theorie der menschlichen Kultur
4.1. Die Problemstellung So sehr es zutrifft, dass eine Theorie der menschlichen Kultur, eine umfassende Kulturanthropologie nur in Aufarbeitung des empirischen Materials der anthropologischen, archäologischen, sozialwissenschaftlichen, historischen und insbesondere auch ethnographischen Forschungen entfaltet werden kann, so sehr gilt doch auch die Umkehrung, dass eine ethnographische Erforschung fremder Kulturen – und Gleiches gilt für die anderen Disziplinen – nur in dem Maße gelingt und zu wissenschaftlichen Erkenntnissen führt, als ihr eine Theorie der menschlichen Kultur zugrunde liegt. Es ist hinlänglich bekannt, dass fremde Kulturen umso konzentrierter aus ihrem eigenen Lebenszusammenhang erforscht werden können, je mehr sie aus dem Horizont einer Theorie der menschlichen Kultur befragt und beobachtet werden, in die nicht nur die vorhergehenden ethnographischen Kenntnisse über andere Kulturen, sondern auch grundsätzliche Reflexionen bezogen auf den Gesamtzusammenhang menschlicher Kultur eingehen. Während demgegenüber viele detaillierte Berichte über langjährige Forschungsaufenthalte, aber auch gezielte Felderhebungen unter speziellen Fragestellungen, denen keine bestimmte theoretische Gesamtkonzeption zugrunde liegt, oftmals sehr rasch wissenschaftlich überlebt und unbrauchbar sind. Doch nicht um diese pragmatische Bedeutung der Theorie für die ethnographische Forschung geht es hier, sondern um die philosophisch grundlegende Frage der Theoriebildung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Begriff der Kultur aller empirischen Erforschung von Kulturen logisch immer schon vorausliegt, also niemals erst in Abstraktion aus der Vielfalt kulturellen Handelns der Individuen oder der Vielfalt von Kulturen gebildet wird. Denn der Begriff 110 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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der Kultur meint jene Wirklichkeit, aus der sich die kulturelle Existenz der Menschen in all ihren verschiedensten gesellschaftlichen und geschichtlichen Ausprägungen immer schon verwirklicht. Gerade weil der Begriff der Kultur diese grundlegende Wirklichkeit aller menschlichen Existenz meint, sind wir in unserer eigenen kulturellen Existenz selbstverständlich miteinbegriffen. Wir können Kultur als Gesamt- und Wirkzusammenhang nicht als einen uns äußerlichen Gegenstand bestimmen, sondern haben unsere und andere Kulturen aus dem Gesamtzusammenhang menschheitlicher Kultur zu begreifen. Eine Theorie der menschlichen Kultur umfasst also prinzipiell nicht nur alle vergangenen und alle uns fremden Kulturen, sondern auch unsere eigene sowie die kulturelle Zukunft der Menschen, d. h. sie ist grundsätzlich nicht abschließend als Faktum bestimmbar, sondern stellt eine »regulative Idee reflektierender Urteilskraft« (Kant) dar; gerade darin aber offenbart sich auch die praktische Dimension der menschlichen und menschheitlichen Kultur als Aufgabe. An diesen grundsätzlichen Problemen haben wir die Diskussion um eine Theorie der menschlichen Kultur zu beurteilen. Nach Herders Versuch einer allumfassenden Theorie des Menschengeschlechts, der Stellung des Menschen in der Natur und in der Geschichte, ist die Thematisierung des Menschen, nicht nur in der Philosophie, sondern auch in den einzelnen Wissenschaften vom Menschen, in zwei große Theorierichtungen auseinandergefallen: in die anthropologische und in die historische Bestimmung des Menschen. Dies hat auch in der ethnologischen Theorie der Kultur seinen Niederschlag gefunden, wobei es innerhalb beider Richtungen selbst wiederum unterschiedlich radikale oder vermittelnde Akzentuierungen gibt; sie reichen von der Kulturhistorie bis zur Theorie der sozialen Evolution, von der Bestimmung des Menschen aus seiner biologischen Natur bis zur strukturalen Logik des menschlichen Geistes. Lange Zeit hindurch waren die kulturhistorischen und anthropologischen Theorien – und sie sind es zum Großteil auch heute noch – dadurch geprägt, dass sie, ausgehend von einem unbefragt vorausgesetzten Menschenbild, das historisch und empirisch vorliegende Material zu systematisieren versuchten. Die kulturhistorischen Richtungen bemühten sich dabei, eine Abfolge von Kulturformationen zu entwickeln, indem sie die Berichte über rezente archaische Gesellschaften und die frühgeschichtlichen Zeugnisse vergangener Kulturen nach bestimmten ökonomischen, politischen und mythisch111 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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magischen Entwicklungskriterien zu ordnen versuchten (Sozialevolutionismus). 58 Während demgegenüber die anthropologischen Ansätze aus dem vorliegenden ethnographischen Material die Variationsmöglichkeiten menschlicher Lebensgestaltung in ihrer ganzen Breite zu erfassen bestrebt sind, indem sie es – je nach ihrer wissenschaftlichen Grundausrichtung – stärker in biologischen, psychologischen, soziologischen oder kulturologischen Kategorien zu schematisieren trachten. 59 Da beide Richtungen weder auf das von ihnen vorausgesetzte Menschenbild noch auf ihre Schematisierungskriterien reflektieren, gerinnt ihnen die Abfolge von Kulturformationen zur narrativen Beschreibung bzw. die Typologie von Lebensformen zum deskriptiven Schematismus, wobei beides nicht mehr leistet, als das vorausgesetzte Menschenbild empirisch zu erhärten, ohne dabei in irgendeiner Weise die eigenen Voraussetzungen theoretisch klären zu können.
4.2. Die strukturale Anthropologie von Lévi-Strauss Mit Recht hat Claude Lévi-Strauss die evolutionistischen und funktionalistischen Ansätze in den Vorhof einer Theorie der menschlichen Kultur verwiesen und für seine strukturale Anthropologie in Anspruch genommen, dass sie erstmals – die Tradition von Emil DurkHerbert Spencer, The Principles of Sociology, 3 Bde. (1880–1896). Lewis H. Morgan, Ancient Society (1877). Alfred Vierkandt, Die Stetigkeit im Kulturwandel (1908). Leslie A. White, The Science of Culture. A Study of Man and Civilization (1949). Julian H. Steward, Theory of Culture Change. The Methodology of Multilinear Evolution (1955). Elman R. Service, Primitive Social Organization. An Evolutionary Perspective (1962). Zu den philosophischen Grundlagen einer Theorie gesellschaftlicher Evolution siehe vor allem Friedrich Jodl, Die Culturgeschichtsschreibung ihre Entwickelung und ihre Probleme (1878). Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (1976). Zur Kritik an der Theorie der sozialen Evolution von Habermas siehe Eberhard Rüddenklau, »Zur Theorie gesellschaftlicher Evolution« (1981). 59 Bronislaw Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (engl. 1944). A. R. Radcliffe-Brown, Structure and Function in Primitiv Society (1952). Richard Thurnwald, Grundfragen menschlicher Gesellung (1957). George P. Murdock, Social Structure (1949). Siegfried F. Nadel, The Theory of Social Structur (1957). Raymond Firth, Elements of Social Organization (1961). Zur theoretischen Diskussion des Funktionalismus siehe Talcott Parsons, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven (engl. 1966). Marshall Sahlins, Kultur und praktische Vernunft (engl. 1976). Roland Girtler, »Zur Entwicklung und Theorie des Funktionalismus« (1981). 58
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heim und Marcel Mauss fortsetzend 60 – die Ethnologie bzw. Kulturanthropologie zu einer theoretischen Wissenschaft vom Menschen erhoben habe. Entgegen allen empirischen Versuchen, aus vorliegendem ethnographischem Material eine Theorie ablesen zu wollen – was schlechterdings nicht geht und immer nur darauf verweist, dass hier unbefragte Menschenbilder vorausgesetzt werden –, bemüht sich Lévi-Strauss darum – in Anlehnung an Ferdinande de Saussure und die strukturale Sprachwissenschaft 61 –, theoretisch jene Logik aufzudecken, die das gesellschaftliche und kulturelle Zusammenleben der Menschen strukturiert und von der her die empirischen Fakten selbst erst erklärbar werden. Mit der »Logik der Realität« ist dabei auf jene realen Bedingungsstrukturen verwiesen, die bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Lebens- und Denkformen überhaupt erst ermöglichen, jene »notwendigen Beziehungen« 62, die die Menschen in der Verwirklichung ihres gesellschaftlichen Handelns eingehen und deren Problemgeflecht sie im Denken reflektieren. Die ethnologische Theorie hat die Aufgabe, diese Logik der Realität modellhaft zu rekonstruieren und zwar keineswegs abstrakt, sondern am ethnographischen Material. Diese Verschränkung von strukturaler Rekonstruktion und empirischer Erhebung erläutert Lévi-Strauss am Begriff der sozialen Struktur in seiner Strukturalen Anthropologie: »Das Grundprinzip ist, daß der Begriff der sozialen Struktur sich nicht auf die empirische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle bezieht. […] Die sozialen Beziehungen sind das Rohmaterial, das zum Bau der Modelle verwendet wird, die dann die soziale Struktur erkennen lassen.« (Lévi-Strauss 1958/1967: 301) Wichtig ist es, sich hier nicht durch die Formulierung bzw. deren Übersetzungen irreführen zu lassen: In den Modellen werden aus den beobachtbaren sozialen Beziehungen jene soziale Strukturen konstruiert, die strukturierend der gesellschaftlichen Wirklichkeit zugrunde liegen, die jedoch sowohl dem Handelnden in seiner Lebenspraxis als auch dem bloßen Beobachter einer fremden Kultur verborgen bleiben müssen, da sie als reines Bedingungsgefüge des gesellschaftlichen Handelns in die individuellen HandlunEmile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (fr. 1895). Marcel Mauss, Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie (fr. 1904). 61 Ferdinande de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (fr. 1916). 62 Michael Oppitz, Notwendige Beziehungen. Abriß der strukturalen Anthropologie (1975). 60
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gen und Beziehungen immer schon unbewusst mit eingegangen sind. Dies soll sehr knapp und dadurch vereinfachend beispielhaft erläutert werden. 63 Das Inzestverbot ist weltweit verbreitet, aber es erscheint der empirischen Typisierung in so mannigfaltigen, oftmals sogar widersprechenden Ausformungen, dass sich daraus keine anthropologischen oder kulturgeschichtlichen Universalien oder Gesetzmäßigkeiten ableiten lassen. Die strukturale Analyse untersucht nun nicht die empirische Erscheinung, sondern fragt nach der Logik des Inzestverbots, und sie entdeckt so in ihm das Konstituierende allen sozialen Zusammenlebens schlechthin. Gesellschaft ist – so sagt Lévi-Strauss (1973/1975: 29; vgl. 1949/1981: 45 ff.) – ohne das Inzestverbot nicht möglich, wobei es zunächst gleichgültig ist, wie es in bestimmten Gesellschaften konkret realisiert wird; immer bedeutet es jedoch die Verpflichtung, über den engeren Kreis einer familialen Gruppe hinaus zu heiraten und somit in soziale Bindung mit anderen Gruppen einzutreten. Das Inzestverbot erweist sich also als die reale Bedingung der Möglichkeit für gesellschaftliches Koexistieren und gemeinsames Überleben familialer Gruppen – ja es kann überhaupt erst dort von menschlicher Gesellschaft gesprochen werden, wo familiale Horden sich als soziale Gruppen identifizieren und mit anderen Gruppen soziale Bindungen eingehen, was gerade durch die aus dem Inzestverbot hervorgehenden Exogamieverpflichtungen geregelt wird. Die Aufdeckung dieser grundsätzlichen Bedeutung des Inzestverbots macht einsichtig, weshalb eine Übertretung dieses Verbots als eine Bedrohung für die ganze Gesellschaft erfahren wird, die – wenn überhaupt – nur durch besondere Riten kulturell wieder aufgehoben werden kann. Dabei ist – darauf weist Lévi-Strauss (Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, 1949/1981: 25) ausdrücklich hin – die Übertretung des Verbots für kleinere Gesellschaften aus demographischen Gründen immer wieder überlebensnotwendig. Gerade aufgrund des Inzestverbots unterstehen Abstammungsverwandtschaft und Heiratsbindungen notwendig zwei unterschiedlichen Ordnungen. Ihre Regelung stellt ein nicht eineindeutig zu lösendes Problem in jeder Gesellschaft dar – selbst bei uns wirkt es noch Wir halten uns hierbei nicht streng an die oft sehr formale Begrifflichkeit von Claude Lévi-Strauss, sondern versuchen vielmehr, das Grundanliegen der strukturalen Analyse zu verdeutlichen. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Grundprobleme der strukturalen Ethnologie. Kritisches zu Lévi-Strauss’ Strukturalismus« (1968).
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beispielsweise im Konflikt bei der Familiennamensgebung nach. Für archaische Gesellschaften ist prinzipiell nur eine begrenzte Anzahl von Lösungsmöglichkeiten vorhanden. Diese Aussage ist im Sinne eines Strukturgesetzes zu verstehen und meint keineswegs, dass die Mitglieder einer archaischen Kultur vor eine Wahlmöglichkeit gestellt sind. Vielmehr ist für sie durch die bestehenden Verwandtschaftsverhältnisse und Heiratsregelungen die Wahlmöglichkeit vorentschieden bzw. begrenzt, die – einer unbewussten Logik folgend – die Heiratsmöglichkeiten in einer Gesellschaft durch die Generationen hindurch strukturiert. Es lässt sich nun zeigen, dass diese Regelungen des Partnertausches über die Herstellung von Gruppenbindungen und wechselseitigen Verpflichtungen 64 gemeinsam mit weiteren Formen des Gabentausches ein strukturales Gefüge bilden, das die soziale Einheit einer archaischen Gesellschaft garantiert und sie durch die Generation hindurch reproduziert. Auch die Erhaltung der sozialen Einheit stellt die Gesellschaft – wiederum nicht bewusst – vor nicht eineindeutig lösbare strukturale Probleme. In ihre konkrete Lösung gehen natürlich eine Reihe von Komponenten ein – wie Bevölkerungsgröße und -dichte, Produktionsweise und Umweltbedingungen – auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann; aber grundsätzlich ergibt sich das doppelte Problem, dass die soziale Einheit der die Gesellschaft bildenden Gruppen sowohl »räumlich« durch die alle Gruppen einbeziehenden, gegenseitigen Bindungen als auch zeitlich über die Generationen hinweg garantiert werden muss. Diese Doppelproblematik bewirkt gemeinsam mit der bilateralen, matri- oder patrilateralen Bestimmung der Abstammungsverwandtschaft der Gruppen, dass sich die soziale Einheit archaischer Gesellschaften nur in bestimmten Strukturen zu verwirklichen und zu erhalten vermag. Die strukturale Analyse kann diese den Mitgliedern einer archaischen Gesellschaft nicht bewussten Mechanismen innergesellschaftlicher Tauschregulierungen sowie die Lösungsstrategien bei auftauchenden Konflikten aus den besonderen Strukturgesetzen dieser Gesellschaft begreifbar machen. Den von Lévi-Strauss eingeführten Begriff des »Frauentausches« halte ich nicht nur für ein Relikt männlich-chauvinistischer Wissenschaftssprache, sondern er verhindert auch, die besondere Art der gegenseitigen Bedingungen in matri- bzw. patrilinear organisierten Gesellschaften differenzieren zu können. Ebenso erweisen sich die immer nur auf ein männliches Ego bezogenen Strukturaussagen von Lévi-Strauss als voreilige Formalisierungen. Vgl. auch Dan Sperber, »Der Strukturalismus in der Anthropologie« (1973).
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Auch die archaischen Gesellschaften selbst reflektieren in ihren Mythen und Riten die realen, oft unlösbaren Strukturprobleme ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens und versuchen, für diese eine mythisch-rationale Deutung zu finden. Inhaltlich kehren also in den Mythen all die Themen wieder, die auch die real wiederkehrenden Probleme der archaischen Gesellschaft darstellen. So z. B. bezogen auf das Inzestproblem: Die gesellschaftliche Unabdingbarkeit des Inzestverbots stellt kleinere Gesellschaften, bei denen die konkrete Regeneration ihrer weiblichen und männlichen Mitglieder mit den Heiratsregelungen in Konflikt geraten kann, wiederholt vor die extreme Alternative des Aussterbens einer Gruppe oder der Übertretung des Verbots und damit der Gefahr der Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung. Im Mythos reflektiert sich dieser Konflikt in extremen, struktural korrespondierenden Deutungsmustern, in denen die Unlösbarkeit des Konflikts mit all seinen drohenden Folgerungen nach der einen oder anderen Seite durchgespielt wird oder werden kann – beispielsweise im Ödipus-Mythos und seinen weltweiten Variationen. In seiner strukturalen Analyse der Mythen wendet sich jedoch Lévi-Strauss weniger der inhaltlichen Aussage zu, sondern fragt nach der Form ihrer Rationalität. 65 Es geht ihm also darum, die Logik des »wilden Denkens« aufzudecken, in der die archaischen Gesellschaften ihre Probleme wahrnehmen und in Mythen aufarbeiten. Insbesondere bemüht sich Lévi-Strauss darum, die formalen Transformationsgesetze aufzufinden, in denen sich die weltweit gleichenden Mythenmotive kulturspezifisch variieren, um die darin enthaltene Logik herauszuarbeiten. (Lévi-Strauss, Das wilde Denken, 1962; Mythologica 1964 ff.) Mit diesen und ähnlichen strukturalen Bauelementen versucht Lévi-Strauss im letzten – wie er selbst betont –, die Logik des menschlichen Geistes zu rekonstruieren, die allen Strukturierungen der menschlichen Existenz, sowohl den Denkformen als auch den Handlungsmöglichkeiten der Menschen zugrunde liegt, und von der her somit auch alle Gestaltungen menschlicher Kultur erklärbar werden. »Eine im übrigen noch nicht klar ausgesprochene Folge des modernen Strukturalismus müßte freilich darin bestehen […] die KonSiehe dagegen zur Sinndeutung mythischen Denkens Mircea Eliade, Die Religion und das Heilige (1954); Ewige Bilder und Sinnbilder (1958). Vgl. Walther SchmiedKowarzik, Frühe Sinnbilder des Kosmos. Gotteserlebnis und Welterkenntnis in der Mythologie (1974).
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turen jener elementaren Logik zu umreißen, die gleichsam der kleinste gemeinsame Nenner alles Denkens ist, und […] zu erkennen, daß es sich da um eine ursprüngliche Logik handelt, den direkten Ausdruck der Struktur des Geistes (und hinter dem Geist zweifellos des Gehirns).« (Lévi-Strauss, 1962/1965: 117) 66 Gerade an dieser letztbegründeten Intention von Claude LéviStrauss offenbart sich der zu Recht viel gerügte, ungeschichtliche Ansatz seiner an der naturhaften Struktur des Geistes festgemachten strukturalen Anthropologie. Die Einseitigkeit in diesem Punkt, die ihn Strukturen nur als Geflecht von synchron gegebenen Elementen denken lässt, denen gegenüber Geschichte immer nur eine zufällige Ereignisfolge darstellt (Lévi-Strauss, 1958/1967: 11 ff.), musste notwendigerweise eine Gegenbewegung der kulturgeschichtlich orientierten Richtungen hervorrufen. Der Hauptgegner erwuchs jedoch dem Strukturalismus in der geschichtsmaterialistischen Anthropologie, die ihrem methodischen Ansatz nach die dialektische Aufhebung von historischer und anthropologischer, strukturaler und empirischer Bestimmung des Menschen intendiert.
4.3. Die geschichtsmaterialistische Ethnologie und ihre Probleme Für den Geschichtsmaterialismus, das hat Karl Marx bereits gegen den anthropologischen Ansatz von Ludwig Feuerbach hervorgehoben, gibt es keine naturhaft gleichbleibenden Strukturen des menschlichen Daseins (Marx/Engels, 3: 44), denn diese sind immer schon durch die gesellschaftliche Praxis der Menschen geschichtlich überformt. Gerade aber um die Erklärung der geschichtlichen Wandlungen im gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenleben der Menschen geht es dem Geschichtsmaterialismus. Deshalb kann für ihn der letzte Ansatzpunkt auch nicht in der naturhaften Struktur des menschlichen Geistes liegen, sondern in der gesellschaftlichen Arbeit
Vgl. Lucien Sebag, Marxismus und Strukturalismus (fr. 1964/1967: 209): »Die Logik geht den verschiedenen Ebenen der sozialen Organisationen voraus, die als ebenso viele Verwirklichungen dieser Logik erscheinen, entsprechend den zahlreichen Zwecken, die der Mensch sich setzt.« Zur Diskussion der Position von Lévi-Strauss vgl. Wolf Lepenies/Hanns H. Ritter (Hg.), Orte des wilden Denkens. Zur Anthropologie von Claude Lévi-Strauss (1970). Edmund Leach (Hg.), Mythos und Totemismus. Beiträge zur Kritik der strukturalen Analyse, (engl. 1967).
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und Praxis, durch die die Menschen ihre Lebensverhältnisse produzieren und reproduzieren. In diesem Ausgangspunkt bei der »gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens« liegt zweierlei: zum einen, dass das gesellschaftliche Leben unabdingbar und unaufhebbar einbezogen ist in die Natur und dass der Mensch nur in ständiger Auseinandersetzung mit ihr seine materielle Lebenserhaltung erarbeiten und sichern kann; zum anderen, dass es die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens selbst ist, durch die das Verhältnis der Menschen zur Natur und ihre gesellschaftlichen Lebensverhältnisse verändert werden. Die immer schon »in Gesellschaft produzierenden Individuen – denn die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft […] ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen« (Marx, 42: 20) – bringen also selbst in ihrer gesellschaftlichen Arbeit und Praxis die Lebensverhältnisse in ihrer jeweiligen kulturellen Bestimmtheit hervor, in denen sie sich bewegen. Aber diese Produktion der Lebensverhältnisse durch die gesellschaftliche Praxis der Individuen vollzieht sich für diese völlig bewusstlos in deren individuell motivierten Handlungen, sodass für das einzelne Individuum die jeweiligen Formen seiner Arbeit und Nahrungsbeschaffung sowie die Formen seiner sozialen Beziehungen und Verhältnisse nicht als produzierte, sondern als – gottgewollte, naturbedingte, sachnotwendige – Gegebenheit erscheinen, die bestimmend zurückwirken auf das Handeln der Individuen. Die gesellschaftlich bewusstlos hervorgebrachten Produktions- und Herrschaftsverhältnisse sowie ihre ideologische Legitimation wirken als fremde Mächte bestimmend auf die handelnden Individuen, also auf ihre Produzenten zurück. Dies ist es, was Marx mit dem Begriff Entfremdung umschreibt, die in der »naturwüchsig« entstandene Verkehrung besteht, dass die produzierenden Menschen durch die von ihnen hervorgebrachten Produktionsverhältnisse beherrscht werden: »So sehr das Ganze der Bewegung als gesellschaftlicher Prozeß erscheint, und so sehr die einzelnen Momente dieser Bewegung vom bewußten Willen und besonderen Zwecken der Individuen ausgehen, so sehr erscheint die Totalität der Prozesse als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht […]. Ihr eigenes Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht […]. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Individuen aufeinander als verselbstän118 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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digte Macht über den Individuen, werden sie nun vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das freie gesellschaftliche Individuum ist.« (Marx, 42: 127). Eine solche Entfremdung und Verkehrung liegt auch noch unseren eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen zugrunde, insofern als in unserer Produktionsweise das Kapital, obwohl nichts anderes als vergegenständlichte gesellschaftliche Arbeit, als bestimmende Macht über die lebendige Arbeit der Produzenten fungiert. (Marx, 23: 247) Erst dort, wo die in Gesellschaft produzierenden Individuen diese Entfremdung durchschauen, die sie entfremdenden Verhältnisse revolutionär umwälzen und die Produktion ihrer Lebensverhältnisse bewusst und gemeinsam in ihre Hände nehmen, kann eine solidarische Gesellschaft errichtet werden, wie sie noch nirgends verwirklicht ist, gleichwohl als konkret erkannte Möglichkeit uns zur Aufgegebenheit unserer weiteren gesellschaftlichen Praxis wird. Diese äußerst knappe Skizzierung der Grundgedanken von Marx zur Dialektik der geschichtlichen Entwicklung von Gesellschaft und Kultur 67 mögen hier als Ausgangspunkt für die Darlegung einiger Ansätze zur geschichtsmaterialistischen Anthropologie dienen, wie sie gegenwärtig vor allem in Frankreich diskutiert werden. In einem Punkt allerdings müssen wir noch weiter zurückgreifen, da das Problem der Naturbedingtheit der Gesellschaften und ihrer kulturellen Entwicklung von keinem Marxisten so umfangreich aufgeworfen worden ist wie von Karl August Wittfogel. 68 Obwohl Wittfogel nicht minder deutlich wie die heutigen Vertreter eines empirischen Kulturmaterialismus die Abhängigkeit archaischer Kulturen 69 – aber auch unserer Industriestaaten – von der sie umgebenden und in sie hineinwirkenden Natur herausarbeitet und dies beispielhaft an dem ihm damals leider erst spärlich zugängigen Forschungsmaterial für die verschiedenen Gesellschaftsformen belegt, begeht er doch nicht den Fehler der Kulturökologie und des KulturmaterialisVgl. zum ganzen Abschnitt siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genesis und Kernstruktur der Marxschen Theorie (1981) sowie Lawrence Krader, Ethnologie und Anthropologie bei Marx (1973). 68 Karl August Wittfogel, »Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxismus« (1929); Wirtschaft und Gesellschaft Chinas (1931); »Die natürlichen Ursachen der Wirtschaftsgeschichte« (1932). 69 Vgl. Marvin Harris, The Rise of Anthropological Theory. A History of Theories of Culture (1968). 67
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mus, diese Abhängigkeit als eine lineare auszugeben und die gesellschaftliche Tätigkeit auf die Anpassung an die Umwelt zu reduzieren. Ganz im Sinne von Marx betont auch Wittfogel, dass sich die Abhängigkeit der Gesellschaften von der Natur zusammen mit den gesellschaftlichen Produktivkräften geschichtlich verändert, d. h. mit den materiellen und geistigen Formen der Naturaneignung: »Im Prozesse des Wechselspiels mit dem gesellschaftlich arbeitenden Menschen ändert sich die Natur selbst«. (Wittfogel, 1932: 482) 70 Es gilt also gerade die bestimmten Formen der »Transformierung« und der »Aktualisierung« von Natur durch die Produktionsweise einer bestimmten Gesellschaft zu differenzieren, um daran wiederum die für diese Kultur bestimmenden Formen der Naturabhängigkeit sowie ihrer Auswirkungen bis in die sozialen Verhältnisse und die mythische Vorstellungswelt hinein bestimmen zu können. »Nichts also irriger, als die Annahme, die Natur bleibe sich im Laufe der Wirtschaftsgeschichte ein konstanter Faktor, stets selbst gleich. Sie ändert sich […]. Das grundlegende Verhältnis wird durch diese der Aktivität des arbeitenden Menschen entstammenden Änderungen neu gestaltet, aber keineswegs aufgehoben«. (Wittfogel, 1932: 485) Eine Loslösung von der Natur als Lebensgrundlage der menschlichen Gesellschaft ist prinzipiell nie möglich – wie dies Marx schon betont hat (Marx, 25: 828; siehe auch Marx/Engels, 3: 28) 71 – aber die Formen der Naturabhängigkeit ändern sich mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und gehen daher durch diese bestimmt selbst wiederum unterschiedlich bestimmend in die gesellschaftliche Produktionsweise und das gesamte kulturelle Leben einer Gesellschaft ein. Die neueren französischen Ansätze zu einer geschichtsmaterialistischen Kulturanthropologie (Maurice Godelier; Claude Meillassoux; Emmanuel Terray) 72 setzen – trotz mancher Differenzen in eiVgl. zu dieser Thematik auch Walter Dostal, »Theorie des öko-kulturellen Interaktionssystems« (1974). 71 Siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx (1984). Hans Immler/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit um die Kritik der politischen Ökonomie (2011). 72 Maurice Godelier, Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften (fr. 1973); Natur, Arbeit, Geschichte. Zu einer universalgeschichtlichen Theorie der Wirtschaftsformen (fr. 1984). Claude Meillassoux, Anthropologie économique des Gouro de Cote-d’Ivoire (1964); Die wil70
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nigen Punkten – bei der Analyse der Produktionsweise als der bestimmenden Basis des kulturellen Lebenszusammenhangs an, wobei sie sich jedoch ausdrücklich gegen alle ökonomistischen Verengungen von funktionalistischer bzw. vulgärmaterialistischer Seite abheben. Einer grundlegenden Differenzierung von Marx folgend, bemühen sie sich vielmehr darum, das strukturelle Ineinanderwirken von Produktionsweise, gesellschaftlichen Verhältnissen und Bewusstseinsformen im kulturellen Lebenszusammenhang herauszuarbeiten, wobei allerdings der Produktionsweise als der Instanz der Erhaltung und Erneuerung der materiellen Lebensgrundlage einer Kultur die im letzten bestimmende Funktion zukommt. Um die politische Ökonomie einer archaischen Gesellschaft analytisch zu erfassen, muss man zunächst – wie Emmanuel Terray darlegt – differenzierter, als es bisherige ethnographische Untersuchungen vermochten, »die verschiedenen Arbeitsprozesse, die in dieser Gesellschaftsformation vollzogen werden«, herausarbeiten. »Die gesellschaftliche Arbeit verteilt sich auf eine bestimmte Anzahl von Arbeitsbereichen, und in jedem von ihnen vollziehen sich bestimmte Arbeitsprozesse«. (Terray, 1972/1974: 99) Doch diese Untersuchungen stellen nur die eine Seite der Aufgabe dar, denn »jeder Arbeitsprozess vollzieht sich übrigens in bestimmten gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und setzt eine bestimmte Verteilung der Produktionsmittel voraus«. (Terray, 1972/1974: 100) Erst die Analyse beider Seiten kann die Dynamik der materiellen Basis der Produktionsweise einer Gesellschaft erschließen, die in der jeweiligen Spannung zwischen gesellschaftlicher Arbeit (Produktivkräfte) einerseits und den das gesellschaftliche Leben beherrschenden Verhältnisse (Produktionsverhältnisse) andererseits zum Ausdruck kommt. In der Art und Weise, wie diese Spannung in einer Gesellschaft ausagiert wird, gleicht keine Kultur der anderen, aber in den realen Möglichkeiten bestimmter entwickelter Produktivkräfte und der ihnen korrespondierenden Produktionsverhältnisse sind strukturelle Entwicklungspotenzen und -grenzen angebbar, die es erlauben, von epochalen Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen zu sprechen, wie dies Marx grundlegend für die ganze bisherige Menschheitsgeschichte angedeutet hat. 73 Entscheidend ist es dabei zu sehen, den Früchte der Frau (fr. 1975). Emmanuel Terray, Zur politischen Ökonomie der ›primitiven‹ Gesellschaften (fr. 1972). 73 Karl Marx (13: 8 f.): »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die
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dass damit weder geschichtliche Universalgesetze nachträglich aus dem Verlauf der Ereignisse abstrahiert noch irgendwelche Periodisierungsschematas der Geschichte übergestülpt werden, sondern die kulturelle Entwicklung der Menschheit aus der strukturellen Dynamik der gesellschaftlichen Praxis und ihrer Realisierungsbedingungen in Natur und Gesellschaft selber rekonstruiert werden. Gerade deshalb kommt der geschichtsmaterialistischen Analyse des praktischen Lebenszusammenhangs jeder einzelnen Kultur mit all ihren interkulturellen Verflechtungen eine unersetzbare Bedeutung zu, denn ihr kulturelles Sein und ihre Geschichte ist ihr nicht von außen vorgeschrieben, sondern gründet in ihrer je eigenen gesellschaftlichen Praxis im Rahmen des jeweiligen Bedingungsgefüges realer Verhältnisse. Im Bewusstwerden der eigenen Lebensbedingungen liegt somit immer auch die Potenz zu einer bewussten Veränderung. (Balibar, 1965; Godelier, 1973) So basal die Analyse der Produktionsweise archaischer Gesellschaften auch ist, es kann bei ihr allein nicht stehen geblieben werden. Den Anregungen von Marx und Engels (1845/46, 3: 26) folgend, geht es darüber hinaus darum, die »sozialen Verhältnisse« – in den archaischen Gesellschaften, also insbesondere die Verwandtschaftsbeziehungen – »nach den existierenden empirischen Daten« geschichtsmaterialistisch zu analysieren und darzustellen (vgl. Engels, 1884, 21: 27 ff.). Einen ersten Schritt in diese Richtung hat Claude Meillasoux mit seinem Buch Die wilden Früchte der Frau (fr. 1975) unternommen, in dem er der oft übersehenen häuslichen Produktion der Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt […]. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen […]. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen die Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze Überbau langsamer oder rascher um […]. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformen bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses.«
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Frauen analytisch nachgeht, um die Funktion der häuslichen Produktion in archaischen Gesellschaften sowie innerhalb unserer kapitalistischen Gesellschaft zu bestimmen. »Will man die Mechanismen der häuslichen Gemeinschaft verstehen, so darf man die Reproduktion nicht ignorieren. Die Hausgemeinschaft ist in der Tat das einzig ökonomische und soziale System, das die physische Reproduktion der Individuen, die Reproduktion der Produzenten sowie die soziale Reproduktion in allen ihren Formen mittels einer Gesamtheit von Institutionen reguliert und sie durch die geordnete Mobilisierung der menschlichen Reproduktionsmittel, d. h. der Frauen, beherrscht«. (Maillassoux, 1975/1976: 9) Doch bleibt seine Untersuchung noch allzu ausschließlich auf die Produktion und Reproduktion der materiellen Lebensgrundlage beschränkt. Darüber hinaus käme es jedoch genauso darauf an »die Bearbeitung der Menschen durch die Menschen« (Marx/Engels, 3: 36), d. h. die gesellschaftliche Regeneration und Sozialisation der Mitglieder einer Gesellschaft durch edukative und kommunikative Praxis, wie sie zunächst gerade auch in der häuslichen Sphäre erfolgt, einer geschichtsmaterialistischen Analyse zu unterziehen. Hier wäre an die Arbeit von Karl August Wittfogel »Wirtschaftsgeschichtliche Grundlagen der Entwicklung der Familienautorität« (1936) anzuknüpfen. 74 Von da her könnten dann auch die Pionierarbeiten von Lévi-Strauss zur Logik von Verwandtschaftsbeziehungen aus ihren formalen Schemata befreit und auf ihre geschichtsmaterialistische Grundlage zurückbezogen werden, indem beispielsweise herausgearbeitet wird, dass es sich bei den Verwandtschafts- und Heiratsregelungen nicht um rein logische Modelle und Sprachspiele handelt, sondern um Praxisformen zur Bewältigung realer gesellschaftlicher Regenerierungsaufgaben, die in ihrem materiellen familialen und edukativen Kontext untersucht sehr wohl Entwicklungsgesetze erkennen lassen. Schließlich gilt es auch, die Welt der symbolischen Formen, das magische und mythische Denken, in die geschichtsmaterialistische Analyse einzubeziehen. Erste Ansätze dazu hat vor allem Maurice Godelier (Ökonomische Anthropologie, 1973) vorgelegt. Ausgehend von der strukturalistischen Mythenforschung von Lévi-Strauss hebt Vgl. auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Kritische Theorie und revolutionäre Praxis. Konzepte und Perspektiven marxistischer Erziehungs- und Bildungstheorie (1988) und die darin angegebene weitere Literatur zum Problem der edukativen ›Produktion und Reproduktion‹ des Menschen durch den Menschen.
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Godelier hervor, dass bei den formalen Strukturen und Transformationen des mythischen Denkens für sich nicht stehen geblieben werden dürfe, da die Mythen vielmehr aus der gesellschaftlichen Praxis begriffen werden müssen, die sie reflektieren und in die sie selber bestimmend einwirken. »Die religiöse Praxis stellt also eine wirkliche Arbeit an den Widersprüchen dar, die durch die Struktur der Produktionsweise und der anderen sozialen Verhältnisse bestimmt sind, eine Arbeit, die eine wesentliche Bedingung ist für die Reproduktion dieser Verhältnisse, der Produktionsverhältnisse sowie der anderen sozialen Instanzen«. (Godelier, 1966/1973: 80) Allerdings geht Godelier nicht so weit, dass er die Denkformen selber aus dem Kontext gesellschaftlicher Praxis bestimmt: nur die Inhalte sind mit dieser verknüpft, während die Form des Denkens – hier folgt er Lévi-Strauss – in der naturhaften Basis des menschlichen Geistes wurzeln. (Godelier, 1966/1973: 306) Die geschichtsmaterialistischen Analysen zur Entstehung der abendländischen Rationalität in der griechischen Gesellschaft von George Thomson (Die ersten Philosophen, engl. 1955) sowie die Arbeiten von Alfred Sohn-Rethel (Geistige und körperliche Arbeit, 1970) und Jean-Joseph Goux (Freud, Marx. Ökonomie und Symbolik, fr. 1973) haben hier weiterreichende Wege gewiesen, die es in die Mythenforschung hinein zu verlängern gilt. Letztlich aber wird es darum gehen, die großen Anregungen zu einer Theorie der Genese des gesellschaftlichen Bewusstseins und Denkens, wie sie in Schellings Philosophie der Mythologie und Cassirers Philosophie der symbolischen Formen vorliegen, geschichtsmaterialistisch aus dem Gesamtkontext der Genesis gesellschaftlicher Praxis erneut zu rekonstruieren. Der auf der marxschen Theorie aufbauende Ansatz einer geschichtsmaterialistischen Ethnologie und Kulturanthropologie hat sich erst in den letzten Jahrzehnten als einer der profiliertesten theoretischen Positionen in der französischen Diskussion entwickelt. Vieles ist bisher nur Projekt und bedarf nicht nur einer empirischen Konkretion, sondern einer noch gründlicheren theoretischen Klärung, trotzdem zeichnen sich in diesem Ansatz die Konturen eines Programms ab, das auf einer philosophisch und wissenschaftlich fortgeschrittenen Stufenleiter dem genialen Vorentwurf und Anspruchshorizont Herders genügen könnte, zumal auch der Geschichtsmaterialismus nicht bei einer Analyse von Vergangenem und Vorfindlichem stehen bleibt, sondern unsere eigene gesellschaftliche Praxis mitumgreift und somit uns praktisch auch gegenüber gegen124 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Abschließende Bemerkungen zu einer Theorie der Praxis
wärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen zur Entscheidung und Parteinahme zwingt. 75
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Abschließende Bemerkungen zu einer Theorie der Praxis
Es stellt sich nun anschließend die Frage, wie die beiden dargestellten Problemstränge – das Verstehen fremder Kulturen und die Theorie der menschlichen und menschheitlichen Kultur – miteinander zu vermitteln sind. Unter dem Stichwort »Phänomenologie und Marxismus« wird dazu inzwischen eine breite philosophisch-sozialwissenschaftliche Debatte geführt. 76 Für unsere Problemstellung sei diese Diskussion an Pierre Bourdieus Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (1972) kurz erörtert. 77 Bourdieu geht es darum, einen einheitlichen theoretischen Ansatz zu finden, der »die Praxis als Praxis konstituiert« (Bourdieu, 1972/1976: 143); er versucht, dies Vermittlungsproblem zunächst in Abhebung von Phänomenologie und Strukturalismus zu umschreiben: Die phänomenologischen und ethnomethodologischen Ansätze, die die Lebenspraxis der Mitglieder einer Gesellschaft aus ihrem unMaurice Godelier, Ökonomische Anthropologie (1966/1973: 82): »Die Aufgabe der Entdeckung und der gedanklichen Rekonstruktion der Produktionsweisen, die sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben oder sich noch entwickeln, bedeutet mehr und etwas anderes als die Konstituierung einer ökonomischen Anthropologie oder irgendeiner anderen Disziplin, die auf einen ähnlichen Namen getauft wird. Diese Aufgabe verlangt, daß man all jene theoretischen Probleme eins nach dem anderen wiederaufnimmt, die sich aus der Kenntnis der Gesellschaft und ihrer Geschichte ergeben, d. h. die Probleme der Entdeckung der Gesetze nicht der ›Geschichte‹ im allgemeinen – dies ist ein Begriff, dem kein realer Gegenstand entspricht –, sondern der Gesetzte der verschiedenen ökonomischen Gesellschaftsformationen, die vom Historiker, vom Anthropologen, vom Soziologen oder vom Ökonomen analysiert werden.« Und an anderer Stelle fügt Godelier (1966/1973: 19) noch hinzu: »Eine in dieser Weise gestellte Frage [nach den Gesellschaften und ihrer Geschichte] erfordert nicht nur – das ist leicht einzusehen –, das Vorantreiben der wissenschaftlichen Analyse dieser Gründe und ihrer Widersprüche. Immer muß die Aktion hinzukommen, die Aktivität der praktischen Vernunft, die gegen die Geschichte für die Geschichte kämpft und es ablehnt, sie zum Schicksal werden zu lassen.« 76 Siehe Bernhard Waldenfels/Jan M. Broekman/Aante Pažanin (Hg.), Phänomenologie und Marxismus, 4 Bde. (1977 ff.). 77 Siehe hierzu Friedrich W. Sixel, »Zur Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit und ihrer Erforschung« (1993): 183 ff. 75
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mittelbar beobachteten Lebenszusammenhang verstehen wollen, reflektieren, da sie sich gerade ganz auf die fremde Kultur einstellen wollen, zum einen nicht ihre eigenen interpretativen Eingriffe und kommen zum anderen immer nur zu einer deskriptiven Bestandsaufnahme des in der Lebenspraxis der fremden Kultur selbst zum Ausdruck kommenden Zusammenhangs, d. h. ihnen bleiben dabei die dahinterliegenden Funktions- und Strukturzusammenhänge der Handlungen verborgen. Gerade diesen Strukturzusammenhängen wenden sich die strukturalistischen Ansätze zu – Bourdieu nennt sie »objektivistische Erkenntnisweisen« und bezieht einen objektivistischen Materialismus darin mit ein. Die strukturalistische Analyse richtet sich auf die »objektiven Beziehungen« und »konstanten Relationen«, die »vom Willen und vom Bewußtsein« der interagierenden Subjekte unabhängig, bestimmend ihr Handeln strukturieren, so wie auch die Sprache als Struktur die kommunikative Praxis der Sprechenden bestimmt. Gleichzeitig wenden sich die Strukturalisten theoretisch auf sich selbst zurück und fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit einer theoretischen Rekonstruktion der Strukturen des gesellschaftlichen Lebens. Beides gelingt ihnen aber nur – wie Bourdieu hervorhebt – durch einen »Bruch« mit der »primären Erfahrung« gelebter Praxis. Die strukturalistische Theorie kann »Praxis nicht anders denn negativ« (Bourdieu 1972/1976: 158), als bloße »Ausführung« einer bereits vorweg bestehenden Struktur, nicht aber als gelebten Vollzug erfassen. Gleichwohl – das hat uns Marx gelehrt – sind die gesellschaftlichen Strukturen nichts schlechthin naturhaft Gegebenes, sondern sind selber Hervorbringungen gesellschaftlicher Praxis. Gerade von hier aus erhebt sich für Bourdieu die Forderung nach einem neuen theoretischen Ansatz, den er den »praxeologischen« nennt, der – in doppelter Negation von Phänomenologie und Strukturalismus – versucht, die Praxis der Handelnden von ihren eigenen Handlungsentwürfen her in ihren experimentellen und projekthaften Charakter zu begreifen. Dies ist nun nicht eine bloße Rückkehr zur ethnomethologischen Phänomenologie, da es Bourdieu ganz entschieden auch um die strukturale Analyse der unbewusst bestimmenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Mechanismen geht. Aber diese gesellschaftlichen Strukturen bestimmen die Praxis der Handelnden ja nicht im Sinne objektiv determinierender Gesetzmäßigkeiten, sondern – wenn auch keineswegs all ihrer Implikationen und Konsequenzen bewusst – über das Bewusstsein der Handelnden, d. h. über die durch Soziali126 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Abschließende Bemerkungen zu einer Theorie der Praxis
sationsprozesse verinnerlichten Normen und Regulative, ganz gleich ob es sich dabei um Sachzwänge der Produktionsweise, um Sozialzwänge der gesellschaftlichen Organisation oder um ideologische Zwänge der Sinndeutung der Wirklichkeit handelt. Jede Entscheidungssituation ist weder allein auf eine Spontanreaktion des Handelnden noch auf eine mechanische Ausführung eines vorgegebenen Strukturschemas reduzierbar, sondern ist bestimmt in der Dialektik von Anforderungen der Situation und verinnerlichten Handlungsmustern; Praxis ist also immer ein produktiv dialektischer Akt des Handelnden. Von dieser Theorie der Praxis her ergibt sich – so führt Bourdieu aus – eine viel tiefer eindringende Möglichkeit, die fremde Kultur aus den Praxisentwürfen ihrer Mitglieder zu begreifen, denn man dringt bis in den praktischen Entscheidungsprozess des Handelnden vor, die selbst immer schon die vorgegebenen Strukturzwänge und ihre konkreten Intentionen in praktischen, situationsangepassten »Strategien« vermitteln. Pierre Bourdieu hat dies Konzept einer Theorie der Praxis nicht nur theoretisch durchdiskutiert, sondern auch in Analyse und Verstehen der kabylischen Gesellschaft anschaulich in ihren Erkenntnismöglichkeiten demonstriert. Ohne hier auf diese höchst anregende ethnologische Studie und auch auf die weiteren theoretischen Ausführungen zur »praktischen Logik« und den »generativen Schemata« eingehen zu können, seien abschließend zwei kritische Hinweise gegeben, die von der weiteren philosophisch-kulturanthropologischen Diskussion mitberücksichtigt werden sollten: Was in Bourdieus Konzept der Praxis der Handlungsentwürfe wieder unterzugehen droht, ist der marxsche Begriff der gesellschaftlichen Praxis und damit das Problem, dass die Individuen in ihrem bewusst strategischen Handeln zugleich unbewusst den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang produzieren und reproduzieren, d. h. immer auch gesellschaftlich jene Verhältnisse hervorbringen, die ihnen als strukturelle Zwänge der Produktionsbedingungen, der Herrschaftsverhältnisse und der Ideologie entgegentreten. Dadurch begibt sich Bourdieu der Möglichkeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihren jeweiligen Gegebenheiten selber als Produkte gesellschaftlicher Praxis begreifbar zu machen. Aber mehr noch, mit dem Verzicht auf den Begriff der gesellschaftlichen Praxis verliert Bourdieu auch die geschichtliche Dimension einer Theorie der Praxis aus den Augen. Seine Theorie der Handlungsentwürfe reduziert sich auf ein Konzept der Analyse und 127 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Das Verstehen fremder Kulturen und die Theorie der menschlichen Kultur
des Verstehens je einzelner fremder Kulturen aus ihren Praxisentwürfen, ohne auf deren bestimmte Stellung in der kulturgeschichtlichen Entwickelung eingehen zu können. Damit aber bleiben auch die geschichtlichen Möglichkeiten, die eine Kultur in Konfrontation mit einer anderen zu entwickeln vermag, unberührt – ein Problem, an dem sich das kulturelle Leben und Überleben aller Völker in ihrer Konfrontation mit der industriellen Zivilisation entscheiden wird. Noch entschiedener gilt es darauf hinzuweisen, dass Bourdieus Theorie der Praxis sich zwar vornimmt, »Praxis als Praxis« zu konstituieren, ihr jedoch die begriffene Praxis immer eine fremde bleibt, da Bourdieu in keiner Weise auf den Bezug seiner Theorie zu seiner/ unserer Praxis reflektiert. Eine Theorie der gesellschaftlichen Praxis kann aber letztlich nicht Praxis als bloßen Erkenntnisgegenstand behandeln, sondern muss sich selbst als Theorie den Ansprüchen der Praxis stellen, die sie bedenkt, auch dann, wenn es sich »nur« um die Praxis einer fremden Kultur handelt. Denn wir sind keineswegs nur teilnehmende Beobachter fremder Lebenspraxis, die ihre Erkenntnisinteressen befriedigen und unbeeindruckt in unsere eigene Lebenspraxis zurückkehren können. 78 Dieses Problem des Miteinbezogenseins ist nicht nur ein individuelles Problem des Ethnologen in Begegnung mit der Lebenspraxis einer archaischen Kultur, sondern gilt zugleich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, denn die gegenwärtigen Praxisprobleme der Völker der Dritten Welt sind auch unsere eigenen, und dies nicht nur, weil wir – von den Industrienationen her – sie mit hervorgerufen, sondern weil wir vor der Aufgabe stehen, die weltweiten Praxisprobleme der Gegenwart bewältigen zu müssen, wenn es ein Überleben oder gar eine kulturelle Weiterbildung der Menschheit überhaupt geben soll. Eine Theorie der Praxis kann sich als Theorie nicht jenseits der Probleme wähnen, die sie an der Praxis aufweist, sondern sie hat sich als Theorie so in ihrem Bezug zur Praxis zu konstituieren, dass ihre Erkenntnisse menschlicher Praxis im letzten zur Aufklärung der uns aufgegebenen menschheitlichen Praxis dienen können.
Siehe hierzu die philosophische Grundsatzdiskussion zwischen Maurice MerleauPonty (Die Abenteuer der Dialektik, fr. 1955) und Jean-Paul Sartre (Kritik der dialektischen Vernunft, fr. 1960). Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Kritische Philosophie der gesellschaftlichen Praxis« (1989): 144 ff. sowie Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 333 ff.
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Einleitung Wie jede Wissenschaft, so muss auch die Ethnologie ihren Erkenntnisgegenstand in seiner Gesamtheit thematisieren. Einige meinen dem dadurch schon zu genügen, dass sie alles empirische Wissen, alle Quellen und Artefakte von fremden Kulturen sammeln und zusammenfassen. So ist die Völkerkunde im vorvorigen Jahrhundert zu einem Teil aus den ethnographischen Sammlungen der Museen heraus erwachsen. Aber noch in unserer Zeit verfolgen so emsige Forscher wie George Murdock 2 und seine Schüler, unterstützt durch die modernsten Mittel der Datenspeicherung und -korrelation, diese Linie des Sammelns und der Zusammenschau des Wissens von fremden Kulturen. Doch diese Form der Sammlung kommt – kantisch gesprochen – allenfalls zu einem »Inbegriff der Gegenstände« ethnographischer Forschung, ohne doch den Vorbegriff von Kultur klären zu können, den sie selbst bei der Auswahl und Ordnung der kulturellen Quellen und Artefakte immer schon voraussetzt. Bewusster gehen bereits jene Ansätze ans Werk, die entschieden von einem heuristischen Prinzip oder Leitgedanken her an die Systematisierung der Vielfalt kultureller Phänomene herantreten. Von Beginn an sind es zwei einander konträr entgegenstehende Prinzipien, die die Ethnologie als Wissenschaft bestimmen und die sich selbst wiederum in je zwei konträre Ausformungen aufspalten. Das eine Prinzip sieht in der Geschichte das die menschlichen Kulturen verknüpfende Band, denn alle kulturellen DifferenzierunUrsprünglich hervorgegangen aus Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Grundprobleme der strukturalen Ethnologie. Kritisches zu Lévi-Strauss’ Strukturalismus«, in: Paideuma. Mitteilungen zur Kulturkunde XIV (1968): 155 ff., erweitert erschienen in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Justin Stagl (Hg.), Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion, 2. Aufl., Berlin (Dietrich Reimer Verlag) 1993: 275 ff. 2 George P. Murdock, Social Structure (1949). 1
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gen sind geschichtlich geworden und müssen daher auch aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang verstehbar sein. Innerhalb dieser geschichtlichen Orientierung gibt es nun zwei sich wiederum konträr entgegenstehende Richtungen: zum einen den kulturgeschichtlichen Evolutionismus (Lewis H. Morgan, 1877; Herbert Spencer, 1880– 1896; Friedrich Jodl, 1878), der die kulturelle Entwicklung als einen einlinigen gesetzmäßigen Prozess auffasst, und zum anderen den kulturhistorischen Diffusionismus (Wilhelm Schmidt, 1906, 1937; Alfred L. Kroeber, 1923), der alle kulturellen Phänomene als einmalige Neuschöpfungen ansieht, die sich geschichtlich tradiert und verbreitet haben. Das dem entgegenstehende Prinzip besteht darauf, jede Kultur als eine Einheit und Ganzheit für sich zu begreifen. Daher fragen die von ihm ausgehenden Richtungen nach jenen zeitlosen Momenten und Zusammenhängen, die eine jede Kultur als Kultur konstituieren. Auch hier stehen sich zwei Ausformungen dieses Grundanliegens entgegen. Zum einen der Funktionalismus (Emile Durkheim, 1895; Bronislaw Malinowski, 1922; Richard Thurnwald, 1931–1935), der die Gesellschaft als ein sich selbst erhaltendes System betrachtet, deren Subsysteme für den Bestand des Ganzen bestimmte notwendige Funktionen erfüllen, und zum anderen die Kulturmorphologie, die nach der sinnstiftenden kulturellen Eigenart, dem Paideuma (Leo Frobenius, 1921) oder dem pattern (Ruth Benedict, 1934) einer jeden Kultur sucht. Diese vier Richtungen haben Schulen begründet, die wissenschaftsgeschichtlich und national unterschiedlich dominant hervorgetreten sind. Sie befehdeten sich hart und haben dadurch nicht nur ihre theoretisch-methodologischen Ansätze gegeneinander ausgefeilt, sondern sich auch gegenseitig beeinflusst, sodass heute diese vier Richtungen zwar noch weiterbestehen, jedoch in gänzlich revidierter Gestalt: So versteht sich der Neo-Evolutionismus multilinear (Julian H. Steward, 1955; Jürgen Habermas, 1976), der Diffusionismus wandelte sich zu verschiedenen Ausprägungen der Ethnohistorie (Walter Hirschberg, 1966; Miklos Szalay, 1983), der Funktionalismus radikalisierte sich zur sozialwissenschaftlichen Systemtheorie (Talcott Parsons, 1966; Niklas Luhmann, 1968) und die Kulturmorphologie wurde durch die Ethnomethodologie und den symbolischen Interaktionismus (Harold Garfinkel, 1967; Erving Goffman, 1963; Aaron V. Cicourel, 1970) ersetzt. Alle vier genannten Richtungen verstehen sich als empirische 130 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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Disziplinen, die – wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise – von ihrer grundlegenden Fragestellung her das Gesamtfeld fremder Kulturen zu erfassen und zu systematisieren vermögen. Dabei wissen ihre methodisch reflektiertesten Vertreter sehr wohl, dass sie die jeweils bezogene Grundeinstellung nicht wiederum empirisch begründen können, dass also die Prinzipien, zu denen sie sich bekennen, und die von ihnen entwickelten Methodologien, lediglich einen heuristischen Charakter zur Erfassung und Systematisierung des ethnographischen Materials haben. Dies schließt leider nicht aus, dass es immer wieder Vertreter dieser vier Richtungen gibt, die behaupten, ihre Grundeinstellungen selbst wiederum empirisch legitimieren zu können, was zu einem unerfreulichen pseudo-ontologischen Dogmatismus führt. Gegen die unhinterfragt vorausgesetzten Menschenbilder dieser dogmatisierten Pseudo-Ontologien – heißen diese nun Evolutionismus, Historismus, Funktionalismus oder Kulturrelativismus – wenden sich die Ansätze theoretischer Ethnologie und Kulturanthropologie. Diese Ansätze begreifen, dass eine theoretische Klärung dessen, was Kultur ist, was das kulturelle Menschsein ausmacht, was in den vorgenannten Grundeinstellungen immer nur vorausgesetzt wird, selbst nicht empirisch aufgewiesen und begründet werden kann. Und zwar allein deshalb schon nicht, weil – wie Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) gezeigt hat – mit dem hierbei erfragten Gesamtbegriff von Kultur eine Totalität thematisiert wird, die den Fragenden, seine eigene Kultur und sein eigenes wissenschaftliches Fragen grundsätzlich mit umfasst. Es geht den Ansätzen dieser neuen Reflexionsebene um eine theoretische Selbstaufhellung des kulturellen Menschseins, um von daher ein kulturanthropologisches oder kulturgeschichtliches Gesamtverständnis der menschlichen Kultur zu begründen. Dabei verstehen sich diese Ansätze – trotz ihrer bewussten Nähe zu bestimmten philosophischen Positionen – keineswegs als rein philosophische Disziplinen, sondern als einen theoretischen Zweig der Ethnologie selbst, der weder den empirischen Zweig ersetzen kann noch will, sondern der sich vielmehr auf eine fruchtbare wechselseitige Kooperation mit der Empirie angewiesen weiß, da sich ein Gesamtverständnis menschlicher Kultur nur über beide Zweige begründen und konkretisieren lässt. Auch auf dieser Ebene gibt es mehrere entgegengesetzte Begründungsversuche, wobei erneut die Grunddifferenz zwischen der Frage nach dem einheitlichen Wesen der Kultur und dem verknüp131 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Strukturale Ethnologie und geschichtsmaterialistische Kulturanthropologie
fenden Band der Geschichte eine entscheidende Rolle spielt. So stehen sich beispielsweise die sozialwissenschaftliche Kulturphänomenologie (Alfred Schütz, 1932; Peter Berger/Thomas Luckmann, 1969) und die kulturwissenschaftliche Sozialgeschichte der Schule um die Zeitschrift Annales (Marc Bloch/Ferdiand Braudel/Lucien Febvre, 1949) trotz vieler Berührungspunkte im Methodischen – beispielsweise in der Konzentration auf den vieldimensionalen Vernetzungszusammenhang von alltäglichen Phänomenen in überschaubaren Einheiten – in ihrer Grundfragestellung konträr entgegen, da der Akzent der Kulturphänomenologie auf dem Zusammenstimmen der sich gegenseitig zu einer Einheit konstituierenden Dimensionen der je besonderen Kultur liegt, während das Interesse der Sozialgeschichte sich auf den am Detail manifestierenden geschichtlichen Wandlungsprozess richtet. Im Folgenden sollen jedoch zwei andere, sich ebenfalls entgegenstehende Positionen behandelt werden, die zu den bedeutendsten und einflussreichsten Ansätzen theoretischer Ethnologie der letzten Jahrzehnte gehören: die strukturale Anthropologie von Claude LéviStrauss und die geschichtsmaterialistische Kulturanthropologie von Maurice Godelier. Sie sind im Methodischen sehr nah verwandt, was nicht allein daran liegt, dass der erklärte Marxist Godelier sich als Schüler von Lévi-Strauss begreift und Lévi-Strauss es nie unterlässt zu betonen, wie sehr er sich von Marx her versteht, sondern mehr noch in der ihnen gemeinsamen Perspektive auf die globalen Zusammenhänge des kulturellen Menschseins. Sie stehen in dieser Gemeinsamkeit in gänzlichem Kontrast zu den vorgenannten Positionen. In der konkreten inhaltlichen Ausfüllung dieser globalen Perspektive stellen sich aber sofort die Gegensätze ein: Lévi-Strauss sucht nach der alles kulturelle Sein tragenden und bestimmenden Logik des menschlichen Geistes, Godelier dagegen fragt nach der die ganze Menschheitsgeschichte tragenden und vorantreibenden Logik der menschlichen Praxis. Ohne Zweifel ist das theoretische Werk von Lévi-Strauss für die Ethnologie ein Jahrhundertereignis, aber auch die Arbeiten von Godelier, obwohl vielfältiger auf die Philosophie, Ökonomie, Ethnologie verteilt, gehören zu den bedeutendsten Versuchen einer Weiterführung des Denkansatzes von Karl Marx in der Kulturanthropologie. Nun ist sicherlich der modische Rummel längst verklungen, der in den 1960er und 1970er Jahren um Lévi-Strauss und den Strukturalismus und in den 1970er und 1980er Jahren um Godelier und andere 132 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Strukturale Ethnologie
marxistische Theoretiker gemacht wurde und der von Frankreich aus die internationale Diskussion aufwühlte. Aber diese Moden literarischer Zirkel haben ohnehin nur wenig mit den langfristigen Wirkungsprozessen theoretischer Impulse zu tun. Es ist daher nur peinlich, wenn heute deutsche Ethnologen, die – von Ausnahmen abgesehen – das theoretische Werk von Lévi-Strauss und die Arbeiten von Godelier nie ernsthaft rezipiert haben, das Abklingen der Diskussion um die strukturale Ethnologie und den Geschichtsmaterialismus freudig begrüßen, da sie glauben, dass ihnen dadurch die Anstrengung der Auseinandersetzung erspart geblieben sei. Gegen diesen main stream in der deutschen Ethnologie schien es uns nötig, die theoretische Herausforderung dieser beiden »Kulturtheorien« aufzunehmen. Mein vorliegender Beitrag versucht im ersten Teil, Lévi-Strauss’ strukturale Ethnologie überblickgebend darzustellen, um dann im zweiten Teil die sich davon kritisch abgrenzende geschichtsmaterialistische Kulturanthropologie von Maurice Godelier zu diskutieren.
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Strukturale Ethnologie
Die Forschungsaufgabe der Kulturanthropologie gliedert sich für Claude Lévi-Strauss in drei Momente oder Stadien: die Ethnographie, die Ethnologie und die allgemeine Anthropologie. Es sind dies drei aufeinander aufbauende Etappen ein und derselben Wissenschaft. Die Ethnographie ist ganz und gar »Beobachtung und Beschreibung« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 12), ihr geht es darum, eine lokal und zeitlich begrenzte kulturelle Gruppe monographisch zu erfassen, wozu sie spezielle »Methoden und Techniken für die Arbeit im Gelände, die Klassifizierung, die Beschreibung und Analyse besonderer kultureller Phänomene« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 379) zu entwickeln hat. Ziel der Ethnographie muss es sein, ein objektives Quellenmaterial zu erarbeiten; sie hat sich deshalb jeder Interpretation und Deutung zu enthalten. Die Ethnologie dagegen steht nicht mehr unmittelbar in der Feldforschung, ihr geht es darum, »die von den Ethnographen gebotenen Dokumente komparativ […] auszuwerten«. (Lévi-Strauss, 1958/1967: 12) Sie ist eine »Arbeit am Schreibtisch«, der zwar die ethnographischen Materialien zugrunde liegen, die aber nun durch Vergleiche und selektierende Auswertungen die inneren Zusammen133 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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hänge des kulturellen Lebens aufzudecken sucht. In der Ethnologie gibt es zwei verschiedene methodische Wege des Vergleichens und Auswertens: 1. die Herausarbeitung entweder ethno-geographischer Verbreitungen und ethno-historischer Entwicklungen oder 2. die systematische und strukturale Bestimmung logischer Gesetzmäßigkeiten. Zu letzterem gelangt man, »wenn man diesen oder jenen Typus der Technik, des Brauches oder der Institution isoliert«, um deren eigenständige Bedeutung zu erfassen (Lévi-Strauss, 1958/1967: 379). Die Ethnologie ist also entweder historisch-geographische oder strukturale Deutung des ethnographischen Materials. Die dritte Stufe stellt eine zusammenfassende Wissenschaft vom Menschen dar, die als »Sozial- oder Kulturanthropologie« bezeichnet werden kann; jedenfalls »strebt sie danach, den totalen Menschen kennenzulernen«. (Lévi-Strauss, 1958/1967: 383) Diese allgemeine Anthropologie baut auf den ethnologischen Deutungen des ethnographischen Materials auf und versucht, deren Ergebnisse mit dem Material und den Auswertungen anderer Wissenschaften vom Menschen zu verknüpfen. Ihr ist es um eine umgreifende Bestimmung des Menschen und seiner Kultur zu tun. Diese allgemeine Anthropologie ist einerseits ein Moment in der Forschung, andererseits aber umgreifende Einheit aller Momente der Forschung (Lévi-Strauss 1958/1967: 384). Sie »ist aus der Entdeckung entstanden, daß alle Aspekte des sozialen Lebens – der ökonomische, technische, politische, juristische, ästhetische und religiöse – ein Zeichensystem ausmachen, und daß es unmöglich ist, einen dieser Aspekte zu begreifen, wenn man nicht die anderen einbezieht«. (Lévi-Strauss, 1958/1967: 382) Alle drei Stufen der Forschung stehen nicht nebeneinander, sondern bauen aufeinander auf und bilden erst gemeinsam die kulturanthropologische Wissenschaft. »Ethnographie, Ethnologie und Anthropologie bilden nicht drei verschiedene Fächer oder drei verschiedene Auffassungen derselben Untersuchungen. Es sind tatsächlich drei Etappen oder drei Momente ein und derselben Untersuchung.« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 380). Der Schwerpunkt der Arbeiten von Lévi-Strauss liegt in der strukturalen Ethnologie; sie vergleicht das ethnographische Material nicht auf phänomenale Zusammenhänge hin, sondern versucht, in den auffindbaren kulturellen Regelmäßigkeiten der Verwandtschaftsordnung, des Sprachbaus, der Mythologie, der Sozialorganisation deren jeweilige logisch-gesetzgebende Struktur (Lévi-Strauss, 1958/ 134 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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1967: 39) aufzufinden. Im Gegensatz zur Historie, die an den einmaligen und unumkehrbaren Verlauf ihres Materials gebunden ist, können diese logischen Strukturen »auf ganz verschiedene Zeit- und Raumebenen zurückverlegt werden« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 314). Es zeigt sich daraus, dass sich beide »Perspektiven« ethnologischer Forschung nicht gegenseitig ausschließen, sondern im Gegenteil ergänzen, notwendig aufeinander angewiesen sind und dass keine »ohne die andere [etwas] leisten« kann. »Als wahrer Januskopf mit zwei Gesichtern gestattet die Zusammenarbeit der beiden Disziplinen, und sie allein, das Ganze des Weges im Auge zu behalten.« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 38 f.). Trotzdem wendet sich Lévi-Strauss in seinen Studien fast ausschließlich der strukturalen Analyse zu, und zwar deshalb, weil die Ethnologie – wie er meint – vom Material her, fast nur die Möglichkeit hat, Strukturen des sozialen und kulturellen Lebens der rezenten Völker aufzudecken, während die Wissenschaft, die sich mit der eigenen – hier europäischen – Tradition befasst, von ihrem Material her, überwiegend Historie sein muss. Lévi-Strauss lehnt also eine historische Ethnologie niemals ab, räumt ihr aber vom bestehenden und noch zu erwartenden ethnographischen Material her keine großen Möglichkeiten ein. Die strukturale Ethnologie steht somit eingespannt zwischen der Ethnographie einerseits und der allgemeinen Anthropologie andererseits sowie in Nachbarschaft zur historischen Wissenschaft. Die strukturale Ethnologie erhebt sich in drei Etappen oder Reduktionsstufen aus dem ethnographischen Material und nähert sich dabei der allgemeinen Anthropologie. Zunächst beginnt sie damit, bestimmte Konstanten und Regelmäßigkeiten im Quellenmaterial aufzufinden und aus ihm herauszulösen. Doch bleibt sie weder beim Konstatieren noch bei einer statistischen Auszählung der Häufigkeit und der historisch-geographischen Verbreitung dieser Regelmäßigkeiten stehen; ihr ist es vielmehr um die Begründung dieser Konstanten zu tun. Um aber eine phänomenal konstatierbare Regelmäßigkeit zu begründen, muss die Analyse versuchen, die logische Gesetzmäßigkeit, die Struktur, die dieser Regelmäßigkeit zugrunde liegt, aufzudecken. Indem die strukturale Analyse aus den monographischen Quellenmaterialien bestimmte »differenzielle Elemente« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 48) in ihren kombinatorischen Möglichkeiten herauslöst, isoliert sie Phänomenkomplexe nach den signifikanten Momenten des betreffenden Phänomenbereichs und nimmt dadurch 135 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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eine phänomenologische Reduktion vor – wie man mit Husserl sagen könnte. 3 Solche Phänomenbereiche sind für den gegenwärtigen Stand der Forschung: die Ökonomie, die Sprache, die Verwandtschaftsform, die Sozialorganisation, die Kunst und der Mythos (Lévi-Strauss, 1958/1967: 98). »Der Strukturalist hat die Aufgabe, jene Ebenen der Wirklichkeit zu erkennen und zu isolieren, die von seinem Standort aus einen strategischen Wert besitzen, anders ausgedrückt, die wie immer sie aussehen mögen, in Form von Modellen dargestellt werden können.« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 307) Mit dem Modellgedanken ist die zweite Stufe der strukturalen Ethnologie erreicht. Daraus, dass hier jeder Phänomenbereich aus dem konkreten Zusammenhang einer gelebten Kultur gelöst und isoliert für sich auf seine logische Eigengesetzlichkeit untersucht wird, folgt, dass die Modelle nicht eine konkrete und gelebte kulturelle Wirklichkeit wiedergeben, sondern vielmehr die logische Strukturiertheit aller damit umgriffenen Phänomene darstellen. Dem Strukturalisten geht es nicht um eine Beschreibung konkreter Kulturen, sondern um die modellhafte Nachkonstruktion zentraler kultureller Phänomenbereiche in ihrer logischen Strukturgesetzlichkeit. »Das Grundprinzip ist, daß der Begriff der sozialen Struktur sich nicht auf die empirische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle bezieht.« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 30). Dabei stellen die phänomenal aufgefundenen Regelmäßigkeiten, beispielsweise der »sozialen Beziehungen, […] das Rohmaterial« dar, das zum Bau der Modelle verwendet wird, die dann die soziale Struktur erkennen lassen«. (Lévi-Strauss 1958/1967: 301) Die modellhaft erfassten logischen Strukturgesetzmäßigkeiten bestimmter Phänomenbereiche sind zwar konstituierend für die sozialen Regeln, aber meist den nach diesen handelnden Stammesangehörigen »im Unbewußten verborgen« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 304). Und das ist für die strukturale Analyse durchaus von Vorteil, da die Bewusstheit der Strukturgesetzmäßigkeiten zu einer Ummotivation im Sozialverhalten führen würde. Gerade aber die Möglichkeit der Ummotivation lässt den eigentlichen Ort der Strukturgesetzmäßigkeiten erkennen: er liegt in der menschlichen Geistigkeit selbst (Lévi-Strauss, 1973/1975: 85 ff.).
Die Konfrontation mit der Phänomenologie wird hier in kritischer Absicht eingeführt, wohl wissend, dass sich Lévi-Strauss meist abfällig gegenüber dieser Richtung äußert. Vgl. hierzu Paul Ricoeur, Hermeneutik und Strukturalismus (1969).
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In einer zweiten Reduktion – bei Husserl die »eidetische Reduktion« – dringt die strukturale Analyse von den modellhaft nachkonstruierten Phänomenstrukturen zu dem eigentlichen Ort aller Strukturiertheit vor. Es ist leicht zu erkennen, dass die logischen Strukturgesetze nicht etwa Kausalgesetze sein können, die das menschliche Verhalten beherrschen und dirigieren, sondern intellektuelle »Zeichensysteme« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 382) darstellen, die zwar die menschliche Sprachlichkeit, die menschliche Sozialfähigkeit etc. strukturieren, jedoch immer über die Motivation der handelnden Menschen gebrochen sind; sie wirken also niemals direkt auf die Wirklichkeit menschlichen Verhaltens, sondern immer nur durch die Strukturiertheit der menschlichen Geistigkeit hindurch. (Lévi-Strauss, 1962/1965: 129 ff.) Für Lévi-Strauss sind – im Gegensatz zum Marxismus, der, wie er meint, zwischen Basis (Ökonomie) und intellektuellen Überbau (Ideologien) unterscheidet – alle sozialen und kulturellen Phänomenbereiche, also auch die Ökonomie, die Verwandtschaft, die Politik etc., in gleicher Weise intellektuelle Systeme. So geht es der strukturalen Analyse im letzten darum, über die modellhaft zu rekonstruierenden Logiken der unterschiedlichen Phänomenbereiche das sie gemeinsam fundierende Bezugssystem der Logik des menschlichen Geistes freizulegen. Man versteht, dass Lévi-Strauss eine so gestufte strukturale Ethnologie gelegentlich als »Ethnologik« bezeichnet, wobei er unter Logik ausdrücklich eine formale und doch auch qualitative Bestimmung des Menschseins versteht, der es um den Logos des Menschlichen zu tun ist und nicht bloß um eine quantifizierende Statistik menschlichen Verhaltens. (Lévi-Strauss 1955/1967: 782 ff.) Mehrfach betont Lévi-Strauss, dass es unmöglich ist, in der Strukturanalyse »die Form vom Inhalt zu trennen«; die modellhaft erfassten Strukturen sind immer auch qualitative und inhaltliche Aussagen über das menschliche Wesen, über die Möglichkeiten der Entfaltung menschlicher Geistigkeit (Lévi-Strauss, 1962/1965: 112 ff.). Nach diesen allgemeinen und einleitenden Bemerkungen zur strukturalen Ethnologie sollen nun genauer Hauptthemen und Vorgehen der strukturalen Analyse untersucht werden, wobei wir je an einem Phänomenbereich eine Stufe der Analyse demonstrieren wollen.
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1.1. Verwandtschaft Verwandtschaft ist ein Phänomenbereich, der sich aus allen Kulturen herausisolieren lässt. Damit ist nicht gemeint, dass in allen Kulturen Verwandtschaft immer dasselbe wäre; es geht der strukturalen Analyse vielmehr um die »differentiellen Abweichungen« (1958/1967: 352) und um ihre Erklärung aus den strukturellen Möglichkeiten von Verwandtschaft selbst. Verwandtschaft – so führt Lévi-Strauss in seinem bahnbrechenden Werk Les structures élémentaires de la parenté (1949) aus – ist also einerseits ein allgemeiner Phänomenbereich des Menschlichen, der sich in keiner Weise natürlich-biologisch erklären und bestimmen lässt, sondern geradezu eine das Menschsein konstituierende Struktur darstellt (Lévi-Strauss, 1949/ 1981: 73). Andererseits gibt es mannigfaltig unterschiedene Möglichkeiten der Verwirklichung von Verwandtschaft, die aber doch niemals der reinen Willkür individueller Setzung entspringen, sondern denen ein bestimmtes Strukturprinzip zugrunde liegt. Alle Verwandtschaft ist an gewisse allgemeine Bedingungen gebunden: so an den Gedanken der blutsmäßigen Abstammung, an das Inzestverbot oder die Exogamie und an eine Heiratsregel innerhalb einer sozialen Einheit oder die Endogamie. Immer stehen dabei Abstammungsverwandtschaft und Heiratsbindung in einem verschränkten Spannungsverhältnis, das in seiner je verschiedenen inhaltlichen Ausprägung die Struktur der Verwandtschaftssysteme bestimmt. Die strukturale Ethnologie geht nun zunächst daran – und nur dieser erste Schritt soll hier demonstriert werden –, aus der Fülle des ethnographischen Materials gewisse Regelmäßigkeiten und Konstanten herauszufinden. Sie kann dabei entweder bei dem »Haltungssystem« verwandtschaftlicher Beziehungen oder beim »Benennungssystem« verwandtschaftlicher Bezeichnungen beginnen. Beide Systeme sind keineswegs linear aufeinander abbildbar und doch wechselseitig aufeinander bezogen, weshalb Lévi-Strauss von »einer dialektischen Beziehung zwischen Haltungen und Benennungen« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 339) spricht. Verfolgen wir nun ein konkretes Beispiel. Immer wieder hat man bei Untersuchungen verwandtschaftlicher Haltungen eine reziproke Regelmäßigkeit zwischen zwei Beziehungen feststellen können, und zwar dort, wo das Verhältnis des Vaters zum Sohn als schwierig zu charakterisieren war, fand sich eine harmonische und ausgeglichene Beziehung zwischen Mutterbruder und Schwestersohn und umge138 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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kehrt. Bei weiteren Untersuchungen und Nachforschungen zeigte sich, dass neben diesen beiden reziproken Generationsbeziehungen noch ein weiteres reziprokes Wechselverhältnis zwischen erwachsenen Geschwistern und Ehepartnern besteht, so dass die erst genannte »Wechselbeziehung […] nur ein Aspekt eines umfassenden Systems ist, in dem vier Typen von Beziehungen vorhanden und organisch verbunden sind: Bruder/Schwester, Mann/Frau, Vater/Sohn, Onkel mütterlicherseits/Sohn der Schwester.« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 57) 4 Weiterhin lässt sich feststellen, dass diese Wechselverhältnisse in allen Kombinationen möglich sind und zwar unabhängig davon, ob es sich um matrilineare oder partrilineare Verwandtschaft, ob es sich um Clans oder Sippen handelt. Es sind aber nicht diese Wechselverhältnisse in ihrer reziproken Regelmäßigkeit, die Lévi-Strauss in seiner Analyse interessieren, sondern er sieht in diesen vier möglichen Kombinationen gleichsam den Urbaustein verwandtschaftlichen Verhaltens überhaupt: in ihnen ist sowohl das Generationsverhältnis in seinen möglichen Kombinationen mit Bindung an die Vater- oder die Mutterseite ausgesprochen als auch das Geschwister- und das Ehepartnerverhältnis bestimmt, d. h. die Dominanz der Abstammungsverwandtschaft oder die der Heiratsbindung ausgedrückt. Im Gegensatz zu Radcliffe-Brown und anderen, die die Verwandtschaft aus der natürlich-biologischen Familie ableiten wollen (Lévi-Strauss, 1949/1981: 643 ff.), glaubt Lévi-Strauss mit der Viererkombination (Vater, Mutter, Mutterbruder, Kind – wobei er allerdings nicht nach Tochter und Sohn differenziert) modellhaft das »Verwandtschaftsatom« (Lévi-Strauss, 1973/1975: 99 ff.) gefunden zu haben. »Es gibt keine [verwandtschaftliche] Existenz, die außerhalb der fundamentalen Forderung seiner Struktur gedacht oder gegeben sein kann, und andererseits ist es das einzige Baumaterial der komplexeren Systeme.« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 63) Sicherlich hat das »Verwandtschaftsatom« von Lévi-Strauss gegenüber der biologischen Familie der Naturalisten das Verdienst, sich auf alle nur denkbaren gelebten und gedachten Verwandtschaftsverhältnisse beziehen zu können, und dadurch in ihnen mehr zu sehen als nur eine Naturgegebenheit. »Zweifellos ist die biologische Familie vorhanden und setzt sich in der menschlichen Gesellschaft fort. Was Vgl. dazu Carlo Severi, »Struktur und Urform«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Justin Stagl (Hg.), Grundfragen der Ethnologie (1993): 309 ff.
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aber der Verwandtschaft ihren Charakter als soziale Tatsache verleiht, ist nicht das, was sie von der Natur beibehalten muß: es ist der wesentliche Schritt, durch den sie sich von ihr trennt. Ein Verwandtschaftssystem besteht nicht aus den objektiven Bindungen der Abstammung oder der Blutsverwandtschaft zwischen den Individuen; es besteht nur im Bewußtsein der Menschen, es ist ein willkürliches System von Vorstellungen, nicht die spontane Entwicklung einer faktischen Situation.« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 66) In seiner treffenden Ablehnung des Naturalismus gerät LéviStrauss jedoch in den polar entgegengesetzten Fehler, die Verwandtschaft als System bloßer Vorstellungen auszugeben, die ein völlig formal bestimmtes universales Verwandtschaftsatom beliebig konkretisieren. Abgesehen davon, dass die Bezeichnung »Verwandtschaftsatom« und der Gedanke eines Elementarmodells als Baustein aller Verwandtschaftssysteme die phänomenologische Analyse wieder zu einer scholastischen Ontologie mit Seinsuniversalien degradiert – zumindest eine solche Auslegung nahelegt –, besitzt der hier dargestellte Gedanke von Lévi-Strauss eine weitere Schwäche: Verwandtschaftssysteme werden durch dieses Modell nicht in ihren bestimmenden Momenten aufgedeckt, wodurch allein eine Differenzierung möglicher Strukturen zu erreichen wäre, sondern lediglich in ihrer positiven und negativen Bestimmbarkeit gekennzeichnet. In diesem Modell fehlen also die Bestimmungen der Abstammungslinie, des Inzestverbots und der Heiratsregeln, wodurch Verwandtschaft allererst konkret zu definieren ist. Damit zeigt sich, dass die strukturale Analyse von Lévi-Strauss an dieser Stelle nicht wahrhaft konkret und inhaltlich die Verwandtschaft in ihren Strukturmöglichkeiten zu bestimmen vermag, und dass darüber hinaus sein Begriff vom Menschsein ein theoretisch formaler ist, der die Struktur der menschlichen Praxis verfehlt. Anstatt also Verwandtschaft an der wesensmäßigen Spannung zwischen Abstammung und Heirat, bedingt durch den implizierten Gedanken des Inzestverbots, strukturlogisch, oder besser: phänomenologisch in seinen konkreten Möglichkeiten zu bestimmen, begnügt sich LéviStrauss damit, ein formal bestimmtes Universalelement zu benennen, das in beliebiger Konkretion aller Verwandtschaft innewohnt. Damit scheint uns der fruchtbare Ansatz: durch eine phänomenologische Reduktion zu den inneren Strukturen eines Phänomenbereiches zu gelangen, in seinem Ergebnis durch Lévi-Strauss selbst wieder in Frage gestellt zu sein. Doch versuchen wir zunächst, den 140 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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Gedanken des Modells am Phänomenbereich der Sozialorganisation näher zu betrachten.
1.2. Sozialorganisation Die Sozialorganisation ist eine von der Verwandtschaft unterschiedene »Ordnungsstruktur« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 342), in der es um die wirkliche und gedachte Einheit und Ganzheit einer Gemeinschaft geht. Es kann sich dabei um eine Dorfgemeinschaft, eine Stammesgemeinschaft, eine Kastengemeinschaft handeln; es kommt also nicht auf Größe und Art der Gemeinschaft an, sondern darauf, dass sie sich als Einheit versteht und dass aus dieser Einheit heraus auch gehandelt wird. Die Sozialorganisation stellt also für die strukturale Ethnologie einen weiteren »strategischen Ort« dar, der in gewisser Weise die Verwandtschaft mit umschließt, jedoch von einer anderen Perspektive her die sozialen Beziehungen in einer Kultur untersucht. »Das Verwandtschaftssystem bietet ein Mittel, die Individuen nach bestimmten Regeln zu ordnen; die soziale Organisation liefert ein weiteres; die sozialen oder wirtschaftlichen Schichtungen ein drittes. Alle diese Ordnungsstrukturen können selbst geordnet werden.« (LéviStrauss, 1958/1967: 342) Was an der Sozialorganisation struktural erfasst werden soll, sind jene Momente, die den örtlichen und zeitlichen Bestand einer Gruppe als Einheit sichern und garantieren. (Lévi-Strauss, 1958/1967: 337) Grundprinzip aller Sozialorganisation ist für Lévi-Strauss – wie vor ihm für W. H. R. Rivers, Marcel Mauss, A. R. Radcliffe-Brown, Richard Thurnwald – die »Gegenseitigkeit«; das besagt, dass die Einheit einer Gemeinschaft erst dann überhaupt gedacht und gegeben sein kann, wenn in ihr mehrere (mindestens zwei) voneinander unterschiedene Untergruppen in der Form gegenseitiger Abhängigkeit zusammenleben; sowohl die prinzipielle Differenz der Untergruppen als auch die Überbrückung dieser Differenz durch gegenseitigen Austausch müssen als »Forderungen der Regel« (Lévi-Strauss, 1958/ 1967: 37) aufeinander bezogen sein, damit sich die gesamte Gemeinschaft als Einheit weiß und aus dieser Einheit heraus handelt. Die Sozialorganisation umfasst also immer mehrere Untergruppen (z. B. Blutsverwandtschaftsgruppen, Stammeshälften etc.), die sich gegenseitig ausschließen und sich doch auch wieder gegenseitig bedingen und somit nach bestimmten Regeln eine größere Einheit bilden (z. B. 141 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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fordern mehrere exogame Gruppen eine gegenseitige Heiratsreglung und bedingen dadurch eine endogame soziale Einheit). Lévi-Strauss’ Verständnis des Prinzips der Gegenseitigkeit hat in seinen Veröffentlichungen einen eingestandenen Wandel erfahren: Von der anfänglichen phänomenalen Auslegung dieses Prinzips als direkter Austausch von Frauen, Gütern, Dienstleistungen und Mitteilungen (Lévi-Strauss, 1958/1967: 98, 321 f.) sowie der Untersuchung dieses Prinzips in reinen Dual-Gesellschaften hat er sich schließlich zur Prinzipienhaftigkeit der Gegenseitigkeit selbst durchgerungen: »Die Theorie der Gegenseitigkeit steht nicht auf dem Spiel. Für das ethnologische Denken bleibt sie heute begründet auf einer so festen Unterlage, wie es in der Astronomie die Gravitationstheorie ist« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 180), denn »alle Mechanismen der Gegenseitigkeit, die die klassische Anthropologie kennt (d. h. diejenigen, die auf dualistischer Organisation und der Heirat durch Tausch zwischen zwei Partnern oder einem Vielfachen von zwei Partnern beruhen), [sind] besondere Fälle einer viel allgemeineren Form der Gegenseitigkeit zwischen einer beliebigen Anzahl von Partnern […]. Diese allgemeine Form der Gegenseitigkeit war im Dunkel geblieben, weil die Partner sich nicht gegenseitig geben (oder empfangen): man empfängt nicht von dem, dem man gibt; man gibt nicht dem, von dem man empfängt. Innerhalb eines Zyklus von Gegenseitigkeit, der in nur einer Richtung funktioniert, gibt jeder einem Partner und empfängt von einem anderen.« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 73) Um der Logik der Gegenseitigkeit in asymmetrischen sozialen Organisationen auf die Spur zu kommen (Lévi-Strauss, 1958/1967: 147), gilt es, die einfachsten Möglichkeiten der Verwandtschaftsund Heiratsreglung modellhaft auf ihre Funktion des Erhalts der sozialen Einheit hin zu durchdenken. Die einfachste Heiratsregel ist die der »bevorzugten Heirat zwischen bilateralen Kreuzvettern und -kusinen, […] Heirat zwischen Schwestersohn und Brudertochter und […] Heirat zwischen Brudersohn und Schwestertochter«. (LéviStrauss, 1958/1967: 136 f.) Diese einfache Regelung bedeutet auf ein männliches Ego bezogen, dass sowohl die Tochter des Mutterbruders als auch die Tochter der Vaterschwester nicht mehr zur eigenen Blutsverwandtschaft zählen. Es lässt sich nun am ausgeführten Modell der einfachen bilateralen Kreuzvettern-Kusinen-Heirat zeigen, dass hier überhaupt nur zwei im dualen Austausch stehende Gruppen beteiligt sind und sein können, sodass also bereits die Eltern aus diesen beiden verschiedenen Gruppen stammen, und zwar je nach der 142 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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herrschenden patrilinearen oder matrilinearen Abstammungsverwandtschaft entweder im geschlechtsgleichen oder geschlechtsvertauschten Verhältnis. Bezieht sich die bilaterale Heiratsregel auf Kreuzvettern-Kusinen zweiten Grades, so sind vier verschiedene Gruppen an der Heiratsregelung beteiligt. Die überwiegende Mehrheit der Völker kennt jedoch eine ausschließlich unilaterale Heiratsreglung mit Dominanz entweder der Mutter- oder der Vaterlinie. Die einfachste Form matrilateraler Heiratsregelung – die meist, aber nicht notwendigerweise, mit der matrilinearen Abstammungsverwandtschaft verbunden ist – verbietet dem männlichen Ego, in die beiden Verwandtschaftsgruppen seiner Eltern hineinzuheiraten, während sie dem weiblichen Ego gebietet, in die Verwandtschaftsgruppe des Vaters – also so wie die Mutter – zu heiraten. Die einfachste patrilaterale Heiratsreglung – die meist, aber nicht notwendigerweise, mit der partilinearen Abstammung verbunden ist – verbietet dem männlichen Ego die Heirat in die elterlichen Abstammungslinien und gebietet dem weiblichen Ego in die Abstammungslinie der Mutter – also so wie der Vater – zu heiraten. Aus den beiden ausschließenden Verboten und dem Gebot ergibt sich, dass beide Male notwendigerweise gerade drei verschiedene Gruppen an dieser Heiratsreglung beteiligt sind (bei Vetter-Kusine-Heiraten zweiten Grades jedoch bereits fünf Gruppen). Der Unterschied zwischen der Struktur der matrilateralen Heiratsreglung und der der patrilateralen zeigt sich darin, dass bei der ersten die Austauschfolge a-b-c-a durch die Generationen erhalten bleibt, während bei der zweiten sich die Austauschfolge von Generation zu Generation umkehrt: a-b-c-a / a-c-b-a, weshalb die erste Heiratsreglung meist mit der gruppenkonstanten Clanorganisation, die zweite meist mit der Sippenorganisation verbunden ist. Für das Problem der Sozialorganisation entscheidend ist jedoch die Einsicht in die strukturnotwendige Bedingung: »Es muß also immer mindestens drei verschiedene Geschlechterfolgen geben«. (Lévi-Strauss, 1958/1967: 139) Lévi-Strauss hat also in der matri- und partilateralen Heiratsfolge das Prinzip einer Asymmetrie aufgespürt, das sich nicht auf eine Dualität reduzieren lässt, sondern an mindestens drei verschiedene Gruppen gebunden ist – damit wird jedoch keineswegs das Prinzip der Gegenseitigkeit aufgehoben. Bereits mit diesen Modellen und ihrer konsequenten Durchkonstruktion hat Lévi-Strauss einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung sozialer Organisationen geleistet, doch will er nicht bei der Analyse der Implikate gewisser Abstam143 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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mungs- und Heiratsstrukturen stehen bleiben. Sein eigentliches Problem ist vielmehr: Wie können »dualistische Strukturen […] mit Strukturen zusammen […] existieren, die aus einer ungeraden Zahl von Elementen gebildet werden: am häufigsten 3, aber auch 5, 7 und 9. […] Das Problem stellt sich vornehmlich angesichts der Heiratsregeln, denn es gibt eine Unvereinbarkeit zwischen der bilateralen Heirat, die normalerweise zusammengeht mit den Systemen der exogamen Hälften, und der unilateralen Heirat«. (Lévi-Strauss, 1958/ 1967: 156) In der Untersuchung einiger Stämme, die sowohl nach Aussage der Angehörigen wie auch der Forscher als dyadisch und triadisch strukturiert bezeichnet wurden, versucht Lévi-Strauss, der Lösung des Problems näherzukommen. Er findet schließlich eine geometrische Figur – drei kleine Kreise, deren Mittelpunkte ein gleichseitiges Dreieck bilden, werden durch einen großen Kreis untereinander verbunden und von dessen Mittelpunkt her halbiert –, die der formalsymbolische Ausdruck für die größere Einheit der widerstreitenden Zweiheit und Dreiheit sein soll. Was dieses geometrische Modell konkret besagen soll, mag hier an einem Beispiel verdeutlicht werden: »Unsere formale Fassung des indonesischen Modells zeigt deutlich eine bemerkenswerte Eigenart der asymmetrischen Heirat. Sobald ihre Bedingungen erfüllt sind – d. h. mit einem Minimum von drei Klassen –, taucht das Prinzip einer dualistischen Dichotomie auf, die auf dem Gegensatz männlich-weiblich beruht. Daß dieser dem System inhärente Gegensatz in Indonesien das Modell geliefert hat, von dem aus es seine dualistische Organisation aufgebaut hat, geht nach unserer Ansicht aus der Tatsache hervor, daß die indonesischen Hälften immer als männlich oder weiblich gedacht werden.« (LéviStrauss, 1958/1967: 174) Es bestehen also bei diesen indonesischen Stämmen drei Heiratsklassen, die in der Heiratsfolge a-b-c-a verbunden sind, daneben herrscht eine durchgängige Dualität zwischen männlich und weiblich in allen sozialen Beziehungen vor, beide Bestimmungen aber sind Teile einer einzigen sozialen Einheit, die gerade durch die Konstanz der Heiratsfolge gewährleistet ist. Es ist leicht zu sehen, dass Lévi-Strauss hier mehrfach die Problemebenen wechselt. Die Dualität, von der im indonesischen Modell gesprochen wird, ist nicht die der bilateralen Heiratsfolge, sondern stammt aus ganz anderen sozialen Bezügen. Ähnlich unterschieden sind Zweiheit und Dreiheit bei den anderen Stämmen, die LéviStrauss mit dem gleichen geometrischen Modell ausdrücken und er144 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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klären will. Sicherlich ist es notwendig, den Versuch zu unternehmen, die soziale Einheit einer Gemeinschaft gerade von den verschiedenen, sich widerstreitenden Prinzipien her zu deuten und zu erklären. Das aber kann man nur, wenn man über bloß formale geometrische Modelle hinaus auf die konkrete Inhaltlichkeit der widerstreitenden Prinzipien einzugehen vermag. Die Dualität von männlich – weiblich taucht gerade nicht als Folge der asymmetrischen Heiratsregelung auf, sondern bedarf einer eigenen strukturlogischen oder phänomenologischen Erklärung. Nur wenn man daran festhält, »daß der Triadismus und der Dualismus unlösbar verbunden sind« (Lévi-Strauss, 1958/1967: 168), jedoch keiner auf den anderen zurückgeführt werden kann (Lévi-Strauss, 1958/1967: 157), ist die Frage nach den Bedingungen der sozialen Einheit richtig gestellt, sie kann aber dann niemals mehr nur formal-geometrisch aufgelöst werden. Nur dann lässt sich eine wirkliche strukturale und phänomenologische Klärung der Möglichkeiten sozialer Organisationen erbringen, wenn man zuerst die Gesamtheit der notwendigen Prinzipien, die diese definieren, in ihren logischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt hat und dann aus den Strukturgesetzen all dieser Momente versucht, Wirklichkeit und Selbstinterpretation der sozialen Einheit einer Gemeinschaft zu deuten. Eine voreilige Geometrisierung oder Mathematisierung verführt nur zur Symbolspekulation, ohne zu einer wesenhaften Einsicht in den Zusammenhang von Strukturen beizutragen.
1.3. Mythos Eine dritte Stufe der strukturalen Analyse wollen wir nun am Phänomenbereich des Mythos darzustellen versuchen. Bereits im vorhergehenden Abschnitt war das Problem der »Ordnung der Ordnung«, d. h. der Zusammenhang von verschiedenen Strukturen angesprochen worden. Der Mythos stellt in besonderer Weise eine solche Ordnung der Ordnung dar, denn über seine Analyse dringen wir in die logischen Strukturen des Denkens in seinen ursprünglichsten Formen ein, die allen anderen Strukturen zugrunde liegen, welche im letzten selber logische »Zeichensysteme« darstellen. Da wir hier am Mythos nur die dritte Stufe der strukturalen Analyse verdeutlichen wollen, gilt es, vorweg zu betonen, dass der größte Teil des Lebenswerkes von Lévi-Strauss der Mythenforschung 145 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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gewidmet ist, beginnend mit Das wilde Denken (1962) über das vierbändige Werk Mythologica (1964–1971) bis hin zu den späten Arbeiten Der Weg der Masken (1975) und Die eifersüchtige Töpferin (1985). Lévi-Strauss muss ohne Zweifel neben dem Religionsphänomenologen Mircea Eliade (1978 ff.) – seinem großen Antipoden im Forschungsansatz (vgl. Lévi-Strauss 1958/1967: 227) – als einer der bedeutendsten Erforscher der Welt der Mythen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anerkannt werden. So ist es selbstverständlich, dass seine Mythenforschung alle drei Stufen durchschreitet, die wir in unserer gerafften Darstellung auf unterschiedliche Phänomenbereiche verteilen mussten. Im vierbändigen Werk Mythologica entfaltet Lévi-Strauus eindrucksvoll den Weg seiner strukturalen Mythenforschung an über 800 Mythen aus verschiedenen indianischen Kulturen des amerikanischen Doppelkontinents, die von diversen Forschern zu verschiedenen Zeiten gesammelt worden sind. Diese stellt Lévi-Strauss, jeweils in Gruppen um einen Referenzmythos gebündelt und versehen mit Erläuterungen zu Lebensumwelt und Lebensweise der Kulturen vor – nummeriert von M 1 bis M 813 –, um so schrittweise eine vergleichende Analyse zu erarbeiten. Die Mythen sind keine Erzählungen von einzelnen Ereignissen, und sie spiegeln auch nicht einfach eine gelebte oder idealisierte Wirklichkeit wieder, sondern sie totalisieren die im alltäglichen Leben aufbrechenden Problemstellungen, um sie aus der Gesamtdeutung der Welt verstehbar und regelbar zu machen. In den Mythen versuchen sich die Menschen, konfrontiert mit den Gegensätzen von Natur und Kultur, Leben und Tod, der ewigen Ordnung der Gestirne und den irdischen Schicksalsschlägen, die grundsätzlichsten Fragen der Bestimmung ihres Menschseins zu stellen. So fragen sie nach den Gesetzen, die für Mensch und Natur gleichermaßen gelten, und nach der Herkunft der Ordnungen, die speziell das kulturelle Leben bestimmen, nach dem Ursprung kultureller Regelungen sowie nach den Folgen, die sich aus ihrer Übertretung ergeben. Die Mythen sind keine willkürlichen ad hoc-Erfindungen, sondern in ihnen ist ein unbewusstes, kollektives Denken, ein wildes Denken am Werk. Damit meint Lévi-Strauss keineswegs nur, dass ein Mythos in einer Kultur immer wieder neu erzählt und dadurch von Generation zu Generation variiert überliefert wird, sondern dass das mythische Denken durch die ganze Menschheitsgeschichte untergründig fortwirkt, bis hinein in unsere Träume, Wünsche und heutigen Weltdeutungen, selbst wenn diese bei uns durch wissenschaft146 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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liche Rationalität überformt sind. So wie die Struktur der Sprache allem Sprechen vorausgeht, so liegt auch allen Mythenbildungen eine Strukturlogik des mythischen Denkens zugrunde; sie aufzuhellen, ist das Anliegen der strukturalen Mythenforschung. »Wir behaupten also nicht, zeigen zu können, wie die Menschen in Mythen denken, sondern wie sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken.« (Lévi-Strauss, 1964/1971: 26) Um dieser inneren Logik auf die Spur zu kommen, gilt es, die Mythen in der Mannigfaltigkeit ihrer Aspekte zu vergleichen. Dabei müssen nach Lévi-Strauss drei Analyseebenen unterschieden werden: »Gerüst wollen wir eine Gesamtheit von Merkmalen nennen, die in zwei oder mehr Mythen invariant bleiben, Code das System von Funktionen, die jeder Mythos diesen Merkmalen zuschreibt, Botschaft den Inhalt eines bestimmten Mythos.« (1964/1971: 259) Die Botschaft ist das, was uns als erstes ins Auge springt, aber auch leicht ein tieferes Eindringen in die innere Logik des Mythos verhindern kann. Die Botschaft kann beispielsweise in der Klärung der Frage liegen, wie die Menschen in den Besitz des Feuers gelangten oder in der Thematisierung der Folgen einer Übertretung des Inzesttabus. Diese inhaltlichen Botschaften werden jedoch durch ganz verschiedene Codes ausgedrückt und verdeutlicht, die die Differenz zwischen Kultur und Natur markieren, beispielsweise durch den ökologischen oder den astronomischen Code, durch den Nahrungscode oder den Kleidungscode. So unterstreicht Lévi-Strauss bereits durch die Titel der vier Bände der Mythologica (1964 ff.) die zentrale Funktion, die er den beiden letztgenannten Codes beimisst: Das Rohe und das Gekochte, Vom Honig zur Asche, Der Ursprung der Tischsitten, Der nackte Mensch. Schließlich lassen sich an den Mythen noch kleinste Bauelemente von Ereignissen, Situationen, Bildern und Merkmalen differenzieren, die im einzelnen Mythos zu einer Gesamterzählung verkettet werden, sich aber durchaus für sich isolieren lassen und in anderen Mythen in völlig anderer Zusammensetzung wieder auftauchen können. In unglaublicher Akribie vergleichender Detailanalysen der verschiedenen Mythen weist Lévi-Strauss nun auf, dass zwar einerseits diese drei Ebenen unabhängig voneinander variieren können und damit sowohl eine schier unendliche Fülle von unterschiedlich codierten Erzählungen zulassen, die ein und dieselbe Botschaft wiedergeben, als auch erlauben, dass ganz verschiedene Botschaften durch ähnliche Codes mit oft nur leicht variierten Erzählelementen tradiert werden. 147 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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Andererseits aber gelingt es ihm, durch seine vergleichende Strukturanalyse aufzuzeigen, dass in diesen Variationen eine kombinatorische Logik am Werk ist, und zwar nicht nur innerhalb der drei Ebenen, sondern gerade auch zwischen ihnen. So bleibt es keineswegs folgenlos für die Botschaft, wenn Bauelemente der Erzählung entfernt, verändert oder hinzugefügt werden, und ebenso erzwingt der Wechsel der Codes Umstellungen in der Verkettung von Erzählfolgen. Die vergleichende Analyse der Mythen bringt also Gesetzmäßigkeiten im »Erzeugungsprozeß der Mythen« (Lévi-Strauss, 1971/1975: 755) zutage, die sich in grundsätzlichen Oppositionen, Symmetrien, Analogien und Inversionen zeigen, die auf eine ihm zugrunde liegende Logik des Denkens verweisen. Hiermit sind wir beim Kernanliegen der Mythenanalyse von Lévi-Strauss. Seine Forschungen dienen nicht dem Verstehen von Mythen aus dem Kontext der Kultur, sondern sein letztes Interesse gilt der Logik des menschlichen Geistes selbst. »Schließlich und vor allem ermöglichen sie [die Mythenforschungen] es, einige Operationsweisen des menschlichen Geistes zutage zu fördern, die im Lauf der Jahrhunderte so konstant und über ungeheure Räume hinweg so allgemein verbreitet sind, daß man sie für grundlegend halten und versuchen darf, sie in anderen Gesellschaften und anderen Bereichen des geistigen Lebens wiederzufinden, wo man sie nicht vermutete, und deren Natur sie dadurch erhellen.« (Lévi-Strauss, 1971/1975: 749) Was nach Lévi-Strauss im letzten durch die Mythenforschung freigelegt werden soll, sind die Formen des menschlichen Denkens selbst, in denen dieses immer wieder aufs Neue die Grundprobleme unseres Menschseins in der Welt zu deuten und begrifflich zu fassen versucht, ohne dies doch je abschließend zu können. Gerade weil es keine abschließende Sinndeutung unseres Menschseins in der Welt geben kann, glaubt Lévi-Strauss, einen entscheidenden Beitrag zur Fundierung der Wissenschaften vom Menschen in der Aufklärung der Formstrukturen des menschlichen Geistes erbringen zu können. Die Mythenforschung wird so zur Selbstaufklärung unseres Menschseins, wie es Lévi-Strauss eindrucksvoll in den Schlusssätzen seiner Mythologica ausspricht: »Der fundamentale Gegensatz, Erzeuger aller anderen, die in den Mythen wuchern und deren Inventar diese vier Bände aufgestellt haben, ist derselbe, den Hamlet in Form einer noch allzu leichtgläubigen Alternative ausspricht. Denn zwischen dem Sein und dem Nichtsein zu wählen, ist nicht Sache des Men148 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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schen. Eine seiner Geschichte konsubstantielle geistige Anstrengung, die erst mit seinem Verschwinden von der Szene des Universums aufhören wird, zwingt ihn dazu, die beiden widersprüchlichen Evidenzen auf sich zu nehmen, deren Anstoß sein Denken in Gang setzt und, um ihren Gegensatz zu neutralisieren, eine unbegrenzte Reihe weiterer binärer Gegensätze erzeugt, die ohne jene erste Antinomie aufzulösen, auf immer kleinerer Stufenleiter sie nur reproduzieren und perpetuieren«. (Lévi-Strauss, 1971/1975: 817) Obwohl wir dieser Schlussaussage voll zustimmen können, so scheint uns doch das eindrucksvolle Werk der Mythenforschung von Lévi-Strauss nur die eine Seite einer viel größeren Aufgabenstellung zu bilden, der zumindest die phänomenologische Sinnauslegung des Mythos – im Sinne von Mircea Eliade 5 – ergänzend hinzugefügt werden muss. Immer wieder bleibt Claude Lévi-Strauss bei einer Formalanalyse stehen, anstatt nach der Sinnstruktur weiterzufragen, in der sich menschliche Geistigkeit konkretisiert. Da er an einem Verstehen der Mythen fremder Kulturen letztlich nicht interessiert ist, wendet er sich immer intensiver der formalen Struktur des mythischen Denkens und über sie der menschlichen Geistigkeit selbst zu. Aber auch Lévi-Strauss’ Rekurs auf die Logik des menschlichen Denkens bleibt im Formalen stecken und gerät in eine gefährliche Nähe zu einer ontologisierenden Psychologie, wenn er das menschliche Denken lediglich als ein »System von Operationen« zu begründen versucht und an der Sinnproblematik und ihrer inhaltlichen Konkretion des Denkens achtlos vorbeigeht.
1.4. Das Problem des Strukturalismus Claude Lévi-Strauss’ strukturale Anthropologie ist stark von der Sprachwissenschaft (Nikolai S. Trubetzkoi, 1949; Roman Jakobson, 1956) beeinflusst. So wie dieser sprachwissenschaftliche Strukturalismus sich jeder Sinndeutung des Sprachlichen enthält und lediglich versucht, die Sprache von ihren formalen Strukturen her zu erklären, so ist auch Lévi-Strauss darum bemüht, formale Strukturen der Verwandtschaft, Sozialorganisation, Kunst, Mythologie aufzufinden. Was er in all seinen strukturalen Forschungen zu entdecken sucht, Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, 1978–1991. Vgl. auch Walther Schmied-Kowarzik, Frühe Sinnbilder des Kosmos, 1974.
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sind kleinste Beziehungselemente (Verwandtschaftsatom, Dyaden und Triaden, Formmotive der Mythen), die dem betreffenden Phänomenbereich zugrunde liegen und ihn bedingen. Er ist darüber hinaus bemüht, diese Grundbeziehungen in geometrischen oder ordnungsmathematischen Modellen zu symbolisieren. Dieser Bezug zur Mathematik darf nun keineswegs missverstanden werden; Lévi-Strauss gibt sich nicht damit zufrieden, etwa statistisch ermittelte Häufigkeiten zu konstatieren, er gewinnt seine Strukturen nicht aus quantifizierten Ergebnissen ethnographischer Erhebungen. Ausdrücklich lehnt er für seine Forschungsarbeit eine Verwendung der quantifizierenden Mathematik (Arithmetik, Wahrscheinlichkeitsrechnung) ab und wendet sich jenen »Zweigen der Mathematik (Mengenlehre, Gruppentheorie, Topologie) [zu], deren Gegenstand es ist, strenge Beziehungen herzustellen zwischen Klassen, deren Individuen durch unstetige Werte voneinander getrennt sind.« (Lévi-Strauss, 1955/ 1967: 183) Eine solche qualitative Mathematik scheint Lévi-Strauss geeignet, die qualitative Differenziertheit von sozialen Beziehungsverhältnissen formal auszudrücken und in seinen Möglichkeiten darstellbar zu machen. Die ermittelten Modelle und Strukturen sind durchaus inhaltsbezogen, sind logische Gesetzlichkeiten, die also nicht die Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit eines phänomenalen Nebeneinanders oder Nacheinanders zählen und messen, sondern soziale Beziehungen in ihrem Verhältnis zueinander bestimmen und ordnen. (Lévi-Strauss, 1958/1967: 305 f.) Insofern ist es durchaus berechtigt, wenn Lévi-Strauss vom strukturalen Anthropologen sagt: Er »ist der Astronom der Sozialwissenschaft«. (Lévi-Strauss, 1958/1967: 406) Nun liegen aber gerade in einer solchen nicht an der Sinnanalyse orientierten qualitativen Formallogik, wie sie der gesamte Strukturalismus darstellt, die Gefahr einer Zahlenmystik und Zahlenspekulation sowie die Tendenz zu einer kombinatorischen »Astrologie« – die Bezugnahme auf Pythagoras und die antike Spekulation (LéviStrauss, 1955/1967: 176, 182) kommt insofern nicht von ungefähr. Ein weiteres Problem für den Strukturalismus ergibt sich daraus, dass Lévi-Strauss zwar jeden biologischen Naturalismus aufs Schärfste ablehnt und deshalb auch immer wieder hervorhebt, dass die Modelle und Strukturen nicht die konkrete Wirklichkeit einer gelebten Kultur beschreiben, sondern ideale und formal-logische Gesetze eines bestimmten sozialen Phänomenbereichs ausdrücken, aber es gelingt ihm doch nicht, Sinn und Ort dieser Strukturen selbst zu 150 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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bestimmen. Dadurch dass Lévi-Strauss die Strukturen nur formallogisch in ihren Elementarbeziehungen und Elementaroperationen zergliedert und jede Sinnfrage übergeht, kann er bloß abstrakte, ontologische Universalien benennen, die zwar allen konkreten Sozialbezügen zugrunde liegen, die aber nicht die konkreten Möglichkeiten der sozialen Praxis erklären können. Damit zeigt sich, dass der Strukturalismus zwar in der Methode der doppelten Reduktion – einmal von den Phänomenen zu den Strukturgesetzlichkeiten, zum anderen von den Strukturgesetzlichkeiten zu dem gemeinsamen Fundament in der menschlichen Geistigkeit – der Phänomenologie ähnelt, letztlich aber doch nur im Vorhof formaler Bestimmungen stehen bleibt. 6 Die Phänomenologie versucht, den Logos gewisser Phänomenbereiche, d. h. Sinnstrukturen aufzudecken, die Möglichkeiten der sozialen und kulturellen Konkretisierung bedingen. Ganz allgemein versucht die Phänomenologie, die inhaltlichen Möglichkeiten der sozial und kulturell bestimmten Praxis der Menschen aufzuhellen, um damit zugleich das Konstituierende des Sozialen und Kulturellen in seiner grundlegenden Struktur zu ermitteln. Gelegentlich dringt auch Lévi-Strauss zu einer solchen phänomenologischen Sinnanalyse durch, verliert sie aber sofort wieder, wenn er dazu übergeht, die gewonnenen Einsichten ordnungsmathematisch zu formalisieren. So gelingt es ihm, das Inzestverbot – endgültig aus allen primitiven Reduktionismen befreit – als eine konstitutive Größe der menschlichen Kultur selbst darzutun: »Das Inzestverbot hat weder einen rein kulturellen noch einen rein natürlichen Ursprung. […] Es ist der grundlegende Schritt, dank dem, durch den und in dem sich der Übergang von der Natur zur Kultur vollzieht. […] Tatsächlich handelt es sich weniger um eine Verbindung als um eine Transformation oder einen Übergang: vor ihr ist die Kultur noch nicht existent; mit ihr hört die Natur auf, beim Menschen unumschränkt zu herrschen. Das Inzestverbot ist das Verfahren, mit dem die Natur sich selbst überwindet; es ist der Funke, der eine neue und komplexere Struktur entstehen läßt, welche die einfacheren Strukturen des psychischen Lebens überlagert und integriert. […] Es zeitigt und ist selbst die Heraufkunft einer neuen Ordnung«. (Lévi-Strauss, 1949/1981: 73 f.) Hier ist eine wirkliche Sinneinsicht geleistet, die man für weitere Vgl. Herta Nagl-Docekal, »Läßt sich die Geschichtsphilosophie tropologisch fundieren?« (1985).
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Forschungen nutzbar machen müsste, indem man die prinzipiellen Möglichkeiten der Konkretion modellhaft ermittelt, die sich aus der Struktur des Inzestverbots, der Abstammungsverwandtschaft und Heiratsbindung ergeben. Lévi-Strauss aber verfolgt diesen Weg nicht weiter, sondern versucht, ontologische Universalien zu benennen, die zwar formal allem Sozialen und Kulturellen innewohnen, nicht aber die konkret-inhaltlichen Möglichkeiten der menschlichen Praxis von der Sinnstruktur des Menschlichen her begreifen können.
2.
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Unzweideutig hat sich Maurice Godelier immer wieder zu Claude Lévi-Strauss als seinem Lehrer bekannt, von dem er in Problemstellung und Vorgehensweise Entscheidendes gelernt hat. »Wir verdanken ihm [Lévi-Strauss] die Entwicklung und Anwendung der strukturalen Methode für die Analyse so komplexer und wichtiger gesellschaftlicher Tatsachen wie der Verwandtschaftsverhältnisse, der Formen des Denkens und der Formen der Kunst. […] Ich bewundere sie und wende selbst die strukturale Methode an, wenn ich auf Gebiete vordringe, auf die sich Lévi-Strauss nicht begeben hat.« (Godelier, 1984/1990: 33) Ähnlich wie Hegel und Marx sich zwar im Selbstverständnis und in der Verwendung der dialektischen Logik unterscheiden, jedoch gerade in der dialektischen Logik einen gemeinsamen Grund haben, der sie prinzipiell von allen subjektivistischen Philosophemen ihrer Zeit trennt, so schlagen auch Lévi-Strauss und Godelier in Konzeption und Auslegung der strukturalen Methode zwar entgegengesetzte Wege ein, aber der theoretische Anspruch der strukturalen Methode ist das, was sie gemeinsam von der empirischen Ethnologie fundamental trennt. Der strenge sozialwissenschaftliche Empirismus kann immer Der voranstehende Teil aus dem Jahre 1968 argumentiert – im bewussten Gegensatz zur Phänomenologie-Schelte von Lévi-Strauss (1973/1975: 84) – von einer phänomenologischen Kulturtheorie her, während nun im folgenden Teil, der als Ergänzung für die 2. Auflage des Bandes Grundfragen der Ethnologie (1993) verfasst wurde, die kritische Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss vom Geschichtsmaterialismus Godeliers aus fortgeführt wird; daher sei zunächst das Gemeinsame und Trennende zwischen strukturaler Ethnologie und geschichtsmaterialistischer Kulturanthropologie herausgearbeitet.
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nur von den beobachtbaren Verhaltensweisen der Individuen ausgehen, die ihr Handeln einer vorgefundenen Um- und Mitwelt anpassen. Ein Verstehen des Handelns von Individuen fremder Kulturen erfolgt hierbei nur über die naiv vorausgesetzte Erfahrungsbasis des Alltagswissens eigener individueller Handlungsmotive und Verhaltensweisen. Komplexer werden die gesellschaftlichen Zusammenhänge bereits von den Funktionalisten gesehen; sie sind die Kontrahenten, an denen sich Godelier reibt, von denen er aber auch entscheidende Anregungen übernimmt. Der Funktionalismus erkennt, dass man nicht aus der Summe von Einzelhandlungen der Individuen gesellschaftliches Zusammenleben erklären kann, sondern, dass umgekehrt, zur Erhaltung des gesellschaftlichen Lebens – und nur gesellschaftlich kann der Mensch überleben –, gewisse Funktionen erfüllt werden müssen, die ihrerseits das individuelle Handeln der Angehörigen einer Kultur bestimmen. Der Funktionalismus – und hierin liegt zunächst auch die Übereinstimmung mit dem strukturalen Ansatz – begreift »die Gesellschaft […] als ein artikuliertes Ganzes von Verhältnissen und Funktionen, von denen alle gleichzeitig notwendig sind, damit sie als solche existieren kann.« (Godelier, 1984/1990: 18) Die Gesamtfunktion der Aufrechterhaltung des menschlichen Lebens als System gliedert sich daher nach Talcott Parsons – dem großen Theoretiker dieser Richtung – in Subsysteme mit den Teilfunktionen der physischen, psychischen, sozialen und kulturellen Reproduktion des menschlichen Lebens, die sich ihrerseits wiederum durch eine gegenseitige Funktionsvernetzung mit den anderen Subsystemen in Untergliederungen differenzieren. Für das gesellschaftliche Subsystem, deren Funktion die soziale Reproduktion ist, nennt Parsons beispielsweise die Erhaltung kultureller Systeme, die soziale Integration, die politische Ordnung und die Ökonomie als Untergliederungen (Parsons, Gesellschaften, 1966/1975: 45 ff.). 8 In Anlehnung an den Ökonomie-Historiker Karl Polanyi (The Great Transformation, 1944) hält Godelier den Funktionalisten vor, dass sie von einer Funktionsanalyse unserer hochentwickelten Gegenwartsgesellschaft mit ihren institutionell abgrenzbaren Gliederungen ausgehen, um dann die dabei gewonnenen Differenzierungen nicht nur auf völlig anders strukturierte Gesellschaften anzuwenden, sondern sie auch als die allgemeinen Funktionen der 8
Vgl. Roland Girtler, Kulturanthropologie (1979).
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gesamten Menschheitsgeschichte auszugeben, wobei natürlich herauskommt und herauskommen muss, dass unsere hochentwickelte Gegenwartsgesellschaft die Erfüllung der gesamten Menschheitsentwicklungen darstellt. 9 Im Gegensatz dazu geht die strukturale Methode von einer theoretischen Klärung dessen aus, was grundsätzlich das gesellschaftliche und kulturelle Sein ausmacht und vorantreibt und daher allen empirischen Erscheinungsformen und Entwicklungstypen von Kulturen – der unseren miteingeschlossen – immer schon zugrunde liegt. Godelier hebt die Differenz zwischen Funktionalismus und strukturaler Methode deutlich hervor: »Für RadcliffeBrown und für Nadel ist eine soziale Struktur die ›Anordnung‹, die ›Disposition‹ der sichtbaren Beziehungen der Menschen untereinander, eine Disposition, die aus der gegenseitigen Komplementarität dieser sichtbaren Beziehungen hervorgeht. […] Hingegen sind die Strukturen für Lévi-Strauss wie für Marx keine unmittelbar sichtbaren und beobachtbaren Wirklichkeiten, sondern Ebenen der Wirklichkeit, die jenseits der sichtbaren Beziehungen der Menschen untereinander existieren und deren Funktionieren die innere Logik eines sozialen Systems ausmacht, die darunterliegende Ordnung, von der aus die sichtbare Ordnung des Systems erklärt werden muß.« (Godelier, 1973/1973: 61; vgl. 1984/1990: 203) Die »innere Logik« der Kulturen und ihrer geschichtlichen Entwicklung, von der hier die Rede ist, ist nichts Geheimnisvolles, nichts schlechthin und zeitlos Gegebenes, sondern liegt in der Grundstruktur des kulturellen Menschseins selbst verankert. Grundsätzlich ist das gesellschaftliche und kulturelle Menschsein dadurch bestimmt, dass die Menschen selbst die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse hervorbringen, die prägend auf das Handeln der Individuen zurückwirken. »Im Gegensatz zu den anderen sozialen Lebewesen begnügen sich die Menschen nicht damit, in Gesellschaft zu leben, sie produzieren Gesellschaft, um zu leben. Im Laufe ihrer Existenz […] finden sie neue Weisen zu denken und auf sich selbst wie auf die sie umgebende Natur einzuwirken. Sie produzieren daher Kultur, [bringen] Geschichte her[vor], die Geschichte.« (Godelier, 1984/1990: 13) Mit diesem Zitat von Maurice Godelier berühren wir aber auch schon den Kernpunkt der Differenz zwischen Lévi-Strauss und Godelier. Denn während Lévi-Strauss die fundierende Grundstruktur allen kulturellen Seins des Menschen in der Logik des menschlichen Geis9
Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte (1992).
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tes sieht, die sich in den Formen des mythischen Denkens und der Sprache genauso manifestiert wie in den Formen der Verwandtschaft und der Sozialorganisation, wendet sich Godelier ausdrücklich gegen eine solche geschichtslose Formalstruktur und arbeitet stattdessen die alles kulturelle Sein hervorbringende Grundstruktur der gesellschaftlichen Praxis heraus. »Um diese innere Logik zu ermitteln, muß man über die strukturale Analyse der Formen der sozialen Verhältnisse hinausgehen, muß man die verschiedenen Prozesse der gesellschaftlichen Praxis, die wechselseitigen ›Effekte‹ der Strukturen nachweisen, muß man schließlich ihren wirklichen Platz in der Hierarchie der Ursachen, die das Funktionieren und die Reproduktion einer ökonomischen Gesellschaftsformation bestimmen, festmachen.« (Godelier, 1973/1973: 8) Godelier verdeutlicht die Differenz zwischen seiner an Marx orientierten strukturalen Methode und der von Lévi-Strauss an elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Indem Lévi-Strauss beispielsweise die komplementären Beziehungsdominanzen zwischen Mann und Frau zu Bruder und Schwester sowie Vater und Sohn zu Mutter-Bruder und Sohn auf ein formales »Verwandtschaftsatom« zurückführt, kann er zwar einerseits eine für alle Verwandtschaftsverhältnisse archaischer Kulturen geltende Beziehungslogik aufdecken, aber seiner Analyse entgeht dabei andererseits sowohl die bestimmte Funktion, die das Verwandtschaftsverhältnis in einer konkreten Gesellschaft erfüllt, als auch die über die differenzierenden Verwandtschaftsverhältnisse voranschreitende geschichtliche Entwicklung. Deshalb »kann die strukturale Analyse [von Lévi-Strauss] – obwohl sie die Geschichte nicht leugnet – nicht mit der Geschichte zusammentreffen, da sie von Anfang an die Analyse der ›Form‹ der Verwandtschaftsverhältnisse von der Analyse ihrer ›Funktionen‹ trennt. […] Daher wurde nie das Problem der wirklichen Verknüpfung der Verwandtschaftsverhältnisse mit den anderen sozialen Strukturen, die die konkrete, historisch bestimmte Gesellschaft charakterisieren, analysiert: Lévi-Strauss beschränkt sich darauf, diesen konkreten Gegebenheiten das ›formale System‹ der Verwandtschaftsverhältnisse zu entnehmen, dessen innere Logik er untersucht, und das er dann mit ähnlichen oder entgegengesetzten ›Formen‹ vergleicht […]. In diesem Sinne kann man sagen, daß Lévi-Strauss im Gegensatz zu den Funktionalisten niemals reale Gesellschaften untersucht und niemals versucht, ihrer Vielfalt und ihrer inneren Komplexität Rechnung zu tragen.« (Godelier, 1973/1973: 65 f.) 155 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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Im Rückbezug auf die marxsche Strukturanalyse versucht Godelier, diesen Formalismus von Lévi-Strauss zu überwinden und dabei zugleich die positiven Momente des Funktionalismus sowie der Sozialgeschichte in seinen Ansatz einzubeziehen. Um der »inneren Logik der Funktionsweise und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften« (Godelier, 1973/1973: 24; 1984/1990: 132) gerecht werden zu können, darf man gerade nicht auf die geschichtslosen Formalstrukturen des menschlichen Geistes – vorausgesetzt es gibt solche – zurückgehen, sondern muss die in der gesellschaftlichen Praxis angelegte Strukturlogik des Hervorbringens gesellschaftlicher und kultureller Lebens- und Denkformen herausarbeiten. Diese Strukturlogik der gesellschaftlichen Praxis sprach Marx in der Dialektik von menschlichen Produktivkräften und gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen an, die – wie Godelier ausdrücklich gegen den Vulgärmarxismus betont – nicht als mechanistisches Kausalverhältnis missverstanden werden darf, sondern in der dargelegt wird, dass die Menschen mit den materiellen und geistigen Kräften ihrer gesellschaftlichen Produktion – ohne sich dessen bewusst zu sein – auch die gesellschaftlichen Verhältnisse hervorbringen, die nun bestimmend und prägend auf das Handeln der Individuen zurückwirken. Einmal aufgebaut, tendieren die gesellschaftlichen Verhältnisse zur funktionalen Systemselbsterhaltung, zwingen die Individuen, Handlungen auszuführen, die unmittelbar der Reproduktion dieser Strukturen dienen, die ihrerseits wiederum Erhaltungsfunktionen für die Gesamtgesellschaft erfüllen. Allerdings ist diese Systemerhaltung niemals in sich selbst autonom, denn alle gesellschaftlichen Verhältnisse sind durch die Produktivkräfte der Menschen hervorgebracht, sodass auch nur die produktiven materiellen und geistigen Kräfte der Menschen die zu eng gewordenen Produktionsverhältnisse aufzubrechen und neue gesellschaftliche und kulturelle Lebensformen zu errichten vermögen. »Der Motor der Geschichte« – so interpretiert Godelier die geschichtsmaterialistische Dialektik von Marx –, »der grundlegende Widerspruch, der alle Produktionsweisen (gleichgültig ob sie die Basis von Klassengesellschaften oder von klassenlosen, primitiven oder sozialistischen Gesellschaften sind) auftauchen und verschwinden lässt und lassen wird, ist in der Tat der Widerspruch, der sich zwischen bestimmten Produktivkräften und bestimmten Produktionsverhältnissen entwickelt. Dieser grundlegende Widerspruch zieht sich durch die gesamte Geschichte und determiniert in jedem einzel156 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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nen Fall die Rolle des Klassenkampfes (wenn es Klassen gibt) und die Form (revolutionär oder nicht), die der entscheidende Moment (wenn es einen gibt) des Übergangs von einer Produktionsweise zu einer anderen annimmt.« (Godelier, 1973/1973: 178) Also weit davon entfernt, dass damit ein Schematismus postuliert wäre, der der menschlichen Geschichte einfach übergestülpt werden soll, wird in der grundlegenden Dialektik der gesellschaftlichen Praxis nur die »verborgene Logik«, der »treibende Motor« und das »unsichtbare Netz« von Reproduktion und Entwicklung der Kulturen aufgedeckt, die in der empirischen Erforschung jeder einzelnen Kultur und ihren kulturgeschichtlichen Wandlungsprozessen konkretisiert werden muss. Es kommt daher der geschichtsmaterialistischen Kulturtheorie – im Gegensatz zum formalen Strukturalismus von Lévi-Strauss – sehr darauf an, jede einzelne Kultur in ihrer Produktionsweise, ihren Gesellschaftsbeziehungen und in ihrem mythischen Denken konkret zu erforschen. Nur von diesem Selbstverständnis her kann die geschichtsmaterialistische Kulturtheorie entfaltet werden, wie sie von Karl Marx intendiert war und von Karl August Wittfogel 10 und Maurice Godelier fortgeführt wird, als die »eine Wissenschaft vom Menschen, die sich wirklich daran begibt, seine Geschichte aufzuschlüsseln«. (Godelier, 1973/1973: 14)
2.1. Die Produktivkräfte Ausgangspunkt der geschichtsmaterialistischen Kulturtheorie ist – wie Godelier betont – die strukturale Analyse der gesellschaftlichen Produktion als Basis einer jeden menschlichen Kultur sowie die »Rekonstruktion der Produktionsweisen, die sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben oder sich noch entwickeln«. (Godelier, 1973/1973: 82) Hiermit stellt sich Godelier ganz in die Tradition der marxschen Theorie, allerdings gilt es, diese erst aus den Missverständnissen der Vulgärmarxismen und deren ebenso vulgären Gegner zu befreien. Wir können uns hier nicht mit Godelier an die mühevolle Arbeit einer aufklärenden Interpretation des marxschen Leider kennt Maurice Godelier die bedeutenden Arbeiten des frühen Karl August Wittfogel nicht, seines großen Mit- und Vorstreiters aus den 1920er und 1930er Jahren im Kampf gegen den Vulgärmarxismus und auf dem Wege zu einer geschichtsmaterialistischen Kulturtheorie.
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Werkes begeben 11, sondern wollen nur die für die geschichtsmaterialistische Kulturtheorie fundamentalen Begriffe soweit theoretisch aufhellen, dass eine fruchtbare ethnologische Arbeit mit ihnen möglich wird. 12 Wenn Marx zwischen der ökonomischen Basis und dem ideologischen Überbau einer Gesellschaft differenziert und die gesellschaftliche Entwicklung aus ihrem dialektischen Zusammenwirken erklärt, so ist damit »keine Unterscheidung zwischen verschiedenen Ebenen oder Instanzen und auch nicht zwischen Institutionen« (Godelier, 1984/1990: 29) gemeint, sondern »eine Unterscheidung von Funktionen und eine Hierarchie in der Kausalität der sozialen Strukturen in Bezug auf den Funktionszusammenhang und die Entwicklung von Gesellschaften«. (Godelier, 1973/1973: 10) Die basale Funktion, die einer jeden Gesellschaft die Reproduktion des materiellen Lebensprozesses ermöglicht und garantiert, wird durch die Begriffe der »Produktionsweise« bzw. der »ökonomischen Gesellschaftsformation« umschrieben, und damit ist die je spezifische »Verbindung der Produktivkräfte und der […] gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse« (Godelier, 1973/1973: 27) einer Gesellschaft angesprochen. Dabei sind die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse selbst wiederum nicht als für sich bestehende Entitäten zu verstehen, sondern als sich wechselweise bedingende und bestimmende gesellschaftliche Funktionen: Die Produktivkräfte sind die gesellschaftlich organisierten materiellen und geistigen Kräfte der Mitglieder einer Gesellschaft, und die Produktionsverhältnisse stellen die gesellschaftliche Organisation der produktiven Kräfte ihrer Mitglieder dar; in gemeinsamer dialektischer Durchdringung ermöglichen und regulieren sie die zum Überleben der Gesellschaft notwendige Bearbeitung und Aneignung der Natur. (Godelier, 1984/1990: 15 f.) Wenn nun Marx immer wieder betont, dass die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, das »in letzter Instanz« Bestimmende des gesamten Lebenszusammenhangs einer Gesellschaft und Kultur darstellt und auch die sozialen Beziehungen sowie
Maurice Godelier, Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie (fr. 1966). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981). 12 Vgl. Lawrence Krader, Ethnologie und Anthropologie bei Marx (1973); siehe auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Karl Marx und die philosophische Grundlegung einer geschichtsmaterialistischen Kulturtheorie« (1984). 11
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die geistige Sphäre bedingt, so ist damit keineswegs gemeint, dass die Ökonomie, als eine eigenständige Institution verstanden, die alleinige Triebkraft einer jeden Gesellschaft sei (1973/1973: 74), sondern es ist damit ausgedrückt, dass es im letzten die gesellschaftlich gebündelten materiellen und geistigen Produktivkräfte der Menschen selbst sind, die die gesellschaftlichen Verhältnisse hervorbringen und die daher diese auch wieder verändern können. Allerdings wirken die einmal hervorgebrachten Gesellschaftsverhältnisse als Systemzwänge auf die handelnden Individuen zurück, bestimmen und reglementieren das Handeln der einzelnen Individuen; gleichwohl sind diese Verhältnisse doch nichts Für-sich-Seiendes, sondern immer Produkt der gesellschaftlichen Praxis der Menschen, d. h. der gesellschaftlich gebündelten produktiven Kräfte der Individuen. Beispielhaft hat Godelier diese Wechselbestimmung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen an der Produktionsweise der Mbuti-Pygmäen verdeutlicht. Sie organisieren ihre Jagd im Tropenwald gemeinschaftlich, indem die jagenden Männer Netze ausspannen, in die die Frauen und Kinder das Wild hineintreiben; das gefangene Wild wird dann von den Männern mit Speeren erlegt. Die Größe der zusammenlebenden und -jagenden Mbuti-Gruppen richtet sich danach, dass mindestens sieben Jäger ihre Netze ausspannen müssen, damit genügend Wild erlegt werden kann, im Höchstfall aber – kurz vor einer Segmentierung in neue Gruppen – bis zu dreißig. Diese sicherlich in geschichtlicher Erfahrung ermittelten Grenzwerte der Produktivität, die sowohl für den Erhalt der Gruppe als auch für die Regenerierungsfähigkeit des Wildbestandes überlebensnotwendig sind, werden von den Mbuti selbst als feststehende gesellschaftliche Normen angesehen und anerkannt. Theoretisch zusammenfassend führt Godelier dazu aus: »Dieses System ist entstanden aus dem Produktionsprozess selbst, dessen materielle und soziale Reproduktionsbedingungen es ausdrückt. […] So sind diese Zwänge, die der Produktionsweise immanent sind, gleichzeitig die Kanäle, durch welche die Produktionsweise die Natur der verschiedenen Instanzen der Mbuti-Gesellschaft letztlich bestimmt, denn die Zwänge wirken sich simultan auf alle Instanzen aus: Über dieses System von Zwängen bestimmt die Produktionsweise das Verhältnis und die Verbindung aller dieser Instanzen untereinander und das Verhältnis dieser in Bezug auf sich selbst, das heißt die Produktionsweise bestimmt die allgemeine Struktur der Gesellschaft als solcher, die spezifische Form und Funktion jeder einzelnen 159 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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Instanz, die zusammen die Gesellschaft ausmachen.« (Godelier, 1973/1973: 71) 13
2.2. Die Gesellschaftsbeziehungen Mit der Frage nach der Struktur der Gesellschaftsbeziehungen betreten wir das Gebiet, auf dem Claude Lévi-Strauss seine großangelegten und großartigen Strukturanalysen zu den Verwandtschaftsverhältnissen vorgelegt hat, die Maurice Godelier aber in ihrer Problemstellung völlig umorientiert wissen will. Denn Godelier fragt nicht mehr nach der Formalstruktur aller nur möglichen Verwandtschaftsverhältnisse, sondern nach der konkreten Funktion, die die Struktur der Verwandtschaftsbeziehungen im Gefüge einer Kultur und im kulturellen Entwicklungsprozess erfüllt. Zunächst stellt Godelier ausführlich dar, dass die Verwandtschaftsverhältnisse in archaischen Gesellschaften meist die zusätzliche Funktion von Produktionsverhältnissen mitübernehmen. (Godelier, 1973/1973: 35) Damit ist gemeint, dass über die Verwandtschaftsbeziehungen sowohl die »Form des Zugangs zu den Ressourcen« (Eigentumsverhältnisse) als auch die »Organisation der Arbeitsprozesse« und schließlich die »gesellschaftliche Form der Zirkulation und der Verteilung der Erzeugnisse« (Godelier 1984/1990: 30) geregelt werden. Wenn also funktionalistische Kritiker von Marx – wie A. R. Radcliffe-Brown (1952) oder Marshall Sahlins (1976) – glauben, mit dem Hinweis auf die Dominanz der Verwandtschaftsverhältnisse die marxsche These von der basalen Funktion der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens widerlegen zu können, so zeigen sie nur, dass sie das Anliegen von Marx nicht verstanden haben. (Godelier, 1984/1990: 132; 153) Vgl. dazu Karl Marx, Grundrisse: »Das Resultat, wozu wir gelangen, ist nicht, daß Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion identisch sind, sondern daß sie alle Glieder einer Totalität bilden, Unterschiede innerhalb einer Einheit. Die Produktion greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung der Produktion, als über die anderen Momente. Von ihr beginnt der Prozeß immer wieder von neuem. […] Eine bestimmte Produktion bestimmt also eine bestimmte Konsumtion, Distribution, Austausch und bestimmte Verhältnisse dieser verschiedenen Momente zueinander. Allerdings wird auch die Produktion, in ihrer einseitigen Form, ihrerseits bestimmt durch die anderen Momente. […] Es findet Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Momenten statt. Dies der Fall bei jedem organischen Ganzen.« (Marx, 42: 34)
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Nun ist aber damit, dass die Verwandtschaftsverhältnisse in archaischen Kulturen die Funktion von Produktionsverhältnissen erfüllen können, noch keineswegs die innere Logik der Gesellschaftsbeziehungen selbst berührt. Entschieden erklärt Godelier, dass die Gesellschaftsbeziehungen nicht aus der Produktionsweise abgeleitet werden können, denn Kulturen mit durchaus ähnlichen Produktionsformen können doch völlig unterschiedliche Verwandtschaftsverhältnisse ausbilden. (Godelier, 1973/1973: 10; vgl. 1984/1990: 67) Sicherlich ist Lévi-Strauss der große Pionier, der als erster die autonome Logik der Verwandtschaftsverhältnisse herausgearbeitet hat. Ein gravierender Mangel seines Strukturalismus liegt jedoch darin, dass er nur an den formalen Strukturen der sich in diesen Verwandtschaftsverhältnissen manifestierenden Logik des menschlichen Geistes interessiert ist, so als hätte die Logik die Variationen von Verwandtschaftsstrukturen hervorgebracht. Demgegenüber insistiert Godelier darauf, dass die Verwandtschaftsstrukturen eine gesellschaftliche Funktion erfüllen, sie reagieren auf ein gesellschaftliches Überlebensproblem, das nur in bestimmten logischen Formen gelöst zu werden vermag. »Man muß also die Grundlage dieses begrifflichen Gebrauchs der Verwandtschaftsbeziehungen anderswo suchen als in den zeitlosen und leeren Formen des Denkens oder Modellen, die von der Natur angeboten werden, und dieses Anderswo kann nur in der Gesellschaft oder in der Geschichte liegen.« (Godelier, 1973/ 1973: 303) Die autonome Basis für die innere Strukturlogik der Verwandtschaftsverhältnisse liegt also letztlich in der Erfüllung der Doppelfunktion der Regeneration der Mitglieder der Gesellschaft und dem Erhalt der gesellschaftlichen Einheit durch die Generationenfolge hindurch. »Die Verwandtschaftsbeziehungen gaben vielleicht deshalb den wichtigsten Rahmen für die Produktionsprozesse ab, weil sie der Ort waren für die Produktion des wichtigsten Produktionsmittels, nämlich des Menschen. Hier wäre eine Theorie der männlichen Herrschaft und des ›Austauschs‹ der Frauen zu entwickeln, sowie eine ›marxistische‹ Analyse des Inzesttabus.« (Godelier, 1984/1990: 148) Mit dem Inzestverbot als Grundtatsache allen gesellschaftlichen und kulturellen Seins und dem Gebot der Erhaltung der gesellschaftlichen und kulturellen Einheit durch die Generationenfolge hindurch stoßen wir aber auf einen grundlegenden Widerspruch aller archaischen Gesellschaftsverhältnisse, der darin besteht, dass Abstammungsverwandtschaft und Heiratsbindung differieren müssen und 161 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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dass hierfür niemals eindeutige Lösungen möglich sind, sodass sich die gesellschaftliche Einheit nur durch – je nach Auslegung des Inzesttabus – bestimmte Regelungen vernetzter Gegenseitigkeit mehrerer Abstammungsgruppen erhalten kann, die aber mit der natürlichen Regeneration immer wieder in Konflikt geraten. »Die Reproduktionsbedingung eines Systems ist also nicht das Fehlen von Widersprüchen innerhalb eines Systems, sondern das Vorhandensein einer Regulierung der Widersprüche, die dessen Einheit vorläufig wahrt.« (Godelier, 1984/1990: 73) Durch diese geschichtsmaterialistische Fundierung kann aus den strukturalen Analysen der Verwandtschaftsverhältnisse und der Sozialorganisation tatsächlich mehr herausgefunden werden, als es LéviStrauss durch seinen formalen Reduktionismus gelingt. Denn erst dadurch, dass man die Verwandtschaftsstrukturen in ihrer Logik nicht als etwas Für-sich-Seiendes erkennt, sondern als sozial gefundene Antworten auf die sich der gesellschaftlichen Selbsterhaltung real aufdrängenden Probleme, wird es möglich, die »Logik in der Funktionsweise und der Entwicklung der Gesellschaften« (1984/ 1990: 132), d. h. in der gesellschaftlichen Praxis selbst zu verankern. Erst dadurch wird die theoretische Ethnologie sich nicht mehr nur als eine Wissenschaft verstehen, die – wie bei Lévi-Strauss – aus dem ethnographischen Material die zeitlos geltenden Formalstrukturen heraussucht, sondern die sowohl an der konkreten Lösung der strukturalen Probleme jeder einzelnen Kultur interessiert ist als auch nach den konkreten Übergangsproblemen fragt, die bestimmte Kulturen über ihre bisherige Gesellschaftsformation hinausgetrieben haben oder hinaustreiben. Eines der komplexesten Probleme sieht Godelier in diesem Zusammenhang in der Erforschung der konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, die die Entstehung der ersten Klassengesellschaften erklärbar machen, bei denen die Verwandtschaftsverhältnisse archaischer Gesellschaften durch hierarchisch strukturierte, theokratischpolitische Zentralinstanzen abgelöst werden. »Wie haben sich in diesen Gesellschaften erbliche soziale Hierarchien herausgebildet? Das ist das größte Problem, das es zu lösen gilt. […] Es gilt daher, die Frage nach den Gründen und Bedingungen zu beantworten, die in zahlreichen Gesellschaften bestimmte Gruppen dazu gebracht haben, sich mit den allen Gruppen gemeinsamen Interessen zu identifizieren, so daß die zusätzliche Arbeit für die Befriedigung dieser gemeinsamen Interessen mit der Zeit dazu diente, eine Minderheit, die das 162 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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Monopol der – rituellen oder anderweitigen Mittel – die allen Fruchtbarkeit, Leben, Gerechtigkeit etc. sicherten – innehatte, zu feiern und ihren unterschiedlichen Status aufrechtzuerhalten.« (Godelier, 1984/ 1990: 122 f.; vgl. 24 f.) Dabei ist es für Godelier – ebenfalls in Berufung auf Marx – selbstverständlich, dass die Bedingungen für diesen qualitativen Sprung in der Neustrukturierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sowohl mit ökonomischen Veränderungen als auch mit der Fortentwicklung mythischer Denkformen zu umfassenden religiösen Weltdeutungen einhergehen, weder aus der sozialen Sphäre allein noch aus der bloßen Weiterentwicklung der Produktivkräfte, sondern nur aus dem dialektischen Zusammenwirken aller drei Momente gemeinsam erklärt werden können. (Godelier, 1984/1990: 20 ff.)
2.3. Das mythische Denken Maurice Godelier wird nicht müde, gegen die Vulgärmarxisten und ihre nicht minder vulgären Gegner auf die von Marx bereits herausgearbeiteten dialektischen Funktions- und Strukturzusammenhänge zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen hinzuweisen. Es gibt keine ökonomische Basis, in die nicht schon von Anbeginn das »Ideelle«, der menschliche Geist, fundierend miteinbezogen wäre, denn da das die Produktionsweise Bestimmende und Vorantreibende in den materiellen und geistigen Kräften der gesellschaftlich produzierenden Individuen liegt, ist das Geistige immer schon in die gesellschaftliche Basis verflochten. Es ist keine gesellschaftliche Produktion denkbar, in die nicht Kenntnisse um die zu sammelnden Pflanzen und zu jagenden Tiere sowie um die Werkzeuge und die kollektiven und individuellen Arbeitsprozesse bis hin zur Zubereitung der Nahrung eingingen. Aber auch in die gesellschaftlichen Beziehungen ist Ideelles konstitutiv miteinbezogen; nicht nur, dass die Verwandtschaftsverhältnisse und die Austauschbindungen der sozialen Gruppen den Individuen bewusst sein müssen, um eingehalten werden zu können, sondern es ist auch das Selbstverständnis der sozialen Einheit mit der Interpretation der Weltordnung verknüpft, wie Lévi-Strauss am Beispiel des Totemismus eindrucksvoll gezeigt hat. »Gerade am Beispiel der totemistischen Institutionen sehen wir das wilde Denken, um das soziale Leben (die Kultur) zu denken, sich ein objektives, in der Natur gegebenes Kombinationssystem 163 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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ausborgen […]. Mittels dieses Schemas des Unterschiedes natürlicher Arten eröffnet sich das Denken außerordentliche Möglichkeiten, […] bietet der Begriff der Art dem wilden Denken ein wesentliches Klassifikationsprinzip für Erfahrungsdaten der natürlichen und der sozialen Realität.« (Godelier, 1973/1973: 301) Aber es gilt, nicht nur die dialektische Vernetzung des Ideellen mit der Produktionsweise und den Gesellschaftsbeziehungen zu sehen, sondern auch die »relative Autonomie« der Strukturlogik des Denkens und der Weltdeutungen zu analysieren. Dies hat LéviStrauss in grandioser Weise mit seiner Strukturanalyse des »wilden Denkens« unternommen. Ohne die strukturale Analyse von LéviStrauss grundsätzlich in Frage stellen zu wollen, versucht Godelier, ihr eine andere, eine geschichtsmaterialistische Wendung zu geben, denn für ihn ist die Logik der Denkformen nicht die zeitlose Basis, die die Praxis der Menschen strukturiert, sondern das Denken erfüllt vielmehr selbst eine Funktion für die Erhaltung und geschichtliche Entwicklung der gesellschaftlichen Praxis. Im Denken und seinen Weltdeutungen vollzieht sich die ideelle Bearbeitung der Probleme und Widersprüche der gesellschaftlichen Produktion und der sozialen Beziehungen. »Die religiöse Praxis [die mythische Weltdeutung] stellt also eine wirkliche Arbeit an den Widersprüchen dar, die durch die Struktur der Produktionsweise und der anderen sozialen Verhältnisse bestimmt sind, eine Arbeit, die eine wesentliche Bedingung ist für die Reproduktion dieser Verhältnisse, der Produktionsverhältnisse sowie der anderen sozialen Instanzen.« (Godelier, 1973/1973: 80) Dies verdeutlicht Godelier erneut am Beispiel der Mbuti-Pygmäen. Für die Mbuti ist der Wald, der Geist des Waldes, die Natur und Gesellschaft erhaltende und erneuernde Kraft. Der Geist des Waldes wirkt aus dem Zentrum des Waldes heraus, dort wo niemals gejagt werden darf, weil der Wald von dort immer wieder neu das Wild schickt, das die Mbuti-Gruppen am Leben erhält. Der Wald bestimmt aber auch die Ordnung der Gesellschaftsbeziehungen, deren Einhaltung die Fruchtbarkeit und das Überleben der Gruppen der Mbuti garantiert. »Die Religion ist daher bei den Mbuti der Ort, an dem sich auf imaginäre Weise die unsichtbare Klammer darstellt, die ihre verschiedenen sozialen Verhältnisse als ein reproduktionsfähiges Ganzes, als eine lebendige Gesellschaft in einer bestimmten Umwelt begründet. Was sich präsentiert und zugleich verhüllt in dieser Art der Darstellung und Vorstellung, […] ist nichts anderes als deren innere Basis und Form, verkleidet in die Züge und Attribute eines 164 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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allgegenwärtigen, allmächtigen und gütigen Subjekts, des Waldes.« (Godelier, 1973/1973: 17) Gerade an diesem Beispiel wird jedoch auch der ideologische Charakter der religiösen Weltdeutung sichtbar. Hier wenden sich die natürlichen Kräfte der Regeneration des Wildes und die menschlichen Kräfte der Produktion zu einem imaginären Wesen um, das der Mbuti-Gesellschaft Leben und Wohlergehen spendet und garantiert, und das daher von den Mbuti geehrt, geheiligt und angerufen wird. Zur Wirkung des dem Wald zugedachten molimo-Festes der Mbuti schreibt Godelier: »Aber auch hier wird die gesellschaftliche Praxis umgekehrt vorgestellt und auf ›fetischisierte‹ Weise erlebt, denn die wiederhergestellte Harmonie, […] der Überfluß und das Glück, die alle die Frucht der intensiveren Kooperation, der breiteren Gegenseitigkeit und der tieferen emotionalen Vereinigung sind, […] werden vorgestellt und erlebt als Wirksamkeit und Beweis der näheren Anwesenheit, der größeren Freigebigkeit des Waldes, des imaginären Wesens, das die Einheit der Gruppe und Reproduktionsbedingungen selbst personifiziert.« (Godelier, 1973/1973: 80) Mit dieser Analyse des fetischisierenden Charakters des Denkens der Mbuti will Godelier Mythos und Religion keineswegs denunzieren; im Gegenteil, es gilt vielmehr, beides strukturell zu durchschauen, will man die Mbuti-Gesellschaft verstehen: Zum einen erfüllt das mythische Denken in höchster Weise die integrierende Funktion, die produktive Aneignung der Natur und die praktischen Beziehungen der Menschen untereinander durch die bewusste Motivbildung der Individuen hindurch zu regeln und zu steuern; zum anderen wird dies aber von den Individuen als außer ihnen bestehende und regelnde Instanz erfahren und geehrt. Die Parallele zu dem, was Marx den Fetischismus des Kapitals genannt hat, wird von Godelier bewusst unterstrichen. In unserer Gesellschaft erfüllt der Fetisch des Kapitals die Funktion, die dem Walde bei den Mbuti zukommt. Obwohl das Kapital nichts anderes ist als aufgehäufte gesellschaftliche Arbeit, fungiert es als eine über das Wertgesetz unser gesamtes gesellschaftliches Leben bestimmende Instanz. (Godelier,1973/1973: 173 ff.) 14 Seine Analyse des mythischen Denkens der Mbuti beschließend schreibt Godelier: »Die Religion ist zugleich Theorie und Praxis, die Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981): 118 ff.
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auf die Nahtstelle gerichtet ist, an der sich diese sozialen Verhältnisse in ihrer Gesamtheit, die sich als solche reproduzieren muß, verbinden, und so ist die Religion gleichzeitig eine Form der Präsentation und der Präsenz dieser Naht und darüber hinaus eine Form der Einwirkung auf sie, […] die so beschaffen [ist], daß diese Naht in dem Moment, wo sie sich im Bewußtsein darstellt bzw. wo auf sie praktisch eingewirkt wird, zum Gegenstand der theoretischen Unkenntnis und zum trügerischen Ziel der praktischen Aktion wird. Zugleich anwesend und verborgen in ihrer Präsentationsweise, wird die unsichtbare Verbindung der sozialen Verhältnisse, ihr Kern und ihre innere Form, zum Ort, wo sich der Mensch entfremdet, wo sich die Verhältnisse zwischen den Menschen und zwischen den Dingen umgekehrt darstellen, fetischisiert werden.« (Godelier, 1973: 81)
2.4. Grundfragen der geschichtsmaterialistischen Kulturtheorie Die geschichtsmaterialistische Kulturanthropologie von Maurice Godelier versucht – durchweg im Anschluss an Marx –, in allen Dimensionen kulturellen Menschseins die aktive Rolle der gesellschaftlichen Praxis der handelnden Individuen herauszuarbeiten. Die Menschen sind es, die durch ihre gesellschaftliche Arbeit ihr Leben erhalten und im Laufe der Geschichte zu immer differenzierteren Formen der produktiven Aneignung der Natur finden, sie sind es auch, die ihre gesellschaftlichen Beziehungen untereinander regeln und im Laufe der Geschichte neue Formen der sozialen Organisation entwickeln, und die Menschen sind es, die im Laufe der Geschichte ihr Wissen von sich und der Welt – wenn auch naturwüchsig, d. h. gesellschaftlich bewusstlos 15 – hervorbringen. Dabei ist zu beachten, dass die drei genannten Dimensionen keine gegeneinander abgeschotteten Seinsbereiche darstellen, sondern sich wechselweise bedingen und bestimmen, denn gesellschaftliche Arbeit ist ohne die lei-
»Naturwüchsig« im Sinne von Marx meint nicht dasselbe wie »natürlich«. Bereits das naturwüchsige gesellschaftliche Handeln der Menschen unterscheidet sich von dem instinktgesteuerten Verhalten der Tiere von Anbeginn. »Der Unterschied zwischen der Geschichte und der Evolution der Natur ohne den Menschen liegt gerade darin, daß kein Tier fähig ist, die Verantwortung für die objektiven Bedingungen seiner Existenz zu übernehmen.« (Godelier, 1984/1990: 75). Vgl. Ludwig Nagl, »›Nature versus Nurture‹« (1985).
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tende Erkenntnis ebenso undenkbar wie Erkenntnis außerhalb gesellschaftlicher Kommunikation. 16 Die gesellschaftliche Praxis ist der basale und bestimmende Motor des Lebens einer jeden Gesellschaft und Kultur und durch diese hindurch für die Menschheitsgeschichte. Nun hat die gesellschaftliche Praxis die eigentümliche dialektische Struktur, dass die Menschen gesellschaftlich – keineswegs intentional, sondern »naturwüchsig« – Formen der Produktion, der Gesellschaftsorganisation und der Weltdeutung hervorbringen, die das Handeln der Individuen in einer Kultur, seine Stellung im Arbeitsprozess, seine gesellschaftliche Position, seine Selbsterkenntnis im Kultur- und Weltzusammenhang bestimmen. Obwohl selbst Produkt des gemeinsamen Handelns, werden diese hervorgebrachten Produktionsverhältnisse, sozialen Organisationsformen und Weltdeutungen von den Mitgliedern einer Kultur als sie und ihr Handeln bestimmende Gegebenheiten erfahren, denen sie sich einzufügen haben. Dies ist die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, die den Prozess der Menschheitsgeschichte bestimmt, und zwar nicht nur die archaischen Kulturen, sondern ebenso die agrarisch fundierten Hochkulturen als auch noch unsere gegenwärtige kapitalistische Weltzivilisation. Uns steht – nach Marx – noch die Aufgabe bevor, durch ein bewusstes Durchschauen und Beherrschen dieser Dialektik allererst in ein verantwortliches Gestalten der menschlichen Geschichte einzutreten. Mehrfach unterstreicht Godelier mit Recht, dass die marxsche Geschichtsdialektik keine Schematisierung des Geschichtsprozesses darstellt. Es sind erst die Vulgärmarxisten, die durch ihre Behauptung einer notwendigen Abfolge von Gesellschaftsformationen die Geschichte selbst wieder zu einem Fetisch erheben. Marx geht es vielmehr darum, die innere Dialektik in der die Menschen ihre Geschichte hervorbringen und von ihr zugleich bestimmt werden, herauszuarbeiten. »Die Geschichte ist also keine erklärende, sondern eine zu erklärende Kategorie. Marx’ allgemeine Hypothese des Vorhandenseins einer Ordnungsrelation zwischen Basis und Überbau, die in letzter Instanz das Funktionieren und die Entwicklung der Gesellschaften bestimmt, verbietet es geradezu, die spezifischen Gesetze
Karl Marx, Grundrisse: »Die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft […] ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen.« (42: 20)
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des Funktionierens und der Entwicklung der verschiedenen ökonomischen Gesellschaftsformationen, die in der Geschichte aufgetreten sind oder noch auftreten werden, von vornherein zu bestimmen.« (Godelier; 1973/1973: 13, vgl. 66). Von hier her wird deutlich, dass sich die geschichtsmaterialistische Kulturtheorie weder wie Lévi-Strauss’ strukturale Anthropologie noch wie Hegels Philosophie der Geschichte allein auf das Allgemeine der Strukturen und Prozesse bezieht, sondern sich auf die konkrete Analyse jeder einzelnen Kultur und des je bestimmten geschichtlichen Prozesses einlassen muss. Selbstverständlich bedingen die materiellen und geistigen Produktivkräfte einer bestimmten kulturellen Entwicklung bestimmte Produktionsverhältnisse, bestimmte Sozialordnungen und bestimmte Denkformen und Weltdeutungen, und – da die strukturale Logik ihrer Gestaltungsgesetze begrenzt ist – bedingen selbstverständlich die Verhältnisse, Organisationen und Formen von Gesellschaften auf gleichen kulturellen Entwicklungsstufen in ähnlicher Weise. So wird niemand bezweifeln, dass Kulturen, die durch das Jagen und Sammeln, die Verwandtschaftsverhältnisse und das »wilde Denken« des Mythos geprägt sind, sich grundlegend von der Lebensgestaltung von agrarisch fundierten Stadtstaaten mit zentralisierten religiösen Tempelkulturen unterscheiden und diese wiederum von unserer kapitalistischen Weltgesellschaft mit privatisierten Glaubensgemeinschaften. Die Ähnlichkeiten innerhalb der genannten Entwicklungsstadien ist sicherlich jeweils größer als über diese Entwicklungseinschnitte hinweg; und doch gibt es zwischen den Kulturen innerhalb dieser Entwicklungsstadien unendliche Variationsmöglichkeiten und auch die Übergänge von einer zur anderen Gesellschaftsformation sind keineswegs entwicklungsmechanistisch vorausbestimmt. Daher kann die theoretische Ethnologie niemals über die ethnographischen und kulturgeschichtlichen Forschungen hinweg, sondern nur durch sie hindurch zu einem Gesamtverständnis des kulturellen Menschseins gelangen.
3.
Differenzierende Gegenüberstellung
Abschließend sei nochmals die grundlegende Differenz zwischen der strukturalen Analyse bei Lévi-Strauss und Godelier thematisiert. Lévi-Strauss interessiert sich für die Logik der Strukturen selbst, die 168 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Differenzierende Gegenüberstellung
– ewig gleichbleibend und überall auffindbar – das menschliche Leben in ihren mannigfaltigen kulturellen Erscheinungsformen bestimmt. Demgegenüber richtet sich das Interesse von Godelier auf das kulturprägende Handeln der Menschen, das sich durch die selbst hervorgebrachten Strukturen hindurch am Werk zeigt. Diese Differenz sei hier zweifach am Stellenwert des Denkens und am Praxisbezug der Kulturtheorie konkretisiert: 1. In seinem Beitrag »Mythos und Geschichte. Reflexionen über die Grundlage des wilden Denkens« thematisiert Godelier die Differenz zwischen Lévi-Strauss’ und seiner eigenen Interpretation des mythischen Denkens. Er deutet dabei an, dass zwischen der »Logik der Analogie«, wie sie Lévi-Strauss am Mythos herausarbeitet, und der strukturalen Methode, wie er sie selber betreibt, eine Affinität besteht, an der sich Größe und Grenzen der theoretischen Ethnologie von Lévi-Strauss aufzeigen lassen. Die strukturale Affinität lässt sich auf drei Punkte verdichten: »a) Es ist selbstverständlich, daß jede Mythologie sich als geschlossenes System ohne Anfang und Ende zu konstituieren versuchen wird. ›Die Erde der Mythen ist rund‹, sagt Claude Lévi-Strauss, und zugleich ›ist sie hohl‹ [Lévi-Strauss, 1966/ 1972: 9, 255, 275]. Von da aus drängen sich die eigentlichen Prinzipien der strukturalen Methode dem Verständnis geradezu auf […]. b) Analytisch und synthetisch in eins, auf einer vergangenen, aber noch immer lebendigen Geschichte zurückweisend, auf die verjährte und doch auf ewig präsente Genesis der Existenzberechtigung der gegenwärtigen Ordnung des Universums, kann das mythische Denken nur als zeit-loses Denken auftreten […]. c) Aufgrund seiner Fähigkeit, seine Vorstellungen zu klassifizieren, sie ineinander zu transformieren und sie in einem System zu totalisieren, bedient sich das analogische Denken bei der Produktion von Mythen also formaler und operativer Regeln, die das Äquivalent einer Algebra voraussetzen, [… die] alle Objekte eines Bereichs in einem Bezugssystem zusammenzufassen erlaubt, in dem sie gegeneinander austauschbar sind.« (Godelier, 1973: 304 f.) Diese Charakteristika des mythischen Denkens auf die strukturale Methode von Lévi-Strauss zurückbezogen, offenbaren das Erkenntnisinteresse seines Strukturalismus: »Was die Analyse der Mythen enthüllt, ist – jenseits des Denkens der Wilden – das Denken ›im wilden Zustand‹ ! In diesem Sinne ist das Denken im wilden Zustand nicht historisch oder wenigstens transhistorisch.« (Godelier, 1973/ 1973: 306) Ohne Zweifel gelingt es Lévi-Strauss durch seine struk169 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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turale Analyse der Mythen, die Formen analogischer Oppositionsbildungen und Verhältnisbeziehungen sowie von Transformationen freizulegen, die auch noch die Grundformen des eigenen Erkenntnisansatzes sind. Aber dies kann doch nur die eine Seite der uns wissenschaftlich aufgegebenen Problemstellung sein, denn neben der »Tatsache, daß das Denken seiner formalen Struktur nach sich in der Geschichte gleichbleibt«, gilt es doch auch, die Tatsache zu erklären, »daß Ideen und der Fortschritt des Erkenntnisbestandes einem geschichtlichen Wandel unterliegen.« (Godelier, 1973/1973: 307) Es kann doch nicht übersehen werden, dass in jedem Mythos – wie auch in der eigenen Wissenschaft – eine bestimmte Sinndeutung der Welt vorliegt, durch die er auf eine konkrete Problemstellung einer Kultur Antwort zu geben versucht, und dass darüber hinaus alle mythischen Sinndeutungen – ja die Denkformen selbst (Hegel, Schelling, Cassirer) – einen durch die menschliche Erfahrung vorangetriebenen geschichtlichen Entwicklungsprozess durchmachen. Alles Denken gehorcht nicht nur einer zeitlosen Strukturlogik, sondern es erfüllt auch die gesellschaftliche Aufgabe der Problembewältigung, ja mehr noch, es ist selbst Teilmoment der menschlichen Praxis, die die geschichtlichen Veränderungen vorantreibt. »Schließlich muß man, um die Besonderheit des mythischen Denkens und seine Entstehungs- und Verfallsbedingungen in der Geschichte zu erfassen, also die Beziehungen zwischen Mythen, Gesellschaft und Geschichte zu denken, die Existenzberechtigung und die Notwendigkeit der vielfachen Bewegung der Geschichte wissenschaftlich ausloten, einer Geschichte, die dem menschlichen Denken, das sich selbst im Wesentlichen gleichbleibt, neue Denkinhalte aufgibt.« (Godelier, 1973/1973: 311) 2. Damit berühren wir aber bereits den letzten Punkt unserer Problemanalyse, nämlich die Frage des differierenden Selbstverständnisses von strukturalistischer Anthropologie und geschichtsmaterialistischer Kulturtheorie. Für Lévi-Strauss ist die strukturale Ethnologie eine rein theoretische Disziplin, eine »Arbeit am Schreibtisch«, die versucht, eine alle menschliche Kulturen umfassende Globalwissenschaft zu sein, indem sie die ewig gleichbleibenden logischen Strukturen und Formen der kulturellen Phänomenbereiche aufdeckt. Demgegenüber wendet sich die geschichtsmaterialistische Kulturtheorie, obwohl sich ebenfalls als theoretische und globale Ethnologie verstehend, der Analyse der konkreten Kulturen und ihrer Geschichte zu: »Eine Wissenschaft steht […] auf der Tagesordnung, […] die 170 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Differenzierende Gegenüberstellung
gleichzeitig vergleichende Theorie der gesellschaftlichen Verhältnisse und Erklärung der konkreten Gesellschaften, die in der irreversiblen Zeit der Geschichte aufgetaucht sind, sein wird; diese Wissenschaft, die Geschichte, Anthropologie, politische Ökonomie, Soziologie und Psychologie miteinander verbindet, wird ebenso das sein, was die Historiker unter Universalgeschichte verstehen, wie das, was die Anthropologen unter dem Begriff der allgemeinen Anthropologie im Auge haben und anstreben.« (Godelier, 1973/1973: 41) Aber dies reicht zur Kennzeichnung der geschichtsmaterialistischen Kulturanthropologie nicht aus, denn da sie alles Denken als eingebunden in die gesellschaftliche Praxis versteht, muss sie sich selbst – ganz im Sinne von Karl Marx – in eine praktische Aufgabe gestellt sehen. Ihre theoretische Arbeit weiß sich der uns aufgegebenen Praxis in zweifacher, sich wechselseitig bedingender Weise verpflichtet, zum einen der Praxis der von ihr erforschten Kulturen und zum anderen der eigenen Praxis des sinnbestimmten Menschseins: Die Ethnologie kann sich nicht der »Doppeldeutigkeit« und dem »Widerspruch« entziehen, dass sie sich »der gedanklichen Rekonstruktion von gesellschaftlichen Lebensweisen widmet, die von ihrer eigenen Gesellschaft transformiert und zerstört werden […]. Dieser Widerspruch macht deutlich, daß der Anthropologe paradoxerweise enger und dramatischer in die Widersprüche der laufenden, der lebendigen Geschichte verwickelt ist als der Historiker, der eine abgeschlossene Vergangenheit studiert […]. Der Anthropologe ist also unausweichlich engagiert und dazu verpflichtet, in der Geschichte Partei zu ergreifen, die Transformationen der Gesellschaften, die er studiert, zu rechtfertigen oder zu kritisieren und über diese Gesellschaften seine eigene Gesellschaft, die im wesentlichen diese Transformationen aufzwingt, zu rechtfertigen oder zu kritisieren.« (Godelier, 1973/1973: 39) Dieses dem Ethnologen abverlangte Rechtfertigen oder Kritisieren ist aber selbst wiederum nicht seiner Dezision überlassen, sondern kann nur aus dem sittlich-emanzipativen Horizont der »menschliche[n] Gesellschaft oder [der] gesellschaftliche[n] Menschheit« (Marx, 3: 7) gewonnen werden, der sich eine geschichtsmaterialistische Kulturanthropologie verpflichtet weiß. Da sie die menschliche Kultur und die menschheitliche Kulturgeschichte aus der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis begreift, kann ihre Parteinahme immer nur eine solche sein, die es den Menschen ermöglicht,
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Strukturale Ethnologie und geschichtsmaterialistische Kulturanthropologie
bewusste Subjekte ihrer eigenen geschichtlichen Praxis zu werden. (Godelier, 1973: 198) 17 Die geschichtsmaterialistische Kulturanthropologie kann daher ihr letztes Selbstverständnis nicht im rein theoretischen Erkennen haben, sondern weiß sich – ganz im Sinne der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Karl Marx – verantwortlich in die geschichtliche Aufgabe menschlicher und menschheitlicher Praxis einbezogen: »Hier wurde aufs neue […] die Frage nach den Gesellschaften und ihrer Geschichte gestellt […]. Eine in dieser Weise gestellte Frage erfordert nicht nur […] das Vorantreiben der wissenschaftlichen Analyse dieser Gründe und dieser Widersprüche. Immer muß die Aktion hinzukommen, die Aktivität der praktischen Vernunft, die gegen die Geschichte für die Geschichte kämpft und es ablehnt, sie zum Schicksal werden zu lassen.« (Godelier, 1973: 19)
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999).
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6. Kultur – symbolische oder praktische Vernunft? Eine Verteidigung von Karl Marx gegen Marshall Sahlins 1
In Kultur und praktische Vernunft (1976) unternimmt Marshall Sahlins den eindrucksvollen Versuch der Grundlegung einer Theorie der Kultur aus der symbolischen Vernunft. Der Hauptkontrahent, gegen den er sich dabei absetzt, ist Marx, und zwar nicht im zweiten oder dritten Aufguss, sondern Sahlins bemüht sich, die marxsche Theorie – bemerkenswert für die amerikanische Diskussion – direkt in ihrer philosophischen Substanz darzustellen, zu diskutieren und zu kritisieren. Allerdings schleicht sich hierbei – um einen Haupteinwand gleich vorwegzunehmen – schon im Titel ein begriffliches Missverständnis ein, das durch die Rückübersetzung ins Deutsche nochmals verwirrend verstärkt wird. Unter »praktischer Vernunft« verstehen wir seit Kant die moralische, die sittliche Vernunft, und diese sittliche Dimension ist auch dort überall angesprochen, wo Marx im Anschluss an Hegel von »Praxis« spricht. »Practical reason« aber meint bei Sahlins – wie es auch öfters rückübersetzt wird – die »ökonomisch-interessierte Vernunft« oder die Pragmatik des instrumentellen Handelns. Ganz in diesem Sinne geht es Sahlins darum – wie er im Schlusskapitel ausdrücklich unterstreicht –, zu zeigen, dass die Kulturen nicht in der Dimension der »Nützlichkeit«, sondern in »symbolischen Ordnungen« konstituiert sind. Dies aber ist ein Grundgedanke, den Marx und der kritische Marxismus voll unterstützen, denn als sittliche Dimension ist die Praxis natürlich immer symbolisch vermittelt. Die kritische Stoßrichtung der marxschen Theorie zielt ja gerade gegen die gegenwärtig vorherrschende ökonomische Bestimmtheit menschlicher Praxis und auf eine befreiende Veränderung in Richtung auf eine solidarische Neugestaltung menschlichen ZusammenHervorgegangen aus einer Rezension des Buches von Marshall Sahlins, Kultur und praktische Vernunft (1981), in: Anthropos 78, 1/2 (1983): 273 ff., unter dem obigen Titel als erweiterter Artikel erschienen in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Dirk Stederoth (Hg.), Kultur – Theorien. Annäherungen an die Vielschichtigkeit von Begriff und Phänomen der Kultur, (Kasseler Philosophische Schriften 29), Kassel: kassel university press 1993.
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lebens. Bevor jedoch diese grundsätzlichen Fragen weiter geklärt werden können, sollten Gedankengang und Argumentationslinie des Buches von Marshall Sahlins näher dargestellt werden. Im ersten der fünf Kapitel von Kultur und praktischer Vernunft greift Sahlins die Diskussion zwischen »Marxismus und zwei strukturalistischen Richtungen« in der britischen und französischen Ethnologie auf und artikuliert seine ernsten »Zweifel an der Eignung der materialistischen Dialektik« (Sahlins, 1976/1981: 13) zur wissenschaftlichen Bestimmung von Stammesgesellschaften, da diese die symbolisch vermittelte »gesellschaftliche Produktionslogik der instrumentellen Logik der Arbeit« unterordne (Sahlins, 1976/1981: 15). Dies aber widerspricht ganz offensichtlich der dominant verwandtschaftlichen Verfasstheit der Stammesgesellschaften, wie Sahlins näher an der Kontroverse innerhalb der britischen Sozialanthropologie zwischen Peter Worsley (Die Posaune wird erschallen. ›Cargo‹-Kulte in Melanesien, engl. 1957) und Meyer Fortes (Ödipus und Hiob in westafrikanischen Religionen, engl. 1959) darlegt. Während Meyer Fortes ausdrücklich hervorhebt: »Die Verwandtschaft liefert demnach den Rahmen für das gesamte Gesellschaftssystem« (zit. n. Sahlins, 1976/1981: 17), ist Peter Worsley gezwungen, diese strukturierende Einheit in die »verborgenen« Teilsysteme der Ökonomie, Politik, des Rituals etc. zu zerlegen, um seine materialistische These überhaupt vortragen zu können, dass die Ökonomie das in letzter Instanz bestimmende System auch der Stammesgesellschaften sei. Dabei kommt es zu grotesken Verrenkungen, wenn Worsley beispielsweise bestimmte, verwandtschaftlich geregelte Segmentierungsprozesse auf ökonomische Interessen zurückführen will und überhaupt aus technischen Bedingungen des Arbeitsprozesses den Inhalt von Verwandtschaftsbeziehungen (Sahlins, 1976/1981: 21) abzuleiten versucht. Trotzdem gibt Sahlins auch Meyer Fortes nicht eindeutig recht, denn bereits in diesem Ansatz des »britischen Strukturalismus« steckt von Radcliffe-Brown und Malinowski her noch sehr viel Nützlichkeits-Ideologie (Sahlins, 1976/1981: 29 ff.). Deshalb wendet sich Sahlins dem französischen Strukturalismus zu, da dieser sehr viel entschiedener von der »Dominanz der kulturellen Konzepte über das praktische Handeln« (Sahlins, 1976/1981: 36) ausgeht. Der französische Strukturalismus kann überzeugend aufzeigen, dass jedem System oder Teilsystem eine »Logik« zugrunde liegt; es gibt keine naturhaft determinierte »ökonomische Basis«, sondern auch diese »ist ein 174 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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symbolisches Schema der praktischen Tätigkeit […]. Sie ist die Realisierung einer gegebenen bedeutungsvollen Ordnung in den Verhältnissen und Zweckbestimmungen der Produktion«, und nicht umgekehrt. (Sahlins, 1976/1981: 61 f.) Nun sind die französischen Marxisten unter den Ethnologen keine ökonomischen Reduktionisten wie ihre britischen Kollegen, sondern auch sie erkennen diese strukturalistischen Einsichten an, versuchen jedoch darüber hinaus, die Geschichte als Dimension gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion von Strukturen zusätzlich in die Diskussion zu bringen. Darin ist ihnen voll zuzustimmen – wie Sahlins mit Blick auf Maurice Godelier (Ökonomische Anthropologie, 1973) ausführt –, jedoch gehen sie letztlich dort zu weit, wo sie – wie nach Sahlins bereits Marx – die kulturellen Strukturen aus dem Geschichtsprozess ableiten wollen, denn dadurch wird im letzten ungeschichtlich die Kultur aus der Naturgeschichte abgeleitet. (Sahlins, 1976/1981: 77 f.) Dies alles zeigt, dass der historische Materialismus – wie Sahlins meint – sicherlich nicht die geeignete Grundlagentheorie für das Verständnis primitiver Gesellschaften sein kann; ob er es für die gegenwärtige bürgerliche Kultur zu sein vermag, muss später noch entschieden werden. Im zweiten Kapitel »Kultur und praktische Vernunft – Zwei Paradigmen der ethnologischen Theorie« durchstreift Marshall Sahlins systematisch die Geschichte der ethnologischen Theoriebildungen und zeigt auf, dass dabei immer wieder die utilitaristische und die kulturelle Begründung einander entgegenstehen. Der Gegensatz beginnt bei Lewis H. Morgan (Die Urgesellschaft, engl. 1877), für den der Symbolcharakter der Kultur überhaupt noch keine Rolle spielt; deshalb gibt es für ihn einen linearen Übergang von der biologischen in die kulturelle Evolution. Obwohl theoretisch noch nicht untermauert, geht doch Franz Boas in seinen ethnologischen Forschungen (Race, Language, and Culture, 1940) immer schon von der bestimmten kulturellen Einheit jeder einzelnen Gesellschaft aus und erkennt somit implizit die symbolische Sphäre der Kultur an als das das Handeln der Individuen Prägende; aber auch er versucht, die kulturellen Unterschiede aus der Lebenspragmatik zu erklären. Die Fortentwicklung, Radikalisierung und Verknüpfung dieser Ansätze bei Bronislaw Malinowski, George P. Murdock, Julian H. Steward und Leslie A. White 2 wird von Marshall Sahlins weiter ver2
Bronislaw Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (engl. 1944);
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folgt – worauf hier nicht weiter eingegangen werden kann. Zusammenfassend sei mit Sahlins nur festgehalten: »Allen diesen Formen von praktischer Vernunft ist außerdem eine verarmte Auffassung von menschlichem Symbolisieren gemeinsam. Für sie alle ist das kulturelle Schema das Zeichen für andere ›Wirklichkeiten‹ […]. Keinem gelang es wirklich, jener anthropologischen Entdeckung auf den Grund zu gehen, wonach das Hervorbringen von Bedeutungen die unterscheidende und konstituierende Eigenschaft des Menschen ist.« (Sahlins, 1976/1981: 150) Anders geht die französische Ethnologie seit Emile Durkheim (Die Regeln der soziologischen Methode, fr. 1895) immer von der Gesellschaftlichkeit menschlicher Kultur aus, und dieser Ansatz setzt sich mit Modifikationen ebenso bis in den Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss (Strukturale Anthropologie, fr. 1958) fort, wie er sich auch in den an Marx anknüpfenden strukturalen Materialisten (Maurice Godelier, Ökonomische Anthropologie, fr. 1973) wiederfindet. Aber das Paradoxe dieser Ansätze ist, dass ihnen im letzten die Gesellschaft zu einer natürlichen Größe wird, da sie sie nicht aus der symbolischen und kulturellen Vernunft begründen. Dies versucht Sahlins nun im dritten Kapitel »Ethnologie und zwei marxistische Richtungen« in direkter Auseinandersetzung mit Marx herauszuarbeiten. Geht man auf die philosophisch-anthropologische Grundlegung des jungen Marx in den Pariser Manuskripten (1844; Marx, 40: 465 ff.) zurück, so entdeckt man bei Marx einen kulturellen Praxisbegriff, der keineswegs aus der menschlichen Natur und Bedürftigkeit abgeleitet ist, sondern vielmehr ausdrücklich hervorhebt: »Unsere Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus der Gesellschaft; wir messen sie daher an der Gesellschaft« (Marx, zit. n. Sahlins, 1976/1981: 192). Hierin nun – so betont Sahlins – »muß der moderne Ethnologe in Marx einen anthropologischen Bruder erkennen.« (Sahlins, 1976/1981: 194) Jedoch – so fährt Sahlins fort – anstatt nun die symbolische Logik herauszustellen, die aller Kultur zugrunde liegt, bezieht Marx alles auf »die rationale und materielle Logik der effektiven Produktion« zurück; damit wird das »Marxsche Paradigma« die »Umkehrung des Kulturellen«, d. h. der »Kulturbegriff erscheint als Folge und nicht als Struktur der produktiven Tätigkeit.« (Sahlins, 1976/1981: 194) So wird bezeichnenderweise George P. Murdock, Social Structure (1949); Julian H. Steward, Theory of Culture Change (1955); Leslie A. White, The Science of Culture (1949).
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»die Sprache« bei Marx auf »die Rationalität der Praxis« zurückgeführt, und ausdrücklich wird von Marx »die Ideenformation aus der materiellen Praxis« erklärt (Marx, zit. n. Sahlins, 1976/1981: 200). Schließlich – so fasst Sahlins seine negative Beurteilung der marxschen Theorie zusammen – »wird Marxens pragmatische Auffassung der Bedeutung im Kontext der konkreten Analyse der Gesellschaftsordnung positiviert und funktionalisiert. Sowohl die Kategorien wie auch die Produktionsverhältnisse verkörpern die instrumentelle Logik eines bestimmten Stands der Produktivkräfte, eine Logik, die noch eine weitere Reinkarnation kennt, nämlich als funktionelle Ideologie zur Unterstützung bestimmter Formen der Klassenherrschaft.« (Sahlins, 1976/1981: 198) Da Marx die »Einzigartigkeit von bedeutungsvoller Erfahrung« des Menschen, die symbolische Vernunft alles Kulturellen, nicht durchschaut – wie M. Sahlins meint – und daher im letzten alle geschichtlich-gesellschaftlichen Formen auf die materielle Lebenspraxis zurückbezieht, muss er als »vorsymbolischer Theoretiker« der Kultur bezeichnet werden (Sahlins, 1976/1981: 204). Trifft dies zu, so kann seine Theorie auch nicht Grundlage der wissenschaftlichen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft sein, wie Marshall Sahlins nun im vierten Kapitel »La pensée bourgeoise – Die westliche Gesellschaft als Kultur« herauszuarbeiten versucht. Es lässt sich leicht zeigen – so meint Sahlins –, dass auch die Produktion in den westlichen Gesellschaften nicht in der praktischen Logik des instrumentellen Handelns aufgeht, sondern dass jene vielmehr symbolisch-kulturell bestimmt ist. Dies versucht Sahlins an »Speisetabus« gegenüber bestimmten Haustieren und am »amerikanischen Bekleidungssystem« zu demonstrieren. Da sich diese kulturellen Verhaltensregeln einerseits niemals aus der kapitalistischen Produktion ableiten lassen, sich aber andererseits als prägend in der Bekleidungsindustrie durchsetzen; daher glaubt Sahlins, theoretisch schlussfolgern zu können, dass »die materielle Aneignung der Natur, die wir ›Produktion‹ nennen, eine Folge ihrer symbolischen Aneignung« ist. (Sahlins, 1976/1981: 276) Im letzten Kapitel »Nützlichkeit und kulturelle Ordnung« hebt er dann nochmals hervor, dass Marx zwar zu Recht auf die gesellschaftlichen Kräfte verweise, die eine Kultur prägen, dabei aber zu Unrecht die symbolischen Kräfte den instrumentellen unterordne. (Sahlins, 1976/1981: 290) Es sei vielmehr leicht zu erkennen: »Eine industrielle Technik als solche schreibt nicht vor, ob sie von Männern 177 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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oder von Frauen betrieben wird, bei Tag oder bei Nacht, von Lohnarbeitern oder Kollektiveigentümern, dienstags oder samstags, um des Profits willen oder für den Unterhalt«. (Sahlins 1976/1981: 292) Vielmehr könne gezeigt werden, dass all diese konkreten Bestimmtheiten im kulturellen Leben einer Gesellschaft »durch die Bedeutung« (Sahlins, 1976/1981: 289), durch das »symbolische Schema« seiner Tradition und deren Abänderung hervorgebracht werden. Die »Produktivität symbolischer Prozesse« (Sahlins, 1976/1981: 298) lasse sich jedoch nur durch eine symbolisch orientierte Kulturanthropologie erfassen, die daher nicht nur die primitiven Gesellschaften, sondern ebensowohl die modernen Industrienationen mit ihren Methoden zu erforschen habe. Die Schwächen der letzten Kapitel offenbaren das grundsätzliche Missverständnis Sahlins gegenüber der marxschen Theorie – in dem er jedoch keineswegs allein steht, denn zu Recht kann er sich auf das Gros der Marx-Kritiker und Marx-Nachfolger berufen, die es auch nicht besser wissen. Der Hauptmangel liegt erstens, wie eingangs bereits angedeutet, darin, dass Marshall Sahlins den Begriff der »gesellschaftlichen Praxis« bei Marx auf die Pragmatik der Lebenserhaltung reduziert und ihn damit von vornherein von der sittlichen und damit symbolischen Komponente reinigt, danach Marx aber vorwirft, dass er auf das Symbolische zu wenig geachtet habe. Diese sittliche Dimension kommt insbesondere in der Kritik der politischen Ökonomie 3 zum Ausdruck, denn es geht Marx nicht – wie einigen Vulgär-Marxisten danach – um den Aufweis, dass alles menschliche Leben aus der Ökonomie bestimmt sei, sondern gerade um die Kritik daran, dass in der bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung verkehrte Verhältnisse über die Menschen herrschten, wogegen es nun darauf ankomme, dass die Menschen sich aus dieser Verkehrung revolutionär befreien; dies ist es, was Marx die »menschliche Emanzipation« nennt: »In der gegenwärtigen Epoche hat die Herrschaft der sachlichen Verhältnisse über die Individuen, die Erdrückung der Individualität durch die Zufälligkeit, ihre schärfste und universellste Form erhalten und damit den existierenden Individuen eine ganz bestimmte Aufgabe gestellt. Sie hat ihnen die Aufgabe gestellt, an die Stelle der Herrschaft der Unter der Kritik der politischen Ökonomie werden sämtliche Veröffentlichungen und Manuskripte von Marx ab 1858 verstanden, die im Haupttitel oder im Untertitel auf die Kritik der politischen Ökonomie verweisen.
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Verhältnisse und der Zufälligkeit über die Individuen die Herrschaft der Individuen über die Zufälligkeit und die Verhältnisse zu setzen.« (Marx/Engels, 3: 424) Zweitens kann sich Sahlins nur linear-abhängige Beziehungen vorstellen: Entweder determiniert die Ökonomie die Kultur – so interpretiert er Marx – oder die Kultur bestimmt die Ökonomie – so versucht er selbst, das Verhältnis zu definieren. Karl Marx bemüht sich jedoch gerade, dieses Verhältnis dialektisch zu bestimmen, wenn er beispielsweise betont, dass die Produktion das Übergreifende sei über sich und alle anderen konstitutiven Momente menschlicher Lebenspraxis, also auch über die sozialen Beziehungen, die Sprache usw.; jedoch gleich fortfährt, dass diese Momente wiederum die Produktion in ihrer inhaltlichen Form mitbestimmen: »Das Resultat, wozu wir gelangen, ist […], daß sie alle Glieder einer Totalität bilden, Unterschiede innerhalb einer Einheit. Die Produktion greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung der Produktion, als über die andren Momente. Von ihr beginnt der Prozeß immer wieder von neuem. […] Eine bestimmte Produktion bestimmt also […] bestimmte Verhältnisse dieser verschiednen Momente zueinander. Allerdings wird auch die Produktion, in ihrer einseitigen Form, ihrerseits bestimmt durch die andren Momente.« (Marx, 42: 34) Dabei darf der Begriff »Produktion« nicht einfach mit Ökonomie gleichgesetzt werden, sondern er bezeichnet die hervorbringende Praxis, so wie ja auch Sahlins mehrfach von »symbolischer Produktivität« oder von der »Produktion einer kulturellen Existenz« spricht. Niemand kann leugnen, dass die Sprache und die sozialen Verhältnisse wie auch die Produktionsformen im engeren Sinne durch gesellschaftliche Praxis hervorgebracht sind, wobei aber die gesellschaftliche Praxis ihrerseits nicht eine Naturgegebenheit darstellt, sondern in ihrer geschichtlichen Formbestimmtheit selbst durch Sprache und soziale Beziehungen geprägt ist. Drittens rennt Marshall Sahlins offene Türen ein, wenn er – in oben angeführtem Zitat – betont, dass die »industrielle Technik als solche« (Sahlins, 1976/1981: 292) nichts determiniert, weder die Lohnarbeit noch das Profitinteresse des Kapitals usw. Denn zum einen baut ja Marx gerade darauf seine Hoffnung auf, dass wir durch eine revolutionäre Umwälzung der wertbestimmten Logik des Kapitals, jedoch ohne Destruktion kultureller Reichtümer zu einer freien und solidarischen Bestimmung menschlichen Zusammenlebens, befreit von Lohnarbeit und Profitmechanismen, kommen können: »In 179 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (Marx, 19: 21) Zum anderen aber unterschätzt Sahlins doch sehr die herrschenden ökonomischen Reproduktions- und Akkumulationsmechanismen. Es hat etwas Rührendes an sich, wenn er der marxschen Analyse der Wertgesetze des Kapitals gegenüber auf die kulturelle Geprägtheit des »amerikanischen Bekleidungssystems« verweist – so als würde die kapitalistische Produktion nicht von der Logik des Wertgesetzes, sondern von den Moden und Wünschen der Konsumenten bestimmt. Marx hat niemals bestritten, dass der Kapitalismus in verschiedenen Ländern auch in unterschiedlichem Kolorit erscheinen kann, aber das ihn bestimmende Wertgesetz bleibt doch überall dasselbe. »Der kapitalistische Produktionsprozess reproduziert also durch seinen eigenen Vorgang die Scheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeitsbedingungen. Er reproduziert und verewigt damit die Exploitationsbedingungen des Arbeiters. […] In der Tat gehört der Arbeiter dem Kapital, bevor er sich dem Kapitalisten verkauft. Seine ökonomische Hörigkeit ist zugleich vermittelt und zugleich versteckt durch die periodische Erneuerung seines Selbstverkaufs […]. Der kapitalistische Produktionsprozeß […] produziert also nicht nur Waren, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der anderen den Lohnarbeiter.« (Marx, 23: 603 f.) Über die Missverständnisse hinweg lässt sich jedoch auch sehr viel Gemeinsames im Grundanliegen der Kulturtheorie von Sahlins und der Gesellschaftstheorie von Marx auffinden. So geht es Sahlins letztlich um den Aufweis, dass nichts an Kulturellem direkt aus der Natur und den Bedürfnissen des Menschen abgeleitet werden kann, sondern alles, auch die ökonomische Lebenserhaltung, immer symbolisch-kulturell überformt ist. Nichts anderes hatte Marx bereits herausgearbeitet, wenn er von der geschichtlichen Formbestimmtheit jeder Gesellschaft spricht. Nur dass Marx stärker hervorhebt, dass 180 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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diese (symbolische) Formbestimmtheit sich in die gesellschaftliche Praxis eingräbt und daher nicht nur das Bewusstsein der Individuen, sondern die Strukturiertheit des gesamten gesellschaftlichen Zusammenlebens prägt; weshalb diese oftmals leidvoll und als Widerspruch erfahrene Formbestimmtheit der Gesellschaft nicht individuell, sondern nur gemeinsam von der Mehrheit der Individuen überwunden und verändert werden kann. Trotz meiner grundsätzlichen Kritik an fundamentalen Missverständnissen gegenüber der marxschen Theorie ist das Buch Kultur und praktische Vernunft von Marshall Sahlins ein ungemein anregender Grundlegungsversuch einer Theorie der Kultur, der in seinen Auseinandersetzungen mit verschiedenen ethnologischen Kulturtheorien, inklusive der strukturalistischen und marxistischen Ansätze, ein gegenüber der bisherigen Theoriediskussion in Amerika erstaunlich differenziertes Niveau erreicht. Es wäre zu hoffen, dass dieser Versuch auch die deutschsprachige Ethnologie wieder zu kulturtheoretischen Auseinandersetzungen ermuntere, wobei die bei uns fortgeschrittenere philosophische Rezeption der marxschen Theorie verhindern sollte, Marx auf die primitiven Marxismen seiner Nachfolger und deren Gegner zu reduzieren; denn die marxsche Gesellschaftstheorie ist nach Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) der umfassendste Grundlegungsversuch einer Theorie menschlicher Kultur und ihrer Geschichte, deren Anregungen zur weiteren ethnologischen Forschung noch lange nicht ausgeschöpft sind. Es ist das Paradoxon der Arbeit von Marshall Sahlins, dass seine kritische Abgrenzung von der marxschen Theorie zugleich doch deren Anliegen ein Stück weiter voranbringt, und zwar gerade in Aussagen, von denen er irrtümlicherweise meint, sie seien gegen Marx gerichtet: »Aus einer Reihe von ›materiellen Kräften‹ kann niemals eine kulturelle Form abgelesen werden, als ob das Kulturelle die abhängige Variable einer unvermeidlichen praktischen Logik wäre. […] Das bedeutet nicht, daß wir eine idealistische Lösung annehmen und Kultur als etwas auffassen müßten, das sich in der dünnen Luft der Symbole bewegt. Die materiellen Kräfte und Zwänge werden nicht etwa außer acht gelassen, und es wird auch nicht behauptet, daß sie auf die kulturelle Ordnung keine wirklichen Auswirkungen hätten. Es handelt sich vielmehr darum, daß diese Auswirkungen nicht aus dem Wesen der Kräfte herausgelesen werden können, da die materiellen Auswirkungen von der kulturellen Umgebung abhängen. Ge181 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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rade die Form, in der die materiellen Kräfte gesellschaftlich auftreten, ist durch ihre Integration in das kulturelle System determiniert.« (Sahlins, 1976/1981: 289 f.) Wie sagt doch Marx ganz im Sinne von Sahlins – oftmals mechanistisch missverstanden – in der sechsten »These ad Feuerbach«: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (Marx, 3: 6)
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Interkulturelle Philosophie
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7. Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie 1
Seit rund 25 Jahren spricht man in zunehmendem Maße von einer »Interkulturellen Philosophie« und doch ist noch vieles über Aufgaben und Grenzen dieser neuen Fragestellung ungeklärt. Sicherlich stellt die Interkulturelle Philosophie kein neues inhaltliches Themengebiet der Philosophie dar, wie etwa die Naturphilosophie bzw. Sozialphilosophie. Auch ist darunter keine bestimmte methodische Vorgehensweise zu verstehen wie beispielsweise die hermeneutische, phänomenologische oder die dialektische Philosophie. Vielmehr liegt es wohl am nächsten sie als das synchrone Pendant zur diachronen Philosophiegeschichte anzusehen. Ihre Aufgabe ist daher die Erforschung des gleichzeitigen Nebeneinanders verschiedener Philosophietraditionen in unterschiedlichen Kulturräumen. Es handelt sich also um eine Komparatistik von Denktraditionen, die ihre Differenzen und ihre Gemeinsamkeiten herausarbeitet, mit dem Ziel, sie miteinander ins Gespräch zu bringen. 2 Der Grundgedanke der Interkulturellen Philosophie ist die mit der Globalisierung unserer Lebenszusammenhänge einhergehende Einsicht und Anerkennung, dass es neben der europäischen Tradition der Philosophie auch andere Denktraditionen gibt wie beispielsweise die indische und die chinesische Philosophie, die islamisch-arabische Philosophie im Mittelalter, die neuzeitlichen autochthonen oder synkretistischen Traditionsbildungen der lateinamerikanischen oder der Vortrag gehalten im Arbeitskreis »Interkulturelles Philosophieren: Theorie und Praxis« des Instituts für Wissenschaft und Kunst«, Wien am 26. März 2015, in erweiterter Fassung erschienen in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 35, Wien 2016: 123 ff. – hier um Teilabschnitte gekürzt und um einen Anhang »Es gibt nur eine Vernunft. Thesen zu Entstehung und Überwindung eines interreligiösen Konflikts« (2002) erweitert. 2 Die Synthese dieser Komparatistik von Philosophietraditionen und der dazugehörigen Philosophiegeschichten wäre dann die geographisch-historische Zusammenschau der Geschichte der Weltphilosophie, wie sie Elmar Holenstein in seinem PhilosophieAtlas. Orte und Wege des Denkens (2004) skizziert. 1
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
afrikanischen Philosophie. Natürlich waren diese anderen Traditionen innerhalb der abendländischen Philosophietradition bereits seit jeher bekannt, schon Platon spricht beispielsweise voll Anerkennung vom philosophischen Wissen der Ägypter, aber im allgemeinen Bewusstsein sowie in Lehre und Forschung wurden sie – wenn überhaupt – nur als Vorgeschichts- oder Randphänomene wahrgenommen. Erst im Laufe der neuzeitlichen Philosophie werden die außereuropäischen Denktraditionen schrittweise systematisch in den Blick genommen, 3 beginnend mit der Hereinnahme fremder Denktraditionen in die Vorgeschichte abendländischen Denkens in Hegels Geschichte der Philosophie 4 oder in Schellings Philosophie der Mythologie 5, weiter die vergleichende Problemstellung, wie sie Wilhelm von Humboldt in seiner Sprachphilosophie 6 aufwirft und wie sie Ernst Cassirer in den ersten Bänden seiner Philosophie der symbolischen Formen 7 weiterführt bis hin zu Karl Jaspers’ gleichberechtigter Einbeziehung chinesischer und indischer Denker in seine Darstellung der Großen Philosophen 8 sowie schließlich dem heutigen Versuch eines Polylogs, wie er seit 20 Jahren mit der gleichnamigen Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren unternommen wird. 9 Trotz dieser fortschreitenden Öffnung für die Fragestellung einer Interkulturellen Philosophie kann nicht übersehen werden, dass der Widerstand gegen sie nach wie vor enorm ist – und zwar von zwei Seiten her: Zum einen versteht die abendländische Philosophie ihren Ursprung in der griechischen Antike als einen unumkehrbaren emanzipatorischen Akt aus jedweden mythischen Weisheitslehren Heinz Kimmerle, »Das Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte von Nietzsche bis zur Interkulturellen Philosophie« (2012): 15 ff. 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1822–1831/1970), darin: Kap. »Orientalische Philosophie«, 18, 138 ff. 5 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Mythologie (1827–1846/ 1856 ff.), darin: »Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie«, XI, 1 ff. 6 Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung der Menschheitsgeschichte (1830– 1835/1963), III, 368 ff. 7 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929), I: Die Sprache, II: Das mythische Denken. 8 Karl Jaspers, Die großen Philosophen (1957) und Karl Jaspers, Weltgeschichte der Philosophie (1982). 9 Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren (1997–2014), 1 Vier Ansätze interkulturellen Philosophierens von Franz M. Wimmer, Raimon Panikkar, Paul Fornet-Betancourt, Ram Adhar Mall. 3
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
und aus jeglichen Weltanschauungen mit politischen oder religiösen Abhängigkeiten. Die Interkulturalität von Denktraditionen zu untersuchen, mag von kulturanthropologischem oder kulturgeschichtlichem Interesse sein, aber von einer »Interkulturellen Philosophie« zu sprechen, ergibt vom Selbstverständnis der abendländischen Tradition her keinen Sinn, denn Philosophie ist ein im antiken Griechenland menschheitsgeschichtlich einzigartiger Selbstbegründungsakt des Denkens, dessen Weiterführung sich durch Rückschläge, Dunkelzeiten und Unterdrückung hindurch sowohl vorübergehend im syrisch-persisch-arabischen als auch bleibend im abendländischen Kulturraum Schritt für Schritt durchgesetzt und ausdifferenziert hat. Die Rede von einer »Interkulturellen Philosophie« erscheint von daher als kontraproduktiv, da sie suggeriert, die Denktraditionen anderer Kulturen könnten der abendländischen Philosophie gleichgestellt werden, obwohl diese jene längst schon überwunden und überboten hat. 10 Eine solche kultur- und geschichtsrelativistische Gleichordnung würde den einzigartigen Selbstbegründungsanspruch der abendländischen Philosophie untergraben und damit die Philosophie als Philosophie zerstören. Zum anderen kommt Widerstand von der Seite der analytischen Philosophie mit ihrem absoluten Universalitätsanspruch. Sie ist zwar selbst aus der abendländischen Tradition hervorgegangenen, besteht aber darauf, diese überwunden und hinter sich gelassen zu haben. Für sie gibt es nur einerseits das logisch und semantisch eindeutig Ableitbare und andererseits das empirisch-wissenschaftlich Aufweisbare. Alle darüber hinaus aufgeworfenen inhaltlichen Probleme, insbesondere jedoch Sinnfragen des Menschseins in der Welt oder gar vor Gott sind – da nicht eindeutig ableitbar und objektiv aufweisbar – als analytisch-philosophisch sinnlos auszugliedern. 11 So ist bereits die Problemstellung einer »Interkulturellen Philosophie« ein Unding, da zu allen Zeiten und in allen Weltgegenden immer nur die gleichen eindeutig logisch-empirischen Gesetze gegolten haben, die in den verschiedenen Denktraditionen und bei einzelnen Denkern bereits rudimentär als logisch-semantische Denkregeln oder als empirischwissenschaftliche Erkenntnisse zum Vorschein gekommen sind. Dies gilt auch ganz genauso für die abendländische Denktradition, die alKritisch dazu Hassan Givsan, »Dass die Philosophie nur abendländisch-europäisch sei – und was nun? Fragen an Heidegger und Husserl« (2007). 11 Kritisch dazu Paul Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen (1979). 10
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
lenfalls gereinigt von ihren spekulativen Problemerörterungen in ihren Argumentationsstrategien für die analytische Philosophie von historischem Interesse sein kann. Von der analytischen Philosophie her gesehen fragt die »Interkulturelle Philosophie« – die daher diesen Titel nicht verdient – grundsätzlich in eine falsche Richtung. Denn statt die eindeutigen und universalen empirisch-logischen Fundamente aller Erkenntnis herauszuarbeiten, werden hier die historisch-kulturellen Trübungen hervorgehoben, die allenfalls von kulturgeschichtlichem oder kulturanthropologischem Interesse sein können. Insofern wir also ernsthaft und mit Bestimmtheit von einer Interkulturellen Philosophie sprechen, so liegt darin bereits einerseits eine Kampfansage gegen den Alleinvertretungsanspruch der abendländischen Philosophie, die alle anderen Denktraditionen in ihre Vorgeschichte verbannt, und andererseits mehr noch gegen den abstrakten Universalitätsanspruch der analytischen Philosophie, die keine geschichtlichen und kulturellen Differenzierungen anerkennt. Aber für diese Kampfansage reicht es nicht aus, sich einfach in die unendlich spannende und facettenreiche Aufgabe der Erforschung der Differenzen und Gemeinsamkeiten kultureller Denktraditionen zu stürzen, denn ohne Klärung ihrer eigenen philosophischen Grundlagen bleibt diese Erforschung verschieden kultureller Denktraditionen, Sinndeutungen und Weltbilder eine Aufgabenstellung der Kulturanthropologie und Kulturgeschichte, rechtfertigt aber nicht die Rede von einer Interkulturellen Philosophie. Es reicht nicht aus, die »Philosophie« – im weitesten Sinne des Wortes – als Gegenstand interkultureller Untersuchungen aufzugreifen, um von Interkultureller Philosophie zu sprechen, sondern diese muss sich auch als Subjekt der Untersuchungen ausweisen, begründen und bewähren können. 12 In diesem Sinne will die vorliegende Studie das interkulturelle Selbstverständnis der Philosophie herausarbeiten, ja mehr noch zeigen, dass alle Philosophie, wenn sie sich wahrhaft als Philosophie versteht, gar nicht anders kann, als sich interkulturell zu begründen und zu verwirklichen. Daher werde ich zunächst weitausholend mit grundlegenden Thesen zur Fundierung und zum Selbstverständnis der Philosophie überhaupt anfangen, um danach mit einigen Kennzeichnungen näher auf die Problemstellung der Interkulturellen Philosophie und ihre Möglichkeiten und Grenzen einzugehen. 12
Rainer E. Zimmermann, Kritik der interkulturellen Vernunft (2002).
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Eine praxisphilosophische Bestimmung des Menschseins
1.
Eine praxisphilosophische Bestimmung des Menschseins
1. Wir wissen nur von einer Menschheit, ihr gehören wir an, für sie sind wir verantwortlich. Ob es noch andere Erden gibt, auf denen sich Lebens- und Bewusstseinsformen herausbilden konnten, ist uns bisher unbekannt. Doch selbst wenn wir einst erfahren sollten, dass es noch andere geistige Wesen gegeben hat, gibt oder geben wird, so entlässt uns das nicht aus der Geschichte unseres Menschengeschlechts und unserer Verantwortung für diese Geschichte, der wir und nur wir angehören. 2. Die Menschheit ist in dem, was sie von sich begreift und was sie aus sich macht, allein auf sich gestellt. Die Menschheitsgeschichte ist – wie es Platon 13 und Kant 14 schon zeigen – das Experiment, das die Menschheit an sich selbst vollbringt. In dieser Aufgabe ist die Menschheit unendlich einsam und mit sich allein – so wie Nietzsche seinen Zarathustra beschrieb, 15 nur eben, dass wir – wenn auch bisher bewusstlos – selbst dieser Zarathustra immer schon sind. In dieser Aufgabe liegt die Bürde der Freiheit des Menschen, denn es gibt für das Projekt des Menschseins (Henri Lefebvre) 16 keine Vorgaben aus der Natur oder von einem Gott her. 3. Natürlich sind wir Menschen von der Natur hervorgebracht, auch unser Bewusstsein ist Produkt der Natur – was denn sonst? Natürlich sind wir mit allem, was wir sind, Naturwesen: in unserer Leiblichkeit, in unseren Lebensprozessen, in unseren Gefühlen, ja auch in unserem Erkennen, in der Anlage zur Moralität und zum Glauben. Wir sind also mit allem, was wir sind, aus der, durch die und in der Natur, aber wir sind dies als Naturwesen besonderer Art, als Naturwesen mit Bewusstsein und mit der Fähigkeit zur Freiheit, also als Naturwesen, deren individuelle Subjektivität und deren kulturelle Selbstbestimmung über Erkenntnis und Entscheidung vermittelt ist. Und alle Erkenntnisse von uns selbst und von der Welt sowie alle Entscheidungen mit Wirkungen für uns und für die Welt sind in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit einzig und allein Ergebnisse unseres menschheitsgeschichtlichen Selbstwerdungsprozesses. Keinerlei Er-
Platon, Symposion 212a-c; Politeia 473c-e. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), VI, 195 ff. sowie Über Pädagogik (1803),VI, 697 ff. 15 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883 ff./1954 ff.): II, 340. 16 Henri Lefebvre, Metaphilosophie. Prolegomena (1965/1975): 354. 13 14
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
kenntnis und keinerlei Entscheidung kommt von irgendwo anders her als einzig und allein aus uns als bewussten Wesen. 17 So können wir zwar metaphorisch davon sprechen, dass jede experimentelle Befragung der Natur, die diese zu antworten zwingt, ein Dialog des Menschen mit der Natur sei, aber im Grunde findet hier nur ein Dialog der die Natur erkennenden Menschen miteinander statt. 4. Selbstverständlich begreifen wir, dass alle Sinnsetzungen, alles Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen, nach Sittlichkeit, individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, die wir menschheitsgeschichtlich erarbeiten, nicht unsere willkürlichen Erfindungen sind, sondern Auslegungen des uns vorausliegenden Sinnanspruchs des »Sinnes von Sinn« (Franz Fischer) 18. Selbstverständlich begreifen wir, dass all unsere erkennende und entscheidende Vermittlung von Sinn und Existenz, von Sinnverstehen der Existenz in unserem Weltbegreifen und von Existenzsetzung von Sinn in unserem Handeln immer schon in der Ermöglichung der Vermitteltheit von Sinn und Existenz steht, die wir selbst nicht gestiftet haben – Kant nannte diese unserer praktischen Vernunft vorausliegende Vermitteltheit das »Postulat des Daseins Gottes« 19. Selbstverständlich können wir deshalb die ganze Geschichte der Menschwerdung des Menschen als einen Dialog Gottes mit den Menschen umschreiben, in dem Gott der uns Rufende ist und wir die Antwortenden, die sich vor ihm zu ver-antworten haben. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Gott, wenn wir den Ruf als seinen hören, nur in uns spricht. Auch für die Urmonade (Leibniz) 20 haben wir keine Fenster, durch die sie von außen in uns eindringen könnte; sie kann nur etwas immer schon in uns selbst Aktiviertes, in uns zum Vorschein Kommendes sein. Ob überhaupt und wie wir Gott in uns vernehmen, ist also selbst etwas, was nur geschichtlich durch Menschen hindurch offenbar und von ihnen kommunikativ weitergegeben werden kann. 5. Mit diesen beiden Explikationen sollte nur deutlich gemacht werden, dass auch die theoretisch-praktische Auseinandersetzung mit der Natur, die wir metaphorisch als experimentellen Dialog mit der Natur umschreiben können, nirgends anders stattfindet als im
Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841/1976): III, 17 ff. Franz Fischer, Philosophie des Sinnes von Sinn (1980): 193. 19 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788/1956 ff.): IV, 254 ff. 20 Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie (1714/1965 ff.): I, 439 ff. 17 18
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Eine praxisphilosophische Bestimmung des Menschseins
menschheitsgeschichtlichen Dialog der Menschen über die Natur. Aber auch das, was wir den Dialog Gottes mit den Menschen nennen, ist selbst dann, wenn wir ihn als historisches Offenbarungsereignis deuten, doch nichts anderes als ein Geschehen, das sich einzig und allein im menschheitsgeschichtlichen Bewusstwerdungsprozess der Menschen vollzieht. Dabei darf das menschheitsgeschichtliche Bewusstsein keineswegs absolut gesetzt werden, wie dies bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus anklingt, 21 denn als bewusste Wesen finden wir uns einerseits immer schon daseiend in der daseienden Natur vor, und andererseits erfahren wir uns einem Sinnanspruch unterstellt, der all unseren Sinngebungen grundsätzlich vorausliegt. 22 6. Somit können wir uns nun bewusster und entschiedener dem menschheitsgeschichtlichen Projekt der Menschwerdung des Menschen stellen. Alles, was der Mensch von sich und der Welt begreift, und alles, was er aus sich und aus der Welt macht, ist sein Werk, aber es kommt darauf an, dass der Mensch sich und sein Werk nicht absolut setzt, sondern sich verantwortlich begreift für den daseienden und lebendigen Naturzusammenhang, aus dem auch er ist (Hans Jonas), 23 und für die Sinnverwirklichung sittlichen Menschseins – dem Erscheinen Gottes hier auf Erden, wie es Ernst Bloch umschreibt. 24 Damit ist ausgesprochen, dass das Menschsein ein unabgeschlossenes, ein unabschließbares Experiment und Projekt ist. Wir sind immer auf dem Wege, das Menschliche unseres Menschseins theoretisch zu finden und praktisch zu erfüllen, und Bildung zur Mündigkeit sowie politische Emanzipation sind hierbei die regulativen Orientierungsziele unseres Werdeprozesses. 25 Aber es gibt keine Garantie, dass uns dieses Projekt gelingen werde, es kann in sein Gegenteil umschlagen – man denke an die Nacht und Hölle von Auschwitz 26 –, und es kann auch grundsätzlich scheitern im »Abortus der menschlichen Ge-
Jean-Paul Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? (1946/1975): 36 ff. Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (1943/1959): 98 ff. 22 Ram Adhar Mall, Mensch und Geschichte. Wider die Anthropozentrik (2000). 23 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979): 245 ff. 24 Ernst Bloch, Geist der Utopie (1923/1973): 346; Das Prinzip Hoffnung, 2 Bd., (1959). 25 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800/1856 ff.): III, 602 ff. 26 Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit (1970): 88. 21
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
schichte« – wie Henri Lefebvre diese uns erst seit einigen Jahrzehnten gegebene exterministische Zukunftsperspektive benennt. 27
2.
Wir haben nur eine Vernunft
1. Es gibt nur eine menschliche Vernunft, die durch die Kommunikation der Menschen und in ihrem gemeinsamen Handeln geschichtlich entborgen und verwirklicht werden kann. Die Vernunft ist das gemeinsame Gut aller Menschen. Sie wohnt den Menschen seit Anbeginn ihrer Menschwerdung aus der Natur inne und ist das Movens der ihnen aufgegebenen selbstbestimmten Menschwerdung in der Geschichte. Sie ist keineswegs allen in gleicher Weise und zur gleichen Zeit verfügbar, sondern erwächst – von Generation zu Generation weitergegeben – aus kultureller Aktivierung theoretischer Erkenntnis und sittlicher Praxis in verschiedene Richtungen und in unterschiedlicher Beschleunigung. Daher gibt es gleichzeitig immer eine Reihe von individuell und kulturell anders ausgeprägten Konkretionsformen menschlicher Vernunft. 28 Auch wird die Entfaltung der Vernunft durch die natürliche Umwelt, durch soziale Institutionen und durch kulturelle Prägungen unterschiedlich gefördert oder geknebelt, und sie schreiten daher menschheitsgeschichtlich ungleichzeitig voran. Grundsätzlich kann die menschliche Vernunft niemals in einer einzelnen kulturellen Ausprägung zu einem endgültigen Abschluss kommen, denn sie erfüllt sich nur in ihrem menschheitsgeschichtlich voranschreitenden Vollzug vernünftiger menschlicher Selbstverwirklichung in theoretischer Erkenntnis und sittlicher Praxis. 2. Obwohl ihre Wurzeln bis in die Urgeschichte der Menschheit zurückreichen und sich unglaublich tiefsinnige Welterkenntnisse und sittliche Ansprüche in den Mythen der Völker und in den Religionen ausgeformt haben, ist die Vernunft als freie, sich nur aus sich selbst heraus begründende und rechtfertigende Gestalt der Philosophie erst
Henri Lefebvre, Metaphilosophie. Prolegomena (1965/1975): 346. Edward P. Thompson, »›Exterminismus‹ als letztes Stadium der Zivilisation« (1981): 326 ff. 28 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Dirk Stederoth (Hg.), Kultur – Theorien. Annäherungen an die Vielschichtigkeit von Begriff und Phänomen der Kultur (1993). Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Es gibt nur eine Vernunft. Thesen zu Entstehung und Überwindung eines interreligiösen Konflikts« (2002): 26 ff. 27
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Wir haben nur eine Vernunft
in der sogenannten Achsenzeit (Karl Jaspers) 29 hervorgetreten – am reinsten aber in der griechischen Klassik des 5. bis 4. Jahrhunderts v. u. Z. Die Philosophie ist nichts anderes als die sich selbst bewusstwerdende menschliche Vernunft, auch sie entfaltet sich erst aus ihrer reflexiven Betätigung und in dialogischer Auseinandersetzung. Die Philosophie verlangt, dass jede wahre Erkenntnis und jede sittliche Einsicht von nirgends anders her als aus und vor der Vernunft sich selbst begründen und rechtfertigen lassen müsse. Da die Vernunft nirgends anders als in uns Menschen als vernünftige Wesen existiert, kann sie als Philosophie auch nur in uns Menschen, in jedem Einzelnen aus der dialogischen Auseinandersetzung mit den Anderen zu sich selbst kommen. Was dies besagt, kann am besten an der Gestalt des Sokrates erläutert werden: Sokrates lässt keinerlei überkommene Urteile und keine tradierten Werte gelten, sofern sie sich nicht argumentativ vor uns und einsichtig für uns als theoretisch-wahr und sittlich-gut erweisen. Dabei ist nicht der Mensch Sokrates in seiner Selbstherrlichkeit das Maß aller Dinge – wie Platon gegen Protagoras erläuternd hinzufügt –, sondern die Vernunft in uns, die Idee der Wahrheit und die Idee des Guten, die in dialogischer Praxis aus uns und durch uns entborgen werden müssen. (Platon, Politeia 502c-509b) In der Folgezeit werden zwar durch die hellenistische Reichsgründung unter Alexander von Makedonien dem philosophischen Denken die spekulativen und politischen Flügel gestutzt, aber ganz lässt sich die Philosophie nicht mehr zurücknehmen. In den individualisierten Formen stoischer Lebenshaltung und erkenntniskritischem Skeptizismus erfährt sie sogar eine ungeheure Ausdehnung über die ganze hellenisierte Welt von Griechenland über Persien und Ägypten bis nach Unteritalien. Vor allem in der syrisch-ägyptischen Region kommt es dabei zu mannigfaltigen Formen wechselseitiger Durchdringung von religiösen und philosophischen Gedankenwelten (Gnosis) 30. 3. Eine sich so aus der Gemeinsamkeit menschlicher Vernunft begreifende Philosophie vermag sich mit jeder anderen Form menschlicher Vernunft – den Mythen und Religionen – sowie mit allen kulturell anders geprägten Gestalten von Philosophie verstehend auseinandersetzen und auf eine Verständigung mit ihnen 29 30
Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1955). Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, I: Die mythologische Gnosis (1984).
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
ausgerichtet sein. Dabei kann sie aber niemals von ihrer Selbstverpflichtung lassen, dass sich Verstehen, Anerkennen und Verständigung nur aus und vor der menschlichen Vernunft begründen und auf diese hin orientieren lassen. 31 Eine solche für das Gespräch offene Philosophie begreift sich selbst aus dem unabgeschlossenen und unabschließbaren Projekt sittlich-praktischen Menschseins, dessen Gelingen heute mehr denn je fragwürdig geworden ist. Für die Sinngebung dieses Projekts haben wir Menschen nichts anderes einzubringen als die Vernunft, die keine vorfindliche Gegebenheit ist, sondern etwas, was erst aus der gemeinsamen Kommunikation aller vernünftigen Wesen – d. h. aller Menschen – entborgen zu werden vermag. Aber dieses Entbergen ist kein naturwüchsiger Prozess des Geistes auf dessen geheime List (Hegel) wir vertrauend uns verlassen können 32, sondern es bedarf unserer ganzen philosophischen Anstrengung und Parteinahme. 33 Die Philosophie ist daher alles andere als gleich-gültiger Relativismus, sie stellt sich vielmehr in ihrem Bemühen des Verstehens anderer philosophischer Ansätze ganz in den Dienst der Verständigung gemeinsamer Sinnorientierung für das Projekt sittlichen Menschseins. Dabei ist die gemeinsame Verstehens- und Verständigungsgrundlage die menschliche Vernunft. 4. Alle Kulturen gründen nicht nur in der einen menschlichen Vernunft, sondern sind ihr auch verpflichtet, d. h. sie versuchen, die Vernunft in je ihrer eigenen Weise ihrer Erkenntnisformen, ihrer sittlichen Lebenspraxis sowie ihrer Kunst und Religion zur Entfaltung zu bringen. Dies aber bringt die Kulturen notwendig in Konflikt miteinander, denn jede Kultur und Religion hält ihre Ausformung der Vernunft zunächst für die einzig legitime und letztgültige Form – so wie früher die Griechen alle anderen Völkerschaften um sie herum als Barbaren betrachteten, in deren Siedlungen sie einfielen, um ihnen ihre Güter zu rauben und Gefangene als Sklaven zu erbeuten, oder wie die Europäer seit der Renaissance sich das Recht herausnahmen soweit sie es vermochten, sich die Welt zu unterwerfen und die Menschen zwangsweise dem Christentum einzuverleiben. Erst da, Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie (2002), eingegangen in die folgenden Beiträge. 32 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1822–1831): 12, 539. 33 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1844): 1, 373 ff. 31
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Wir haben nur eine Vernunft
wo Kulturen auf gleich ausgeprägte und gleich starke Fremdkulturen stoßen, beginnen sie, sich gegenseitig als Gegner zu akzeptieren und zu respektieren – die Form dieser gegenseitigen Anerkennung ist zunächst der Krieg. 34 Wobei kulturelle Kriege nicht nur mit Waffen ausgetragen werden, auch die forcierte Missionierung und Kolonisierung oder die schleichende Unterwanderung sind Formen kultureller Kriegsführung. Sie werden heute noch in allen Bereichen der Kultur, in den Wissenschaften, den sittlichen Lebensformen, zwischen religiösen Glaubensgemeinschaften, aber auch zwischen verschiedenen Philosophemen oftmals in blindwütiger Polemik ausgetragen. 5. Obwohl Vernunft keine Gegebenheit und kein erreichbarer Zustand ist, sondern etwas durch den menschheitlichen Dialog sich Ereignendes und Werdendes, hält doch jede der Kulturen und Religionen zunächst ihre Vernunfterkenntnis für die absolute Vernunft selbst. Alle weltanschaulichen Parteien berufen sich auf die eine Vernunft, die sie vertreten, aber insofern sie sich für absolut hält, ist sie eine selbstverblendete Vernunft, die sich im alleinigen Besitz der absoluten Wahrheit wähnt, die nicht offen ist für den Dialog mit anderen Ausprägungen der Vernunft. Solche unter dem Banner der Vernunft ausgeführten ideologischen Glaubens- und Weltanschauungskriege fanden durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch statt und werden auch heute vor unseren Augen ausgetragen. Diese paradoxe Situation zwingt die Vernunft, gegen sich selbst in ihren einseitigen Gestaltungen zu Felde zu ziehen, denn nur die selbstkritische Vernunft kann aus den entfremdeten Gestalten der Vernunft befreien, wie dies schon Kant aufgezeigt hat. 35 So ist es einerseits völlig richtig, dass Dogmatismen, Fanatismen und menschenverachtende Ideologien keine möglichen Gesprächspartner interkulturellen Verstehens, interkultureller Anerkennung und interkultureller Verständigung zu sein vermögen, sie können nur bekämpft werden. Aber andererseits kann dieses Bekämpfen selbst wiederum nur mit den philosophischen Mitteln menschlicher Vernunft erfolgen, indem die Philosophie an den diversen Fundamentalismen aufdeckt, inwiefern sie Perversionen der Vernunft darstellen, inwiefern sie ein gegenseitiges Verstehen und Anerkennen abzublocken und eine Verständigung zu hintertreiben versuchen.
34 35
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821): 7, 499 ff. Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786): VI, 85 ff.
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
Hierbei müssen wir jedoch selbst darauf bedacht sein, unsere eigenen Dogmatismen nicht unbedacht absolut zu setzen. 36 Die Philosophie muss ihre Begründungen immer offen darlegen, sodass sie von jedem vernünftigen Wesen selbst auf dogmatische Voraussetzungen und vorurteilsbelastete Haltungen hin überprüft werden kann. Sie hat sich daher in der Form ihrer Aussage offen zu halten für jede philosophisch begründete Kritik an ihr. 6. Ja wir müssen sogar bei einigermaßen ehrlicher Selbstreflexion zugeben, dass auch wir immer wieder der unbewusst wirkenden Macht ideologischer Verführung erliegen. Wir befinden uns hier – wie dies Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung ausführen – in einem Dilemma der Vernunft, das selbst wieder nur durch die Vernunft auflösbar ist. 37 Die Philosophie muss durch dieses Dilemma hindurch, muss sich selbst aus der immer wieder aufkommenden Dogmatisierung befreien, um ihrer praktischen Aufgabe gerecht zu werden. Denn sie darf nicht von einem Lehnsessel aus das historische und globale Schauspiel ideologischer Glaubenskämpfe kritisch kommentieren, sondern sie muss Partei ergreifen – nicht für eine der dogmatischen Parteien und auch nicht für sich selbst, sondern für das vernünftige Mündigwerden und die Emanzipation der Menschen. 38 Dazu besitzt die Philosophie keine anderen Mittel als die der philosophischen Argumentation und Überzeugungskraft. Sie wird sich daher immer gewärtig halten müssen, dass es ihr so ergehen kann, wie es Platon – aus eigener Erfahrung – für den in die Höhle zurückkehrenden Philosophen prophezeit: Er wird verlacht, verfolgt und schließlich wird man ihn sogar zum Schweigen zu bringen versuchen. (Platon, Politeia, 517a) Und doch kann die Philosophie sich nicht der Aufgabe entziehen, verstehend und verständigend den Diskurs um die Sinnorientierung menschlicher Zukunft immer wieder erneut voranzubringen.
Peter Winch, Versuchen zu verstehen (1987). Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944). 38 Ernst Bloch, Karl Marx und die Menschlichkeit. Utopische Phantasie und Weltveränderung (1969): 77 ff. 36 37
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Kulturelle und religiöse Vielfalt in der globalisierten Welt
3.
Kulturelle und religiöse Vielfalt in der globalisierten Welt
1. Philosophie ist die bewusst auf sich selbst rückbezogene Reflexion der Vernunft, wie dies Platon im Charmides (168e–169e) erstmals thematisiert. Damit ist keineswegs eine Selbstermächtigung der Vernunft gemeint, sondern vielmehr eine kritische Selbstbegrenzung der Vernunft durch die Vernunft, wie dies Kant mit seinem Projekt der Kritik der reinen Vernunft intendierte. Von allen Denkrichtungen, die unter dem Namen Philosophie auftreten, müssen wir voraussetzen und verlangen, dass sie sich als selbstkritische Formen der Vernunft verstehen und bewähren – wenn sie dem nicht genügen, haben sie nicht wahrhaft Anspruch darauf, als Philosophie anerkannt zu werden. Gerade auch von der Interkulturellen Philosophie erwarten wir, dass sie sich in dieser Weise als selbstkritisches Subjekt in die Diskussion einbringt und auch die fremden Denkrichtungen, mit denen sie sich verstehend und verständigend auseinandersetzt, als ebensolche selbstkritischen Subjekte anerkennt, auch wenn diese ihr in ganz anderen Formen und Gestalten entgegentreten. Dies schließt keineswegs aus, dass die Interkulturelle Philosophie sich auch mit anderen Denkformen – wie etwa mythischen Weisheitslehren und religiösen Traditionen – ernsthaft beschäftigen kann und auch, soweit diese sich ebenfalls auf ein offenes, selbstkritisches Gespräch einlassen, sich über weite Strecken mit ihnen verständigen können. Allerdings endet die Möglichkeit einer Verständigung dort, wo mythologische und dogmatische Voraussetzungen zur Vorbedingung für weitere Gespräche erhoben werden. Ähnliches gilt selbstverständlich auch für solche Richtungen, die sich zwar als »Philosophie« ausgeben, aber – meist unbewusst – mit axiomatischen Vorgaben in die Diskussion eintreten und sich weigern, diese selbstkritisch in Frage zu stellen. 39 Von daher ist es verständlich, dass die Interkulturelle Philosophie vor allem von hermeneutischen, phänomenologischen und praxisphilosophischen Richtungen getragen und vorangetrieben wird, die sich auch bisher innerhalb der abendländischen Tradition um ein Verstehen, ein Anerkennen und um Verständigung zwischen verschiedenen Denkrichtungen bemüht haben. 40 Paul Feyerabend, »Autoritäre Konstruktion oder demokratische Entschlüsse. Bemerkungen zum Problem des kulturellen Pluralismus« (1985): 137 ff. 40 Franz Martin Wimmer, Interkulturelle Philosophie. Geschichte und Theorie (1990). Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden (1991). Georg Stenger, Phi39
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
2. Die Diskussion über die Interkulturelle Philosophie hat inzwischen alle Kulturräume dieser Erde erfasst. Sie kommt von ganz unterschiedlichen Ausgangslagen her und ist daher selbst noch auf der Suche nach einem gemeinsamen Selbstverständnis. Auch hier wird es darum gehen, durch strittige Debatten hindurch zu einer gemeinsamen Gesprächsbasis zu finden. Das impulsgebende Zentrum dieser Debatten liegt nach wie vor in Europa, ja genauer gesagt im deutschsprachigen Raum, auch wenn sich inzwischen mehr und mehr Philosophen aus Japan 41 und aus Indien 42 mit eigenen Vorgaben in die Debatte einbringen. In vielen Ländern ist es noch der Kampf um Befreiung aus dem Kolonialsystem, der heute in die Interkulturelle Philosophie einmündet. In Afrika beispielsweise – sehen wir einmal von der massiven Missionierungsbewegung des Islam vom Norden her ab – findet immer noch ein Kampf zwischen den ehemaligen englisch- und französischsprachigen Kolonialmächten um kulturellen Einfluss in diesem Kontinent statt, der sich durch das ganze Bildungswesen hindurch bis hin zur Universitätsdisziplin der Philosophie auswirkt. Gegen diese gerade auch in ihrer Konkurrenz als koloniale Bevormundung erlebte Dominanz bestimmter europäischer Denkströmungen regt sich zunehmend Widerstand, der sich in einer Rückbesinnung auf eigene Denktraditionen und Weisheitslehren niederschlägt. 43 Wiederum anders stellt sich die Lage in Lateinamerika dar, hier hat bereits seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine interkulturelle Debatte begonnen, die vor allem in Mexiko und Peru – den alten Kulturzentren Amerikas – zu einer Integration indigener Denktraditionen in die christlich-abendländischen und später sozialistischen Traditionen der spanischsprachigen Theologie und Philosophie geführt hat, 44 die heute zunehmend als eigenständige Denkrichtung losophie der Interkulturalität – Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie (2006). Heinz Paetzold/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Interkulturelle Philosophie (2007). 41 Masao Maruyama, Denken in Japan (1988); Tanehisa Otabe, »Drei Stufen der Globalisierung im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Europa und Japan« (2012): 30 ff. 42 Rabindranath Tagore, Die Religion des Menschen (1931). Ram Adhar Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen. Eine Einführung in die interkulturelle Philosophie (1992). 43 (L.-J.) Munasu Bonny Duala-M’bedy, Xenologie. Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie (1977). Heinz Kimmerle, Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie (1991). 44 José Carlos Mariátegui, Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verste-
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Kulturelle und religiöse Vielfalt in der globalisierten Welt
nach Europa zurückwirkt und sich insofern als eigener Impuls der abendländischen Philosophie versteht. 45 3. Dabei sollten wir insgesamt nicht übersehen, dass die Interkulturelle Philosophie – ohne dass es ihr zunächst bewusst ist – selbst eine Defensivbewegung gegen eine weltweit expandierende Rationalität darstellt, die sich funktional in den Dienst eines ökonomischen Besitzergreifungsprozesses der globalisierten Welt stellt. Es ist diese reduktionistische Rationalität, die sich ganz dem ökonomisch-wissenschaftlich-industriellen Globalisierungsprozess verschrieben hat, indem sie diesen für die Vollendung der Geschichte 46 ausgibt und sich selbst verbietet, über Sinnfragen nachzudenken. Sie dringt als Ideologie der ökonomisch-wissenschaftlich-industriellen Globalisierung nicht nur in die letzten Winkel der Erde vor, um sich alle natürlichen Rohstoffressourcen und alle menschlichen Arbeitskräfte verfügbar zu machen, sondern sie expandiert auch nach innen, indem sie die Bildungsprozesse rund um den Erdball auf die Verwertbarkeit des Wissens und die Angepasstheit der Ausgebildeten reduziert. Von diesem schleichenden Ideologisierungsprozess bedrängt, fühlen sich die traditionellen philosophischen Denkrichtungen weltweit von der Expansion jener reduktionistischen Rationalität bedroht – nicht nur in Afrika, Asien oder Lateinamerika, sondern ebenso in Europa, Nordamerika und Japan. Daher unterliegen die postkolonialen Denkbewegungen, die sich entschieden gegen alle abendländischen Denktraditionen abgrenzen, einem eklatanten Missverständnis, da sie die abendländischen Denktraditionen unter die reduktionistische Rationalität subsumieren, obwohl jene Denktraditionen vielmehr ihre Verbündeten gegen diese darstellen. 47 Wesentlich fruchtbarer erweisen sich jene unerwarteten Erneuerungsprozesse, wie beispielsweise die Wiederentdeckung der alt-islahen (1986). Marlene Montes de Sommer, »Der Weg zum Kulturverstehen über Cassirers Lehre von den ›symbolischen Formen‹« (2012): 183 ff. 45 Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung (1980). Hans Schelkshorn, Ethik der Befreiung. Einführung in die Philosophie Enrique Dussels (1992). Raul Fornet-Betancourt, Annäherung an Lateinamerika. Die Theologie der Befreiung und die gesellschaftliche Entwicklung Lateinamerikas (1984). Raul Fornet-Betancourt, »Der Beitrag der lateinamerikanischen Theologie und Philosophie der Befreiung zur Entwicklung einer befreienden Kultur heute. Eine interkulturelle Perspektive« (2007): 256 ff. 46 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? (engl. 1992). 47 Siehe dazu Yomb May, »Der Postkolonialismus und die Aporien der Moderne« (2007): 74 ff.
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
mischen Philosophie, die einst eine große Vermittlerfunktion von der griechischen Antike zur Philosophie des abendländischen Mittelalters spielte und nun in umgekehrter Richtung kritische Denkimpulse in die Philosophie des Islam zurückzubringen vermag. 48 In dieser Weise kann die Vernetzung unterschiedlicher Diskussionen zur Interkulturellen Philosophie zu einer gemeinsamen Kampfgemeinschaft gegen die expandierende geistige Verarmung der Welt werden. 4. Dabei geht es nicht nur um die Entfaltung der theoretischen Vernunft, die Selbsterkenntnis des Menschen in der Welt, sondern ebenso sehr um die der praktischen Vernunft, die »Idee des Guten« (Platon) bzw. das »Sittengesetz« (Kant). Interkulturelle Philosophie ist daher nicht nur Komparatistik bestehender Denkschulen, die gleich-gültig nebeneinander existieren, obwohl das immer wieder zu erneuernde Bewusstmachen der Anliegen der verschiedenen Denkrichtungen rund um den Erdball ein unabdingbarer Grundbestandteil ihrer Aufgabe darstellt, sondern ihr Hauptaugenmerk muss auf der Anbahnung strittiger Dispute liegen, die Sinnfindung unseres theoretischen und praktischen Menschseins in der Welt voranzubringen. So ist ihre Aufgabe keineswegs eine bloß kontemplative Angelegenheit, sondern eine höchst praxisphilosophische, der es darum geht, ihren Beitrag zu leisten für die Zielbestimmung und Zielverwirklichung eines humanen Überlebens der Menschheit. Gerade am Ringen der UNO um gemeinsame Richtlinien zur Formulierung und Akzeptanz der Menschenrechte, des freien Selbstbestimmungsrechts der Völker und mehr und mehr auch der ökologischen Erhaltung der Erde als unser aller Lebensgrundlage, von der Marx einst gefordert hat, dass wir die Erde keineswegs, um unseres Nutzens willen, willkürlich ausplündern dürfen, sondern dass wir sie als »boni partes familias« den »nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen« 49 haben, zeigt uns, gegen welche Widerstände wir immer noch zu kämpfen haben und zwar keineswegs nur in anderen »rückständigen« Völkern und Kulturen, sondern auch in unseren eigenen europäisch-nordamerikanischen Industrienationen mit ihrer wertgetriebenen Wachstumsideologie. Interkulturelle Philosophie ist daher alles andere als wertneutraMohamed Turki, Einführung in die arabisch-islamische Philosophie (2015). Sarhan Dhouib (Hg.), Kultur, Identität und Menschenrechte: Transkulturelle Perspektiven (2012). 49 Karl Marx, Das Kapital III: 25, 784. 48
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Kulturelle und religiöse Vielfalt in der globalisierten Welt
ler Kulturrelativismus. Weder ist es gleich-gültig, wie einzelne Kulturen mit ihren Frauen, Behinderten und Alten umgehen, noch darf hingenommen werden, wie die kapitalistischen Industrienationen auf Kosten der kommenden Generationen die Erde ausplündern und ruinieren. Vielmehr hat die Interkulturelle Philosophie mit ihrer Aufgabe gegenseitiger Verständigung der Kulturen sich als Teilmoment einer kritischen Praxisphilosophie im Dienste der gemeinsamen humanen Menschwerdung der Menschen in der Geschichte zu begreifen. 50 5. Gerade im Hinblick auf dieses Ziel kommt der Interkulturellen Philosophie für die Verwirklichung menschlicher Vernunft eine vorantreibende Rolle zu. Für die Interkulturelle Philosophie gehören Verstehen, Anerkennung und Verständigung, gehören die theoretische und die praktische Problematik der Interkulturalität dialektisch unauflösbar zusammen. 51 Im Laufe unserer Geschichte haben wir Menschen, die wir unabdingbar auf eine theoretisch-praktische Sinnbestimmung unseres Menschseins in der Welt angewiesen sind, in den unzähligen parallelen kulturellen Entwicklungslinien eine Vielfalt von religiösen, politischen und wissenschaftlichen Sinndeutungen hervorgebracht, die jeweils in ihrer philosophisch unreflektierten Absolutsetzung alle anderen auszuschließen versuchen, ohne doch letztlich einen solchen absoluten Standort einnehmen zu können. Zwar besitzt die Philosophie in ihrem selbstkritischen Rückbezug auf die Vernunft so etwas wie ein formales Maß in sich selbst, aber wir können nicht verleugnen, dass auch die Philosophie im Laufe ihrer Entwicklung eine Unzahl von parallellaufenden Strömungen ausgebildet hat, die sich ebenfalls auszugrenzen versuchen. Insofern steht die Interkulturelle Philosophie vor dem grundlegenden Problem, eine Form des Philosophierens zu finden, die es zulässt, gemeinsam mit allen anderen Sinndeutungen in einen verstehenden-anerkennenden-verständigenden Dialog einzutreten, um so im unabschließbaren Gespräch mit ihnen zusammen an der philosophisch-sittlichen Bestimmung unseres Menschseins in der Welt weiterzuarbeiten. Somit wird deutlich, dass die Interkulturelle PhiHeinz Eidam, »Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten« (2012). Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Interkulturelle Philosophie in praxisphilosophischer Perspektive« (2007): 4 ff. sowie der folgende Beitrag: »Verstehen, Anerkennen und Verständigung. Eine methodologische Vorklärung«.
50 51
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
losophie keineswegs nur ein neues Gegenstandsfeld der Philosophie darstellt, sondern dem Selbstverständnis der Philosophie insgesamt einen erweiterten Aspekt abverlangt. Denn von einer Interkulturellen Philosophie muss in philosophischer Begründung verlangt werden, dass sie sich nicht nur verstehend auf eine Pluralität von Sinndeutungen einlässt und auch offen ist, anderen Sinndeutungen anerkennend entgegenzutreten, sondern dass sie sich aktiv der unabschließbaren Gesprächsführung menschlicher und menschheitlicher Sinnverständigung stellt. In diesem Sinne fällt ihr auch die große Aufgabe zur Initiierung, Begleitung und Schlichtung interkultureller, interreligiöser und interweltanschaulicher Auseinandersetzungen zu, denn die hieran beteiligten Kontrahenten können von sich aus nicht aus dem Streit widereinander herausfinden – wie wir vor allem an den Glaubenskriegen sehen. Hier wächst der Interkulturellen Philosophie eine gewaltige Aufgabe der Vermittlung zu. 52 Interkulturelle Philosophie kann dabei weder dogmatische Selbstbehauptung einer eigenen Position noch gleich-gültiger Relativismus gegenüber jeglicher Einstellung sein, sie stellt sich vielmehr in ihrem Bemühen des Verstehens und der Anerkennung anderer kultureller, religiöser und philosophischer Ansätze ganz in den Dienst der Verständigung gemeinsamer Sinnorientierung für das Projekt sittlichen Menschseins.
4.
Nachbemerkungen zur Philosophie als Mittlerin zwischen den Religionen
1. Schon die Entstehung der monotheistischen Religionen stellt gegenüber den vorhergehenden Reichsmythologien der mesopotamischen und ägyptischen Hochkulturen einen gewaltigen Fortschritt der Verinnerlichung und Versittlichung der Vernunft dar. Aber ohne eine in ihnen selbst gewachsene selbstkritische philosophische Reflexion verfallen auch sie – den Reichsmythologien nicht unähnlich – dem Dogmatismus und Fundamentalismus. Alle monotheistischen Religionen erheben dort, wo sie an die Macht kommen, einen Absolutheitsanspruch auf die Wahrheit und bilden hierarchisierte Priesterkasten aus, die sowohl nach außen als Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung« (2012): 231 ff.
52
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Nachbemerkungen zur Philosophie als Mittlerin zwischen den Religionen
auch nach innen das Denken und Handeln der Menschen kodifizieren und kontrollieren. Das freie Denken und die freie Gewissensentscheidung des einzelnen Menschen aus der Vernunft werden dadurch beschnitten und reglementiert. 2. Das Verhältnis der drei geschichtsmächtig gewordenen monotheistischen Religionen zur Philosophie ist sehr unterschiedlich: Der Gott der Juden scheint am wenigsten aus einer philosophischen Rechtfertigung erwachsen zu sein, obwohl der Übergang von den phänomengebundenen Göttern zu der reinen Geistigkeit des einen Gottes eine der radikalsten Revolutionen der menschlichen Geistesgeschichte darstellt. Gerade daher lässt sich der alttestamentliche Gottesgedanke in seiner Reinheit am leichtesten philosophisch explizieren (Philon von Alexandria, 25 v.–50 n. u. Z. 53; Ibn Gabirol/ Avincebron, 1020–1069 54; Mose ben Maimon/Maimonides, 1135– 1204 55). Hierfür ist das miteinander verknüpfte Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe verantwortlich mit seinem strikten Bilderverbot einerseits und seinen strengen sozialen Regeln andererseits, d. h. es gibt im Judentum kaum Glaubensannahmen, die mit der Vernunft in Konflikt geraten können. Sehen wir von der radikalen Einschränkung des Bundes Gottes mit dem auserwählten Volk Israel ab, so können hier Glaube und Vernunft problemlos auseinander fundiert und aufeinander bezogen werden. Das Christentum ist mit seinen sehr starken mythologischen Anleihen anders als philosophisch gar nicht als Monotheismus begründbar, daher war es von Anfang an auf eine Symbiose mit der Philosophie angewiesen (Augustinus, 354–430 56; Peter Abailard, 1079–1142 57; Thomas von Aquin, 1225–1274 58). Das Christentum lebt aus zwei Wurzeln, der jesuanischen Botschaft und der philosophischen Dialektik. Ohne ihre gegenseitige Verschlingung – im Doppelsinn des Wortes – wäre die christliche Religion nicht denkbar und könnte sich nicht halten. Die Dreifaltigkeitslehre, die Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus, die Einbeziehung des Gläubigen Philon von Alexandria, Werke (1909–1964). Zu Salomo Ibn Gabirol siehe Leonard H. Ehrlich, »Philosophie, jüdische Philosophie und ihre Geschichte« (1993): 1 ff. 55 Mose Ben Maimon, Acht Kapitel. Eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gotteserkenntnis (1981). 56 Augustinus, Über die wahre Religion (1983). 57 Peter Abailard, Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen (1995). 58 Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden (1974 ff.). 53 54
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
in die Ausgießung des Heiligen Geistes – dies alles sind höchst filigrane Glaubensspekulationen, an denen Generationen von Theologen seit dem Mittelalter bis in die Neuzeit hinein mit der ganzen Schärfe philosophischer Vernunft und in inbrünstiger Hingabe gearbeitet haben. In dieser Symbiose von Philosophie und Glaube in der christlichen Theologie, die selbstverständlich nur von der obersten Elite getragen wurde und wird, liegt zugleich die geschichtliche Stärke und Schwäche der christlichen Religion. D. h. als Theologie ist die christliche Religion eine höchst differenzierte Philosophie, als Volksreligion bleibt sie meist Mythologie. Der Islam kehrt zwar zur monotheistischen Reinheit der jüdischen Gottesvorstellung zurück, versucht sich aber von jeglicher Berührung mit der Philosophie fernzuhalten und ist daher in Glaubensfragen in mittelalterlichem Sozialverhalten und einer entsprechenden Gedankenwelt steckengeblieben. Trotz großer philosophischer Blütezeiten (Ibn Sina/Avicenna, 980–1037 59, Ibn Ruschd/ Averroes, 1126–1198 60), in denen Glaube und Philosophie zwar getrennt, aber gleichberechtigt nebeneinander gedeihen konnten und in denen die arabische Kultur auch auf die noch kaum entwickelte abendländische Kultur ausstrahlte, kann sich die Philosophie im letzten gegen den islamischen Glauben nicht durchsetzen (al-Ghazali, 1058–1111 61). Im Islam besteht eine strikte Trennung von Glaube und Vernunft. Die Glaubenswahrheiten gelten aus sich selber heraus und bedürfen keiner vernünftigen Begründung und Rechtfertigung, zu ihnen gibt es einen eigenen Zugang mystischer Erleuchtung. Selbst in der größten Hochblüte arabischer Philosophie vom 10. bis 13. Jahrhundert in Syrien und Iberien geht es letztlich nur darum, inwiefern der Vernunft neben dem Glauben ein eigener Zugang zur Wahrheit zuerkannt werden kann. Trotzdem kommt es im maurischen Spanien zu einer einzigartigen multikulturellen Begegnung und Toleranz zwischen Islam, Juden und Christen vermittelt durch die gemeinsame Anerkennung der kritischen Vernunft der Philosophie (Ramon Lul/Lullus, 1235–1315 62),
Avicenna, Buch der Genesung der Seele (1907/09). Zu Averroes siehe Max Horten, Die Philosophie des Islam (1924). 61 Abu-Hamid Muhammad al-Ghazali, Der Erretter aus dem Irrtum (1988). 62 Zu Raymundus Lullus siehe Jacob Guttmann, Die Scholastik des 13. Jahrhunderts und ihre Beziehungen zum Judentum und zur jüdischen Literatur (1902). 59 60
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Nachbemerkungen zur Philosophie als Mittlerin zwischen den Religionen
aber diese Toleranz gegenüber der Philosophie und damit gegenüber den anderen Religionen kann sich in der weiteren geschichtlichen Entwicklung nicht halten. 3. Von daher ist es verständlich, dass sich die Philosophie nur in Europa in Durchdringung des Christentums ab der Renaissance erneut – wie zuvor in Griechenland – von jeglicher religiöser Bevormundung befreien konnte. Denn nur dadurch, dass die Philosophie als Magd der Theologie benötigt wurde, konnte sie sich weiterentwickeln und emanzipieren. Aus der gegenseitigen Verschlingung von Philosophie und Glauben in der christlichen Theologie geht das freie Denken letztlich als Sieger hervor. Durch die Jahrhunderte hindurch wird in Europa die Alltagskultur säkular, und der religiöse Glaube wird zwar keineswegs abgeschafft, aber in die Privatsphäre zurückgedrängt. Wir stehen heute noch mitten in diesem Prozess. Dabei dürfen wir nicht übersehen, dass die Rationalität im neuzeitlichen Europa – wie schon in der griechischen Klassik – in zweifacher Gestalt auftritt. Aus der Verwechselung und der Vernämlichung beider Gestalten erwachsen mannigfaltige Missverständnisse: (a) Die eine Gestalt der Rationalität ist – im Anschluss an die griechische Klassik von Platon und Aristoteles – die immer selbstkritisch bleibende Philosophie. Sie stellt sich der Aufgabe, dem Menschen sowohl die Grenzen seiner Vernunft als auch eine Sinnorientierung seines sittlichen Menschseins und seiner geschichtlichen Verantwortung zu ergründen. Die kritische Philosophie deckt dabei die Grenzen der Vernunft und die Fundamente sittlichen Menschseins unabhängig von jeglichen Vorgaben religiöser oder politischer Art auf. Das bedeutete aber keineswegs eine Leugnung der Gottesproblematik, sondern im Gegenteil deren Verstehen »in den Grenzen der bloßen Vernunft« (Kant), wie man an der Traditionslinie Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) 63, Giordano Bruno (1548–1600) 64, Baruch de Spinoza (1632–1677) 65, Immanuel Kant (1724–1804) 66 ersehen kann. Die Gottesfrage wird in der kritischen Philosophie als Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen (1990). Giordano Bruno, Von den heroischen Leidenschaften (1989). Vgl. Klaus Heipcke/ Wolfgang Neuser/Erhard Wicke (Hg.), Die Frankfurter Schriften Giordano Brunos und ihre Voraussetzungen (1991). 65 Baruch de Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat (1976). 66 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, IV: 649 ff. 63 64
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
eine für sie selbst notwendige Grenzproblematik freigelegt, der sich die menschliche Vernunft nicht entziehen kann, will sie nicht einer unkritischen Absolutsetzung eines selbst gezimmerten Fetisches zum Opfer fallen. Weil die kritische Philosophie offen ist für die Gottesfrage als unabweisbare Grenzproblematik, ist sie auch offen zum Dialog mit allen Glaubensrichtungen, sofern diese sich nicht fundamentalistisch und militant jeglichem vernünftigen Gespräch versperren. (b) Die zweite Gestalt der Rationalität ist die – in der Antike bereits bekannte, aber in der Neuzeit in Europa dominant gewordene – der eindimensional reduzierten Vernunft: die reine wissenschaftlich-instrumentelle Rationalität (Sophistik) und die utilitaristischökonomische Ideologie (Rhetorik), denen jegliche Form selbstkritischer Reflexion mangelt. Die eindimensionale Rationalität und Ideologie erkennen keine Wahrheit und keine Sittlichkeit an – und noch viel weniger einen Gott –, deren Anspruch sie sich verpflichtet wüssten, wie dies Friedrich Nietzsche visionär für den »Übermenschen« prophezeit hat. 67 Nietzsche meinte zwar unter dem Übermenschen etwas ganz anderes, aber er bereitete dadurch einem Nihilismus den Boden, der im 20. Jahrhundert in grauenhaften Formen Wirklichkeit geworden ist. Dort, wo Gott für tot erklärt und alle Sittlichkeit in den Nihilismus umgewertet wird, konnten Nationalsozialismus und Stalinismus, Technologie und Kapitalismus sich als übermenschliche Herrschaftsgestalten absolut setzen – und in modernen Gewändern tun sie es auch heute noch. 68 In ihrer Eindimensionalität erweisen sich diese reduzierten Gestalten der Rationalität als ideale Instrumente der politisch-ökonomischen Expansion der westlichen Industrienationen, durch die diese den Rest der Welt dem von ihnen beherrschten und ausgenutzten Markt unterwerfen. Die eindimensionale Rationalität huldigt und dient – ohne dessen gewahr zu werden, denn dazu mangelt es ihr an selbstkritischer Einsichtsfähigkeit – einem neuen Gott: dem absolut gesetzten Wertgesetz, dem alle menschliche Sittlichkeit und alle
Friedrich Nietzsche, III, 440: »Nicht ›Menschheit‹, sondern Übermensch ist das Ziel!« 68 Christoph Türcke, Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft (1989). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999): 126 ff. 67
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Nachbemerkungen zur Philosophie als Mittlerin zwischen den Religionen
Sinnbestimmung menschlicher Geschichte geopfert wird. Hier findet de facto die Umwertung aller Werte statt, alles Menschliche wird dem ökonomischen Wertgesetz unterworfen und die Logik des Wertgesetzes wird zum Maßstab alles Menschlichen erklärt – dies nannte Marx die Verkehrtheit, ja Verrücktheit unserer kapitalistischen Welt. 69 Die Gefährdung, die in dieser Art eindimensionaler Rationalität und Machbarkeitsideologie für alle kulturelle Formen des Menschseins, ja für den Bestand der ganzen Menschheit selbst steckt, haben kritische Philosophen – von F. W. J. Schelling bis Edmund Husserl, von Karl Marx bis Herbert Marcuse – immer wieder aufgezeigt. 70 5. Beim heute viel beschworenen »Kampf der Kulturen« (Samuel P. Huntington) 71 zwischen islamischer und westlicher Welt stehen sich zunächst fundamentalistisch aufgestachelte Religiosität und kapitalistisch genutzter Liberalismus gegenüber. Das eine ist so wenig allein dem Islam eigen – man denke nur an die christlichen Fundamentalismen in Nordirland oder an den jüdischen Fundamentalismus in Israel –, wie das andere das westliche Denken allein schon repräsentiert. 72 Will man sich nicht allzu schnell zum Sprachrohr des Kampfes von der einen oder der anderen Seite her missbrauchen lassen, so gilt es, einerseits geschichtlich aufzuzeigen, dass es nur eine Vernunft gibt und dass die islamisch und die christlich geprägten Kulturen sehr wohl miteinander kooperieren können, sofern sie sich philosophisch verstehend füreinander öffnen, sowie andererseits herauszustellen, dass die eigentlich den Konflikt schürenden Kräfte in der kapitalistischen Akkumulation und deren ungleicher Nutznießung liegen. Es besteht kein Zweifel, dass der sich globalisierende KapitalisKarl Marx, Das Kapital, 23: 85 ff. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genesis und Kernstruktur der Marxschen Theorie (1981): 118 ff. 70 F. W. J. Schelling, Philosphische Untersuchungen zum Wesen der menschlichen Freiheit (1809), VII: 390. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936/1977): 7. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (engl. 1964/1970): 267 f. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (1984). 71 Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert (engl. 1996). 72 Werner Ruf, (Hg.), Islam and the West. Judgements, Prejudices, Political Perspekctives (2002). Konstantinos Romanós, »Verstehen und Verständigung zwischen Christentum und Islam. Das gemeinsame griechische Kulturerbe« (2007): 337 ff. 69
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Thesen zum interkulturellen Selbstverständnis der Philosophie
mus und die ihn legitimierende eindimensionale Rationalität auch vor den islamischen Staaten nicht haltmachen wird und dabei – wie es Marx einst kritisch formulierte 73 – alle kulturellen, religiösen, sozialen und familialen Bande niederreißen wird. Das Aufbegehren islamisch fundamentalistischer Bewegungen gegen die auch das Alltagsleben ihrer Länder durchsetzende eindimensionale Rationalität der westlichen Welt in ihrer reduzierten Gestalt liberalistischer Ideologie und kapitalistischer Wertökonomie ist daher verständlich. Jedoch erweisen sich die fundamentalistischen Bewegungen als völlig hilflos, denn sie vermögen niemals, den sich globalisierenden Kapitalismus zu überwinden, da sie in ihrer Rückwärtsgewandtheit über keine kritischen Potenzen seiner Aufhebung verfügen, allenfalls können sie ihn eine kurze Weile von ihren Ländern fernhalten. Aber auch hier wird der expandierende Kapitalismus auf seine bewährten Mittel ökonomischer Abhängigmachung und Unterwanderung bauen können. Eine Überwindung der eindimensionalen Rationalität kann nur von einem durch die kritische Philosophie vermittelten Dialog erhofft werden, die sich kritisch gegen alle Formen der Knebelung und Korrumpierung menschlicher Vernunft wendet. Dabei darf die kritische Philosophie in den islamischen Ländern nicht – sich selbst missverstehend – als westlicher Import auftreten, sonst wird sie niemals den religiösen Fundamentalismus gewachsen sein können, sondern sie muss sich aus dem ureigenen Anliegen der Menschen der islamischen Gemeinschaft legitimieren. In dieser Aufgabe sollte sich die kritische Intelligenz in den islamischen Ländern der Solidarität und Unterstützung aller Kräfte kritischer Philosophie auch in den westlichen Industrienationen gewiss sein können. Einzig die kritische Vernunft könnte, wenn sie die Massen ergreift, sowohl die eindimensionale Rationalität und Ideologie kapitalistischer Globalisierung als auch die fundamentalistische Abschottung von der Vernunft von innen heraus überwinden. Dass dies eine sehr utopische Hoffnung ist, wissen wir alle, aber sie ist die einzige Alternative zur voranschreitenden Entmenschung der Welt. Daher muss wenigstens der Versuch unternommen werden, die kritischen Kräfte in diese Richtung zu bündeln (Henri Lefebvre) 74. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 42: 323 f. Henri Lefebvre, Die Zukunft des Kapitalismus. Die Reproduktion der Produktionsverhältnisse (fr. 1973).
73 74
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Nachbemerkungen zur Philosophie als Mittlerin zwischen den Religionen
Zunächst gilt es daher, auf der einen Seite im islamischen Denken an jene Traditionslinie anzuknüpfen, die die Vernunft der Religion zur Seite stellte. Die Diskussion muss wieder aufgenommen werden bei Denkern wie Ibn Sina und Ibn Ruschd, aber darüber hinaus sind auch in der islamischen Welt die großen Philosophen der Neuzeit zu rezipieren und weiterzudenken. 75 Auf der anderen Seite muss die kritische Philosophie im westlichen Denken ihre oftmals atheistische Attitüde aufgeben, die immer schon die größte Schwachstelle des philosophischen Denkens auch bei Karl Marx darstellt, der sich hierin allzu undialektisch auf die eindimensionale Religionskritik von Ludwig Feuerbach berief. 76 Wir können vom religiösen Denken im Islam oder sonst wo nicht erwarten, dass es sich der philosophischen Vernunft öffnet, wenn das philosophische Denken sich nicht selbst als offen zum Gespräch mit religiösen Glaubensrichtungen erweist. Wo das Denken letzte Grenzfragen leugnet, gibt es sich selbst preis und wird – ohne es zu wissen und zu wollen – zum Handlanger der herrschenden Verkehrtheit und Verrücktheit, die letztlich unsere Selbstauslöschung als Menschen bedeutet. Diesen Problemen eingedenk, werden beide Seiten sich zu einem Dialog zusammenfinden können, wie ihn beispielsweise Ernst Bloch zwischen kritischer Philosophie einerseits sowie den rebellischen Potenzen von Judentum und Christentum andererseits begonnen hat 77 – nun um den Islam erweitert. Es sollte dies ein Dialog um die Sinnorientierung und Verantwortung menschlichen Handelns in der Geschichte sein, der sich zugleich als Kampf gegen die der Menschwerdung des Menschen entgegenstehenden Dogmatismen und Fundamentalismen, den globalisierten Kapitalismus mit einbezogen, versteht. 78
Mohamed Turki, Einführung in die arabisch-islamische Philosophie (2015). Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1941), III: 47 ff. 77 Ernst Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs (1968). 78 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999). 75 76
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8. Verstehen, Anerkennen und Verständigung Eine methodologische Vorklärung 1
1.
Das Verstehen fremder Kulturen
Ende des 19. Jahrhunderts führt Wilhelm Dilthey in Abgrenzung von der kausalerklärenden Methode der Naturwissenschaften für die Sprach-, Kultur- und Geschichtswissenschaften, die er Geisteswissenschaften nennt, die Methode des Verstehens ein. Dilthey erweitert dabei Friedrich Schleiermachers Text-Hermeneutik 2 auf das Verstehen von Sinnhaftem in allen menschlichen Lebenszusammenhängen, und er macht die Hermeneutik somit zur Grundlage für alle Wissenschaften vom Menschen. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die mit ihren Forschungsmethoden objektivierte Kausalzusammenhänge verfolgen, in denen das Subjekt – auch als erkennendes – abgeschottet wird, kann sich der Mensch schon allein im psychologischen Selbstbezug seines Erlebens nur verstehend begegnen. Dilthey wendet die verstehende Methode zunächst auf die Psychologie an, denn bereits das Verstehen eines anderen Menschen ist ohne ein Sich-selbst-Verstehen, ohne ein Mitfühlen oder Miterleben mit einem anderen Subjekt gar nicht möglich. Aber bald schon weitet er sie auf alle Wissenschaften vom Menschen in seinen sozialen und geschichtlichen Bezügen aus. 3 Verstehen ist grundsätzlich ein dialektischer Prozess, der ein Fremdsubjekt aus seinen Äußerungsformen deutend zu erfassen verDer vorliegende Beitrag knüpft völlig umgearbeitet und auf die methodologische Frage reduziert an meinen Tagungsvortrag an: »Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie. Justin Stagl zum 60. Geburtstag, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002: 15 ff. 2 Friedrich D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik (1977). 3 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910). Siehe auch Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960). Thomas Göller, Kulturverstehen. Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und kulturellen Erkenntnis (2000). 1
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Das Verstehen fremder Kulturen
sucht. Dabei verweisen die Äußerungsformen auf das Subjekt zurück, das sie äußert, sind aber dieses nicht selbst. Das verstehende Subjekt ist bemüht, aus den Äußerungen das zu verstehende Subjekt deutend zu erfassen. In diese Deutungen gehen unweigerlich identifizierende und distanznehmende Analogiebildungen aus dem Selbstverständnis des verstehenden Subjekts und seiner Verwurzelung in der eigenen Lebenserfahrung mit ein. Doch niemals kann dabei ein vollständiges Hineinversetzen in den Anderen, in das Fremde stattfinden. Gerade dass der zu verstehende Andere weder gänzlich aus seiner eigenen Subjektivität verstanden noch zu einem erklärbaren Objekt werden kann, sondern aus seinen Äußerungen gedeutet werden muss, macht die dialektische Eigentümlichkeit des Verstehens aus. Diejenige Wissenschaft, die bisher am intensivsten das Problem des Verstehens fremder Kulturen ausgearbeitet und dazu die differenziertesten Methoden entwickelt hat, ist die Ethnologie oder Kulturanthropologie. 4 Das Verstehen fremder Kulturen ist zwar nicht ihre einzige Aufgabe, wohl aber die grundlegendste Forschungsaufgabe der Ethnologie – daneben geht es ihr noch um die Ausarbeitung einer Theorie der menschheitlichen Kulturentwicklung in ihren epochalen Stufungen. 5 Beim ethnologischen Verstehen fremder Kulturen geht es darum, eine Kultur aus ihrem jeweiligen gelebten, kulturellen Gesamtzusammenhang zu erfassen und zu interpretieren. Als Material für ein solches ethnologisches Verstehen gehen sämtliche Informationen ein, die über diese Kultur in all ihren Bereichen vom Lebensalltag im sozialen Kontext bis zur Sinndeutung der Welt (Mythos, Religion), von den Arbeitsprozessen bis zu den Verwandtschaftsbeziehungen verfügbar sind. Aber nicht die einzelnen Daten für sich genommen interessieren, sondern sie sind nur Ausdrucksformen und Objektivationen, die es auf die Subjektivität der fremden Kultur, das Aktivzentrum ihres Lebenszusammenhangs hin zu interpretieren gilt. 6 So Justin Stagl, Kulturanthropologie und Gesellschaft. Eine wissenschaftssoziologische Darstellung der Kulturanthropologie und Ethnologie (1974). 5 Siehe hierzu die vorausgehenden Beiträge »4. Das Verstehen fremder Kulturen und die Entwicklung menschlicher Kultur« und »5. Strukturale und geschichtsmaterialistische Kulturanthropologie«. 6 Walther Schmied-Kowarzik, Die Objektivation des Geistigen. Der objektive Geist und seine Formen (1927). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Objektivationen des Geistigen. Beiträge zur Kulturphilosophie in Gedenken an Walther SchmiedKowarzik (1985): 19 ff. 4
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Verstehen, Anerkennen und Verständigung
bleibt das ethnologische Verstehen nur die dialektische Annäherung an ein Erfassen der Subjektivität der fremden Kultur aus den Objektivationen ihrer Lebensvollzüge – ihren materiellen Kulturgütern, ihren Verhaltensweisen, ihren Lebens- und Ausdrucksformen und ihren Sinndeutungen von Welt und Gott. 7 Wie jedes Fremdsubjekt, so kann auch die Subjektivität einer fremden Kultur niemals völlig erfasst werden, denn schon die Absicht eines totalen Verstehens des Fremden, des Anderen würde entweder bedeuten, dass sich ein Bewusstsein in ein anderes gänzlich hineinversetzen könnte oder dass das fremde Bewusstsein nichts anderes sei als seine Objektivationen – dies beides sind Verkürzungen, die gerade die Subjektivität des Anderen und Fremden als Grundvoraussetzung allen Verstehens verleugnen. Dabei wird die deutende Interpretation des Lebenszusammenhangs der fremden Kultur immer von unserem eigenen Verständnishorizont geprägt sein. Es muss daher immer auch Aufgabe ethnologischen Verstehens sein, der eigenen Interpretation inne zu werden, um durch ihre Relativierung das Fremde von ihm selbst her zur Sprache kommen zu lassen. Allen Verfeinerungen der Methoden ethnologischen Verstehens von der Reisebeschreibung 8 über die teilnehmende Beobachtung bis zur ethnomethodologischen Phänomenologie liegt dieses doppelte Wechselspiel deutender Rückbeziehung der kulturellen Objektivationen auf die Subjektivität der fremden Kultur bei gleichzeitiger Bewusstmachung der Differenz fremder Kulturzusammenhänge bezogen auf die eigene kulturelle Identität zugrunde. (Geertz, Die künstlichen Wilden, engl. 1988) So sehr das ethnologische Verstehen bemüht ist, die fremde Kultur gerade in ihrer Subjektivität verstehend zu erfassen, bleibt es doch grundsätzlich der einseitige Akt eines verstehenden Subjekts bezogen auf die ihr fremde Kultur – niemals kann es zu einer Wechselseitigkeit der verstehenden und der zu verstehenden Subjektivität kommen. Diese Einseitigkeit, die prinzipiell allem hermeneutischen und phänomenologischen Verstehen anhaftet, hat zum Vorwurf geführt, die Ethnologie sei eine europäisch-nordamerikanische Kolonialwissenschaft, die alle außereuropäischen Kulturen als etwas Fremdes oder gar Minderwertiges abstempelt. Daher verweigern viele junge Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1969). 8 Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier. Die Lust des Reisens 1550–1800 (2002). 7
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Das Verstehen fremder Kulturen
Nationen inzwischen den Ethnologen wissenschaftliche Forschungen in ihrem Staatsgebiet, da sie es ablehnen, dass Teile ihrer Bevölkerung zum »Objekt« europäischer oder nordatlantischer Kolonialwissenschaften gemacht werden. An die Stelle der Ethnologie soll in diesen Staaten eine eigene nationale Geschichtsschreibung treten. 9 Zwar ist der kritische Hinweis berechtigt, dass die Ethnologie im Schatten der Kolonisierung entstand und im Zeitalter des Imperialismus die höchste Förderung genoss, ja mehr noch, dass viele ethnologische Projekte auch heute noch reine Auftragsforschungen im Dienste europäisch-nordamerikanischer Staatsinteressen und transnationaler Konzerne darstellen, aber der Vorwurf an die Ethnologie, sie sei eine europäische oder nordatlantische Kolonialwissenschaft, die die Kulturen der anderen Kontinente als fremde objektiviere, trifft das Problem nicht. Dies wird spätestens dort sichtbar, wo diese Nationen selbst anfangen, über ihre nationale Geschichtsschreibung hinaus, sich ihrerseits der abendländischen Kultur und Geschichte als eine ihr fremde zuzuwenden, um sie zu erforschen. Sie können dann nicht anders, als selbst zu den von der Ethnologie erarbeiteten differenzierten Methoden des Verstehens zurückzufinden. Man denke hier nur an die bereits bestehenden ethnologischen Untersuchungen japanischer Forscher über die ihnen fremde europäische Kultur und Geistesgeschichte. 10 Aber trotz dieser Möglichkeit des Standortswechsels der Verstehenszentren und damit der wechselseitigen Vertauschung von Fremdem und Eigenem bleibt die grundsätzliche Einseitigkeit des ethnologischen Verstehens fremder Kulturen bestehen. Die Ethnologie objektiviert zwar – wenn sie sich als verstehende Disziplin begreift – die anderen Kulturen nicht, im Gegenteil: Sie versucht, aus deren Objektivationen deren je eigene Subjektivität zu erfassen, aber sie deutet die Fremdheit der anderen Kulturen zwangsläufig von ihrer eigenen kulturellen Subjektivität her – die allerdings jeweils eine andere sein kann. Diese strukturelle Einseitigkeit sollte man dem ethnologischen Verstehen nicht zum Vorwurf machen, sondern nur die Yomb May, »Der Postkolonialismus und die Aporien der Modere« (2007): 74 ff. Miklos Szalay, Ethnologie und Geschichte (1983). Helmut Schindler, Bauern und Reiterkrieger. Die Mapuche-Indianer im Süden Amerikas (1991). 10 Keiji Nishitani, Was ist Religion? (1980). Siehe auch Takemitsu Morikawa, Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik. Der interkulturelle Vermittler Mori Ôgai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 (2013). 9
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Verstehen, Anerkennen und Verständigung
Selbsteinsicht in die grundsätzliche Gebundenheit an die eigene Subjektivität einfordern – wie dies Clifford Geertz beispielhaft thematisiert hat. 11
2.
Die gegenseitige Anerkennung
Aus der Kritik an der Einseitigkeit ethnologischen – sowie grundsätzlich allen – Verstehens wurde in jüngerer Zeit von verschiedenen Weltgegenden her die Forderung nach einer Wissenschaft der gegenseitigen Anerkennung von Fremdsystemen erhoben, denen es darum geht, dass nicht nur von einem Verstehenszentrum aus das Fremde anderer Kulturen definiert wird, sondern dass grundsätzlich von einer wechselseitigen Anerkennung des Fremdseins der Kulturen, die in einem aktiven Austauschprozess miteinander stehen, ausgegangen werden muss. 12 Bei dieser Wissenschaft der Akzeptanz von Fremdsystemen handelt es sich um eine Problemstellung, der es nicht mehr um ein hermeneutisches Verstehen fremder Kulturen geht, sondern um eine politikwissenschaftliche Problemstellung. Daher ist auch nicht das Verstehen ihr Ausgangs- und Zielpunkt, sondern die gegenseitige Einforderung des politischen Rechts auf Selbstbestimmung eines Volkes, deren methodologische Grundlage heute oft – mit Rückgriff auf Hegel und Marx – unter dem Stichwort der »Dialektik der Anerkennung« diskutiert wird. 13 Dabei wird meist auf die Ausführungen zum »Kampf um Anerkennung« im Kapitel »Herrschaft und Knechtschaft« aus Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) zurückgegriffen, obwohl die Anerkennungsproblematik von Hegel in seinen früheren und auch späteren Schriften weitaus differenzierter aufgefächert ist. So entwickelt Hegel bereits in den Jenaer Manuskripten (1804–1806) eine dreigliedrige Dialektik der Anerkennung, die von der basalen Hinwendung der Liebenden zueinander – Mann Clifford Geertz, Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller (engl. 1988). 12 (L.-J.) Munasu Duala-M’bedy, Xenologie. Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie (1977). Siehe hierzu auch den folgenden Beitrag »9. Ethnologie, Xenologie und Interkulturelle Philosophie«. 13 Charles Taylor u. a., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (1997). Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (1994). Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen (1996). 11
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Die gegenseitige Anerkennung
und Frau, Eltern und Kindern – ausgeht, danach zum Kampf um die eigene Anerkennung durch den Anderen im Erwerbsleben fortschreitet, um schließlich bis zur bewussten gegenseitigen Anerkennung im sittlichen Zusammenleben eines Volkes vorzudringen. Auf eine Auseinandersetzung mit diesen weiterreichenden Ausführungen zum Anerkennungsproblem des jungen und späteren Hegel können wir an dieser Stelle nicht eingehen, es galt nur anzumerken, dass Hegel nicht allein auf den »Kampf um Anerkennung« festgelegt werden darf. 14 In der gegenwärtigen Debatte um die Anerkennungsfrage hat sich jedoch der Rückbezug allein auf Hegels Kapitel »Herrschaft und Knechtschaft« aus der Phänomenologie des Geistes (1807) durchgesetzt. Darin geht es nicht um das dem Anderen entgegengebrachte Anerkennen, sondern um den Kampf des Anerkanntwerdens durch einen Anderen, denn erst im Anerkanntwerden durch ein anderes Subjekt erfährt sich ein Selbst wahrhaft in seinem Selbstbewusstsein bestätigt. Da kein Subjekt in seiner Selbstbehauptung von sich aus bereit ist, den Anderen als Subjekt anzuerkennen, kommt es zum Kampf um Anerkennung. Dies ist zunächst ein Kampf auf Leben und Tod, denn jeder will seine Anerkennung durch den Anderen erzwingen. Endet der Kampf tatsächlich – wie Hegel darlegt – im Tod eines oder beider Kontrahenten, so ist allerdings auch das Begehren der Anerkennung gescheitert. Nur wenn einer der beiden, um des Lebens willen, sich dem Anderen unterwirft, erreicht der Herr die Anerkennung durch den Knecht und der Knecht jene durch den Herrn. »In dieser Erfahrung wird es dem Selbstbewußtsein, daß ihm das Leben so wesentlich als das reine Selbstbewußtsein ist.« (Hegel, 3: 150) Das Ergebnis dieses Kampfes besteht also darin, dass beide Subjekte nun wissen, dass das jeweils andere Subjekt – trotz aller unüberbrückbaren Differenzen – es anerkennt. Das Selbst brauchte die Anerkennung des Anderen, wie dieser die Anerkennung jenes bedarf. So liegt in Hegels Satz: »Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend« (Hegel, 3: 147) nicht etwa die Aufhebung des Gegensatzes von Herr und Knecht, sondern sie erkennen und anerkennen sich gerade in ihrer Unterschiedenheit. Wobei Hegel im letzten ein Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie (1979). Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 118 ff.
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Verstehen, Anerkennen und Verständigung
gewisses Plus beim Knecht sieht, denn das Leben des Herren geht im Genuss auf, während demgegenüber der Knecht über seine Arbeit die Bemeisterung der Dinge hinzugewinnt. »Durch die Arbeit kommt es [das Bewusstsein des Knechts] aber zu sich selbst. […] Die Arbeit […] ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder die bildet. [… D]as arbeitende Bewußtsein kommt also hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins als seiner selbst.« (Hegel, 3: 154) Dieses Moment der Dialektik der Anerkennung überträgt Hegel in seiner Rechtsphilosophie (1821) modifiziert auf das Verhältnis der Völker bzw. Staaten widereinander. Für Hegel ist das »Volk als Staat […] die absolute Macht auf Erden« (Hegel, 7: 498) über die hinaus es keine weiteren rechtlich-verfassten Instanzen geben kann. Allenfalls können die einzelnen Staaten miteinander begrenzte Bündnisse eingehen, aber grundsätzlich befinden sie sich im Naturzustand, d. h. in einem fortdauernden Kampf um Anerkennung widereinander. »Der Streit der Staaten kann deswegen, insofern die besonderen Willen keine Übereinkunft finden, nur durch Krieg entschieden werden.« (Hegel, 7: 500) In diesem Zusammenhang weist Hegel die »Kantische Vorstellung eines ewigen Friedens durch einen Staatenbund, welcher jeden Streit schlichtete«, kategorisch zurück, da ein solcher Staatenbund keine rechtliche Macht haben könne, sondern allenfalls eine »Einstimmung« aus »moralischen, religiösen […] Gründen« (Hegel, 7: 500) wäre, der durch jeden Staat, der auch nur vermutete, durch einen anderen bedroht zu sein, jederzeit durch Krieg aufgehoben werden könne und sogar müsse. Die Pointe von Hegels Dialektik des Kampfs um Anerkennung liegt darin, dass sich die Völker und Staaten gerade im Kriege als souveräne Gegner »gegenseitig anerkennen«, denn darauf ruht die Voraussetzung für einen temporären Friedensschluss der Staaten innerhalb der unaufhebbaren Kriegsbereitschaft widereinander. (Hegel, 7: 501 ff.) Carl Schmitt hat diesen Teilabschnitt des Kampfs um Anerkennung zur grundlegenden Freund-Feind-Relation vereinfacht und diese zur Fundamentalkategorie des Politischen erklärt. 15 Natürlich ist an dieser Analyse des Politischen richtig, dass jeder Fremde sowohl innerhalb der eigenen politischen Gemeinschaft als auch aus einer anderen politischen Gemeinschaften – also der religiös anders Denkende, der kulturell anders Geprägte, der anders aussehende Mensch Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932). Vgl. Flickinger (Hg.), Autonomie des Politischen (1990).
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Interkulturelle Verständigung als regulative Idee
– jederzeit zum Feind erklärt werden kann und auch immer wieder zum Feind erklärt wird. Auch wird niemand ernsthaft bestreiten können, dass dieser Freund-Feind-Schematismus den politischen Verhaltensweisen der Völker untereinander entspricht. Samuel P. Huntingtons Clash of Civilizations (1996) ist hierzu nur eine modifizierte Fortschreibung dieser Freund-Feind-Logik in unsere Epoche der Globalisierung übertragen. 16 Diese Realität, die wir bei uns und rund um die Welt vorfinden, 17 darf jedoch nicht als Basis, Recht und Notwendigkeit der Menschheitsgeschichte legitimiert werden, sondern ist gerade das, an deren Überwindung wir politisch und pädagogisch – in einem weiten emanzipatorischen Sinne verstanden – zu arbeiten haben. 18 Ohne Zweifel liegt diese Logik des Kampfs um Anerkennung auch dem gegenwärtigen Ringen der Völker, Kulturen und Staaten um ihr Selbstbestimmungsrecht zugrunde, das immer die Forderung eines Volkes impliziert, dass die eigenständige Souveränität durch die anderen Völker, Kulturen und Staaten anerkannt werde. Insofern ist der Kampf um Anerkennung ein unverzichtbares Moment, aber es kann doch nicht das letzte Wort einer praxisphilosophischen Bestimmung des Eigenrechts der Kulturen und der Endperspektive der Menschheitsgeschichte sein. Die richtige Analyse des Bestehenden wird zum Zynismus gegen alle Humanisierung menschlichen Zusammenlebens, wenn man es versäumt, die noch grundlegendere Kategorie der Verständigung – über das Verstehen des Fremden und den »Kampf um Anerkennung« hinaus – in die sittlich-praktische Bestimmung der Menschheitsgeschichte mit einzubeziehen.
3.
Interkulturelle Verständigung als regulative Idee
Bereits Hegel bleibt nicht bei dem Kampf um Anerkennung der Völker widereinander stehen, sondern sieht die sittliche Lösung der Anerkennungsproblematik in letzter Instanz in der Weltgeschichte – allerdings einer Weltgeschichte, die der menschlichen Einflussnahme Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert (engl. 1996). 17 Erhard Oeser, Die Angst vor dem Fremden. Die Wurzeln der Xenophobie (2015). 18 Charles Taylor u. a., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (1993). Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Bildung, Emanzipation und Sittlichkeit. Philosophische und pädagogische Klärungsversuche (1993). 16
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Verstehen, Anerkennen und Verständigung
entzogen ist. Nur die Weltgeschichte erweist sich – so Hegel – als ein »Recht« des Geistes über die einzelnen Staaten hinaus, sie stellt das »Weltgericht« des Weltgeistes über die Völker und Staaten dar. Aber es gibt keine Möglichkeiten für die »Staaten, Völker und Individuen«, sich für das weltgeschichtliche Ganze zu engagieren, sie sind letztlich nur »bewußtlose Werkzeuge und Glieder jenes inneren Geschäfts« (Hegel, 7: 505) des geschichtlichen Fortgangs der inneren Vernunft des Weltgeistes. Bei Hegel wird die Hoffnung, dass die Weltgeschichte durch das bewusstlose menschliche Tun und durch das gewaltsame Agieren der Staaten auf einen »Fortschritt der Freiheit« (Hegel, 12: 32) zustrebe, zum unverbrüchlichen Glauben an einen göttlichen Weltgeist – wie er in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte ausführt: »Daß die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiele ihrer Geschichten – dies ist die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist.« (Hegel, 12: 539 f.) Aber können wir tatsächlich der zukünftigen Geschichte gegenüber so tatenlos auf das Heilswirken des absoluten Geistes hoffen? Haben wir hier nicht vielmehr auf Kants und Marxens Appelle zu hören, uns selbst aktiv für eine sittliche Vollbringung der Menschheitsgeschichte einzubringen. 19 Die regulative Idee, die einer solchen menschheitsgeschichtlichen Handlungsperspektive zugrunde liegt, heißt interkulturelle Verständigung. Innerhalb des praxisphilosophischen Diskurses meint interkulturelle Verständigung (1) die basale Verständigungsfähigkeit der Menschen sowohl innerhalb der eigenen kulturellen Gemeinschaft als auch in Bezug auf fremde kulturelle Gemeinschaften. Unter allen Menschen verschiedenster Kulturen besteht diese grundsätzliche Möglichkeit der Verständigung sowohl im sprachlich-theoretischen 20
Siehe hierzu Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 241 ff. sowie Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999): 268 ff. 20 In diesem Sinne spricht man auch in der Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft von der grundlegenden Kategorie der Verständigung unter allen Menschen. Vgl. Richard Hönigswald, Philosophie und Sprache. Problemkritik und System (1939). 19
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Interkulturelle Verständigung als regulative Idee
als auch im sittlich-praktischen Sinne – auch wenn es langwierige kommunikative Prozesse impliziert, bis die grundsätzlichen Fähigkeiten auf beiden kulturellen Seiten zu einer wirklichen Entfaltung kommen. Die Verständigungsfähigkeit kann sich erst aus, in und durch interkulturelle Kommunikation verwirklichen. Deshalb darf auch das Verstehen des Fremden nicht statisch aufgefasst werden, es ist vielmehr nur wie eine Momentaufnahme, die eine Erinnerung innerhalb des Kommunikationsprozesses aufbewahrt. Vielmehr geht es darum, dass das Verstehen fremder Kulturen sich dem Primat interkultureller Verständigung verpflichtet weiß. Interkulturelle Verständigung setzt (2) eine Gegenseitigkeit der sich anerkennenden Individuen bzw. Kulturen als handelnde Subjekte voraus, kann also grundsätzlich nur als mehrpolige Interaktionsgemeinschaft gedacht werden. Man würde jedoch den sittlich-praktischen Begriff der interkulturellen Verständigung gründlich missverstehen, hörte man aus ihm lediglich Harmonie, Dialog und Friedfertigkeit heraus. Unter interkultureller Verständigung ist gerade nicht die Einebnung von Differenzen schlechthin zu verstehen. Einander fremde Kulturen wird es immer geben; es geht vielmehr darum – über alle Differenzen hinweg –, zu einer Perspektive der Verständigung zu finden, die eine gemeinsame Zukunft ermöglicht. Insofern kann und darf der »Kampf um Anerkennung«, der ja immer nur die eigene Anerkennung durch den Anderen einfordert, also nur eine negative Wechselseitigkeit repräsentiert, nicht das menschheitsgeschichtliche Letztziel bleiben. Interkulturelle Verständigung zielt schließlich (3) auf die regulative Idee, kulturelle Konflikte durch gemeinsame Verständigung auszutragen und aufzulösen, sie ist der sittlichen Aufgabe eines Miteinanders aller Kulturen verpflichtet, dem solidarischen miteinander Handeln in einer gemeinsam getragenen Weltbürgerschaft. Denn Menschsein ist kein Faktum, sondern ein uns aufgegebenes Projekt – in diesem Sinne zielt schon Kants regulative Idee eines »Weltbürgerrechts« auf eine über das Politische hinausreichende humane Verständigungsgemeinschaft – wie Kant in der Metphysik der Sitten (1797) darlegt: »Diese Vernunftidee einer friedlichen, wenn gleich noch nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden, die untereinander in wirksame Verhältnisse kommen können, ist nicht etwa philanthropisch (ethisch), sondern ein rechtliches Prinzip. Die Natur hat sie alle zusammen (vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts, als globus terraqueus) in bestimmte 219 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Verstehen, Anerkennen und Verständigung
Grenzen eingeschlossen, und […] so stehen alle Völker ursprünglich in einer Gemeinschaft des Bodens […] und haben ein Recht, den Versuch mit demselben [dem Verkehr untereinander] zu machen, ohne daß der Auswärtige ihm darum als einen Feind zu begegnen berechtigt wäre.« (Kant, IV: 475 f.) Was Kant hier durchdenkt, sind die Anfänge der Globalisierung, die ersten Ansätze der sich über den ganzen Erdball ausbreitenden Marktwirtschaft. Dass sein interessengeleiteter Blick dabei eurozentristisch verengt ist, sollte uns nicht davon abhalten, den sittlichen Kern seiner Aussage als richtungsweisend anzuerkennen, denn er verbindet mit dem sich ausbreitenden Handelsverkehr die Hoffnung auf eine Republikanisierung der Staaten und einen Fortschritt zum Frieden. »Man kann sagen, daß diese allgemeine und fortdauernde Friedenstiftung nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft ausmache; […] wenn sie nicht revolutionsmäßig […], sondern durch allmähliche Reform nach festen Grundätzen versucht und durchgeführt wird, in kontinuierlicher Annäherung zum höchsten politischen Gut, zum ewigen Frieden hinleiten kann.« (Kant, IV: 479) Noch entschiedener hat Karl Marx die Aufgabe der Philosophie als eine für die »menschliche Emanzipation« (Marx, 1: 352) mitverantwortliche Praxis dargelegt. Fast als wolle er Kants räumliche Gedanken zur »Kugelgestalt« der Erde ins Zeitlich hinein ausweiten, führt Marx im dritten Band des Kapitals aus: »Vom Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen wie das Privateigentum eines Menschen an einem anderen Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.« (Marx, 25: 784) 21 Auch durchschaut Marx die Naivität der Hoffnung Kants, dass schon allein der Ausbau von Handelsbeziehungen das Zusammenleben der Völker zivilisieren werde, denn die Handelsbeziehungen werden unter den bestehenden ökonomischen Verhältnissen nicht
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (1984): 61 ff.
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Interkulturelle Verständigung als regulative Idee
um der Menschen willen, sondern aus dem Interesse an der privaten Kapitalakkumulation der Handeltreibenden vorangetrieben. Solange nicht die Menschen über ihre ökonomischen Verhältnisse, sondern die ökonomischen Verhältnisse über die Menschen herrschen, wird es kein humanes Zusammenleben der Menschen und Völker untereinander geben können. Daher sieht Marx gerade in der Revolutionierung der verkehrten ökonomischen Verhältnisse die einzige Möglichkeit, zu einer sittlichen Verständigung der Gesellschaften untereinander zu kommen. »In der gegenwärtigen Epoche hat die Herrschaft der sachlichen Verhältnisse über die Individuen, die Erdrückung der Individualität durch die Zufälligkeit, ihre schärfste und universellste Form erhalten und damit den existierenden Individuen eine ganz bestimmte Aufgabe gestellt. Sie hat ihnen die Aufgabe gestellt, an die Stelle der Herrschaft der Verhältnisse und der Zufälligkeit über die Individuen die Herrschaft der Individuen über die Zufälligkeit und die Verhältnisse zu setzen.« (Marx, 3: 424) Mit diesen Hinweisen auf Kant und Marx sollte nur der Horizont dessen umschrieben werden, was mit der regulativen Idee interkultureller Verständigung in menschheitsgeschichtlicher Perspektive gemeint ist. Gemeinsam haben die Menschen ihr solidarisches Zusammenleben auf Erden und ihre künftige Geschichte verantwortlich zu gestalten, aber die gegenwärtig kapitalistischen Verhältnisse stehen nicht nur einem solidarischen Zusammenleben der Völker und Kulturen im Wege, sondern bedrohen inzwischen auch die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen. Das geschichtliche Projekt des Menschseins kommt inzwischen an eine Entscheidungsgrenze: Wird es den Menschen und Völkern gelingen, gemeinsam und verantwortlich das Projekt eines solidarischen Zusammenlebens in ökologischer Abstimmung mit ihren Lebensgrundlagen zu gestalten, oder wird die kapitalistische Wertökonomie weiterhin weltweit die menschlichen Arbeitskräfte ihrer Ausbeutung unterwerfen und die Reichtümer der Erde ausplündern – bis zum bitteren Ende für die Menschheit. In diesem Sinne führt Henri Lefebvre zum Projekt des Menschseins am Scheidewege aus: »Was wir mit unserem Schema vorschlagen, ist nur ein Projekt, ein ›Modell‹. Seine Möglichkeit ist eine Gewißheit, nicht aber seine Verwirklichung. Wir können die Hypothese eines kolossalen Abortus der menschlichen Geschichte, eine Katastrophe in planetarischem Maßstabe nicht ausschließen. […] Weder der totale Fehlschlag der Menschheitsgeschichte noch die
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Verstehen, Anerkennen und Verständigung
nukleare Vernichtung des Planeten lassen sich aus der Liste der Möglichkeiten streichen.« 22 In diesen größeren Rahmen unserer gegenwärtigen Entscheidungssituation ist auch die regulative Idee interkultureller Verständigung gestellt. Sie erstrebt keineswegs eine Gleichschaltung und Homogenisierung einander fremder Kulturen, ihr geht es vielmehr darum, den Fremden in seiner Andersheit zu verstehen, sein Fremdsein anzuerkennen und darüber hinaus über eine interkulturelle Verständigung zu einer gemeinsamen humanen und menschheitsgeschichtlichen Perspektive zu kommen. Letztes regulatives Ziel dieser Verständigung mit dem Fremden ist es, dass sich einander Fremde als Weltbürger, als Mitglieder einer werdenden Menschengemeinschaft begegnen, einander achten können, um sich letztlich als Mitstreiter in der Gestaltung einer gemeinsamen Menschheitsgeschichte zu begreifen.
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Henri Lefebvre, Metaphilosophie (1965/1975): 345 f.
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9. Ethnologie, Xenologie und Interkulturelle Philosophie Versuch einer Klärung ihrer Verhältnisse 1
Durch die ungeheuer rasant voranschreitende Vermarktung der Welt, die wir Globalisierung nennen, werden inzwischen alle kulturellen Gemeinschaften bis in die letzten Winkel unseres Erdballs in den Sog der Kapitalwirtschaft einbezogen. Sie können dadurch nicht mehr über ihre Lebensgestaltung selbst bestimmen und werden auch der Naturressourcen beraubt, die bisher ihr Überleben sicherten. Mit Recht fühlen sie sich dadurch in ihrer kulturellen Existenz bedroht, denn die kapitalistische Wertökonomie entwertet und zerstört – wie dies Marx bereits in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie (1858) herausarbeitet (Marx, 42: 17 ff.) – alle tradierten kulturellen, sozialen und familialen Bande, die das menschliche Zusammenleben bisher bestimmten. Nicht dass die Kapitalwirtschaft bewusst die Zersetzung der kulturellen Gemeinschaften intendierte und betriebe, vielmehr ist dies nur eine Nebenwirkung der Eingliederung aller Völker sowie der Einbeziehung aller Rohstoffreserven der Erde in den Weltmarkt. Erst dort, wo sich die kulturellen Gemeinschaften gegen die Zerstörung ihrer Lebenszusammenhänge zu wehren beginnen, werden sie zu Feinden des Fortschritts erklärt und offen bekämpft. Um ihren Widerstand zu brechen, werden kulturelle Gemeinschaften darüber hinaus gegeneinander aufgewiegelt und in Konflikte untereinander getrieben. Dies geschieht nicht nur gegenüber den kleinsten, heute noch bestehenden Stammeskulturen, sondern auch im großen Maßstab ganzer Staaten und Regionen. Die Begegnung mit fremden Kulturen ist daher heute nicht mehr nur ein Phänomen, das unsere Neugier erweckt, aus dem Fremden etwas über das menschliche Zusammenleben insgesamt zu erfahErweiterte Fassung des Festschriftbeitrags für L.-J. Bonny Duala-M’bedy unter dem Titel »Xenologie, Ethnologie und Interkulturelle Philosophie« erschienen in: Christian Bremshey/Hilde Hoffmann/Yomb May/Marco Ortu (Hg.), Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis, Münster: Lit Verlag 2004: 30 ff.
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Ethnologie, Xenologie und Interkulturelle Philosophie
ren, sondern eine Herausforderung zur Solidarität mit den in ihrer kulturellen Selbstbestimmung bedrohten Völkern. Die unaufhaltsam voranschreitende Globalisierung der Kapitalwirtschaft scheint der eigentliche Grund zu sein, weshalb das Verstehen fremder Kulturen sich zur Problematik der Anerkennung der Kulturen untereinander ausweitet und weshalb die interkulturelle Verständigung zu einem der drängendsten Probleme unserer Zeit geworden ist. 2 In ihr geht es um ein erweitertes Verständnis menschlicher Solidarität als Antwort auf die Bedrohung der Menschheit und ihrer Menschlichkeit.
1.
Vorklärungen
Als in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts von L.-J. Bonny DualaM’bedy die Xenologie (1977) inauguriert wurde, war eine ihrer Stoßrichtungen die Neukonzeption einer Wissenschaft vom Fremden bzw. von Fremdsystemen aus der Kritik an der Ethnologie (Anthropologie), wie sie sich innerhalb der abendländischen Tradition aus der Behandlung der nicht-europäischen Völker herausgebildet hat. In einer reichen – uns heute noch erschreckenden – Quellendokumentation zeigt Bonny Duala-M’bedy auf, wie das neuzeitliche Abendland den einst im griechischen Mythos verankerten Zeus Xenios, den Gott, der den Fremden als Gast schützt, verdrängt hat. Seit der Renaissance bestimmt das Bild der wilden und primitiven Naturvölker, die im Gegensatz zur Kultiviertheit des Abendlandes stehen, die Einstellung und das Verhalten der die Welt erobernden Europäer. 3 An Zitaten, die nicht nur von Welteroberern und Sklavenhändlern, sondern auch von den von uns hoch geschätzten Philosophen unserer Tradition stammen, wird uns deutlich gemacht, wie hier die vermeintlich europäischen Herrenvölker die fremden Völker als die ihnen unterlegenen und daher auch zu unterwerfenden bestimmt werden, die bestenfalls wie wilde Kinder bevormundet, schlimmstenEs sei hier an die gewaltige und mehr denn je unentbehrliche Arbeit der Gesellschaft für bedrohte Völker erinnert, die sich seit fast schon 50 Jahren weltweit bewusstseinsbildend und völkerverständigend für die Belange bedrohter Völker einsetzt – siehe: 40 Jahre Gesellschaft für bedrohte Völker. Sonderheft der Zeitschrift »bedrohte Völker (ehemals pogrom)«, Nr. 251, 6/2008. 3 Vgl. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation (1981). Erhard Oeser, Die Angst vor dem Fremden. Die Wurzeln der Xenophobie (2015): 271 ff. 2
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Vorklärungen
falls wie wilde Tiere ausgerottet werden dürfen. »Diese Untersuchung hat die Aufgabe, unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten das Problem der geistigen Konfrontation mit Völkern zu untersuchen, die bis dato am Rande europäischer Geschichtsphilosophie behandelt worden sind und damit grundsätzlich eine menschlich derogative Sonderstellung entweder eingenommen haben oder noch einnehmen. Das Thema der vorliegenden Arbeit ist also implizit die Kritik an einer Verzerrung des Menschenbildes, die – auf der Basis der Verzeitlichung der hypothetischen Einheit der Menschheit – seit der europäischen Renaissance zu einem Charakteristikum des europäischen Denkens geworden ist.« (Duala-M’bedy, 1977: 13) Selbst die Ethnologie – so die These von Bonny Duala-M’bedy – wird dieses tief in ihr Unterbewusstsein eingeschriebene abendländische Selbstverständnis auch dann nicht los, wenn sie sich selbstkritisch gegen ihre frühere Vereinnahmung für Kolonialismus und Missionierung wendet. Daher schlägt Bonny Duala-M’bedy die Xenologie als neue Wissenschaft vom Fremden und von Fremdsystemen vor, die nicht von einem hierarchischen Gefälle ausgeht, sondern von der konstitutiven Gegebenheit, dass jede Kultur jeder anderen gegenüber eine fremde ist und bleibt, die also auf einer Wechselseitigkeit beruht, der ein alle Menschen umfassendes Verständnis von Humanität zugrunde liegt, das schon in der mythischen Rede vom Zeus Xenios impliziert war. 4 Diese These von Bonny Duala-M’bedy blieb von Seiten der Ethnologie nicht unwidersprochen. Wir wollen hier nicht auf einzelne Argumente dieser Gegenkritik eingehen, wie sie beispielsweise der Kultursoziologe Justin Stagl vorgebracht hat, sondern nur deren Tenor der Kritik zusammenfassen. 5 Ohne Zweifel wurde die Ethnologie im Laufe ihrer Genesis als wissenschaftliche Disziplin oftmals für koloniale und missionarische Zwecke missbraucht, und sicherlich lassen sich auch heute noch Ethnologen zu Projektbeteiligungen korrumpieren, die die fremden Völker – nicht zuletzt unter dem Deckmantel der Entwicklungshilfe – in neue Abhängigkeiten und Bevormundungen zwingen. Aber ist es nicht letztlich so, dass gerade die Ethnologie – ausgehend von Europa, aber inzwischen als WissenMunasu Duala-M’bedy, Xenologie. Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie (1977): 33 ff. 5 Justin Stagl, Kulturanthropologie und Gesellschaft. Eine wissenschaftssoziologische Darstellung der Kulturanthropologie und Ethnologie (21981). 4
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Ethnologie, Xenologie und Interkulturelle Philosophie
schaft weltweit etabliert – das Verständnis für den Eigenwert fremder Kulturen geweckt und als humane Forderung wachgehalten hat? Wäre nicht ohne die Ethnologie die koloniale Unterwerfung der fremden Völker aller Weltteile unter die Herrschaft der Europäer nicht viel schonungsloser verlaufen? Und ist es nicht das durch das ethnologische Verständnis für fremde Kulturen sensibilisierte Bewusstsein, das uns heute ermöglicht, nicht nur ein Menschenrecht für alle Menschen dieser Welt, sondern auch ein kulturelles Selbstbestimmungsrecht für alle Kulturen einzuklagen? Von hier her gesehen erscheint Bonny Duala-M’bedys Xenologie letztlich selbst nur als eine Gestalt der Ethnologie, bestenfalls als eine für das politische Selbstbewusstsein der unabhängig gewordenen Staaten besonders sensibilisierte Gestalt, die die endgültige Überwindung eines europäischen Wertungsmonopols anstrebt, was aber noch lange nicht einen neuen Namen rechtfertigt. Zusammen mit L.-J. Bonny Duala-M’bedy und Justin Stagl und vielen anderen, die weiterhin in der Ethnologie wissenschaftlich tätig sind, studierte auch ich Anfang der 1960er Jahre – wenn auch nur als zweites Hauptfach – Ethnologie am Institut für Völkerkunde der Universität Wien. 6 Als Dank für die mir als Student der Philosophie dort gewährte Gastfreundschaft blieb ich nicht nur dieser Disziplin bis heute verbunden, sondern sah mich auch veranlasst, 40 Jahre nach unserem ersten Zusammentreffen an der Universität Wien in Kooperation mit L.-J. Bonny Duala-M’bedy und Justin Stagl – unterstützt von einigen weiteren unserer Freunde aus jenen und späteren Tagen 7 – zu einer internationalen Konferenz Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie 8 einzuladen, die im Februar 2001 an der Universität Kassel stattfand. Die Intention dieser internationalen Konferenz war es – vor dem Forum der neu aufkommenden Interkulturellen Philosophie –, Ethnologie und Xenologie zu einem interdisziplinären Gespräch zusammenzuführen, das ein gegenseitiges Ernstnehmen der gemeinsamen GrundprobleSiehe Helga Benndorf (Taylor), Armand Duchâteau, András Höfer, Ingrid Kerl (Galinski), Maria Kecskési, Heide Mirt (Reboul), Heide Pogatz (Palme), Hanns Peter, Walter Raunig, Helmut Schindler, Miklos Szalay u. a. 7 Hier sei vor allem an Heinz Paetzold erinnert: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/ Helmut Schneider (Hg.), Zwischen den Kulturen. Im Gedenken an Heinz Paetzold (2012). 8 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie (2002). 6
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Ethnologie und Xenologie
me ermöglicht. Ausgangsthese für die Konzeption dieser Konferenz war es, sichtbar zu machen, dass Ethnologie und Xenologie Unterschiedliches anzielen und verfolgen und sich daher gar nicht ausschließen, sondern vielmehr ergänzen, ja sogar aufeinander angewiesen sind. Gerade die Interkulturelle Philosophie, die selbst um ähnliche Probleme ringt und daher ihrerseits die Zusammenarbeit mit Ethnologie und Xenologie sucht, vermag zwischen den beiden anderen zu vermitteln und als dritte Disziplin im Bunde den Dialog zu bereichern und zu befördern.
2.
Ethnologie und Xenologie
Das Verstehen fremder Kulturen ist eines der grundlegendsten Probleme der Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen. 9 »Verstehen« meint dabei das Erfassen der fremden Kultur aus ihrem eigenen Lebenszusammenhang. Eine Kultur ist durch die Lebenspraxis ihrer Mitglieder bestimmt, einer Lebenspraxis, die von den alltäglichen lebensnotwendigen Tätigkeiten und mitmenschlichen Beziehungen bis hin zur symbolischen Sinnwelt reicht, in der die Menschen einer Kultur die Welt und sich in ihr erfahren und reflektieren. Somit grenzt sich dieser Begriff des Verstehens, wie er in der Ethnologie verwendet wird, einerseits von einem subjektivistischen Verstehensbegriff ab, wie er in der Grundlagentheorie der Psychologie und in der Phänomenologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezogen auf das Fremdbewusstsein diskutiert worden ist, und wendet sich andererseits gegen objektivistische Erhebungsverfahren, die sozialwissenschaftliche Daten rein für sich ermitteln, ohne Rücksicht zu nehmen auf den fremden kulturellen Kontext, dem sie entnommen werden. In Abgrenzung von den vorhergehenden Formen völkerkundlichen Sammelns von Kenntnissen über fremde Kulturen, die jedoch allein aus dem Interessenszusammenhang der eigenen europäischen Kultur erfolgten, haben die ersten Generationen einer wissenschaftlich reflektierten Ethnologie die Problematik der Feldforschung Siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Justin Stagl (Hg.), Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion (21993); Wolfdietrich SchmiedKowarzik/Dirk Stederoth (Hg.), Kultur – Theorien. Annäherungen an die Vielschichtigkeit von Begriff und Phänomen der Kultur (1993).
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Ethnologie, Xenologie und Interkulturelle Philosophie
durchdacht und erprobt und schließlich die Forschungsinstitution der »teilnehmenden Beobachtung« als methodische Antwort auf das ihnen aufgegebene Problem des Verstehens fremder Kulturen gefunden, 10 die dann zur Ethnomethodologie, Kulturphänomenologie und zum symbolischen Interaktionismus verfeinert wurden. Aber in ihren theoretischen Konzepten, mit denen sie verstehend an die fremden Kulturen herangingen, steckte selbst noch sehr viel Vorverständnis aus der eigenen kulturellen Tradition, die die Interpretation der fremden Lebenspraxis – unbewusst natürlich – steuert. Erst die nachfolgenden Forschergenerationen bemühten sich mehr und mehr darum, das aus der eigenen Kultur mitgebrachte Vorverständnis bewusst zu machen, um es beim Verstehen der fremden Kultur mitreflektieren zu können. 11 Ohne Zweifel war die Ethnologie in ihren Anfängen mit der christlichen Missionierung und mit der Kolonialpolitik der europäischen Staaten eng verflochten, auch dann, wenn sie sich wissenschaftlich nicht korrumpieren ließ. 12 Doch längst schon hat sich die Ethnologie aus dem Windschatten von Kolonisierung und Missionierung der Völker durch die europäischen Staaten und Kirchen herausbegeben, denen sie einst ihre Etablierung als wissenschaftliche Disziplin verdankt. Jene Völker und Kulturen, die inzwischen zu eigenen Staaten avancieren konnten, wollen nicht länger von der Ethnologie erforscht werden, da sie in ihr bloß ein Relikt kolonialer Herrschaft erblicken. Sie versuchen, das sie selbst betreffende Erbe der Ethnologie durch eine nationale Geschichtsschreibung zu ersetzen, 13 ohne allerdings über die eigene Identitätsfindung hinaus ein Interesse und ein Verständnis für fremde Völker und Kulturen – beispielsweise die europäischen – zu entwickeln. Da die Ethnologie aber immer noch als eine vornehmlich abendländische Disziplin verstanden wird, die die anderen Kulturen zum Gegenstand ihres Verstehensinteresses macht, bleibt der Ruf, Kolonialwissenschaft zu sein, an ihr haften. Bronislaw Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik (1922). Vgl. Justin Stagl, »Malinowskis Paradigma« (1993). 11 Clifford Geertz, Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller (1988). 12 Wilhelm Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie (1912–1955). Richard Thurnwald, Menschliche Gesellschaft in ihren ethno-soziologischen Grundlagen (1931–1935). 13 Miklos Szalay, Ethnologie und Geschichte. Zur Grundlegung einer ethnologischen Geschichtsschreibung (1983). 10
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Ethnologie und Xenologie
Aber der Vorwurf, die Ethnologie stempele die fremden Kulturen allererst zum Fremden und müsse daher durch die eigene nationale Geschichtsschreibung der jungen Staaten ersetzt werden, trifft das Problem nicht. Natürlich wird durch die eigene Geschichtsschreibung ein Volk, eine Kultur, eine Nation ganz anders als Subjekt angesprochen, aber diese Subjektivität kann sich immer nur auf das Eigene beziehen, dem gegenüber alle anderen ihr begegnenden Völker, Kulturen, Nationen als befreundete oder feindliche Fremde auftreten. Wo aber – wie in der Ethnologie – die fremde Kultur in ihrer Subjektivität thematisiert wird, da geraten wir zwangsläufig in die Einseitigkeit des Verstehens, die auch dort nicht überwunden wird, wo Ethnologen zweier Kulturen sich gegenseitig zu beobachten und zu deuten beginnen. Es bleibt die prinzipielle Einseitigkeit, die im Verstehensbegriff selbst liegt, denn Verstehen ist immer ein Akt, der sich von einem verstehenden Subjekt auf ein fremdes zu verstehendes Subjekt bezieht, das dadurch Gegenstand des Verstehensprozesses wird. Von dieser doppelten Problematik ausgehend hat L.-J. Bonny Duala-M’bedy in den 1970er Jahren, stärker in die politikwissenschaftlich-geschichtsphilosophische Diskussion ausgreifend, die Xenologie als Wissenschaft vom Fremden und von den Fremdsystemen entwickelt. 14 Die eigentliche Grundproblematik der Xenologie ist insofern nicht so sehr das Verstehen fremder Kulturen als vielmehr – um es pointiert zu sagen – die politische Anerkennungsproblematik der Völker, Kulturen und Religionen untereinander. Ausgehend von Homers Rede vom Zeus Xenios, dem Gott der Weltordnung und der Gastfreundschaft, werden hier die Grundlagen einer Disziplin herausgearbeitet, die das Fremde nicht nur als konstitutiv für das Eigene ansieht, sondern die kulturelle Pluralität als eine politisch und geschichtlich zu bewältigende Aufgabe begreift. Ihre Zielperspektive ist nicht eine universalistisch nivellierte Einheitskultur, sondern die Anerkennung pluraler kultureller Sinngebungsentwürfe zur gemeinsamen politischen Gestaltung der Menschheitsgeschichte. Zentral ist diesem Ansatz dabei das Anliegen, dass nicht von einem Verstehenszentrum aus das Fremde anderer Kulturen definiert wird, sondern dass grundsätzlich von einer wechselseitigen Anerkennung des sich gegenseitigen Fremdseins der Subjekte bzw. der kulturellen Fremd(L.-J.) Munasu Duala-M’bedy, Xenologie. Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie (1977).
14
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Ethnologie, Xenologie und Interkulturelle Philosophie
systeme, die in einem aktiven Austauschprozess miteinander stehen, ausgegangen werden muss. Anders als beim Verstehen fremder Kulturen, die von einem Wissenschaftssubjekt her konzipiert ist, setzt das Konzept der Xenologie die gegenseitige Anerkennung von mehreren unterschiedlichen Kulturen voraus, die sich aktiv um ein Aushalten der Differenzen sowie um Regeln eines wechselseitig sich respektierenden Umgangs bemühen. 15 Bonny Duala-M’bedy verbindet die Konstitution der Xenologie mit einer scharfen Kritik an der abendländischen Ethnologie und Anthropologie insgesamt. Seine Anklage soll von uns keineswegs abgemildert werden. Wir haben allen Grund, uns für das zu schämen, was unsere Voreltern und unsere geachteten philosophischen Lehrer durch die gesamte europäische Tradition hindurch Menschen fremder Völker anderer Erdteile angetan haben und die dies dann noch ideologisch zu verbrämen versuchten. Ohne also seine Abrechnung abschwächen zu wollen, ist doch – aus oben bereits angeführten Gründen 16 – die pauschale Verabschiedung der als inhuman denunzierten Ethnologie wissenschaftstheoretisch nicht haltbar. Es handelt sich bei der Ethnologie und der Xenologie vielmehr um zwei völlig verschiedene Disziplinen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Intentionen, und wir tun gut daran, ihre jeweils anders gerichteten Paradigmen aufzudecken, um einzusehen, dass sie nicht nur nebeneinander bestehen können, sondern sogar aufeinander angewiesen sind. Schon aus den bisherigen Ausführungen ist wohl deutlich geworden, dass Ethnologie und Xenologie nicht gegeneinander stehen, sondern vielmehr notwendig aufeinander angewiesen sind. Denn keine von beiden vermag die je andere Disziplin zu ersetzten, da sie gänzlich andere Intentionen verfolgen: Die Xenologie interessiert sich primär nicht für das Verstehen fremder Kulturen, und die Ethnologie zielt primär nicht auf politische Anerkennungsstrategien. Allerdings aber ist das Verstehen ein unabdingbares Moment für die politische Anerkennung des Fremden. Mit Recht wird daher in der politischen und pädagogischen Diskussion – sowohl bezogen auf das
L.-J. Bonny Duala-M’bedy, »Die Ära des Fremden« (1992) sowie »Aporien interkulturellen Verstehens aus der Perspektive der Xenologie« (2007): 232 ff. Vgl. Marco Ortu, »Die Xenologie als Bezugswissenschaft der Postmoderne« (1999). 16 Siehe den vorhergehenden Beitrag: »8. Verstehen, Anerkennen und Verständigung. Eine methodologische Vorklärung«. 15
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Interkulturelle Philosophie
Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen und Religionen in unserer Gesellschaft als auch gegen Samuel P. Huntingtons hochstilisierten Clash of Civilizations 17 – ein gegenseitiges verstehendes Kennenlernen der jeweils anderen Seite als ein erster Schritt für eine Anerkennung des Fremden gefordert. 18 Und umgekehrt ist keine ethnologische Wissenschaft vorstellbar, deren Konzept des Verstehens fremder Kulturen nicht eingebettet wäre in das politische Anliegen der Anerkennung der Kulturen untereinander.
3.
Interkulturelle Philosophie
Obwohl aus völlig anderen Zusammenhängen erwachsen, hat die in den letzten Jahrzehnten entstandene Diskussion um eine Interkulturelle Philosophie sowie deren regionalisierte Teildebatten um eine afrikanische, indische, lateinamerikanische und ostasiatische Philosophie ähnliche Grundsatzdiskurse ausgelöst, wie sie einerseits durch das Verstehen fremder Sinnwelten in der Ethnologie und andererseits durch das Konzept politischer Anerkennung der Kulturen untereinander in der Xenologie aufgeworfen worden sind. 19 Stärker als in den Disziplinen der Ethnologie und Xenologie geht es in der Grundlagendiskussion der Interkulturellen Philosophie um das uralte philosophische Problem einer dialektischen Vermittlung von Einheit und Vielheit, diesmal jedoch nicht so sehr als theoretische Frage, sondern als praktische Aufgabe einer geschichtlichen Selbstbegegnung der Kulturen durch die Vielfalt philosophischer Selbstdeutungen hindurch auf eine zu verwirklichende Einheit menschlichen Miteinanders bezogen. 20 Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert (engl. 1996), München/Wien 1996. 18 Charles Taylor u. a., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (1993). Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (1994). 19 Heinz Kimmerle, Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie. Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff (1991). Heinz Kimmerle, Die Dimensionen des Interkulturellen (1994). Ram Adhar Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung (1994). Franz M. Wimmer, Vorlesungen zu Theorie und Methode der Philosophie im Vergleich der Kulturen (1997). Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren (1997 ff.). 20 Ram Adhar Mall/Dieter Lohmar (Hg.), Philosophische Grundlagen der Interkulturalität (1993). Raúl Fornet-Betancourt (Hg.), Kulturen der Philosophie (1998). 17
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Ethnologie, Xenologie und Interkulturelle Philosophie
Gleichzeitig geht es in den regionalisierten Debatten innerhalb der Interkulturellen Philosophie auch um die Dialektik von kultureller Identitätsfindung und Fremdakzeptanz in der Praxis gemeinsamen Symphilosophierens. Gerade deshalb ist die Interkulturelle Philosophie fundamental auf eine grundlagentheoretische Klärung der Möglichkeiten und Grenzen der sie tragenden Voraussetzungen des gegenseitigen Verstehens und der gegenseitigen Anerkennung angewiesen, die gemeinsam unter der regulativen Idee mitmenschlicher Verständigung stehen. Innerhalb des geschichtsphilosophischen Diskurses meint Verständigung zunächst die basale Verständigungsfähigkeit der Menschen nicht nur innerhalb der eigenen kulturellen Gemeinschaft, sondern auch in Bezug auf jede fremde Gemeinschaften. Zweitens setzt Verständigung die Anerkennung des Anderen als handelndes Subjekt voraus, kann also grundsätzlich nur als mehrpolige Interaktionsgemeinschaft gedacht werden. Schließlich zielt Verständigung auf eine regulative Idee, die Kant den »ewigen Frieden« nannte – es ist dies eine Zielperspektive, die sich darauf richtet, Konflikte durch Verständigung auszutragen und aufzulösen. 21 In der Interkulturellen Philosophie geht es zunächst um das Problem, dass wir Menschen, die wir unabdingbar auf eine theoretischpraktische Sinnbestimmung unseres Menschseins in der Welt angewiesen sind, uns mit einer Unzahl von religiösen, politischen und wissenschaftlichen Sinndeutungen konfrontiert sehen, die jeweils in ihrer philosophisch unreflektierten Absolutsetzung alle anderen auszugrenzen oder gar auszumerzen trachten. Nun ist es leider nicht so, dass es eine reflektierte Philosophie gäbe, die uns aus den ideologischen Dogmatismen befreien und die zugleich Sinnorientierung für unser Handeln in der Welt sein könnte. Wir sind mit dem schier unlösbaren Problem konfrontiert, dass wir nicht nur in allen Kulturen rund um die Welt, sondern innerhalb unserer eigenen Kultur einer Vielzahl von Philosophien gegenüberstehen, die sich gegenseitig ebenfalls theoretisch wie praktisch auszuschließen versuchen. Keine dieser Philosophien vermag dabei die anderen zu überwinden oder aufzuheben und somit philosophisch begründet über den anderen zu stehen. Damit stellt sich das Problem, eine Form des Philosophierens zu finden, die es zulässt, gemeinsam mit allen Philosophien in einen 21
Immanuel Kant, Vom ewigen Frieden, VI: 195 ff.
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Interkulturelle Philosophie
gegenseitig verstehend-anerkennenden Dialog einzutreten, um so im unabschließbaren Gespräch mit ihnen an einer philosophischen Verständigung unter den Menschen für eine gemeinsame geschichtliche Zukunft zu arbeiten. Hieran wird deutlich, dass mit der Interkulturellen Philosophie nicht nur ein neuer Gegenstand in die philosophische Debatte eingebracht wird, sondern dass dadurch das Selbstverständnis der Philosophie insgesamt revolutioniert wird. Denn philosophisch kann nur dann ernsthaft von Interkultureller Philosophie gesprochen werden, wenn sie sich nicht nur als reflexive Einheit einer Pluralität von Sinndeutungen, sondern mehr noch als praktisches Glied eines uns allen aufgegebenen Projekts menschlicher Sinnverständigung begreift. Eine sich aus der gemeinsamen Aufgabe menschlicher Vernunft begreifende Philosophie vermag sich mit allen kulturell anders geprägten Gestalten von Weisheitslehren und religiösen Weltdeutungen verstehend auseinanderzusetzen und an einer Verständigung mit ihnen zu arbeiten. Sie darf dabei aber niemals von ihrer Selbstverpflichtung lassen, sich selber nur aus und vor der menschlichen Vernunft zu begründen. Wo dies allerdings geleugnet wird – sei dies in unserer Tradition oder in irgendeiner anderen –, da kann eine der Selbstfindung sittlichen Menschseins verpflichtete Philosophie nicht neutral bleiben. Dogmatismen, Fanatismen und menschenverachtende Ideologien sind für sie keine möglichen Gesprächspartner interkulturellen Verstehens und interkultureller Verständigung, sie können nur bekämpft werden. Dieses Bekämpfen erfolgt aber selbst wiederum nur mit den philosophischen Mitteln menschlicher Vernunft, hierfür besitzt sie keine anderen Mittel als die der philosophischen Argumentation und Überzeugungskraft. Die Philosophie hat sich dabei in der Form ihrer Aussage offen zu halten für jede philosophisch begründete Kritik an ihr, nur so erfüllt sie ihre unabschließbare Aufgabe, an der Sinnorientierung menschlicher und menschheitlicher Zukunft mitzuwirken. Auch die Interkulturelle Philosophie kann die Ethnologie und die Xenologie nicht ersetzen, vielmehr muss sie, wo es ihr um konkrete Probleme des Verstehens von Sinndeutungen aus dem Kontext fremder Kulturen geht oder wo sie ihre grundlegenden Klärungen in die Verständigung konkreter politischer Konflikte einzubringen versucht, sich auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit jenen beiden Disziplinen einlassen. In diese Zusammenarbeit vermag sie aber ihrerseits grundlagentheoretische Klärungen und sittliche Perspektiven 233 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Ethnologie, Xenologie und Interkulturelle Philosophie
einzubringen, die die Ethnologie und die Xenologie nicht nur je für sich fundieren, sondern die sie auch füreinander öffnet und in Beziehung setzt. Daher scheint mir, dass der von der Interkulturellen Philosophie angeregte Dialog mit der Ethnologie und der Xenologie, nicht nur ein gegenseitiges Verstehen und eine gegenseitiges Anerkennen der drei Disziplinen befördern kann, sondern uns auch in der gemeinsamen Aufgabe der Beförderung der Verständigung unter den Kulturen der einen Menschheit voranzubringen vermag. In diesem Sinne verstehe ich Bonny Duala-M’bedys Berufung auf den griechischen Zeus Xenios, den Gott der Gastfreundschaft, den Beschützer der Fremden, als das vorscheinende Symbol für die regulative Idee der Verständigung unter den Menschen, wie sie von Kant in der Diskussion des Weltbürgerrechts eine weiterführende Auslegung erfahren hat: »Im Mythos sind die Elemente der Xenologie inhärent […]. Zeus Xenios tritt als Garant der Weltordnung, auch als der Beschützer der Fremden und der Gastfreundschaft auf. Zeus vermittelt somit das kosmische Bild, dessen ethischer Ausdruck die Gastfreundschaft ist. Die Norm für das menschliche Verhalten schlechthin ist also in der Spannung zum Göttlichen gegeben. […] Die Alternative zur Ordnung des Zeus bildet somit der Zustand der Grausamkeit, der Wildheit und der Ungerechtigkeit, den man nur durch Liebe zum Fremden und Furcht vor den Göttern überwinden kann. Am richtigen Verhalten in der koinonia, der Gemeinschaft der Menschen also, läßt sich auch die Natur des Menschen erkennen, die ihren Sinn in der Spannung zum Göttlichen findet: denn das Gesetz der Gastfreundschaft ist von den Göttern erlassen, von ihnen stammt die Ordnung der Menschen. Außerhalb dieser Ordnung leben zu wollen heißt, in den Zustand der akoinonia geraten.« (Bonny DualaM’bedy, Xenologie: 33)
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10. Aspekte der Interkulturellen Philosophie Ein Tagungsbeitrag 1
Mit dem zweiten Symposion zur Interkulturellen Philosophie an der Universität Kassel, das im Februar 2005 stattfand und dessen überarbeitete Beiträge wir mit dem Band Interkulturelle Philosophie vorlegen, knüpfen wir an das Symposion Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie an, dessen Ergebnisse vor vier Jahren in einem gleichnamigen Buch erschienen sind. 2 Konzentrierte sich das erste Symposion mehr auf eine allgemeine Positionsbestimmung der Interkulturellen Philosophie im Konzert der angrenzenden Disziplinen Ethnologie, Soziologie, Kulturanthropologie, Xenologie, Politikwissenschaft und Religionswissenschaft, so stellte sich das zweite Symposion, an dem nahezu alle Referenten des ersten Symposions wieder mitwirkten, die Aufgabe, die speziellere Problem- und Aufgabenstellungen der Interkulturellen Philosophie konkreter abzustecken. Dem vorliegenden Einführungsbeitrag fällt die etwas gewagte und undankbare Aufgabe zu, in einem Überblick gebenden Problemaufriss einerseits den Zusammenhang zum ersten Symposion herzustellen und andererseits in die Themenvielfalt des zweiten Symposions einzuführen. Ohne Anspruch, allen Gedankengängen dabei gerecht werden zu können, seien hier entlang der einzelnen, in vier Gliederungspunkten zusammengefassten Beiträge aus eigenen systematischen Erwägungen einige Grundprobleme herausgestellt und diskutiert. Der vorliegende Beitrag – ursprünglich erschienen unter dem Titel: »Interkulturelle Philosophie in praxisphilosophischer Perspektive« in: Heinz Paetzold/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Interkulturelle Philosophie, Weimar: Verlag der Bauhaus Universität Weimar 2007: 4 ff. – wird hier in gekürzter Fassung wiedergegeben, wobei die dargelegten Bezüge zur Ethnologie (Justin Stagl) und zur Xenologie (L.-J. Bonny Duala-M’bedy) sowie meine eigene Positionsbestimmung der Interkulturellen Philosophie weitgehend ausgeklammert werden, da diese in den vorausgegangenen Beiträgen bereits dargelegt worden sind. 2 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie (2002). 1
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Aspekte der Interkulturellen Philosophie
1.
Das Projekt Interkultureller Philosophie
Allzu oft wird – zumal in Europa und Amerika – unter Philosophie nur die abendländische Tradition verstanden und berücksichtigt. Außereuropäische Denktraditionen werden, falls sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden, nur als Vorstufen bzw. eigentümliche Weisheitslehren registriert und verortet. Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie sind ein klassisches Beispiel dafür. Eine Aussage von Karl Marx variierend, könnte man sagen: Das Große der Hegel’schen Phänomenologie des Geistes und seiner Geschichte der Philosophie liegt darin, alle Formen philosophischer Erkenntnis aus der Starre ihrer regionalen und historischen Fixiertheit aufgelöst und so das Denken als das Bewegende in ihnen zum Vorschein gebracht zu haben. Aber Hegel benutzt diesen Erfahrungsprozess des Denkens als eine nur in eine Richtung begehbare Leiter, die zu einem einzigen absolut geltenden System europäischer Philosophie – seinem eigenen – führt, das alle anderen philosophischen Versuche in sich »aufhebt«, wodurch sie jeglichen Eigenwert verlieren. In anderer, jedoch im Ergebnis ähnlicher Weise haben auch Edmund Husserl und Martin Heidegger ihr jeweiliges Verständnis abendländischen Denkens zum einzig möglichen Zugang und zur einzig möglichen Erfüllung der Philosophie erhoben. Demgegenüber gibt es jedoch eine andere Traditionslinie abendländischer Philosophie: So bezieht beispielsweise Karl Jaspers in seine Ahnenreihe großer Philosophen bewusst auch außereuropäische Denker mit ein, so begreift Helmuth Plessner die besondere Kraft der europäischen Philosophie in ihrer Fähigkeit zur selbstkritischen Selbstbegrenzung und so betont Emmanuel Levinas – zwar auf die Ethik bezogen, aber auf das Miteinander von Kulturen ausweitbar – die Verantwortung vor dem Anderen, durch die allererst jemand zu sich selbst zu kommen vermag. In all diesen letztgenannten Ansätzen erblickt Ram Adhar Mall die »Morgenröte einer Weltphilosophie«, durch die die Perspektive einer umfassenden »Weltgeschichte des Denkens« sichtbar wird. 3 Dabei meint Weltphilosophie weder eine auf den kleinsten gemeinsamen formalen Nenner gebrachte Einheitsphilosophie noch eine alle anderen Denkansätze in sich aufhebende Allheitsphilosophie, sonRam Adhar Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung (1994).
3
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Das Projekt Interkultureller Philosophie
dern die Berücksichtigung und Anerkennung aller philosophischen Denktraditionen, ihre wechselseitige neugierige Öffnung füreinander und ihre interessierte Bereitschaft voneinander lernen zu können. Dies eben ist das Projekt einer Interkulturellen Philosophie, das keineswegs bloß eine modische Unterabteilung der bisherigen Philosophie ist, sondern zu einem grundsätzlich neuen Selbstverständnis der Philosophie insgesamt führt. Die methodologischen Voraussetzungen dazu sieht Ram Adhar Mall in einer »analogischen Hermeneutik« gegeben, die das Abenteuer offenen philosophischen Denkens wagt und, im Versuch, andere Denkwelten zu verstehen, sich diesen gegenüber öffnet, zugleich aber auch einsteht für die eigenen Einsichten, denn sonst kann kein ernsthaftes Gespräch stattfinden. 4 Ein solcher Dialog über die verschiedenen Denktraditionen hinweg wird ermöglicht durch die ohne Zweifel gegebenen Überlappungen zwischen den verschiedenen Denktraditionen, die sowohl in den methodischen Denkformen als auch in den inhaltlichen Problemstellungen aufgefunden werden können. Aber es genügt nicht, nur die großen philosophischen Traditionen – neben der europäischen auch noch die indische und chinesische – in die Betrachtung mit einzubeziehen, denn da sich die Menschen zu allen Zeiten und in allen Regionen über den Sinn des Lebens in der Welt Gedanken machten und machen, erweist sich die Philosophie als ein universaler Kulturaspekt der Menschheitsgeschichte, der jedoch in den verschiedenen Kulturen je spezifische Ausprägungen gefunden hat. Daher unterstreicht Heinz Kimmerle, dass es neben einer kulturvergleichenden Kunstwissenschaft und einer vergleichenden Religionswissenschaft auch eine vergleichende Erforschung der unterschiedlichen philosophischen Selbst- und Sinndeutungen geben muss. 5 Dort, wo diese nicht nur zum Gegenstand eurozentristischer Wissenschaftsneugier gemacht, sondern als Selbstdeutungen von Menschen ernst genommen werden, erwächst daraus der Anspruch einer dialogischen Interkulturellen Philosophie, in die nicht nur verschriftlichte Traditionen einbezogen werden sollten, sondern auch die oralen Traditionen erzählender Philosophie, wie wir sie ja auch aus den Anfängen der europäischen Philosophiegeschichte kennen. In diesem Sinne konzentriert sich Heinz Kimmerle besonders auf die 4 5
Ram Adhar Mall, Mensch und Geschichte. Wider die Anthropozentrik (2000). Heinz Kimmerle, Die Dimensionen des Interkulturellen (1994).
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Aspekte der Interkulturellen Philosophie
afrikanische Philosophie, die noch reich an lebendigen mündlichen Traditionen ist. 6 Dieses meist von weisen Männern und Frauen von Generation zu Generation weitergegebene Spruch- und Liedgut gilt es, auf ihre philosophischen Aussagen hin zu erforschen. Und dazu gehört als eine der dringendsten Aufgabe ihre mediale Konservierung, da all diese oralen Traditionen durch die Globalisierung moderner Kommunikationsmittel akut vom Aussterben bedroht sind. Dass es sich bei der Interkulturellen Philosophie nicht etwa nur um ein Projekt des Verstehens vergangener oder aussterbender Denktraditionen handelt, sondern um eine politisch brisante Fragestellung, macht Yomb May deutlich. 7 Seit dem Ende der Kolonialzeit entwickelt sich in Afrika, in Lateinamerika, in Indien und anderen asiatischen Ländern ein post-kolonialer Diskurs, der mit dem alleinigen Monopol der europäischen bzw. nordatlantischen Sinndeutung der Welt bricht und in allen kulturellen Dimensionen eigene Traditionen mit einzubringen versucht. Gerade auch der Gedanke einer Interkulturellen Philosophie ist eine der Ausdrucksformen dieser Bewegung. Jedoch sollte nicht übersehen werden – so betonte Yomb May –, dass es weiterhin auch eine post-koloniale Globalisierungs- und Universalisierungstendenz der okzidentalen Kultur und Philosophie gibt, die sich nicht nur den emanzipatorischen Bestrebungen postkolonialer Diskurse entgegenstemmt, sondern diese schon im Vorfeld durch den gezielten Export von okzidentalen Bildungssystemen systematisch zu unterwandern sucht. Yomb May verwies in diesem Zusammenhang im Anschluss an Paulin J. Hountondji auf den Kulturkampf zwischen Frankreich und England, der sich in den frankophonen bzw. anglo-amerikanisch orientierten Staaten in Afrika – und nicht nur dort – abspielt. Dieser wird von den Afrikanern zum einen immer mehr als ein europäischer Kulturkampf erkannt, der gleichsam auf dem Rücken der afrikanischen Jugend ausgetragen wird, die dabei in sehr differenter Weise in die europäische Philosophie eingeführt wird, zum anderen aber auch als ein systematisches Untergraben eigener afrikanischer Denktraditionen durchschaut, denen man das Eigene widerständig und emanzipativ entgegenzusetzen beginnt. 8 Heinz Kimmerle, Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie. Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff (1991). 7 Yomb May, »Der Postkolonialismus und die Aporien der Modere« (2007):74 ff. 8 Siehe Paulin J. Hountondji, Afrikanische Philosophie. Mythos und Realität (1993). 6
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Aspekte der Methodologie
Dabei ist Yomb Mays Perspektive keineswegs die der Rückkehr zu traditionellen afrikanischen Denktraditionen, wohl aber die Forderung, dass jede Kultur in freier Auseinandersetzung mit verschiedenen philosophischen Denktraditionen zu ihrer je eigen kulturell geprägten Selbstbestimmung finden soll. In der post-kolonialen Literatur und Interkulturellen Philosophie, die sich in Afrika genauso wie in Indien und Lateinamerika sowie in der islamischen Kultur gegen den Monopolanspruch der sogenannten westlichen Kultur erhebt, sieht Yomb May eine emanzipatorische Bewegung, die auf eine offene Weltkultur hin unterwegs ist.
2.
Aspekte der Methodologie
Wie schon die Ethnologie als Leitwissenschaft der Erforschung fremder Kulturen drei aufeinander bezogene Problemstellungen zu verbinden hat – das Verstehen fremder Lebenszusammenhänge, eine Theorie menschheitlicher Kultur überhaupt und die Reflexion auf ihre Voraus- und Zielsetzungen –, so ergeben sich diese drei Problemstellungen auch bezogen auf die Durchführung einer Interkulturellen Philosophie. »Verstehen« meint dabei das Erfassen der fremden Kultur aus ihrem je eigenen Lebenszusammenhang. Dieser ist durch die Lebenspraxis seiner Mitglieder bestimmt, die von den alltäglichen lebensnotwendigen Tätigkeiten über die sozialen Beziehungen bis hin zur symbolischen Sinnwelt reicht. Durch all diese Momente hindurch ist die Wirklichkeit konstituiert, in der die Mitglieder einer Kultur die Welt und sich in ihr erfahren. 9 Neben der Ethnologie befassen sich auch andere kulturwissenschaftliche Disziplinen in verstehender Absicht mit einzelnen Kulturaspekten. So kann die Produktionsweise, das Rechtssystem, die Kunst und die Religion durch verschiedene Kulturen hindurch untersucht werden, und dazu ist es erforderlich, dass diese Aspekte sowohl aus ihrer je eigentümlichen Eingebettetheit in eine bestimmte Gesamtkultur als auch in ihrer eigenen entwicklungslogischen Bestimmtheit verstanden werden. Wenn nun auch die Philosophie in dieser Weise zu einem Gegenstand ethnographischer Erforschung gemacht wird, so ergibt sich die Frage, was hierbei als Philosophie zu verstehen ist. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Justin Stagl (Hg.), Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion (1981, 21993).
9
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Aspekte der Interkulturellen Philosophie
Ist bereits die je eigentümliche Sinnwelt einer Sprache, ausgeprägt in Mythos, Kult, Spruchweisheit und Liedgut, als Ethnophilosophie anzusehen 10 oder hat Philosophie im Sinne von Logos gerade etwas mit der Befreiung aus dem Mythos, mit dem Projekt der Emanzipation des Individuums aus traditionell überkommenen Denkmustern und mit der politischen Aufklärung zu selbstbestimmtem Denken und Handeln zu tun? Der Kulturanthropologe Kai Kresse vertritt entschieden die Positionen, dass sich eine »Anthropologie der Philosophie« oder »Ethnographie der Philosophien« nicht auf die sogenannte »Ethnophilosophie« beziehen solle. 11 Denn für ihn sind mythische Denkwelten und religiöse Traditionen keineswegs schon mit der Philosophie gleichzusetzen. Die Erforschung jener Weisheitslehren sollte ruhig der ethnographischen Mythenforschung und vergleichenden Religionswissenschaft überlassen bleiben. Demgegenüber kann erst dort von Philosophie gesprochen werden, wo einzelne Denkergestalten kritisch aus dem Kollektiv einer Tradition heraustreten und mit eigenen Erkenntnissen oder Forderungen in die Öffentlichkeit einwirken wollen – wie seinerzeit im antiken Griechenland Thales aus Milet, Parmenides von Elea oder Sokrates in Athen. In diesem Sinne stellt Kai Kresse seine eigenen ethnographischen Forschungen – Textstudien und Interviews – zu und mit zwei Brüdern in Mombasa/Kenia vor, die in sehr unterschiedlicher Weise mit philosophischen Lehrgedichten und aufklärenden Texten in Swahili in die islamisch geprägte städtische Kultur von Mombasa einzuwirken versuchen. Beide können nicht mit den weisen Männern einer innerafrikanischen Stammeskultur gleichgesetzt werden, die das kollektive Gedächtnis einer kulturellen Gemeinschaft verkörpern, aber sie sind, obwohl ganz im moslemischen Glauben verankert, doch auch keine Funktionsträger der islamischen Religion, sondern treten mit individuell gewonnenen Erfahrungen und denkerisch erarbeiteten Welterkenntnissen und sittlichen Einsichten an ihre Mitbürger heran, um zu deren Aufklärung und Identitätsfindung beizutragen. Unabhängig von der Fragestellung, ob die von weisen Männern und Frauen einer kulturellen Gemeinschaft tradierten, in Sprache, Mythos und Liedgut festgehaltene Ethnophilosophie bereits als PhiPlacide Tempels, ›Bantu Philosophie‹ – Ontologie und Ethik (1958). Kai Kresse, »Philosophie, ethnografisch gesehen: Dichter und Denker in Mombasa. Eine Fallstudie zur Anthropologie der Philosophie« (2007): 88 ff.
10 11
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Aspekte der Methodologie
losophie anzusehen ist oder ob erst die Lehre einzelner Denker Gegenstand einer Interkulturellen Philosophie sein sollte, stellt sich die Frage, ob wir mit unseren westlich geprägten Wissenschaften und ihren Erhebungsmethoden überhaupt verstehend in das uns fremde Denken anderer Kulturen – ob nun von Individuen oder Kollektiven vertreten – einzudringen vermögen. In der Diskussion um die Interkulturelle Philosophie wird oftmals der Standpunkt vertreten, dass eine klare Scheidung zwischen den westlichen Wissenschaften und der westlichen Philosophie gemacht werden könne, denn die Wissenschaften seien universale, kulturunabhängige Instrumente objektiver Welterkenntnis und Weltbeherrschung, demgegenüber sei die Philosophie eine kulturabhängige Weltanschauung. Dieser Standpunkt hält in doppelter Weise einer wissenschaftstheoretischen Begründung nicht Stand. Der Glaube, dass die Wissenschaften die Wirklichkeit objektiv widerspiegeln können, erweist sich ebenso als Aberglaube, so wie es ein Irrtum ist, die Philosophien der kulturellen Relativität überlassen zu wollen. Thomas Göller wendet sich diesem schon seit Johann Gottfried Herder diskutierten Gegensatz zwischen Kulturrelativismus und Menschheitsuniversalismus zu, der bezogen auf das Problem des Verstehens fremder Denkwelten durch Ludwig Wittgenstein, Peter Winch und Richard Rorty wissenschaftstheoretisch radikalisiert wurde. 12 Im Gegensatz zu James George Frazers evolutionärer Stufung und Bewertung mythischer, religiöser und wissenschaftlicher Sinnwelten hatte Wittgenstein gezeigt, dass es grundsätzlich keine objektiven Erkenntnismaßstäbe gibt, die eine solche wertende Reihung erlauben würde. Es gibt keine Erkenntnisse von Objektivitäten an sich, sondern alle Sinnwelten sind in ihrer sprach- und lebensweltlichen Konstitution der Wirklichkeit gleich-gültig. Auch alle Wissenschaften erweisen sich – wie die Philosophie – als mehr oder weniger in sich selbst stimmige »Sprachspiele« (Ludwig Wittgenstein), die uns Strukturierungsregeln geben, um unsere Erfahrungen in ein Gefüge zu ordnen, die aber keineswegs eine Wirklichkeit an sich – die es insofern auch gar nicht gibt – abzubilden vermögen. Insgesamt ist unsere wissenschaftliche Rationalität ebenfalls nur eine Sinndeutung der Wirklichkeit unter vielen und keineswegs eine Thomas Göller, Kulturverstehen. Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und kulturellen Erkenntnis (2000).
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Aspekte der Interkulturellen Philosophie
privilegierte Form der Wirklichkeitserfassung. Sie mag sich zwar im Kontext unserer Lebenspraxis und hier vor allem in technischen Zusammenhängen als den anderen Praktiken und Sinndeutungen überlegen erweisen, aber in einigen Bereichen und vor allem im Kontext fremder Lebenszusammenhänge erweist sie sich als völlig abgestumpft und problemblind. 13 Dadurch ergibt sich allerdings wiederum das Problem, dass wir von keiner Sinnwelt in eine andere verstehend vorzudringen vermögen, es sei denn, wir konvertieren vollständig von einer in eine andere Sinnwelt, worüber wir aber in neutraler Sprache kein Zeugnis mehr ablegen könnten. Gegen diese radikale Relativierung kultureller Sinnwelten verweist Göller jedoch darauf, dass in allen selbstreflexiven Metadiskursen selbst ein nicht relativierbarer Rationalitätskern steckt, der auf kontextunabhängige gemeinsame Bedingungen philosophischer Selbstreflexion verweist, die sowohl eine immanente Kritik anderer Positionen als auch eine Selbstrelativierung der eigenen Position ermöglichen. 14 An diese – um mit Kant zu sprechen – gemeinsamen Bedingungen der Möglichkeit selbstreflexiven Denkens hat die Interkulturelle Philosophie zur Konstitution eines Diskurses unter verschiedenen Denktraditionen anzuknüpfen. Einen solchen gemeinsamen Rationalitätskern sieht Rainer Zimmermann schon in der Logik gegeben. Zwar ist die moderne mathematische Logik, die er seinen Ausführungen zugrunde legt, weder mit der mittelalterlichen noch mit der indischen oder chinesischbuddhistischen Logik, deren Blütezeit über ein Jahrtausend zurückliegt, parallel zu setzen, aber es lässt sich doch ein gemeinsamer formaler Kern zwischen ihnen herausschälen, der in all diesen Fällen nahezu denselben Zweck der Erkenntnisvergewisserung erfüllt. Was sie jedoch unterscheidet, ist die rituelle Inszenierung. 15 So wird die mittelalterliche disputatio wie ein Turnier, wie ein Wettkampf aufgezogen, der zu einem eindeutigen Gewinner und Verlierer führen Paul Feyerabend, »Autoritäre Konstruktion oder demokratische Entschlüsse? Bemerkungen zum Problem des kulturellen Pluralismus« (1985): 137 ff. 14 Thomas Göller, »Inkommensurabilität von Kulturen und Lebenswelten?« (2007): 116 ff. 15 Rainer E. Zimmermann, »Poetik & rationaler Diskurs. Zur rituellen Inszenierung der Logik« (2007): 134 ff. Vgl. Werner Loh/Ram Adhar Mall/Rainer E. Zimmermann, Interkulturelle Logik. Zur Wahrnehmung und Modellierung der geschichtlichen Welt (2009), siehe auch Dirk Stederoth, »Wege des Negativen. Zum Verhältnis der Negationsformen bei Nāgārjuna und Hegel« (2012). 13
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Bestimmungsgrundlagen der Interkulturalität
muss, währenddessen es bei den indischen Beweisformen vielmehr auf die Aufrechterhaltung von Gesprächszusammenhängen ankommt, und wiederum anders darf bei den chinesisch-buddhistischen Argumentationsstrategien das sittliche Handlungsergebnis als angestrebtes Ziel nie aus den Augen verloren werden. Der mit der Methode moderner mathematischer Logik aufgewiesene formale Kern ist für Rainer Zimmermann keineswegs das erstrebte Ziel, sondern nur das Mittel, um die dahinter liegenden Differenzen sichtbar und diskutierbar zu machen. Nur so wird es möglich, sowohl die anderen Inszenierungen zu verstehen als auch ihre Intentionen mit eigenen Formen philosophischer Argumentation aufzunehmen. Auf einen solchen Versuch einer hermeneutischen Mathematik oder mathematischen Hermeneutik macht Rainer Zimmermann im Anschluss an Jacques Lacans Gefangenenproblem aufmerksam, an dem sichtbar wird, dass Logik niemals in sich selbst zur Ruhe finden kann, sondern immer Problemlösungen dient, die selbst in lebenspraktische Kontexte eingelagert sind und auf diese bezogen bleiben. 16
3.
Bestimmungsgrundlagen der Interkulturalität
Es ist kein Verstehen fremder Kulturen möglich, wenn nicht gleichzeitig als zweiter Pol der anthropologischen Fragestellung eine Theorie menschheitlicher Kultur angestrebt wird. Dieser Begriff menschheitlicher Kultur meint jene Wirklichkeit, aus der sich die kulturelle Existenz der Menschen in all ihren verschiedensten geschichtlichen Ausprägungen immer schon verwirklicht hat. Gerade weil der Begriff einer menschheitlichen Kultur die grundlegende Wirklichkeit aller menschlichen Existenz meint, sind wir in unserer eigenen kulturellen Existenz selbstverständlich miteinbegriffen. Eine Theorie der menschheitlichen Kultur umfasst also prinzipiell nicht nur alle vergangenen und alle gegenwärtigen Kulturen, unsere eigene mit inbegriffen, sondern auch die kulturelle Zukunft der Menschheit. Daher ist dieser Begriff einer menschheitlichen Kultur grundsätzlich nicht abschließend als Faktum bestimmbar, sondern stellt eine »regulative Idee reflektierender Urteilskraft« (Kant) dar. In diesem Verständnis einer uns mit umfassenden menschheitlichen Kultur offen16
Rainer E. Zimmermann, Kritik der interkulturellen Vernunft (2002).
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Aspekte der Interkulturellen Philosophie
bart sich auch die sittlich-praktische Dimension, die aller Thematisierung menschheitlicher Kultur als Aufgabe zugrunde liegt. Dies gilt nicht nur für die Ethnologie als Wissenschaft der Kulturen, sondern in analoger Weise auch für all jene Disziplinen, die sich mit Einzelaspekten der Kultur befassen. Denn wie will jemand fremde religiöse Glaubensbekenntnisse und Kulte verstehen, wenn er sich nicht auch zugleich um einen Begriff von Religion überhaupt bemüht. Ganz in diesem Sinne kommt die Interkulturelle Philosophie nicht um eine Klärung des Begriffs der Philosophie herum, der sowohl den je eigenen Standort mit umfassen und zugleich offen sein muss für alle vergangenen, gegenwärtigen und noch ausstehenden Verwirklichungsformen von Philosophie. Diese Problemstellung liegt den Ausführungen von Franz Martin Wimmer implizit zugrunde. 17 Alle Kulturen und Denksysteme sind in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Denksystemen in permanenter Entwicklung begriffen. Aber sie selbst nehmen sich immer als Zentrum aller Welterkenntnis und Selbstdeutung wahr. Solange kulturelle Zentren noch weit auseinander liegen, gibt es ein Nebeneinander von separaten Zentrismen, wie beispielsweise in ihren Anfängen in der griechischen, indischen und chinesischen Philosophie. Aber je weiter sich Großkulturen ausdehnen, umso mehr entwickeln sich aus ihnen Formen von expansiven und integrativen Zentrismen, wie sie in spezifischer Mischung für die abendländische Kultur und Philosophie prägend wurde. So versteht sich die abendländische Philosophie gegenüber allen anderen Traditionen als übergeordnet, als reifer und entwickelter, als selbständiger und kompetenter. Aber solche Potenzfantasien finden sich auch in den anderen Kulturen und Denktraditionen. Wer soll der Schiedsrichter zwischen den Zentrismen der verschiedenen Kulturen und Denktraditionen sein? Nun wissen wir sehr wohl, dass es weder einen über den Kulturen und Denksystemen stehenden Schiedsrichter geben kann noch dass unsere eigene Denktradition, die wir für uns gar nicht relativieren können, ein objektiver Schiedsrichter zu sein vermag. Selbst die Beurteilungs- und Begrenzungskriterien, was zur Philosophie allgemein gehöre bzw. in einen anderen religiösen oder wissenschaftlichen Bereich auszugrenzen sei oder ganz einfach einer Wahnwelt anFranz M. Wimmer, »Gibt es begründbare Maßstäbe für kulturelle Entwicklungen?« (2007): 158 ff.
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Bestimmungsgrundlagen der Interkulturalität
gehört, ist objektiv und ein für allemal nicht festlegbar, sondern diese Kriterien können selbst nur aus dem Dialog immer wieder neu ermittelt werden. Um aber unter dieser Voraussetzung zu einem die Interkulturelle Philosophie tragenden gemeinsamen Begriff der Philosophie zu kommen, entwickelt Franz Martin Wimmer das Konzept eines tentativen Zentrismus, d. h. eines Polylogs sich miteinander verständigender, sich gegenseitig anerkennender Zentrismen, 18 denn davon, dass sich jede Denktradition als Zentrum betrachtet, kann, ja darf keine Philosophie lassen, will sie sich nicht als Philosophie aufgeben und zur Standpunktlosigkeit verkommen. Heinz Paetzold versucht, am Werk des japanischen Philosophen Tetsuro Watsuji einen ganz anderen Zugang zur Problematik der Interkulturalität vorzustellen. 19 Vor allem in seinem 1935 erschienen Buch Fudo – Wind und Erde versucht Watsuji aufzuzeigen – Anregungen von Johann Gottfried Herder erneuernd –, inwiefern der Lebensraum der Menschen, der ihr soziales Zusammenleben und ihre Sinndeutungen von Welt und Menschsein prägt, ein Maßstab interkulturellen Vergleichs abgeben könnte. Grob gesprochen unterscheidet Watsuji drei verschiedene klimatische Regionen: das Monsunklima Indiens, das Wüstenklima Kleinasiens, das Wiesenklima Europas, denen er später noch das Prärieklima Amerikas hinzufügt. 20 Nun sind das keineswegs klar voneinander abgegrenzte Lebensräume, es gibt Regionen der Übergänge und es gibt Gebiete, in denen all diese Klimate aneinanderstoßen, wie beispielsweise im Großreich China, aber es gibt doch Kerngebiete jener Regionen, aus denen ganz bestimmte kulturelle Impulse hervorgehen und sich in erstaunlicher Kontinuität erhalten. Und gerade an diesen Kernbereichen lässt sich das Zusammenspiel von klimatisch bedingten Lebensräumen, von sozialen Lebensformen und von philosophischen Sinndeutungen von Welt und Mensch ablesen und nachzeichnen. So hat sich der Mensch im symbolischen Universum der indischen Kultur ganz den unüberwindbaren Rhythmen der Natur einzufügen, die durch die Perioden des Monsunregens mit überquellender Vegetation sowie mit schwü-
Franz M. Wimmer, »Polylog – interkulturelle Philosophie« (2002): 303 ff. Heinz Paetzold, »Tetsuro Watsujis Fudo und die interkulturelle Philosophie« (2007): 178 ff. 20 Tetusuro Watsuji, Fudo – Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur (jap. 1935). 18 19
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Aspekte der Interkulturellen Philosophie
len Hitzeperioden alles Leben beherrschen. Ganz anders sind die Menschen im Wüstenklima in ihrem Überlebenskampf auf den sozialen Zusammenhalt der Sippe oder des Stammes angewiesen, der sich in der Leitfigur des einen Himmelsgottes symbolisiert. So ist es keineswegs verwunderlich, dass die drei monotheistischen Weltreligionen alle in dieser Weltgegend ihren Ursprung haben. Aber gerade am Christentum lässt sich zeigen, wie es im Wiesenklima Europas eine ganz andere Ausprägung erfährt, denn hier ist die Sicherung des Überlebens auf den Arbeitseinsatz eines jeden Einzelnen angewiesen, was eine Individualisierung der Mensch-Gott-Beziehung zur Folge hat. Um dem von Watsuji keineswegs intendierten, sich jedoch dem Leser geradezu aufdrängenden Eindruck zu entgehen, diese Kulturphilosophie würde eine einseitige Abhängigkeit des Menschen und der Kultur vom Klima vertreten, hat der japanische Psychotherapeut Bin Kimura in seinem Buch Zwischen Mensch und Mensch (jap. 1972) 21 vor und neben das Mensch-Natur-Verhältnis das MenschMensch-Verhältnis gestellt, um so Watsujis Ethik noch stärker zu einer Kulturphilosophie auszuweiten. Im Verhältnis zwischen Mensch und Mensch liegt nicht nur die kulturelle Antwort auf die Herausforderung des klimatischen Lebensraumes, sondern es ermöglicht auch die Begegnung der Kulturen untereinander, sodass erst durch diese Erweiterung eine klimatologisch-vergleichende Kulturphilosophie mit interkulturellen dia- und polylogischen Implikationen entsteht. In geradezu kontrapunktischem Bezug behandelt Helmut Schneider einen anderen Aspekt einer philosophischen Kulturgeographie, nämlich die Bedeutung des Wassers für Entstehung und Charakter der Kulturen. 22 Auch hierfür ist J. G. Herder der Ideengeber, 23 an den G. W. F. Hegel sowie Carl Schmitt und Karl August Wittfogel mit unterschiedlichen Akzentsetzungen anknüpfen. Obwohl hier mit den großen Flusstälern bzw. dem Meer geographische Gesichtspunkte in die Kulturphilosophie einbezogen werden, steht bei ihnen allen doch die Kulturgeschichte im Zentrum ihrer Überlegungen – was Bin Kimura, Zwischen Mensch und Mensch. Strukturen japanischer Subjektivität (jap. 1972). 22 Helmut Schneider, »Philosophische Geografie: Die Bedeutung des Wassers für die Geschichte – Europa und Asien« (2007): 206 ff. 23 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791). 21
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Bestimmungsgrundlagen der Interkulturalität
selbst zum Anlass eines Kulturvergleichs zwischen Asien und Europa genommen werden könnte. Hegel unterscheidet in seiner Klassifikation von Lebensräumen drei Landschaften: das wasserlose Hochland, die Talebenen mit den großen Flüssen und das Uferland am Meer, die unterschiedlich und in unterschiedlichen Entstehungsphasen begünstigend zur Kulturentwicklung beigetragen haben. 24 Während die frühen Hochkulturen in den fruchtbaren Flusstälern des Nils, des Euphrats, des Indus’ oder des Jangtses entstanden, haben zum Heraufkommen Europas die Binnenmeere, das Mittelmeer und das Schwarze Meer, beigetragen, zu denen später noch die Atlantikküste zur Insel Großbritannien hin und die Ostsee hinzukamen. Gerade in der Herausbildung der Seefahrt und den durch sie ermöglichten Austausch von Gütern und Ideen sieht Hegel eine der Entwicklungschancen, die Europa gegenüber Indien und China zu nutzen wusste. Hegels in vielen Punkten mit Tetsuro Watsujis klimatologischen Kulturanalysen korrespondierende Überlegungen werden von zwei Denkern des 20. Jahrhunderts in ganz verschiedene Richtungen fortgeführt: Karl August Wittfogel wendet sich mit seinen Forschungen zur Entstehung der frühen hydraulischen Hochkulturen in den großen Flusstälern – vor allem in Wirtschaft und Gesellschaft Chinas (1931) – dem Problemzusammenhang zu, wie aus dem Zusammenspiel von komplexen Bewässerungssysteme und administrativer Arbeitsorganisation die ersten Großreiche als totale Herrschaftssysteme entstehen. 25 Nur in den allerersten Anfängen ist es das düngende Wasser der Ströme selbst, das in den Ufern Feldbau begünstigt und allenfalls kleinere feudale Fürstentümer entstehen lassen. Der nächste entscheidende Schritt ist jedoch der des Ausbaus von Bewässerungsanlagen, der Regulierung der Wasserzuteilung, d. h. die zentrale Herrschaft über die Arbeitskräfte und über die Güterverteilung, die nur von großen, unumschränkten Machtzentren her bewältigt werden können. Um diese Machtzentren entstehen dann immer gigantischere Bollwerke zu ihrer Sicherung nach außen und nicht minder gigantische Beamtenapparate zur Sicherung der Arbeitsregulierung und Versorgung der Bevölkerung nach innen. Für die Rekrutierung
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke 12). 25 Karl August Wittfogel, Wirtschaft und Gesellschaft Chinas (1931). 24
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Aspekte der Interkulturellen Philosophie
von Wissenschaftlern und Handwerkern, von Verwaltungsbeamten und Militärs, die der Zentralgewalt blindlings ergeben sind, werden weiterhin Bildungszentren erforderlich. Die besondere Brisanz dieser Forschung bestand in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts darin, dass der Marxist Wittfogel dabei deutlich machte, dass in modernen Zeiten solche totalen Herrschaftssysteme auch unabhängig von hydraulischen Aufgaben funktionieren. Dies stellt Wittfogel in seinem Buch Die Orientalische Despotie (1957) mit beständigem Blick auf die von Stalin umgeformte Sowjetunion dar, in der die sozialistische Idee einer sozial gerechteren Gesellschaft zum Anspruch ökonomischen Überlegenheit degenerierte, die durch eine forcierte Industrialisierung und eine kollektivierte Landwirtschaft erzwungen werden sollte, sodass das ganze Land zu einem gigantischen Arbeitslager verkam. 26 Demgegenüber rückt Carl Schmitt in der Studie Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung (1942) die überragende Bedeutung des Meeres für den Verlauf der Weltgeschichte in das Zentrum seiner Betrachtungen. 27 Schon die früheuropäische Geschichte kann unter dem Aspekt des Kampfs der Seemächte mit den Landmächten gesehen werden, bei denen auf lange Sicht die Seemächte mit ihrer größeren Beweglichkeit die Oberhand erringen. Dies setzt sich bis in die im 15. Jahrhundert anhebende Kolonialzeit fort und gipfelt schließlich in der Weltmachtstellung Großbritanniens. Mit ihrer Seeherrschaft und ihren kolonialen Stützpunkten rund um die Welt sichert sich Großbritannien eine Monopolstellung auf dem Weltmarkt. Erst mit dem Aufkommen der neuen Dimension der Luftfahrt, der Elektroindustrie mit Funk und Radar findet im 20. Jahrhundert eine ganz neuartige Machtverlagerung statt. Wie weit der dem Nationalsozialismus nahe stehende Carl Schmitt diese Analyse 1942 noch als kriegsentscheidend für Deutschland versteht, sei hier dahingestellt. So spannend all diese Gedanken zu einer geo- und historiographischen Kultur- und Weltphilosophie auch sind, sie haben uns doch zugleich von unserem zentralen Anliegen einer Interkulturellen Philosophie abgelenkt, zu der es nun wieder zurückzukehren gilt.
Karl August Wittfogel, Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht (engl. 1957). 27 Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung (1942). 26
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Perspektive einer Emanzipation aus dem Eurozentrismus
4.
Perspektive einer Emanzipation aus dem Eurozentrismus
Überhaupt können G. W. F. Hegels und Carl Schmitts weltgeschichtliche Entwicklungstheorien als prototypische Ausformungen eurozentristischer Geschichtsdeutung angesehen werden, die die ganze Menschheitsgeschichte allein auf die abendländische Machteroberung und -erhaltung hin auswertet. Ihnen gegenüber hat L.-J. Bonny Duala-M’bedy mit Recht seine Xenologie. Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie (1977) gestellt, in der die sittlich-praktische Verständigung mit allen Völkern, Kulturen und Religionen die Aufgabe der Menschheitsgeschichte darstellt. 28 An L.-J. Bonny Duala-M’bedys Xenologie anknüpfend spitzt Jörn Behrmann deren Grundanliegen auf die politische und pädagogische Aufklärungs- und Bildungsarbeit zu, um so auf eine Weltinnenpolitik interkultureller Verständigung hinzuwirken. 29 Mit Recht scheint ihm dies eine der vordinglichsten Aufgaben zu sein angesichts der globalen Bedrohung durch die Folgen der zunehmenden Zerstörung des menschlichen Lebensraumes: durch Aufheizung der Atmosphäre, durch Auflösung des Ozonschutzschildes der Biosphäre, durch Störung des lebenserhaltenden Gleichgewichts von Sauerstoff und Stickstoff durch die Abholzung der Urwälder und die Verschmutzung der Meere, durch Ausplünderung der Rohstoffe auf Kosten der nachkommenden Generationen, durch Zerstörung der kulturellen Bande und der gleichzeitigen Pauperisierung der Menschen in der Dritten Welt. All diese dringenden menschheitsgeschichtlichen Aufgaben verlangen gemeinsame Anstrengungen der Völker und Kulturen, die gerade nicht zentralistisch von den westlichen Industrienationen auf Kosten der Armen und Ärmsten dieser Welt diktiert und exekutiert werden können, sondern einen interkulturellen Diskurs aller Beteiligten notwendig machen. Auf dieses Ziel hin versteht sich die Xeno-
L.-J. Bonny Duala-M’bedy, »Aporien interkulturellen Verstehens aus der Perspektive der Xenologie« (2007): 232 ff. Wir gehen an dieser Stelle nicht weiter auf das Grundanliegen von Bonny Duala-M’bdey ein, sondern verweisen auf den vorausgehenden Beitrag »9. Ethnologie, Xenologie und Interkulturelle Philosophie. Versuch einer Klärung«. 29 Jörn Behrmann, »Xenologie: Harmonie interkultureller Beziehungen in der Weltinnenpolitik als Basis der Kultur des Friedens« (2007): 248 ff. 28
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Aspekte der Interkulturellen Philosophie
logie als eine politische und pädagogische Disziplin, die dem Konzept einer menschheitlichen Kultur des Friedens verpflichtet ist. Obwohl nicht aus dem Diskurs der Xenologie erwachsen, schließt sich hieran das Anliegen von Raúl Fornet-Betancourt an, der die Bedeutung der lateinamerikanischen Theologie und Philosophie der Befreiung für die Interkulturelle Philosophie herausarbeitet. 30 Der Interkulturellen Philosophie geht es nicht nur um ein Verstehen anderer philosophischer Sinnwelten und ein Verstehen unserer selbst als Menschen aus all diesen Sinndeutungen, sondern sie weiß sich dem großen Projekt der Befreiung der Menschen verpflichtet und bringt sich daher pädagogisch und politisch in die konkrete Praxis der Aufklärung und Emanzipation aller Menschen ein. 31 Kritisch an der Auseinandersetzung mit der marxschen Theorie geschult, hat die Theologie und Philosophie der Befreiung in Lateinamerika erkannt, dass hinter all den unsere natürliche und soziale Lebenswelt bedrohenden Zerstörungsprozessen die immer globaler wirksame Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise am Werk ist mit ihrer alleinigen Ausrichtung auf Wertakkumulation ohne Rücksicht auf die Folgen für die Menschen und für deren natürliche Lebenswelt. Daher ist auch der einzelne Kampf einer Kultur um den Erhalt ihrer kulturellen Werte oder einer sozialen Bewegung für die Gewährung von Lebenschancen oder einer ökologischen Bewegung zum Schutz von Lebensräumen für Mensch und Tier, allein auf sich gestellt, unweigerlich zum Scheitern verurteilt, denn die kapitalistische Wertlogik wird zwar hier und da aus politisch-taktischen Erwägungen heraus nachgeben, aber sich insgesamt neue Wege suchen, um die menschliche Arbeitskraft auszubeuten und die Naturressourcen zu plündern. 32 Ohne diese Zusammenhänge kritisch aufzudecken und gemeinsam zu bekämpfen, wird auch die Interkulturelle Philosophie ein Projekt weniger Gelehrter bleiben, die sich international auf Konferenzen treffen, während hinter ihrem Rücken sich die Mehrzahl der »Philosophen« schon längst in den Dienst einer anwendungsbezogenen, sprich kapitalistisch verwertbaren »PhilosoRaúl Fornet-Betancourt, »Der Beitrag der lateinamerikanischen Theologie und Philosophie der Befreiung zur Entwicklung einer befreienden Kultur heute« (2007): 256 ff. 31 Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung (span. 1977). Vgl. Hans Schelkshorn, Ethik der Befreiung. Einführung in die Philosophie Enrique Dussels (1992). 32 Raúl Fornet-Betancourt, Annäherung an Lateinamerika. Die Theologie der Befreiung und die gesellschaftliche Entwicklung Lateinamerikas (1984). 30
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Perspektive einer Emanzipation aus dem Eurozentrismus
phie« stellen, für die kulturelle Güter etwas längst Überholtes darstellen. Seitdem sich die Generalversammlung des Lateinamerikanischen Bischofrats 1968 in Kolumbien parteinehmend auf die Seite der Armen gestellt hat, gibt es trotz vieler Rückschläge, die auch aus den eigenen Reihen der katholischen Kirche kamen, weltweit eine Bewegung der Theologie der Befreiung, deren Zentrum nach wie vor in Lateinamerika liegt. Die Theologie und Philosophie der Befreiung knüpft nicht nur direkt an die Lehre Christi und deren Verständnis in der Urgemeinde und viele weitere Bewegungen an – wie beispielsweise an die der Franziskaner –, sondern weiß sich auch der kapitalismuskritischen Theorie von Karl Marx verbunden, ohne dessen atheistische Haltung zu übernehmen. 33 Vielen mag heute noch diese Verknüpfung von Jesus von Nazareth und Karl Marx als eine Blasphemie erscheinen, und doch haben sie eines gemeinsam: die Parteinahme für die Unterdrückten, Ausgegrenzten und Erniedrigten. Für die Theologie und Philosophie der Befreiung steht außer Zweifel, dass sie ihren Auftrag von Jesus Christus erhalten hat, aber um diesen Auftrag gegenüber einem globalisierten Kapitalismus vertreten zu können, benötigen sie das kritisch-analytische Instrumentarium der marxschen Theorie. Dies ist der Hintergrund, den Fornet-Betancourt darlegt, um den Beitrag der Theologie und Philosophie der Befreiung für die Interkulturelle Philosophie herauszuarbeiten, denn eine Befreiung der Kultur ist nur über die Arbeit an einer Kultur der Befreiung erreichbar, das ist nicht nur eine theoretische, sondern auch eine sittlich-praktische Aufgabe. Denn alle Philosophie, die diesen Namen verdient, steht im Primat der Praxis, das Menschsein als einen Auftrag zu verstehen, den wir nur im kulturellen Polylog mit allen Mensch gemeinsam zu erfüllen vermögen.
Raúl Fornet-Betancourt, »Hermeneutik und Politik des Fremden. Ein philosophischer Beitrag zur Herausforderung des Zusammenlebens in multikulturellen Gesellschaften« (2002): 49 ff.
33
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Aspekte der Interkulturellen Philosophie
5.
Ach Europa
In einem durch eine doppelte Negation hindurch zum Kern der Problematik vordringenden Gedankengang stellt Hassan Givsan 34 die Frage, was denn daraus folgen solle, dass einige große Denker behaupten, dass nur die abendländisch-europäische Philosophie – ja genauer die griechische und die deutsche – allein die wahre Philosophie oder das wahre Denken sei. Einige Vertreter der Interkulturellen Philosophie beklagen diese Behauptungen und werden nicht müde zu fordern, dass auch das Denken aus anderen Kulturen als Philosophie anzuerkennen sei. Ist diese Haltung nicht etwas schwach, weil Mitleid erheischend? Hassan Givsan nimmt sich zwei jener Denker – Heidegger und Husserl – vor, um die beanspruchte Einzigartigkeit ihres Denkens im Kontext ihrer Ausführungen philosophisch zu prüfen, und er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Philosophen aller Länder und Kulturen froh und glücklich sein sollten, von diesen abendländischen Denkern nicht auf die gleiche Stufe gestellt oder gar vereinnahmt zu werden. 35 So könnte die erste Aufforderung von Hassan Givsan an die außereuropäischen Philosophen lauten: Habt doch ein bisschen mehr Mut und Vertrauen zum eigenen Denken! Aber Hassan Givsan führt den Lesern noch eine zweite Antwort vor, denn er ist ein Denker, der selbst zwar ursprünglich nicht aus Europa stammend die abendländische Tradition der Philosophie – und nicht nur sie – von ihren Anfängen bis zur Gegenwart wie kaum ein anderer kennt und beherrscht und nun vorführt, dass es tatsächlich nur eine Philosophie gibt, die aus einem strengen und kritischen Durchdenken des Denkens lebt. Ob dieses Denken nun aus Japan, China, Indien, Persien, Amerika oder aus Griechenland und Deutschland kommt, ist dabei völlig unerheblich: Denken muss sich vor dem Denken ausweisen, rechtfertigen und bewähren – das ist Philosophie, und sie kann auch interkulturell nur so Philosophie sein. Selbstverständlich gibt es nur eine Philosophie, denn sonst wäre kein Verstehen, keine Verständigung, kein Polylog zwischen den kulturell verschiedenen Denkansätzen möglich. Aber ebenso selbstverständlich ist keine bestimmte philosophische Richtung, auch die Hassan Givsan, »Dass die Philosophie nur abendländisch-europäisch sei – und was nun? Frage an Heidegger und Husserl« (2007): 270 ff. 35 Hassan Givsan, Heidegger – das Denken der Inhumanität. Eine ontologische Auseinandersetzung mit Heideggers Denken (1998). 34
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Ach Europa
abendländisch-europäische nicht diese eine Philosophie. Vielmehr ist die eine Philosophie ein menschheitliches Projekt strenger geistiger Selbstklärung des Menschseins, an dem alle Denkbemühungen aller Regionen und aller Zeitepochen beteiligt sind. Der unabschließbare Polylog selbst ist diese eine Philosophie, die an der Klärung und der Erfüllung unseres Menschseins in der Welt arbeitet. 36
Siehe hierzu auch den Beitrag »7. Das interkulturelle Selbstverständnis der Philosophie«.
36
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11. Ethik – ein Menschheitsprojekt 1
Vorbemerkungen Sittliche Werte gibt es seit Anbeginn der Menschheit. Sie sind eines der konstitutiven Fundamente des Menschseins – neben der gesellschaftlichen Arbeit und der Sprache. Das älteste Sittengesetz, das wir kennen, ist das sogenannte Inzest-Tabu, das sowohl ein Verbot der Paarung in der eigenen Horde bedeutet und das zugleich ein Gebot der Partnerwahl außerhalb der eigenen Horde impliziert. Damit kommt es zuallererst zur Konstitution einer mehrere verwandtschaftliche Gruppen umfassenden sozialen Gemeinschaft. Zunächst beziehen sich sittliche Werte nur auf die kleinen Stammesgesellschaften und allenfalls auf ihre unmittelbaren NachbarEthnien. Jede dieser Gruppen bezeichnet sich als die »Menschen«, während die anderen ausgegrenzt werden. Es dauert Jahrtausende, bis sich daraus Völker und Staaten herausbilden, die sich als Gemeinschaften anerkennen; und erst im 3.–2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung taucht schließlich der Gedanke der Humanitas auf, der Gedanke, dass jeder Mensch der sittlichen Gemeinschaft der Menschheit angehört und die gleichen Rechte und die gleiche Würde wie jeder andere besitzt. Auch wissen wir, dass wir immer noch weit von der Verwirklichung dieser regulativen Idee der Humanitas und der gleichen Menschenrechte entfernt und also noch mitten im Prozess der Sittlichwerdung der Menschheit begriffen sind. Auch inhaltlich erweitert sich der Gedanke der Sittlichkeit durch die Jahrtausende. Einer der auch für unsere abendländische Kultur prägenden Gedanken ist der jüdische Monotheismus, denn gemäß Hervorgegangen aus zwei Vorträgen »Das Selbstverständnis der Ethik als philosophischer Disziplin« (2003) erschienen in: Wissenschaftsethik in Lehre und Forschung der Universität Kassel. Bericht und Empfehlungen der Ethik-Kommission beschlossen vom Senat am 5. November 2003, Kassel 2003, 21 ff. sowie »Die Rückkehr des Problems der Ethik – eine Rückkehr zu Platon« vor der Kurhessischen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft zu Kassel 2005 (unveröffentlicht).
1
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Die Geburt der philosophischen Ethik
dem Zwei-Tafel-Gesetz ist mit dem Gebot der Gottes-Liebe zugleich untrennbar das Gebot der Nächstenliebe verbunden: »Liebe deinen Nächsten, er ist wie du!« Mit diesem – später auch von den Christen übernommenen und menschheitlich erweiterten – Doppelgebot tritt noch etwas anderes bestimmend in unsere Gedankenwelt ein: Das geschichtliche Heil dieser Welt hängt mit vom sittlichen Handeln der Menschen ab. Mit dieser Vorbemerkung sollte nur angedeutet werden, dass Sittlichkeit zwar ein Faktum des Menschseins darstellt, aber in ihrem Inhalt, ihrem Umfang und ihrer Konkretion erst in und durch die sich differenzierende sittliche Praxis der Menschen bewusst ausdifferenziert wird und auch dann noch zu ihrer wirklichen Durchsetzung viel Zeit in Anspruch nimmt. Die Entwicklung der sittlichen Idee und die ihrer tätigen Realisierung schreiten keineswegs linear und stetig voran, sondern sie erfahren kulturell unterschiedlich voranschreitende Entfaltungen und immer wieder auch barbarische Einbrüche, wie wir aus unserer eigenen jüngeren deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert wissen. Es ist gerade erst 75 Jahre her, da wurden unter dem Kommando des Deutschen Reichs in Europa jüdische Mitbürger entrechtet, entmenscht und industriell-organisiert hingemordet.
1.
Die Geburt der philosophischen Ethik
Aber all das soll nicht Thema unserer Überlegungen sein, sondern wir setzen dort ein, wo mit der Philosophie im klassischen Griechenland im 5.–4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Reflexion auf die Begründungsfrage der Ethik beginnt. In einer sich rasch politisch wie ökonomisch verändernden Zeit lösten sich die überkommenen adelsgesellschaftlichen und mythischreligiösen Werte auf. Dabei ergreift nicht eine neue, erweiterte religiöse Idee mit ihren Wertvorstellungen die traditionelle Gesellschaft – wie vorher in den Großreichen von Ägypten bis China –, sondern es kommt geschichtlich erstmals und einzigartig in der Menschheitsgeschichte in den griechischen Polis-Gesellschaften die Frage auf, wie sich sittliche Werte und Tugenden an sich selbst, allein aus der und vor der Vernunft begründen und rechtfertigen lassen. Von Anfang an reift dabei die grundsätzliche philosophische Einsicht, dass die Sphäre des Sittlichen nicht durch theoretische, wissenschaftliche Erkenntnis erreichbar und fundierbar ist, sondern dass 255 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Ethik – ein Menschheitsprojekt
hier eine anders geartete praktische Vernunft und Einsicht am Werk ist. Wissenschaftliche Erkenntnisse vermögen wir über das Seiende zu gewinnen, und hierbei kommen wir zu apodiktischen Gewissheiten – insbesondere dort, wo eine Mathematisierung der Erkenntnisse möglich ist –, aber bei allen sittlichen, politischen, pädagogischen Aussagen, die sich richtungsgebend auf ein noch ausstehendes situationsabhängiges Handeln des Menschen auf den Menschen bezieht, kann man mit dem theoretischen, wissenschaftlichen Wissen nichts ausrichten, und man kann darüber auch nichts apodiktisch-beweisend aussagen. Und doch gibt es und muss es eine Begründung sittlichen Handelns geben, die einen eigentümlichen Bestimmtheits- und Gebotscharakter für uns hat. In unserer Sprache unterscheiden wir das sittliche Gewissen von der Erkenntnisgewissheit und das sittliche Gesetz oder Gebot von dem wissenschaftlichen Erkenntnisgesetz. Gewissen und Gebot (Sittengesetz) sind – wie wir mit Kant zu sagen pflegen – kategorisch bestimmt, d. h. auch sie haben für uns den Charakter unumstößlicher Geltung, aber sie können nicht theoretisch-wissenschaftlich, sondern sie müssen sittlich-praktisch erschlossen und befestigt werden. Lassen Sie mich die Problematik ganz kurz an Sokrates und Platon sowie an Kant erläutern, nicht aus historischem Interesse, sondern weil in diesem ersten Aufbrechen der Problemstellung der Ethik-Begründung der Sonderweg abendländisch-philosophischer Ethik-Diskussion besonders deutlich zu Tage tritt.
1.1. Sokrates Wie wir wissen, ist uns die Gestalt des Sokrates aus den Frühschriften Platons überliefert. Sokrates selbst hat nichts Schriftliches hinterlassen. Den uns vertrauten Sokrates kennen wir allein aus den Frühdialogen von Platon, aber wir tun gut daran, zur Abgrenzung vom späteren Platon weiterhin von Sokrates als Begründer der Ethik zu sprechen. Sokrates diskutiert auf dem Marktplatz und in den Gymnasien, den damaligen Kampfertüchtigungsschulen, mit den Bürgern und vornehmlich mit den Jugendlichen Athens. Er befragt die politischen und religiösen, die wissenschaftlichen und kunstfertigen Experten seiner Zeit, was denn ihrer Überzeugung nach sittliche Tugenden seien und wie diese begründet werden können. Und er erschüttert 256 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Die Geburt der philosophischen Ethik
und destruiert dabei mit unwiderlegbarer Argumentation all ihre Überzeugungen und Begründungsversuche. Er selbst sagt nirgends positiv, was sittliche Tugend sei und wie sie fundiert werden könne. Daher enden alle sokratischen Frühdialoge Platons scheinbar negativ. 2 Aber dies ist nur der vordergründige Schein, denn der junge Platon will seinen Hörern und Lesern an der Gestalt seines Lehrers Sokrates etwas ganz anderes vermitteln. Die sokratischen Tugenddialoge machen deutlich, dass sich das, was sittliche Tugenden sind, nicht theoretisch aussagbar fixieren lässt, und doch muss jeder sich aus praktischer Vernunft darum bemühen, für sein eigenes Handeln darüber ins Reine und Klare zu kommen. An zwei Gleichnissen macht der junge Platon auf die Gestalt seines Lehrers Sokrates bezogen das Problem deutlich: 1. Das Gleichnis von der Anamnesis, der Wiedererinnerung (Platon, Menon: 80d-86c). Das, was wir sittliche Einsicht nennen, vermag jeder nur in sich selbst aufzufinden – sie kann nicht von außen in ihn hineingebracht werden. Wir benennen diese Instanz in uns selbst heute Gewissen. Dieses Gewissen kann nicht von außen theoretisch belehrt oder technisch andressiert werden, es kann nur aus jedem von uns selbst erstehen, wachsen und sich festigen. 2. Trotzdem bedarf das Gewissen einer helfenden Anleitung von außen, um zu sich selbst kommen zu können. Dies wird an Sokrates’ Maieutik, der Hebammenkunst, verdeutlicht. (Platon, Theaitetos, 148e-149c) Der erwachsene, sittliche Mensch kann dem Heranwachsenden zwar nicht theoretisch belehrend sagen, welche sittlichen Einsichten er zu finden und wie er zu handeln habe, wohl aber kann er durch sein Fragen, durch seine Haltung und sein sittliches Urteil anregen und anleiten, dass der Heranwachsende zu seinen eigenen sittlichen Überzeugungen zu kommen vermag. Daraus ergibt sich, dass beides nur in dialogischer Praxis verwirklicht werden kann, d. h. zu dem, was sittlich ist, kann jeder Mensch nur aus dem kommunikativen Umgang mit anderen Menschen finden, und dies geschieht immer schon von den frühesten Anfängen eines jeden Menschen an – weshalb die Kleinkinderfahrungen von so grundlegender Bedeutung für die sittliche Selbstwerdung sind. Wir haben somit in den sokratischen Dialogen all die Elemente Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik (2008): 147 ff.
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Ethik – ein Menschheitsprojekt
beisammen, die sich in unserer abendländischen Tradition – und über sie hinaus heute auch weltweit – zum Problem der Gewissenserziehung verdichten. Es gibt keine andere Tradition – weder die chinesische noch die indische –, in der das individuelle Gewissen für ethische Entscheidungen diese zentrale Rolle spielt wie in unserer abendländischen Tradition seit Sokrates. Die freie Gewissensentscheidung ist auch für uns heute die unhintergehbare sittliche Entscheidungsinstanz, die zwar gebildet und herausgefordert werden kann und muss, die aber dem Handelnden niemals theoretisch vorschreibend abgenommen werden kann und darf, sondern sie kann nur aus der kommunikativen sittlichen Praxis der sozialen Gemeinschaft selbst erwachsen.
1.2. Der spätere Platon Gerade die Verurteilung seines Lehrers Sokrates zum Tode durch die Athener (vor über 2400 Jahren) macht es dem älteren Platon deutlich, dass die Gewissenserziehung allein zur Fundierung der Sittlichkeit eines Gemeinwesens nicht ausreicht. Um fundierend zu sein, brauchen wir auch positiv aussagbare, allgemein anerkannte Leitlinien unseres sittlichen Handelns in einer politischen Gemeinschaft. An der Gerechtigkeit hat Platon dies in seinem großen Werk der Politeia deutlich gemacht. Im zweiten Buch der Politeia hält er seinem Lehrer Sokrates ausdrücklich vor, dass es nicht ausreichen könne, immer nur negativ zu zeigen, was Gerechtigkeit nicht sei, denn sonst werden diejenigen obsiegen, die der Jugend Ungerechtes als Gerechtes vorgaukeln. Es ist daher notwendig, dasjenige, was Gerechtigkeit selbst ausmache und von dem her die Tugend gerechten Handelns positiv bestimmbar werde, aus sich selbst heraus begründen und rechtfertigen zu können. Platon diskutiert dieses Problem in der Politeia anhand der höchsten aller Ideen: der Idee des Guten. Nun darf man nicht glauben, dass Platon seinem Lehrer Sokrates widersprechen will und nun etwas sagt, was das Gute seinem Inhalt nach sei. Nein, er will die Problematik nur ergänzen und erweitern. Die Idee des Guten ist gleichsam der notwendig korrespondierende Pol zum je eigenen Gewissen. Es ist die allgemeine Instanz des Guten, auf die hin jedes Gewissen sich zu orientieren hat und seine unabdingbare Bestimmtheit erhält. Als allgemein geltende Instanz ist die Idee des Guten auch 258 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Die Geburt der philosophischen Ethik
die in sittlich-praktischem Sinne allgemein gesetzgebende Instanz. Anders gesagt: Der von der Idee des Guten bestimmte Gedanke der Gerechtigkeit ist durch nichts in der Welt relativierbar oder gar ersetzbar. Dies wird von Platon – mehr als dreieinhalb Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung – unglaublich dramatisch an der Gestalt des absolut Gerechten veranschaulicht, der wegen seines Gerechtseins gefoltert, geblendet und gepfählt wird. (Platon, Politeia: 357a-368b) Nur wenn es ein Sittlich-Gutes aus sich selbst heraus gibt, ist sein gerechtes Leben und sein Märtyrertod nicht ein Scheitern, sondern unabhängig von jedem irdischen Erfolg in einem höheren Sinne gerechtfertigt. 3 Und doch hält auch der späte Platon daran fest, dass die Idee des Guten nicht theoretisch-wissenschaftlich ermittelt und bewiesen werden kann, da sie nirgends anders als in uns selbst als gesetzgebende Instanz aufweisbar ist. Allerdings vermögen wir sie nur dann in uns aufzufinden, wenn wir selbst eine periagoge, eine Umwendung zum Sittlichen in uns vollzogen haben. Daher kann die Konkretion der Idee des Guten selber wiederum nur in dialogischer Praxis der um das Sittliche bemühten Menschen miteinander ausgeformt, differenziert und von Generation zu Generation weitertradiert werden. Wir werden hier nun nicht auf die berühmten Gleichnisse – das Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis – eingehen, an denen Platon in der Politeia deutlich macht, dass im letzten all unser menschliches Denken und Handeln von dieser höchsten Idee des Guten bestimmt sein sollte. Zur Erläuterung dieser Gleichnisse entwirft Platon ein umfassendes Bildungsprogramm, in dessen Zentrum eben jene periagoge, jene Umwendung des Heranwachsenden zum Sittlichen steht. Nur die Männer und Frauen, die eine solche periagoge für sich vollzogen haben, sollten für die Regierungsaufgaben eines Staates zugelassen werden, da nur sie nicht korrumpierbar sind und ihre politischen Entscheidungen allein aus dem Gedanken der Gerechtigkeit bestimmen können. (Platon, Politeia: 473b-e) Dass dies eine utopische Hoffnung ist, macht Platon selber deutlich, und doch können wir auf diese Hoffnung als sittlich-pädagogisch-politische Leitidee gerechten Handelns unter den Menschen niemals verzichten, denn an der Weitergabe der Idee des Guten hängt der sittliche Fortbestand der Menschheit. Daher hat sich die PhiloVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999): 26 ff.
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Ethik – ein Menschheitsprojekt
sophie aktiv in die Aufgabe der Weitergabe der Idee des Guten einzubringen. (Platon, Symposion: 211d-212b) 4 Die Idee des Guten und mit ihr alle sittlichen Tugenden sind – wie Platon zeigt – unglaublich verletzliche und zerbrechliche Einsichten und Orientierungen, um deren Geltung wir uns immer wieder neu bemühen müssen.
1.3. Kant Springen wir nun über mehr als zwei Jahrtausende zum dritten Denker, an den wir kurz erinnern sollten. Was Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft in Abgrenzung von der Kritik der reinen Vernunft (der theoretischen Verstandeserkenntnis) vorlegt, ist zunächst nichts grundlegend Neues, sondern die neuzeitliche Erneuerung dessen, was wir durch Sokrates und Platon kennengelernt haben, allerdings gelingt Kant eine tiefer greifende Vermittlung von sittlicher Einsicht (Gewissen) und Sittengesetz (Idee des Guten), fokussiert auf den Begriff der menschlichen Freiheit. Wir können hier Kants praktische Philosophie, d. h. seine Begründung der Ethik nicht ausführlich darlegen. Für unseren Zweck reicht es, wenn wir auf drei Aspekte seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785) hinweisen. Zunächst zeigt Kant ganz im Sinne des Sokrates auf, dass nur der Wille im eigentlichen sittlichen Sinne gut sein kann. Alle anderen Reden von »gut« – ein guter Verstand, ein guter Arzt, ein gutes Messer – meinen »gut« nur im Hinblick auf anderes. Unter einem guten Willen verstehen wir jedoch nur einen solchen, der sich allein aus Achtung vor dem Sittengesetz für etwas entscheidet. Was Kant hier in seiner Begrifflichkeit ausdrückt, ist die Vermittlung der sittlichen Einsicht und der Idee des Guten aus der Perspektive des Gewissens. Kant etwas abwandelnd können wir formulieren: »Handle allein aus deinem am Sittengesetz orientierten Gewissen.« Was aber bedeutet »Sittengesetz«, dies ist eine – mit der ersten korrespondierende – zweite Frage Kants. Das Sittengesetz, Platons Idee des Guten, ist nichts anderes als unsere praktische Vernunft selbst, an der wir als vernünftige Wesen teilhaben, und hat daher für jedes vernünftige Wesen Gültigkeit. Durch die Anerkennung der Vgl. Marek Siemek, Vernunft und Intersubjektivität. Zur philosophisch-politischen Identität der europäischen Moderne (2000): 11 ff. und 236 ff.
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Die Geburt der philosophischen Ethik
praktischen Vernunft in mir erkenne ich zugleich unbedingt auch jedes andere vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst an: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« (Kant, IV: A 66 f.) Schon hier wird Platons Idee des Guten auf die praktische Vernunft in jedem einzelnen Menschen hin ausgelegt, aber die eigentliche Bedeutung Kants liegt in dem von ihm noch hinzugefügten »dritten praktischen Prinzip«. Es ist dies das Prinzip der freien Selbstbestimmung des Menschen aus der praktischen Vernunft und durch sie. Es fordert, dass der Mensch sich nur einem solchen Gesetz beugen soll, von dem er sich auch als Gesetzgeber begreifen kann sowie, dass nur ein allgemein geltendes Sittengesetz sein kann und darf, dem jedes vernünftige Wesen aus praktischer Vernunft zuzustimmen vermag: »Die praktische Notwendigkeit [des Sittengesetzes …] beruht […] bloß auf dem Verhältnis vernünftiger Wesen zueinander, in welchem der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muß, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst denken könnte.« Und die Dignität sittlicher Tugend »ist nichts Geringeres als der Anteil, den sie dem vernünftigen Wesen an der allgemeinen Gesetzgebung verschafft, […] nur demjenigen allein gehorchend, die es selbst gibt und nach welchen seine Maxime zu einer allgemeinen Gesetzgebung (der er sich zugleich selbst unterwirft) gehören können.« (Kant, IV: A 77 ff.) 5 Die Möglichkeit dieses wechselweisen Bezogenseins von individuellem Willen und allgemeinem Sittengesetz liegt in uns selbst und in ihr gründet unsere Freiheit. Ihre Konkretisierung stellt sich uns als eine doppelte, nie abschließbare Aufgabe dar: a) die Bildung und Bewährung des Gewissens als der differenzierten Orientierung unserer je individuellen Willensentscheidung am Sittengesetz und b) die Mitbestimmung an der uns allen gemeinsam aufgegebenen inhaltlichen Konkretisierung des Sittengesetzes und deren geschichtliche Verwirklichung. Der kategorische Imperativ ist zwar in seiner wechselweisen Bezogenheit von Gewissen und Idee des Guten unabdingbar gebietend, aber keineswegs theoretisch als Norm für alle Zeiten feststellbar, vielmehr ist jede einzelne sittliche Entscheidung stetig neu zu erkämpfen. Dies hat Kant in seiner Religion innerhalb der Grenzen der 5
Kant, Werke, IV: 649 ff.
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Ethik – ein Menschheitsprojekt
bloßen Vernunft (1793) als permanente »Revolutionierung der Denkungsart« umschrieben, die darin besteht, den Hang zur verkehrten Dominanz der Eigenliebe über das Sittengesetz immer wieder erneut umzukehren, sodass die praktische Vernunft in uns Oberhand gewinnt über die Eigenliebe. Doch dies ist nur die Grundlage der sittlichen Entscheidung, die jeder Handelnde für sich zu leisten hat, ihr geht konkretisierend bereits zum einen – wie Kant aufzeigt – eine pädagogische Bildung des Gewissens voraus, und zum anderen ist der sittlich Handelnde einbezogen in die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit. 6 Damit werden auch von Kant die mit der Ethik eng verbundenen sittlich-praktischen Disziplinen der Pädagogik und Politik einbezogen, wie dies schon Sokrates, Platon und Aristoteles 7 dargelegt haben.
2.
Praxisphilosophische Konkretisierungen der Sittlichkeit
Mit dem Gewissen, der Idee des Guten und deren wechselweiser Vermittlung aus der Freiheit praktischer Vernunft haben wir gleichsam die Bedingungen der Möglichkeit sittlicher Selbstbestimmung aufgedeckt. In die Konkretisierung sittlicher Entscheidungen geht jedoch das weite Feld sittlicher Praxis ein, zu dem auch die pädagogische und politische Praxis mit hinzugehören. Die sittliche Leitidee der pädagogisch Handelnden liegt darin, die Heranwachsenden so in die sittliche Praxis ihrer sozialen und kulturellen Gemeinschaft einzubeziehen, dass sie als Erwachsene zu eigenverantwortlich sittlich-handelnden Subjekten ihrer Gemeinschaft werden können. Die sittliche Leitidee der politisch Handelnden – im klassischen Sinne – zielt darauf, dass die eigenverantwortlichen Subjekte sich den politischen Herausforderungen stellen und gemeinsam nach Lösungen suchen, die dem Wohle der ganzen sozialen und kulturellen Gemeinschaft dienen. Beide Aufgaben bedingen und fordern sich wechselseitig, wie dies bereits Jean-Jacques Rousseau in seinen beiden Büchern Emile oder Über die Erziehung (1762) und Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundätze des Staatsrechts (1762) gefordert hat, denn eine radikale Demokratie
Siehe hierzu Immanuel Kant, Über Pädagogik, VI: 697 ff. sowie Zum ewigen Frieden, VI: 195 ff. 7 Aristoteles, Nikomachische Ethik sowie Politik. 6
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Praxisphilosophische Konkretisierungen der Sittlichkeit
setzt nicht nur freie mündige Menschen voraus, sondern ist selbst ihrerseits Voraussetzung für eine Bildung freier Menschen. 8 Dies sei zunächst am System der Sittenlehre von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher umrissen, den bis heute subtilsten Differenzierungen des Anspruchshorizonts sittlicher Praxis zur Entscheidungsorientierung aller sittlich, pädagogisch und politisch Handelnder, und soll sodann an der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Karl Marx auf den Anspruchshorizont politisch-menschheitlicher Praxis erweitert werden. 9
2.1. Schleiermachers System der Sittenlehre Wie kein anderer geht Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768– 1834), Platon und Aristoteles dialektisch miteinander verknüpfend, in seiner Ethik 10 von der gesamtgesellschaftlichen Praxis aus, an die sich Pädagogik und Politik als praktische Wissenschaften anschließen. Dabei betont er mit Aristoteles, dass die praktische Wissenschaft nicht außerhalb der Praxis steht, sondern mitten aus ihr heraus theoretische Aufklärung der Praxis zur praktischen Aufklärung der Praxis zu sein hat. Doch entschieden mit Platon verweist Schleiermacher darauf, dass zu dieser gesellschaftlichen Praxis die regulative Idee des Guten mit hinzugehört. Denn wie Platon es in der Rede der Diotima darstellt (Platon, Symposion 203c-204b), gleicht eine Theorie der Praxis dem Eros, der zwischen den elenden Praxisverhältnissen und den edlen Praxisideen rastlos hin- und herzupendeln hat. 11 Nur im Wissen um diese doppelte Bezogenheit kann eine philosophische Ethik als System der Sittenlehre – und ihr koordiniert die Pädagogik und Politik – entworfen und ausformuliert werden, die dem Handelnden immer nur Horizonte und Ansprüche der Praxis Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung (fr. 1762/1968): 116 sowie Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (fr. 1762/1968): 6. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Kritische Theorie und revolutionäre Praxis (1988): 49 ff. 9 Zu den folgenden Ausführungen siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 201 ff. 10 Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13): 227 ff. 11 Friedrich Schleiermacher, Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik (1833): 117 ff. Vgl. Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung (1999): 75 ff. 8
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Ethik – ein Menschheitsprojekt
zu eröffnen vermag, die er selber in der Praxis zu entscheiden und zu verantworten hat. Gerade hierin liegt das Faszinierende an Schleiermachers dialektischer Praxistheorie, dass ihr immer bewusst bleibt, dass jede Analyse von der Praxis zugleich eine Orientierung für die Praxis darstellt. Dies schließt von vornherein aus, dass sittliche Praxisanalysen je als empirisch feststellende oder normativ vorschreibende Wissenschaften missverstanden werden können. Vielmehr erfolgt die dialektische Praxisanalyse immer aus dem Horizont der praktisch Handelnden, sie klärt die Praxis auf, in die der Handelnde immer schon steht, um ihm zu ermöglichen, bewusster in die Praxis einzugreifen, denn gesellschaftliche Praxis ist ja selbst nichts anderes als das miteinander Handeln der Individuen. Daher ist – wie Schleiermacher betont – die Dignität der Praxis eine viel ältere als die der Theorie. Die Theorie der Praxisanalyse vermag nur die immer schon sich vollziehende gesellschaftliche Praxis durch ihre Aufklärung zu einer bewussteren Praxis der Handelnden voranzubringen. 12 Allerdings liegt hierin auch die Begrenztheit der dialektischen Praxisanalyse Schleiermachers, denn sie unterstellt unbefragt, dass alle Entfremdungen und Verstellungen gesellschaftlicher Praxis, die Schleiermacher sehr wohl kennt und thematisiert, bereits durch angemessene Aufklärung der handelnden Individuen eingesehen und behoben werden können. Es ist daher keineswegs verwunderlich, dass Schleiermachers dialektische Praxisanalyse in der Pädagogik bis heute noch ihre Faszination nicht verloren hat, denn bezogen auf das pädagogische Handeln der Eltern, Erzieher und Lehrer ist nach wie vor eine Aufklärung pädagogischer Praxissituationen mit ihren praktischen Ansprüchen eine unerlässliche Vorbereitung auf das eigene pädagogische Handeln, das jeder Pädagoge letztlich nur in eigener Entscheidung zu treffen und zu verantworten hat. Doch im Bereich der politischen Praxis ist die Problematik eine wesentlich komplexere. Wie Kant 13 schreckt auch Schleiermacher, obwohl er aus seiner Sympathie für eine demokratische Verfassung nie ein Hehl gemacht hat, vor einer eindeutigen Parteinahme für eine Revolution zurück, selbst dann, wenn despotische Verhältnisse das Volk unterdrücken und terrorisieren. Vielmehr ist Schleiermacher auch im Bereich des Politischen der »Überzeugung«, dass der Geschichte »eine reine Kon-
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Friedrich Schleiermacher, Texte zur Pädagogik (1826), II, 13. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, (1797): A 173 ff. (IV: 437 ff.).
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Praxisphilosophische Konkretisierungen der Sittlichkeit
tinuität der Praxis« zugrunde liege, die ein evolutionäres Fortschreiten zum Besseren garantiere. Daher spricht er sich ausdrücklich dagegen aus, der bestehenden »angestammten Ungleichheit« entschieden entgegenzuwirken und plädiert stattdessen dafür, sie so zu »behandeln«, dass sie von selbst »allmählich verschwinde«. Die Theorie bleibt bei Schleiermacher immer nur individuelle Bewusstmachung der Handlungspraxis, die dadurch den evolutionären Prozess der gesellschaftlichen Praxis zum Besseren voranbringen wird. 14
2.2. Marx’ kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis Über Ludwig Feuerbach vermittelt, der in gleicherweise Schüler von Schleiermacher und Hegel war und der gerade in seiner Hegel-Kritik der 1840er Jahre zu Schleiermachers Praxisverständnis zurückkehrt, 15 stellt auch Karl Marx die Philosophie in den Horizont der gesellschaftlich handelnden Menschen, nur dass Marx, anders als Schleiermacher und Feuerbach, auf den er sich ausdrücklich kritisch bezieht, gleichzeitig deutlich macht, dass an die gesellschaftliche Praxis in ihrer gegebenen Formbestimmtheit nicht einfach positiv angeknüpft werden kann, da diese gegenwärtig von strukturellen gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt ist, die das sittlich-soziale Handeln der Menschen grundlegend entfremden und negieren. (Marx/ Engels, 3: 17 ff.) Um eine solche Negation in der gesellschaftlichen Praxis und deren Überwindung durch eine Negation der Negation denken zu können, kann Marx nicht mehr – wie Schleiermacher oder Feuerbach – mit einer einfachen Aufklärung individualer Praxis operieren, sondern muss auf die prozessuale Dialektik von Hegel zurückgreifend, die er jedoch – nun auf die Subjektivität der gesellschaftlich handelnden Menschen rückbezogen – nicht mehr als eine Prozessualität des absoluten Geistes, sondern als eine menschheitspraktische und menschheitsgeschichtliche begreift. Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass sich die geschichtsmaterialistische Praxisphilosophie von
Friedrich Schleiermacher, Texte zur Pädagogik (1826), II, 146. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik (2008): 59 ff. 15 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841): 17 ff. Siehe auch Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843): 315. 14
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Ethik – ein Menschheitsprojekt
Marx zu Schleiermachers Praxisanalyse so verhält wie Platons politisch-sittliche Ideenlehre zu Aristoteles’ pragmatisch-ethischer Tugendlehre. Die kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx versteht sich entschieden als Teilstück praktischer Philosophie, und das bedeutet, dass sie – ganz im Sinne Schleiermachers – Aufklärung der Menschen über ihre gesellschaftlichen Lebensverhältnisse zur praktischen Orientierung ihres politischen Handelns zu sein versucht. Solche Aufklärung und Orientierung kann der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis nur gelingen, wenn sie sich selbst aus dem Horizont der handelnden Subjekte versteht, oder anders gesagt, wenn die Philosophie sich prinzipiell auf die praktische Selbstbestimmung der handelnden Subjekte bezogen weiß, zu denen das philosophierende Subjekt grundsätzlich mit hinzugehört, sodass also Philosophie und Handelnde eine Kommunikationsgemeinschaft menschlicher Selbstfindung in praktischer Absicht bilden. (Marx, 1: 384 f.) Die kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis versteht sich selbst als ein Teilmoment des großen sittlich-praktischen Projekts der Menschen, sich gemeinsam zu selbstbestimmter und solidarischer Praxis zu bilden und zu emanzipieren. 16 So tritt Marx mit seiner kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis entschieden das Erbe der bürgerlichen Emanzipationstheorien an, die sich seit dem Humanismus über die Aufklärung bis zum Idealismus schrittweise als Philosophie der menschlichen Freiheit und geschichtlichen Verantwortung entfaltet, aber Marx tritt andererseits zugleich kritisch den Ergebnissen entgegen, bei denen die bürgerlichen Emanzipationstheorien nach Eroberung der politischen Macht Halt gemacht haben. Er hält dagegen an der ursprünglich grundsätzlicher gemeinten Perspektive einer »menschlichen Emanzipation« (Marx, 1: 356, 370) fest; diese ist keineswegs schon mit der rechtlichen Gleichheit aller Bürger erfüllt, sondern hat auch die durch die gegenwärtige Dominanz der kapitalistischen Ökonomie hervorgebrachten sozialen Ungerechtigkeiten zu überwinden. Erst wenn diese strukturellen ökonomischen Hemmnisse überwunden sind, kann ein sittliches Zusammenleben der ganzen Gesellschaft schrittweise erfüllt werden.
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genesis und Kernstruktur der Marxschen Theorie (1981).
16
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Praxisphilosophische Konkretisierungen der Sittlichkeit
Anders als Schleiermacher meint, liegt die Subjektivität der geschichtlichen Entwicklung nicht schon in einer sittlichen Evolution der menschlichen Praxis begründet, die durch die Aufklärung der Individuen zur gelingenden Sittlichkeit gebracht zu werden vermag, sondern das den Geschichtsprozess Vorantreibende liegt in der gemeinsam vollzogenen gesellschaftlichen Produktion, Arbeit und Praxis aller Handelnden. Indem die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Produktion verändernd in die Welt eingreifen, verändern sie auch ihre Lebensverhältnisse und damit sich selbst. (Marx, 23: 192) Doch solang die in Gesellschaft produzierenden Menschen sich ihrer gesellschaftlichen Produktion nicht bewusst sind, bringen sie dabei Verhältnisse hervor, die zusehends als strukturelle Gewalten ihren Lebensprozess fremdbestimmen und die sie als »gottgewollte Naturgegebenheit« und als systemnotwendige Sachgesetzlichkeit hinzunehmen bereit sind. (Marx, 42: 127) Daher reicht auch eine Aufklärung der handelnden Individuen über die Sittlichkeit ihres sozialen Handelns – wie es Schleiermacher und auch Feuerbach vorschwebt – nicht aus, denn die geschichtlich hervorgetretene Entfremdung bzw. Verkehrung liegt primär nicht im individuellen Handeln, sondern in den sich im Laufe der Geschichte ausgeformten Gesellschaftsverhältnissen, die die Individuen mehr und mehr der Abhängigkeit scheinbar notwendiger Systemzwänge ausliefern. (Marx, 3: 423 f.) Es kommt also darauf an, dass die Menschen und insbesondere die sozial Benachteiligten sich dessen bewusst werden, dass die Gesellschaftsverhältnisse in ihrer sozialen Ungleichheit von der gesellschaftlichen Produktion – wenn auch unbewusst – hervorgebracht sind und daher auch durch ihre bewusste solidarische Praxis überwunden werden können und – um ihrer Existenz willen – auch überwunden werden müssen. Damit hat die gegenwärtige Epoche »den existierenden Individuen eine ganz bestimmte Aufgabe gestellt. Sie hat ihnen die Aufgabe gestellt, an die Stelle der Herrschaft der Verhältnisse […] über die Individuen die Herrschaft der Individuen über […] die Verhältnisse zu setzen.« (Marx, 3: 424) »Es ist also jetzt so weit gekommen, daß die Individuen sich die vorhandene Totalität von Produktivkräften aneignen müssen, nicht nur um zu ihrer Selbstbetätigung zu kommen, sondern schon überhaupt um ihre Existenz sicherzustellen.« (Marx/Engels, 3: 67 f.) Es ist wohl leicht einzusehen, dass entfremdete und verkehrte gesellschaftliche Verhältnisse nicht durch das Handeln einzelner In267 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Ethik – ein Menschheitsprojekt
dividuen durchbrochen und verändert werden können, sondern hierzu bedarf es einer machtvollen Assoziation freier und solidarischer Individuen, die Marx Kommunismus nennt: »Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, dass er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft.« (Marx, 3: 70) (Marx, 13: 9) Marx hat keine bestimmte Gesellschaftsformation als Ziel der Menschheitsgeschichte vorgezeichnet oder gar diese ausgemalt, sondern er hat vielmehr in praxisphilosophischer Absicht die geschichtliche Dialektik herausgearbeitet, dass die Menschen die in ihrer gesellschaftlichen Produktion immer schon der Substanz nach die Subjekte der Geschichte sind, sich aus der Fremdbestimmung der selbst hervorgebrachten Gesellschaftsverhältnisse befreien müssen, um gemeinsam zu sittlich bewussten und verantwortlichen Subjekten ihrer gesellschaftlichen Geschichte werden zu können. So ist das Ziel der revolutionären Umwälzung die über die Begrenzungen der bürgerlich-politischen Emanzipation hinausreichende »menschliche Emanzipation«, die Errichtung einer solidarischen Gemeinschaft freier Individuen in einer menschlichen und menschheitlichen Gesellschaft. (Marx, 3: 7)
Schlussbemerkung Ethik ist keine theoretische Disziplin, die dem Handeln aufzeigen oder vorschreiben kann, wie er in einer konkreten Situation sich zu entscheiden habe, sondern sie ist eine praktische Disziplin, die den Handelnden immer nur über die sittlichen Ansprüche aufklären kann, die eine konkrete Situation ihm abverlangt und die sittlichen Aufgegebenheiten zu benennen vermag, an denen er sein Handeln orientieren kann. In dieser Hinsicht vergleicht schon Platon den Sittenlehrer mit einem »Wegweiser«, der den Weg nicht vermessen muss, um den Wegsuchenden die richtige Richtung zu weisen. (Platon, Menon: 97a-b) Die von Sokrates und Platon aufgewiesenen beiden bestimmenden Instanzen des Gewissens und der Idee des Guten unterliegen, so sehr sie nirgends anders als in uns auffindbar sind, doch nicht unserer 268 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Schlussbemerkung
willkürlichen Verfügbarkeit – wie Sokrates am Daimonion ausführt, der Stimme, die ihn immer nur warnt etwas nicht zu tun (Platon, Apologie des Sokrates: 31c-32a) und Platon am Sonnengleichnis verdeutlicht (Platon, Politeia: 506b-509b). Beide Instanzen gründen in der praktischen Vernunft, in die jeder Mensch sowohl als Individuum als auch als Glied der Menschheit gestellt ist, so bedingen und bestimmen sich beide Instanzen wechselweise aufeinander (Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten: A 77 ff.), wobei schon Kant darauf hinweist, dass dies nur in geschichtlicher Praxis erfolgen kann. Konkretisiert und differenziert können beide Instanzen nur durch die kommunikative Praxis der Menschen werden und dies vollzieht sich in einem doppelten geschichtlichen Prozess: dem Ineinander sittlicher Bildungsprozesse der Individuen und sittlicher Selbstbestimmungsprozesse der Kulturen. Weder ist der Bildungsprozess bloß ein Einfügen des Heranwachsenden in eine schon bestehende kulturelle Sittlichkeit, noch ist der kulturelle Selbstbestimmungsprozess ein willkürliches Festlegen von sittlichen Regeln und Normen. Vielmehr können die hier in Frage stehenden geschichtlichen Prozesse als pädagogische und politische Entbergungen der praktischen Vernunft in den Individuen (Platons Anamnesislehre) und in den kulturellen Gemeinschaften verstanden werden (Platon, Politikos). Beide Prozesse sind niemals abschließbar, sowohl individuell als auch menschheitsgeschichtlich sind wir immer auf dem Wege sittlicher Selbstfindung. Daraus erwächst aber keine Relativierung sittlicher Ansprüche und Orientierungen, denn sie besitzen als Entbergungen der praktischen Vernunft sowohl als Gewissensstimme als auch als Sittengesetz für uns unumstößliche Gewissheit (Kants kategorischer Imperativ). Diese unumstößliche Gewissheit des Sittlichen kann in Konfrontation mit neuen Erfahrungen der Güte oder gegen Erfahrungen der Barbarei zu immer höheren Gewissenshorizonten bzw. konkreteren regulative Ideen der Sittlichkeit führen – so schreitet die Sittlichkeit menschheitsgeschichtlich voran. Schleiermachers an Platon und Aristoteles geschulte dialektische Heuristik bleibt bis heute unübertroffen, wenn es um die Klärung sittlicher Ansprüche geht, die unmittelbar in einer Praxissituation liegen, aber sie versagen überall dort, wo wir einer entfremdeten, entstellten gesellschaftlichen Praxis konfrontiert sind. Sie vermag wunderbar, die sittlichen Horizonte einer in sich gefestigten Praxis aufzuklären. So ist Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung sicherlich 269 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Ethik – ein Menschheitsprojekt
auch heute noch eines der grundlegendsten Hinführungen zu den Anspruchshorizonten pädagogischer Praxis. Aber die dialektische Heuristik reicht dort nicht mehr hin, wo wir grundsätzlich mit verkehrten Verhältnissen konfrontiert sind, deren Zentrum in der wertbestimmten Ökonomie liegen, die mehr und mehr unsere gesamte gesellschaftliche Praxis zu entfremden und unsere natürliche Lebensgrundlage zu ruinieren drohen. Der Aufdeckung dieser entfremdeten und verkehrten gesellschaftlichen Verhältnisse und der Aufklärung der durch sie unterdrückten und ausgebeuteten Menschen widmet sich die marxsche Dialektik, die sich nicht mehr nur auf die Aufklärung des sittlichen Handelns der Individuen, sondern auf die bisher weitgehend naturwüchsigen Entwicklungsprozesse gesellschaftlicher Praxis bezieht. In seinem unabgeschlossenen Mammutwerk der Kritik der politischen Ökonomie (1858–1873) konzentriert sich Marx auf die Praxisanalyse einer verkehrten Welt, in der die Menschen mehr und mehr von ökonomischen Sachzwängen bestimmt werden, anstatt ihre gesellschaftliche Praxis nach ihren mitmenschlichen Bedürfnissen zu bestimmen. Aber das Ziel seiner Analyse ist nicht die Feststellung der Verkehrung, sondern die bloßstellende Aufklärung, um so die Möglichkeiten ihrer Überwindung sichtbar zu machen. Eine Aufgabe, die nicht die Individuen für sich zu lösen vermögen, sondern nur durch eine solidarische Bewegung der Menschen für eine sozial-gerechtere Menschheitsgesellschaft erfochten werden kann. Die kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis von Marx versteht sich aus dem Projekt sittlichen Menschseins, das grundsätzlich bezogen ist auf den möglichen Erfüllungshorizont von Menschlichkeit. Auf diesen hin versucht sie, die handelnden Subjekte über ihre menschheitliche Lage und die diesem Projekt entgegenstehenden Mächte aufzuklären, um sie dadurch zu verantwortlichem geschichtlichem Handeln aufzufordern. Dieses Projekt konkreter Utopie verfolgten Platon wie Marx, wir haben es fortzuführen. Ob dieses Projekt gelingen wird, dafür gibt es keine Gewissheit 17, ja wir können sogar sagen, dass es heute ungewisser denn je scheint, dass die Menschen mit den selbst erzeugten menschheitsbedrohenden Problemen menschlich fertig zu werden vermögen. Aber da dieses Projekt
Henri Lefebvre, Metaphilosophie (1965): 345 f. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung (1999): 11 ff.
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Schlussbemerkung
menschlichen Menschseins menschenmöglich ist und da von ihm sogar der Fortbestand der Menschheit abhängt, ist der sittliche Einsatz dafür der kategorische Imperativ einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis.
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Anhang Ein Wissenschaftsstreit zwischen Gleichgesinnten
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12. Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts Gedanken zu Forster, Herder und Kant 1
1.
Philosophiegeschichtliches
Um in das Thema einzuführen und die drei Kontrahenten zu skizzieren, möchte ich zunächst vier Momentaufnahmen voranstellen, die in ihren Vorstellungen frei imaginiert sind – so oder so ähnlich oder auch ganz anders mag es gewesen sein.
1.1. Wir schreiben das Jahr 1764 In einer Wohnstube drängen sich Studierende um Immanuel Kant, den 40-jährigen Privatdozenten der Philosophie an der Universität Königsberg. In seinen Pflichtvorlesungen referiert er über Logik, Metaphysik und Pädagogik jeweils an Hand vorgeschriebener Lehrbücher, aber da er vom Hörergeld leben muss, trägt er auch immer wieder in selbst zusammengestelltem Vortrag über physische Geographie und Anthropologie vor. Zu diesen Vorlesungen drängen sich Studierende aller Fakultäten, auch einige hierfür freigestellte Offiziere nehmen daran teil. Sicherlich sind an die 20 Hörer in Kants Wohnstube zusammengekommen. Unter ihnen ist auch der 20-jährige Johann Gottfried Herder, der seit zwei Jahren zu einem der eifrigsten Hörer Kants gehört. Nun war Herder gekommen, um sich von Kant zu verabschieden, da er eine Lehrerstelle an der Domschule zu Riga erhalten und angenommen hatte. Nichts – von den Gesprächen mit Johann Georg Hamann 2 abIn Auszügen vorgetragen auf dem Internationalen Forster-Kongress 1993 in Kassel – im Vorlauf zu Georg Forsters 200. Todesjahr –, erschienen unter dem Titel »Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts«, in: Claus-Volker Klenke/Jörn Garber/Dieter Heintze (Hg.), Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Beiträge zum Internationalen Georg-Forster-Symposion in Kassel (1993), Berlin (Akademie Verlag) 1994: 115 ff. 2 Johann Georg Hamann, Schriften zur Sprache (1967). 1
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Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts
gesehen, dessen gedankliche und sprachliche Kraft einen aufzurütteln vermochte – hatte Herder in seinen Studienjahren so sehr bewegt wie Kants Vorlesung über physische Geographie und Anthropologie. Es war beeindruckend, wie materialreich Kant, der nie aus Ostpreußen, ja Königsberg herausgekommen war, von der Entstehungsgeschichte der Sonnensysteme, über die Entstehung der Erde, von fremden Ländern, ihren Gebirgen und Wüsten, von Fauna und Flora und den Völkern aller Erdteile zu berichten vermochte. Kant hatte alle nur greifbare Literatur, Abhandlungen und Reisebeschreibungen, gründlich studiert. Aber was Herder am meisten faszinierte, war die Art, wie Kant die Lücken des Wissens benannte, offene Fragen aufwarf, Quellenkritik betrieb und Forschungsaufgaben sichtbar machte. Hier reifte Herders Plan, dereinst selbst mit seiner wissenschaftlichen Arbeit die Forschungslücken ein stückweit schließen zu helfen. Allerdings beabsichtigte er, seine Studien doch nicht ganz so trocken darzulegen, wie sie Kant vortrug, vielmehr sollten sie mehr von der begeisternden Gewalt der Schriften Johann Georg Hamanns haben. Im selben Jahr erhält der 30-jährige Prediger Johann Reinhold Forster in Nassenhuben bei Danzig von der Zarin Katharina II. den heiß ersehnten Forschungsauftrag, die sozialpolitischen, kulturellen und ökologischen Probleme zu erforschen, die sich der Ansiedlung deutscher Bauernfamilien im Wolgagebiet in den Weg zu stellen beginnen. Er erbittet sich die Erlaubnis, seinen ältesten zehnjährigen Sohn Georg als Forschungsassistenten mitnehmen zu dürfen. Im Frühjahr 1765 brechen sie mit der Kutsche von St. Petersburg auf, um über Moskau ins Wolgagebiet vorzudringen. Auf dieser Reise haben Vater und Sohn Forster ihre Kutsche in eine kleine Studierstube verwandelt. Sie pauken nicht nur die russische Sprache, sondern versuchen, sich über Land und Leute der Gebiete kundig zu machen, die sie erforschen sollen.
1.2. Etwa 10 Jahre später Der schaumburg-lippesche Konsistorialrat Johann Gottfried Herder in Bückeburg hat 1774 im Alter von 30 Jahren sein Buch Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit herausgebracht. Es ist noch nicht das große Werk, das er sich in Kants Vorlesung zu schreiben vorgenommen hat, aber doch so etwas wie die enthusiastische Einleitung dazu. Manche nennen ihn daher den 276 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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Rousseau der deutschen Lande. Es ist das erste deutschsprachige Werk, in dem die Dialektik der Aufklärung angesprochen wird. Es gilt, den Aufklärern, Hume und Voltaire und wie sie alle heißen, zu zeigen, dass Aufklärung die Menschheit keineswegs nur zum Besseren vorantreibt, es gilt, bewusst zu machen, welche Zerstörung die Aufklärung zugleich bewirkt und hervorruft: »Die ganze Erde leuchtet beinahe schon von Voltaires Klarheit! Und wie scheint dies immer fortzugehen! Wo kommen nicht europäische Kolonien hin, und werden hinkommen! Überall werden die Wilden, je mehr sie unsern Branntwein und Üppigkeit liebgewinnen, auch unsrer Bekehrung reif! Nähern sich, zumal durch Branntwein und Üppigkeit, überall unsrer Kultur – werden bald, hilf Gott! alle Menschen wie wir sein! gute, starke, glückliche Menschen! Handel und Papsttum, wie viel habt ihr schon zu diesem großen Geschäfte beigetragen! Spanier, Jesuiten und Holländer. ihr menschenfreundlichen, uneigennützigen, edlen und tugendhaften Nationen! wie viel hat euch in allen Weltteilen die Bildung der Menschheit nicht schon zu danken? […] Wahrlich ein großes Jahrhundert als Mittel und Zweck […] gewissermaßen alle Völker und Weltteile unter unserem Schatten, und wenn ein Sturm zwei kleine Zweige in Europa schüttelt, wie bebt und blutet die ganze Welt!« 3 In Königsberg sitzt der Professor der Philosophie Immanuel Kant im Arbeitszimmer seines inzwischen erworbenen Hauses und blättert in Herders Buch Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Treffliche Gedanken, die sein ehemaliger Schüler Herder da formuliert, mit dessen Grundanliegen er sehr wohl sympathisiert, aber leider kann Herder – schlimmer noch als Rousseau – keine seiner Thesen argumentativ klar ausdiskutieren. Schade, Freund Hamann hat dem jungen Herder doch mehr den Kopf verdreht als er, Kant, Klarheit in seine Gedanken bringen konnte. Am Schlimmsten ist, dass Herder ununterbrochen die Diskussionsebenen wechselt. Da geht es um das wissenschaftliche Problem der Entstehung des Menschengeschlechts, und plötzlich verfällt Herder in die gleichnishafte Sprache der Religion und berichtet bruchlos weiter von Gott, Adam und Eva, als wäre er im Paradiese vor der Austreibung leibhaftig mit anwesend gewesen. Und wiederum dort, wo Herder – sehr lobenswert – die Humanität als Ziel der Menschheitsgeschichte Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1967): 88 f.
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benennt, da spricht er – und dies keineswegs metaphorisch – darüber, als würde er über Naturereignisse berichten. Überhaupt nimmt es Herder mit der Erfahrung und der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht so genau; von Fakten wechselt er mit großer Einbildungskraft zu Spekulationen hinüber, und Gefühle ersetzen die strenge Beweisführung. Würde er, Kant, nicht am Werk seines Lebens sitzen, dann müsste er jetzt eine Erwiderung auf Herders Buch schreiben, in der das grundsätzliche Verhältnis von Natur und Geschichte am gegebenen Erfahrungsmaterial theoretisch ausdiskutiert werden sollte. Aber erst gilt es, die Kritik der reinen Vernunft zustande zu bringen. Nur eine kleine Kostprobe genauer wissenschaftlicher Argumentation Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) zur physischen Geographie und Anthropologie werde er jetzt schon als Einladung zu seinen Vorlesungen vorlegen. Zur gleichen Zeit als Kant dies grübelt, kommt in London die »Resolution« unter Kapitän James Cook nach dreijährigem Forschungsaufenthalt in der Südsee zurück. Aber im Mittelpunkt der Sensationspresse stehen schnell die Chronisten der Expedition, Vater und Sohn Forster. Kant erfährt davon schon sehr bald von seinem Freund Hamann, der ihm regelmäßig aus der Londoner Presse berichtet. Noch nie sind so viele Materialien – Pflanzen und kulturelle Gegenstände, Zeichnungen von verschiedenen Tieren und unterschiedlichen Völkerschaften – von einer Expedition mitgebracht worden. Aber noch sensationeller ist der Reisebericht Reise um die Welt, den der junge Georg Forster anderthalb Jahre später veröffentlicht. Fußend auf eigenen Aufzeichnungen und denen seines Vaters, legt er einen anschaulich und spannend geschriebenen Bericht ihrer Forschungen vor, der in der Differenziertheit der Beobachtungen und in der systematischen Gründlichkeit der Beschreibung alles Bisherige übertrifft. Mit einem Schlage wird Georg Forster in ganz Europa berühmt. Was aber die Gemüter am meisten erregt, ist, dass der 22jährige Georg Forster nicht etwa frei spekulierend, sondern erfahrungsgesättigt aus der Kenntnis von Sozialstruktur und Lebenspraxis verschiedener Südseevölker im Geiste Rousseaus und Herders, deren Schriften er natürlich kennt, dem sich so zivilisiert und gesittet dünkenden Europa einen schonungslos kritischen Spiegel vorhält: »Es ist Unglücks genug, daß alle unsre Entdeckungen so viel unschuldigen Menschen haben das Leben kosten müssen. So hart das für die kleinen, ungesitteten Völkerschaften seyn mag, welche von Europäern aufgesucht worden sind, so ists doch warlich nur eine 278 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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Kleinigkeit im Vergleich mit dem unersetzlichen Schaden, den ihnen diese durch den Umsturz ihrer sittlichen Grundsätze zugefügt haben. Wäre dies Übel gewissermaßen dadurch wieder gut gemacht, daß man sie wahrhaft nützliche Dinge gelehret oder irgend eine unmoralische und verderbliche Gewohnheit unter ihnen ausgerottet hätte; so könnten wir uns wenigstens mit dem Gedanken trösten, daß sie auf einer Seite wieder gewonnen hätten, was sie auf der andern verlohren haben mögten. So aber besorge ich leyder, daß unsre Bekantschaft den Einwohnern der Süd-See durchaus nachtheilig gewesen ist; und ich bin der Meinung, daß gerade diejenigen Völkerschaften am besten weggekommen sind, die sich immer von uns entfernt gehalten und aus Besorgniß und Mistrauen unserm Seevolk nie erlaubt haben, zu bekannt und zu vertraut mit ihnen zu werden.« (Forster, I: 207 f.)
1.3. Erneut 10 Jahre später 1784 erscheinen fast gleichzeitig die kleine, jedoch grundlegende geschichtsphilosophische Schrift von Kant Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht sowie der erste Band des vierteiligen Mammutwerkes von Herder Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Mit Staunen werden diese beiden Arbeiten vom wissenschaftlichen und gebildeten Publikum aufgenommen, und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen: Was war plötzlich in Kant gefahren, der drei Jahre vorher mit seiner gewaltigen Kritik der reinen Vernunft eine Revolutionierung der Philosophie eingeläutet hatte; und nun diese fast durchweg in metaphorischer Sprache gehaltene Spekulation über die Geschichte des Menschengeschlechts, wie etwa im dritten Satz: »Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe […]« oder der vierte Satz: »Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft [–, der] Antagonism [der] ungeselligen Geselligkeit«. (Kant, VI: 36 f.) »Die Natur hat gewollt« – das kann doch nicht der kritische Philosoph geschrieben haben; hat er da womöglich etwas aus der Schublade seiner vorkritischen Zeit ausgekramt oder versucht er gar, seinem Schüler Herder von 1774 nachzueifern? Ganz anders setzt Herder, der Generalsuperintendent von Wei279 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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mar, die wissenschaftliche Welt in Erstaunen. Die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit sind ein gewaltiger Wurf, in dem Herder beginnend mit der Entstehung des Kosmos, über die Erdgeschichte und das Werden des Lebens schließlich zu einer umfassenden Völkergeschichte von den Uranfängen an bis zum abendländischen Europa vordringt. In diesem Werk trägt Herder alles nur greifbare Erfahrungsmaterial zu einer umfassenden Theorie des Werdens von Natur und Menschheit zusammen. Dabei übergeht Herder keineswegs methodologisch unreflektiert die entscheidenden qualitativen Sprünge. Ausführlich diskutiert er beispielsweise, wie der aufrechte Gang des Menschen nicht nur die Greiforgane für völlig neue Aufgaben freisetzt, sondern auch eine Erweiterung und Umstrukturierung des Gehirns ermöglicht, die eine Voraussetzung für Spracherwerb und damit für die Gesellschaftlichkeit des Menschengeschlechts ist. Mit Sprache und Gesellschaftlichkeit wandelt sich nun aber auch der weitere Bildungsprozess: Aus dem natürlichen Werdeprozess wird nun der geschichtliche Gestaltungsprozess gesellschaftlicher Praxis. Der 30-jährige Georg Forster, der inzwischen fast sechs Jahre als Professor für Naturkunde in Kassel gelehrt hatte, folgt im gleichen Jahr einem Ruf auf eine Professur an die Universität Wilna. Ein Jahr später (1785) besuchte er Herder in Weimar, mit dem er bereits über Goethe vermittelt aus der Kasseler Zeit in brieflichem Gedankenaustausch steht. Bei dieser Begegnung in Weimar – auch Goethe und Wieland sind zugegen – gibt Herder, als sie auf die Ideen zu sprechen kommen, zu verstehen, wie tief ihn der ungerechtfertigte Verriss seines Werkes aus der Feder seines ehemaligen Lehrers Kant getroffen habe. Mit den Ideen habe er doch gerade das weiterführen wollen, was er einst in Kants Vorlesungen begonnen sah. Darauf geht Kant in seiner Rezension mit keinem Wort ein, sondern pickt nur einige Stellen heraus, die zugegebenermaßen vielleicht etwas zu spekulativ geraten waren, aber die doch nicht den Kern der gemeinsamen Sache ausmachen. – Man ist sich einig, dass Kant hier weit das Maß überschritten habe. Georg Forster nimmt sich vor, bei nächster Gelegenheit Kant eine kräftige Antwort zuteilwerden zu lassen. Viele haben diese Kritik Kants gegen Herder als überzogen und perfide abgelehnt. Karl Leonard Reinhold schreibt gleich eine Gegenkritik. Die schärfste Antwort erhält Kant jedoch ein Jahr später von Georg Forster. In das kalte, dunkle gottverlassene Wilna zurückgekehrt, hat er sowieso genug Wut im Bauch – wie sehnt er sich doch 280 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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in die lieblichen Gefilde Kassels zurück –, sodass ihm der Zwist Herders mit Kant gerade gelegen kommt. Forster geht nicht auf die Rezensionen zu Herders Ideen ein, sondern knöpft sich zwei gerade erschienene Abhandlungen von Kant vor: Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse, eine wissenschaftliche Begriffsklärung, sowie Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, eine entmythologisierende Ausdeutung der Genesis, in der Kant offensichtlich gegen Herders frühere Arbeit Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit gerichtet seine eigene Auffassung der natürlichen und geschichtlichen Bestimmung des Menschseins darlegt. Georg Forsters Arbeit Noch etwas über die Menschenraßen (1786) ist als Brief an einen Dritten konzipiert, um dadurch lockerer, aber auch härter gegen Kant losschlagen zu können. Er beginnt mit einer schmeichelnden Huldigung gegenüber dem berühmten Weltweisen, um dann mit allerlei Erfahrungsmaterial Kants Theoriegebäude ins Wanken zu bringen und schließlich Kant als moralisierenden Prinzipienreiter bloßzustellen: »Nein, mein Freund, wenn Moralisten von einem falschen Begriffe ausgehen, so ist es wahrlich ihre eigne Schuld, wenn ihr Gebäude wankt, und wie ein Kartenhaus zerfällt.« (Forster, II: 99) Anderthalb Jahre später antwortet Kant mit der Abhandlung Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788) in überaus freundlichem, ja väterlichem Ton, allerdings mit erneuten Seitenhieben gegen Herder, den er zwar namentlich nicht erwähnt, der aber doch deutlich in jenem zu erkennen ist, vor dem er Forster nachdrücklich warnt.
1.4. Wiederum 10 Jahre später Herder sitzt an der Ausarbeitung seiner mehrbändigen Briefe zur Beförderung der Humanität – ein Werk, das ihm gründlich missrät. Währenddessen erscheinen nacheinander Kants gewichtige geschichtsphilosophische Abhandlungen, die allererst diesen Namen verdienen. Erst mit der Kritik der Urteilskraft (1790) hat sich Kant das theoretische Rüstzeug geschaffen, um jenseits von Begriffserklärung und metaphorischer Rede über die Geschichte der Menschheit streng philosophisch und doch inhaltlich differenziert argumentieren zu können. In Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), im zweiten Stück vom Der Streit der Fakultäten (ge281 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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schrieben 1794) und Zum ewigen Frieden (1795) erklimmt Kant überhaupt erst die Höhe einer auf der kritischen Philosophie basierenden Geschichtsphilosophie. Es grämt Herder, dass Kant nun so grundsätzliche Würfe gelingen, während seine Briefe sich so lustlos dahinziehen. Sein Mitstreiter von einst, Georg Forster, ist 1794 im Alter von 39 Jahren gestorben. Er war ein genialer und feuriger Kopf, aber immer hat er irgendwie auch über sein Ziel hinausgeschossen. Beispielsweise mit seiner Kant-Kritik, die so schön begann und in manchen Ausbrüchen an seine, Herders, frühe Arbeit Auch eine Philosophie der Geschichte erinnerte, aber sich dann in die blödsinnige Behauptung der zwei Menschenarten, der Weißen und der Neger, verstieg; dadurch hat er alles verdorben und auch ihn, Herder, in üble Verlegenheit gebracht. Später hat Forster dann in Mainz als Revolutionär so aufrecht und mutig seine Stimme erhoben; aber sein Aufruf zum Anschluss von Mainz an die Französische Republik war jedoch wieder ein Salto mortale, den ihm die Deutschen nicht verzeihen werden. So ist er nun in Paris mitten in der sich selbst fressenden Revolution einsam und verlassen zugrunde gegangen. So einfach, wie Forster sich das vorstellte, kann man eben mit einem Kant nicht fertig werden. Aber er, Herder, kann auch nicht auf sich sitzen lassen, was Kant ihm angetan hat. Man darf Kant jedoch nicht mit einzelnen Erfahrungen oder großen Hoffnungen kommen, es gilt – um etwas gegen den Alten von Königsberg auszurichten –, ihn an der Wurzel seiner kritischen Philosophie zu fassen. Sobald er diese schrecklichen Briefe zur Beförderung der Humanität hinter sich gebracht habe, wolle er sich gestützt auf die genialen Entwürfe seines verstorbenen Freundes Johann Georg Hamann an eine grundsätzliche Kant-Kritik machen. Herders Verstand und Erfahrung, Vernunft und Sprache. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft erschien 1799 – es ist sein philosophisch tiefsinnigstes Werk. Aber auch Herder hat sich an Kant überhoben.
2.
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Zunächst gilt es vorauszuschicken, dass von uns heute aus gesehen, alle drei Denker gar nicht so weit auseinanderliegen, wie es aus ihren Streitschriften hervorzugehen scheint. Sie alle sind Aufklärer und 282 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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Humanisten zugleich. Bei allen dreien geht es in der Frage nach der theoretischen Bestimmung der Stellung des Menschen im Kosmos im letzten immer auch um die praktische Bestimmung verantwortlichen Menschseins in der Geschichte. Alle drei lehnen daher eine äußerliche Fortschrittsgläubigkeit ab und insistieren darauf, dass Aufklärung eine immer wieder neu zu leistende Aufgabe ist, um Humanität unter den Menschen zu befördern. Sittliches Menschsein fällt uns nicht zu, sondern muss von uns erkämpft werden. Daher sympathisieren alle drei – wenn auch unterschiedlich entschieden und offen – mit der Französischen Revolution. Um in den eigentlichen Streitpunkt einzuführen, möchte ich mit einem der dramatischsten Sätze aus Georg Forsters Kant-Kritik Noch etwas über die Menschenraßen (1786) beginnen: »Doch indem wir die Neger als einen ursprünglich verschiedenen Stamm vom weissen Menschen trennen, zerschneiden wir nicht da den letzten Faden, durch welchen dieses gemishandelte Volk mit uns zusammenhieng, und vor europäischer Grausamkeit noch einigen Schutz und einige Gnade fand? Lassen sie mich lieber fragen, ob der Gedanke, daß Schwarze unsere Brüder sind, schon irgendwo ein einzigesmal die aufgehobene Peitsche des Sklaventreibers sinken hieß? Peinigte er nicht, in völliger Überzeugung, daß sie seines Blutes wären, die armen duldsamen Geschöpfe mit Henkerswuth und teuflischer Freude? Menschen einerley Stammes, die der unerkannten Wohlthat einer gereinigten Sittenlehre theilhaftig waren, bezeigten sich ja darum nicht duldsamer und liebreicher gegeneinander. Wo ist das Band, wie stark es auch sey, das entartete Europäer hindern kann, über ihre weissen Mitmenschen eben so despotisch wie über Neger zu herrschen?« (Forster, II: 99) Ergreifende und treffende Worte. Wer würde nicht die sittliche Haltung, die hinter diesen rhetorischen Fragen steht, voll unterstützen wollen? Aber wir verharmlosen die Position Forsters in Bezug auf das Problem um die Einheit des Menschengeschlechts, wenn wir nur diese Worte aus Forsters Kant-Kritik zitieren und nicht auch eine vorhergehende Stelle, die uns zutiefst erschrecken muss, aber aus der die rhetorischen Fragen überhaupt erst verständlich werden. In Berufung auf die anatomischen Forschungen des Mediziners Soemmerring, seines Intim-Freundes aus Kasseler Tagen, schreibt Forster: »In der wichtigen Schrift dieses vortrefflichen Mannes werden Sie nicht nur finden, daß die Farbe unter die minder wesentlichen Eigenschaften gehöre, woran man Neger von Europäern unterscheidet; sondern 283 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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was das merkwürdigste ist, daß der Neger sichtbarlich so wohl in Rücksicht äusserer als innerer Gestaltung weit mehr übereinstimmendes mit dem Affengeschlecht habe, als der Weisse. Schon der Augenschein giebt gewissermaßen dieses Resultat; allein hier wird es mit physiologischen und anatomischen Gründen erwiesen. Ich bin indessen weit entfernt, nunmehr mit Herrn Fabricius zu vermuthen, daß irgend ein Affe an der Bildung des Negers Antheil gehabt haben könne. Vielmehr bestätigt sich immermehr, auch durch dieses Faktum, der fruchtbare Gedanke, daß alles in der Schöpfung durch Nüancen zusammenhängt […]. Der affenähnlichste Neger ist dem weissen Menschen so nahe verwandt, daß bey der Vermischung beyder Stämme, die auszeichnenden Eigenschaften eines jeden sich im Blendling in einander verweben und verschmelzen. Die Abweichung ist sehr gering; die beyden Menschen, der schwarze und der weisse, stehen ganz nahe neben einander; und anders konnte es nicht wohl seyn, wenn Menschheit nicht in Affennatur übergehen, der Neger nicht, anstatt ein Mensch zu bleiben, ein Affe werden sollte. Denn auch die beyden Thiergeschlechter, (genera) der Mensch und der Affe, gränzen in der Reihe der Erdenwesen unglaublich nahe aneinander; näher als viele andere Thiergeschlechter miteinander verwandt sind. Gleichwohl bemerken wir einen deutlichen Zwischenraum oder Abstand zwischen diesen beyden physischen Geschlechtern; jenes schließt sich mit dem Neger, so wie dieses mit dem Orang-Utang anhebt. Ein affenähnlicher Mensch ist also kein Affe.« (Forster, II: 85 f.) Um seinem älteren Freund Herder gegen die an ganz anderen Problemen entzündeten Angriffe Kants zur Seite zu springen, attackiert Forster den Rasse-Begriff Kants, schießt dabei aber weit über sein Ziel hinaus, denn in diesem Punkt ist Herder wie Kant der Überzeugung, dass – trotz aller Rassenunterschiede – es nur einen einzigen Ursprung des Menschengeschlechts geben könne, und dass sich daraus auch der eine Anspruch der Humanität und des Sittengesetzes für alle, die menschliches Antlitz tragen, ergebe. Demgegenüber vertritt Forster – hierin erstaunlicherweise an Voltaire anknüpfend – die These, dass es zwei durchaus autochthone Menschenarten, die Weißen und die Schwarzen, geben könnte. Ausdrücklich betont zwar Forster, dass er keineswegs wissenschaftlich beweisen könne, dass es zwei Menschenarten gibt, denn unsere Erfahrungen reichen nicht so weit zurück, werden wohl auch niemals bis in dies Dunkel der Vorzeit zurückreichen; sodass die eine oder die 284 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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andere Behauptung notwendig Hypothese bleiben muss. Auch gesteht Forster ausdrücklich ein, dass ihn der ketzerische Gehalt der voltaireschen Hypothese der zwei Menschenarten besonders reize, denn die biblische Geschichte von dem einen Menschenpaar habe ihn noch nie überzeugen können und ebenso wenig die säkularisierte Form, in der Kant vom ersten Menschenpaar spreche. Für diesen Hang zur Ketzerei habe ich durchaus Verständnis, aber insgesamt hat Georg Forster mit seiner These von den zwei Menschenarten in zweifacher Hinsicht unrecht: erstens vermag er die Ursprungsfrage nicht zu Ende zu denken und zweitens wird er dem Anspruch der Begründung menschlicher Sittlichkeit nicht gerecht. Ich möchte zunächst die Problemlage zur Ursprungsfrage etwas näher differenzieren. Ende des 18. Jahrhunderts befindet sich die gesamte Naturwissenschaft, insbesondere aber die Biologie (die noch nicht so heißt) in einer Umbruchsituation. Es findet insgesamt eine Umorientierung von der beschreibenden, vergleichenden Naturkunde zur sich kausal-genetisch verstehenden Naturgeschichte statt, ein Begriff, der sich selbst in dieser Zeit verändert; denn die Bezeichnung »Naturgeschichte« wird bis in diese Zeit hinein im Sinne von Naturbeschreibung gebraucht, erst mit Kant erhält der Begriff »Naturgeschichte« den Sinn eines zeitlichen Werdens, wie er uns heute vertraut ist. Im Folgenden werde ich – um Verwirrungen zu vermeiden – die Begriffe »Naturgeschichte« und »naturgeschichtlich« ausschließlich im modernen evolutionstheoretischen Sinne verwenden. Sicherlich von Kant angeregt, der bereits in einer seiner ersten naturphilosophischen Arbeiten, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), einen naturgeschichtlichen Erklärungsversuch der Entstehungsgeschichte der Gestirnsysteme, der Galaxien und Planeten zu erbringen versucht, unternimmt es Herder – in dieser Radikalität wohl erstmalig – in seinen Ideen, den ganzen Kosmos geschichtlich zu deuten. Er ist hierin sicherlich ein Urahn der heutigen Selbstorganisationstheoretiker – natürlich mit allen Schwächen und spekulativen Überhöhungen, die ein solcher Erstentwurf in sich trägt. Naturphilosophisch hat diesen Gedanken erst ein Jahrzehnt später Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu Ende gedacht und auf die Höhe philosophischer Argumentation gehoben. 4 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), III: 1 ff.
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Während also bei Kant und Herder ein naturgeschichtlicher – oder sagen wir ein evolutionstheoretischer – Ansatz sich durchzusetzen beginnt, der bis heute unser Denken weiter bestimmt, so vertritt demgegenüber Georg Forster, obwohl der Jüngere, den älteren Theorietypus der beschreibenden, vergleichenden Naturkunde, der sicherlich zu jener Zeit noch der vorherrschende ist. 5 Diese Differenz spricht Forster expressis verbis in seiner Auseinandersetzung mit Kant an. Für Forster ist die naturgeschichtliche Frage der Entstehung noch völlig uninteressant; präziser: sie ist mit einem Tabu belegt, weil wir über die Vorzeit keine Erfahrungen haben und haben können. Das Einzige, was wir naturwissenschaftlich erforschen können, ist das unglaublich reiche und differenzierte Nebeneinander verschiedenster Naturgestaltungen: Pflanzen und Tiere, die unterschiedlich nah oder fern miteinander »verwandt« sind (genauer: ähnlich sind, denn im Begriff »verwandt« schwingt bereits eine genetische Vorstellung mit). So schreibt Georg Forster – die einzige Stelle übrigens, die Kant in seiner Replik kritisch aufspießt –: »Wer hat die kreißende Erde betrachtet in jenem entfernten und ganz in Unbegreiflichkeit verschleyerten Zeitpunkt, da Thiere und Pflanzen ihrem Schoße in vieler Myriaden Mannigfaltigkeit entsproßen, ohne Zeugung von ihres Gleichen, ohne Samengehäuse, ohne Gebärmutter? Wer hat die Zahl ihrer ursprünglichen Gattungen, ihrer Autochthonen, gezählt? Wer kann uns berichten, wie viele Einzelne von jeder Gestalt, in ganz verschiedenen Weltgegenden sich aus der gebärenden Mutter weichem, vom Meere befruchteten Schlamm organisirten? Wer ist so weise, der uns lehren könne, ob nur einmal, an einem Orte nur, oder zu ganz verschiedenen Zeiten, in ganz getrennten Welttheilen, so wie sie allmälig aus des Oceans Umarmung hervorgiengen, organische Kräfte sich regten?« (Forster, II: 87) Forster hat, weil ihn das genetische, naturgeschichtliche Denken noch fremd ist, gar keine Schwierigkeit, autochthon »entstandene« Menschenarten anzunehmen, die zwar miteinander »verwandt«, also ähnlich sind, da sie miteinander Blendlinge zeugen können, ohne die für Herder, Kant und uns sich sofort einstellende Frage aufwerfen zu müssen, wie denn die eine und andere Menschenart hat entstehen können, denn der Mythos von dem Werden aus dem Schlamm der Mutter-Erde befriedigt unser naturwissenschaftliches Forschen nicht Vgl. Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts (1978).
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mehr. Das geheimnisvolle Wort, das alle weitere Fragen abriegelt, heißt »autochthon« – übrigens nicht nur bei Forster, sondern in der damals herrschenden Naturkunde im Allgemeinen: autochthon entstanden gibt es nebeneinander verschiedene Menschenarten, verschiedene Affenarten und verschiedene Rinderarten: »Warum aber diese beyden Menschenarten, wenn sie ja zusammen kommen, ihr Geschlecht miteinander fortpflanzen können, ist mir nicht räthselhafter, als der Grund, weshalb unsere Rinder mit den Bisons in Amerika und Asien, und mit den indischen Buckelochsen einen Mittelschlag geben«. (Forster, II: 96) Kant argumentiert völlig anders, er fragt nach den begrifflichen Grundlagen, die uns erlauben, vom vorhandenen Erfahrungsmaterial aus in kausal-genetischen Ableitungen die Entstehungsgeschichte der Arten aufzuhellen. Gerade diesen Punkt erläutert Kant in seiner Replik Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788) und legt damit die theoretischen Grundlagen für jede künftige Naturgeschichte und Evolutionstheorie: »Allein nur den Zusammenhang gewisser jetziger Beschaffenheiten der Naturdinge mit ihren Ursachen in der ältern Zeit nach Wirkungsgesetzen, die wir nicht erdichten, sondern aus den Kräften der Natur, wie sie sich uns jetzt darbietet, ableiten, nur bloß so weit zurück verfolgen, als es die Analogie erlaubt, das wäre Naturgeschichte, und zwar eine solche, die nicht allein möglich, sondern auch, z. B. in den Erdtheorien […] von gründlichen Naturforschern häufig genug versucht worden ist«. (Kant, V: 142) Und spöttisch fügt Kant hinzu: »Auch gehört selbst des Herrn F. Mutmaßung, vom ersten Ursprunge des Negers, gewiß nicht zur Naturbeschreibung, sondern nur zur Naturgeschichte.« (Kant, V: 142) Man versteht Kants ursprüngliche Ausführungen zur Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785) völlig falsch, wenn man darin eine an Erfahrungsmaterial ausgeführte Theorie der Rassen erblicken würde, vielmehr geht es ihm ausschließlich um die Klärung des Begriffs der Rasse, der, dies anleitend, einer durchzuführenden Theorie der Rassen zugrunde gelegt werden muss. So sagt er bereits auf der ersten Seite seiner Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse: »Meine Absicht ist jetzt nur, diesen Begriff einer Rasse, wenn es deren in der Menschengattung gibt, genau zu bestimmen; die Erklärung des Ursprungs der wirklich vorhandenen, die man dieser Benennung fähig hält, ist nur Nebenwerk«. (Kant, VI: 65) Es ist hier der Ort, die differenten Erfahrungsbegriffe von Fors287 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
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ter und Kant anzusprechen. Forsters Erfahrungsbegriff ist der der beobachtenden und beschreibenden Naturkunde und Völkerkunde, er schließt sich sowohl Buffons Beobachten des Verhaltens der Tiere in ihrem Lebensraum an 6 als auch dem Er-fahren der Ethnographie: hinreisen und mit eigenen Augen sehen. Dem Erfahrungsbegriff korrespondierend kennt Forster als theoretische Begriffsarbeit nur das abstrahierende Systematisieren im Sinne Linnés, deren Resultate letztlich immer nominalistische Ordnungsschemata bleiben. 7 Daher versteht er das Anliegen Kants, den Begriff der Rasse vor allem Erfahrungsgebrauch zu klären, überhaupt nicht. Kants Erfahrungsbegriff, den wir besser mit »wissenschaftlicher Erkenntnis« wiederzugeben haben, ist dagegen der der neuzeitlichen Physik (Galilei, Newton). Hier geht es um die kausale Gesetzeserkenntnis, deren allgemeingültige Gesetzlichkeit niemals aus der Beobachtung abgeleitet werden kann, da sie aller Erfahrung vorausliegt. Auf der hierauf aufbauenden Vorherbestimmbarkeit von Naturgesetzeserkenntnissen beruht unsere neuzeitliche wissenschaftlich-technische Beherrschung der Natur. Dass dieser neuzeitliche Erkenntnisbegriff seine Grenzen hat, will ich keineswegs leugnen – die Grenzen erfahren wir heute sehr praktisch in der sogenannten ökologischen Krise –, aber wir müssen zunächst konstatieren, dass sich dieser neuzeitliche Erfahrungs- und Erkenntnisbegriff mehr und mehr in allen Wissenschaften durchsetzt, inzwischen auch in Biologie und Ethnologie. Diese Aussage ist nicht als Huldigung an den Zeitgeist der modernen Wissenschaften gemeint, denn ohne Zweifel geht mit dem Wandel des Erfahrungsbegriffes, wie er sich seit Ende des 18. Jahrhunderts vollzieht, auch ein ungeheurer Reichtum an Erfahrungs- und Beobachtungswissen sowie an Fähigkeiten reflektierenden Wahrnehmens und Erfassens von anschaulichen Zusammenhängen verloren. Mir ist es an dieser Stelle nur um eine Klärung der theoretischen Differenzen zwischen Forster und Kant zu tun. Durch diese Vorerörterungen gerüstet, sollten wir uns nun endlich Kants Klärung des Begriffs »Rasse« zuwenden: Wenn Naturforscher der alten Schule – wie etwa Linné – das Kriterium der Paarungs- und Zeugungsfähigkeit als Grad der Verwandtschaft einBuffon, Georges-Louis Leclerc, Comte de, Allgemeine Historie der Natur nach all ihren besonderen Theilen abgehandelt (fr. 1749 ff.). 7 Linné, Carl von, Systema Naturae (1735). 6
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führen, so bedeutet das kausal-genetisch durchdacht – das ist das entscheidende Argument –, dass sie alle aus einem Ursprung sein müssen. Nun sind alle Frauen und Männer auf dieser Erde – gleich von welchem Kontinent und von welcher Hautfarbe miteinander zeugungsfähig – also müssen sie auch einen gemeinsamen Ursprung haben, denn Zeugungsfähigkeit untereinander kommt von nirgends anders her als aus dem Gezeugtsein, aus der Zeugungsfähigkeit ihrer Voreltern usf. Es ist daher begrifflich streng naturgeschichtlich gedacht nicht anders möglich, als dass alle Menschen einen einzigen gemeinsamen Ursprung haben. Heute können wir auch hier nicht haltmachen, denn wir müssen gleich weiterfragen: Und wer zeugte die ersten Menschen? Kant hält sich in der Ursprungsfrage des Menschen sehr bedeckt. Herder geht deutlich noch einen Schritt weiter, indem er am aufrechten Gang des Menschen die naturgeschichtliche Menschwerdung des Tieres anspricht. Hierfür wird er von Kant und Forster in gleicher Weise, jedoch völlig zu Unrecht, gerügt. Kant wirft Herder vor, er bringe naturgeschichtliche und menschheitsgeschichtliche Kategorien durcheinander. Das Gegenteil ist der Fall: Herder differenziert ganz hervorragend zwischen der naturgeschichtlichen Menschwerdung des Tieres und der menschheitsgeschichtlichen Menschwerdung durch die menschliche Praxis selbst. Aber kommen wir zurück zu Kant und zum Problem der Menschenrasse: Alle Menschen kommen von einem gemeinsamen Ursprung her. Nun gibt es aber ganz offensichtliche Unterschiede zwischen Menschen, die erblich tradiert werden, also in der Zeugungskraft dieser Menschen selbst verankert sind. In diesem Zusammenhang spricht Kant von Menschenrassen und unterscheidet nach der Hautfarbe vier solcher Menschenrassen: die Weißen, die Schwarzen, die Inder (Zigeuner – gelb) und die Amerikaner (rot-braun). Dass diese Einteilung nach Hautfarben, wie Georg Forster sehr treffend zeigt, unsinnig ist und mit dem Erfahrungsmaterial nicht übereinstimmt, soll uns hier nicht weiter beschäftigen, da Kant diese Frage als eine Unterfrage behandelt, die durch weitere empirische Forschung zu klären ist. Überhaupt hatte Kant zehn Jahre zuvor in der Abhandlung Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) in dieser Frage bereits differenzierter argumentiert und von den Kalmücken und Amerikanern als eine Rasse gesprochen, war aber dann aufgrund neuerer Erfahrungsberichte, die den Verlust der Schlitzäugigkeit bei einer Mischung mit Europäern bezeugten, allzu voreilig 289 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts
zur Revision seines auf die gesamte Leiblichkeit bezogenen Rassebegriffs gekommen und sah sich damit allein auf die Farbdifferenzierung zurückgeworfen. Das Hauptproblem der Begriffsbestimmung in der Abhandlung von 1785, das wiederum Forster zu Unrecht wegrationalisieren will, ist, dass diese Rassenunterschiede nicht etwa äußerlich-klimatisch bedingt sind, sondern sich konstant vererben, sowohl dann, wenn die Paare in ihrer Rasse verbleiben, als auch, wenn sie sich konstant in Blendlingen mischen (Mulatten, Mestizen etc.). Kant meint nun, dass man die Probleme des einen Ursprungs einerseits und die vererblichen Rassenunterschiede andererseits nur durch die Annahme lösen könne, dass der ursprüngliche Menschenstamm alle Anlagen zu den verschiedenen Rassen – jedoch als unentfaltete Keime – in sich enthalten habe; in jahrtausendelanger Isolation habe sich dann in verschiedenen Weltgegenden (Afrika, Europa, Indien, Nordostasien, Amerika) jeweils eine der Anlagen dominant entfaltet, während die anderen verkümmerten. Daher schließt Kant aus, dass sich über diese vier Rassen hinaus noch weitere Rassen bilden können; es kann nur noch Rassenmischungen geben. Unterhalb der Rassenunterschiede gibt es dann noch Varietäten – »Völkerschlag«, »Familienschlag« –, diese sind zwar auch vererbbare Eigentümlichkeiten verschiedener Völkerstämme, z. B. der Schweden gegenüber den Spaniern, die sich aber – wie wir heute salopp sagen würden – ausmendeln, da sich in ihren Kindern keine einheitlichen Mischlinge ergeben, sondern einige sind blond, andere dunkelhaarig etc. Auch verändern und verlieren sich die Varietäten im Laufe der Zeit, wenn einige ihrer Mitglieder klimatisch verpflanzt und kulturell integriert werden. Forster dagegen geht – wie bereits betont – von zwei autochthonen Menschenarten aus: von den Negern und den Weißen. Zu letzteren gehören alle anderen Völkerschaften (vielleicht die Papua auf Neuguinea ausgenommen). Unterhalb dieser Zweiteilung kennt er nur noch Varietäten und lehnt den Rassebegriff total ab, und zwar deshalb, weil er überhaupt nicht genetisch denkt, sondern alle Unterschiede in der Hautfarbe allein auf klimatische, also auf Umwelteinflüsse zurückführt – hierin steht er nicht nur Kant, sondern ebenso auch Herder entgegen. Auf Forsters polternde, keineswegs zimperliche Kritik geht Kant in seiner Replik sehr sanft und sachlich ein. Sinngemäß führt er aus: Forster hat mich zwar in allen Punkten missverstanden, aber er ist ein ernst zu nehmender Naturwissenschaftler: »Darin sind wir beide 290 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Die Einheit des Menschengeschlechts und die Menschenrassen
einig, daß alles in einer Naturwissenschaft natürlich müsse erklärt werden, weil es sonst zu dieser Wissenschaft nicht gehören würde.« (Kant, V: 163) Hierin spricht Kant indirekt das Motiv seiner unversöhnlichen Herder-Kritik an. Zwar stimmt er mit Herders naturgeschichtlichevolutionärem Weltbild, dem einen Ursprung des Menschengeschlechts, den genetisch zu erklärenden Rassenunterschieden u. v. a. inhaltlich völlig überein, aber was Kant an Herders Arbeiten so in Rage versetzt, ist Herders undiszipliniertes, kriterienloses Ineinandermengen von wissenschaftlichen und theologischen, von naturgeschichtlichen und metaphysischen Argumenten und Beispielen. In seiner Replik Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788) spricht Kant erstmals mit voller Klarheit aus, was er zwei Jahre später in der Kritik der Urteilskraft noch näher begründet, weshalb evolutionäre Theorien – und dies gilt von Herder bis heute – immer in der Gefahr stehen, in wilde Spekulationen auszuarten, weshalb Theoretiker wie Herder zu »Hypermetaphysikern« werden. Die Naturwissenschaften können wissenschaftliche Erkenntnisse mit kausalgesetzlicher Bestimmtheit immer nur für methodologisch begrenzte Erscheinungsbereiche und Gegenstandsfelder formulieren, niemals aber bestimmende Aussagen machen über die ganze Natur als Wirklichkeit an sich, der wir selber mit zugehören. Die Naturgeschichte ist jedoch eben eine solche auch unser natürliches Dasein mit umspannende prozessuale Ganzheit. Gleichwohl müssen wir notwendig die uns mitumgreifende Natur als Ganzheit thematisieren. Dies können wir aber nur von einer regulativen Idee der reflektierenden Urteilskraft aus, d. h. wir kommen hier immer nur zu teleologischen Deutungen der Ganzheit der Natur auf der Grundlage unserer bisherigen Erfahrung von der Natur. Nun verleiten aber solche Ganzheitsdeutungen viele zu willkürlichen Spekulationen. Es kommt jedoch nicht darauf an, eine Evolution zu erdichten, sondern im Zusammenspiel von exakten, mathematischen Naturerkenntnissen und teleologischen Urteilen zu einer am Erfahrungsmaterial belegbaren naturgeschichtlichen Weltdeutung zu kommen. Herder dagegen – Kant nennt den Namen nicht ausdrücklich, aber es ist eindeutig, dass er Forster vor diesem warnt – verlässt den »fruchtbaren Boden« der Naturforschung und »verirrt« sich in die »Wüste der Metaphysik«: »Zudem kenne ich noch eine eben nicht unmännliche Furcht, nämlich vor allen zurückzubeben, was die Vernunft von ihren ersten Grundsätzen abspannt, und ihr es er291 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts
laubt macht, in grenzenlosen Einbildungen herumzuschweifen.« (Kant, V: 165) Ohne Zweifel müssen wir heute Kant in allen entscheidenden Punkten Recht geben. Niemand zweifelt mehr daran, dass alle gegenwärtig lebenden Menschen zu der einen Art des Homo sapiens gehören. Allerdings lebt innerhalb dieses siegreichen naturgeschichtlichen Ansatzes der Streit um die Erklärung der Rassendifferenzen fort: Sind sie allein aus Abwandlungen zeitlich und räumlich getrennter Gruppen des Homo sapiens zu erklären, die zuvor alle ihre Brüder und Schwestern vorhergehender Menschenarten ausgerottet haben, oder ist es doch in verschiedenen Weltgegenden zu Vermischungen mit den Geschwisterstämmen des Homo erectus oder der Neandertaler gekommen, wodurch jene Geschwisterstämme zwar durch die genetische Dominanz des Homo sapiens aufgesogen wurden, jedoch in den Rassenunterschieden fortleben. Obwohl dieser zweite Deutungsversuch wieder näher an Georg Forsters Hypothese verschiedener Menschenarten heranführt, muss doch unterstrichen werden, dass dadurch die Frage nach dem gemeinsamen Ursprung nicht aufgehoben, sondern nur noch weiter zurückverlegt wird, sodass dadurch die von Kant und Herder behauptete Einheit des Menschengeschlechts nicht aufgegeben wird.
3.
Ethische Konsequenzen
Bisher bin ich lediglich auf die theoretischen Differenzen zwischen Kant, Herder und Forster eingegangen, aber Forsters Kant-Kritik richtet sich entschieden und zentral auch gegen den Moralphilosophen Kant. Zur Klärung dieser zweiten Dimension beginne ich erneut mit einem Zitat aus Forsters Noch etwas über die Menschenraßen, und zwar mit der unmittelbaren Fortsetzung der eingangs zitierten Stelle: »War es nicht vielmehr noch immer edles Selbstgefühl und Widerstreben desjenigen, den man bedrücken wollte, das hie und dort den Übermuth des Tyrannen in Schranken hielt? Wie sollen wir also glauben, daß ein unerweißlicher Lehrsatz, die einzige Stütze des Systems unserer Pflichten seyn könne, da er die ganze Zeit hindurch, als er für ausgemacht galt, nicht eine Schandthat verhinderte? Nein, mein Freund, wenn Moralisten von einem falschen Begriffe ausgehen, so ist es wahrlich ihre eigne Schuld, wenn ihr Gebäude wankt, und wie ein Kartenhaus zerfällt. Praktische Erziehung, die jeden 292 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Ethische Konsequenzen
Grundsatz durch faßliche und tiefen Eindruck machende Beyspiele erläutert, und aus der Erfahrung abstrahiren läßt, kann vielleicht es dahin bringen, daß Menschen künftig fühlen, was sie Menschen schuldig sind […]; Köhlerglauben hat es nie gekonnt, und wird es nie bewirken.« (Forster, II: 99) Wie kommt Forster zu einem solchen Missverstehen und zu so einer Diffamierung Kants? Denn wer, wenn nicht Kant, ist der große Philosoph der Freiheit und des Sittengesetzes und somit der Humanität? Man kann die Missverständnisse in diesem Punkt nur tragisch nennen, denn alle drei – Kant, Herder und Forster – sind dem sittlichen Aufklärungsgedanken und der Idee der Humanität verpflichtet. Geradezu als würde er Kant und Herder nur paraphrasieren, schreibt Georg Forster in seiner Abhandlung Ueber lokale und allgemeine Bildung: »Das Ziel, wohin wir streben, ist uneingeschränkte Herrschaft der Vernunft bei unverminderter Reizbarkeit des Gefühls. Diese Vereinigung ist das große, bis jetzt noch nicht aufgelösete Problem der Humanität.« (Forster, III: 280) Bei aller Affinität ihrer Zielsetzungen unterscheidet sich doch der Charakter der praktischen Philosophie Kants grundlegend von den moralphilosophischen Äußerungen Herders und Forsters. Während Forster ebenso wie Herder von einem Gefühl der Selbstachtung und der Menschenliebe ausgeht, vom edlen Selbstgefühl und der praktischen Erziehung, »daß Menschen künftig fühlen, was sie Menschen schuldig sind«, bemüht sich Kant um eine philosophische Grundlegung der Sittenlehre und der menschlichen Freiheit, um hierdurch deren praktische Notwendigkeit, Bestimmtheit und Legitimität zu erweisen. Kant ringt um die Begründung des praktischen Gesetzes, das sich sowohl an alle wendet als auch alle einschließt, die menschliches Antlitz tragen. Gäbe es dieses praktische Gesetz nicht in uns allen und könnten wir es als ein solches nicht philosophisch begründen, so stünde das Gefühl der Menschenliebe der Fühllosigkeit des Sklaventreibers hilflos gegenüber. Wie kommt es aber, dass Georg Forster in Kant nicht nur nicht den Verbündeten erkennen kann, sondern gar noch vermeint, ihn eines Köhlerglaubens bezichtigen zu müssen? Zunächst gilt es, historisch daran zu erinnern, dass Forster 1786 Kants praktische Philosophie in ihrer Ausformung noch gar nicht kennen konnte. Zwar ist die Grundlegung der Metaphysik der Sitten – und das ist das erste größere Werk Kants zur praktischen Philosophie – ein Jahr zuvor erschienen, aber wenn man sich erinnert mit 293 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts
welcher Verzögerung Forster, wie er berichtet, die bestellten Zeitschriftennummern in Wilna ausgeliefert bekommt, so kann wohl vermutet werden, dass Forster von dieser Schrift Kants noch keine Kenntnis gehabt haben wird. Forster bezieht sich in seiner Kritik gegen Kant also einzig und allein auf den zweiten der beiden Zeitschriftaufsätze von Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (Januar 1786). Diese Abhandlung ist nach Kants Selbstverständnis – wie er selber am Anfang klarstellt – keine Studie zur praktischen Philosophie, sondern zur Naturgeschichte, genauer, wie er später in seiner Replik auf Forster erläutert, zur Teleologie der natürlichen Grundlagen der Menschengeschichte. »Gleichwohl kann das, was im Fortgange der Geschichte menschlicher Handlungen nicht gewagt werden darf, doch wohl über den ersten Anfang derselben, so fern ihn die Natur macht, durch Mutmaßung versucht werden.« (Kant, VI: 85) Und Kant erläutert näher, dass genau unterschieden werden müsse zwischen der Geschichte zur Freiheit, über die er hier mutmaßt, und der Geschichte aus Freiheit, der eigentlichen Geschichte, in der die Menschen die Akteure sind. Und weiterhin betont er, dass diese Mutmaßungen keine willkürlichen Spekulationen sein dürfen, sondern eine auf der Grundlage unserer Erfahrungen gebildete Deutung des Ermöglichungsgrundes der menschlichen Geschichte. Für uns, die wir Kants Gesamtwerk kennen, kommt natürlich auch in dieser Schrift Kants praktische Philosophie zum Vorschein. Aber wir können es Forster unmöglich verübeln, dass er die Hinweise und Andeutungen nicht wahrnehmen konnte. So kommt es dazu, dass Forster Kant auf den Kopf gestellt liest. Bevor wir auf Forsters Kritik eingehen, sei nochmals darauf hingewiesen, dass Kant mit der Abhandlung Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte ganz entschieden Herders Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) entgegentreten möchte. Was Kant Herder so sehr verübelt, ist, dass Herder die Argumentationsebenen andauernd vermischt und insbesondere die biblischen Geschichten als historische Wahrheiten präsentiert. Demgegenüber versucht Kant, Herder und seiner Zeit vorzuführen, wie man entmythologisiert auch der Genesis eine vernünftige Erkenntnis abringen kann, die mit unseren Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang steht. Gleichwohl lässt Kant keinen Zweifel daran, dass er hier keine wissenschaftliche Ableitung vorlegt, sondern in metaphorischer Rede eine Deutung der 294 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Ethische Konsequenzen
natürlichen Ermöglichungsbasis der menschlichen Geschichte vorträgt. Es sind zwei Aspekte einer Textpassage bei Kant, die Forster – sie missverstehend – erregt haben. Die erste Stelle, die Forster attackiert, erscheint uns heute ganz harmlos: »Will man nicht in Mutmaßungen schwärmen, so muß der Anfang von dem gemacht werden, was keiner Ableitung aus vorhergehenden Naturursachen durch menschliche Vernunft fähig ist, also: mit der Existenz des Menschen; und zwar in seiner ausgebildeten Größe […]; in einem Paare, damit er seine Art fortpflanze; und auch nur einem einzigen Paare, damit nicht so fort der Krieg entspringe, wenn die Menschen einander nahe und doch einander fremd wären«.(Kant, VI: 86) Zum ersten hält Forster fälschlicherweise diese Stelle für die eigentliche Begründungswurzel für Kants Begriff des einen Menschenstammes, auf die Kant seine Theorie der Menschenrassen aufbaut. Das heißt, Forster liest die beiden Artikel Kants ineinander, obwohl sie für Kant einen völlig unterschiedlichen Charakter haben. In seiner zweiten Abhandlung geht es Kant nicht mehr wie in der ersten Abhandlung um eine naturgeschichtliche Begriffsklärung, sondern darum, die natürlichen Grundlagen der Menschheitsgeschichte teleologisch reflektierend zu bedenken. Was Kant hier metaphorisch anspricht und weiterhin näher expliziert, ist, dass den Menschen vor aller Entzweiung und Unterdrückung im Krieg eine gleichsam natürliche Grundlage zur Sittlichkeit zu eigen sein muss, auf der man dann die hervorgetretene Entzweiung feststellen, aber auch zu überwinden hoffen kann. Hören wir nun Forsters Antwort: »Herr K. befürchtet zwar, […] daß bei Voraussetzung von mehr als einem Paare, entweder sofort der Krieg entstanden seyn müsse, oder die Natur wenigstens dem Vorwurf nicht entgehen könne, sie habe nicht alle Veranstaltungen zur Geselligkeit getroffen. Ich gestehe es, mir leuchtet dieser Einwurf nicht ein. […] Wie manche Gattungen geselliger Thiere giebt es nicht ausser dem Menschen; wie viele hat nicht die Natur gelehrt, aus ihrer Vertheidigung und Erhaltung eine gemeinschaftliche Angelegenheit zu machen! [… demgegenüber] scheint es mir nicht ungereimt, durch diesen dunkeln Trieb auch Menschen sich versammeln zu lassen, damit die Folgen ihres geselligen Lebens, Sprache und Vernunft, sich desto schneller entwikeln mögen.« (Forster, II: 98 f.) Abgesehen von der Inkonsistenz der Argumentation Forsters wird aus dem, was Forster hier beschwört, nämlich eine grundlegende 295 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts
natürliche Geselligkeit der Menschen, sichtbar, dass er Kants Anliegen, dem es doch ebenso gerade um die grundlegende Klärung dieses Punktes geht, total missverstanden hat. Dies wird vielleicht aus den folgenden Ausführungen noch deutlicher, wenn Forster fortfährt: »Krieg, wie Herr K. das unwiderleglich und unübertrefflich […] beweiset, ist eine der ersten Folgen des Misbrauchs der Vernunft, die dem Instinkt zuwider handelt. Wenn die Mythologie, die er zum Leitfaden wählt, in der Geschichte eines Menschenpaares sogleich den erstgebohrnen Sohn zum Brudermörder macht, so scheint doch freylich für die Sicherheit der Menschen durch ihre gemeinschaftliche Abstammung schlecht gesorgt zu seyn.« (Forster, II: 98) Gerade an dieser Stelle zeigt sich, dass Forster die Pointe der kantschen Geschichtsdialektik und Vernunftdialektik – wiewohl sie hier nur metaphorisch, noch nicht wie später geschichtsphilosophisch argumentierend, eingeführt wird – nicht einmal erahnt hat. Kants Argumentation in dieser Schrift ist knapp zusammengefasst folgende: Alles, was der Mensch, die Menschengattung, im Laufe der Geschichte aus sich macht, ist seine eigene freie (wenn auch noch nicht bewusst freie) Tat – sowohl das Gute wie das Böse. Uranfänglich leitete den Menschen noch weitgehend der Instinkt – in der biblischen Geschichte metaphorisch als Stimme Gottes umschrieben. Aber der Mensch bricht aus diesem paradiesischen Anfang durch Gebrauch der ihm unter den Naturwesen allein zukommenden Vernunft aus. Der Vernunftgebrauch des Menschen bedeutet zweierlei: zum einen den Austritt »aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit« (Kant, VI: 92), zum anderen bringt die Vernunft ihn aber zugleich in einen Widerspruch mit der Natur und mit sich selbst; der Mensch steht hierdurch – wie Kant es formuliert – »gleichsam am Rande eines Abgrundes«. (Kant, VI: 89) Ein Zurück ins Paradies, in die Unschuld der Natur, gibt es nicht mehr. Das Einzige, was dem Menschen im Laufe der Geschichte bleibt, ist die dialektische Überwindung des Selbstwiderspruchs der Vernunft durch die Vernunft, durch die sittlich selbstbestimmte Vernunft. Später spricht Kant in diesem Zusammenhang von einer Revolutionierung der Denkungsart. Ich will den Zentralpunkt der Geschichtsdialektik noch etwas mit Kants eigenen Beispielen konkretisieren: a) Ursprünglich leitet den Menschen bei der Suche von Nahrungsmitteln der Instinkt; die Vernunft treibt darüber hinaus, erschließt ein Wissen um weitere Nahrungsmittel und ihre Zuberei296 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Ethische Konsequenzen
tung (Rohes und Gekochtes). Aber zugleich regt sich dadurch die Begierde, eine unstillbare, unendliche Erweiterung der Bedürfnisse treibt den Menschen in Widerspruch zur Natürlichkeit der Bedürfnisbefriedigung. b) Ursprünglich treibt der Instinkt zum anderen Geschlecht, die Befreiung daraus kann »Herrschaft der Vernunft über den sexuellen Antrieb« bedeuten, das Kunststück der Triebeindämmung, das die Vernunft dabei vollbringt, heißt »Weigerung« (Sublimierung). Aber zugleich setzt die Trennung vom Instinkt auch alle Formen sexueller Unterdrückung und die Erzeugung von Widernatürlichem frei; dem »augenblicklichen Wohlgefallen« folgt hierbei »Angst und Bangigkeit«. c) Die Lösung der Vernunft aus dem Naturinstinkt ermöglicht die »überlegte Erwartung des Künftigen«, aber mit dem Wissen um das Künftige erwächst auch die Furcht vor dem eigenen Tod. d) Das Wissen um die eigene Besonderheit, »selbst Zweck zu sein«, ermöglicht die Anerkenntnis dieser Besonderheit in jedem Menschen, dies ist die Grundlage der wechselseitigen Anerkennung der Menschen untereinander. Dieses Wissen um die eigene Besonderheit, kann aber ebenso in eine absolut setzende Überheblichkeit des Menschen gegenüber dem Menschen und die Natur ausarten. Aus diesem Selbstwiderspruch der Vernunft, der in ihr selbst angelegten Möglichkeit der Entfremdung, vermag jedoch allein die Vernunft herauszuführen. In dieser sich selbst überwindenden und findenden Vernunft gründet die Sittlichkeit, die die Freiheit und Gleichheit aller Menschen respektiert: »Und so war der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen, getreten: nämlich, in Ansehung des Anspruchs, selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt, und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden. Hierin, und nicht in der Vernunft, wie sie bloß als ein Werkzeug zu Befriedigung der mancherlei Neigung betrachtet wird, steckt der Grund der so unbeschränkten Gleichheit des Menschen, selbst mit höheren Wesen […], deren keines aber darum ein Recht hat, über ihn nach bloßem Belieben zu schalten und zu walten.« (Kant, VI: 91) Hiermit spricht Kant nur die ermöglichende Grundlage der Sittlichkeit an, die aber keineswegs von Anbeginn an praktisch auch schon verwirklicht wird, vielmehr verläuft die Geschichte des Menschengeschlechts zunächst ganz anders: über Mord, Unterdrückung 297 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts
und Krieg – wie Kant dies an der Geschichte von Kain und Abel als Widerstreit zwischen Hirtenvölkern und Ackerbauern bespricht. Erst aus dieser Not entsteht die staatliche Ordnung, jedoch zunächst verknüpft mit despotischer Unterdrückung und unersättlichem Luxus. Die Entfremdungsgeschichte gipfelt schließlich im »größten Übel, welche gesittete Völker drück[t]«: dem »Krieg«. (Kant, VI: 91) Nun versteht Kant ausdrücklich diese Geschichtsdialektik nicht als eine Stadientheorie – ursprüngliches Paradies, Gefallenheit, Entfremdung und Rückkehr in ein »goldenes Zeitalter« –, sondern als einen im geschichtlichen Verlauf im Guten wie im Bösen sich immer wieder erneuernden, ja sogar steigenden Prozess: »Mit dieser Epoche [der bürgerlichen Gesellschaft der Stadt-Staaten] fing auch die Ungleichheit unter Menschen, diese reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten, an, und nahm fernerhin zu.« (Kant, VI: 97) Und ebenso ist das, was wir dagegen auszurichten vermögen und ausrichten müssen, der permanent erneuerte Versuch der Vernunft, ihre eigene Widersprüchlichkeit schrittweise dialektisch zu überwinden: durch Aufklärung und Abbau der negativen Hemmnisse der Unterdrückung und des Krieges. Und so schließt Kant seine Überlegungen mit einem praktischen Imperativ: »Zu welchem Fortschritte [vom Schlechteren zum Besseren] dem ein jeder an seinem Teile, so viel in seinen Kräften steht, beizutragen durch die Natur selbst berufen ist.« (Kant, VI: 102) In diesem letzten, selbst metaphorisch zu verstehenden Satz: »durch die Natur selbst berufen«, kommt nochmals die ganze geschichtsdialektische Argumentation Kants zum Ausdruck: Der Mensch ist durch die Natur in seine Vernunft, Freiheit und Sittlichkeit berufen, aber zunächst bringt ihn dieses Auf-sich-selbst-Gestelltsein der Vernunft an den »Rand eines Abgrundes«, denn in ihrer Halt- und Orientierungslosigkeit, in der die Vernunft sich noch nicht selbst gefunden hat, bringt sie ihn in Widerspruch zu anderen Menschen und zur Natur. Aber weil der Ruf zur Sittlichkeit an uns alle ergeht und weil die Widersprüchlichkeit eine »selbstverschuldete Unmündigkeit« ist, kann der Mensch durch sittliche Aufklärung und sittliches Handeln an deren Aufhebung arbeiten. Es ist jammerschade, dass Forster in Kant nicht seinen und Herders Verbündeten erblicken konnte, der die theoretische Untermauerung seiner eigenen gefühlsmäßigen Parteinahme für Freiheit und Gleichheit aller Menschen erarbeitet hat. Auch Herders frühe Aufklärungskritik erhält in Kants Ausführungen allererst ihre dialektische Grundlage. Wie nahe sich alle drei Denker in ihrem praktischen 298 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Ethische Konsequenzen
Anliegen standen, das noch das unsere sein muss, mag eine Stelle aus Georg Forsters später Abhandlung Ueber die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit (1793) belegen; darin schreibt Forster ganz im Sinne Kants: »[…] der Philosoph […] fühlt oder weiß vielmehr, was Menschen seyn könnten und sollten; er geht daher den Ursachen ihrer Herabwürdigung nach, und sucht das Mittel aufzufinden, welches sie wieder ihrer Bestimmung nähern kann.« (Forster, III: 707)
299 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Personenregister
Abailard, Peter 260 Adorno, Theodor W. 191, 196 al-Ghazali, Abu-Hamid Muhammad 204 Althusser, Louis 83 Alexander von Makedonien 193 Aristoteles 205, 262, 263, 269 Augustinus 203 Averroes/Ibn Ruschd 204, 209 Avicenna/Ibn Sina 204, 209 Avincebron/Ibn Gabriol 203 Bachofen, Johann Jakob 55 Balibar, Etienne 122 Barnett, Homer G. 63 Bastian, Philipp Wilhelm Adolf 69 Bataille, Georges 83 Behrmann, Jörn 249 Benedict, Ruth 39, 63, 130 Benndorf (Taylor), Helga 226 Benner, Dietrich 76 Berg, Eberhard 74 Berger, Peter L. 98, 132, 212 Bidney, David 51,65, 83 Bloch, Ernst 191, 196, 209 Bloch, Marc 28, 132 Boas, Franz 62, 63, 65, 97, 175 Bourdieu, Pierre 83, 84, 125–128 Braudel, Fernand 28, 132 Bremshey, Christian 223 Broekman, Jan. M. 125 Bruno, Giordano 205 Buffon, Georges-Louis Leclerc, Comte de 288
Camus, Albert 191 Cassirer, Ernst 40, 72, 82, 106–110, 124, 170, 186 Castaneda, Carlos 102–104 Cicourel, Aaron V. 98, 130 Clastres, Pierre 83 Contag, Jürgen 84 Cook, James 34, 278 Cunow, Heinrich 79 Devereux, Georges 92 Dhouib, Sarhan 200 Dilthey, Wilhelm 80, 210 Dostal, Walter 120 Droysen, Johann Gustav 28 Duala-M’bedy, L-.J. Bonny 31, 198, 214, 223–234, 235, 249 Duchâteau, Armand 43, 226 Duerr, Hans Peter 103, 104, 105 Durkheim, Emile 112, 113, 130 Dussel, Enrique 199, 250 Dux, Günter 81 Eder, Klaus 81 Ehrlich, Leonard H. 203 Eickelpasch, Rolf 99 Eidam, Heinz 200 Eliade, Mircea 116, 149 Engels, Friedrich 78, 79, 117, 120, 122, 267 Evans-Pritchard, Edward E. 39, 63, 64, 97, 99 Febvre, Lucien 28, 132 Feuerbach, Ludwig 77, 190, 209, 263 Feyerabend, Paul 101, 187, 197, 242 Firth, Raymond 63, 64, 112
300 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Personenregister Fischer, Franz 190 Flickinger, Hans-Georg 216 Fornet-Betancourt, Raúl 186, 199, 231, 250, 251 Forster, Georg 12, 15, 34–36, 42, 74, 75, 275–299 Fortes, Meyer 64, 174 Frazer, Sir James 36, 241 Freyer, Hans 81 Frobenius, Leo 51, 130 Fukuyama, Francis 154, 199 Gadamer, Hans-Georg 210 Garber, Jörn 35, 275 Garfinkel, Harold 98, 130 Geertz, Clifford 39–42, 212, 214, 228 Gehlen, Arnold 80 Gernet, Jacques 27 Gipper, Helmut 98 Girtler, Roland 24, 112, 153 Givsan, Hassan 187, 252 Godelier, Maurice 79, 83, 109, 120, 122–125, 132, 133, 152–172, 175, 176 Göller, Thomas 210, 241, 242 Goethe, Johann Wolfgang 280 Goffman, Erving 98, 130 Goux, Jean-Joseph 124 Granet, Marcel 27 Guttmann, Jacob 204 Habermas, Jürgen 81, 113, 130, 214 Haekel, Josef 50 Halle, Morris 68 Hallowell, A. Irving 64 Hamann, Johann Georg 275, 277, 282 Harris, Marvin 82, 119 Hartmann, Nikolai 80 Haug, Wolfgang Fritz 23 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 77, 152, 168, 170, 186, 194, 195, 214– 218, 236, 246, 247, 249, 265 Heintze, Dieter 35, 275 Heipcke, Klaus 205 Herder, Johann Gottfried 15, 22, 74, 75, 78, 94, 111, 181, 241, 245, 246, 275–299
Herodot 30, 31, 42 Herskovits, Melville J. 63 Hirschberg, Walter 21, 130 Höfer, András 226 Hönigswald, Richard 33, 218 Hoffmann, Hilde 223 Holenstein, Elmar 185 Honneth, Axel 214, 231 Horkheimer, Max 196 Horten, Max 204 Hountondji, Paulin J. 238 Humboldt, Wilhelm von 76, 77, 82, 98, 186 Hume, David 277 Huntington, Samuel P. 207, 217, 231 Husserl, Edmund 70, 71, 98, 136, 137, 207, 236, 252 Ibn Gabriol siehe Avincebron Ibn Ruschd siehe Averroes Ibn Sina siehe Avicenna Immler Hans 120 Jakobson, Roman O. 67, 68, 149 Jaspers, Karl 186, 193, 236 Jensen, Adolf Ellegard 51 Jesus von Nazareth 251 Jodl, Friedrich 28, 81, 113, 130 Jonas, Hans 191, 193 Kant, Immanuel 12, 15, 75, 105, 131, 185, 189, 190, 196, 200, 205, 219– 221, 232, 242, 243, 256, 260–262, 264, 269, 275–299 Kardiner, Abram 64 Kautsky, Karl 79 Katharina II. von Russland 276 Kecskési, Maria 226 Kerl (Galinsky), Ingrid 226 Kimmerle, Heinz 186, 198, 231, 236, 238 Kimura, Bin 246 Kippenberg, Hans-G. 99 Klenke, Claus-Volker 35, 275 Kluckhohn, Clyde 64–66 Knorr-Cetina, Karin 85 Köpping, Klaus-Peter 95
301 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Personenregister Köstlin, Konrad 24 Kohl, Karl-Heinz 74, 224 Koppers, Wilhelm 50, 57 Krader, Lawrence 78, 119, 158 Kramer, Fritz 74 Kreft, Jürgen 91 Kresse, Kai 240, 241 Kroeber, Alfred L. 63, 64, 130 Kroner, Richard 80 Kuhn, Thomas S. 88, 90 Lacan, Jacques 243 Landmann, Michael 80 Langer, Susanne 40 Leach, Edmund R. 83, 87, 90, 117 Lefebvre, Henri 189, 192, 208, 221, 270, 271 Leibniz, Gottfried Wilhelm 190 Leiris, Michel 83 Lepenies, Wolf 117, 286 Lévi-Strauss, Claude 39, 67–70, 71, 76, 83, 85, 86, 90, 112–117, 123– 125, 132–152, 154–156, 160–163, 168–172 Levinas, Emmanuel 236 Lévy-Bruhl, Lucien 100 Linné, Carl von 288 Linton, Ralph 64 Loh, Werner 242 Lohmar, Dieter 231 Lowie, Robert H. 63, 64 Luchesi, Brigitte 99 Luckmann, Thomas 98, 132, 212 Luhmann, Niklas 130 Maimonides/Mose Ben Maimon 203 Malinowski, Bronislaw 36–39, 42, 43, 63, 97, 109, 112, 130, 174, 175, 228 Mall, Ram Adhar 186, 191, 198, 231, 236, 237, 242 Manndorff, Hans 58 Marcuse, Herbert 207 Mariátegui, José Carlos 198 Maruyama, Masao 198 Marx, Karl 15, 67, 77–79, 117–125, 126, 152, 156, 157, 158, 160, 163, 166, 167, 171, 173, 175–182, 194,
200, 206, 208, 209, 214, 218, 220, 221, 223, 236, 251, 265–268, 270 Mauss, Marcel 113, 141 May, Yomb 199, 213, 223, 238, 239 Mead, George Herbert 82, 98 Mehan, Hugh 103 Meillassoux, Claude 83, 120, 122, 123 Melichar, Herbert 22 Merleau-Ponty, Maurice 83, 128 Mirt (Reboul), Heide 226 Montes de Sommer, Marlene 199 Montesquieu, Charles de Secondat Baron de la Bréde et de 74 Morgan, Lewis H. 62, 78, 112, 130, 175 Morikawa, Takemitsu 213 Mühlmann, Wilhelm E. 50, 51, 71, 86, 88 Müller, Ernst Wilhelm 50 Müller, Werner 98 Münzel, Mark 43 Murdock, George P. 63–66, 112, 129, 175, 176 Nadel, Siegfried F. 112, 154 Nagl, Ludwig 166 Nagl-Docekal, Herta 151 Neuser, Wolfgang 205 Nietzsche, Friedrich 183, 206 Nikitsch, Herbert 24 Nishitani, Keiji 43, 213 Northrop, F. S. C. 65 Oeser, Erhard 29, 217, 224 Oppitz, Michael 113 Ortu, Marco 223, 230 Otabe, Tanehisa 198 Paetzold, Heinz 72, 107, 198, 226, 235, 245 Palme (Pogatz), Heide 226 Panikkar, Raimon 186 Parmenides 240 Parsons, Talcott 63, 112, 130, 153 Pažanin, Ante 125 Peter, Hanns 226 Philon von Alexandria 203
302 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Personenregister Pico della Mirandola, Giovanni 205 Platon 189, 193, 196, 197, 200, 205, 256–260, 261–263, 268–270 Plessner, Helmuth 80, 236 Polanyi, Karl 153 Protagoras 193 Radcliffe-Brown, A. R. 63, 112, 139, 141, 154, 160, 174 Raunig, Walter 226 Raymundus Lullus/Ramon Lul 204 Redfield, Robert 63 Reinhold, Karl Leonard 280 Rickert, Heinrich 80 Ricoeur, Paul 136 Ritter, Hanns H. 117 Rivers, W. H. R. 62, 141 Roheim, Géza 63 Romanós, Konstantinos 207 Rorty, Richard 241 Rothacker, Erich 80 Rousseau, Jean-Jacques 74, 263, 277 Rudolph, Wolfgang 61 Rüddenklau, Eberhard 82, 113 Ruf, Werner 207 Sack, Fritz 103 Sahlins, Marshall 14, 83, 87, 112, 160, 173–182 Sapir, Edward 62, 63 Sartre, Jean-Paul 128, 191 Saussure, Ferdinande de 113 Scheler, Max 80 Schelkshorn, Hans 199, 250 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 76, 77, 82, 109, 124, 170, 186, 191, 207, 285 Schenkein, Jim 103 Schiller, Hans-Ernst 76 Schindler, Helmut 213, 226 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 14, 210, 263–265, 266, 267, 269 Schmidt, Wilhelm 50, 55, 130, 228 Schmied-Kowarzik, Robin 9 Schmied-Kowarzik, Walther 32, 81, 101, 116, 149
Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 23, 32, 45, 73, 74, 76, 78, 81, 101, 102, 105, 114, 119, 120, 123, 128, 129, 139, 158, 165, 172, 173, 192, 194, 198, 200, 206, 209–211, 215, 217, 218, 220, 226, 227, 235, 239, 259, 263 Schmitt, Carl 216, 217, 248, 249 Schmitz, Carl A. 21 Schneebaum, Tobias 103 Schneider, Helmut 226, 246 Schott, Rüdiger 85 Schütz, Alfred 82, 98, 132 Schwendter, Rolf 24 Sebag, Lucien 70, 83, 117 Severi, Carlo 139 Service, Elman R. 113 Siemek, Marek 216 Siep, Ludwig 215 Sixel, Friedrich W. 125 Soemmerring, Samuel Thomas 283 Sohn-Rethel, Alfred 109, 124 Sonnemann, Ulrich 82 Sokrates 193, 240, 256–258, 262, 268, 269 Sorokin, Pitirim A. 65 Spencer, Herbert 112, 130 Sperber, Dan 83, 115 Spinoza, Baruch de 205 Stagl, Justin 23, 29, 36, 73, 139, 211, 212, 225–228, 235, 239 Stederoth, Dirk 23, 173, 192, 227, 242 Stenger, Georg 197 Steward, Julian H. 113, 130, 175, 176 Szalay, Miklos 25, 130, 212, 226, 228 Tagore, Rabindranath 198 Taylor, Charles 214, 217, 231 Taylor, Walter W. 64 Tempels, Placide 240 Terray, Emmanuel 83, 120, 121 Thales 240 Thomas von Aquin 203 Thompson, Edward P. 192 Thomson, George 124 Thurnwald, Richard 50, 65, 112, 130, 141, 228
303 https://doi.org/10.5771/9783495813638 .
Personenregister Trubetzkoi, Nikolai S. 67, 149 Tunis, Angelika 102 Türcke, Christoph 206 Turki, Mohamed 200, 209 Tylor, Edward B. 62 Vico, Giambattista 75 Vierkandt, Alfred 113 Voltaire/Arouet, François-Marie 277, 284 Waldenfels, Bernhard 125, 197 Watsuji, Tetusuro 245, 246 Weber, Max 65 Weingarten, Elmar 103 White, Leslie A. 64, 65, 113, 175, 176
Whorf, Benjamin L. 62, 63, 98 Wicke, Erhard 205 Wimmer, Franz M. 186, 197, 231, 244, 245 Winch, Peter 83, 196, 241 Windelband, Wilhelm 80 Wissler, Clark 63 Wittfogel, Karl August 79, 119, 120, 123, 157, 246, 247, 248 Wittgenstein, Ludwig 101, 241 Wood, Houston 103 Worsley, Peter 174 Zimmermann, Rainer E. 188, 242, 243
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