Die ungewisse Evidenz: Für eine Kulturgeschichte des Beweises [Reprint 2015 ed.] 9783050074214, 9783050031781

Die Beiträge dieses Bandes befassen sich mit den folgenden Themen: Arnold Davidson: Das Geschlecht und das Auftauchen de

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German Pages 204 [208] Year 1998

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Table of contents :
Die ungewisse Evidenz
Wunder und Beweis im frühneuzeitlichen Europa
Der Diskurs der Jungfräulichkeit oder von der Geschlechtlichkeit des Heiligen
Das Geschlecht und das Auftauchen der Sexualität
Klarheit statt Wahrheit, Evidenz und Gewißheit bei Ludwig Wittgenstein
Ethik von Hintergrundüberzeugungen
Zu den Autoren
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Die ungewisse Evidenz: Für eine Kulturgeschichte des Beweises [Reprint 2015 ed.]
 9783050074214, 9783050031781

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E I N S T E I N

B Ü C H E R

DIE UNGEWISSE EVIDENZ FÜR

EINE

KULTURGESCHICHTE BEWEISES

Herausgegeben von Gary Smith und Matthias Kröß

Akademie Verlag

DES

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Die ungewisse Evidenz : für eine Kulturgeschichte des Beweises / hrsg. von Gary Smith und Matthias Kröß Berlin: Akad. Verl., 1998 (Einstein-Bücher) ISBN 3-05-003178-6

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1998 Alle Rechte vorbehalten. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Design: Hans Puttnies Umschlaggestaltung: Carolyn Steinbeck Satz: Urte von Bremen Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis Matthias Kröß / Gary Smith

Die ungewisse Evidenz 7 Lorraine

Daston

Wunder und Beweis im frühneuzeitlichen Europa '3 Françoise

Meitzer

Der Diskurs der Jungfräulichkeit oder von der Geschlechdichkeit des Heiligen 69 Arnold I.

Davidson

Das Geschlecht und das Auftauchen der Sexualität 95 Matthias

Kröß

Klarheit statt Wahrheit. Evidenz und Gewißheit bei Ludwig Wittgenstein »39 Avishai

Margalit

Die Ethik von Hintergrundüberzeugungen

m Zu den Autoren 20j

J

DIE UNGEWISSE EVIDENZ Nur das, was mit den Mitteln der Wissenschaft und der rationalen Überlegung beweisbar und auch zugleich so einleuchtend ist, daß es keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, vermag der Mensch der Moderne überhaupt als sicheres Wissen anzuerkennen. Die Geschichte der Evidenz ist daher stets eine Geschichte der Präsenz des Verdachts am Gegebenen und der unerbittlichen Suche nach dem, was hinter den Erscheinungen steckt. So läßt sich der Prozeß der Moderne als ein zutiefst ambivalentes Projekt beschreiben. Es ist der Prozeß des Infragestellens und des Versuchs, Neubegründungen und Neuanfänge zu liefern, die über jeden Zweifel erhaben sind. Die hier versammelten Aufsätze, die im wesentlichen auf eine Tagung des Einstein Forums in Potsdam zurückgehen, nähern sich der Problematik der Evidenz unter historischen wie auch unter systematischen Gesichtspunkten. Sie versuchen auf diese Weise, die im Begriff des »Evidenten« enthaltene Spannung zwischen dem Beweisbaren und dem mit Gewißheit Wißbaren auszutragen und zur Weiterarbeit an den hier exemplarisch vorgestellten Beispielen zu ermuntern. 7

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Den Reigen dieser Beispiele eröffnet die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston mit ihrem Beitrag über Wunder und Beweis im frühneuzeitlichen Europa. Es geht ihr in erster Linie um die genaue historische Nachzeichnung begrifflicher »Umbesetzungen« (Hans Blumenberg), die uns den Vorgang der Bedeutungsvarianz bei terminologischer Konstanz am Fallbeispiel der Begriffe » W u n d e r « und »Beweis« erklären. Unter dem nur vorgeblich sicheren Dach des Ausdrucks » W u n d e r « spielen sich, folgt man Daston, in der Wissenschaftstheorie des 17. und 18. Jahrhunderts dramatische Wortfamilienszenen ab. Die philosophischen, theologischen und naturphilosophischen Diskussionen über natürliche, übernatürliche, außernatürliche, von Gott veranlaßte, über bloß vorgetäuschte oder bonafide angenommene Wunder kreisen um das, was durch Behauptungen als unverrückbare Tatsachen gleichsam eingefroren, und das, was dann mittels dieser Tatsachen in einem Beweisdiskurs gleichsam wieder verflüssigt wird. Daston gelingt es, die durch Tatsachen (Behauptungen) geführten Beweisverfahren in ihrer historischen Entwicklung und Variabilität darzustellen und damit jene Sicherheit zu dokumentieren, die aus heutiger Sicht unhaltbare Beweisverfahren als »evident« hat erscheinen lassen. Arnold I. Davidson hingegen setzt sich mit dem Problem der Evidenz an einem ebenso schlagenden wie heiklen Beispiel auseinander: der Konstitution der Sexualität als einem Leitmotiv moderner medizinischer Diskurse des 19. Jahrhunderts. Davidsons Untersuchung ist an den Arbeiten des späten Foucault, insbesondere an dessen unvollendet gebliebener Geschichte der Sexualität im Zeitalter der Wahrheit orientiert. W o Foucault historisch nicht mehr anzulangen vermochte, setzt Davidsons Untersuchung ein: bei der Vorgeschichte des 19. Jahrhunderts, beginnend mit der Renaissance. Davidson argumentiert exemplarisch; er greift die Ikonologie der Genitalität Christi in der Renaissance-Malerei auf und diskutiert das Fehlen der »Perversion« im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel von Meiboms Tractatus deflagrorum δ

Matthias Ίζινβ / Çary$mith

β,

usu in re venera. Im Kontrast zur Pathologia sexualis von KrafftEbing gelingt Davidson der Nachweis für die These, daß zwischen der Konstatitierung und der Konstituierung von Phänomenen, Tatsachen und Gegenständen diskurshistorisch kaum unterschieden werden kann. Die »Perversion« und der »Perverse« sind Phänomene und Figuren, die nur in einem spezifischen, nämlich dem sexualtheoretischen Diskurs am Ende des 19. Jahrhunderts »möglich« sind und deren Existenz schließlich geradezu zwingend wird. Das Evidenz-Potential der Perversion ist ein wesentlicher, wenn nicht der entscheidende Grenz- und Markierungspunkt fiür den neueren sexualwissenschaftlichen Diskurs. Die »Perversion« bildet zugleich die Grundlage für die Konstitution eines umfassenden Menschenbildes, das in der Sexualität eine Wesensbestimmung des Anthropologischen erkennt. Davidson möchte mit seinem Beitrag diese Figur diskursiver Evidenz als eine essentialistische Fiktion entlarven und den Weg zu der Erkenntnis ebenen, die Zuweisungen von sexueller Anomalie als historisches Konstrukt zu erkennen. Während Davidson und Daston den historischen Umgang mit Evidenz exemplarisch dokumentieren, greift Françoise Meitzer in ihrem Beitrag über das Phänomen der Jungfräulichkeit in der abendländischen Kultur auch politische Aspekte auf. Sie führt an zwei Beispielen die politischgeschlechterhafte Konstitution von Evidenz ein: erstens die »Erzeugung« der Virginität der Gottesmutter Maria in der »offiziellen«, d. h. der von apokryphen Texten gereinigten Version, der Bibel und im Schrifttum der Patristik; und zweitens die Diskussionen um die Jungfräulichkeit der Johanna von Orleans. Der Prozeß um Jeanne d'Arc kreiste, so Meitzer, um Beweisverfahren, in denen ihr Status als Jungfrau zum zentralen Anklagepunkt wurde, aber im 19. Jahrhundert auch zu einem mächtigen Argument für ihre Rehabilitierung. Meitzer zeigt, wie die Beweisverfahren für Jungfräulichkeit als in die Struktur des abendländischen Patriarchats eingebettet gesehen werden müssen, um das

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Geschehen des 15. Jahrhunderts, aber auch den »Evidenz«Status des Weiblichen in der jüdisch-christlichen Kultur insgesamt angemessen erfassen zu können. Im Gegensatz zur deutschen Sprache verfügt das Englische über zwei Ausdrücke zur Bezeichnung von »Evidenz«. Während der anglo-amerikanische Wortgebrauch von evidence vor allem den Beweis meint, der die Unwiderlegbarkeit einer Annahme stützen soll, wird im Deutschen der Terminus »Evidenz« auch für jene philosophische Unbezweifelbarkeit oder Gewißheit verwendet, die im englischen Sprachgebrauch mit certainty bezeichnet wird. In seinem Beitrag geht Matthias Kröß auf diesen Aspekt der Evidenz-Problematik am Beispiel Wittgensteins ein. In seinen späten Notizen zum Thema, die unter dem Titel Uber Gewißheit veröffentlicht wurden, hat Wittgenstein in selten erreichter Klarheit und philosophischer Radikalität das Problem der Evidenz behandelt. Die Gewißheit, die Wittgenstein anvisiert, erscheint als etwas dem Beweisverfahren Vorgelagertes, als eine »Instanz«, die den Beweisen (evidence) Evidenz (Gewißheit) verleiht, diese also erst gleichsam mit »Beweiskraft« ausstattet. Wittgenstein legt so den philosophischen Boden frei, auf dem sich die unterschiedlichen Versuche des Beweisens historisch entfalten können. Demgegenüber hält Avishai Margalit in seinem Beitrag an der Notwendigkeit einer Untersuchung fest, die den propositionalen Gehalt von Glauben, daß-Aussagen überprüft. Für ihn spielt bei Sätzen von der Form: »Ich glaube an...« oder: »Ich glaube, daß...« der Wahrheitsanspruch des propositionalen Gehaltes eine entscheidende Rolle, um aus ihm einen ethischen Maßstab auch für die Bewertung unwillentlicher Überzeugungen zu gewinnen. Eine Schlüsselrolle kommt dabei den »Hintergrundüberzeugungen« zu. Derartige Überzeugungen, Einstellungen und Grundannahmen können mit den intentione directa geäußerten Sätzen übereinstimmen, aber ihnen ebensogut auch widersprechen. Solche Fälle des Widerspruchs treten bei der Häresie (dem Festhalten am Irrglauben trotz besseren Wissens) oder bei ideoto

Matthias Τζτοβ / Çary $mitb

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logischer Verblendung (dem Festhalten an falschen Überzeugungen angesichts entgegenstehender Evidenzen) auf. Durch seine moralische Kritik von philosophischen Hintergrundüberzeugungen möchte Margalit einen solchen ideologischen oder häretischen »Starrsinn« angreifen. Die Ungewißheit der Evidenz: Für die einen bedeutet sie kulturelle Befangenheit und Relativität, die letztliche Ungewißheit des vermeindich als gewiß Gewußten; für die anderen heißt sie, die Evidenz als unwankendes Fundament des Wissens zu erkennen oder sie zur Kultivierung der Tugend einzusetzen. Evidenz ist in einer Kultur wohl immer beides: Beweis für die Geltung der jeweiligen kulturellen Wissensbestände, Normen und Werte und zugleich der Hintergrund für jene, nämlich die Gewißheit, daß etwas ein Beweis für etwas ist oder als eine Norm oder als ein Wert anerkannt wird. Evidenz ist Grund von Uberzeugungen und doch auch dasjenige, was das Lebenselement dieser Überzeugungen ausmacht. Sie ist Bestandteil der Kultur und zugleich deren Grundlage.

Potsdam, im Juni 1998

Matthias Kröß Gary Smith

11

WUNDER UND

BEWEIS IM

FRÜHNEUZEITLICHEN EUROPA von Lorraine Oaston

E s ist ein Gemeinplatz, daß jede Tatsache zu einem Beweis werden kann. Sobald man Tatsachen in einen Argumentationszusammenhang stellt, aus einer Theorie ableitet oder auch nur in einem Schema anordnet, verlieren sie ihre sprichwördiche Starrheit und erweisen sich als äußerst brauchbar, wo immer es etwas zu beweisen oder zu widerlegen gilt. Trotzdem sind die Kategorien »Tatsache« und »Beweis« auch im modernen Sprachgebrauch deudich voneinander abgegrenzt. Für sich betrachtet, gelten Tatsachen als notorisch träge und unbeweglich, als »sperrig«, »widerspenstig« oder sogar als »heimtückisch«, da sie sich allen Interpretationen und Schlußfolgerungen entziehen. Sie sind von zäher Beschaffenheit, und ihre Bedeutung bleibt unklar. Erst wenn sie in den Dienst einer Behauptung oder Mutmaßung gestellt werden, können sie zu Beweisen oder zu bedeutungsvollenen Tatsachen werden. Ein Beweis kann als eine Reihe von Tatsachen definiert werden, die gleichsam in

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Wegweiser eingeschrieben sind und über sich selbst und ihre nackte, rohe Gegenständlichkeit hinaus auf Sachverhalte verweisen, zu denen wir keinen direkten, unmittelbaren Zugang haben: Spuren eines Verbrechens, für das es keine Zeugen gibt; Beobachtungen, durch die Theorien über die Beschaffenheit des Sonnensystems oder über die Funktionsweise des Gehirns überprüft werden können; Uberreste einer vor Jahrmillionen zerstörten Kultur; Zeichen, aus denen sich die Zukunft vorhersagen läßt. Tatsachen sind also den schematischen Darstellungen, zu deren Beweis sie angeführt werden, zu keiner dauerhaften Loyalität verpflichtet. Sie sind die Söldner der Argumentation, bereit, sich für jede Beweisführung aufstellen zu lassen, je nachdem, wo sie grade zu passen scheinen. Diese unkalkulierbare Selbständigkeit macht Tatsachen so wertvoll fur jene Spielart der Rationalität, die in ihnen objektive Größen sieht, der sie also für theorieunabhängig gelten. Wären Tatsachen in ein einziges Schema der Beweisführung gleichsam eingefroren oder wären sie erstarrte, nur in Richtung auf eine einzige Hypothese zeigende Wegweiser, sie würden ihre Fähigkeit verlieren, wie ein Unparteiischer zwischen rivalisierenden Argumenten oder Theorien zu entscheiden. Dieser konventionellen Unterscheidung zwischen Tatsache und Beweis liegt implizit die Vermutung zugrunde, daß eine Tatsache, um als glaubwürdiger Beweis gelten zu dürfen, von allen Absichten des Menschen unberührt sein müsse. Tatsachen, die eigens zu dem Zweck geschaffen werden, etwas ganz Bestimmtes zu beweisen, werden daher aus der Beweisführung ausgeschlossen. Naturtatsachen sind also über jeden Zweifel erhaben, eben weil sie als absichtslos gelten. Doch auch von Menschen geschaffene Tatsachen können als Beweis gelten. So zählt etwa eine blutbefleckte, am Schauplatz eines Mordes aufgefundene Waffe als ein belastendes Beweisstück - es sei denn, sie wurde vorsätzlich dort deponiert, um den Verdacht auf eine bestimmte Person zu lenken. Je unbefangener ein Zeuge vor Gericht auftritt, desto glaubwürdiger wird seine Aussage - es sei denn,

der Homosexuelle sind so verschieden wie die Genitalien und die Psyche. Die Idee des Denkstils hilft uns, dies zu begreifen. Ich glaube sogar, man geht nicht zu weit, wenn man die auf den ersten Blick vielleicht paradox anmutende These aufstellt, daß die Sexualität selbst ein Produkt des psychiatrischen Denkstils ist. Die Sexualität konnte erst aufgrund einer ganz bestimmten Denkweise, die einen ganz bestimmten historischen Ursprung hat, zum Objekt psychologischer Forschung, Theoriebildung und Spekulation werden; anders formuliert: Aussagen über Sexualität erlangten Positivität, d. h. die Möglichkeit, wahr oder falsch zu sein, erst, nachdem der mit dem psychiatrischen Denkstil verbundene konzeptuelle Raum abgesteckt war. Eine unscheinbare, gleichwohl überraschende Bestätigung dieser These ergibt sich, wenn man nach dem Ursprung des Wortes »Sexualität« sucht. Das Wort »Sexualität« taucht - ebenso wie unser Begriff von Sexualität - dem Oxford English Dictionary (OED) zufolge erstmals im späten 19. Jahrhundert auf. Das OED nennt als ersten Beleg für »Sexualität«, definiert als »Besitz sexueller Kräfte oder der Fähigkeit zu sexuellen Empfindungen«, einen Satz aus J. M . Duncans Buch Diseases oj Women von 1889: » M i t der Entfernung der Eierstöcke zerstört man bei einer Frau nicht notwendigerweise auch die Sexualität.« 17 Nichts könnte meine These besser veranschaulichen, daß die Sexualität ein Gegenstand ist, der vom anatomischen Denken über Krankheiten wohl unterschieden werden muß. Die Sexualität einer Frau läßt sich nicht auf Fakten über ihren Fortpflanzungsapparat oder auf dessen Vorhandensein reduzieren, und nachdem man dies verstanden hatte, bedurfte es einer Konzeptualisierung der Sexualität, die es erlaubte, gleichsam unabhängig von jenen anatomischen Fakten über sie zu sprechen. Der psychiatrische Denkstil machte ein solches Sprechen in der Medizin möglich - er ermöglichte Aussagen wie die von Duncan. 17

Artikel Sexuality. In: Oxford English Dictionary, Bd. 15, Oxford 2 I 9 8 9 , S. 116. lOJ

ritisi T)as .Auftauchen der Sexualität Auch wenn Michel Foucault gegen Ende des ersten Bandes seiner Histoire de la sexualité das Gegenteil behauptet, bin ich der Meinung, daß es von entscheidender epistemologischer Wichtigkeit ist, zwischen Geschlecht [50c] und Sexualität [sexuality] sorgfältig zu unterscheiden, wobei »sex« vom OED definiert wird als »eine der beiden Einteilungen [divisions] organischer Wesen, die als männlich bzw. weiblich unterschieden werden«; ein Beispiel für diesen Sprachgebrauch ist die Aussage in Crookes Buch Body of Man von I 6 I 5 : » W e n n wir [...] die Ausbildung beider Geschlechter [soc«] betrachten, so wird das männliche im Mutterleib [...] früher vollendet.« Das OED gibt noch eine andere Definition von »sex«, die im Grunde nur eine Spezifizierung der ersten ist: »Die Gesamtheit der Unterschiede in Bau und Funktion der Fortpflanzungsorgane, durch die Wesen als männlich und weiblich bestimmt werden, und der anderen physiologischen Unterschiede, die sich aus diesen ergeben.« Ein Beleg für diesen Sprachgebrauch stammt aus einem 1 9 1 2 erschienenen Buch von H . G. Wells über die Ehe: » Ü b e r drei fundamentale Dinge [...] müssen wir den jungen Menschen alles sagen, was wir wissen; das erste ist Gott [...] und das dritte ist das Geschlecht [sec].« Diese Wortbedeutungen sind eng mit dem Verb to sex verbunden, dessen Definition im OED lautet: »das Geschlecht durch anatomische Untersuchung bestimmen.« 1 8 Obwohl ein enger Zusammenhang zwischen ihnen besteht, interessieren mich hier in erster Linie die Konzepte Sexualität und Geschlecht und weniger die W ö r t e r »Sexualität« und »Geschlecht«. Ein gutes Beispiel dafür, daß dasselbe Wort dazu verwendet werden kann, zwei ganz und gar unterschiedliche Konzepte auszudrücken, bietet der einzige mir bekannte Fall, in dem der Begriff der Sexualität mit der Biologie statt mit der Psychologie verknüpft wird. Die Stelle findet sich in Bucks Handbook of Mtdical Science von 1888: »Gemäß einer streng biologischen Definition ist 18

Artikel Sex. In: Oxford English Dictionary, a. a. O., S. I 0 7 f .

106

Arnold

I. "Davidson

β,

Sexualität das Merkmal der männlichen und weiblichen Fortpflanzungselemente (Geschlechtszellen) und Geschlecht das Merkmal der Individuen, in denen die Fortpflanzungselemente entstehen. Ein Mensch hat ein Geschlecht, ein Spertmatozoon hat Sexualität.« 19 Diese Aussage ist so bizarr, daß es einem die Sprache verschlagen könnte. Kann ein Spermatozoon heterosexuell, homosexuell oder bisexuell sein? Kann es unter einer devianten, unter einer abnorm gesteigerten oder verminderten Sexualität leiden? Kann es masochistische, sadistische oder fetischistische sexuelle Wünsche haben? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht Ja und nicht Nein, denn solche Fragen gewinnen ihren Sinn erst innerhalb eines psychiatrischen Denkstils, der sich auf ein Spermatozoon nicht anwenden läßt. Wir verstehen ganz einfach die These nicht, daß der Mensch ein Geschlecht, das Spermatozoon aber Sexualität habe, denn außerhalb des psychiatrischen Denkstils gibt es so etwas wie Sexualität gar nicht. In ihrer Verschrobenheit und Unbegreiflichkeit bietet Bucks These ein gutes Beispiel dafür, wie bestimmte Konzepte durch bestimmte Denkstile hervorgebracht werden, dafür, wie wir die Sexualität denken und wie wir zwischen Geschlecht und Sexualität unterscheiden. Bei der Suche nach dem Ursprung unseres Konzepts von Sexualität tun wir gut daran, Oscar Wildes Einsicht zu beherzigen, daß nur seichte Menschen nicht nach dem äußeren Schein urteilen. Wir sollten das Wort »Sexualität« dort untersuchen, wo es gebraucht wird, d. h. in den Sätzen, in denen »Sexualität« auftaucht, und wir sollten darauf achten, was die Menschen, die solche Sätze verwenden, mit ihnen tun. Meistens, zumindest dann, wenn wir es mit einem epistemologischen Bruch zu tun haben, werden wir feststellen, daß das untersuchte Konzept in eine systematische Beziehung zu anderen sehr spezifischen Konzepten tritt und daß es in ganz bestimmten Arten von Sätzen regelmäßige, weil oft wieder19

Ebd., S. 116.

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,fl 'Das Auftauchen der Sexualität holte Funktionen erfüllt. W i r sollten nicht versuchen, hinter die Ebene der äußeren Erscheinungen zu gehen und irgendeine subtile hermeneutische Rekonstruktion zu entwerfen, die der Oberfläche der Sätze keine oder zu wenig Beachtung schenkt. Ich könnte meine These auch so formulieren: Sexualität ist ein Wittgensteinscher Gegenstand, und vor dem Aufkommen des psychiatrischen Denkstils konnte niemand die grammatischen Kriterien für den Umgang mit diesem Gegenstand kennen. M i t anderen Worten, vorher gab es für uns keinen Gegenstand, dem wir den Namen »Sexualität« hätten beilegen können. M i r ist bewußt, daß ich hier eine sehr massive, der Intuition und aller Selbstverständlichkeit zuwiderlaufende These vertrete. Deshalb möchte ich an dieser Stelle versuchen, sie plausibler zu machen. Dazu werde ich einige Aspekte von Leo Steinbergs brillantem Buch The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion erörtern. 2 Obwohl ich mich fast ausschließlich auf eine konzeptuelle Unzulänglichkeit in Steinbergs Darstellung konzentrieren werde, möchte ich damit doch keinen Moment lang die große Leistung eines Buches schmälern, das die Grenzen eines einzelnen Faches überschreitet und Fragen aufwirft, die den Leser weit über das Gebiet der Kunstgeschichte hinausführen. Steinbergs Buch verdient höchstes Interesse, und die Provokationen, die von ihm ausgehen, sind ein sicheres Indiz für die Vorzüge, die es besitzt. Sein Titel müßte uns jedoch nachdenklich stimmen, denn gemäß der These, die ich eben aufgestellt habe, kann es in der Renaissance so etwas wie die Sexualität einer Person, Christus eingeschlossen, gar nicht gegeben haben. Eine genaue Lektüre zeigt auch unmißverständlich, daß dieses Buch nicht von Christi Sexualität, sondern von Christi Geschlecht handelt, von der Darstellung seiner Genitalien in der Renaissancekunst. Steinbergs

Leo Steinberg: The Sexuality of Christ in Renaissance Art ani in Modern N e w York 1 9 8 3 ( i m folgenden abgekürzt SC). 20

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Oblivion,

Arnold I. ^Davidson ». Argumentation setzt sogar voraus, daß die Gemälde, die er untersucht, Christi Geschlecht, die Tatsache seines Geschlechts zum Thema haben. Steinberg nimmt an, daß diese Christusdarstellungen durch die zentrale Bedeutung, die der Inkarnationstheologie beigemessen wurde, motiviert sind, daß die Darstellung des Penis beim kindlichen oder erwachsenen Christus dem M y sterium der Inkarnation sichtbare Realität verleiht. Damit Christus die Menschheit durch seinen Tod erlösen konnte, mußte er in jeder Hinsicht Mensch und Mann sein, und diese Renaissancebilder stellen ihn als solchen dar: »Die Darstellung des leibhaftigen Christus als eines Wesens aus Fleisch und Blut ist ein religiöses Unterfangen, weil sie von Gottes größter Leistung zeugt. Dies muß das Motiv sein, das den Renaissancekünstler dazu bringt, in seine Darstellung des Christuskindes Elemente aufzunehmen, die man aus Schicklichkeitserwägungen wohl beiseite lassen würde etwa die Exhibition oder Manipulation der Genitalien des Knaben.« (SC, S. 10) An anderer Stelle schreibt Steinberg kurz und bündig: »Der Vorweis von Christi Geschlechtsglied verbürgt die Menschwerdung Gottes.« Das Dogma der Inkarnation setzt voraus, daß Christus »sowohl sterblich als auch mit einem Geschlecht ausgestattet [sexed] ist« (5C, S. 13), und jene Künstler lassen uns durch anatomische Prüfung sehen, daß er tatsächlich mit einem Geschlecht ausgestattet ist. Für Christi Sexualität besagt diese Argumentation nichts. Dem anatomischen Nachweis von Christi Geschlecht, der Darstellung seines Penis, entsprechen auch die aus der Renaissance zahlreich überlieferten Erörterungen und Predigten über die Beschneidung Christi und, worauf André Chastel aufmerksam gemacht hat, die Reliquie der Vorhaut, die sogenannte Beschneidungsreliquie, die 1527 beim sacco di Roma (Plünderung Roms) aus dem Allerheiligsten des Lateran gestohlen wurde. Auch in dieser Tradition geht es immer wieder um das Geschlecht, aber nie um Sexualität. An einer Stelle seiner Besprechung von Steinbergs Buch kritisiert Chastel »eine unzulässige Überzog

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Auftauchen

der

Sexualität

tragung einer zeitgenössischen Konzeption auf die Beschreibung von Verhältnissen im 15. und 16. Jahrhundert.« 21 Aber die auffälligste und folgenreichste Übertragung dieser Art, die Chastel übersehen hat, findet schon im Titel des Buches statt. Gewiß, man könnte sagen, Steinberg sei in der Wortwahl ein wenig unbekümmert gewesen, im übrigen jedoch habe diese Wahl keine tieferen Konsequenzen, denn er meint ganz offensichtlich das »Geschlecht« - gleichgültig welche Wörter er verwendet. Aber die (sei es fahrlässige, sei es mit Vorbedacht getroffene) Wahl des Wortes »Sexualität« verdeckt einen bedeutsamen Zusammenhang, den man allzu leicht übersieht. Die gleichsam automatische und unvermittelte Anwedung scheinbar zeitloser Konzepte erlaubt es und drängt uns manchmal dazu, irreführende, historisch unangemessene Analogien und Schlüsse aus einer konzeptuell unhaltbaren Perspektive zu ziehen. Deshalb möchte ich hier auf einige Darstellungen von Geschlecht einerseits und Sexualität andererseits näher eingehen, um die radikalen Unterschiede zwischen ihnen deutlich zu machen. Die bildliche Darstellung des Geschlechts erfolgt durch die Abbildung des Körpers und insbesondere der Genitalien. Die bildliche Darstellung der Sexualität erfolgt durch die Abbildung der Persönlichkeit, meist in Form einer Wiedergabe des Gesichts und seines Ausdrucks. Die Abbildungen I bis 4, die alle in Steinbergs Buch enthalten sind, stellen Christi Geschlecht dar, indem sie die Aufmerksamkeit ausdrücklich auf seine Genitalien lenken. Abbildung I zeigt die hl. Anna, wie sie die Genitalien Christi mit den Fingern berührt, während Maria und Joseph zuschauen. Das Werk als ganzes hat nichts Skandalöses oder Blasphemisches an sich, und ich glaube, Steinberg hat recht, wenn er den Griff der hl. Anna nach Christi Genitalien als »greifbaren Beweis« von »Gottes Abstieg in die Menschlichkeit« (SC, S. 8) deutet.

André Chastel: A Long-Suppressed Episode. Leo Steinberg: The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion (Rezension). In: New York Review of Books 2 2 (November 1984), S. 2 5 Anm. 2. 21

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Man beachte, daß das Profil Christi kaum sichtbar ist, daß sein Gesicht, das er Maria zugewendet hat, kein hervorstechendes, bedeutsames Element des Holzschnitts ist. Die ausführliche Hartnäckigkeit, mit der manche Leute das Offensichtliche leugnen, ist bemerkenswert. In einer Besprechung schreibt ein Kunsthistoriker über Steinbergs Deutung des Holzschnitts von Baidung: »Die Geste [der hl. Anna] ist zumindest insofern mehrdeutig, als sich die Finger durchaus auch hinter dem Penis befinden können und ihn dabei gar nicht berühren. In Anbetracht der Tatsache, daß die anderen Finger dieser Hand sein Knie umfassen, ist dies die wahrscheinlichste Deutung. [...] Wenn sie [Baidungs Zeitgenossen, Α. I. D.] zunächst tatsächlich geglaubt haben sollten, die hl. Anna streichele den Penis Christi, werden sie gewiß noch einmal genauer hingesehen und geprüft haben, ob nicht auch eine andere, weniger abenteuerliche Deutung möglich ist. Ihnen wird dann nicht nur die Haltung der anderen Finger aufgefallen sein, sondern auch, daß ihre andere Hand unter dem Rücken des Kindes liegt und daß sie sich nach vorn beugt, um es von ihrer Tochter zu übernehmen. Es ist dies ein bekanntes Thema; und sobald wir es erkennen, sehen wir auch, daß die mehrdeutig piazierte Hand die Genitalien überhaupt nicht berühren kann. Baidungs Komposition ist ein wenig sonderbar, aber sie stellt kein Thema dar, das in der europäischen Kunst einmalig wäre.«22 Auch wenn in dieser Schilderung eingeräumt wird, daß Baidungs Komposition »ein wenig sonderbar« ist, zeigt sich in ihr ein Kritiker, der die »moderne Vergessenheit«, die Steinberg im Titel seines Buches anspricht, geradezu exemplarisch verkörpert. Zunächst einmal ist Steinbergs Deutung nicht im geringsten »abenteuerlich«, wenn man sie in den Zusammenhang seiner Deutung von Dutzenden anderer Gemälde stellt und die anderen 245 Abbildungen in seinem Buch betrachtet. Zum anderen ist die alternative Deu-

22

C h a r l e s H o p e : Ostentatio Cenitalium ( R e z e n s i o n ) . In: London Review of Books v o m 1 5 . N o v . 1 9 8 4 , S. 2 0 .

III

jírnold I. T)avidson jjv. tung, derzufolge sich »die Finger durchaus auch hinter dem Penis befinden können«, die dadurch zur »wahrscheinlichsten« erhoben wird, daß »die anderen Finger dieser Hand sein Knie umfassen«, ganz und gar nicht wahrscheinlich. Wenn die Finger der heiligen Anna tatsächlich Christi Knie umfassen würden, wäre es natürlicher, wenn ihr Daumen gestreckt wäre, was er nicht ist, und wenn ihr Handgelenk stärker zu ihrem Körper hin gebogen wäre. Außerdem, und dies ist das Wichtigste, ist die Position der linken Hand mehr als nur ein wenig sonderbar, wenn die hl. Anna tatsächlich Christus aus Marias Armen nehmen wollte. Wenn die stützende rechte Hand tatsächlich hebt, ist die Haltung der anderen Hand völlig unmotiviert. Die alternative Interpretation besagt, daß die linke Hand mithebt - aber mit diesem Griff würde man allenfalls die linke Hüfte oder das Knie des Kindes drücken oder verschieben. Die historische Gelehrsamkeit von Steinbergs Bildinterpretationen geht nicht zu Lasten seines Scharfblicks. Abbildung 2, ein Gemälde von Paolo Veronese, zeigt (im Uhrzeigersinn) Maria, den hl. Joseph, den hl. Johannes, die hl. Barbara und das Jesuskind in der Mitte. Das zentrale Motiv des Bildes ist Jesu Selbstberührung, ein Thema, das auch auf vielen anderen Renaissancebildern erscheint. Steinberg bezeichnet das Jesuskind auf diesem Gemälde zwar beiläufig als ein »zufriedenes Baby«, aber der Ausdruck auf dem Gesicht des Kindes ist doch eher zurückgenommen und grenzt an Ausdruckslosigkeit. »Zufriedenheit« scheint hier vor allem in einem Mangel an Unruhe zu bestehen. Das zweite zentrale Motiv des Bildes ist der hl. Johannes, der den Fuß des Kindes küßt. Es gibt eine lange Tradition christlicher Exegese und Deutung, in der Kopf und Füße das Götdiche und das Menschliche repräsentieren. Wenn also der hl. Johannes Jesu Fuß küßt, so lenkt er die Aufmerksamkeit ebenso auf sein Menschsein, wie es die Selbstberührung des Kindes tut. Unterstrichen wird dies noch durch die Blicke aller Beteiligten (keiner sieht Jesus ins Gesicht) und dadurch, daß der obere Teil seines Körpers -

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Sexualität

Abb. 2 - Paolo Veronese: Die heilige Familie mit ier heiligen Anna und dem Johannesknaben, ca. 1560.

anders als der untere - im Schatten liegt. Obendrein ist »Füße«, wie Steinberg an anderer Stelle erläutert, ein geläufiger biblischer Euphemismus für Geschlechtsteile - der hl. Hieronymus spricht von der »Dirne, die jedem Vorübergehenden ihre Füße öffnet« (5C, S. 144 sowie den gesamten Exkurs 18). Abbildung 3 zeigt eines von drei Gemälden von Marten van Heemskerck, die Christus als mystischen Schmerzensmann darstellen. Alle drei, von den anderen Bildern, die Steinberg diskutiert, ganz zu schweigen, stellen sehr deutlich eine phallische Erektion dar. Obwohl wir eine Erektion gewöhnlich als Verweis auf Sexualität, auf wachsendes Begehren, deuten, läßt sich eine solche Gleichung hier nicht finden. Der Symbolgehalt der Erektion ist ein ganz anderer. Steinberg spekuliert, und zwar durchaus nicht abenteuerlich, daß die Erektion auf diesen Gemälden der Resurgí4

Arnold I. 'Davidson

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Abb. 3 - Marten van Heemskerck: Schmerzinsmann, ca. 1525-30 (Detail).

rektion, der Auferstehung, gleichgesetzt werden könnte: »Wenn die Wahrheit der Inkarnation durch die Abtötung des Penis bewiesen wurde, könnte dann nicht die Wahrheit der Anastasis, der Auferstehung, durch seine Erektion erwiesen werden? Wäre dies nicht der beste Kraftbeweis des Körpers?« (5C, S. 91) Zu welchem Schluß man in bezug auf diese Bilder auch kommen mag - nach einem Ausdruck von Sexualität sucht man auf ihnen jedenfalls vergebens. »J

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der Sexualität

Abb. 4 - David Kindt: Beweinung, I 6 3 I .

Die Abbildung 4 zeigt den toten Christus mit einer H a n d in der Leistengegend. Dieses Motiv wirft zahlreiche Deutungsprobleme auf, die Steinberg ausführlich diskutiert (siehe SC, Exkurs 38). Für unseren Zusammenhang genügt jedoch der Hinweis, daß ein Toter keine Sexualität haben kann, auch wenn es sich bei diesem Toten um Christus handelt, der durch eine Geste der linken H a n d sein Geschlecht, seine Menschlichkeit zur Schau stellt. Ich möchte mit der Wiedergabe dieses Bildes zeigt, daß es sich, wie alle anderen von Steinberg angeführten ikonographischen Belege, ohne Rückgriff auf die Idee der Sexualität vollständig deuten läßt. M i t einem Rückgriff auf die Sexualität würde man das, was es darstellt, sogar gründlich verfehlen. Man vergleiche nun diese Darstellung mit einigen Illustrationen aus psychiatrischen Abhandlungen des 19. Jahrhunderts. 23 Abbildung 5 stammt aus einem Aufsatz des ungarischen Kinderarztes Lindner, den Freud in der zweiten sein e r Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie z i t i e r t u n d d i s k u t i e r t . 2 4

Das zentrale Motiv der Zeichnung ist die dargestellte Beziehung zwischen Daumenlutschen und genitaler Stimula23

Einen nützlichen Überblick über die Ikonographie des Wahnsinns gibt Sander L. Gilman: Seeing the Insane, N e w York 2 1 9 9 6 . 24

S. Lindner: Das Saugen an den Fingern, Lippen etc. bei den Kindern. (Ludein.). Eine Studie. In: Jahrbuch für Kinderheilkunde und physische Erziehung, N . F. 14 ( 1 8 9 7 ) , S. 68; siehe S i g m u n d Freud: Lhei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5, F r a n k f u r t 5 I 9 7 2 , S. 8 0 f .

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Arnold I. "Davidson ir

A b b . 5 - I l l u s t r a t i o n aus S. L i n d n e r : Das Saugen an den Fingern, Lippen etc. bei den Kindern. (Ludein.). Eine Studie, 1 8 7 9 .

tion, die eine der wesentlichen Komponenten der kindlichen Sexualität vor Augen führen soll. Der linke Oberarm sowie die linke Schulter und die rechte Hand des Mädchens stoßen auf der Zeichnung in einer Weise aneinander, die auf eine einzige, zusammenhängende, sogar kontinuierliche Bewegung hinweist, durch die Daumenlutschen und genitale Manipulation miteinander verbunden werden. Die Zeichnung demonstriert, worauf auch Freud hinweist, daß Sexualität und Genitalität nicht verwechselt werden dürfen und daß die Sexualität mehr umfaßt als die Tatsache des eigenen Geschlechts oder Genitals. Was mag Lindner dazu bewogen tiy

^Das ^Auftauchen der Sexualität haben, seinem Aufsatz diese Zeichnung beizugeben? Eines sichtbaren Beweises für das Geschlecht des kleinen M ä d chens bedarf es nicht. W i r haben es nicht mit einem Hermaphroditen zu tun. Daß wir ein weibliches Kind vor uns haben, steht außer Zweifel. Aber wie konnte Lindner seinen skeptischen pädiatrischen Kollegen die Tatsachen der kindlichen Sexualität demonstrieren? M i t diesem Problem hat es die Zeichnung zu tun. Sie verbindet gleichsam durch einen Beweis per Augenschein die psychologische Lust und Befriedigung beim Daumenlutschen mit der Befriedigung, die sich aus der genitalen Stimulation gewinnen läßt. Es gibt keine plausible Erklärung dieser Zeichnung, die sich nicht auf die Psychologie der Sexualität, im Unterschied zur Geschlechtsanatomie, stützten würde. Der Gesichtsausdruck des M ä d chens weist vielleicht auf Zufriedenheit hin (eindeutig ist das nicht zu bestimmen), aber vor allem läßt er Zerstreutheit und Selbstversunkenheit erkennen. Der Blick begegnet dem unseren nicht; das Unbestimmte in der Blickrichtung drückt die Versenkung in das eigene Tun aus. Diese Selbstversunkenheit veranschaulicht auf eine subtile Weise auch einen weiteren Aspekt der infantilen Sexualität - der psychiatrische Denkstil nennt ihn »Autoerotismus«. Abbildung 6 ist für meinen Zusammenhang die interessanteste. Es ist die einzige Darstellung von sexueller Perversion unter den fünfundfünzig Photographien in Shaws Physiognomy of Mental Diseases and Degeneracy: »Der hier dargestellte junge Taubstumme [...] unterliegt einer milden Form von sexueller Perversion, die zur Folge hat, daß er sich, außer unter Zwang, weigert, Männerkleidung zu tragen. Sein Gesicht läßt Effemination erkennen, und seine hängenden Schultern unterstreichen diesen Eindruck. Es kommt vor, daß Männer, die unter sexuellen Perversionen leiden, wie Frauen aussehen, und umgekehrt.«25 Es steht außer Frage, daß diese Ähnlichkeit sich auf die Sexualität bezieht und nicht auf das Geschlecht. In den Vorlieben, Triebregungen, W ü n James Shaw: The Physiognomy S. 4 5 . 25

of Mental Diseases and Degeneracy, Bristol 1903,

118

Arnold I. "Davidson

ßi

Abb. 6 - Sexuelle Perversion mit Taubstummheit. Illustration aus James Shaw: The Physiognomy of Mental Diseases and Degeneracy, 1 9 0 3 .

sehen, Gemütslagen usw. des Perversen kommt eine weibliche Sexualität zum Ausdruck, die in der Effemination seines Gesichts besonders anschaulich wird. Eine Feststellung wie die von Duncan, daß die Entfernung der Eierstöcke nicht notwendigerweise auch die Sexualität einer Frau zerstöre, trennt die Sexualität vom Geschlecht und ist damit »9

"Das ^Auftauchen der Sexualität Teil eines konzeptuellen Raumes, der es möglich machte, daß Männer eine weibliche Sexualität zeigten und umgekehrt eines Raumes, in dem Spielarten von Sexualität möglich waren, die dem Geschlecht des jeweiligen Individuums nicht entsprachen. Ich möchte noch einmal kurz auf Steinberg zurückkommen und einen möglichen Einwand gegen meine Ausführungen vorwegnehmen, ohne ihn hier vollständig zu entkräften. Es gibt im Christentum eine lange Tradition von Erörterungen über die Unberührtheit und Keuschheit Christi, eine Tradition, die sich in zahlreichen Predigten der Renaissance bekundet und von der man glauben könnte, daß sie sich ausdrücklich auf Christi Sexualität und nicht bloß auf sein Geschlecht bezieht. W i e soll man Keuschheit ohne Bezug auf Sexualität überhaupt begreifen? Doch Keuschheit ist, wie Steinberg hervorhebt, physiologische Potenz, die unter Kontrolle gehalten wird; sie ist ein Triumph des Willens über das Fleisch, und exemplarisch wird sie als die willentliche Enthaltsamkeit angesichts der physiologischen Möglichkeit sexueller Aktivität (SC, S. 17 und Exkurs 15). Im Hinblick auf ein Gemälde des Andrea del Sarto stellt Steinberg fest, daß der Maler »das steifere Glied des Christuskindes in einen Kontrast zu dem des hl. Johannes bringt - eine Differenzierung, die auf den wahrscheinlichsten Grund fur dieses Motiv hindeutet: Es zeigt schon beim Kind jene physiologische Potenz, ohne die die Keuschheit des Mannes nicht zählen würde.« (SC, S. 7 9 ) Keuschheit und Unberührtheit sind moralische Kategorien, die eine Beziehung zwischen dem Willen und dem Fleisch bezeichnen; sie sind nicht Kategorien der Sexualität. W i r neigen zwar dazu, unsere Sexualitätskategorien in ältere Moralkategorien hineinzulesen, dennoch ist eine sorgfältige Unterscheidung zwischen beiden für meine Argumentation entscheidend. Eine Vermischung beider Arten von Kategorien führt zu einem Mangel an epistemologischer und konzeptueller Differenziertheit und infiziert die Geschichtsschreibung mit dem, was der große französische Wissen120

jLrnold l. ^Davidson f schaftshistoriker Georges Canguilhem das »VorläuferVirus« genannt hat. 26 Immerfort suchen wir auf völlig anders strukturierten Gebieten nach Vorläufern unserer Kategorien von Sexualität; wir produzieren auf diese Weise bestenfalls Anachronismen, schlimmstenfalls Unbegreiflichkeit. Die Unterscheidung zwischen Moral- und Sexualitätskategorien wirft außerordentlich schwierige Probleme auf, aber ich glaube, man könnte zeigen, daß selbst die Ausführungen eines Thomas von Aquin über die Arten oder Formen der Wollust in der 154. Untersuchung im Teil II-II seiner Summa Theologica nicht als eine Erörterung über die Sexualität angesehen werden können. M a n darf nicht annehmen, daß in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts die moralische Abweichung einfach in Krankheit verwandelt worden sei. U n d was die Keuschheit angeht, so muß man sie sorgfältig von dem unterscheiden, was Richard KrafftEbing in seiner Psychopathia Sexualis als »Anaesthesia sexualis« bezeichnet: » H i e r lassen alle organischen Impulse von den Generationsorganen aus, gleichwie alle Vorstellungen, alle optischen, akustischen und olfaktorischen Sinneseindrücke das Individuum unerregt.« 2 7 Hierbei handelt es sich nicht um einen Triumph des Willens, sondern um eine Störung der Sexualität, um eine Form von Psychopathologie. Unter ihr litt Christus ganz sicher nicht. Abschließend ein weiterer bildlicher Beleg für das Aufkommen eines neuen psychiatrischen Stils bei der Darstellung von Krankheiten. Es war bis ins 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, in medizinischen Texten Hermaphroditen abzubilden (Abb. 7). Diese bedauernswerten Geschöpfe wurden mit ihrer defekten Anatomie dargestellt, wobei die pathologische Struktur ihrer Organe - für jedermann sichtbar - die Störung ihrer sexuellen Identität offenbarte. Ihr zweideutiger Status beruhte auf anatomischer ZweideutigGeorges Canguilhem: Introdtution: L'objet de l'histoire des sciences. In: ders.: Etudes d'histoire de philosophie des sciences, Paris 1983, S. 9 - 2 3 .

26

Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung ( 1 8 8 6 ) , Neudruck München 1984, S. 4 7 .

27

III

Œ)as jLtftauchen

der

Sexualität

Abb. 7 - Hermaphrodit. Illustration aus Ulisse Altrovandi: Monstrorum historia, 1642.

keit. Aber dort, wo wenige Jahrzehnte später ein neuer Denkstil zutage trat, stoßen wir auf die ganz anders geartete Ikonographie sexueller Krankheiten, auf die ich schon hingewiesen habe. Ein Beispiel für diese neue Ikonographie ist das Frontispiz, das D. M . Rozier seiner Abhandlung über die Masturbation der Frau vorangestellt hat (Abb. 8), die interessanterweise an der Schwelle des Aufkommens des HZ

Arnold I. "Davidson

β.

Abb. 8 - Onanistin. Illustration aus D. M . Rozier: Des Habitudes secretes ou des maladies produites far l'onanisme chez les femmes, Paris 3 1 8 3 0 .

psychiatrischen Denkstils veröffentlicht wurde.28 Wenn der Leser dieses Buch öffnet, sieht er vor sich das Bild einer jungen Frau. Ihr Kopf ist steif nach links geneigt, die Augen, ohne klar gerichteten Blick, sind so weit nach oben gerollt, daß man die Pupillen kaum sehen kann. Sie ist eine gewohnheitsmäßige Onanistin. Der abgebildete Teil ihres Körpers wirkt normal, aber wir können sehen, wie sich ihre 28 D. M . Rozier: Des Habitudes secrètes, ou des maladies produites par l'onanisme chez les Jemmes, Paris 3 1 8 3 0 . Ich konnte nicht ermitteln, in welcher Ausgabe dieses Frontispiz zuerst erschienen ist; in der dritten Auflage ist es jedenfalls enthalten.

!23

Das ^Auftauchen der Sexualität Psyche, ihre Persönlichkeit vor unseren Augen auflöst - ein Sinnbild psychiatrischer Störungen, das von den anatomischen Darstellungen ihrer Vorgängerinnen weit entfernt ist. *

*

Da es mehr Fälle gibt, die meine Überlegungen in Frage zu stellen scheinen, als ich hier diskutieren kann, möchte ich an einem weiteren Beispiel, und zwar an einem Dokument aus dem 17. Jahrhundert, zeigen, wie ich meine These angesichts scheinbarer historischer Gegenbeispiele verteidigen würde. Den Ausgangspunkt bildet ein Gespräch zwischen Foucault und einigen Mitgliedern der Abteilung Psychoanaylse an der Universität Paris/Vincennes, das nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Foucaults Historie de la sexualité stattfand. Gegen Ende dieses Gesprächs stellt Alain Grosrichard folgende Frage: »Grosrichard: Gilt das, was Du von den Perversionen gesagt hast, auch für den Sadomasochismus? Von den Leuten, die sich um der Lust willen geißeln, ist schon seit langer Zeit die Rede [...]. Foucault: Hör mal, das ist ziemlich schwer zu sagen. Hast Du Dokumente? Crosrichard: Ja. Es existiert eine Abhandlung De l'usage du fouet dans les choses de Vénus ( Über den Gebrauch der Geißel in den Dingen der Venus), die von einem Arzt geschrieben wurde, so um 1 6 6 5 glaube ich, und einen recht vollständigen Katalog von Fällen enthält.« 2 9 Foucault behauptet sodann, die Lust an Rutenschlägen sei im 17. Jahrhundert nicht als Krankheit des Sexualtriebs eingestuft worden. Dann läßt man das Thema fallen - meiner Meinung nach zu rasch, so daß nicht deutlich wird, worum es hier wirklich geht: Foucault wollte seine Darstellung der Perversion ursprünglich im fünften Band seiner Histoire de la

Michel Foucault: Ein Spiel um die Psychoanalyse. In: ders.: Dispositive der Macht. Uber Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. I 6 2 f .

29

I24

.Arnold J. ^Davidson sexualité entwickeln, der den Titel Perverse tragen sollte. Aber wenig später überarbeitete er den Themenplan für seine Geschichte der Sexualität und hat seine Thesen zur Perversion später nicht mehr historisch detailliert ausgearbeitet. Die Geschichte des Auftauchens der Sexualität muß, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versuchte, 30 durch die Geschichte des Auftauchens der Perversion als einer Krankheitskategorie ergänzt werden. Genauer gesagt: unsere Erfahrung von Sexualität bildete sich in der gleichen Zeit heraus, in der die Perversion als jene Art von Abweichung entstand, durch welche die Sexualität ständig bedroht wird. Ich habe nicht nur behauptet, daß es unser medizinisches Konzept der Perversion vor der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht gab, sondern darüber hinaus auch, daß es, ehe dieses Konzept aufkam, auch keine Perversen gab. Das Aufkommen eines Konzepts (»Perversion«) führt zum Auftauchen eines bestimmten Typus (des »Perversen«) - ein Vorgang, den Ian Hacking als »dynamischen Nominalismus« bezeichnet hat. Er vertritt die Auffassung, daß in vielen Bereichen der Human Wissenschaften »Kategorien für Menschen zur gleichen Zeit entstehen, wie Menschen in Erscheinung treten, die in diese Kategorien passen, und daß es eine Wechselwirkung zwischen diesen Prozessen gibt.« Der Begriff »dynamischer Nominalismus« weist darauf hin, inwiefern »die Geschichte einen wesentlichen Anteil an der Konstituierung der Objekte hat, wobei die Objekte hier die Menschen und ihre Verhaltensweisen sind«, denn die Humanwissenschaften »erzeugen neue Kategorien, die mitunter ihrerseits neue Arten von Menschen erzeugen.« 31 Hacking nennt in diesem Zusammenhang den Begriff der multiplen Persönlichkeit und führt andere Beispiele aus der Geschichte der Statistik

3 0 Arnold

I, Davidson: Closing Up the Corpses. Diseases of Sexuality and the Emergence of the Psychiatric Style of Reasoning. In: Edwin Wallace und J. Gach (Hgg.): Handhookfor the History of Psychiatry (in Vorbereitung).

Ian Hacking: Five Parables. In: Richard Rorty, Jerome B. Schneewind und Quentin Skinner ( H g g . ) : Philosophy in History: Essays on the Historiography of Philosophy, Cambridge 1984, S. 122 und 124. 31

lz5

Φ- T)as Auftauchen der Sexualität an. 32 Der Perverse und die Geschichte der Perversion sind ein weiteres Beispiel dafür, wie Menschen »zurecht gemacht« oder »stilisiert« werden. Eine andere als unsere Erfahrung von Sexualität gibt es auf dem Gebiet der Sexualität nicht, und diese Erfahrung wurde entscheidend und vor gar nicht langer Zeit durch einen Komplex von Konzepten und Kategorien, unter ihnen auch »Perversion«, und einen hiermit verbundenen Denkstil geformt. Da das von Grosrichard aufgeworfene Problem ein guter Testfall für meine These ist, möchte ich auf die von ihm erwähnte Abhandlung näher eingehen. Im Jahre 1 6 2 9 (nach einigen Quellen auch 1 6 3 9 ) schrieb Johann Heinrich M e i b o m oder Meibomius, »ein Arzt aus Lübeck«, einen kurzen Tractatum deflagrorum usu in re venera & lumborum venumque officio - oder wie der deutsche Titel einer Ubersetzung aus dem 19. Jahrhundert lautet: Die Nützlichkeit der Geißelhiebe in den Vergnügungen der Ehe; sowie in der ärztlichen Praxis und die Verrichtungen der Lenden und Nieren.33 Diese Untersuchung beginnt mit einem Katalog von Beispielen für Geißelungen, die in keiner Beziehung zur Sexualität stehen. Meibom erklärt, Rutenhiebe seien zur Heilung von Melancholie und Wahnsinn verwendet worden, sowie dazu, »schmächtigen Personen [...] zum Embonpoint [also zu mehr Leibesfülle] zu verhelfen«, dazu, erschlaffte Gliedmaßen zu kräftigen, den Ausbruch von Blattern bei KinSiehe Ian Hacking: The Invention of Split Personalities. In: Alan Donagan, Anthony N. Perovich, Jr. und Michael V Wedin (Hgg.): Human Nature and Natural Knowledge, Dordrecht 1986, S. 6 3 - 8 5 , und Ian Hacking: Making Up People. In: T h o m a s C. Heller, M o r t o n Sosna und David E. Wellbery (Hgg.): Reconstructing Individualism: Autonomy, Individuality, and the Self in Western Thought, Stanford, Cal. 1986, S. 2 2 2 - 2 3 6 . In dem letztgenannten Aufsatz schreibt Hacking mir die Theorie vom dynamischen Nominalismus zu, und zwar aufgrund meines Aufsatzes Closing Up the Corpses, a. a. O. 32

Zwei verschiedene deutsche Ubersetzungen sind nebeneinander erschienen in: Der Schatzgräber in den literarischen und bildlichen Seltenheiten, Sonderbarkeiten etc. hauptsächlich des deutschen Mittelalters. Hrsg. von Johann Scheible, Stuttgart 1 8 4 7 ( i m folgenden abgekürzt NC). Die hier zitierte ausführlichere Obersetzung von Scheible wurde nach einer lateinischen Vorlage und einer französischen Übertragung (a. a. O., S. 2 9 3 f f . ) angefertigt. 33

IZÓ

Arnold J. 'Davidson βί dern zu beschleunigen und auch als Mittel gegen Verstopfung. Nach der Aufzählung dieser Fälle, die er für unstrittig hält, wendet er sich einer These zu, die er nicht für unumstritten hält und deshalb ausfuhrlich diskutiert: »Gewisse Personen können den Beischlaf nicht eher vollziehen, bis sie durch Rutenhiebe aufgestachelt worden sind. Diese seltsame Zeremonie facht das Feuer Wollust in ihnen dermaßen an, daß sie schäumen [...].« (NG, S. 310) Er belegt dieses Phänomen mit Zeugnissen anderer Arzte und durch eigene medizinische Erfahrungen. Hier einer der von ihm angeführten Fälle - »unter meinen Augen kürzlich in Lübeck vorgekommen«: »Ein Butter- und Käsehändler dieser Stadt [...] war mehrerer Verbrechen, unter diesen auch des Ehebruchs, angeklagt, und nach ihm gemachtem Prozesse des Landes verwiesen worden. Ein Freudenmädchen, mit der er lange Zeit verkehrt hatte, sagte nun vor Gerichte aus, daß der Angeklagte zur Zeugung ganz untüchtig sei, wenn er nicht vorher mit Ruten gepeitscht würde, und daß sie, wenn er seinen Zweck erreichen wollte, die Operation mehrfach wiederholen und die Dosis stets verdoppeln mußte.« (NG, S. 316) Nachdem Meibom nachgewiesen hat, daß es solche Fälle tatsächlich gibt, macht er sich daran, »den Grund einer scheinbar so unglaublichen Handlungsweise zu erforschen.« Er erörtert die Möglichkeit einer astrologischen Erklärung: »Fragt man die Astrologen, so suchen sie die Ursache in der Einwirkung der Gestirne, in einer besonderen Beschaffenheit des Himmels, oder geben [...] den bei der Empfängnis eines Menschen vorherrschenden Planeten Venus als die Ursache an, wenn dessen Strahlen gerade im Gegenschein mit einem anderen Stern sich befinden.« (NG, S. 3 1 7 ) Doch hiergegen wendet er sogleich ein, es werde niemanden überzeugen, »daß der Himmel und die Sterne [die doch allgemeine Ursachen sind] auf gewisse Individuen eine besondere Wirkung ausüben.« Sodann untersucht er die Erklärung durch den Faktor der Gewöhnung, die Idee, daß solche sonderbaren und ungewöhnliche Handlungen auf

iiy

Œ)as jíttftaueben

der

Sexualität

lasterhafte Praktiken in der Kindheit zurückgehen könnten. Aber auch diese Erklärung wird verworfen, weil nicht alle, die sich in jungen Jahren an solchen Praktiken beteiligen, gewohnheitsmäßig auch im Alter damit fortfahren: »Die Folgen und Untugenden einer Gewohnheit sind dieselben, es müßte also jedes Individuum, das sich ihr einmal ergab, sie fortsetzen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß jene obgedachten mit diesem Laster behafteten Personen schon als Knaben sich prostituiert haben sollten; indem sie sich von Lüsten, die sie noch nicht kannten, eine schwache Vorstellung verschaffen wollten.« (NG, S. 319) Die beste Erklärung für diese sonderbaren Fälle findet man nach Meibom, wenn man die Physiologie der Lenden und Nieren näher untersucht. Nachdem er die anatomischen Beziehungen zwischen Lenden und Nieren, Samenkanälen, Venen und Hoden ausführlich erörtert und auch bestimmt hat, wie alle diese Teile zusammenwirken, »um den Samen zu verarbeiten und das Zeugungsgeschäft zu vervollkommnen« (NG, S. 322), erklärt er: »Ich hoffe nun, zur Genüge bewiesen zu haben, daß die Geißelung auf Rücken und Lenden am meisten zur Wiederbelebung eines ermatteten Geschlechtstriebs beiträgt. Es kann daher nicht mehr befremden, daß Leute, welche in ihren Ausschweifungen sich tiefer als das Vieh erniedrigt haben, in jener schmerzhaften Operation ein Mittel gegen die Erschöpfung und Schwächung der Nieren, gegen die Einbußen sämtlicher Kräfte suchen; [...] wahrscheinlich bewirkt die Geißelung in den erschlafften Gliedern eine heftige Aufregung und wollüstige Reizungen, die sich dem Samen mitteilen. Dazu kommt noch die prickelnde Empfindung der schmerzenden Glieder, wenn das Blut, verdünnt, sich nun reichlicher ergießt, die Lebensgeister aufregt, und in den Zeugungsteilen eine ungemeine Wärme verbreitet. Auf diese Art wagt der entnervte Wüstling der Natur gleichsam abzutrotzen, was sie dem Verschwender seit langem versagte, und er ist imstande, seine sträflichen Begierden über die ihm von der Natur vorgezeichneten Grenzen zu befriedigen.« (NG, S. 347) 128

jLrnoU I. ^Davidson Im nächsten Abschnitt wird das Ziel, das M e i b o m mit seinem Traktat verfolgt, deutlicher. Als Arzt hat er offenbar eine Anzahl von Männern, die anderweitig nicht imstande waren, den Zeugungsakt zu vollziehen, mit Rutenschlägen auf den Rücken behandelt. Dieses Mittel scheinen Kollegen und Laien fur fragwürdig gehalten zu haben. Meibom räumt ein, daß einige von denen, die zu ihm kommen, möglicherweise nur durch körperliche Exzesse erschöpft seien und nach Behandlung verlangen, damit sie in ihrem wüsten Treiben fortfahren können. Er stellt jedoch denen, die seine Praxis in Frage stellen, eine Gegenfrage: » W a r u m sollte die Geißelung nicht auch als unsträfliche Handlung Berücksichtigung verdienen, wenn sie frostigen Personen ein Mittel wird, ihr Geschlecht fortzupflanzen? Hier ist das Mittel nicht bloß zu entschuldigen, sondern sogar notwendig. Die Schwäche der Zeugungsglieder würde ohne Anwendung desselben die Ehe eines solchen Mannes zwecklos machen.« (NG, S. 3 4 8 f . ) Meibom rechtfertigt seine Praxis als eine Therapie, auf die sich Arzt und Patient einlassen können, ohne daß einem von ihnen deshalb der Vorwurf eines Verbrechens gemacht werden darf. Schon aufgrund dieser Zitate könnte man argumentieren, daß Meiboms Traktat nicht zur Widerlegung meiner These taugt, die Perversion als medizinisches Phänomen tauche erst im 19. Jahrhundert auf. Bevor ich jedoch dieses Argument weiter ausführe, möchte ich daran erinnern, wie der Masochismus von der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts verstanden wurde. Dabei halten wir uns am besten an KrafftEbings Psychopathia Sexualis, denn schließlich ist Krafft-Ebing der Erfinder dieses Konzepts. Zu Beginn des Abschnitts über den Masochismus schreibt er: »Unter Masochismus verstehe ich eine eigentümliche Perversion der psychischen Vita sexualis, welche darin besteht, daß das von derselben ergriffene Individuum in seinem geschlechdichen Fühlen und Denken von der Vorstellung beherrscht wird, dem W i l len einer Person des anderen Geschlechts vollkommen und unbedingt unterworfen zu sein, von dieser Person herrisch !2 9

"Das Auftauchen der Sexualität behandelt, gedemütigt und selbst mißhandelt zu werden. Diese Vorstellung wird mit Wollust betont; der davon Ergriffene schwelgt in Phantasien, in welchen er sich Situationen dieser Art ausmalt; er trachtet oft nach Verwirklichung derselben und wird durch diese Perversion seines Geschlechtstriebes nicht selten für die normalen Reize des anderen Geschlechts mehr oder weniger unempfindlich, zu einer normalen Vita sexualis unfähig - psychisch impotent. Diese psychische Impotenz beruht dann aber durchaus nicht etwa auf einem horror sexus alterius, sondern nur darauf, daß dem perversen Triebe eine andere Befriedigung als die normale, zwar durch das Weib, aber nicht durch Koitus, adäquat ist.« 3 4 Krafft-Ebing läßt keinen Zweifel an seiner Auffassung, daß der Masochismus eine spezifische psychopathologische Störung ist, die sich in einer ganz bestimmten Weise auf die Funktionsweise des Sexualtriebs auswirkt. Der Masochismus blockiert die normale Richtung des Sexualtriebs. Dieser Trieb und das psychische Sexualleben werden auf einen abnormen Weg umgeleitet, den Krafft-Ebing durch eine Anzahl von Merkmalen kennzeichnet. Der Masochismus ist eine Form von funktionaler Abweichung des Sexualtriebs, die einen bestimmten Typus von Individuum erkennbar macht. Krafft-Ebings Welt der Sexualpathologie ist nicht einfach von Individuen bevölkert, die geschlagen werden wollen, sondern von masochistischen Individuen, einer speziellen Art von krankhaften Geschöpfen. Wollte man die verschiedenen Formen des Ausdrucks oder der Verwirklichung von Sexualität in Krafft-Ebings Universum auflisten, würde auch der Masochismus auf dieser Liste stehen. Masochistsein ist für die Psychopathia Sexualis eine Möglichkeit, sich selbst zu begreifen, eine Möglichkeit des Menschseins. Wenn wir nun noch einmal zu der Abhandlung von M e i b o m zurückkehren, so finden wir in ihr nicht den ge34

Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, a. a. O., S. I 0 4 f .

»3°

Arnold I. Davidson



ringsten Hinweis darauf, daß Menschen, die gegeißelt werden, und sei es zu Lustzwecken, an einer Krankheit oder Störung leiden könnten, die sich in dem Verlangen nach solchen Geißelungen manifestiert. Im Jahre 1 6 2 9 gab es keine Krankheit, die in der Lust am Geschlagenwerden bestanden hätte; die Idee einer solchen Krankheit konnte gar nicht konzeptualisiert werden. Es gehört zu den vielen Paradoxien der Medizingeschichte, daß man das Schlagen von Patienten und sogar den Wunsch mancher Patienten nach solchen Schlägen nicht etwa als Krankheit ansah, sondern geradezu für therapeutisch geboten und gerechtfertigt hielt. Überdies gibt es in Meiboms Schrift auch keinerlei Hinweis darauf, daß Menschen, die sich in lüsterner Absicht schlagen lassen, einen besonderen Typus von Individuen darstellen, der sich aufgrund bestimmter Persönlichkeitsmerkmale von anderen Menschen unterscheidet. Jeder kann ein Kandidat für die Therapie sein - es hängt nur davon ab, ob sich seine erschlafften Lenden nicht auf eine andere, einfachere Weise »aktivieren« lassen. Für Meibom und seine Gesprächspartner stellt sich die Frage, ob die Lustgefühle, die das Geißeln erregt, in jedem Falle moralisch verboten sind oder ob sie »unsträflich« erregt werden können. Es stellt sich hingegen nicht die Frage, ob es einen Typus von Menschen gibt, denen nur solche Schläge angemessene psychologische Befriedigung gewähren. Diese Deutung des Traktats wird durch zwei Abhandlungen gestützt, die ihm bei einem Neudruck im Jahre 1 6 9 9 beigegeben wurden. In keiner von ihnen findet sich ein Vorgriff auf Konzepte, wie sie zur Beschreibung des Phänomens Masochismus notwendig wären. Alle drei fügen sich, sofern sie nicht nach einer physiologischen Erklärung für die W i r kungen von Schlägen suchen, in die Tradition von Moralphilosophie und Moraltheologie, die sich mit dem Wesen und den verschiedenen Arten der Wollust beschäftigt. Ich kann hier auf diese Tradition nicht im einzelnen eingehen deshalb nur einige allgemeine Bemerkungen. In Buch 12 seines Gottesstaats bedient sich Augustinus des theologischen

Ψ

•:$¡¡ Tías Auftauchen der Sexualität Begriffs der »Verkehrung« [perversici], um die Taten des bösen Willens zu beschreiben. Der Wille wird »verkehrt«, wenn er von Gott abfällt, wenn er vom unwandelbaren zum wandelbaren Guten abschweift. Perversion ist hier nicht wesentlich mit Wollust verbunden, sondern bezeichnet einen Willensakt, der gegen Gott und damit gegen die Natur gerichtet ist. 35 In der 154. Untersuchung in Teil II-II seiner Summa Theologica erklärt Thomas von Aquin, daß es ein unnatürliches Laster gebe, das eine bestimmte Spielart von Wollust bildet, indem es nicht nur der wahren Vernunft widerspricht, was für alle wollüstigen Laster gilt, sondern »weil es von der natürlichen Ordnung der menschlichen Geschlechtlichkeit abweicht.« 36 Aber auch in diesem faszinierenden Versuch, verschiedene Spielarten von Wollust zu unterscheiden, ist klar, daß sich diese unterschiedlichen Formen von Wollust nicht auf verschiedene Typen von Individuen beziehen lassen; alle Menschen sind allen Formen von Wollust unterworfen, und das Prinzip, nach dem wir verschiedene Arten von Wollust unterscheiden, gestattet es nicht, zwischen verschiedenen Arten von Menschen zu unterscheiden. In der Tradition dieser Moraltheologie werden vor allem verschiedene Arten von Sünden klassifiziert, nicht so sehr verschiedene Arten von Individuen, und schon gar nicht verschiedene Arten von Störungen. Tatsächlich hat sich Krafft-Ebing sehr dafür interessiert, wie das Problem der Flagellation in Moralphilosophie und Theologie diskutiert wurde. Einen Abschnitt seiner Psychopathia Sexualis widmet er der sorgfältigen Unterscheidung zwischen der passiven Flagellation und dem Masochismus: erstere sei eine »Perversität« und insofern Gegenstand ethischer und rechtlicher Erwägungen, letztere hingegen sei eine echte Perversion und insofern ein medizinisches Phänomen: Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. Vollständige Ausgabe, eingeleitet und übertragen von W i l h e l m Thimme, Zürich 1955, Bd. 2, XII, 8, S. 74f.: Der böse Wille und die verkehrte Liebe. 35

36Thomas

von Aquin: Summa Theologica, II-II, 154. Untersuchung, I I . Artikel; dt.: Die deutsche Thomas-Ausgabe, 2 2 . Bd., Graz, Wien, Köln 1993, S. 106.

'3 2

Λmold Ι. "Davidson fi »Daß Masochismus etwas wesentlich anderes und umfassenderes sei, als die bloße Flagellation, geht aus den Mitteilungen der von dieser Perversion Ergriffenen deutlich hervor. Für den Masochisten ist die Unterwerfung unter das Weib die Hauptsache, die Mißhandlung nur ein Ausdrucksmittel für dieses Verhältnis und zwar eines der stärksten. Die Handlung hat für ihn symbolischen Wert und ist Mittel zum Zweck seelischer Befriedigung im Sinne seiner besonderen Gelüste. Der nicht masochistisch Geschwächte hingegen, der sich flageliieren läßt, sucht nur eine mechanisch vermittelte Reizung seines spinalen Zentrums.« (P5, S. 1 1 2 ) Krafft-Ebing beschreibt im folgenden die Merkmale, die den Masochisten von dem »geschwächten Wüstling«, der nach passiver Flagellation verlangt, unterscheiden, wobei die wichtigsten Merkmale psychologischer Art sind. Abschließend erklärt er, der Masochismus verhalte sich zur einfachen Flagellation ähnlich wie der invertierte Sexualtrieb zur Päderastie; beide Beziehungen seien Beispiele für den allgemeineren Gegensatz zwischen Perversion und Perversität, d. h. zwischen Krankheit und Moralverstoß. Das Phänomen des Masochismus sei, wie das der Perversion überhaupt, ein modernes Phänomen. Der Masochismus, so schreibt KrafftEbing, ohne näher darauf einzugehen, sei vor Sacher-Masoch »eine wissenschaftlich [...] noch gar nicht gekannte Perversion« gewesen (P5, S. 105). Ich möchte noch ein letztes Mal auf Meiboms Abhandlung zurückkommen. In seinem Traktat taucht das Adjektiv perverse zweimal auf.37 In beiden Fällen dient es als Ausdruck einer nicht näher bestimmten Mißbilligung. Wenn man die lexikalischen Muster von moralphilosophischen und moraltheologischen Abhandlungen und auch von medizinischen Abhandlungen aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert, die sich mit »Perversion« beschäftigen, näher untersucht, gewinnt man den Eindruck, daß der Wortstamm als Adjektiv, Im lateinischen Original und in der englischen Ubersetzung — nicht aber in der von mir benutzten deutschen Ubersetzung. Siehe Anm. 33. [A. d. Ü.] 37

'33

'Das Auftauchen der Sexualität als Adverb und auch als Verb (perverse, perversely, to pervert) sehr viel häufiger verwendet wird denn als Substantiv - perversion oder, noch seltener, pervert (Perverser). Aber über die Häufigkeitsstatistik hinaus scheint mir, daß die substantivischen Wortformen konzeptuell in der Moraltheologie eine Nebenrolle, in der Medizin des 19. Jahrhunderts jedoch eine Hauptrolle spielen. Man könnte diese These untermauern, wenn man die Verwendung dieses Wortes etwa in Augustinus' Gottesstaat untersuchen würde. Und etwa um die Zeit, da Meibom seine Abhandlung veröffendichte, war das Substantiv pervert im englischen Sprachgebrauch ein Antonym zu convert - wobei pervert den bezeichnete, der sich vom Guten dem Schlechten zuwendete, während sich der convert vom Schlechten dem Guten zuwendete. Dieser Sprachgebrauch läßt erkennen, daß das primäre Phänomen die perversen Gelüste und Handlungen des Individuums waren jemand ist ein pervert oder ein convert, je nachdem welche ethische Wahl er trifft. In Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis jedoch haben wir es mit einem Buch zu tun, das vier Charaktertypen beschreibt und geradezu konstituiert - den Homosexuellen oder Invertierten, den Sadisten, den Masochisten und den Fetischisten -, das also die inneren Merkmale eines neuen Persönlichkeitstypus entwirft, des Perversen. Krafft-Ebing betont, daß für eine korrekte Diagnose des Perversen die gesamte Persönlichkeit des Individuums in Betracht gezogen werden müsse. Immer wieder weist er darauf hin, daß eine Untersuchung der tatsächlichen sexuellen Handlungen nicht ausreicht. Statt dessen müsse man die Impulse, Empfindungen, Antriebe, Wünsche, Phantasien, Strebungen usw. untersuchen, und das Ergebnis dieser Untersuchung werde zur Abgrenzung neuer Typen von Personen führen, die sich vom gewöhnlichen heterosexuellen Individuum deutlich unterscheiden. Im Vordergrund steht der Perverse - während perverse Gelüste und Handlungen nur eine konzeptuell untergeordnete Rolle spielen. Wenn sich das konzeptuelle Augenmerk in der Psychiatrie vom perversen Gelüst auf den Per-

34

1

Arnold I. 'Davidson

:¡f,

versen verschiebt und wenn sich solche Veränderungen in den Sprachformen widerspiegeln, kann es nicht überraschen, daß die W ö r t e r »Perverser« und sogar »Perversion« nun häufiger und mit mehr Nachdruck verwendet werden. Im Zusammenhang mit dieser Schwerpunktverlagerung ist auch die Tatsache zu sehen, daß die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts die Sexualität oft als Schlüssel zum inneren Wesen eines Menschen betrachtete. Die Sexualität eines Menschen kennen heißt diesen Menschen kennen. Die Sexualität ist Entäußerung des verborgenen Kerns der Persönlichkeit. U n d wenn wir die Sexualität und damit den Menschen erkennen wollen, müssen wir die Anomalien dieser Sexualität herausfinden. Krafft-Ebing sagt das ganz deutlich. In seinem voluminösen Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage schreibt er unter dem Stichwort Anomalien des Geschlechtstriebs: »Sie sind äußerst wichtig, da von der Art und Weise des geschlechtlichen Fühlens wesentlich die geistige Individualität, speziell die Art ihres ethischen, ästhetischen und sozialen Fühlens und Strebens abhängig ist.« 3 8 Die Sexualität individualisiert, macht aus einem Menschen einen bestimmten Menschen - einen Sadisten, Masochisten, Homosexuellen, Fetischisten. Aus diesem Zusammenhang zwischen Sexualität und Individualität erklärt sich auch das leidenschaftliche Interesse, mit dem die Psychiatrie den Perversen konstituierte. Je mehr Einzelheiten wir über die Anomalien einer Perversion kennen, desto besser gelingt es uns, die verdeckte Individualität des Selbst zu durchdringen. Nur ein Psychiater konnte nach sorgfältiger Untersuchung den wirklichen Perversen als solchen erkennen; oder, genauer gesagt, gab es noch eine andere Sorte von Menschen, denen man zutraute, den wahren Perversen ausfindig zu machen, und dies sogar ohne sorgfältige Untersuchung: so als könne aufgrund einer Art von hypersensibler Wahrnehmung der Perverse seinesgleichen auf der Stelle erkennen. Natürlich

Richard Krafft-Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage, Stuttgart 1883, Bd. I, S. 8 0 .

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•i| "Das Auftauchen

der

Sexualität

wäre sehr viel mehr historisches Material erforderlich, um die konzeptuelle Verschiebung von der perversen Wahl auf den Perversen schlüssig nachzuweisen. Doch jeder, der einige der einschlägigen moraltheologischen und psychiatrischen Texte liest, wird, so glaube ich, auf das stoßen, was Foucault einmal ihre »unterschiedliche epistemologische Textur« genannt hat.39 Ein großer Teil meiner Ausführungen bezog sich auf einen Bruch zwischen verschiedenen Denkstilen innerhalb der Medizin, auf den Bruch zwischen der pathologischen Anatomie in ihren verschiedenen Formen und einem neu aufkommenden psychiatrischen Denken. Dieser Bruch bezeichnet eine Problematik innerhalb der Medizingeschichte. Meine Ausführungen sowohl über den Traktat von Meibom und die damit zusammenhängenden Fragen als auch über Steinbergs Bemerkungen über die Keuschheit Christi verweisen jedoch auf ein verwandtes, allerdings nicht mehr auf die Medizingeschichte beschränktes Problem: auf die Frage nämlich, wie sich die Medizin ein anfänglich nur benachbartes, aber nicht medizinisch strukturiertes Gebiet aneignet. Nicht, daß die Medizin die Untersuchung dessen, was einmal Teil der Morallehre war, einfach übernommen hätte; moralische Verfehlung hat sich nicht einfach in Krankheit verwandelt. Das moralische Phänomen der »Perversität« des Willens lieferte einen Bezugspunkt, der die medizinische Konstitutierung der Perversion zuleich ermöglichte und behinderte. Diese Problematik, die bisher kaum im einzelnen ausgearbeitet worden ist, betrifft die Überschreitung der »Schwelle der Wissenschaftlichkeit«. 40 Eine tragfähige Geschichte des psychiatrischen Auftauchens der Sexualität wird sich nicht nur mit den Veränderungen des Le jeu de Michel Foucault. In: Michel Foucault: Dits et écrits 1954-1988, Bd. 3: 1976-1979. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald in Zusammenarbeit mit Jacques Lagranges, Paris 1994, S. 3 2 3 . Ich beziehe mich auf den französischen Text, da die vorliegende deutsche Übersetzung die Intention an dieser Stelle nicht trifft. [A. d. Ü . ] 39

40

Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M . 1973, S 2 5 3 .

^Arnold I. ^Davidson

§

Denkstils innerhalb der Medizin beschäftigen müssen, sondern auch mit den vielfältigen Beziehungen zwischen unseren ethischen Beschreibungen sexueller Praktiken und ihren Gegenstücken in der Wissenschaft. Aus dem Amerikanischen

W

von Reinhard

Kaiser

KLARHEIT STATT

WAHRHEIT EVIDENZ UND GEWISSHEIT BEI LUDWIG WITTGENSTEIN von Matthias Kröß

In der Nikomachischeti Ethik schreibt Aristoteles, daß er ein Freund des Piaton, mehr aber noch ein Freund der Wahrheit sei.1 Ein unscheinbarer Satz auf den ersten Blick, aber wie so häufig bei den alten Griechen: auf den zweiten Blick ein Satz von großem philosophischen Gewicht. Modern, in der Sprache unserer Zeit ausgedrückt, bringt Aristoteles damit zum Ausdruck, daß er zwar im Diskurs mit seinem Freund Piaton die philosophischen Geltungs-

1 Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik, I, 4, 1 0 9 6 a 10-17. Die Untersuchung des Universellen falle deshalb schwer, »weil es Freunde von uns waren, die 'Ideen eingeführt haben. U n d doch ist es zweifellos besser, ja sogar notwendig, zur Rettung der Wahrheit sogar das zu beseitigen, was uns ans H e r z gewachsen ist, zudem wir Philosophen sind. Beides ist uns lieb, und doch ist es heilige Pflicht, der Wahrheit den Vorzug zu geben.« Übersetzung von Franz Dilmeier in Aristoteles: Werke, Bd. 6. Hrsg. von Ernst Grumach, Berlin 1956, S. 9f.

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m ¡([arbeit statt MUrkeit anspräche der von jenem vorgebrachten Argumente wohlwollend auf deren Wahrheitsgehalt hin prüfen wolle, daß er, Aristoteles, sich indes bei dieser Prüfung allein von der Wahrheit leiten lassen wolle und nicht von der Einsichtsfähigkeit der fehlbaren und kontingenten Person Piaton. Denn Wahrheitsansprüche müßten sich schließlich universal und ideell in jeder möglichen Kommunikationssituation bewähren. Piaton äußere zunächst lediglich Meinungen, die Wahrheit für sich reklamieren, es gehe in Wirklichkeit aber vielmehr darum, den Wahrheitsgehalt dieser Meinungen herauszuschälen und plausibel zu machen, damit auch jeder andere den Wahrheitsgehalt dieser Wahrheit erkennen und damit von der Wahrheit dieser Wahrheit überzeugt sein könne. S o plausibel, ja evident diese Überlegung auch klingen mag - in Wirklichkeit führt sie mitten hinein in eines der kompliziertesten Probleme der abendländischen Philosophiegeschichte, an dem sich von jeher die Geister geschieden haben: nämlich an der Idee von der universalen Geltung von Wahrheit. Seit der Antike hat es nicht an Einwänden gegen diese Idee gemangelt, und je raffinierter und elaborierter die Verteidigungsstrategien der Anwälte der Wahrheit ausfielen, desto gewitzter wurden auch die Skeptiker. M a n kann diese Einwände, die vor allem der Bestreitung der These dienen, daß die Wahrheit der Wahrheit ausgewiesen und angemessen begründet werden könnte, unter dem Sammelnamen des »skeptischen Arguments« zusammenfassen. Unter Vernachlässigung wichtiger Differenzierungen lassen sich die Argumente des Skeptikers in drei Gruppen darstellen: Wenn jemand die Wahrheit einer Aussage über die Wahrheit von Aussagen behauptet, dann vermag er die Wahrheit dieses Wahrheitsanspruches ( I ) nur um den Preis eines infiniten Regresses oder ( 2 ) einer petitio principii oder ( 3 ) des Abbruchs der Argumentation im Sinne eines dezisionistischen, willkürlichen Aktes zu behaupten.

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Matthias Kröß

ßi

Diese Argumente des Skeptikers sind ebenso schlicht wie schlagend. Der erste Einwand ist unmittelbar einleuchtend; jede Wahrheitsbehauptung verlangt angesichts der jederzeit möglichen Begründungsfrage eine weitere Wahrheitsbehauptung zu deren Abstützung und so fort bis ins Unendliche. Jede Wahrheitsbehauptung setzt also etwas voraus, was sie nicht einholen kann. Der zweite Einwand ist ebenso evident. Selbst erkenntnistheoretische Optimisten wie Wolfgang Stegmüller müssen dies einräumen. Stegmüller schreibt gleichsam zähneknirschend: »Die Annahme jeder wie immer gearteten Theorie setzt eine nicht-skeptische Einstellung bereits voraus. Jeder Versuch der 'Uberwindung der Skepsis' ist daher zirkulär.« 2 Jede Wahrheitsbehauptung, können wir folgern, setzt etwas als uneinholbar voraus, damit sie es nicht einzuholen braucht, obwohl sie es eigentlich sollte. Das dritte Argument ist komplizierter und für die gegenwärtig geführten Kontroversen über die Letztbegründbarkeit von entscheidender Bedeutung. Denn an ihm scheiden sich in der Tat die Geister, sagen wir, um Namen für die Extrempositionen anzuführen, von Karl-Otto Apels Schule auf der einen und die des derzeit vielgescholtenen Richard Rorty auf der anderen Seite. Apel versucht den Abbruch des Argumentierens in einen begründungslogischen Zirkel einmünden zu lassen, gleichsam in eine argumentative Unendlichschleife, die monoton folgende Überlegung repetiert: Jeder, der die Geltung von Wahrheit bestreite, verwickle sich unrettbar in einen peiformativen Selbstwiderspruch. Denn er behaupte, zunächst vielleicht implizit, auf Rückfrage jedoch auch explizit, daß zumindest der die Wahrheitsgeltung negierende Satz selber Wahrheit für sich beanspruche. Der Satz »Es gibt keine Wahrheit« enthalte nämlich die Präsupposition, also die logische Voraussetzung oder Vorannahme, daß Sätze überhaupt Wahrheit beanspruchen dürfen, und sei es nur, indem sie die Wahrheitsfähigkeit von

Wolfgang Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, 2., verbesserte Aufl. Berlin etc. 1969, S. 3 9 8 f .

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Sätzen bestreiten. Damit aber entwaffne sich der Skeptiker selbst: Er behaupte, was er bestreitet, nämlich daß es wahre Sätze geben könne. In diesem Paradox gefangen, müsse der Skeptiker schließlich an seinem Selbstwiderspruch verzweifeln und die Seite wechseln, wenn er noch weiter in der Diskussion über das Problem der Wahrheit mitspielen will. Doch wird ein solches begründungslogisches SkeptikerBekämpfungsmittel den Skeptiker kaum beeindrucken. Wohl ist leicht einzusehen, daß der Satz: »Es gibt keine Wahrheit« in einen sprachpragmatischen Selbstwiderspruch fuhrt. Ein gewitzter epistemologischer Skeptiker wie Richard Rorty allerdings wird Apel darauf hinweisen, daß aus der Tatsache, sich in einen Widerspruch zu verwickeln, keineswegs zwingend folgt, daß man ihn zu vermeiden hat. Es spricht, grundsätzlich betrachtet, gar nichts dagegen, es sich in diesem gleichsam gemütlich einzurichten und mit ihm weiterzuleben - es sei denn, man ist der Uberzeugung, daß ein Verkehrsteilnehmer nur deshalb die Verkehrsregeln einhält, weil in ihnen eine Vorschrift existiert, welche den Verkehrsteilnehmern deren Einhaltung vorschreibt.3 Daß die Logik so nicht funktioniert, ja nicht funktionieren kann, liegt philosophisch auf der Hand. Denn die Behauptung der Verbindlichkeit logischer Operationen reicht noch nicht hin, ihre Geltung zu belegen. Aus der Aufstellung von Regeln oder Vorschriften folgt eben noch nicht deren automatische Befolgung. Aus der Behauptung einer Wahrheit folgt nicht deren Zutreffen, ebensowenig wie aus der Äußerung eines Befehls dessen Ausführung folgt. Offen-

Siehe aus der Vielzahl von Schriften Karl-Otto Apels zum Thema: Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik. In: Bernulf Kanitscheider (Hg.): Sprache und Erkenntnis. Festschriftßir G. Frey, Innsbruck 1976, S. 5 5 - 8 2 ; La razionalità della comunicazione umana nella prospettiva trascendentalpragmatica. In: Humerto Curi (Hg.): La comunicazione umana, M a i l a n d 1985, S. 1 5 8 - 1 7 6 , sowie: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Ubergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M . 1988. Z u Rorty siehe sein Konzingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1992, bes. S. 3 0 5 ff., sowie grundlegend Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M . I 9 8 I , bes. S. 3 8 7 f f . 3

1/f.l

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"Kröß

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kundig bedarf es einer Instanz oder, schonungsloser gesprochen, einer Gewalt der Sanktionierung, welche die Ordnung gegebenenfalls auch gegen den Widerstand der Beteiligten durchsetzt. Arbeitet die Apelsche Philosophie der Letztbegründung nicht wie eine Art Argumentationspolizei, die bei Strafe des Ausschlusses vom philosophischen Gespräch die Geltung von Apels Schlußfolgerungen durchsetzt? Die Kritiker eines letztbegründbaren Wahrheitsbegriffes von Nietzsche bis zu Michel Foucault und Richard Rorty haben in der Tat auf den Gewaltcharakter des Letztbegründens hingewiesen und klargelegt, daß jede Philosophie der Wahrheit auf Größen zurückgreifen muß, die jenseits der Wahrheit liegen. Nietzsche diagnostizierte einen despotischen »Willen zur Wahrheit«, der die Epistemologie regiere4; Foucault erkennt in der Wahrheitsproduktion ein bloßes Dispositiv der Macht. 5 Doch leider vermögen auch solche Versuche, das Problem zu hintergehen, letztlich nicht aus dem begründungslogischen Dilemma herauszuführen. Denn sie bleiben noch gebunden an das, wogegen sie sich wenden. Sie lösen das Problem der Letztbegründung, indem sie die Begründungsschraube noch um eine weitere Umdrehung anziehen und ein altes durch ein neues Rätsel ersetzen. So führt Nietzsche die metaphysische Instanz eines »Willen zur Macht« ein, um seine Genealogie des Wahrheitsbegriffes zu stützen; Foucault spricht in Anknüpfung an Nietzsche von »Dispositiven der Macht«, die einen vergleichbaren, transzen-

Siehe Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra II: Von dir Selist-Ueberwindung. In: ders.: Kritische Studienausgabe (KSAj, Bd. 4. Hrsg. von Giorgio Colli und M a z z i n o Montinari, München, Berlin, N e w York 3 I 9 9 3 , S. I48f.; Jenseits von Gut uni Böse, 2 1 1 : Wir Gelehrten. In: KSA, Bd. 5, S. 145: »Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber, sie sagen 'so soll es sein!' [...] Ihr 'Erkennen' ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr W i l l e zur Wahrheit ist - Willi zur Macht. - Giebt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muß es nicht solche Philosophen geben?....«

4

Siehe ζ. B. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, 2., erweiterte Auflage Frankfurt a. M . I 9 9 I . 5

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i , Kjarkeit statt^Yakrbeit dentalen Status wie der » W i l l e zur Macht« besitzen. 6 » W i l l e « oder »Dispositiv« der Macht - in beiden Fällen fungiert die Macht als jener erste Beweger, der den Logos antreibt und die Verschiedenartigkeit historischer Welten erzeugt, und der selbst doch unbewegt bleibt. Für eine Lösung des Wahrheits- und Begründungsproblems scheinen solche Erklärungsansätze unzureichend, welche zwar die Perspektive der Betrachtung, keineswegs aber die philosophische Lage verändern. Offenkundig kann das logische Begründungsdilemma nicht gelöst werden, indem es durch den Verweis auf außerlogische Instanzen, die dieser Logik nicht zugänglich sein sollen, sondern umgekehrt diese Logik steuern, einfach umgangen wird. Solche Instanzen erweisen sich nämlich letztlich als ebenso metaphysisch letztinstanzlich und wenig zwingend wie die Berufung auf die Letztinstanzlichkeit der Logik selbst. WITTGENSTEINS LÖSUNG DES WAHRHEITSPROBLEMS DURCH DAS KONZEPT DER KLARHEIT

Es war der eigendiche Geniestreich Wittgensteins, aus dieser Pattsituation zwischen den Advokaten eines universalistischen Wahrheitsbegriffes und seinen Kritikern einen radikalen Ausweg gefunden zu haben. Wittgensteins Grundüberlegung ist ebenso verblüffend wie einfach: Die Lösung des philosophischen Begründungs- und Wahrheitsdilemmas kann nur in der Auf-Lösung dieses Problems bestehen. Denn: Ein aufgelöstes Problem ist eben keines mehr. Uber einen weggenommenen Stein kann man nicht stolpern. Der Schlüsselbegriff für dieses Verfahren des Verschwinden-Lassens von philosophischen Problemen ist in Wittgensteins Werk der Ausdruck »Klären«, und Ziel dieses Klärens ist folglich die Erlangung von »Klarheit«. Dieser Ausdruck findet sich bei

Siehe dazu die intensive Diskussion bei T h o m a s Schäfer: Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik, Frankfurt a. M . 1995. 6

¡44

Matthias Τζτοβ A> Wittgenstein in allen Phasen seines Philosophierens; er ist gleichsam das Scharnier, um das sich seine Gedanken sowohl in der Frühphilosophie wie auch nach der Wiederaufnahme des Philosophierens nach mehrjährigem Schweigen gedreht haben. So heißt es beispielsweise im Vorwort zum Traktat aus dem Jahre 1919: » W a s sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen.« Im Text des Traktates selbst taucht der Begriff der »Klarheit« ebenfalls an zahlreichen, höchst aufschlußreichen Stellen auf. So heißt es etwa über die Rolle der Philosophie: »Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung von Gedanken. Das Resultat der Philosophie sind nicht 'philosophische Sätze', sondern das Klarwerden von Sätzen. Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.« 7 In der Philosophischen Grammatik, einem Werk aus der Zeit des Ubergangs zu seiner sogenannten Spätphilosophie, formuliert Wittgenstein diesen Gedanken folgendermaßen: »Die Aufgabe der Philosophie ist nicht, eine neue, ideale Sprache zu schaffen, sondern den Sprachgebrauch unserer Sprache - der bestehenden - zu klären. Ihr Zweck ist es, besondere Mißverständnisse zu beseitigen; nicht, etwa, ein eigentliches Verständnis erst zu schaffen.« 8 U n d in den Philosophischen Untersuchungen, dem erst nach dem Tode Wittgensteins erschienen Hauptwerk der Spätphilosophie, wird dieses Anliegen folgendermaßen formuliert: » [ D ] i e Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen. Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. - Die die Philosophie zur Ruhe bringt, sodaß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen.« 9 7 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. In: ders.: Schriften, Bd. I, Frankfurt a. M . 1967, 4 . 1 1 2 ( i m folgenden abgekürzt T).

Ludwig Wittgenstein: Philosophische Grammatik. Hrsg. von Rush Rhees (= Schriften, Bd. 4), Frankfurt a. M . 1969, S. 1 1 5 ( i m folgenden abgekürzt PC). 8

Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: ders.: Schriften, Bd. I, Frankfurt a. M . 1967, § 133 ( i m folgenden abgekürzt PhU). 9

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#i Klarheit statt^Wahrheit Vollkommene Klarheit als Vorbedingung für das Verschwinden, also fiir die Auflösung philosophischer Probleme - diese Formel des Wittgensteinschen Lösungsvorschlags, so radikal er auch mit der traditionellen Philosophie bricht, darf durchaus in der Tradition der Philosophie gesehen werden. Sie bezeichnet jene gewißheitsstiftende Evidenz des SoSeins, die insbesondere von Descartes mit der Formel der perceptio clara et distincta bezeichnet wurde. Und man geht gewiß nicht fehl, wenn man die Wittgensteinsche Pathosformel von der Klarheit als Selbstzweck bis auf den Piaton des Höhlengleichnisses, auf das lumen fidei oder das lumen naturale späterer Zeiten zurückfuhrt. Wittgenstein war eingestandenermaßen ein großer Verehrer Piatons, des Augustinus und der mittelalterlichen Mystiker. In Wittgensteins Begriff der »Klarheit« schwingt auch ein Rest der Ideen der »Auf-KIärung«, des Enlightenment, mit. Kants große Fragen danach, was man wissen könne, tun solle und hoffen dürfe, waren ihm ein so radikales Anliegen, daß er, wie es der so schwer verständliche Traktat zeigt, eher bereit war, völlig unverstanden zu bleiben, als dem Leser auch nur um ein Haarbreit entgegenzukommen. Doch im Gegensatz zur philosophischen Tradition spielt bei Wittgenstein der Begriff der Wahrheit für diese Evidenz keine Rolle. Der frühe Wittgenstein (der späte ebenfalls, wenn auch in anderer Art und Weise) verfolgt vielmehr eine ethische Intention, wenn es ihm um diese Klarheit geht. » W i e kann ich«, schreibt er an seinen Freund Bertrand Russell, »die Probleme der Logik lösen, ohne ein anständiger Mensch zu sein?« 10 U n d in einem späteren Brief heißt es, alles müsse so klar sein wie eine »Watschen«. 1 1 Der gesamte Text des Traktates 10 Siehe dazu die Darstellung von Brian McGuinness: Wittgensleins frühe Jahre, Frankflirt a. M . 1988, S. 2 5 3 . 11 Siehe Ludwig Wittgenstein: Briefe. Briefwechsel mit B. Russell, C. E. Moore, J. M. Keynes, F. P. Ramsey, W. Eccles, Ρ Engelmann und L. von Ficker. Hrsg. von B. F. M c Guinness und G. H . von Wright, Frankfurt a. M . 1980, S. 8 7 ( i m folgenden abgekürzt B).

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Matthias 'Kröß ßi erscheint in der Tat wie eine Abfolge von solchen » W a t schen« für den Leser: » Z u einer Antwort, die man nicht aussprechen kann«, heißt es, »kann man auch die Frage nicht aussprechen. Das Rätsel gibt es nicht. [...] Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist dies nicht der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand).« (Γ, 6 . 5 - 6 . 5 2 1 ) Denn die erreichte »Klarheit« bedeutet immer das endgültige Verschwinden des Problems, über das Unklarheit bestanden hatte. Der Augenblick der »Lösung« ist gleichsam ein Ubersprung in die Evidenz und in diesem Sinne das genaue Gegenteil jener ursprungslogischen Vermittlung, welche die Wahrheit solcher Evidenz ans Licht zu bringen sucht. Wittgenstein hat nicht gezögert, den Gedanken der » L ö sung« als Auflösung von Problemen und der Evidenzstiftung als Ubersprung konsequent auf den philosophischen Gehalt des Traktates selbst anzuwenden. Aus dieser Radikalität leitet sich auch jener ebenso berühmte wie berüchtigte Satz des Traktates ab, daß die »richtige Methode der Philosophie eigentlich die wäre, Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft.« Die Stoßrichtung ist unmißverständlich: Da »Klarheit« nur wissenschaftlichen Sätzen eignen kann, sind Sätze der Philosophie nur dazu da, diesen Tatbestand immer wieder zu verdeutlichen. Ein nicht nur auf den ersten Blick seltsames Ergebnis; Wittgenstein fügt denn auch hinzu, daß diese »Methode für den anderen unbefriedigend wäre«, denn »er hätte nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten.« (Γ, 6 . 5 3 ) Doch eben dies will Wittgenstein auch gar nicht. Vielmehr gilt fur ihn: » M e i n e Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er über sie hinausgestiegen ist). Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.« (Γ, 6 . 5 4 )

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statt^Wahrheit

Im Akt des Klarwerdens lösen sich die philosophischen Probleme also in der Evidenz der »richtigen Weltsicht« gleichsam von selbst auf. Deshalb ist, konsequent zu Ende gedacht, ein sinnvolles Sprechen über das Problem der philosophischen Wahrheit gar nicht möglich. Liest man den Text des Traktates von seinem Schluß aus, so wird diese Überlegung plausibel: Dort spricht Wittgenstein wohl davon, daß ihm die Wahrheit der im Traktat mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv scheine. Zugleich äußert er die Meinung, die (philosophischen) Probleme im wesentlichen gelöst zu haben. Direkt im Anschluß daran heißt es jedoch: » U n d wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit [...] darin, daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind.« Zwischen einer Gewißheit der Wahrheit, mit welcher sich die philosophischen Probleme lösen, und der Wahrheit der Gewißheit besteht für Wittgenstein also ein asymmetrisches Verhältnis: Wohl weiß er sich der Wahrheit seines Werkes gewiß, keineswegs aber kann er die Wahrheit dieser Gewißheit mithilfe irgendeiner Begründung nachweisen. Vielmehr kann sich diese Wahrheit allenfalls zeigen. Die mit dem Traktrat anvisierte philosophische Wahrheit fällt mit jener Klarheit an der Grenze der Darstellung in eins, an welcher das Unaussprechliche sich jeder fundierenden Wahrheit entledigt so läßt sich laut Wittgenstein das Problem des Skeptizismus »lösen« im Sinne des Auf~lösens. Wittgensteins Bemerkung zum Skeptizismus fällt in der Sache ganz einfach, nämlich evident aus, ist freilich in der Formulierung nicht ganz glücklich geraten: »Skeptizismus ist nicht unwiderleglich, sondern offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln will, wo nicht gefragt werden kann. - Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.« (Γ, 6 . 5 1 ) Unglücklich formuliert erscheint dieser Passus deshalb, weil im ersten Teilsatz fer negationem unterstellt wird, daß Skeptizismus »widerleglich« sei, während die folgenden 148

Matthias 'Kröß

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Satzteile eine solche »Widerlegung« gar nicht leisten; vielmehr unterlaufen sie das Problem der Skepsis durch die Klarstellung der Unsinnigkeit seiner Exposition: Jeder Versuch einer Widerlegung geriete unter denselben U n sinnigkeitsverdacht wie der skeptische Standpunkt selbst. Die eigentliche »Lösung« des skeptischen Problems, das macht der zitierte Abschnitt hinreichend deutlich, besteht also - analog der Lösung philosophischer Probleme überhaupt - nicht in dem Versuch des Zum-Verschwinden-iringens des Problems, wie es Apel mit seiner T h e s e von der Strafgewalt des performativen Selbstwiderspruchs behauptet, sondern im bereits erfolgten Verschwunden-Sews dieses Problems, darin, daß die Unlösbarkeit des Problems aufgewiesen, also »klar gemacht« worden ist. Denn gegenüber der Gewißheit des Klar-Seins, die sich der in Satz 6 . 5 4 erwähnten Leiter entledigt hat, mit deren Hilfe sie allererst erreicht worden ist, kann der Zweifel gar nicht als ein methodisches Prinzip des Weltbezuges der Menschen ins Spiel gebracht werden. D e r Preis fur eine solche Lösung sowohl des Wahrheitswie auch des skeptischen Problems durch deren endgültige Auflösung scheint allerdings recht hoch. Zwar wird mit dem Begriff der Gewißheit als Ausgangs- und Endpunkt der Klärungsarbeit eine endgültige Antwort auf ein Kernproblem der abendländischen Philosophie gegeben, im Ergebnis allerdings fallen Gewißheit und Schweigen-Müssen in eins. Die Gewißheit, die Wittgenstein erreicht, ist eine, die sich nicht mehr aussprechen läßt, die kein Weitersprechen mehr zuläßt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« ( Γ , 7 ) Für den Autoren des Traktates war dieses Ergebnis durchaus ein begrüßenwertes Resultat - begriff er doch die Aufgabe des Philosophierens dann als gelöst, wenn er das Philosophieren aufgeben, es also zum Verschwinden bringen konnte. Gerade diese Wendung, die Wittgenstein in seinem Vorwort bereits ankündigt und am Ende seines Buches einlöst, legt die Vermutung eines religiösen Grundmotivs in

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# Klarheit statt Mahrheit dem Traktat überzeugend nahe. In der Tat begreift er seine Lösung philosophischer Probleme als eine Er~Lösung von ihnen. Dieses Erlöst-Sein besitzt die Qualität der Gewißheitsstiftung, wenn auch - im Gegensatz zur evangelisierenden Gewißheit des heiligen Wortes - allein im Modus der Un-Mitteilbarkeit. Für uns, die wir das philosophische Erlösungsbedürfnis Wittgensteins wohl respektieren, aber nicht unbedingt teilen müssen, kann dieses Ende des Traktates letztlich nicht befriedigen. Denn das Versinken in Schweigen mag wohl die unto mystica eines mit der Welt verschmolzenen Ich bedeuten, dem das So-Sein der Welt sub specie aeternitatis evident ist, allerdings bleibt diese Evidenz in ihrer Ineffabilität, in ihrer Nichtmitteilbarkeit, letztlich abstrakt-solipsistisch. Doch handelt es sich bei den Problemen, die für mich verschwinden, nicht um Probleme, die gleichsam solipsistisch gestellt werden, vielmehr ergeben sich diese stets in historisch-konkreten Kontexten. Man könnte von einem Problemhorizont 12 D a ß die Auseinandersetzung mit Glaubensfragen für den jungen Wittgenstein ein zentrales Anliegen war, haben für den frühen Wittgenstein u. a. Paul Engelmann: Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen, Wien, München 1970, sowie Allan Janik und Stephen Toulmin: Wittgensteins Wien, München 1984, S. 2 5 7 u. ö., gegen die positivistische Wittgenstein-Rezeption deutlich gemacht. Dieser Aspekt ist auch von W i l h e l m Baum in verschiedenen Aufsätzen betont worden, siehe vor allem: Ludwig Wittgenstein und die Religion. In: Philosophisches Jahrbuch 8 6 ( 1 9 7 9 ) , S. 2 7 2 - 2 9 9 . Ahnlich Jacques Bouveresse: Poesie und Prosa. Wittgenstein über Wissenschaft, Ethik und Ästhetik, Düsseldorf und Bonn 1994, S. I 0 9 f f . Bertrand Russell, einer der engsten Jugendfreunde, fand in dem aus der Gefangenschaft heimgekehrten Wittgenstein einen »complete mystic«, der die Absicht äußerte, Mönch zu werden (Brief an Lady Ottoline vom 2 0 . 1 2 . 1 9 1 9 , zitiert nach B, S. 101). Wittgenstein wurde jedoch nicht Mönch, sondern Volksschullehrer in Niederösterreich. Nach seiner Ubersiedlung nach Cambridge 1 9 2 9 setzte er seine Auseinandersetzung mit religiösen Fragen fort (siehe jetzt insbesondere die »späten Tagebücher«, abgedruckt in: Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932, 1936-1937, 2 Bde. Hrsg. von Ilse Somavilla, Innsbruck 1 9 9 7 ) . Neben der intensiven Lektüre klassischer religiöser Autoren wie Augustinus, T h o m a s von Aquin oder Luther finden sich Mystiker des Mittelalters (Johannes vom Kreuz, T h o m a s von Kempten), moderne Autoren wie Kierkegaard und Pascal ebenso wie die Schriften Karl Barths (siehe Baum: Ludwig Wittgenstein und die Religion, a. a. O., bes. S. 2 8 I f f ! ) . Die Bedeutung des religiösen Motivs belegt jetzt auch Regine M ü n z : Religion als Beispiel. Sprache und Methode bei Ludwig Wittgenstein in theologischer Perspektive, Düsseldorf, Bonn 1 9 9 7 .

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Matthias Ί(τοβ sprechen, in dem sie erst ihre Bedeutung gewinnen. Abgelöst von diesem Horizont jedoch verlieren sie ihre Relevanz. Sie kreisen um einen sterilen Solipsismus des Verstummens, der nicht nur die Lösung von Problemen, sondern das Problem selbst in sein unaussprechliches Zentrum hineinzieht. M a n könne, bemerkte Ramsey einmal lapidar über den traktarianischen Mystizismus der Ineffabilität, das Unaussprechliche schließlich auch nicht pfeifen. 13 WITTGENSTEINS SPÄTPHILOSOPHIE: GEWISSHEIT ALS »SO HANDLE ICH EBEN«

Bekanntlich hat Wittgenstein nach knapp einem Jahrzehnt philosophischen Schweigens selber einen Ausweg aus der von ihm erreichten Evidenz der Ineffabilität gefunden. M i t den von ihm entwickelten neuen Begriffen wie denen des »Sprachspiels«, der »Lebensform« und vor allem mit Hilfe der bekannten Gebrauchstheorie der Wortbedeutung eröffnete sich ihm ein völlig neuer Analysehorizont. Sein zentrales Anliegen hingegen ist gleich geblieben. » W a s kann uns glauben machen«, fragt sich Wittgenstein beispielsweise in der bereits zitierten Philosophischen Grammatik, »es bestehe eine Art Übereinstimmung zwischen Gedanken und Wirklichkeit?« Der » I r r t u m « des Traktate, so Wittgenstein weiter, habe darin bestanden, die Universalität der Übereinstimmung zwischen Sprache, als dem Ausdruck der Gedanken, und Wirklichkeit, welche die Wahrheitsfähigkeit von Sätzen begründen könnte, anzunehmen, also die korrekte Repräsentation von Tatsachen als an eine von allen Inhalten der Repräsentation ablösbare Form zu betrachten (siehe PG, S. 2 1 2 ) . W i r d diese Form umgekehrt nun als ein Moment eines jeweils inhaltlichen, d.h. konkreten Sprachgeschehens betrachtet, dann löst sich das Problem, mit welchen sprachlichen Mitteln die Wirklichkeit mit der Sprache

13 Frank P. Ramsey: Allgemeine Sätze und Kausalität. In: ders.: Grundlagen. Abbandlungen zur Philosophie, Logik, Mathematik und Wirtschaftswissenschaft, Stuttgart 1980, S. 116.

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4k 'Klarheit statt'Mahrheit in Übereinstimmung zu bringen sei, schlicht auf. Alle Sätze nämlich haben im Akt ihrer Äußerung, wenn auch jeweils auf unterschiedliche Weise, bereits einen Bezug zur W i r k lichkeit hergestellt. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen. Zunächst ein Pluralitätspostulat: Auf Grund der bereits immer schon bestehenden Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit ergibt sich eine Irreduzibilität der Unterschiedlichkeit der Abbildungen von Wirklichkeit in Sätzen. Sätze sagen nicht dasselbe, sondern, selbst in ihrer Uniformität, stets je Unterschiedliches. Sprechen bedeutet in diesem Sinne Handeln auf immer unterschiedlichem Gebiet. Zugleich muß diese Pluralität des Sprachhandelns als Grundlage für die philosophischen Betrachtung anerkannt werden. Die Philosophie stellt daher keinen direkten Bezug zur Wirklichkeit als etwas Außersprachlichem her, sondern bezieht sich immer schon auf eine sprachlich vermittelte Wirklichkeit. Daraus folgt weiterhin, daß die philosophischen Fragen nach der Beziehung zwischen Wirklichkeit und Sprache in Wirklichkeit nur innerhalb der Sprache ausgetragen werden können. Folglich kann philosophisch auch keine sinnvolle Auseinandersetzung über die Sprache selbst ausgetragen werden. Die Sprache ist philosophisch eben deshalb unhintergehbar, weil es außer ihr keine Instanz gibt, um die Beziehung zwischen Sprache und Welt zu klären, weil es, mit anderen Worten, keine Hinterwelt hinter der Sprach-Welt gibt. Die Welt ist in der Sprache stets vollständig präsent Hiermit ist das Postulat von der Sprachimmanenz formuliert, das den Kern der Selbstkritik Wittgensteins ausmacht, die er an seiner Frühschrift, dem Traktat, übt. In den Philosophischen Untersuchungen heißt es über den Traktat, daß in ihm das Denken, die Sprache als das einzigartige Korrelat, Bild, der Welt erschienen seien. Die Begriffe: Satz, Sprache, Denken, Welt, hätten im Text des Traktates gleichsam in einer Reihe hintereinander gestanden, jeder dem andern äquivalent. Dagegen wendet der Wittgenstein der Spätphilosophie polemisch ein: » W o z u aber sind diese W ö r t e r nun zu brauchen?

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Matthias Ίζτοβ 0» Es fehlt das Sprachspiel, worin sie anzuwenden sind.« Der Traktat, so Wittgenstein weiter, sei noch unter der Voraussetzung formuliert, daß er das unvergleichliche Wesen der Sprache zu begreifen getrachtet habe und eine » Uber-Ordnung zwischen - sozusagen - Uber-Begriffen« (PbU', § 96f.) habe errichten wollen. Da es aber aufgrund des Pluralitätspostulats keine solche »Uber-Ordnung« geben kann, welche die Beziehung zwischen Gedanken über die Welt und die Welt selbst zu klären vermag, kann es für den Wittgenstein der Spätphilosophie auch nicht länger jene absolute Klarheit der Gewißheit geben, gleichsam jene »Über-Gewißheit« der richtigen Weltsicht, die mit dem Schweigen zusammenfällt. Eine universalisierte Bestimmung dessen, was unter »Gewißheit« zu verstehen ist, erscheint gradezu widersinnig. Im Gegenteil: Nunmehr muß der Ausdruck »Gewißheit« selber als Bestandteil eines Sprachspiels betrachtet werden, denn er reicht über die Sprache, in der er verwendet wird, nicht hinaus. Im Verlaufe seiner Ausarbeitungen zu dem für ihn so zentralen Begriff der Sprachspiele tritt dabei für den späten Wittgenstein der Handlungscharakter des konkreten Sprechens und dessen anthropologischer Hintergrund immer stärker in den Mittelpunkt. Die Bedeutung von Wörtern, Sätzen und der Sprache insgesamt aus ihrem Gebrauch herzuleiten, bedeutet vor allem zu untersuchen, wie sie »in das Leben eingreifen]«, und nicht, welcher invarianten, überzeitlichen Logik sie gehorchen. Wenn »Worte [...] Taten [sind]«, wie es in einer späten Eintragung Wittgensteins in den Vermischten Bemerkungen heißt, 14 dann bedeutet die Teilnahme an den Sprachspielen eine »Praxis«, die in einen historisch-gesellschaftlichen Handlungsrahmen eingebettet gesehen werden muß - und diese Praxis »muß für sich sel-

14 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Hrsg. von G. H . von Wright. Unter Mitarbeit von H . Nyman. In: ders.: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M . 1984, S. 5 1 5 ( i m folgenden abgekürzt VB).

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Klarheit

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ber sprechen«15; und es gilt ebenso, daß diese Praxis, das Handeln und die Lebensformen konstituierend für die Sprachspiele sind. Wichtig ist hierbei, daß die philosophische Betrachtung laut Wittgenstein diesen wechselseitigen Zusammenhang als ihre Voraussetzung hinnehmen muß; sie kann ihn weder begründen noch durch Rekurs auf außersprachliche, z. B. metaphysische, Instanzen abstützen. Die Sprache ist für Wittgenstein ebenso unhintergehbar wie das »Leben«. Prägnant heißt es an einer Stelle von Uber Gewißheit. »Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da - wie unser Leben.« (ÜG; Nr. 559) Wie aber lassen sich angesichts solcher Befunde Gewißheit und die Wahrheit des mit Gewißheit Gewußten erkenntnistheoretisch noch sinnvoll denken? Mündet nicht der Rückzug auf die Sprache in einen Relativismus der Vielfalt von Sprachspielen, die, auch einander widerstreitend, den Index der Gewißheit tragen können? Wittgenstein hat zu diesem Problem eine Reihe von Untersuchungen angestellt, die unter dem Titel Uber Gewißheit postum veröffentlicht sind. Sein Ausgangspunkt ist der Versuch George Moores, das bereits von Kant als »skandalös« empfundene Problem, die Existenz einer (objektiven) Außenwelt zweifelsfrei beweisen zu müssen, mit der Frage nach der Gewißheit von Sätzen des Typs »Ich weiß, daß...« in Verbindung zu bringen und mittels eines »Common sense-Arguments« zu lösen. Wittgenstein versucht nicht, eine Gegentheorie zu Moores Ansatz aufzustellen. Gemäß seiner Voraussetzung, daß der Versuch reflexionsphilosophischer Verallgemeinerung nur im Kontext konkreter Sprachspiele sinnvoll sein kann, greift

15 Ludwig Wittgenstein: Uber Gewißheit. Hrsg. von G. E. M . Anscombe und H. G. von Wright. In: ders.: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M . 1984, Nr. 139 (im folgenden abgekürzt tIG).

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Matthias T(roß fr er Beispiele heraus, um an ihnen das Spezifische des Sprachspiels »Wahrheit und Gewißheit« zu erläutern. In einer ersten Annäherung umreißt er seine Einwände gegen Moore folgendermaßen: »Moores Ansicht läuft eigentlich darauf hinaus, [...] daß die Aussage 'Ich weiß...' kein Irrtum sein könne. Und ist es so, dann kann aus einer Äußerung auf die Wahrheit einer Behauptung geschlossen werden. Und hier wird die Form 'Ich glaubte zu wissen übersehen. - Soll aber diese nicht zugelassen werden, dann muß ein Irrtum auch in der Behauptung logisch unmöglich sein. Und dies muß einsehen, wer das Sprachspiel kennt; die Versicherung des Glaubwürdigen, er wisse es, kann ihm dabei nicht helfen.« (ÜG, Nr. 2 1 ) Die »logische Unmöglichkeit eines Irrtums« wahrheitsbehauptender Sätze bezieht Wittgenstein auf die logische Struktur dieser Sätze selbst und nicht auf ihre Übereinstimmung mit einer außersprachlichen Wirklichkeit. Diese kann sich ja gerade nicht dadurch erweisen, daß ein Sprecher sie behauptet (und sei es ein Philosoph, der diese Übereinstimmung behauptet), sondern die Unmöglichkeit des Irrtums über die Wahrheit einer Behauptung ist als relativ zu dem Sprachspiel zu betrachten, in dem eine solche Behauptung aufgestellt wird. Denn nicht die Erfahrung der vermeintlich objektiven Struktur der Außenwelt versetzt die Menschen in die Lage, sich bewährende oder auch irrige Aussagen und Urteile über die Außenwelt zu formulieren (eine solche These verfiele unweigerlich dem Einwand des Skeptizismus), sondern vielmehr ein in der Praxis sich ausdifferenzierender Regelkanon gesellschaftlicher Handlungsmuster, der den »Hintergrund« oder Rahmen für die einzelnen Sprachspiele des Wissens und der Wahrheit des Gewußten abgibt. Zur Charakterisierung dieses »Hintergrundes« verwendet Wittgenstein vorzugsweise die Ausdrücke »System« oder »Weltbild«. Sie sollen den holistischen bzw. paradigmatischen Charakter von Hintergrundaussagen verdeudichen, auf denen wahrheitsbehauptende Sätze gleichsam aufruhen können: »Alle Prüfung«, schreibt

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i f , Kjarheit statt Wahrheit er beispielsweise, »alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems. U n d zwar ist dies System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unsrer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist [...] das Lebenselement der Argumente.« (ÜG, Nr. 105 [Hervorhebungen M . K.]) 16 Ein Vergleich mit der Wirklichkeit kann hier nicht weiterhelfen und ist daher sinnlos. In einer Eintragung aus dem Jahre 1 9 3 7 formuliert Wittgenstein denn auch: »'Ja, so ist es', sagst Du, 'denn so muß es sein!' (Schopenhauer: der Mensch lebt eigentlich 100 Jahre lang.) 'Natürlich, so muß es sein!' Es ist da, als habe man die Absicht eines Schöpfers verstanden. M a n hat das System verstanden. M a n fragt sich nicht: 'Wie lange leben Menschen denn wirklich?', das erscheint jetzt als etwas Oberflächliches; sondern man hat etwas tiefer Liegendes verstanden.« (VB, S. 4 8 6 ) Die tragenden Bestandteile des Systems - jene Elemente, welche die Systematizität des Systems ausmachen - können aus dem Grunde keinem Zweifel und damit der Logik des Wahr/falsch-Sprachspiels unterliegen, weil sie die unverzichtbaren Voraussetzungen für solche Sprachspiele abgeben. Sie machen das Weltbild des Sprechers aus, das W i t t genstein an einer Stelle als das »Substrat« des Forschens und Behauptens bezeichnet. Dieses ist nicht deshalb unbezweifelbar, weil es unerschütterlich als wahr gelten darf, sondern weil es eine »unwankende Grundlage« darstellt, auf der Wahr/falsch-Sätze, Sätze des Zweifeins und der Bestätigung allererst zirkulieren können. In ihrer indubitablen Geltung drückt sich nicht ihre Wahrheit, sondern ein funda-

16 Siehe auch Ludwig Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen. Aus dem Nachlaß hrsg. von Rush Rhees, Frankfort a. M . 2 1 9 7 0 ( - Schriften, Bd. 2), S. 178, und PhU, § 2 4 2 . 17 Siehe ÜC, Nr. 5 1 2 , 5 1 4 sowie 4 0 4 ; Ludwig Wittgenstein: Zettel. Hrsg. von G. E. M . Anscombe und H . G. von Wright. In: ders.: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M . 1984, Nr. 515, 6 5 1 , 6 5 5 und 6 7 2 ( i m folgenden abgekürzt Z).

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Matthias Ίζτοβ mentales Vertrauen aus, das Paradigma für solche Sätze, das ihnen logisch vorausgesetzt ist: »Unsinn«, schreibt Wittgenstein daher, »aber wäre es zu sagen, wir betrachteten etwas als sichere Evidenz, weil es gewiß wahr ist.« (ÜG, Nr. 1 9 7 ) Der Grund dafür ist nun leicht ersichtlich: »Der Gebrauch von 'wahr oder falsch' hat darum etwas Irreführendes, weil es ist, als sagte man, 'es stimmt mit den Tatsachen überein oder nicht', und es sich doch gerade fragt, was 'Ubereinstimmung' hier ist.« (CIG, Nr. I99) 1 8 Der Haupteinwand Wittgensteins gegen die erkenntnistheoretische Lehre von der Wahrheit als Entsprechung oder Adäquation (subjektiver) Erkenntnisvermögen und (objektiver) »Gegenstände« besteht also im Kern darin, daß sie offenkundig auf einem Zirkelschluß beruht und deshalb nicht weiterführt. Bereits die Frage, ob eine Hypothese gewiß mit der Wirklichkeit, den Tatsachen, übereinstimmt, ist trügerisch, denn, so Wittgenstein, man bewegt sich mit einer solchen Frage bereits in einem epistemologischen Kreis (siehe ÜG, Nr. 191). Eine systemrelative Fassung der Wahrheit und der Gewißheit erscheint aus epistemologischer Sicht allerdings nicht weniger zirkulär als der von Wittgenstein zurückgewiesene Ansatz der Adäquationstheorie. Doch haben sich die Akzente entscheidend verschoben. Statt eine epistemologische Funktion zu übernehmen, dient die Analyse der Gewißheit nunmehr der Herausstellung jener Sprachhandlungen, in denen sich menschliche Praxis kristalliert. Diese geben dann die Grundlage ab für die philosophische Reflexion eben dieses Sprachgebrauchs in bezug auf seine Fähigkeit, Wahrheit und Gewißheit zu verbürgen. Wird das Sprechen über Dinge mit dem ihm logisch vorausliegenden Umgang mit der Welt und nicht mit der Wahrheit dieses Sprechens in Bezug gesetzt, weil klar ist, daß »[d]ie Kriterien des Wahr-

18 Siehe dazu auch C. Grant Luckhardt: Beyond Knowledge: Paradigms in Wittgensteins Later Philosophy. In: Philosophy and Phenomenological Research 3 9 ( 1 9 7 8 / 7 9 ) , S. 2 5 1 .

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Μ Klarheit statt \Vahrbeit seins [...] in der Sprache festgelegt [werden]« 1 9 und nicht durch die Dinge oder das Bewußtsein der Menschen, dann erweist sich Gewißheit als dasjenige Moment des Sprechens, das diesseits des Zweifels und des Wahrheitsanspruchs steht. U n d zugleich läßt sich in Umkehrung dieses Gedankens - kritisch-therapeutisch - die philosophischtheoretische Fragehaltung in bezug auf die Möglichkeitsbedingungen wahren Wissens und der Tatsächlichkeit von Gewißheit in die Vielfalt der Sprachspiele und die Multiplizität der menschlichen Handlungsweisen auflösen: »Das, worauf ich abziele, liegt auch in dem Unterschied zwischen der beiläufigen Feststellung 'Ich weiß, daß das...', wie sie im gewöhnlichen Leben gebraucht wird, und dieser Äußerung, wenn der Philosoph sie macht. — Denn wenn Moore sagt 'Ich weiß, daß das ... ist', möchte ich antworten: 'Du weißt gar nichts!' U n d doch würde ich das dem nicht antworten, der ohne philosophische Absicht so spricht [...]. - Denn sagt Einer: er wisse das und das, und das gehört zu seiner Philosophie - so ist sie falsch, wenn er in jener Aussage fehlgegangen ist.« ( ÜG, Nr. 4 0 6 - 4 0 8 ) Der Unterschied zwischen dem philosophischen und dem Gebrauch von »Wahrheit« im »gewöhnlichen Leben« besteht eben darin, daß der Philosoph die Geltung seines Wahrheitsbegriffes zu begründen versucht (so daß sein Irrtum sein System der Begründung zerstört) während der »gewöhnliche« Sprachgebrauch mit dem Ausdruck »wahr« ein praxeologisch gewonnenes Wissen bezeichnet, das dem Handelnden »gewiß« ist, und im Falle des Irrtums durch ein anderes Wissen ersetzt wird. Während der epistemologische Gewißheitsbegriff sich stets dem skeptischen Zweifel ausgesetzt sieht, gilt die praxeologisch gewonnene Gewißheit als die per se gegen jeden Skeptizismus gefeite Grundlage des Sprachhandelns: » D i e Begründung aber, die Recht-

19 Ludwig Wittgenstein: Auf Zeichnungen für Vorlesungen über »privates Erlebnis« und »Sinnesdaten«. In: Wittgenslein. Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Hrsg. von Joachim Schulte, Frankfurt a. M . 1989, S. 8 6 .

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Matthias Τζτοβ φ, fertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; - das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also eine Art Sehen unsererseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt.« ((7G, Nr. 2 0 4 ) Jedes Erklären hat notwendigerweise ein Ende. Die Tatsächlichkeit des Handelns selbst ist nicht begründungsfähig. Es geschieht. Es ist, um die berühmte Formulierung Wittgensteins aus den Philosophischen Untersuchungen hier anzuführen, der »harte Felsen«, an dem sich der philosophische »Spaten« zurückbiegt. Wittgensteins lapidarer Befund: »Ich bin dann geneigt zu sagen: So handle ich eben.« (PhU', § 2 1 7 ) Die Unhintergehbarkeit des So-handle-ich-eben als Voraussetzung fur wahrheitsgeleitete Sätze bildet für Wittgenstein den Maßstab, auf den bezogen Sprachspiele ihren Sinn erhalten und das Spiel von Wahrheit und Irrtum, von Zweifel und Vergewisserung allererst sinnvoll einsetzen kann. Der Streit über die Frage: »Was kann ich wissen?« verliert für Wittgenstein damit seine Brisanz. Er wird durch die Frage, in welchem Kontext es Sinn macht, diese Frage zu stellen, unterlaufen. 20 Die Konsequenzen des Wittgensteinschen Klärungsprozesses der Gewißheitsproblematik sind ebenso leicht auszumachen wie in ihren Wirkungen schwer zu übersehen. Wird die Gewißheit relational auf ein gesamtes »System« oder »Weltbild« bezogen und als grundlos bzw. nicht begründungsfähig von der erkenntnistheoretischen Fundierung durch Wahrheitsdiskurse abgekoppelt, so wird der Anspruch auf epistemische Universalisierung der Gewißheit insgesamt hinfällig. Gerade indem durchschaut wird, daß Gewißheit nicht letztbegründbar ist, sondern die Basis darstellt, auf der ein System von Begründungen aufruhen kann, wird klar, daß diese grundsätzlich theoretischer Reflexion unzugänglich bleiben muß. Siehe Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Hrsg. von G. H. von Wright und H. Nyman. In: ders.: Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M . 1982, Bd. 2, Nr. 289, und Z, Nr. 405f. 20

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Wenn das »Wissenskorpus« von einem Weltbild abhängig ist, das Gewißheit verbürgt, folgt daraus fast unweigerlich ein epistemischer Agnostizismus - allerdings nur in der Hinsicht, daß jede Begründung für Erkenntnis letztlich auf einem grundlosen »Glauben« (siehe UG, Nr. 1 6 6 ) fußt, dessen Erwerb wiederum nicht durch Rekurs auf eine Evidenz bzw. die Wahrheit seiner Elemente erklärt werden kann 2 1 . Die Strukturelemente des »Weltbildes« und die paradigmatischen Momente der Sprachspiele müssen vielmehr »blind« übernommen werden, ehe sinnvoll überhaupt über Wahrheit und Wissen gesprochen werden kann. 22 Daraus ergibt sich, daß für die Partizipation an den Sprachspielgemeinschaften der Erwerb von Sprachkompetenz durch »Glauben« und »Abrichtung« erforderlich ist. Das Kind lernt laut Wittgenstein, indem es dem Erwachsenen glaubt. Der Zweifel kommt nach dem Glauben (siehe UG, Nr. 160 und 170). Was für den Ersterwerb von Regeln und Praktiken in Primärsituationen zutrifft, gilt dann für das Lernen als eine Form der »Abrichtung« überhaupt, in der Regel und Erfahrungssatz ineinander übergehen. Wittgenstein erläutert diesen Gedanken am Beispiel des Urteilenlernens: »Ich habe von Kind auf so urteilen gelernt. Das ist Urteilen. - So habe ich urteilen gelernt; das als Urteil kennengelernt. Aber ist es nicht die Erfahrung, die uns lehrt, 50 zu urteilen, d.h., daß es richtig ist, so zu urteilen? Aber wie lehrt's uns die Erfahrung? Wir mögen es aus ihr entnehmen, aber die Erfahrung rät uns nicht, etwas aus ihr zu entnehmen. Ist sie der Grund, daß wir so urteilen [...], so haben wir nicht wie-

Siehe Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Farben, Hrsg. von G. Ε. M . Anscombe. In: ders.: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M . 1984, III, Nr. 2 9 3 . 21

Siehe iIG, Nr. 9 4 - 9 9 und 4 6 2 . Georg Henrik von Wright: Wittgenstein, Frankfurt a. M . 1986, S. 178, zeigt am Beispiel des Problems der Existenz der Außenwelt, daß Wittgenstein den Begriff Weltbild nicht-relativ gebraucht. So sei » d a s Problem der Außenwelt [für Wittgenstein, M . K.] gelöst, ehe es aufgeworfen werden kann«, da »ihre Existenz [...] das 'logische Behältnis' [ist], in dessen R a h m e n alle Nachforschungen über die denkunabhängige Existenz der verschiedenen Gegenstände angestellt werden [...]. Daß es eine Außenwelt gibt, ist [...] kein kontingenter Satz.« 22

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Matthias Τζτοβ 0 der einen Grund dafür, dies als Grund anzusehen.« ( ÜG, Nr. 1 2 8 - 1 3 0 ) Wichtig ist fuir Wittgenstein an der Vorstellung der » A b richtung« 2 3 und vor allem der Notwendigkeit des »Glaubens«, daß es nicht um das bloß subjektive und insofern dubitable Vermeinen oder Für-wahr-Halten von Sachverhalten geht; gemeint ist die Tatsache, daß jedes Wissen systemgebunden und deshalb der Wissenserwerb an die gleichzeitige Übernahme des Systems gebunden ist. Daher macht die Frage, ob die Kenntnisse der Menschen von der Natur der Einsicht in das wahre Wesen der Natur entspringen, keinen Sinn. Wenn nämlich dem Wissen/Zweifel-Spiel die Tatsache des »Glaubens« vorgeordnet ist, dann ist die Folgerung unvermeidlich, daß sich die Paradigmata des Glaubens als Grundlage des Für-Wahr-Haltens historisch ändern können und sich damit auch die gesamte Anschauung der Natur grundlegend verändern kann. Hierin besteht sicherlich die Pointe der Wittgensteinschen Untersuchungen über Wahrheit und Gewißheit des Wissen. Sie geht von einer historischen Vielzahl letztlich unbegründbarer und ebenso historisch variabler Gewißheiten als Grundlage fxir dubitables Wissen aus, statt den historischen Wandel der Wissensgehalte auf der Folie eines universalistisch zu begründenden Wahrheitsbegriffes hinwegerklären zu müssen. Ein solcher Wahrheitsbegriff ließe sich selbst wiederum nur aufgrund der historisch-kontingenten Entwicklung des Wissens auf der Grundlage lebensformgebundener Sprachspiele rechtfertigen, oder aber er müßte metaphysisch fundiert werden. So aber erweist sich der Wahrheitsbegriff als sinnvoll nur relativ zu einem Weltbild und

Z u m Ausdruck » A b l i c h t u n g « siehe auch Ludwig Wittgenstein: Das Blaue Buch und Eine Philosophische Betrachtung. Hrsg. von Rush Rhees. In: ders.: Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M . 1970, S. 117: »Dieses Lernen der Sprache ist wesentlich eine Abrichtung, - durch Vormachen, Ermunterung, Nachhilfe, Belohnung, Strafe, u.a.m.«; Z, Nr. 3 1 8 : »Ich kann nicht beschreiben, wie eine Regel (allgemein) zu verwenden ist, als indem ich dich lehre, abrichte, eine Regel zu verwenden«, sowie Nr. 4 1 9 : » D i e Grundlage jeder Erklärung ist die Abrichtung.« 23

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m Klarheit statt"Wahrheit zu Lebensformen, die ebenso historischen Veränderungen unterworfen sind wie die konkreten Sprachspiele der Individuen: Jede Veränderung von Begriffen signalisiert eine Veränderung im System der konkreten menschlichen Handlungsweisen und umgekehrt. Aus solchen Überlegungen folgt, daß Veränderungen eines Weltbildes oder die radikale Veränderung eines »Systems« oder »Weltbildes« keineswegs den Standards der modernen Rationalität unterworfen sind. Da »Rationalität« nur innerhalb eines Weltbildes sinnvoll als Kriterium fur das Haben von Uberzeugungen und das Für-wahr-Halten gelten kann, müssen aus der Warte des Sprachphilosophen auch andere Formen des Für-wahr-Haltens, etwa mystische oder religiöse, sowie ihre vielfältigen »Durchmischungen« mit rationalen, als »gleichberechtigt« anerkannt werden. Wenn die »Rationalität« vor einem praxeologischen Hintergrund gesehen wird, dann wird auch sie als »Mythologie« zu bezeichnen sein, als eine intellektuelle Reaktion auf ein ihr vorausgesetztes Handeln, das im » F l u ß « dieses Handelns sich ständig verändert. In einer der schönsten Passagen der Aufzeichnungen zu Uber Gewißheit hat Wittgenstein diesen mythologischen Aspekt der Gewißheit und Weltbildbezogenheit des menschlichen Weltverhaltens betont: » M a n könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nichterstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden. - Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt. — Ja, das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier bald dort weg- und angeschwemmt wird.« (UG, Nr. 96f., 9 9 )

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Matthias Ίζτοβ ßi Damit ist freilich keinesfalls gesagt, daß die Veränderungen innerhalb bzw. die Ubergänge von einem zu einem anderen Weltbild stets kontinuierlich oder bruchlos verlaufen oder daß konfligierende Weltbilder friedlich koexistieren können; vielmehr gilt: »Angenommen, wir träfen Leute, die das [Handeln nach dèn Prinzipien der Physik (siehe ÜG, Nr. 6 0 8 ) ] nicht als triftigen Grund betrachteten [...]. Sie befragen statt des Physikers etwa ein Orakel. (Und wir halten sie für primitiv.) 24 Ist es falsch, daß sie ein Orakel befragen und sich nach ihm richten? - Wenn wir dies 'falsch' nennen, gehen wir nicht schon von unserem Sprachspiel aus und bekämpfen das ihre?« ( ÜG, Nr. 6 0 9 ) Wittgenstein gibt keine direkte Antwort auf diese Frage, sondern nur einen Hinweis auf den Rahmen, in dem eine Antwort gesucht werden sollte: » W o sich wirklich zwei Prinzipien treffen«, schreibt er, »die sich nicht miteinander aussöhnen können, da erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer.« ((7G, Nr. 611) 2 5 Die »Lösung« eines Joachim Schulte: Kentext. In: ders.: Chor und Gesetz. Wittgenstein im Kontext, Frankfurt a. M . 1990, S. I52ff., weist zurecht darauf hin, daß Wittgenstein den Ausdruck »primitiv« nicht wertend, sondern als einen Gradmesser für die Komplexität und innere Reflektiertheit von Sprachspielen verwendet. Ein 'primitives' Sprachspiel setzt also geringe Komplexitätsgrade voraus und ist deshalb, auch wenn es empirisch nicht gespielt wird, für Wittgensteins Absicht in besonderem M a ß e geeignet. 24

Wobei fur Wittgenstein keineswegs ausgemacht ist, wer jeweils der » N a r r « oder der »Ketzer« ist. Seine Kritik am Eurozentrismus Frazers (in Ludwig W i t t genstein: Bemerkungen über Frazers »The Golden Bough«. In: Wittgenstein: Vortrag über Ethik, a. a. O., beruht i m wesentlichen auf der Einsicht in die Multiplizität der gewißheitsstiftenden Kräfte und weltbildleitenden Voraussetzungen von Reflexion. Gegen Frazers Versuch, magische Praktiken als » I r r t u m « einer nicht hinreichend europäisch-aufgeklärten Gesellschaft zu erklären, setzt Wittgenstein die Auffassung: » [ W ] i r handeln eben so und fühlen uns dann befriedigt« (S. 3 2 ) : » W i e hätte das Feuer oder die Ähnlichkeit des Feuers mit der Sonne verfehlen können auf den erwachenden Menschengeist einen Eindruck zu machen? Aber nicht vielleicht 'weil er sichs nicht erklären kann (der dumme Aberglaube unserer Z e i t ) - denn wird es durch eine 'Erklärung' weniger eindrucksvoll? Bei der magischen Heilung einer Krankheit [...] bedeutet man ihr, sie möge den Patienten verlassen. M a n möchte nach der Beschreibung so einer magischen Kur immer sagen: Wenn das die Krankheit nicht versteht, so weiß ich nicht, wie man es ihr sagen soll. Nichts ist so schwierig, wie Gerechtigkeit gegen die Tatsachen« (S. 3 5 ) . Wittgensteins Fazit: »Welche Enge des seelischen Lebens bei Frazer. 25

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Weltbildkonfliktes kann also in einem solchen Falle nicht mehr in der Stärke von Argumenten oder »Gründen« liegen - die Begründungskraft von Gründen ist ja Gegenstand des Konfliktes (siehe UG, Nr. 1 3 2 ) -, sondern allein in dem mit den systemspezifischen Mitteln unternommenen Versuch, den »Andern« - und sei es mit den Mitteln des Kampfes - zu überreden. 26

Daher: Welche Unmöglichkeit, ein anderes Leben zu begreifen, als das englische seiner Zeit!« (S. 3 3 ) . - Die Grundlage für Wittgensteins 'Ideologiekritik' an Frazers M o d e l l ist jedoch nicht ein 'praxeologischer Fundamentalismus', wie Rudolf Haller: War Wittgenstein von Spengler beeinflußt? In: Stuart Shanker (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Critical Assessments, Bd. I, London 1986, S. I09ff., unterstellt. Es geht ihm nicht um die Freilegung universalisierbarer Handlungsstrukturen als des »Weltbild-transzendierenden Bodens, auf dem wir [...] Lebensformen und Weltbilder unterscheiden« ( R u d o l f Haller: Die gemeinsame menschliche Handlungsweise. In: Zeitschriftfiir philosophische Forschung 3 3 / 3 4 [ 1 9 8 9 ] , S. 5 3 1 ) , sondern u m den Aufweis der Grenzen bzw. der Begrenztheit der jeweiligen Deutungsmuster. Frazer hat diese Grenze überschritten, gerade indem er den europäischen Rationalitätsstandard als 'fundamental' gegen die Eingeborenen auszuspielen versucht. - Zur Frazer-Kritik Wittgensteins siehe auch Bouveresse: Rieste und Prosa, a. a. O., S. I 8 I f f . M i t David R . Hiley: Philosophy in Question. Essays on a Pyrrhonian Theme, Chicago, London 1988, S. 124, gehe ich davon aus, daß der Ausdruck »Rationalität« nur systemabhängig sinnvoll gebraucht werden kann, u m den Relativismus/ Dogmatismus-Nexus zu sprengen. Auf diese Weise läßt sich Wittgensteins » Ü b e r r e d u n g « und der immanente Wahrheitsanspruch dessen, wozu man überredet wird, plausibel machen. Wittgensteins Terminus soll, kann man im Anschluß an Hiley: Philosophy in Question, a. a. O., S. 141, sagen, verdeutlichen, daß Überredung nicht auf einer universalisierbaren Theorie der Rationalität basiert, sondern »result of restored confidence in our system of beliefs« ist: » O u r beliefs are rational insofar as, and only insofar as they succeed in coping with the world, since removed from the threats of dogmatism and relativism we cannot imagine what it would mean to think that we are successful but not rational. Saying so, though, does not justify particular beliefs and values of ours nor does it vindicate or legitimize specific practices and social institutions. T h a t can only come from within, since there is no standpoint outside from which to judge.« Diese Rationalität findet ihre Grenzen an dem, was sie als von ihr zu unterstellende »gemeinsame menschliche Handlungsweise« (PhU, § 2 0 6 ) zuläßt. Selbst die Figur des »Anderen«, des »Fremden« ist an diese Systemrationalität gebunden. Siehe dazu die Problemskizze von Sigrid Fretlöh: Relativismus versus Universalismus. Zur Kontroverse über Verstehen und Ubersetzen in der angelsächsischen Sprachphilosophie: Winch, Wittgenstein, Quine, Aachen 1989, sowie Schulte: Kontext, a. a. O., S. I52ff., und jetzt auch die Arbeit von Heinke Deloch: Verstehen fremder Kulturen. Die Relevanz des Spätwerks Ludwig Wittgensteins für die Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M . 1 9 9 7 . 26

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Auf welche Weise diese »Überredungen« im einzelnen verlaufen sollten, entzieht sich, folgt man Wittgenstein, der philosophischen Ein- und Voraussicht. Die Anerkennung des Primats der Praxis bedeutet, daß der Philosoph keine sinnvollen Aussagen über die Logik des Entstehens und Vergehens von Weltbildern machen kann. Vielmehr hat er sich mit der Feststellung zu bescheiden, daß das Erzeugen von Weltbildern und Paradigmata selbst wiederum zur »Naturgeschichte« oder zu einem »Naturfaktum« (siehe PhU, § 145), sozusagen zur sprachanthropologischen Grundausstattung der menschlichen Gesellschaften zählt, über deren Konstatierung die Analyse letztlich nicht hinauszugelangen vermag. Der Wechsel von Weltbildern ist als ein konstitutiver Bestandteil der menschlichen Geschichte, als Teil des Wechsels von »Lebensformen« anzuerkennen: »Stellen wir uns die Tatsachen anders vor als sie sind,27 so

Wittgensteins Formulierung in bezug auf das »So-Sein« von Tatsachen ist schwankend. In Zittii und in den Btmirktmgen zur Philosophil dir Psychologe finden sich analoge Formulierungen (Z, 3 6 4 : »Irgendwo wirst du doch an Existenz und nicht-Existenz anrennen! Das heißt aber doch an Tatsachin, nicht an Begriffe«, und Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen ühir Jii Philosophit dtr Psychologie, Bd. I. Hrsg. von G. E. M . Anscombe und G. H . von Wright. In: ders.: Schriftin, Bd. 8, Frankfurt 1982, Nr. 48: »Wenn du glaubst, unsere Begriffe seien die richtigen, die intelligenten Menschen gemäßen, wer andere hätte, sähe eben etwas nicht ein, was wir einsehen, dann stelle dir gewisse allgemeine Naturtatsachen anders vor, als sie sind, und andere Begriffsbildungen als die unseren werden dir natürlich erscheinen«), die nahelegen, daß Wittgenstein »Tatsachen« als außersprachliche Referenzpunkte des Sprechens und der Begriffsbildung ansieht. Die Rede von Tatsachen darf aber meines Erachtens nicht als ein »Echo« des Traktats mißverstanden werden. Die Korrespondenz- oder Isomorphieauffassung der Frühphilosophie hatte Wittgenstein bereits kurz nach seiner Rückkehr nach Cambridge aufgegeben. Siehe dazu Wittgensteins »späte« Tagebücher (Dtnkhtwegungin, a. a. O., pass.) und Peter M . S. Hacker: Wittgenstein im Kontext der analytischm Philosophit, Frankfurt a. M . 1997, bes. S. I46ff. In seinen Vorlesungen 1930-1935 (Hrsg. von Desmond Lee und Alice Ambrose, Frankfurt a. M . 1 9 8 4 ) betont Wittgenstein immer wieder, daß »der Gedanke [...] autonom [ist]. [...] Welche Gewähr hätten wir [...], daß [Gedanken] überhaupt etwas vertreten? Was in meinem Denken gegeben ist, das ist vorhanden und wesentlich fur es. Alles andere, - z. B. was in meinem Denken virtrittn wird - ist belanglos.« (S. 6 7 ) - »Können wir sagen: 'Wenn wir eine andere Grammatik hätten, würden wir mit den Tatsachen in Konflikt geraten? Durch eine Veränderung der Grammatik kann man das nicht bewirken, denn insofern man sagen kann, das und 27

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verlieren gewisse Sprachspiele an Wichtigkeit, andere werden wichtig. Und so ändert sich, und zwar allmählich, der Gebrauch des Vokabulars der Sprache. — Wenn sich die Sprachspiele ändern, ändern sich die Begriffe, und mit den Begriffen die Bedeutungen der Wörter.« ( UG, Nr. 63 und 65) Die wichtige Aufgabe des Philosophen im Sinne Wittgensteins bei der Beschreibung von Paradigmenwechseln besteht darin, darauf zu beharren, daß diese Wechsel nicht mit einem philosophischen Kriterium, etwa mit dem Kriterium des »Fortschritts« zu messen oder als eine sukzessive Annäherung an eine oder »die« Wahrheit zu verstehen sind.28 Dies verbietet sich für Wittgenstein allein schon deshalb, weil er Weltbilder und Mythologien nicht als reflexiv

das sei der Fall, kann man es auch verneinen. Die Grammatik kann uns nie in Schwierigkeiten bringen, daß wir etwas sagen, was nicht wahr ist.« (S. 1 1 5 ) » D i e Regeln der Grammatik werden [...] nicht aus dem Wesen der Realität abgeleitet.« (S. 1 2 4 ) Aufgrund des von Wittgenstein explizierten Gedankengangs hinsichtlich des sprachlichen Relativismus ist klar, daß »Tatsache« zunächst auch nur ein Begriff ist, dessen Sinn sich aus seiner Verwendung in Kontexten ergibt. Es müßte also klarer formuliert werden: »die Tatsachen, so wie wir uns vorstellen, daß sie sind.« In PhU, II, 4 2 2 , ist die in Wittgensteins Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Bd. 2. Hrsg. von G. H . von W r i g h t und H . N y m a n . In: ders.: Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M . 1982, Nr. 678f., zitierte Passage in der Tat in diesem Sinne abgeändert. Siehe auch Wittgensteins Äußerung über die Soziologie in Wittgenstein und der Wiener Kreis von Friedrich Waismann. Aus dem Nachlaß hrsg. von B. F. McGuinness, Frankfurt a. M . 1 9 6 7 ( = Schriften, Bd. 3), S. 116: » [ N ] i e darf in der Beschreibung des Soziologen der Satz vorkommen: 'Das und das bedeutet einen Fortschritt'.« - Russell Nieli: Wittgenstein: From Mysticism to Ordinary Language. A Study of Viennese Positivism and the Thought of Ludwig Wittgenstein, Albany 1987, S. 242f., ist daher zuzustimmen, wenn er behauptet, »[...] while Wittgenstein acknowledges that changes in language do, in fact, occur, his later philosophy offers no means for evaluating such changes, nor any suggestion that such changes are in need of evaluation«, und daraus den »uncritical, purely descriptive mode of analysis« schließt - er verkennt damit aber die philosophische Ebene, die Wittgenstein anvisiert. Wittgensteins »uncritical [...] mode of analysis« bezieht sich in der Tat auf ein »unkritisches« Verhältnis zu anderen oder vergangenen Kulturen, ist aber sehr wohl kritisch gegenüber der Sicherheit, mit der auch Nieli meint herausfinden zu können, » w h a t may be of value in primitive societies« und »what is patently absurd«. 28

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begründbar oder sinnvoll deutbar, sondern als Resultat praxeologisch fundierter sprachlicher Kommunikation begreift. Sie sind fur ihn Ausdruck der menschlichen Praxis, die allerdings nicht, gleichsam stumm, der Sprache vorausgeht und diese begründet, sondern in die Sprache eingegossen ist. Diese sprachlich organisierte Praxis ist fur den Philosophen der vorauszusetzende Maßstab, der an die Stelle des M a ß stabs der Wahrheit tritt. Wittgenstein verwendet für die Beschreibung solcher Vorzüge einer Anschauung den Ausdruck »Reiz« . Dieser Begriff soll unterstreichen, daß nicht ihre letztgesicherte »Wahrheit« zur Akzeptanz einer neuen Anschauung fuhrt, sondern das Moment der lebenspraktischen Evidenz, die von dem Einnehmen einer solchen »Haltung« ausgeht und in der die Berufung auf die »Wirklichkeit« nichts weiter ist als eine schlagend wirkende Formel, die Einwände zum Verstummen bringt. Uber die Freudsche Theorie als Erklärungsmodell seelischer Vorgänge schreibt er: »Viele dieser Erklärungen [...] werden durch die Erfahrung nicht so bestätigt wie physikalische Erklärungen. Wichtig ist die Haltung, die sie zum Ausdruck bringen. — Vor allem jene Sätze haben die Form der Überredung, in denen es heißt: 'Dies ist in Wirklichkeit jenes,' [Das bedeutet]: Man ist überredet worden, gewisse Unterschiede zu vernachlässigen, die es gibt.« (VG, S. 52 und 5 4 ) Der Umstand, daß Wittgenstein den Rekurs auf die »Wirklichkeit« als ein Stratagem der Überredung kennzeichnet, verdeutlicht erneut den seinem Denken zugrunde liegenden Agnostizismus hinsichtlich der letztlichen Wahrheit der Weltbilder. Nicht relativ hingegen sind für ihn die »Bilderwelten« (siehe Z, Nr. 461), in denen sich menschliche Praxis sedimentiert. Diesen kommt Gewißheit zu, ohne Begründung oder »Wahrheit«. Solche Bilderwelten sind

Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion. Hrsg. von Cyrill Barrett, übersetzt und eingeleitet von Eberhard Bubser, Göttingen 1968, S. 5 5 ( i m folgenden abgekürzt VG). 29

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nicht durch Kritik zu verändern, sondern allein durch »Überredung« Wittgenstein formuliert ein philosophisches Programm, das von der Auffindung letzter Wahrheiten und Begründungen absieht und darauf angewiesen ist, daß Menschen sich von ihm überreden lassen: »Ich überrede auch. Wenn jemand sagt 'Da gibt es keinen Unterschied', und ich sage 'Es gibt einen Unterschied', dann überrede ich, ich sage: 'Ich möchte nicht, daß Sie die Sache so ansehen!' (Ich sage, daß ich die Sache auf eine andere Weise betrachtet haben möchte.)« (VC, S. 5 4 und [48]) Doch wie geschickt die »Propaganda fiür einen Denkstil« ( VG, S. 55), die Wittgenstein fur den seinen betreibt, auch ausfallen mag - die Entscheidung darüber, ob dieser Denkstil - die Aufforderung: »Sieh die Dinge so an.'« ( VB, S. 5 3 7 ) - von den Adressaten akzeptiert wird, hängt von Faktoren ab, die sich der Steuerbarkeit durch den Philosophen entziehen. IM »FLUSS DES LEBENS«

Ein solches Resultat der philosophischen Klärungsarbeit, welches die Grundlagen des Für-wahr-Haltens, der Evidenz und der Gewißheit zu zerstören scheint und selbst in den Treibsand des Relativismus eingesogen zu werden droht, enttäuscht unvermeidlich einen Großteil der Hoffnungen, die seit mehr als zweitausend Jahren in die Philosophie gesetzt wurden. Jede Evidenz ruht, so Wittgenstein, auf einer Grundlage, die selbst nicht evident sein kann; jeder Glaube an die Begründbarkeit von wahrheitsbehauptenden Aussagen ist letztlich selber grundlos. Dies einzusehen fällt schwer, vor allem jenen Philosophen, die angetreten sind, die Menschheit vor der vermeindichen Haltlosigkeit zu bewahren, in die sie durch das relativierende Argument ihrer Ansicht nach gestürzt wird. Sicher: Ohne den Halt metaphysischer Instanzen oder letzter Begründungen läßt sich der relativierende Schritt fort vom Letztbegründungsdenken nicht mehr vermeiden.

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Philosophen neigten vor jeher dazu, hierin einen Grund zur Verzweiflung zu sehen, die sie sodann mit Hilfe ihrer Philosopheme zu heilen versprachen. Doch bei genauerer Betrachtung erweist sich, daß zur Verzweiflung kein wirklicher Grund besteht. Denn die von Wittgenstein vorgenommene Abkoppelung des Evidenz-Begriffes von dem Begriff einer philosophischen Wahrheit zerstört nicht unsere Uberzeugungen; sie läßt sie, wie sie sind. Sein beharrlicher Verweis auf die Paradigmengebundenheit und Praxisabhängigkeit namentlich der begründungslogischen Reflexion entlastet uns im Gegenteil sogar von der Notwendigkeit, uns immer wieder einer am Ende unlösbaren Aufgabe zu stellen. W i t t genstein macht uns darauf aufmerksam, daß der Wechsel von Weltbildern oder die Abwägung ihrer Plausibilität nicht an der Elle der (einen) Wahrheit, etwa als eine sukzessive Annäherung an sie, und erst recht nicht an der des Fortschritts abzumessen ist. »Bedenke«, schreibt er, »daß man von der Richtigkeit einer Anschauung manchmal durch ihre Einfachheit oder Symmetrie überzeugt wird, d. h.: dazu gebracht wird, zu dieser Anschauung überzugehen. M a n sagt dann etwa einfach: 'So muß es sein.'« ( UG, Nr. 9 2 ) Zu behaupten, daß etwas » s o « sein müsse, enthüllt nicht eine tiefere Wahrheit, sondern macht offenkundig nur Sinn, wenn es auch anders sein könnte. Die Kontingenz ist der Notwendigkeit reflexionstheoretisch eingeschrieben und mit ihr über den Sinn des Etwas-als-so-seiend-Betrachten verbunden. Dies klarzumachen und dies gegen jede Art des philosophischen Fundamentalismus im Sinne der Letztbegründung herauszustellen, darin bestand und besteht bis heute die vielleicht größte Entdeckung Wittgensteins: »Klarheit« auch um den Preis der »Wahrheit« - dies bedeutet nicht nur Skepsis hinsichtlich der Reichweite von Erkenntnistheorie, sondern offene Kritik am Wahrheitsanspruch legitimatorischer Diskurse. Einsicht in die letztliche Grundlosigkeit einer jeden (philosophischen) Uberzeugung - dies setzt jeder Form des Fundamentalismus den Anspruch auf

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#4 K¡arheit statí Wahrheit Pluralität entgegen, und dies, ohne die eigene Lebensführung immer wieder in Frage stellen zu müssen. 30 Der »Relativismus«, welcher der Wittgensteinschen Position des Pluralismus eingeschrieben ist, kann daher nur für denjenigen bedrohlich erscheinen, der sich niemals sicher zu werden vermag. Dabei sollte ihm klar sein, daß das Bedürfnis nach Letztbegründung nicht ein allgemeines, gleichsam universelles ist, sondern eines ist, das bloß unserer Weltsicht und unseren Ansprüchen an die Standards eines philosophischen Diskurses entspringt. W i r sind in der Illusion gefangen, daß diese - unsere - Standards des Diskurses, die in unserer Region Realgeltung bei gleichzeitigem universalen Geltungsanspruch erlangt haben, die einzig legitimen, ja sogar die einzig möglichen seien. Doch gibt es für ihre Geltung, ja sogar für ihren Fortbestand bei uns keinerlei Gewähr aber auch keine unmittelbare Gefährdung. W i r wissen seit Wittgenstein, daß unser philosophischer Diskurs im wesentlichen Ergebnis unserer Sprache ist, ebenso wie unsere Geschichte, unsere Ideen von einem moralisch gerechtfertigten und »gelingendem« Leben. Keine Instanz rechtfertigt uns, aber ebenso wenig gibt es eine Instanz, die diesen Diskurs grundsätzlich in Frage zu stellen vermag. Aristoteles hat die Freundschaft zu Piaton alternativ gegen seine Liebe zur Wahrheit gestellt. Er hat mit diesem Ausspruch ein Spannungsfeld markiert, auf dem bis heute die Debatten zwischen den Philosophen der Wahrheit auf der einen und Skeptiker und Relativisten auf der anderen Seite ausgetragen werden. Wittgensteins Überlegungen zur Wahrheit, Klarheit und zur Gewißheit eröffnen uns vielleicht einen Weg, dieses Spannungsfeld zu verlassen. Er schrieb im Jahre I 9 3 I , in der intellektuellen Mitte seines Philosophierens, folgenden Aphorismus in sein Tagebuch: »Die Arbeit

Im Bd. I des Big Typescript ( M S 105), 4 6 , notiert Wittgenstein: » M e i n e Art des Philosophierens ist mir selbst immer noch, und immer wieder, neu, und daher muß ich mich so oft wiederholen [...]. - Diese Methode ist im wesentlichen der Ubergang von der Frage nach der Wahrheit zur Frage nach dem Sinn.« 30

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an der Philosophie ist [...] eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt).« ( VB, S. 4 7 2 ) Arbeit an einem selbst - das soll für unser Problem heißen: Nicht die Wahrheit oder Piaton, sondern Klarheit in bezug auf Plato, Klarheit in bezug auf Wahrheit.

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DIE

ETHIK VON

HINTERGRUNDÜBERZEUGUNGEN von Avishai Margalit

Wieviele Gebote enthalten die Zehn Gebote? Die Frage klingt so seltsam wie die Frage: »Wer liegt in Grants Grab begraben?« Aber die Antwort »zehn« ist nicht so selbstverständlich wie die, daß in Grants Grab der General Grant begraben liegt. Gewiß, es bereitet keine Schwierigkeit, das Verbot: »Du sollst nicht stehlen« oder: »Du sollst nicht töten« (wörtlich: morden) als Gebot zu identifizieren, aber kann man auch gebieten: »Du sollst nicht begehren«? Wenn »begehren« bedeutet: an das Begehen einer Sünde denken, ohne eine Handlung auszuführen, ist es dann möglich, jemandem zu gebieten, mit dem Denken aufzuhören? Schließlich hat

Mein Dank gilt Edna Ullmann-Margalit, Naomi Goldblum, Moshe Halbertal und Joseph Raz für ihre Hilfe bei Form und Inhalt dieses Aufsatzes.

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«fi £thik von

J-iintergrundüberzeugungen

selbst der moralistische Präsident Jimmy Carter zugegeben, daß es ihn in Gedanken nach anderen Frauen gelüstet habe. Gewiß, wenn »begehren« heißt: Handlungen begehen, wie sie der lasterhafte Jean de Fleurette beging - Handlungen, die darauf zielen, das Weib deines Nächsten, seinen Esel und sein Rind zu erlangen -, dann ist das Gebot klar. Aber Bewußtseinszustände, so scheint es, unterliegen nicht unserer Kontrolle, und man kann uns nicht Gebote in bezug auf etwas auferlegen, das nicht unserer Kontrolle unterliegt. Ahnein Gebote, die sich auf Bewußtseinszustände beziehen, nicht dem Unsinnsgebot der Kinder: »Denk nicht an einen rosa Elefanten« - was uns sofort dazu veranlaßt, an einen rosa Elefanten zu denken? Die Gebote: »Gedenke des Sabbattages« und: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren« würden ebenfalls Schwierigkeiten bereiten, wenn sie sich nicht auf Handlungen bezögen. Aber die größten Probleme bereitet das Glaubensgebot. Die Zehn Gebote beginnen mit: »Ich bin der Herr, dein Gott«. Manche, namentlich Maimonides, sehen hierin ein positives Gebot, eine Verpflichtung, an die Existenz Gottes zu glauben. Andere, unter ihnen Crescas, widersprechen der Vorstellung, daß es sich hierbei um ein Glaubensgebot handele, mit dem Argument, es sei unmöglich, zum Glauben zu verpflichten, weil das Glauben nicht dem freien Willen und der Kontrolle des Menschen unterliege, also auch nicht Gegenstand von Entschlüssen sein könne.1 1 Der Gegensatz zwischen Maimonides und Crescas ist nicht so einfach, wie man aus meinen Formulierungen schließen könnte, denn man kann die Anschauung des Maimonides auch anders darstellen, ohne ihm das Glaubensgebot zuzuschreiben. Es gibt eine Deutung, derzufolge Maimonides nicht sagt, das Gebot laute, man müsse an Gott glauben, sondern man müsse um die Existenz Gottes wissen. Und dieses Wissensgebot entspricht dem, was ein Lehrer von seinen Schülern fordert, wenn er verlangt, daß sie bis zur nächsten Woche den Beweis fur den Satz des Pythagoras wissen sollen. Der Lehrer kann seinen Schülern nicht gebieten, an den Satz des Pythagoras zu glauben, aber er kann verlangen, daß sie sich ein einschlägiges (Beweis-)Verfahren aneignen. Das Verfahren besteht in unserem Fall aus den Gottesbeweisen - jedenfalls für diejenigen, deren Verstand in der Lage ist, diese Beweise zu begreifen, während jene,

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Gegenwärtig schreibe ich diesen Aufsatz, und ich bin überzeugt, daß ich ihn auf einem Textverarbeitungsgerät schreibe. Kann ich mich zu der Uberzeugung entschließen, daß ich in diesem Augenblick nicht auf einem Textverarbeitungsgerät schreibe? Ich möchte mich in meinen Ausführungen mit folgenden Fragen beschäftigen: Sind Menschen für ihre Uberzeugungen moralisch verantwortlich? Unterliegen Überzeugungen dem Willen - kann man sie wählen, kann man über sie beschließen? Gibt es Dinge, an die wir glauben müssen, selbst wenn dieser Glaube Selbsttäuschung mit sich bringt? Wie steht es um die Analogie zwischen der Verpflichtung zu glauben, und der Verpflichtung, bestimmte Gefühle zu hegen und nicht andere? Kann der Skeptiker seine Überzeugungen in der Schwebe lassen? Und schließlich: worin besteht die Sünde des Ketzers? Beginnen wir wegen ihrer entscheidenden Wichtigkeit mit den religiösen Überzeugungen. Immerhin sind im System der Religion Menschen wegen ihrer ketzerischen Überzeugungen auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. »Ein Mensch wird durch seinen Glauben gerechtfertigt« lautet die dazu nicht imstande sind, die Behauptung der Existenz Gottes aufgrund der Autorität der Tradition und derjenigen, welche die Beweise kennen, akzeptieren müssen. Das Akzeptieren einer Behauptung ist, anders als der Glaube oder die Uberzeugung selbst, eine Willenssache. Das werde ich weiter unten noch näher ausführen. Isaak Abrabanels Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen in seinem Buch Rosch Amana, in dem er Wissen als den Erwerb von Verfahren bestimmt, entspricht dieser Deutung des Maimonides. Eine andere Deutung besagt, daß Maimonides nicht behauptet, das Gebot fordere, an Gott zu glauben, es fordere vielmehr nur, den eigenen Glauben zu bekennen - so wie den Muslimen geboten wird, ihren Glauben zu bekennen, daß es keinen Gott gibt außer Allah, während es kein Gebot gibt zu glauben. Jener Maimonides, der »vollkommen aufrichtig« verkündet, daß er an das Kommen des Messias und die Auferstehung der Toten glaubt, sei in gewissem Sinne der letzte, von dem man erwarten würde, daß er an das Kommen des Messias (im herkömmlichen, mirakulösen Sinne) oder an die Auferstehung der Toten glaubt - und doch betrachte er die Verkündung beider Überzeugungen als Pflicht. Diesen alternativen Deutungen zum Trotz ist jene, die annimmt, daß Maimonides den Glauben an die Existenz Gottes als ein Gebot ansieht, die einleuchtendste. - Diese Fragen werden ausführlich erörtert in Moshe Halbertal und Avishai Margalit: Iiohtry, Cambridge, Mass. 1992.

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eine einflußreiche religiöse Doktrin - das heißt: Überzeugungen sind der beste Maßstab zur Beurteilung von Menschen. Andererseits beruht die Forderung von John Locke und anderen nach Toleranz im allgemeinen und nach religiöser Toleranz im besonderen auf dem Gedanken, daß Uberzeugungen nicht dem Willen unterliegen und daß dem Ketzer seine ketzerischen Uberzeugungen, die er nicht kontrollieren kann, auch nicht zum Vorwurf gemacht werden können. Pflicht, so diese Gegenmeinung, darf sich legitimerweise nur auf Handlungen beziehen. Ich möchte gleich darauf hinweisen, daß sich das Problem des willensmäßigen Status von Überzeugungen nicht auf den Bereich der Religion beschränkt. Viele Denker haben argumentiert - und unter ihnen finden wir überraschenderweise auch den berühmten Locke -, man solle nur das glauben, wofür man auch Beweise besitzt, und sich dabei nicht von Wünschen leiten lassen, die nicht durch geeignete Beweise gestützt werden. Aber eine solche Verpflichtung, in rationaler Weise zu glauben, setzt ebenso wie die Verpflichtung, einen religiösen Glauben anzunehmen, voraus, daß der Glaube oder die Überzeugung der eigenen Kontrolle unterliegt. Es gibt zwar einen Unterschied zwischen religiöser Verpflichtung und rationaler Verpflichtung, insofern die religiöse Verpflichtung den Glauben an bestimmte Inhalte fordert, während die rationale Verpflichtung darin besteht, nur zu glauben, was mit Hilfe eines geeigneten Verfahrens als akzeptabel erwiesen ist, aber diese Unterscheidung ist für die Frage nach dem Willensstatus von Überzeugungen nicht relevant. Ein weiterer, in der Philosophiegeschichte sehr einflußreicher Kontext für unser Problem ist die Skepsis. Der Skeptiker möchte alle Überzeugungen in der Schwebe lassen. Immer wenn man glaubt, daß eine bestimmte Aussage wahr sei, solle man sich in einen Zustand versetzen, in dem man weder an die Wahrheit noch an die Falschheit der Aussage glaubt. Hier interessiert uns die Frage, ob das In-derSchwebe-Lassen von Überzeugungen zu jenen Dingen ge176

Jivishai Jiargalit m;·

hört, in bezug auf die Gebote erlassen werden können. Ein alltägliches Beispiel für die Empfehlung, die eigenen Uberzeugungen in der Schwebe zu lassen, ist die Forderung an Richter und Geschworene: »Legen Sie sich in Ihrer Uberzeugung hinsichtlich der Schuld des Angeklagten nicht fest, solange die Beweisaufnahme und das Verfahren nicht abgeschlossen sind.« Diese Forderung läßt sich offenbar ebensowenig erfüllen wie die andere, daß Richter und Geschworene die unzulässigen Erklärungen vergessen sollen, die sie während der Verhandlung gehört haben. Kurzum, das Problem ist ein allgemeines und nicht auf die Verpflichtung zu einem religiösen Glauben beschränkt. Das moralische Prinzip, das dem Problem der Verpflichtung zum Glauben zugrunde liegt, ist der kantische Grundsatz, daß »Sollen« ein »Können« voraussetzt. Das heißt, man kann Menschen nicht in bezug auf etwas verpflichten, das nicht in ihrer Macht steht, und man darf sie deswegen auch nicht moralisch beurteilen. Wenn Überzeugungen, Gefühle und Gedanken nicht zu dem gehören, was Menschen mit ihrem Willen kontrollieren können, dann können Uberzeugungen, Gefühle und Gedanken auch nicht Gegenstand von Verpflichtungen oder moralischer Bewertung sein. Eine andere Formulierung dieses Prinzips lautet: Man kann jemanden nicht für etwas loben oder tadeln, das nicht in seiner Macht steht. Man kann einen Menschen, der an unwillkürlichen Tics leidet, und seien sie noch so abstoßend, hierfür nicht tadeln - anders als einen, der sein Gesicht willentlich verzerrt, um jemanden zu provozieren oder zu ärgern. Man hat versucht, den kantischen Grundsatz mit Hilfe verschiedener Argumente und Gegenbeispiele zu untergraben. Stellen wir uns vor, so lautet eines dieser Beispiele, wir haben es mit einem Menschen zu tun, dem der Anblick eines vor Schmerz stöhnenden Tieres heimlichen Genuß bereitet. Nehmen wir weiter an, daß dieser Mensch dem Tier selbst kein Leid zugefügt hat, aber der Anblick bereitet ihm Genuß, auch wenn er dies nach außen nicht zu erken¡77

-m, £thik von J-[intergrundüberzeugungen nen gibt. Der Genuß, der sich mit dem Anblick des leidenden Tieres verbindet, unterliegt nicht der Kontrolle dieses Menschen, und doch stellt sich die Frage: Ist diese Person frei von allem Tadel, oder sollte man diesen verkappten Sadisten tadeln und verachten? W i r können auf die Geschichte vom verkappten Sadisten auf zweierlei Weise reagieren. Die eine Reaktion besteht darin, daß wir ihn tatsächlich tadeln. Aber diese Tatsache taugt nicht als Gegenbeispiel, sie widerlegt nicht das Prinzip, daß man andere nicht für etwas tadeln soll, daß nicht ihrer Kontrolle unterliegt. Der Grund für den Tadel bei dieser Reaktion besteht darin, daß wir die Geschichte vom verkappten Sadisten weiter ausschmücken. Wir glauben einfach nicht, daß sich die sadistischen Neigungen eines Menschen, dem der Anblick von Leiden Genuß bereitet, darauf beschränken werden, daß er seine Lust für sich behält - wir nehmen vielmehr an, daß ein solcher Mensch auch zu deviantem Verhalten neigen wird, um sich mehr Lust zu verschaffen. Wenn wir wirklich überzeugt wären, daß sich der Fall dieses Sadisten auf seine versteckte Lust beschränkt, müßten wir einräumen, daß wir kein Recht haben, ihm Vorwürfe zu machen, genausowenig, wie wir das Recht haben, jemanden zu tadeln, der träumt, er würde seinen Vater ermorden. Eine zweite Reaktion, auf die ich später eingehen werde, richtet ihr Augenmerk auf die Einstellung des Menschen zu seiner eigenen verwerflichen Lust. Wenn er sie bei sich selbst verurteilt, können wir uns nicht über ihn beschweren, und wir sollten ihn sogar loben, wenn wir feststellen, daß er sie verheimlicht, weil er selbst - und nicht nur seine Umgebung - diese deviante Lust verurteilt. Wenn er jedoch seine Lust nicht verurteilt, werden wir diese Lust für eine Perversion und ihn selbst für tadelnswert halten. Die zweite Reaktion deutet darauf hin, daß der Mensch in Gefühlsdingen auch dann nicht frei von moralischem Tadel ist, wenn er diese Gefühle nicht zu kontrollieren vermag. Wir werden argumentieren, daß dies ebenso für Uberij8

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Zeugungen gilt. Kants Prinzip, daß jedes »Sollen« ein »Können« voraussetzt, gilt meiner Meinung nach nur für Handlungen und selbst hier nicht in seiner einfachen kantischen Fassung. Die Ergänzung, deren das Prinzip Kants bedarf, ergibt sich aus dem folgenden Beispiel: Zwei Menschen besuchen ein Krankenhaus. Beide geraten in das Zimmer eines Patienten, von dem sich wegen seiner Krankheit alle fernhalten. Einer der beiden Besucher will dem Kranken Gesellschaft leisten, der andere will um sein Leben laufen, aber beide hören, wie hinter ihnen die Tür abgeschlossen wird, und erkennen, daß sie das Zimmer nicht verlassen können. Nehmen wir auch an, daß es, während sie im Zimmer sind, in ihrer beider Verhalten keine Unterschiede gibt - vielleicht, weil der Patient gerade schläft. Sollen wir diese beiden Besucher nun moralisch unterschiedlich beurteilen? Für mich besteht kein Zweifel, daß es einen Unterschied zwischen den beiden gibt, daß derjenige, der freiwillig im Zimmer geblieben wäre, Lob verdient, auch wenn nun beide im Zimmer eingeschlossen sind und sie keine andere Wahl haben, als darin zu bleiben. Dieses Beispiel zeigt, daß das Prinzip, moralisches Lob oder moralischer Tadel sei nur in Fällen von freien Handlungen angebracht, in denen der Handelnde auch anders hätte handeln können, genauer gefaßt werden muß. Das ergänzte und dadurch etwas komplizierte Prinzip läßt sich so formulieren: Im Falle von überdeterminierten Sachverhalten, d.h. in Fällen, in denen wenigstens zwei hinreichende Bedingungen erfüllt sind, von denen jede einzelne ausreichen würde, diesen bestimmten Sachverhalt hervorzubringen, und in denen eine dieser Bedingungen so beschaffen ist, daß sie den Sachverhalt durch eine Willenshandlung hervorbringen würde, kann man diese Handlung moralisch bewerten. Je nach Art der Handlung wird die Bewertung in Lob oder Tadel bestehen. Nur in Fällen, in denen die einzige Ursache für den Sachverhalt so beschaffen ist, daß der Mensch keinen Einfluß auf sie hat und die Handlungen ! 79

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des Menschen nicht seinem Willen unterliegen, kann man diesen Menschen für seine Handlungen nicht verantwortlich machen.2 So gelangen wir zu dem Punkt, an dem wir die Frage stellen: Ist Glauben eine Willenssache? Was für eine Frage stellen wir, wenn wir fragen, ob das Glauben oder Überzeugtsein dem freien Willen oder der freien Entscheidung unterliegt? Handelt es sich um eine empirische Frage, ähnlich der Frage, ob unsere Ohrmuskeln willkürliche Muskeln sind? Oder handelt es sich um eine logische Frage, die zu bestimmen versucht, ob aus dem Begriff des Glaubens folgt, daß er unwillkürlich sein müsse? Die Willensabhängigkeit von Muskeln ist eine Sache der Empirie, und der Beweis hierfür besteht darin, daß es Muskeln gibt, die bei manchen Individuen willkürlich sind, bei anderen jedoch nicht. Die meisten von uns können ihre Ohren nicht willkürlich bewegen, aber manche sind hierzu imstande, und für diese sind die Ohrmuskeln willkürliche Muskeln. Es wird nun behauptet, die Unwillkürlichkeit von Glauben sei etwas ganz anderes als die Unwillkürlichkeit eines Muskels, weil sich die Willensunabhängigkeit hier aus dem Begriff der Sache ergibt, weil sie logische, nicht empirische Gründe hat. Diese Behauptung stützt sich auf die logische Beziehung zwischen Glauben oder Überzeugung und Wahrheit. Jemand, der von einer bestimmten Aussage überzeugt ist, glaubt daran, daß sie wahr ist, und wenn es in seiner Macht stünde, seinen Glauben oder seine Überzeugung willentlich zu verändern, würde dies bedeuten, daß zwischen Wahrheit und Glauben kein Zusammenhang besteht. Wenn ich z. B. überzeugt bin, daß die Sonne im Westen untergeht, dann bin ich überzeugt, daß der Satz: »Die Sonne geht im Westen unter« wahr ist. Aber wenn ich meine Überzeugung verändern könnte, indem ich es so will und nur indem ich H a r r y G. Frankfurt: Alternate Possibilities and Moral Responsibility. In: ders.: The Importance of what We Care about. Philosophical Essays, Cambridge 1988, S. I - I I.

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es so will, dann würde der Zusammenhang zwischen meiner Uberzeugung und der Wahrheit zerreißen, denn nicht mein Wille ist die Ursache dafür, daß die Sonne im Westen untergeht.3 Ich bin nicht sicher, daß der Zusammenhang zwischen Überzeugung oder Glauben und Wahrheit unbedingt zerstört wird, wenn man annimmt, daß Glauben unseren Entschlüssen unterliegt. Ich bin auch nicht sicher, wie es um den logischen Zusammenhang zwischen Glauben und Willensunabhängigkeit steht, z. B. in einer magischen Gedankenwelt. Wenn ein Magier den eigenen Wunsch, seinen Glauben zu ändern, als Anzeichen für die Wahrheit seines neuen Glaubens ansieht, wahrt er den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Glauben. Man stelle sich einen Seher vor, der in seinem aus einem Willenswandel resultierenden Glaubenswandel ein Zeichen dafür sieht, daß sein neuer Glaube eine größere Chance hat, wahr zu sein. Er sieht in seinen Wünschen und in deren Veränderung einen »Beweis« für die Wahrheit seiner Überzeugungen. Ein Seher, der solche Überzeugungen hegt, erschiene uns zwar noch seltsamer als einer, der den Vogelflug oder die Windungen von Gedärmen als Vorzeichen betrachtet, aber in seinem magischen Denken bliebe der Zusammenhang zwischen Glauben und Wahrheit gewahrt, obwohl das Glauben hier allein ein Resultat des Wollens wäre.

M i r scheint, dies ist die Behauptung von Bernard Williams: Kann man sich dazu entscheiden, zu glauben? In: ders.: Probleme des Selbst, Stuttgart 1978, S. 2 1 7 - 2 3 8 . Siehe auch Barbara W i n t e r : Believing at Will In: Journal of Philosophy 7 6 ( 1 9 7 9 ) , S. 2 4 3 - 2 5 6 . Es ist unmöglich, die folgende Feststellung von Williams (S. 2 3 6 ) wörtlich zu nehmen: »Könnte man willentlich einen Glauben annehmen, so könnte man ihn ohne Rücksicht darauf annehmen, ob er wahr ist oder nicht; außerdem wüßte man, daß man ihn ohne Rücksicht auf Wahrheit oder Falschheit annehmen könnte.« Alle Uberzeugungen kann man sich unabhängig davon, ob sie wahr oder falsch sind, zueigen machen - dies beschränkt sich nicht auf Uberzeugungen, die dem W i l l e n unterliegen. Außerdem weiß jeder, daß er sich Überzeugungen unabhängig davon, ob sie wahr oder falsch sind, zu eigen machen kann. Daher vermute ich, daß W i l l i a m s eigentlich etwas im Sinne hatte, das der Argumentation gleicht, die ich in diesem Aufsatz entwickele. 3

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#! ¿ f i l i von J-£intergrundüberzeugungen Der These, Uberzeugungen seien keine Willenssache, widersprechen jene, die behaupten, Uberzeugungen seien ebendies. Zu den Befürwortern dieser Ansicht gehört Descartes, der sich damit in eine ehrwürdige Tradition einreiht. Seiner Meinung nach müssen bei jeder Behauptung zwei geistige Akte unterschieden werden: zum einen ein Verstandesakt, nämlich das Verstehen der Behauptung, zum anderen ein Willensakt, nämlich die Bekräftigung der Wahrheit der Behauptung. Ohne diese Bekräftigung entstehe keine Überzeugung, und eine Bekräftigung ist eine Willenshandlung. Die Zerlegung des Begriffs Überzeugung in seine Grundbestandteile - Verstehen und Bekräftigung - zeige also, daß der Wille ein konstitutives Element des Begriffs Überzeugungist. Damit sind wir in eine sonderbare Lage geraten. Auf den ersten Blick besteht eine tiefe Kluft zwischen Denkern wie Hume, die Glauben oder Überzeugung nicht für eine Willenssache halten, und denen, die wie Descartes, unsere Überzeugungen für ein Produkt unseres Willens halten, während doch beide Seiten ihre Meinungen auf eine Analyse des Begriffs »Glauben« oder »Überzeugung« stützen. Während im Hinblick auf das Prinzip offenbar Uneinigkeit besteht, herrscht in bezug auf die Tatsachen weitgehend Übereinstimmung. Fast jeder wird zustimmen, daß ich nicht auf einen bloßen Beschluß hin meine Überzeugung, daß ich in diesem Augenblick auf einem Textverarbeitungsgerät tippe, verändern kann. Jeder wird auch zustimmen, daß wir uns bisweilen dazu bringen können, etwas zu glauben, das wir glauben wollen. W i r befinden uns in einer ähnlichen Lage wie ein Mensch, der sein Herz dazu bringen will, schneller zu schlagen. Er kann seinem Herzmuskel nicht direkt den Befehl erteilen, schneller zu schlagen, aber er kann einen Hundert-Meter-Lauf machen und seinen Herzschlag auf diese Weise erhöhen. Ein Mensch kann sich auch willentlich in eine Gesellschaft oder in eine Lebenswelt begeben, in der sich die Chance beträchtlich erhöht, daß er sich bestimmte Überzeugungen zueigen machen wird, die seinen ιδζ

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gegenwärtigen Überzeugungen vielleicht sogar widersprechen. Ein Mensch kann sich auf unterschiedliche Art und Weise in eine Lage bringen, in der er mit einiger Wahrscheinlichkeit die Uberzeugungen annehmen wird, die er annehmen will. Bestätigt wird dies auch von den Vertretern der Theorie der kognitiven Dissonanz. Zuweilen scheint es sich bei solcher Selbstmanipulation nicht bloß um einen indirekten, sondern fast um einen direkten Vorgang zu handeln, etwa wenn ein Mann vor einem Spiegel steht und mit einem tiefen Atemzug den Bauch einzieht, um sich davon zu überzeugen, daß er keinen Bauch hat oder daß sein Bauch nur ein vorübergehendes, rückgängig zu machendes Phänomen ist.4 Gibt es Uberzeugungen, die wir willentlich, durch direkten Entschluß annehmen können? Sprachliche Wendungen helfen bei der Beantwortung dieser Frage nicht viel weiter. Einerseits stoßen wir immer wieder auf Äußerungen wie: »Ich möchte es ja wohl glauben, aber ich weigere mich zu glauben, daß...«, die offenbar voluntaristisch sind. Andererseits begegnen uns Wendungen wie: »Ich bin gezwungen, anzunehmen...« oder: »Insgesamt gesehen, nötigen mich die Beweise zu dem Schluß, daß dies oder jenes der Fall ist.« Man kann die voluntaristischen Wendungen metaphorisch deuten, aber man kann auch die Wendungen, die auf einen Zwang hinweisen, metaphorisch deuten. Welche Deutung vorzuziehen ist, hängt von der Frage ab, ob Überzeugungen eine Willenssache sind - und nicht von der Frage, ob Überzeugungen, je nachdem, wie wir uns ausdrücken, eine Willenssache sind. Die gewöhnliche Sprache ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.5 Aussichtsreicher, was die Beantwortung der Frage nach dem Willensstatus von Überzeugungen angeht, scheint ein

Brian O'Shaughnessy: The Will: Λ Dual Aspect Theory, Cambridge 1980, Bd. I, S. 24. 4

5 Bernard Mayo: Belief and Constraints. In: A. Phillips Griffith (Hg.): Knowledge and Belief, London 1967, S. I 4 7 - I 6 I .

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Ansatz, der zwischen beobachtungsgestützten Überzeugungen von der Art: »Ich glaube, daß ich jetzt auf einem Stuhl sitze« und nicht beobachtungsgestützten Uberzeugungen von der Art: »Ich glaube, daß das Universum vor achtzehn Milliarden Jahren geschaffen wurde« unterscheidet. Die These lautet: Hinsichtlich unserer beobachtungsgestützten Überzeugungen sind wir nicht frei, wohl aber in bezug auf unsere nicht beobachtungsgestützten Überzeugungen. Zwei Gründe werden für die Annahme angeführt, daß wir in unseren nicht beobachtungsgestützten Überzeugungen über mehr Freiheit verfügen. Der erste Grund lautet: Bei Beobachtungen besteht gewöhnlich ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen Beobachtung und Überzeugung, und es ist schwierig, sich von einer Überzeugung frei zu machen, die auf einem direkten kausalen Zusammenhang beruht. Der zweite Grund hängt mit der Tatsache zusammen, daß unser Begriff von Überzeugtsein, angewendet auf theoretische, nicht beobachtungsgestützte Sätze, tatsächlich auch solche Einstellungen zu Sätzen oder Behauptungen in sich schließt, die nur fälschlich als Überzeugung bezeichnet werden. Bei diesen Einstellungen handelt es sich in Wirklichkeit um willensbestimmte Haltungen gegenüber der Wahrheit von Sätzen - zum Beispiel die Bereitschaft, eine Theorie zu akzeptieren -, aber nicht um Überzeugungen. Es liegt kein Widerspruch in der Feststellung, daß Einstein die Quantentheorie zwar akzeptierte, aber nicht von ihr überzeugt war. Er akzeptierte sie insofern, als er sie in seinen Arbeiten verwendete und keine bessere Theorie kannte. Gleichwohl hielt er sie für fehlerhaft und falsch und hoffte, daß in der Zukunft eine bessere, wahrere Theorie gefunden würde. Hier rühren wir an einen empfindlichen Nerv. Es gibt Einstellungen zu Sätzen oder Behauptungen, die mit Überzeugungen eng verwandt sind, aber dennoch keine Überzeugungen sind, und nur unsere Trägheit verleitet uns dazu, sie unter der Rubrik Überzeugung abzulegen. Betrachten wir den folgenden Fall. Ich habe eine Stelle als Verkäufer 184

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angenommen, und zu den Dingen, die ich dabei akzeptiert habe, gehört auch, daß ich den Satz: »Der Kunde hat immer recht« für wahr halte. Ich glaube diesen Satz nicht, aber ich handele ihm gemäß. Genauso verhält sich eine Richterin, von der verlangt wird, den Satz, daß ein Mensch so lange unschuldig ist, wie seine Schuld nicht bewiesen wurde, auch dann für wahr zu halten, wenn sie von der Schuld der vor ihr stehenden Person fest überzeugt ist.6 Akzeptieren oder Für- wahr-Halten sind Einstellungen, die unserer Kontrolle unterliegen. Wenn wir wollen, können wir sie uns zueigen machen oder sie ablehnen, aber es handelt sich bei ihnen nicht um Uberzeugungen. Und vielleicht könnte man das Gebot, an die Existenz Gottes zu glauben, so deuten, daß es sich hier nicht um ein Gebot handelt zu glauben, daß Gott existiert, sondern um ein Gebot, eine Aussage über die Existenz Gottes zu akzeptieren. Das Ideal religiösen Lebens mag ein naiver Glaube sein, aber um das positive Gebot zu erfüllen, genügt das Akzeptieren - Glauben ist nicht erforderlich, weil in bezug auf Glauben kein Gebot erlassen werden kann. Bisher haben wir den religiösen Glauben und die wissenschaftliche Überzeugung in einem Atemzug genannt und haben zwischen dem Akzeptieren einer Theorie und dem Akzeptieren religiöser Glaubenssätze nicht unterschieden. Aber es gibt Leute, die dies für einen Irrtum halten. Der Irrtum besteht ihrer Meinung nach in der Annahme, daß sich religiöser Glaube im Akzeptieren oder Zurückweisen von Aussagen bekunde. Selbst wenn wir solchen Aussagen den Ehrfurcht gebietenden Titel »Glaubenssätze« verleihen würden, gelänge es uns doch nicht, aus dem religiösen Glauben eine Einstellung gegenüber Aussagen zu machen. Vielleicht kann man eine Kirche auf einem Komplex von Glaubenssätzen errichten, aber eine lebendige Religion nicht.

Edna Ullmann Margalit und Avishai Margalit: Holding True ani Holding as True. In: Synthese 9 2 ( 1 9 9 2 ) , S. 1 6 7 - 1 8 7 ; L. Jonathan Cohen: Belief and Acceptance. In: Mind, H . 3 9 1 ( 1 9 8 9 ) , S. 3 6 7 - 3 8 4 . 6

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Wenn Abraham an Gott glaubte und Gott darin seine Rechtschaffenheit erkannte, dann glaubte er nicht an Glaubenssätze, sondern setzte sein ganzes Vertrauen in Gott. Buber war der Ansicht, Paulus sei für diesen Wandel des religiösen Glaubensbegriffs verantwortlich, für die Verwandlung seiner biblischen in eine philosophische Bedeutung. In unseren Kategorien könnte man die Unterscheidung, auf der Buber beharrte, als den Unterschied zwischen »glauben an« und »glauben, daß« bestimmen, wobei das Komplement zu »glauben, daß« eine Aussage ist. Für Buber besteht ein entscheidender, kategorialer Unterschied zwischen »glauben an« und »glauben, daß«, und »glauben an« läßt sich nicht auf »glauben, daß« reduzieren. Trifft dies zu?7 Menschen glauben an sichere Grenzen, an Bluthunde, an unendliche Zahlen, an die Russische Revolution, an das Kommen des Messias, an Aspirin, an die Quantentheorie. Das Komplement von »glauben an« ist ein konkreter Name oder ein abstrakter Name oder die Beschreibung eines Ereignisses usw. Die Frage lautet, ob der Ausdruck »glauben an« aus dem Ausdruck »glauben, daß« abgeleitet werden kann. Ich neige zu der Ansicht, daß es sich hier tatsächlich um zwei verschiedene Glaubensbegriffe handelt. Wenn ich den Satz: »Ich glaube an Aspirin« umschreibe mit dem Satz: »Ich glaube, daß Aspirin ein wirksames Mittel zur Senkung von Fieber und zur Linderung von Schmerz ist«, so erfaßt dies nicht die volle Bedeutung des Satzes: »Ich glaube an Aspirin«, auch wenn er die Gründe dafür, daß ich an Aspirin glaube, durchaus wiedergibt. Um so mehr gilt dies im Hinblick auf: »Abraham glaubte an Gott«. Es ist klar, daß sich dies nicht umschreiben läßt mit: »Abraham glaubte an die Existenz Gottes«, und es ist durchaus nicht klar, daß es irgendeinen Komplex von Aussagen gibt, auf die sich Abrahams Glaube reduzieren ließe.

Henry H. Price: Some Considerations about Belief. In: Griffith: Knowledge and Belief, a. a. O., S. 41-60. 7

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Das bisher Gesagte zusammenfassend, läßt sich die Frage, ob es Uberzeugungen gibt, die wir uns willentlich zueigen machen können, folgendermaßen beantworten: Manchmal können wir dies indirekt; direkt jedoch können wir uns nur willensmäßige Einstellungen zueigen machen, die eine Verwandtschaft mit Uberzeugungen aufweisen, selbst aber keine Überzeugungen sind. Worin besteht die moralische Bedeutung der Tatsache, daß wir uns Überzeugungen willentlich nur indirekt zueigen machen können und auch dies nur ohne Erfolgsgewißheit? Eine mögliche Antwort lautet: Daß eine indirekte Kontrolle von Überzeugungen möglich ist, ist Grund genug dafür, Überzeugungen zum Gegenstand moralischer Bewertung zu machen. Die Situation gleicht der eines Menschen mit einer angeborenen Neigung zu Herzleiden. Er kann den Zustand seines Herzens durch direkten Entschluß nicht verändern, aber er kann eine Lebensweise annehmen, welche die Chancen dafür erhöht, daß er kein Herzleiden bekommt. Im Leben dieses Menschen spielt der Wille eine eingeschränkte Rolle, aber eine entscheidende spielt er in unserer Bewertung seiner Lebensweise. Die indirekte Methode zur willentlichen Aneignung von Überzeugungen scheint ein Rezept zur Selbsttäuschung zu sein. Andere Menschen täuschen bedeutet schließlich: selbst an eine bestimmte Aussage glauben und gleichzeitig versuchen, andere dazu zu bringen, an ihre Negation zu glauben. Und hier, so scheint es, verfährt man nun gegen sich selbst genauso. Aber nicht jeder willentliche Überzeugungswandel läuft auf eine Selbsttäuschung hinaus, wie die folgende viel diskutierte Geschichte zeigt. Das Kind einer fundamentalistischen Familie hat schon mit der Muttermilch den Glauben an die biblische Version von der Erschaffung der Welt und des Menschen in sich aufgenommen. Dieser Mensch will in der Gesellschaft vorankommen und ist der Meinung, daß ihm das nur gelingt, wenn er den Glauben der Elite an die Evolutionstheorie übernimmt. Er meldet sich zu einem

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i® ^Wunder und 'Beweis Seminar über Evolution an einer angesehenen Universität fernab der Heimat und weiß, daß der Leiter dieses Seminars ein faszinierender Lehrer mit großer Ausstrahlung ist. Er hofft, daß er im Laufe des Seminars zu einem überzeugten Anhänger der Theorie wird, daß der Mensch vom Affen abstammt. 8 Nehmen wir an, daß alles, was er erwartet hat, auch tatsächlich eintritt. Dieser Mensch erinnert sich noch sehr genau an den Wunsch, seinen Glauben zu verändern, und an die Mittel, mit denen er dies zuwege brachte. Kam dieser Wandel nun durch Selbsttäuschung zustande? W i e verhielte es sich mit einem Sinneswandel in der umgekehrten Richtung, vom Glauben an die Evolution hin zu dem Glauben an eine Erschaffung der Welt durch Gott, wobei das Motiv der Wunsch ist, die Hand der bezaubernden Tochter eines Baptistenpredigers zu gewinnen? Wenn zwischen beiden Fällen in unseren Augen eine Asymmetrie zu bestehen scheint - liegt dies nicht nur an einem Vorurteil zugunsten der Aufklärung? U m diese Fragen zu beantworten, sollten wir zunächst dreierlei unterscheiden: Ursachen von Überzeugungen, Motive für Uberzeugungen und Gründe für Überzeugungen. Die Ursache für meine Überzeugung, daß ich auf der anderen Straßenseite zwei Männer gesehen habe, während in Wirklichkeit nur einer dort stand, besteht darin, daß ich auf der Party zuviel Alkohol getrunken habe. Das Motiv für meine Überzeugung, daß meine Tochter musikalisch begabt ist, besteht darin, daß ich sie liebe und mir wünsche, daß sie dort Erfolg hat, wo ich gescheitert bin. Der Grund für meine Überzeugung, daß mein Sohn ein sportliches Talent ist, sind seine Leistungen bei Wettkämpfen. Wenn ein durch Motive bedingter (d. h. willentlicher) Überzeugungswandel von Gründen für diese neue Überzeugung flankiert wird, ist dieser Überzeugungswandel nicht J. Thomas Cook: Deciding to Believe without Self-deception. In: Journal of Philosophy 8 4 ( 1 9 8 7 ) , S. 4 4 1 - 4 4 6 . 8

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unbedingt ein Fall von Selbsttäuschung. Wenn ich indessen absichtlich Alkohol trinke, um zu einer optimistischeren Uberzeugung zu gelangen, dann täusche ich mich selbst. Der manipulative Einsatz einer Ursache, die kein Grund für einen Wandel der eigenen Überzeugung ist, gehört zum Mechanismus der Selbsttäuschung. Der Fundamentalist, der seine Überzeugung durch eine Mischung aus Motiven und Gründen verändert, betreibt nicht unbedingt Selbsttäuschung, denn die Gründe, die er sich zueigen gemacht hat, können eine hinreichende Rechtfertigung fur den Überzeugungswandel darstellen. Andererseits sehen wir im zweiten Fall, in dem Wechsel vom Glauben an die Evolution hin zum Schöpfungsglauben, einen Wandel infolge von Motiven, die nicht von Gründen flankiert sind, die den Überzeugungswandel rechtfertigen würden. Nicht jeder willentliche Überzeugungswandel läuft also auf eine Selbsttäuschung hinaus. Dies gilt nur für einen Überzeugungswandel, der sich einem bloßen Willensakt verdankt. Ist Selbsttäuschung in jedem Fall eine illegitime Methode, sich Überzeugungen zueigen zu machen? Ich glaube, daß meine Tochter kein musikalisches Talent besitzt. Sie singt falsch. Die wenigen Klavierstunden, die sie genommen hat, haben bisher nur ein unbeholfenes Spiel erbracht. Ich weiß, wenn ich meine Überzeugung ändere und anfange zu glauben, daß sie durchaus musikalisch begabt ist, werde ich ihr ein hilfreicher Vater sein können, und es besteht die Chance, daß sich ihr Spiel erheblich verbessert. So tun als ob, wird nichts nützen: Das Kind ist sehr sensibel und würde jede Verstellung bemerken. Soll ich mir nun auch um den Preis der Selbsttäuschung die Überzeugung zueigen machen, daß meine Tochter musikalisch begabt ist, da doch meine Überzeugtsein möglicherweise ihre Fähigkeiten steigern wird? Mir scheint, ich muß mir den Glauben an ihre musikalische Begabung auch um den Preis zeitweiliger Selbsttäuschung zueigen zu machen. Gerechtfertigt wird dieses Vorgehen durch das Prinzip der self-fulfilling prophecy, der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Eine solche 189

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Prophezeiung beruht auf einer Überzeugung, die zunächst ungerechtfertigt ist. Aber die Uberzeugung als solche stellt einen Kausalfaktor dar, der die Chancen dafür, daß sich die Prophezeiung bewahrheitet, erheblich erhöht. Im Falle einer self-fulfilling prophecy sollte ein Mensch sich die Uberzeugung zueigen machen, wenn ihre Erfüllung zu einer besseren Welt führt. Das Prinzip der self-fulfilling prophecy hat sich offenbar auch William James zueigen gemacht, er allerdings hat es irrigerweise auf den Glauben an die Existenz Gottes angewendet. Der Glaube an die Existenz Gottes stellt aber, zumindest nach herkömmlicher Auffassung, keine self-fulfilling prophecy dar. Von Gott nimmt man an, daß er auch dann existiert, wenn nicht an ihn geglaubt wird. James brachte die self-fulfilling prophecy mit der Selbsterfullung des Glaubens an die Existenz Gottes durcheinander. Erstere hängt vom Glauben ab, letztere nicht. 9 Im folgenden möchte ich Gründe dafür anführen, daß es richtig ist, Überzeugungen auch dann moralisch zu bewerten, wenn sie nicht durch einen Willensakt zustande gekommen sind und daher auch nicht unserer Kontrolle unterliegen. Meine Ansicht stützt sich im wesentlichen auf die Tatsache, daß Menschen Hintergrund- und Vordergrundüberzeugungen hegen. Betrachten wir das folgende Beispiel: In den Einleitungen von Büchern findet man oft eine Erklärung, die nicht immer nur eine Geste der Bescheidenheit ist, daß nämlich der Verfasser die Verantwortung für alle Irrtümer im Buch übernimmt. Diese Verfasser scheinen also zu glauben, daß ihre Bücher falsche Aussagen, d. h. Irrtümer enthalten. Dennoch sind sie vermutlich von der WahrW i l l i a m James: The Will to Believe. In: ders.: The Will to Believe. Human Immortality and Other Essays in Popular Philosophy ( 1 8 9 7 ) , London I 9 I 2 , S. I - 3 1 . James spricht über den Glauben an die Existenz Gottes nicht direkt als einen sich selbst erfüllenden Glauben. Er sagt, daß wir alle besser daran wären, wenn wir den Satz »Vollkommenheit ist ewig« glauben würden, der seiner Meinung nach die zentrale Aussage der Religion ist. Entsprechend kann man James so deuten, daß er glaubt, der sich selbst erfüllende Glaube sei ein Glaube in bezug auf unsere Lebenslage, die sich durch unseren Glauben bessern würde, und nicht ein Glaube an die Existenz Gottes. 9

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heit jeder einzelnen Aussage in ihrem Buch überzeugt, sonst hätten sie sie nicht niedergeschrieben. Wie läßt sich dieses Paradox lösen? Eine herkömmliche Lösung besteht darin, von unterschiedlichen Graden von Uberzeugtheit zu sprechen. Man könnte die Situation, in der sich der Verfasser befindet, mit der Situation eines Menschen vergleichen, der ein Los in einer Lotterie kauft, bei der von einer Million Losen nur ein einziges gewinnt. Im Falle der Lotterie glauben wir mit nahezu völliger (aber eben nicht völliger) Sicherheit von jedem Los, das uns vorgelegt wird, daß es nicht das Gewinnlos sein wird. Dennoch glauben wir mit ebensolcher Gewißheit, daß eines der Lose gewinnen wird. Es besteht hier, so der Gedanke, ein Gegensatz, aber kein Widerspruch zwischen der nahezu vollständigen - aber eben nicht vollständigen - Gewißheit, daß ein zufällig gewähltes Los nicht das Gewinnlos sein wird, und der vollständigen Gewißheit, daß eines der Lose gewinnen wird. Ein anderer Lösungsansatz geht nicht von unterschiedlichen Graden von Uberzeugtheit aus, sondern unterscheidet zwischen Vordergrund- und Hintergrundüberzeugungen. Der Verfasser eines Buches hegt eine Vordergrundüberzeugung in bezug auf die Wahrheit jeder Aussage in seinem Buch. Dennoch hegt er auch eine Überzeugung in bezug auf seine Uberzeugungen, nämlich die, daß unter ihnen einige Aussagen falsch sind, auch wenn er nicht weiß, welche falsch sind. Die Vordergrundüberzeugungen betreffen das Gebiet, mit dem sich das Buch befaßt. Die Hintergrundüberzeugungen des Verfassers betreffen die in seinem Buch zum Ausdruck kommenden Überzeugungen. I0 Auf der 10 Siehe Arthur N. Prior: Objects of Thought, Oxford 1971, S. 8 4 . Siehe auch David Clement Makinson: The Paradox of the Preface. In: Analysis 2 5 ( 1 9 6 4 / 6 5 ) , S. 2 0 5 - 2 0 7 . Meiner Meinung nach bringt das Vorwort-Paradox zwei Prinzipien durcheinander, die sich sowohl in der Rangfolge ihrer Quantoren als auch in ihrer Position in bezug auf Vordergrund und Hintergrund unterscheiden. Das erste Prinzip besagt: Für jeden Satz gilt, wenn a ihn glaubt, dann glaubt er, daß der Satz wahr ist. Als Formel: ( s ) (Gas. Ga daß s wahr ist). Niemand kann gegen dieses Prinzip etwas einwenden, da es nichts weiter als eine Klärung des Begriffs »Überzeugung« ist. Das zweite Prinzip besagt: a glaubt in bezug auf

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Grundlage des ersten Prinzips kann der Autor jede seiner Uberzeugungen in seinem Buch völlig aufrichtig zum Ausdruck bringen, während er auf der Grundlage der Negation des zweiten Prinzips in seinem Vorwort den Vorbehalt festhalten kann, daß sein Buch mit großer Sicherheit einige Irrtümer enthält. Die Annahme des ersten Prinzips und die Verneinung des zweiten bilden keinen Widerspruch. Diesen »Hintergrund« hat der Mensch dem Tier voraus. Die Kuh im Stall ist überzeugt, daß am anderen Ende des Stalles Heu zu finden ist, und sie zieht auch das Heu dem Stroh vor. Aber nur Menschen hegen Uberzeugungen in bezug auf ihre Überzeugungen und Wünsche in bezug auf ihre Wünsche. 11 jeden Satz, daß, wenn er ihn glaubt, dieser Satz wahr ist. Als Formel: G 2 a [(s) (G'as. Es ist wahr, daß s)]. Dieses Prinzip kann nicht einmal als Erklärung einer rationalen Uberzeugung akzeptiert werden, denn a weiß, daß er in der Vergangenheit auch in Fällen, in denen er gute Gründe für seine Überzeugungen hatte, geirrt hat. Der Überzeugungs(Glaubens)-Operator G 2 außerhalb der eckigen Klammern in dem zweiten Prinzip sollte als Hintergrundüberzeugung interpretiert werden (daher der Index 2), die sich auf den Operator G 1 innerhalb der Klammern bezieht. Auf der Grundlage des ersten Prinzips kann der Autor jede seiner Überzeugungen in seinem Buch völlig aufrichtig zum Ausdruck bringen, während er auf der Grundlage der Negation des zweiten Prinzips in seinem Vorwort den Vorbehalt festhalten kann, daß sein Buch mit großer Sicherheit einige Irrtümer enthält. Die Annahme des ersten Prinzips und die Verneinung des zweiten bilden keinen Widerspruch. 11 Meine These, daß Hintergrundüberzeugungen ein unverwechselbares M e r k mal des Menschen sind, weist offenbar Parallelen zu H a r r y Frankfurts These über die Bedeutung von Hintergrundwünschen für die Charakterisierung eines Menschen auf. Siehe H a r r y G. Frankfurt: Freedom of the Will and the Concept of a Person. In: ders.: The Importance of what We Care about, a. a. O., S. 11-26. Aber fiir die Idee der Hintergrundüberzeugung läßt sich noch eine zweite Herkunftslinie zeichnen, eine die auf den Hegelianismus und Neo-Kantianismus zurückgeht und das Wesen von Reflexion betrifft - Reflexion nicht als Verarbeitung von Primäreindrücken, wie Locke und andere Empiristen diesen Begriff verstanden, sondern Reflexion als Denken über Denken. Eine der Bedeutungen von Reflexion betrifft auch das wiederholte Nachdenken über einen bestimmten Gegenstand, ein »nachträgliches Denken«, das die unmittelbare Reaktion, den Reflex aufschiebt. Insofern ist Reflexion das Gegenteil von Reflex. Meiner Deutung zufolge ist Reflexion aber eine Hintergrundüberzeugung hinsichtlich einer Vordergrundüberzeugung, und zwar eine Hintergrundüberzeugung, die ein H a n deln auf der Grundlage der Vordergrundüberzeugung aufschieben oder verhindern kann. Reflexion setzt nicht unbedingt eine explizite Überzeugung voraus. Z u m Beispiel habe ich bisher immer stillschweigend geglaubt, daß es mehr als

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Kürzlich wurde eine Auswahl aus den privaten Tagebüchern des Essayisten, Satirikers und Gesellschaftskritikers Henry L. Mencken unter dem Titel Prejudices (Vorurteile) veröffentlicht. 12 Die Lektüre dieser Tagebücher zeigt, daß der »Weise von Baltimore« in den Jahren zwischen 1 9 3 0 und 1 9 4 0 ausgeprägt antisemitische Vorurteile hegte. Die Tagebücher waren mit großer Sicherheit privat, und Mencken hat - soweit ich weiß - sein Leben lang seine antisemitischen Uberzeugungen nie geäußert oder auch nur angedeutet. Selbst in seiner nächsten Umgebung ahnte niemand etwas. Er äußerte seinen Antisemitismus weder in Rede noch in Schrift, und vielleicht hat er einigen Juden sogar geholfen und sie unterstützt. Soll man Mencken nun für seine Überzeugungen tadeln, oder soll man ihn dafür loben, daß er sie nie geäußert und nicht nach ihnen gehandelt hat? Oder sollte er weder gelobt noch getadelt werden, weil diese Überzeugungen nicht seiner Kontrolle unterlagen und nur ihre öffentliche Äußerung von seinem Willen abhing? Mehrere Reaktionen auf die Geschichte von Mencken sind möglich, und sie erinnern an die Reaktionen in bezug auf die Geschichte über den verkappten Sadisten. Eine Reaktion besteht darin, nicht zu glauben, daß ein Mensch wie Mencken, der in seinen Tagebüchern als erklärter Antisemit erscheint, sich darauf beschränken wird, seine Ideen in diesem M e d i u m zum Ausdruck zu bringen. Wenn er beispielsweise schrieb, die Juden seien aufdringlich, dann wird er sich ihnen gegenüber auch so verhalten haben, als ob sie es wären. 13 zehn Aussagen gibt, die ich nicht glaube, aber bis zu diesem M o m e n t war dies keine Uberzeugung, die mir bewußt gewesen wäre. Ich möchte darauf hinweisen, daß Reflexion auch Introspektion nicht voraussetzt, wie die Empiristen meinten, wenn sie erklärten, die Reflexion betrachte die Operationen des Verstandes, wie sie bei der Introspektion gesehen werden. Henry L. Mencken: Prejudices. A Selection. Hrsg. von James T. Farteli, Baltimore 1996.

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13 Ich bin von vielen Seiten darauf hingewiesen worden, daß Menckens wirkliche Geschichte von der hier erzählten stark abweicht. Manche behaupten, Mencken haben die Juden tatsächlich verachtet, er habe aber auch alle anderen

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.#! "Wunder uni "Beweis Eine andere Reaktion besteht darin zu sagen, daß wir Mencken keinerlei Äußerung von massivem oder subtilem Antisemitismus zuschreiben können. Im Gegenteil, es gibt Hinweise darauf, daß er massiv rassistische Uberzeugungen in bezug auf Schwarze hegte. Dennoch tat er alles, um seinen schwarzen Journalistenkollegen zu helfen, und dies in einer Zeit, in der sich kaum jemand um deren schwierige Lage kümmerte. Deshalb sollte man die Offenbarungen in Menckens Tagebücher als das nehmen, was sie sind, und nicht nach etwas suchen, was es nicht gibt. Aber was gibt es in Menckens Geschichte? Mencken war nicht der Meinung, daß an seinen Uberzeugungen hinsichtlich der Juden irgend etwas schlecht sei, er glaubte vielmehr, sie enthielten die Wahrheit über die Juden. Dennoch war es ihm wichtig, seinen Ruf als vorurteilsloser Mensch zu wahren, und er wußte, daß seine Anschauungen über die Juden wahrscheinlich als Vorurteile gedeutet werden würden. Deshalb, nämlich aus dem eigensüchtigen Wunsch, den eigenen Ruf in der Öffentlichkeit zu wahren, behielt er seine Überzeugungen für sich. Deshalb sollte Mencken fur seine verachtenswerten Überzeugungen getadelt werden, auch wenn er nicht nach ihnen handelte. Wenn sich andererseits herausstellen würde, daß Mencken der Überzeugung war, seine Erziehung weise Mängel auf und aufgrund dieser Mängel sei er anfällig für Vorurteile gegen Juden gewesen, ohne allerdings zu wissen, welche von seinen Überzeugungen in bezug auf ethnischen und nicht-ethnischen Gruppen verachtet. Sidney Morgenbesser sollte einmal als Geschworener an einem Prozeß mitwirken und wurde von der Anklagevertretung gefragt, ob ihm die Polizei jemals in unfairer oder ungerechtfertigter Weise begegnet sei. Morgenbesser antwortete, die Polizei sei ihm einmal in fairer und dennoch ungerechtfertigter Weise begegnet. Während der Unruhen an der Columbia University schlug ihm ein Polizist auf den Kopf, eine ungerechtfertigte Handlung, aber zugleich eine absolut faire Handlung, da die Polizei auch allen anderen auf den Kopf schlug. Jener These zufolge schlug Mencken also den Juden auf den Kopf, aber er schlug auch allen anderen auf den Kopf. Dies ist die eine These. Eine andere lautet, daß Mencken die Juden besonders stark verachtet habe und daß seine Tagebücher also nichts Neues offenbarten. Wenn der historische Mencken mit meinem Beispiel nicht übereinstimmt, dann können wir ihn immer noch als ein fiktives Beispiel betrachten. 194

jívishai J/iargalit die Juden falsch waren, und wenn er aus diesem Grund nicht nach seinen Uberzeugungen handelte, dann müßte Mencken nicht getadelt, sondern gelobt werden. Ich behaupte nicht, daß Hintergrundüberzeugungen für die eigene Identität wichtiger wären oder das eigene wahre Selbst zutreffender darstellen würden als Vordergrundüberzeugungen. Auch in den Hintergrundüberzeugungen hinsichtlich ihrer Vordergrundüberzeugungen können sich Menschen extremen Illusionen überlassen. Die Kluft zwischen Vordergrund- und Hintergrundüberzeugungen kann eine Quelle fortwährender Selbsttäuschung sein, insofern wir uns selbst in einer bestimmten Situation meistens viel weniger streng beurteilen, als wir andere in der gleichen Situation beurteilen würden. Aber auch wenn Hintergrundüberzeugungen nicht unser Wesen ausmachen, ist die Tatsache, daß wir solche Uberzeugungen hegen, doch Teil unseres Wesens, und der Raum zwischen diesen beiden Arten von Überzeugung ist die Bühne, auf der unsere inneren moralischen Dramen aufgeführt werden. Auch wenn ich sage, daß Hintergrundüberzeugungen das Selbst nicht unbedingt besser darstellen als Vordergrundüberzeugungen, scheint mir doch, daß die Uberzeugungen, in denen das Selbst tatsächlich zum Ausdruck kommt, jene sind, die einen Menschen letzten Endes veranlassen, zu handeln oder vom Handeln abzusehen. Wenn Mencken also durch seine Hintergrundüberzeugungen vom Handeln abgehalten wurde, dann bringen diese Überzeugungen sein Selbst besser zum Ausdruck als die anderen. Zu Beginn bin ich auf die Analogie zwischen Geboten, die zu Überzeugungen verpflichten, und Geboten, die zu

14 Die These, daß die Überzeugungen, die das Handeln eines Menschen leiten, zugleich jene seien, die sein wahres Selbst zum Ausdruck bringen, möchte ich in einer Hinsicht einschränken. Es gibt auch Fälle von zeitweiliger Überzeugungsschwäche, in denen ein Mensch, wie in Fällen von Willensschwäche, gegen seine besseren Überzeugungen handelt. Aber nur in Fällen von zeitweiliger, vorübergehender Überzeugungsschwäche, würden wir sagen, daß ein Mensch seinem Charakter und seinen Überzeugungen zuwiderhandelt.

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Gefühlen verpflichten, eingegangen - auf die Analogie etwa zwischen dem Gebot, das den Glauben an die Existenz Gottes betrifft, und dem Gebot: »Du sollst nicht begehren«. Ich möchte noch einmal darauf zurückkommen. Ein wichtiger Trend in den philosophischen Debatten über die Emotionen ist heute die Analyse von Emotionen in kognitiven Begriffen. Der Mann, der die Frau seines Nachbarn begehrt, ist davon überzeugt, daß sie die Frau seines Nachbarn ist, er mißt ihr einen positiven Wert bei und empfindet ein Verlangen nach ihr. Die Analyse zeigt also, daß die Emotion drei Bestandteile aufweist: Uberzeugung, Wertschätzung und Empfindung, wobei die Analyse ihr Augenmerk nun vor allem auf die Elemente Uberzeugung und Wertschätzung richtet.15 Dieser Darstellung zufolge unterliegen Überzeugungen, Wertschätzungen und Empfindungen nicht der direkten Kontrolle des Menschen, und deshalb sind Emotionen keine Sache der freien Wahl oder des Willens. Manche allerdings - namentlich William James behaupten, daß Emotionen durchaus einer Wahl unterliegen. Bei einem Begräbnis entschließt man sich zu einer Emotion des Kummers - man senkt den Kopf, macht ein wehmütiges Gesicht, läßt die Schultern hängen, und all diese Gesten bewirken, daß man Kummer fühlt. Man handelt nicht so, weil man traurig ist - sondern umgekehrt, man ist traurig, weil man sich in dieser bestimmten Weise verhält. Im Gegensatz zu James sehe ich in dieser Umkehrung der Kausalfolge allenfalls einen Rat, wie sich die eigenen Emotionen indirekt manipulieren lassen, nicht jedoch, wie James meinte, einen Beweis dafür, daß die Emotionen eine Sache des Willens oder der Wahl sind. Die Analogie zwischen Emotionen und Überzeugungen führt uns zu einem Gedanken Humes zurück, der durch die Verschiebung des Akzents von den Empfindungen auf die Überzeugungen und Wertschätzungen bei der Analyse von 15 Siehe Robert Nozick: Emotionen. In: ders.: Vom richtign, guten und glückliehen Leben, München I 9 9 I , S. 9 6 - 1 0 8 .

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Avishai Margalit # Emotionen in Vergessenheit geriet. Humes Idee war es, Uberzeugungen auf Emotionen zurückzufuhren, statt umgekehrt. Auf der Grundlage dieser Idee wird die Zergliederung der Uberzeugung in die drei Elemente Empfindung, Uberzeugung und Wertschätzung unscharf. Statt von drei Elementen soll demnach nur noch von Empfindungen die Rede sein, wobei Glauben oder Überzeugung eine Wahrheitsempfindung darstellt und Wertschätzung eine E m pfindung davon, daß etwas gut (oder schlecht, schön oder häßlich) sei, so wie Angst eine Géfahrenempfindung und Stolz eine Erfolgsempfindung darstellt. Uberzeugung als Wahrheitsempfindung wird oft in Eindrücken ausgedrückt wie: »Ich habe den klaren Eindruck, daß mehr als zehn Personen im Raum waren.« Der Grad von Anschaulichkeit des Eindrucks ist ein M a ß dafür, wie sehr man von seiner Wahrheit überzeugt ist. Gefühl und Empfindung sind keine Willenssache, deshalb ist auch Uberzeugung etwas Unwillkürliches. Ich habe weiter oben zwei Interpretationen des Begriffs »Überzeugung« erwähnt. Die erste stammt von Descartes, die zweite von Hume. Descartes zufolge bestehen Überzeugungen aus zwei Elementen: einer Aussage, die verstanden wird, und einem Willensakt, der die Wahrheit der Aussage bestätigt. W i r sollten vielleicht hinzufügen, daß nach Descartes nicht jede Überzeugung so beschaffen ist. Es gibt einen Typus von Überzeugung, bei dem sich die Frage des Willens nicht stellt. Es sind dies die selbstverständlichen Uberzeugungen, von denen man, indem man sie versteht, zugleich weiß, daß sie wahr sind. Aber von dieser Ausnahme abgesehen, ist Descartes der Ansicht, daß der Verstand rät und der Wille billigt. Aus einer unkonventionellen Perspektive habe ich Hume in einen Gegensatz zu Descartes gebracht. Auch Hume zerlegt Überzeugungen in zwei Bestandteile: einerseits die verstandesmäßigen Vorstellungen und andererseits Empfindungen darüber, daß diese Vorstellungen wahr sind. Am Grad der Anschaulichkeit der Vorstellung bemißt sich die Stärke unserer Empfindung in

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bezug auf die Wahrheit der Vorstellung. Bei Geisteskranken wird die Anschaulichkeit der Vorstellung oft zu einer Quelle von Illusionen, aber bei normalen Menschen ist sie eine nützliche Richtschnur. Die Empfindung der Wahrheit einer Vorstellung ist passiv und unwillkürlich, im Gegensatz zum Willen, der aktiv ist. Mir scheint, wir haben aus dem Blick verloren, daß die pyrrhonische Skepsis die Interpretationen von Descartes und Hume tatsächlich schon miteinander verknüpft hatte. Die pyrrhonische Skepsis forderte ein In-der-SchwebeLassen jeglicher Uberzeugung. So etwas ist leicht gesagt, aber was es bedeutet, läßt sich schwer erklären. Schließlich dienen die eigenen Uberzeugungen den Menschen als Richtschnur für ihr Handeln, und die Empfehlung, Überzeugungen in der Schwebe zu lassen, gleicht der Empfehlung, mit dem Atmen aufzuhören. Wenn man die Prinzipien der pyrrhonischen Skeptiker, namentlich ihre Empfehlung, Uberzeugungen in der Schwebe zu lassen, in die Praxis umsetzen würde, so Hume, dann würden die Menschen aussterben. Man kann die Empfehlung der Skeptiker meiner Ansicht nach verstehen, indem man zwischen dem Eindruck, den wir von einem Sachverhalt haben, und der Bekräftigung der Wahrheit dieses Eindrucks unterscheidet. Die Empfehlung lautet, diesen Eindruck nicht als Indikator für Wahrheit zu nehmen. Die Versicherung, daß etwas der Fall ist, hängt von unserem Willen ab, und dies ist es, was wir aufschieben müssen. Aber unsere Eindrücke sind die Richtschnur für unser Handeln, und der Grund dafür, daß wir sie nutzen, besteht darin, daß es keinen Grund gibt, sie zu mißachten, zumal wir über nichts Besseres verfügen. Das bloße Vorhandensein des Eindrucks ist der beste Grund dafür, ihn beim Handeln zu nutzen. Die Empfehlung des Skeptikers läßt sich mit Hilfe dieser Metapher verstehen: »Atme weiter Sauerstoff und Stickstoff ein, wie du es immer getan hast, und versuche nicht, reinen Sauerstoff einzuatmen, wie es der Dogmatiker von dir fordert, denn das ist gefährlich.« 198

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Ich möchte nun nicht die Frage stellen, ob Überzeugungen Willenssache sind, sondern ob der Mangel an Überzeugtheit oder Glauben vom Willen abhängt und in welchem Zusammenhang er mit der Ethik von Uberzeugungen steht. Man hat viel Gelehrsamkeit und hermeneutische Mühe auf die Klärung der Etymologie des Wortes »Häresie« verwendet, das sich aus dem griechischen Wort fur Wahl herleitet. Aus der Etymologie kann man jedoch nicht ableiten, daß Mangel an Glauben vom Willen abhängig ist, ebensowenig wie man aus sprachlichen Ausdrücken ableiten kann, daß Glauben und Uberzeugung willensabhängig sind. Es trifft zu, daß viele Theologen die Häresie als einen Willensakt ansehen, und Calvins Mitstreiter Theodor Beza, der besonders erpicht darauf war, Häretiker auf dem Scheiterhaufen brennen zu sehen, erklärte, der Häretiker »leugnet die Wahrheit willentlich«. Der moralische Vorwurf, der gegen den Häretiker erhoben wird, ist der des Starrsinns. Diese Anklage, die dem überzeugungsethischen Arsenal von Verurteilungen entnommen ist, müssen wir näher untersuchen. Unter Häresie verstehen wir in diesem Zusammenhang nicht kirchliches Sektierertum oder Ungehorsam gegenüber der Autorität, sondern die Leugnung eines Glaubens durch einen Menschen, welcher der Lehren dieses Glaubens teilhaftig geworden ist. Der Unglaube des Häretikers ist in der Sprache des Mittelalters ein positiver Unglaube, d. h. der Unglaube eines Menschen, der es besser wissen müßte. Die Sprache des Mittelalters kannte auch einen negativen Unglauben, d.h. den Unglauben dessen, der sich durch Nachlässigkeit oder Unaufmerksamkeit gegen die Lehren des Glaubens verschloß. Der Starrsinn, um den es uns hier geht, ist also nicht die Hartnäckigkeit dessen, der es ablehnt, sich der Autorität zu beugen, und auch nicht die Hartnäckigkeit eines Maulesels, der sich weigert, auf einem geraden Weg weiterzugehen. Der Starrsinn, um den es uns in dieser Erörterung geht, betrifft allein Glaubensfragen. Es ist nicht

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#! £thik von J-[intergrundüberzeugungen schwierig, den Begriff Starrsinn als eigensinniges Handeln eines Menschen zu bestimmen, der sich weigert, auf die Worte des Glaubens zu hören. Die Sünde des Unglaubens als Unterlassungssünde ist also ζ. B. die Sünde derer, die nicht glaubten, daß das europäische Judentum ausgelöscht wurde, als es möglich und nötig war, dies zu glauben. Was können wir über einen Menschen sagen, der hört, zuhört und versteht und dennoch nicht glaubt? In welchem Sinne kann man ihm, wenn überhaupt, Starrsinn vorwerfen? Ich möchte an dieser Stelle den Begriff der Ambivalenz gegenüber Überzeugungen einfuhren. Das Neue daran besteht in dem Gedanken, daß nicht nur Wünsche, sondern auch Überzeugungen ambivalent sind. Ambivalenz gegenüber Überzeugungen bezieht sich auf die Einstellung eines Menschen zu einer Aussage, an deren Wahrheit er einerseits glaubt, während er andererseits glaubt, daß seine Gründe, die diesen Glauben oder diese Überzeugung rechtfertigen, nicht gültig sind. Menschen glauben oft auch dann noch weiter an bestimmte Aussagen, wenn sie längst festgestellt haben, daß sich die Tatsachen, auf denen ihre Überzeugung beruht, als falsch erwiesen haben. So kann ζ. B. jemand auch dann noch glauben, daß im Zuge der rumänischen Revolution mehr als sechzigtausend Menschen ums Leben gekommen sind, wenn er herausgefunden hat, daß die Quellen, auf die er seine Überzeugung stützte, nicht zuverlässig waren. Er kann an seiner Überzeugung hinsichtlich der Zahl der Toten mit dem Argument festhalten: »Ich kenne die Rumänen, die bringen keine Revolution zuwege, ohne daß sechzigtausend Menschen ums Leben kommen.« Solche Erstarrung im Glauben, die über den Nachweis der Unzuverlässigkeit der Quellen hinaus fortbesteht, spricht vielleicht dafür, daß Glauben und Überzeugung eine Sache der Gewohnheit sind, und es ist schwierig, Gewohnheiten zu verändern, vor allem schlechte. Daß Glaube oder Überzeugung etwas von einer Gewohnheit an sich haben, erklärt zum Teil, warum es so schwierig oder unmöglich ist, den eigenen Glauben allein durch Entschluß zu verändern. zoo

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Die Schuld beim Starrsinn besteht im Nichtakzeptieren einer gerechtfertigten Uberzeugung und im ambivalenzlosen Festhalten an einer ungerechtfertigten älteren Uberzeugung. Die Empfehlung lautet, die eigene Hintergrundüberzeugung möge erkennen, daß die eigene Vordergrundüberzeugung nicht gerechtfertigt ist und daß man ihr trotzdem noch Glauben schenkt. Es ist dies nicht eigentlich eine Forderung, da ich nicht der Meinung bin, daß die Hintergrundüberzeugungen eines Menschen dem Willen in stärkerem Maße unterliegen als seine Vordergrundüberzeugungen. Es bedeutet nur, daß wir einen Glaubenden, bei dem wir Anzeichen von Ambivalenz entdecken, moralisch anders beurteilen sollten als einen, der keinerlei Ambivalenz aufweist. Das alles unterscheidet sich grundsätzlich von Tertullians Postulat von einem »Glaubenssprung« - von der Forderung, daß man einen religiösen Glaubenssatz gerade deshalb glauben soll, weil er absurd ist. Unserer Argumentation zufolge ist es ebenso unmöglich, einen Glaubenssprung zu verlangen wie einen Sprung über den Atlantik. Wer an etwas bloß um dessen Absurdität willen fest glaubt, sollte als in absurder Weise starrsinnig angesehen werden. Wenn wir Starrsinn als Fehlen von Ambivalenz bestimmen, so soll dies auf der anderen Seite keine Einladung dazu sein, die Menschen in Glaubensfragen auf der Grundlage von Selbstvorwürfen oder der moralischen Seligsprechung der eigenen Seele zu beurteilen. Der zugrundeliegende Gedanke ist vielmehr ein ganz nüchterner. Ambivalenz in bezug auf Uberzeugungen beruht auf der Vorstellung, daß menschliches Handeln nicht nur das Produkt von Vordergrundüberzeugungen und -wünschen, sondern auch von Hintergrundüberzeugungen und -wünschen ist. Diese Hintergrundüberzeugungen haben die Kraft, uns daran zu hindern, auf der Grundlage von Vordergrundüberzeugungen zu handeln. Wenn z. B. jemand, der glaubt, es seien mehr als sechzigtausend Menschen in Rumänien ums Leben gekommen, außerdem auch glaubt, daß die Gründe, die seinen Glauben ursprünglich rechtfertigten, falsch waren 2or

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und daß er keine neuen Quellen hat, um sie zu ersetzen, dann sollte man von diesem Menschen erwarten, daß er sich in müßigen Gesprächen anders verhält, als wenn er für den Transport von medizinischen Hilfsgütern nach Rumänien verantwordich ist. Ambivalenz in bezug auf Uberzeugungen ist ein wichtiges Merkmal nicht nur für den Charakter dessen, der glaubt oder überzeugt ist, sondern auch für sein Handeln. Schließlich gibt es wohl auch jene, die das gesamte Projekt einer Glaubens- oder Uberzeugungsethik für falsch halten. Überzeugungsethik klingt nach Inquisitionsideologie, klingt wie die Forderung nach Errichtung einer Gedankenpolizei. Handlungen und nicht Überzeugungen, so lautet der Einwand, sollten einer Bewertung unterzogen werden. Die entgegengesetzte Ansicht erklärt, daß die Ethik, wenn sie sich wissentlich oder unwissentlich auf das Gebiet menschlichen Handelns begrenzen würde, zugleich auch ihre eigentliche Aufgabe aufgeben würde, nämlich an der Vervollkommnung der menschlichen Tugenden mitzuwirken. Will man die Tugenden der Menschen vermehren, so gilt es, ihren Charakter und nicht nur ihre Handlungen zu beurteilen. Der Charakter wird aufgrund eines komplexen Ganzen beurteilt, das Urteile über Handlungen, Wünsche, Empfindungen und Überzeugungen in sich schließt. Der ebenso scharfsinnige wie übellaunige Chesterton meinte, eine Vermieterin, die ihren Mieter nicht nach seinen metaphysischen und sonstigen Überzeugungen befragt, begehe einen Fehler. Wenn sie wissen wolle, ob ihr Mieter am Ende des Monats die Miete zahlen wird, dann sei es wichtiger, sich nach seiner Metaphysik als nach seinem Einkommen zu erkundigen. Glauben und Überzeugung sind im Leben keine Nebensache, und der Gerechte wird aus der Kraft seines Glaubens leben. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser

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Zu den Autoren Lorraine Oaston ist Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und Honorarprofessorin am Seminar für Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Aufsätze und Bücher zu Problemen der Wissenschaftsgeschichte der Frühneuzeit, unter anderem die Studie Classical Probability in the Enlightenment (Princeton 1 9 8 8 ) sowie Wonders and the Order of Nature, 1150-1750 (New York 1998, zusammen mit Katharine Park). Arnold Davidson ist Professor für Philosophie und Mitglied des Commitee on the Conceptual Foundations of Science an der Universität Chicago. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Critical Inquiry. Er veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zur Geistesgeschichte der Moderne und gab den Band Questions of Evidence. Proof, Practice, and Persuasion Across the Disciplines (Chicago 1994, zusammen mit James Chandler und Harry Harootunian) heraus. Matthias Kröß ist Wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge zur Philosophie Wittgensteins, darunter das Buch Klarheit als Selbstzweck. Wittgenstein über Philosophie, Religion, Ethik und Gewißheit (Berlin 1993), sowie Aufsätze zur Geschichtsphilosophie.

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den jíutoren

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Avishai Margalit ist Professor für Philosophie an der Hebrew University of Jerusalem und Mitbegründer der Bewegung »Peace N o w « . Er veröffentlicht regelmäßig in The New York Review of Books. Z u seinen wichtigsten Büchern zählen Idolatry (Cambridge, Mass. 1992, zusammen mit Moshe Halbertal) und The Decent Society ( 1 9 9 6 ; dt.: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin 1997). Françoise Meitzer ist Professorin fur Vergleichende Literaturwissenschaft und Professorin für Französisch und Theologie an der Divine School der Universität Chicago. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Critical Inquiry. Zu ihren wichtigsten Publikationen zählen Salome and the Dance of Writing (Priceton 1987; Übersetzung ins Japanische 1 9 9 6 ) sowie Hot Property: The Stakes and Claims of Literary Originality (Princeton 1994). Ihr hier abgedruckter Beitrag ist Teil eines umfassenderen Forschungsprojektes über den Diskurs der Jungfräulichkeit als Teil weiblicher Identität. Gary Smith ist Direktor des Einstein Forum in Potsdam und der American Academy in Berlin. Er ist u. a. Herausgeber von Walter Benjamin, Moskauer Tagebuch (Frankfurt a. M . 1980); On Walter Benjamin: Critical Essay and Recollections (Cambridge, Mass. 1988); Benjaminiana. Eine biographische Recherche (zusammen mit Hans-Georg Puttnies, Berlin/Gießen I 9 9 I ) ; Gershom Scholem. Zwischen den Disziplinen (zusammen mit Peter Schäfer, Frankfurt a. M . 1995); Vom Nutzen des Vergessens (zusammen mit Hinderk M . Emrich, Berlin 1996).

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Bildnachweise S. 31, 32: Bayerische Staatsbibliothek, München; S. 33: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Göttingen; S. I I I : Bildarchiv Foto Marburg, Marburg; S. 114: Artothek, Peissenberg; S. I I 5 - I I 7 : Akademie Verlag; S. 122: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin; S. 123: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin.