Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz: Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze [1. Aufl.] 9783839424308

Untersuchungen zur Stimme haben Konjunktur. Zum Gegenstand der Forschung wird sie als konkretes akustisches Phänomen ode

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German Pages 226 Year 2014

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Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz: Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze [1. Aufl.]
 9783839424308

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Sabine Till Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz

Edition Moderne Postmoderne

Sabine Till (Dr. phil.) studierte Philosophie und Germanistik in Berlin und Paris. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts.

Sabine Till

Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze

Diese Arbeit ist als Dissertation im Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften an der Freien Universität Berlin eingereicht worden. Datum der Disputation: 15.12.2011

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2430-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einführung | 9  1. Die Stimme des Anderen (Lévinas, Lacan) | 19

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Subjekt und Anderer. Trauma der Begegnung | 19 Subjekt und Anderer. Das Begehren im Sprechen | 25 Aussage und Aussagen, Sagen und Gesagtes | 33 Jenseits des Sprechens; das Unbewusste, die Transzendenz | 40 Zusammenfassung: Stimme als Übergang und Trennung | 44

2.

Ruf und Verantwortung, Befehl und Gehorsam. Eine Ethik der Stimme (Lévinas, Lacan) | 47

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Die Gabe der Stimme als Antwort an den Anderen | 47 Die Stimme als Einführung des Gesetzes | 52 Vom Hören zur Hörigkeit | 62 Vom Anderen zum Dritten | 68 Zusammenfassung: Stimme zwischen Ethik und Politik | 75

3.

Phonozentrismus und Stimme (Derrida) | 79

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

Die phonozentrische Stimme | 79 Platons Pharmakon | 81 Husserls schweigende Stimme | 83 Rousseaus Stimme zwischen Natur und Kultur | 87 Lévinas, Lacan: Eine andere Stimme | 91 Derridas Stimme(n) ohne Autor | 93 Zusammenfassung: Die différance der Stimme | 95

4.

Stimmen in der Schrift (Derrida) | 99

4.1 4.2 4.3 4.4

Polylog | 99 Grammophonie | 105 Apokalypse | 111 Zusammenfassung: Hypertopische Vielstimmigkeit | 120

5.

Stimme zwischen Literatur, Musik, Sprache und Bild (Deleuze) | 123

5.1 5.2

Das Stottern der Sprache | 123 Die Stimme, das Werden | 127

5.3 5.4 5.5

Deterritorialisierungen (Stimme und Musik) | 132 Stimme und Bild, Beckett und Kino | 137 Zusammenfassung: Das Außen | 142

6.

Politiken der Stimme (Deleuze) | 145

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

Indirekte Rede: Weitergabe der Stimme | 145 Töne im Kampf gegen die Macht | 154 Literatur und Politik | 158 Psychoanalyse, die Reduktion der Stimme | 162 Zusammenfassung: Über das Ritornell | 167

7.

Freundschaft, Gemeinschaft, Demokratie (Derrida) | 171

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6

Die Stimme des Freundes | 171 Gespenstische Stimme | 174 Heidegger: die Stimme, die Gemeinschaft | 178 Die Zahl der Stimme | 183 Reim und Gefahr | 188 Zusammenfassung: Die kommende Stimme | 191

8.

Ausblick: Stimme des Tieres | 193

8.1 8.2 8.3 8.4

Stimme zwischen Tier und Mensch | 193 Deleuzes ‚Tier-Werden‘ | 195 Antwortet das Tier? | 198 Zusammenfassung: Mit-dem-Tier-Sein | 205

Schlussbemerkung | 207 Literatur | 213

Danksagung Diese Arbeit wäre nicht ohne die Unterstützung einer ganzen Reihe von Menschen möglich geworden. Mein Dank gilt insbesondere Sybille Krämer und Gunter Gebauer sowie deren philosophischen Kolloquien. Außerdem danken möchte ich Franz Kosel, Nikolai Preuschoff, Olga Smith, Maria Till, Daniela Voß und Fabian Goppelsröder. Der Elsa-Neumann-Stiftung des Landes Berlin danke ich für das Promotionsstipendium.

Berlin, im August 2013

Einführung

Die Stimme in der Philosophie: Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida, Gilles Deleuze Philosophie war immer schon auch Nachdenken über die Stimme. Von der Antike bis zur Gegenwart, von Platon bis Derrida, war sie Auslöser philosophischer Debatten und Diskussionen. Gerade in ihrer Vielschichtigkeit zeigt sich die Stimme dabei als schwer definierbarer, philosophischer Gegenstand, an welchem scheinbar unendlich neue Aspekte entdeckt werden können. Eine umfassende Definition ist nicht zu finden; grundlegende dichotomische Begriffspaare helfen weder das Phänomen besser zu beschreiben noch den Diskurs um die Stimme zu ordnen. Weder entstammt sie einer reinen Innerlichkeit noch einer reinen Äußerlichkeit; sie ist weder allein Stimme des Anderen noch allein Stimme des Subjekts; sie ist nicht immanent und nicht transzendent. Vielmehr vereint sie auf scheinbar widersprüchliche Weise beide Seiten in einem ‚Zugleich‘ und provoziert darin eine permanente und unauflösbare Spannung. Insbesondere eine philosophische Untersuchung der Stimme – weniger wohl eine in der Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft oder Linguistik – muss sich dieser Herausforderung stellen. Dass dabei zudem eine wiederkehrende und disziplinübergreifende Konkurrenz zwischen Stimme und Schrift zu beobachten ist, in der entweder der Mündlichkeit oder der Schriftlichkeit Vorrang eingeräumt wird, macht diese Herausforderung nicht geringer. Auch hier greifen alte Oppositionen zu kurz. Die Stimme ist nicht ohne ihren vermeintlichen Gegenpart, die Schrift, zu denken. Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze haben sich auf unterschiedliche und doch vergleichbare Weise immer wieder mit der Stimme beschäftigt. In ihren Werken und Texten findet sich eine Fülle von Äußerungen zum Thema, welches gleichwohl nur selten kontinuierlich explizit wird. Vielmehr tritt die Stimme in vielfältigen Konstellationen auf, übernimmt Funktionen auf mehreren Ebenen und wird damit eher verwendet als selbst in

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den Mittelpunkt der Untersuchung gerückt. Dennoch oder sogar gerade deshalb lässt sich anhand der Stimme das Denken von Lévinas, Lacan, Derrida und Deleuze in besonderer Weise umreißen. In der französischen Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts gewinnt der Begriff der Stimme mit und in der Nachfolge der Dekonstruktion, des Poststrukturalismus und der Postmoderne und der durch sie aufgeworfenen Frage nach einem Denken jenseits eines starren Begriffssystems an Bedeutung.1 Die Stimme scheint nicht nur prädestiniert, jede eindeutige Festlegung zu hintergehen, sondern ebenso Disziplinen zu verbinden, die zunächst keine Gemeinsamkeiten aufweisen. Lévinas, Lacan, Derrida und Deleuze bilden nicht unbedingt eine Ausnahme, dennoch macht gerade ihre Zusammenstellung, als ein Vergleich von Gemeinsamkeiten und als eine Ausarbeitung von Unterschieden, besonders prägnant deutlich, was die Stimme auszeichnet. Die vier Philosophen sind sich in ihrem Denken ähnlich und unterscheiden sich zugleich stark. Trotz ihrer historischen Nähe teilen sie keinen gemeinsamen philosophischen Ausgangspunkt. Die Stimme steht bei ihnen im Kontext ethischer, politischer oder künstlerischer Fragestellungen und wird mit der Literatur, dem Denken, der Sprache in Verbindung gebracht. Obwohl sie einen bedeutenden Aspekt ihrer Philosophie darstellt, erscheint sie zumeist als Rand- oder Schwellenphänomen, das einer klaren und festen Definition entgeht. Sie bezieht sich gerade nicht auf eine bestimmte Schaffensphase des jeweiligen Autors, sondern taucht themenübergreifend immer wieder auf. In der Spannung zwischen Kontrasten und Gemeinsamkeiten zeigt sich die Stimme bei Lévinas, Lacan, Derrida und Deleuze in ihrem grundlegend aporetischen Charakter, der sie weder allein Phänomen noch allein Metapher sein lässt: diese Ungreifbarkeit soll als die immanente Transzendenz der Stimme verstanden und im Folgenden in ihrer philosophischen Produktivität für diese vier Denker herausgearbeitet werden. Bei Lévinas gewinnt die Stimme vor allem in seinem Hauptwerk Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht an Bedeutung.2 Stimme ist für ihn Einzigartigkeit, die einer fundamental ethischen Dimension angehört. Sie ist Stimme des transzendenten und singulären Anderen, der durch sie zu einem ethischen Gehorsam auffordert. Auf dieser rufenden Stimme muss sich für Lévinas auch je-

1

Zu nennen sind unter anderen: Julia Kristeva, Roland Barthes, Paul Ricoeur, Maurice Merleau-Ponty, François Lyotard, Maurice Blanchot.

2

Die Werke Lévinas’, Lacans, Derridas und Deleuzes werden mit wenigen Ausnahmen in deutscher Übersetzung zitiert. An einigen Stellen ist zusätzlich das französische Original als Vergleich angeführt.

E INFÜHRUNG | 11

des politische System, jedes Zusammenleben in Form einer Gesellschaft gründen. Lacan rückt die Stimme insbesondere in seinem Seminar über Die Angst in den Blickpunkt. Das Sprechen in der Psychoanalyse als Begegnung mit dem Anderen, die Anerkennung des Anderen im Sprechen, findet mit und in der Stimme statt. Vor allem in den Seminaren I-III, X, XI und in den Schriften I-III wird die Stimme thematisch. Sie ist die Stimme des Anderen, die dem Subjekt seinen Platz zuweist. Der ‚Name-des-Vaters‘ (Nom-du-Père) spielt hier eine tragende Rolle, indem er nicht nur die Beziehung zur Mutter stört, sondern das Subjekt zugleich zu einem sozialen Wesen macht. Schon in seinen frühen Werken wie Die Stimme und das Phänomen, Grammatologie oder Die Schrift und die Differenz beschäftigt Derrida ein resistenter metaphysischer Phonozentrismus, eine in der Geschichte der Philosophie auffindbare, angebliche Vorherrschaft der Stimme über die Schrift. Aber auch spätere Schriften wie Politik der Freundschaft oder das Seminar La bête et le souverain greifen die Frage nach der Stimme auf. In Feuer und Asche und Ulysses Grammophon verdeutlicht Derrida, dass die Stimme nicht einfach in Opposition zur Schrift steht. Vielmehr findet sie sich in der Schrift wieder. Darüber hinaus wird ihm die Frage der Vielstimmigkeit zum philosophischen Problem. So steht in Derridas späteren Schriften die Stimme als Kraft, die eine Gemeinschaft, ein ‚Volk‘ konstituiert, in einem zunehmend politischen Zusammenhang, der auch die Frage der demokratischen Zählbarkeit von Stimmen aufwirft. Die Bedeutung der Stimme für Deleuzes Philosophie ist in der Forschungsliteratur wenig wahrgenommen. Ein Grund dafür mag die Verstreutheit seiner Aussagen und Anmerkungen zum Thema sein. Spätestens seit Logik des Sinns aber ist die Auseinandersetzung mit der Stimme grundlegend für sein Denken. In Tausend Plateaus3 arbeitet Deleuze ein Stimmenkonzept heraus, das in engem Zusammenhang sowohl mit politischen Forderungen als auch mit einem kreativen Umgang der Sprache steht. Stimme ist für Deleuze in einer ständigen Transformation, in einem ‚Werden‘ begriffen. Wie bei Derrida und im Kontrast zu Lévinas und Lacan gewinnt der Plural ‚Stimmen‘ an Bedeutung. Diese Stimmen zeigen ihre Wirkung auf ganz unterschiedlichen Ebenen: In Kritik und Klinik und in Kafka. Für eine kleine Literatur entfalten sie sich in der Literatur, in Tausend Plateaus werden sie politisch, in Kino II verbinden sie sich mit Bildern.

3

Deleuze hat einige seiner Werke zusammen mit Félix Guattari verfasst. Da letztlich aber nicht mehr deutlich unterschieden werden kann, wer welchen Anteil am Text hat, wird Guattaris Name bei entsprechenden Schriften lediglich in der Quellenangabe genannt.

12 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ

Forschungsstand, Literatur Trotz der reichen Forschungsliteratur zu den vier hier wichtigen Denkern bleibt eine umfassendere Untersuchung zur Stimme in ihren Werken Desiderat. Wichtige Hinweise und Ausführungen finden sich aber in so unterschiedlichen Studien wie Thomas Wiemers Passion des Sagens, Elisabeth Webers Verfolgung und Trauma, Bernard Baas‘ De la chose à l’objet, Slavoj Žižeks Liebe dein Symptom wie dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien oder Léopold Mfouakouets Jacques Derrida. Entre la question de l’écriture et l’appel de la voix. Die mittlerweile stark angewachsene allgemeine Forschungsliteratur zur Stimme in den Geisteswissenschaften bildet den unverzichtbaren, jedoch nicht in jedem Kapitel explizit benannten Hintergrund dieser Arbeit. Denker wie JeanLuc Nancy, Jean-Louis Chrétien, Michel Poizat, Mladen Dolar, Don Ihde oder Stanley Cavell haben über die letzten Jahre wichtige Entwürfe zum Thema gebracht. Aber auch in Deutschland hat sich seit einiger Zeit eine breite philosophische Debatte über die Stimme etabliert. Reinhart Meyer-Kalkus‘ Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert analysiert dabei die Bedeutung der Stimme im 20. Jahrhundert für Physiologie, Sprachwissenschaft und Psychoanalyse, während Karl-Heinz Göttert in seiner umfangreichen Geschichte der Stimme auf deren Rolle in Religion, Theater, Rhetorik, Politik und Radio eingeht. Der von Doris Kolesch und Sybille Krämer 2006 herausgegebene Band Stimme. Annäherung an ein Phänomen enthält wichtige Studien wie Cornelia Epping-Jägers Stimmgewalt. Die NSDAP als Rednerpartei, Thomas Machos Stimmen ohne Körper. Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme, Bernhard Waldenfels‘ Das Lautwerden der Stimme oder Dieter Merschs Präsenz und Ethizität der Stimme. Schließlich sei auch Alice Lagaays Studie Toward a philosophy of voice erwähnt, in welcher der Entzugscharakter der Stimme in seiner komplexen Verbindung zur Frage von Präsenz und Absenz diskutiert wird. Ohne damit den gesamten Horizont der aktuellen Forschung abstecken zu können, ist die breite Relevanz des Themas hier zumindest angedeutet. Metapher und Phänomen der Stimme Eine philosophische Auseinandersetzung mit der Stimme sieht sich früher oder später mit dem Problem der Unterscheidung von metaphorischer und buchstäblicher Verwendungsweise des Begriffs konfrontiert. Üblicherweise wird das akustische Phänomen von abgeleiteten übertragenen Wendungen wie die ‚Stimme des Volkes‘, die ‚Stimme des Gewissens‘, die ‚Stimme der Vernunft‘ unterschieden. Diese intuitive Unterscheidung soll keineswegs aufgehoben werden.

E INFÜHRUNG | 13

Sie scheint im Alltag sinnvoll und sogar ‚messbar‘: Im Gegensatz zur Stimme der Vernunft kann jede phänomenale Stimme aufgezeichnet werden. Dennoch stellt sich die Frage, ob das Verhältnis von Phänomen und Metapher, gerade im philosophischem Zusammenhang, nicht überdacht werden muss. Lévinas, Lacan, Derrida und Deleuze bieten in besonderer Weise Ansätze, dieses Verhältnis auf andere Weise zu verstehen und das hierarchische Verhältnis von Metapher und Phänomen zu hinterfragen. Das Metaphorische ist nicht mehr einfach nur sekundäre Ableitung des ursprünglich-wahren und eigentlichen Empirischen. Zugleich ist es aber auch nicht einfach eine Übersteigung der banalen Realität. Mit Lévinas, Lacan, Derrida und Deleuze führen gerade die Wechselwirkungen, die Übergänge und Übertragungen von Metapher und Phänomen zu einer Konstellation, in der es kein ‚Erstes‘ mehr zu geben scheint.4 Wäre das Phänomen der Stimme ohne deren Metaphorisierungen zu verstehen? Was macht die Metapher der Stimme überhaupt erst möglich? Ist es nicht so, dass die Spur der akustischen Stimme sich in der metaphorischen Verwendungsweise wiederfindet und dass die Spur einer Metapher der Stimme das Phänomen bedingt? Dass die Übergänge zwischen buchstäblichem und übertragenem Gebrauch der Stimme verwischen, bedeutet weder, dass die Trennung nichtig sei noch dass neue Klassifikationsmaßstäbe die Unterschiede wieder deutlicher machen sollten. Die Stimme befindet sich ständig im Übergang, weil sie eine Grenze markiert. Sie ist sowohl reiner Klang als auch bedeutungstragend. Von einer Seite zum Nachteil der anderen zu abstrahieren, würde diesen Doppelcharakter der Stimme ignorieren.5

4

Vgl. Kittler, Friedrich/Weigel, Sigrid/Macho, Thomas: „Vorbemerkung“, in: dies. (Hg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin: Akademie 2002, S. IX-XII, hier S. IX. Gleich in der Vorbemerkung des Bandes nennen die Herausgeber diese Problematik in Bezug auf die Stimme: „Fraglich bleibt allerdings, ob und in welchem Maße die politische Metaphorisierung der Stimme Verweise auf die konkrete Stimme, auf ihre materielle Artikulation und Hörbarkeit, impliziert, kurzum, wie sich die Stimme als Symbol oder Zeichen eines intelligiblen, abstrakten Begriffs zur realen, sprech- und hörbaren Stimme verhält“.

5

In seiner Untersuchung zur Stimme kritisiert Michael Eggers diese Vernachlässigung: „Die Übergänge zwischen eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung sind oft fließend und werden selten deutlich gemacht oder problematisiert.“ (Ders.: Texte, die alles sagen. Erzählende Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und Theorien der Stimme, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 13). Auch Alice Lagaay stellt sich zu Recht die Frage, ob zwischen der linguistischen, akustischen und musikalischen

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So bezweifelt Lévinas die Möglichkeit einer tatsächlichen Trennung von Metapher und Phänomen. Die Stimme des Anderen, die in uns erklingt, ist nicht lediglich metaphorisch zu verstehen.6 Die Gegenüberstellung von ursprünglichem und metaphorischem Sinn sieht Lévinas insofern als überholt als er die Vorstellung verneint, die Wahrnehmung liefere bestimmte Inhalte, die schließlich auf eine andere Ebene übertragen werden und dadurch eine Bedeutungserweiterung erfahren.7 Er wendet sich sowohl gegen die Vorstellung, die buchstäbliche Rede stünde in direkter Verbindung zu den Dingen der Erfahrung, als auch gegen die Annahme, die figürliche Rede müsse in ihrer Bedeutung über das Buchstäbliche hinausgehen. Die Trennung in eine den Wörtern anhaftende Ursprünglichkeit und eine nachträglich hinzugefügte Bedeutung kann für Lévinas so nicht aufrechterhalten werden.8 Auch mit Lacan lässt sich eine strikte Trennung von Metapher und Phänomen nicht halten. Stimme ist für ihn nicht aufgeteilt in reines Lautmaterial des Diskurses einerseits und in eine metaphorisch verstandene Verpflichtung dem Ruf des Anderen gegenüber andererseits. Die imperative Stimme, die schließlich als Stimme der Vernunft, als Stimme des Gewissens, als Stimme des Über-Ich agiert, ist keine simple Metapher. Besonders charakteristisch für sie ist ihre Bindung sowohl an die Sprache als auch an eine ethische Verpflichtung. Sie ist nicht nur Träger einer intelligiblen Bedeutung.9 Vielmehr sind beide Seiten enger verbunden als gemeinhin angenommen beziehungsweise ist es fraglich, ob die chronologische Reihenfolge von Phänomen und daran anschließender Meta-

Stimme auf der einen Seite und der stillen, autoritären und moralischen Stimme auf der anderen Seite nicht eine andere Verbindung als die metaphorische besteht. (Vgl. dies.: Towards a philosophy of voice: reflections on the sound – and silence – of human language, Doktorarbeit am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin, Mikrofiche-Ausgabe 2007, S. 9). 6

Vgl. E. Lévinas: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, Mün-

7

Vgl. E. Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg: Meiner 1989, S. 9.

8

Vgl. E. Lévinas: Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, Mün-

9

Vgl. Bernard Baas: De la chose à l’objet. Jacques Lacan et la traversée de la

chen/Wien: Carl Hanser 1995, S. 190.

chen/Wien: Carl Hanser 1991, S. 183 f. phénoménologie, Leuven: Peeters Vrin 1998, S. 149 f. Baas sieht die Stimme bei Lacan eng mit der Frage nach der ethischen Verpflichtung und Verantwortung verknüpft. Dabei zweifelt er an der Unterscheidung einer sprachlichen Stimme und einer davon abgeleiteten imperativen Stimme (als übertragene Bedeutung der Stimme im Sprechen).

E INFÜHRUNG | 15

pher überhaupt tragbar ist. Lacans Überlegungen zur Stimme sind deshalb von Interesse, weil er gerade nicht versucht, der Intonation, dem Rhythmus etc. im Sprechen zu folgen. Lacan geht es also nicht (nur) um das Phänomen. Obwohl das Sprechen einen wichtigen Stellenwert einnimmt, ja seine Bewegung die Grundlage der Analyse bildet, konzentriert er sich auf eine Stimme, die bis an die Grenzen des Hörbaren, ja überhaupt des Klanglichen gelangt und dort in eine Stille übergeht. Auf dieser Grenze zwischen Hörbarem und absoluter Stille bewegt sich die Stimme in der Lacanschen Psychoanalyse. 10 Derridas grundsätzliches Anliegen seiner als Dekonstruktion verstandenen Praxis ist die Auflösung der Hierarchie zwischen einer wörtlichen und einer metaphorischen Bedeutung. Schon sein Schriftbegriff ist keine bloße Metapher der tatsächlichen Schrift, sondern bewegt sich zwischen beiden. Fordern Hermeneutik und Phänomenologie die Abkehr von einer bildlichen Rede als bloß Sekundärem und die Hinwendung zum Eigentlichen und Ursprünglichen, so verstricken sie sich für Derrida in widersprüchlichen Aussagen. Ist der Klang der Stimme das Erste und Eigentliche, so wird die Stimme als innere, ideale Stimme schließlich zum Schweigen gebracht, des Klangs beraubt. Die innere Stimme, die dem Bewusstsein und der Bedeutung am nächsten ist, ist keine akustisch hörbare mehr, nicht mehr ‚in der Welt‘, sondern im vereinzelten Subjekt.11 Gilt der Vorrang zunächst dem Phänomenhaften, so wird von diesem zugleich abstrahiert, um im Metaphorischen das eigentlich Ursprüngliche zu begründen. Daher ist für Derrida jede Philosophie, die eine Theorie über die Metapher anstrebt auf der zugleich vorausgesetzten Basis einer gänzlich unmetaphorischen wissenschaftlichen Sprache, geradezu unmöglich. Vielmehr ist der philosophische Diskurs selbst wesentlich metaphorisch oder anders gesagt: Es gibt kein Wahres, Erstes, Ursprüngliches und Eigentliches. Die Metapher nimmt in der Philosophie eine ambivalente Stellung ein: Einerseits gilt sie als Hilfsmittel um der Wahrheit näher zu kommen, andererseits bedroht sie dieses Erste und Ursprüngliche.12 Gegen eine Unterscheidung zwischen Sinnlichem und Intelligiblem führt Derrida das Denken der Chora an. Chora befindet sich „jenseits oder diesseits der Pola-

10 Vgl. ebd., S. 154f. 11 Dies zeigt sich unter anderem deutlich bei Jean-Jacques Rousseau. Vgl. dazu M. Eggers: Texte, die alles sagen, S. 49: „Diese bei Rousseau sich abzeichnende Paradoxie ist im traditionellen philosophischen Begriff der Stimme bereits angelegt, der einerseits begründend, dem Subjekt und der Seele am nächsten sein soll, andererseits von Beginn an metaphorisch verschoben: eben nicht Klang ist.“ 12 J. Derrida: „Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text“, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 205-258, hier S. 256f.

16 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ

rität metaphorischer Sinn/eigentlicher Sinn“13. Statt der Dichotomie von Metapher und Phänomen gibt es für Derrida nur das Metaphorische als permanente Ersetzung, als Supplement. Insofern ist es für ihn nicht sinnvoll, das Phänomen der Stimme einer Metapher der Stimme gegenüberzustellen. Seine Untersuchung übergeht bewusst die Unterscheidung in buchstäbliche und metaphorische Rede.14 Deleuze verabschiedet sich radikal von einem Denken der Metapher, die im Gegensatz zur Buchstäblichkeit steht und propagiert ein rhizomhaftes Denken, das nicht auf eine analoge Beziehung (x ist wie y) baut, sondern auf „Linien“, die „semiotische Kettenglieder“15 verbinden. Statt der Unterteilung in eine übertragene und eine primäre Bedeutung, gibt es für Deleuze nur das Werden, eine ‚Deterritorialisierung‘, in der alles gleich real ist, in der es nur Linien, das heißt Karten, auf denen sich diese Linien ausbreiten gibt, aber keine Kopien, also keine Abbilder eines Primären. Damit entfernt sich Deleuze nicht von Derridas Behauptung einer allgemeinen Metaphernhaftigkeit der Sprache, im Gegenteil scheinen sich beide in ihrer Ablehnung gegen die strikte Trennung von Metapher und Phänomen, gegen die Aufrechterhaltung eines Primären und eines davon Abgeleiteten, anzunähern.16 Aber nicht nur widerspricht diese herkömmliche Unterscheidung Lévinas‘, Lacans, Derridas und Deleuzes Auffassung der Funktion der Sprache, auch für eine allgemeine philosophische Untersuchung über die Stimme ist es notwendig, diese Hierarchie, die Ableitung des Einen aus dem Anderen, zu hinterfragen. Eine Betrachtung über den philosophischen Begriff ‚Stimme‘ darf keine der beiden Perspektiven bevorzugen, sondern muss beide auf einer Ebene denken, auf der sie in einem ständigen und unauflösbaren Austausch stehen. Gerade dies macht

13 J. Derrida: Chora, Wien: Passagen 1990, S. 16. Derrida nimmt mit ‚Chora‘ Bezug auf Platons Dialog Timaios. 14 Dass Derridas Schriftbegriff eben auch zwischen Wörtlichkeit und Metaphorizität oszilliert, wird in der Forschungsliteratur oftmals übersehen, wie Rike Felka zu Recht bemerkt. Vgl. dies.: Psychische Schrift. Freud – Derrida – Celan, Wien: Turia & Kant 1991, S. 11. 15 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 2005, S. 17 f. 16 Diese Ansicht bestätigt auch Paul Patton in „Mobile Concepts, Metaphor, and the Problem of Referentiality in Deleuze and Guattari“, in: Maria Margaroni/Effie Yiannopoulou (Hg.), Metaphoricity and the Politics of Mobility, Amsterdam: Rodolpi 2006, S. 27-46, hier S. 30f.

E INFÜHRUNG | 17

die Stimme zu einem „Schwellenphänomen“17. Die Metapher ist so real wie das Phänomen; das Phänomen ist so sehr Übertragung wie die Metapher. Die Stimme ist weder rein sinnlich noch rein intelligibel. Sie ist geradezu paradigmatisch Gegenstand philosophischer Reflexion.

17 Krämer, Sybille/Kolesch, Doris: Stimmen im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band, in: dies., (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 7-15, hier S. 12.

1. Die Stimme des Anderen (Lévinas, Lacan)

1.1 S UBJEKT

UND

A NDERER . T RAUMA

DER

B EGEGNUNG

Emmanuel Lévinas, der wohl wie kein anderer Denker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Philosophie als radikale Ethik fordert, gründet seine Philosophie in der Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie und Heideggers Ontologie, von denen er sich zugleich absetzt, um sich ganz bewusst auch in die jüdische Denktradition zu stellen. Jacques Lacans Arbeiten widmen sich der Praxis der Psychoanalyse in der Nachfolge Freuds, einer Rückbesinnung auf die Wurzeln der Psychoanalyse. Über den disziplinär engen Rahmen ist er durch Heideggers Sprachkonzept, den linguistischen und anthropologischen Strukturalismus sowie die Phänomenologie Hegels beeinflusst. Trotz aller Unterschiedlichkeit verbindet Lévinas und Lacan das Vorhaben, in der Sprache dem nachzuspüren, was in ihr nicht positiv fassbar ist. Die Stimme spielt bei dieser Aufgabe eine entscheidende Rolle. Lévinas führt eine Stimme ein, die sowohl alles Phänomenale auf ein ‚Jenseits‘ des Seins hin übersteigt als auch Grund des Subjekts ist. Obwohl Lévinas den Begriff des Subjekts nicht aufgibt, dieser vielmehr konstituierendes Element seiner Ethik wird, modifiziert er ihn in dem Maße, dass Subjektivität nur noch als äußerst brüchige und fragile zu verstehen ist. Damit lässt Lévinas die klassische Auffassung von Subjektivität als Einheit des Bewusstseins hinter sich. Es geht ihm nicht um den Kern einer Innerlichkeit, sondern um die Exteriorität oder ‚Ausgesetztheit‘ des Subjekts. Nicht Selbstbeherrschung oder Selbstbestimmung kennzeichnen das Subjekt, denn dieses findet nie ganz zu sich selbst. Es bildet keine Einheit, weil der Andere das Subjekt allererst gründet. Indem der Andere aber das Subjekt bestimmt, schafft er zugleich eine fundamentale Spaltung im Subjekt, eben die Unmöglichkeit einer festen Identität. Erst der Andere ruft das Subjekt, ganz wörtlich verstanden, hervor. Diese Evokation durch die Stimme des Anderen bedeutet eine absolute Abhängigkeit, eine nicht-reziproke und

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asymmetrische Beziehung zwischen Subjekt und Anderem. Subjektivität bewegt sich bei Lévinas auf einer Grenze zwischen dem absoluten Ausgeliefertsein an den Anderen und der Konstitution eines, wenn auch immer fragilen, Eigenen. Diese Gratwanderung des Subjekts lässt keine absolute, sondern lediglich eine gestörte Innerlichkeit zu. Subjektivität ist für Lévinas zugleich „die Verknüpfung und die Auflösung der Verknüpfung“1 zwischen Eigenem und absolut Anderem. Noch vor der Frage nach dem Subjekt stellt sich aus diesem Grund die Frage nach dem Anderen.2 Da der Andere für Lévinas jedoch außerhalb jedes Seinsbezugs und jedes Erkenntniszusammenhangs steht, kann er nicht begrifflich erfasst und verstanden werden. Der absolut Andere ist buchstäblich vom Sein ‚losgelöst‘. Lévinas, der sich damit entschieden von einem heideggerschem Seinsdenken absetzt, fordert das „Übergehen zum Anderen des Seins“3 auch und gerade als unabschließbare Bewegung im Schreiben selbst. Unvollkommen muss die Annäherung deshalb bleiben, weil der Andere nie sprachlich eingeholt werden kann, das ‚Übergehen‘ also nie am eigentlichen Ziel ankommt. Wenn Lévinas von der Stimme spricht, dann ist es die Stimme des Anderen, der darin Voraussetzung für das Subjekt ist, dieses allererst schafft und selbst noch in der Stimme des Subjekts mit anklingt. Da das Subjekt nach der Stimme ‚da‘ ist, kann die Stimme des Anderen nun aber keine hörbare, keine akustische Stimme sein. Erst mit der Stimme kreiert sich auch das Subjekt, das diese Stimme hören könnte. So ist die Stimme einerseits das, was vom Anderen überhaupt ‚erscheint‘, andererseits kennzeichnet sie sich durch einen Entzug ihrer selbst, sobald sie erfasst werden soll. Einzig als rufende und zugleich unfassbare Stimme ist der Andere überhaupt für das Subjekt zugänglich. Der fortwährende Entzug, das Unbegreifbare, macht Lévinas an einer unzeitlichen Zeitdimension, der von ihm so genannten Diachronie, fest. Weil die Begegnung mit dem Anderen einer ‚absoluten‘ und keiner faktischen Vergangenheit angehört, kann sie nicht erinnert werden. Die von Lévinas intendierte Vergangenheit kann also nicht als erinnerbare und vorstellbare Vergangenheit wieder vergegenwärtigt werden. Die

1

Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Frei-

2

Lévinas verwendet oftmals den französischen Begriff l’autrui für den Anderen und

burg/München: Karl Alber 1998, S. 39. grenzt ihn somit von dem neutraleren französischen Wort l’autre ab, das ebenso das Andere bedeuten kann. 3

E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 23.

D IE S TIMME DES A NDEREN | 21

Stimme, die eben dieser Vergangenheit entstammt, entzieht sich dabei in doppeltem Sinne: Sie kann weder gehört noch begriffen werden.4 Obwohl der Andere dem Subjekt als ‚Gesicht‘ (visage) begegnet, wie Lévinas betont, ist damit keine Sichtbarkeit oder Bildlichkeit gemeint.5 Im Gegenteil ist das Gesicht ein primär rufendes und sprechendes. Das Bild ist für Lévinas – anders als die Stimme – die illusionäre Einholung des Anderen in der Gegenwart eines Bewusstseins. Die Stimme aber hält sich in der Paradoxie einer unendlich weit entfernten Nähe. Schafft die Sichtbarkeit im Bild einen Überblick und somit eine Zusammenschau und Versammlung, bewahrt die Unverfügbarkeit der Stimme den Anderen als über eine Ordnung, ein System und Kategorien Hinausgehendes. Insofern läuft auch die Schrift als sichtbares Zeichen der gesprochenen Sprache Gefahr, die besondere Bedeutung des Anderen einzuholen: „Die Schriftzeichen, die sich an die Stelle der (gesprochenen) Wörter setzen, sind der ‚Versammlung‘ gegenüber noch gefügiger und machen, der Einheit eines Textes folgend, die Differenz zwischen dem Selben und dem Andern zunichte.“6 Doch Lévinas sieht die Schrift nicht nur deshalb als ‚minderwertig‘ an, weil diese wie in Platons Phaidros7 bloßes Abbild des gesprochenen, lebendigen Wortes ist, sondern weil die Stimme die Präsenz der Sprechenden verlangt, eine damit verbundene ethische Unausweichlichkeit, ein Sich-dem-Anderen-Geben in der Gegenwart der Stimme; einer Gegenwart aber, die nicht das zeitliche ‚Jetzt‘ meint, sondern eine absolute und rein ethische Präsenz.8 An anderer Stelle gesteht Lévinas der Schrift aber durchaus eine durch die Stimme erzeugte Ethizität zu. Dass diese ethische Forderung nicht bloß im Sprechen gegenwärtig ist, sondern ebenso in der Schrift, die einen Respekt vor dem Anderen bezeugt, darauf macht schließlich Derrida aufmerksam.9

4

Auch im Französischen bedeutet entendre sowohl hören als auch begreifen.

5

E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 77.

6

Ebd., S. 186f.

7

Platon: Phaidros, Sämtliche Dialoge, Band 2, Hamburg: Meiner 2004, 274c-277d.

8

Vgl. Wiemer, Thomas: Die Passion des Sagens, Freiburg/München: Karl Alber 1988, S. 45f. Wiemer bemerkt, dass es nicht nur im Gesprochenen, sondern auch im Geschriebenen eine über Inhalt und Bedeutung hinausgehende Stimme geben kann. Schließlich handele es sich bei Lévinas um eine besondere Präsenz, die noch über die bloße Gegenwart der Sprechenden hinausgehe. So sei Präsenz bei Lévinas eine Spur, etwas, das immer schon vorübergegangen ist. (Vgl. ebd., S. 71).

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Bei Derrida kann die Stimme auch in der Schrift gefunden werden: als eine Vielzahl von Stimmen. Vgl. dazu Th. Wiemer: Die Passion des Sagens, S. 396.

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Ist der Andere wesentlich durch eine sich in ständigem Entzug befindende Stimme fassbar, stellt jeder Versuch, sich ein Bild von diesem Anderen zu machen, ihn begrifflich zu repräsentieren, eine Verkennung dar. Obwohl die Stimme des Anderen keine empirisch hörbare ist, wird sie für Lévinas doch Zugang zum eigentlich Unzugänglichen. Denn die Besonderheit der Stimme liegt gerade darin, dass sie sich in der Äußerung schon wieder entzieht. Im Sprechen bedeutet die Stimme somit die Möglichkeit, die Sprache zu übersteigen, die Möglichkeit einer Transzendenz. Selbst im ganz konkreten Sprechen findet sich eine dieses Sprechen transzendierende Stimme. Damit ist die Stimme Verbindung und Trennung zugleich zwischen dem sinnlich Gegebenen, dem Sprechen, und dem dieses Sprechen Evozierende, das ‚jenseits‘ des Sprechens seinen Ausgang nimmt. Die Stimme ist bei Lévinas also nicht nur dem Anderen zuzuordnen, sondern gehört, da sie Bedingung des Sprechens überhaupt ist, auch zum Subjekt. Anders formuliert: In der Stimme des Subjekts klingt die Stimme des Anderen an – und umgekehrt. Im konkreten, hörbaren Sprechen findet sich die unhörbare Dimension einer ‚jenseitigen‘ Stimme. Das Beunruhigende der Beziehung zwischen Subjekt und Anderem sieht Lévinas in der traumatischen Begegnung mit dem Anderen, in der das Subjekt buchstäblich ‚hervorgerufen‘ wird. Diese in einer uneinholbaren Vergangenheit stattfindende Begegnung löst eine permanente Störung aus: Das Subjekt kann nicht zu sich selbst kommen, denn es trägt in seinem Kern den Anderen; die Subjektivität ist „strukturiert als der-Andere-im Selben [Herv. i.O.]“10. Grundlegend getragen ist das Subjekt nicht durch Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein, sondern durch den Anderen, d.h. durch eine fremde Stimme im Innern des Subjekt, dort verharrend als fortwährendes Einwirken des Anderen. Allein das Trauma bleibt von der nicht-erinnerbaren Begegnung.11 Die traumatische Erfahrung bestätigt sich in der Subjektivität als „der-Andere-im-Selben“ durch eine permanente „Beunruhigung des Selben durch den Anderen“12. Das Subjekt ist kein in sich geschlossenes, sondern eines, das für Lévinas schon im Kern verletzt und ‚betroffen‘ ist. Nicht die sichtbare Erscheinung des Anderen stört, son-

10 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 69. 11 Vgl. E. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, Wien: Passagen 1996, S. 157: „Aber das Andere interveniert als Trauma; darin liegt seine ureigene Art.“ Im französischen Original heißt es: „Mais l’Autre intervient comme traumatisme; c’est là sa manière propre.“ Die deutsche Übersetzung des l’Autre als das Andere löscht im Neutrum den nicht-neutralen Charakter des Anderen, der im Französischen weiter mit anklingt. (E. Lévinas: Dieu, la mort et le temps, Paris: Le Livre de Poche 1995, S. 167). 12 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 69.

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dern dessen Stimme, die schon zugleich zum Subjekt gehört und sein Eigenstes damit vereinnahmt. So bleibt die eigene Stimme, obwohl vertraut und bekannt, immer auch fremde und unheimliche Stimme. Da sie keinen festen Ort hat, ist sie weder bloß als innere noch bloß als äußere Stimme zu verstehen, sondern beides zugleich. Zwar sagt sie jenseits der artikulierten Worte ‚nichts‘, doch geht ihr Sinn über die bloße Wortbedeutung hinaus. Das Subjekt und seine Beziehung zum Anderen gründen sich bei Lévinas auf dem rufenden Anderen, der das Subjekt durch seinen Ruf allererst anerkennt. Die rufende Stimme zieht die Umrisse des Subjekts. Ihre Ausrichtung und die damit verbundene Anerkennung ermöglicht es mir, mich als ein ‚Ich‘ wahrzunehmen. Denn der Ruf ist an mich gerichtet; ich bin aufgerufen zu antworten. Dass jemand spricht, dass jemand damit seine Stimme an einen anderen richtet, allein dieses ‚Dass‘, welches jeder semantischen Bedeutung entzogen ist, ist die Basis jeder Subjektivität und noch Bedingung jeder Kommunikation als Informationsaustausch. Die Forderung, dem Ruf Folge zu leisten, bedeutet zugleich die Anerkennung des ‚Ich‘. Mit der Stimme als Ursprung von Sprache und Subjektivität ist unweigerlich ein ethisches Moment verknüpft. Denn indem sich die Stimme äußert, setzt sie sich buchstäblich aus.13 Wenn die Stimme etwas sagt, dann ist es für Lévinas ein schlichtes ‚Hier bin ich‘, das die Notwendigkeit anzeigt, sich für den Anderen zu engagieren.14 So ist eine eindeutige Verortung der Stimme bei Lévinas unmöglich. Die Stimme ist transzendent und zugleich im Konkreten wirksam. Dabei ist sie nicht zweigeteilt, sondern als Mittleres gedacht, welches den Übergang zwischen beiden Seiten erlaubt und zugleich Grund der Teilung selbst ist. Sie findet sich im Sprechen und geht doch über dieses hinaus. Nicht aber als Stammeln, wie Lévinas betont, sondern als „äußerste Anspannung der Sprache“15.

13 Diesen Aspekt macht Dieter Mersch stark: „Als Preisgabe ist sie ‚Gabe‘ und damit Geste an den Anderen. Sie setzt sich ihm aus, gefährdet sich bis zum Preis ihrer Vergeblichkeit. Deswegen ist die Stimme stets beides: Atemgeben und Selbstaussetzung, körperliche Präsenz und Hinwendung an eine Alterität.“ (Ders.: „Präsenz und Ethizität der Stimme“, in: Doris Kolesch/Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 211-236, hier S. 213). 14 Vgl. E. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, S. 204: „Jene Aussage des Hier bin ich, die sich mit nichts identifiziert, wenn nicht mit der Stimme, die sich äußert und sich ausliefert. Dort muß der Ursprung der Sprache gesucht werden.“ 15 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 313. An dieser Stelle schreibt Lévinas: „Ausspruch des ‚hier, sieh mich‘, das sich mit nichts identifizieren läßt außer ebender Stimme, die so spricht und sich ausliefert, der Stimme, die bedeutet. Doch auf diese Weise Zei-

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Die Stimme ist nicht nur Grenzziehung; sie schafft ebenso Übergänge. Als ‚ausgesetzte‘ Stimme kehrt sie das Innerste nach Außen. Umgekehrt erklingt die Stimme des Anderen im Innern des Subjekts. Die Trennung, die zwischen Innen und Außen durch die Stimme gezogen wird, ist zugleich durch Übergänge und Überschneidungen markiert. Das Außen wird nicht ins Innere einverleibt, da das Innen selbst wiederum entäußert ist. Es ist also auch oder gerade die eigene Stimme, die wie ein Fremdkörper im Inneren empfunden wird. „Das Unendliche bildet die Ausnahme zum Seinsvollzug, und dennoch betrifft es mich und bedrängt mich und bestimmt mich durch meine eigene Stimme. Das unendliche Äußere wird zum unendlich Inneren als meine Stimme, die von der Spaltung des inneren Geheimnisses zeugt, von der Spaltung der Zeichen-Gabe selbst.“16

Lévinas versteht die Stimme des Anderen als der Stimme des Seins im Sinne Heideggers vorgeordnet. Sie stellt den Ausgangspunkt der Philosophie als Ethik dar. So deutet Lévinas an, dass sich „in der Bedeutung des der-Eine-für-denAnderen [...] eine Stimme aus mindestens ebenso gewaltigen Horizonten vernehmen läßt wie denen, in denen die Ontologie ihren Platz hat“17. Ist es bei Heidegger die Sprache, die spricht, so wendet sich Lévinas mit der Stimme im Sprechen dezidiert an den Anderen als Nächsten. Nicht die Sprache, der Andere spricht.18 Ähnlich wie Lévinas begreift Lacan die Stimme als Grenzziehung, als Auslöser der Spaltung des Subjekts, mithin der Spaltung der Sprache. Er begründet mit der Stimme, wie im Folgenden dargelegt wird, eine fundamentale Ambivalenz.

chen geben, so daß man selbst zum Zeichen wird – ist nicht ein stammelndes Sprechen wie der Ausdruck eines Stummen oder eines in seiner Muttersprache gefangenen Fremden. Es ist eine äußerste Anspannung der Sprache, das Für-den-Anderen der Nähe“. 16 E. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, S. 209. 17 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 307f. 18 Vgl. dazu Westphal, Merold: „Commanded Love and Divine Transcendence in Levinas and Kierkegaard“, in: Jeffrey Bloechl (Hg.), The Face of the Other and the Trace of God, New York: Fordham University Press 2000, S. 200-223, hier S. 206. Auch Dieter Mersch betont, dass die Stimme immer jemanden, genauer gesagt ‚mich‘ anspricht. Die Stimme ‚geht an‘, so Mersch. Damit ist die Stimme nicht einer neutralen nicht-humanen Sprache unterworfen, sondern menschlich und ethisch. (Vgl. ders.: Präsenz und Ethizität der Stimme, S. 212).

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1.2 S UBJEKT UND A NDERER . D AS B EGEHREN IM S PRECHEN Die Stellung des Subjekts ist für Lacan wesentlich mit der Stimme des Anderen verbunden. Wie bei Lévinas beruht die Relation von Subjekt und Anderem nicht auf dem reziproken Austausch zweier Partner, vielmehr befindet sich das Subjekt in einer genuinen Abhängigkeit und Gespaltenheit durch den Anderen. Ebenfalls ähnlich wie bei Lévinas ist der Andere bei Lacan ein besonderer Anderer, ein ‚großer‘ Anderer, der im psychoanalytischen Sprechen die tragende Rolle spielt.19 Er ist Fluchtpunkt des Sprechens, verstanden als Nicht-Ort, der niemals erreicht werden kann, eben darum aber Motivation des Sprechens ist. Der Andere wird damit zur Bedingung für Subjektivität und Sprachlichkeit überhaupt.20 In der analytischen Beziehung, so Lacan, sind die Subjekte „durch einen Vertrag“21 miteinander verbunden. Dies kennzeichnet die Besonderheit des psychoanalytischen Sprechens. Der Vertragscharakter schafft die Voraussetzung für ein möglichst von allen Konventionen befreites Sprechen, einem Sprechen, das die gesellschaftlichen Verpflichtungen, die im Laufe eines Lebens internalisiert werden und zu denen gleichwohl die Regeln des Berichtens und Argumentierens gehören, hinter sich lässt. So formuliert Lacan: „In seiner Art zu sprechen, seinem Stil, in seiner Weise, sich an seinen Gesprächspartner zu wenden, ist das Subjekt von den Banden, nicht nur der Höflichkeit, des Benehmens, sondern sogar der Kohärenz befreit.“22 Dem sprechenden Subjekt kommt in der psychoanalytischen Sitzung ‚vertraglich‘ die Aufgabe zu, sich diesen ‚Fesseln‘ des Sprechens zu entziehen. Wie bei Lévinas geht es Lacan nicht um den kohärenten Inhalt des Sprechens, der ja gerade die Einhaltung von allgemeinen Regeln und Konventionen verlangt, son-

19 Die Nähe von Lévinas und Lacan findet auch in der Forschungsliteratur Erwähnung, so beispielsweise bei Hans-Dieter Gondek: „Cogito und séparation – Lacan/Levinas“, in: Fragmente 39/40, Das Andere denken. Zur Ethik der Psychoanalyse (1992), S. 4376. Vgl. auch Juranville, Alain: Lacan und die Philosophie, München: Boer 1990, sowie den Sammelband von Sarah Harasym (Hg.), Levinas and Lacan. The Missed Encounter, New York: State University of New York Press 1998. 20 Lacan nimmt die besondere Sprechsituation in der Psychoanalyse zur Grundlage. Im Folgenden soll davon ausgegangen werden, dass diese Situation auf andere Sprechsituationen, zumindest was die Grundzüge betrifft, übertragen werden kann. 21 Lacan, Jacques: Freuds technische Schriften. Seminar Buch I (1953-54), Berlin/ Weinheim: Quadriga 1978, S. 231. 22 Ebd., S. 232.

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dern um den Akt des Sprechens selbst. Nicht was gesagt wird, zählt, sondern die Sprechsituation als solche. Das bei Lévinas herausgearbeitete ‚Dass‘ des Sprechens findet sich in ähnlicher Gestalt bei Lacan wieder: „Doch weil der Analytiker die Erfahrung der Sprache nicht von der Situation, die sie impliziert, nämlich jener des Gesprächspartners, loslöst, stößt er auf die einfache Tatsache, daß die Sprache, bevor sie etwas bedeutet, für jemanden bedeutet. Einzig, weil er anwesend ist und zuhört, richtet sich dieser Mensch, der spricht, an ihn, und weil er seiner Rede auferlegt, nichts sagen zu wollen, bleibt dort das, was dieser Mensch ihm sagen will. Was er tatsächlich sagt, mag ‚keinen Sinn haben‘, was er ihm [Herv. i.O.] sagt, enthält einen.“

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Da es das Subjekt nur als sprechendes geben kann und sich dieses Sprechen an einen Anderen richtet, bestimmt sich das Subjekt wesentlich auf der symbolischen Ebene.24 Der ‚große‘ Andere, der absoluter Bezugspunkt des Sprechens ist, fügt sich für Lacan nicht in die Vorstellung, die sich das Subjekt von ihm macht. Verkannt ist dieser ‚große‘ Andere, da sich das Subjekt vorerst an einen ‚kleinen‘ anderen richtet, der lediglich ein vom Ich projizierter anderer Gesprächspartner ist.25 Zunächst ist das Subjekt also in der „imaginären Funktion“26, die sich an den ‚kleinen‘ anderen hält, gefangen. Diese imaginäre Funkti-

23 J. Lacan: Schriften III, Berlin/Weinheim: Quadriga 1986, S. 27. 24 Lacan geht in seinen Schriften und Seminaren wiederholt auf die Bedeutung des Sprechens und des Symbolischen ein. Vgl. J. Lacan: Schriften I, Berlin/Weinheim: Quadriga 1986, S. 227: „Das Subjekt ist nur sofern es spricht.“ Vgl. auch J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 106f.: „Und die Stellung des Subjekts – Sie müßten es wissen, seit ich es Ihnen wiederhole – ist wesentlich durch seinen Platz in der symbolischen Welt charakterisiert, anders gesagt in der Welt des Sprechens.“ Das Symbolische spielt eine zentrale Rolle für Lacan und bildet mit dem Realen und dem Imaginären die drei für die Psychoanalyse wesentlichen Ordnungen. Das Symbolische ist die wohl wichtigste Ebene: die des Gesetzes des Signifikanten, des Anderen. 25 Lacan weist auf den Unterschied zwischen dem großen Anderen auf der Ebene des Sprechens und dem kleinen anderen als Projektion des Subjekts hin: „Es sind zwei andere zu unterscheiden, mindestens zwei – ein anderer mit einem großgeschriebenen A, und ein anderer mit einem kleinen a, der das Ich ist. Der Andere [Herv. i.O.], das ist der, um den’s in der Funktion des Sprechens geht.“ (J. Lacan.: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Seminar Buch II (1954-55), Berlin/Weinheim, Quadriga 1980, S. 300). 26 J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 71.

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on täuscht eine Einheit des Subjekts vor, die jedoch tatsächlich nicht dauerhaft ist. Die Einheit des Subjekts ist eine Täuschung, die zwar vergessen werden kann, aber dennoch nicht die Tatsache überdeckt, dass das Subjekt niemals eine Einheit konstituiert. Die Infragestellung des Subjekts, die Störung des imaginären Selbstbildes, wird durch die Begegnung mit dem ‚großen‘ Anderen hervorgerufen. Ist es der ‚absolut‘ Andere bei Lévinas, so ist es bei Lacan der ‚große‘ Andere, der die Spaltung des Subjekts evoziert und dieses zugleich als solches konstituiert. Das Subjekt gründet sich allein auf der Vorgängigkeit des Anderen, der damit wie bei Lévinas niemals vollständig erfasst werden kann. Der Andere bleibt nebulöse, rätselhafte Bedingung für das Sprechen des Subjekts, während sich das Subjekt im Sprechen immer auch an konkret andere, dem ‚Ich‘ vergleichbare, richtet. „Sie [die Anderen/die wahren Subjekte, Anm. S.T.] sind auf der anderen Seite der Sprachmauer, da, wo ich sie im Prinzip niemals erreiche. Im Grunde sind sie’s, die ich anvisiere, jedesmal wenn ich ein wahres Wort/ une vraie parole ausspreche, aber ich erreiche immer a', a'', per Reflexion. Ich visiere immer die wahren Subjekte, und ich muß mich bescheiden mit Schatten. Das Subjekt ist von den Anderen, den wahren, durch die Sprachmauer getrennt.“

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Der Ort des Sprechens als Ort des Anderen ist für Lacan auch der Ort des Signifikanten. Von dort aus spricht das Subjekt, von dort aus hat das Subjekt teil an der symbolischen Ordnung. Mit der Einführung des ‚ersten‘ Signifikanten beginnt die Teilhabe an der symbolischen Ordnung. Die imaginäre Einheit des Ich, das den anderen lediglich als Spiegelbild seiner selbst sieht, wird durchbrochen. In der familiären Konstellation nimmt diesen Ort symbolisch der Vater ein, der sich in die Zweierbeziehung von Mutter und Kind einmischt.28 Nicht der tatsächliche Vater, sondern der symbolische markiert den Ort, von dem das Sprechen möglich ist. Dieser Platz kann in der Entwicklung des Kindes von vielen Perso-

27 J. Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, S. 311. Lacan verwendet hier den Plural ‚Andere‘, wo er sonst den Singular ‚der Andere‘ verwendet. 28 Vgl. J. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Seminar Buch XI (1964), Berlin/Weinheim: Quadriga 1987, S. 208. „Wenn das Subjekt das ist, was ich Sie lehre: ein durch Sprache und Sprechen determiniertes, so ist damit gesagt, daß es in initio [Herv. i.O.] am Ort des Anderen anfängt, sofern da der erste Signifikant auftaucht.“

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nen eingenommen werden.29 Das Subjekt ist auf diesen Anderen angewiesen, der die spiegelbildliche, imaginäre Beziehung unterbricht. Die Stimme des Anderen, so Lacan, reguliert diese imaginäre Beziehung, indem sie die Beziehung zum Anderen, als symbolische Beziehung, einführt. Lacan nennt diese Regulierung „transzendent“: „[...] wobei das Transzendente in diesem Falle nichts andres wäre als die symbolische Verbindung zwischen den menschlichen Wesen.“30 Das ‚Drama‘ des Sprechens besteht nun darin, dass die Bedingung des Sprechens nicht einholbar ist, dass der Andere, an den sich unser Sprechen richtet, nicht erreichbar ist. Was wir hingegen erreichen sind die objektivierbaren anderen, die jedoch lediglich Abbildungen des Ichs sind: „[U]nsere Beziehung zum anderen“ spielt „die ganze Zeit in dieser Ambiguität. Anders gesagt, die Sprache ist ebenso dazu da, um uns im Anderen zu gründen, wie, um uns radikal daran zu hindern, ihn zu verstehen.“31 Das Sprechen ist allererste Grundlage für die Psychoanalyse Lacans, da sich anhand der dem Sprechen inhärenten Funktionen die Beziehungsstrukturen des Subjekts zum anderen (zum großen wie zum kleinen) erkennen lassen, eines Sprechens, das niemals für sich spricht, sondern immer für den anderen: „Sprechen, das ist vor allem sprechen zu anderen.“32 Es geht dabei nicht um den objektiven Wahrheitsgehalt einer Aussage, sondern darum, dass das Subjekt mit seinem Sprechen ‚glauben machen möchte‘. Ob der andere diesem Sprechen Glauben schenkt, kann das Subjekt nie wissen, selbst wenn eine Bestätigung (etwa: „ich glaube, was du sagst“) vorliegt. Indem das Sprechen des Subjekts darauf abzielt, Glauben zu schenken, muss es den Anderen als Bezugspunkt zugleich voraussetzen. Erst der Glaube an den Anderen garantiert den „stiftenden Wert dieser Worte“33, die geglaubt werden, gleichwohl es doch ‚nur‘ Worte sind. Nicht die schlichte Interpretation des Gesagten, sondern die Bewegungen des Sprechens selbst, der Sprechakt zwischen Analytiker

29 Lacan spricht auch vom père mort, vom toten Vater, der „Träger eines Signifikanten“ (porteur d’un signifiant) ist. (Ders.: Die Bildungen des Unbewußten. Seminar Buch V (1957-58), Wien: Turia & Kant 2006, S. 544, und: Ders.: Les formations de l’inconscient. Le séminaire livre V (1957-58), Paris: Seuil 1998, S. 463). 30 J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 181. 31 J. Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, S. 311. 32 J. Lacan: Die Psychosen. Seminar Buch III (1955-56), Berlin/Weinheim: Quadriga 1997, S. 46. 33 Ebd., S. 48. Slavoj Žižek vergleicht den Status des Anderen daher mit dem eines „ideologischen Beweggrunds wie Kommunismus oder Nation“ (ders.: Lacan. Eine Einführung, Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 21).

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und Analysand, stehen im Vordergrund. Die Stimme nimmt im Hinblick auf das ‚wahre‘ Sprechen einen besonderen Stellenwert ein. Der Analytiker, der stellvertretend den Platz des Anderen besetzt, wird für den Analysanden, so Lacan, zu einer Stimme: „Ainsi de celui qui a reçu la clef du monde dans la fente de l’impubère, le psychanalyste n’a plus à attendre un regard, mais se voit devenir une voix.“34 Bedeutung erlangt die Stimme deshalb, weil sie vom Ort des Anderen aus erklingt. Um zu sprechen muss der Sprecher sich diese Stimme erst einverleiben, d.h. er muss vom Ort des Anderen aus sprechen.35 Grund für das Sprechen ist der Andere, der gerade als Verkörperung eines unerreichbaren Ortes das Sprechen fortwährend am ‚Laufen‘ hält. Um zu verhindern, dass sich das Subjekt allein an den imaginären ‚kleinen‘ anderen richtet – dies würde zu einer fatalen und aggressiven Konkurrenzsituation führen – ist das Begehren des Subjekts auf die symbolische Ebene, die des ‚großen‘ Anderen, zu verlagern. Das in den Fluss der Signifikanten eingebettete Begehren treibt als Begehren des Anderen das Sprechen an. Über die symbolische Ebene bahnt sich das Begehren einen Ausweg, der „die Zerstörung des andern“36 umgeht. Jenseits einer Konkurrenzsituation, die von Rivalität bis hin zur Eliminierung des anderen geprägt ist, findet sich das Subjekt durch das Sprechen befähigt, Aggressionen umzuleiten. Die imaginäre, spiegelbildliche Beziehung zum ‚kleinen‘ anderen wird gebrochen durch die Einführung des Symbols. Das gemeinsame Sprechen, die Teilhabe an der symbolischen Ordnung, macht die Subjekte zu Verbündeten. Dabei transformiert sich die ursprünglich aggressive Konkurrenz in ein kommunikatives Miteinander, in dem das Begehren nach Anerkennung als Antrieb dient: „Anders könnte sich jede menschliche Funktion nur in dem unbeschränkten Wunsch nach der Destruktion des anderen als solchen erschöpfen.“37

34 J. Lacan: Autres écrits, Paris: Seuil 2001, S. 254. 35 Vgl. J. Lacan: Die Angst. Das Seminar Buch X (1962-63), Wien/Berlin: Turia & Kant 2010, S. 345: „Wenn die Stimme in dem Sinne, in dem wir sie verstehen, eine Bedeutung hat, so nicht die, in irgendeiner räumlichen Leere widerzuhallen. Die einfachste Einmischung der Stimme in das, was man linguistisch ihre phatische Funktion nennt – von der man glaubt, sie sei auf der Ebene der schlichten Kontaktaufnahme, wo es sich doch eindeutig um etwas anders handelt –, hallt in der Leere wieder, die die Leere des Anderen als solchen ist, das ex-nihilo im eigentlichen Sinne. Die Stimme antwortet auf das, was gesagt wird, aber sie kann nicht dafür bürgen. Anders gesagt, damit sie bürgt, müssen wir die Stimme als die Alterität dessen einverleiben, was gesagt wird.“ 36 J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 218. 37 Ebd., S. 219.

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Die Stimme führt nicht nur in die symbolische Ordnung ein, sondern löst auch das beständige Verlangen zu sprechen aus. Denn sie ist die Ursache des Begehrens des Anderen.38 Sie wird begehrt, kann aber als Objekt im Sprechen nicht festgehalten und besessen werden. Als Partialobjekt benennt Lacan sie das objet a, das ausgezeichnete Objekt, das die Spaltung des Subjekts sowie den fundamentalen Mangel, der das Sprechen bedingt, provoziert. Mit der Anerkennung des Anderen jenseits des Sprechens, dem Eintritt in die symbolische Welt, ist auch der ‚kleine‘ andere als Gesprächspartner anerkannt. Das wahre Sprechen kennzeichnet für Lacan diese Anerkennung als Glauben an das Sprechen, die den ‚kleinen‘ anderen vom Rivalen zum Partner macht.39 Der Andere spricht immer mit: Als Stimme im Sprechen richtet er sich nicht auf das Gesagte, sondern an den anderen. Somit verweist die Stimme im Sprechen auf das, was außerhalb des Sprechens ist, auf den Anderen, der allererst in das Symbolische einführt. Das Sprechen, so Lacan, „ist den anderen als solchen zum Sprechen bringen. Diesen anderen werden wir, wenn Sie damit einverstanden sind, mit einem großen A schreiben.“40 Diese Lévinas vergleichbare ‚Vorursprünglichkeit‘ bewirkt, dass der Andere nicht ausgesagt oder erkannt, sondern nur anerkennt sein kann: „Absolut, das heißt, daß er anerkannt, aber nicht gekannt wird.“41 Die Aufgabe der Psychoanalyse besteht für Lacan darin, das Subjekt zu einem ‚wahren‘ Sprechen zu führen, einem Sprechen, dessen Bezugspunkt der Andere außerhalb des Sprechens ist.42 In der Stimme nun vollzieht sich dieses ‚wahre‘ Sprechen: Als Bestandteil des Sprechens, jedoch gelöst sowohl vom semantischen Inhalt als auch vom Subjekt, trägt sie die Möglichkeit in sich, nichts zu sagen, um zugleich etwas zu sagen. Als ‚Supplement‘ des Subjekts füllt die

38 Vgl. J. Lacan: Die Angst, S. 351: „[...] dass a nicht das Objekt des Begehrens sei, welches wir in der Analyse aufzudecken suchen, sondern dessen Ursache.“ 39 Vgl. hierzu J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 301: „[...] sobald es glauben machen will und Anerkennung fordert, existiert das Sprechen.“ 40 J. Lacan: Die Psychosen, S. 48. Thanos Lipowatz formuliert in diesem Zusammenhang: „Die Stimme kommt immer vom Ort des Anderen, d.h. auch vom Unbewussten her.“ (Ders.: Der Fortschritt in der Geistigkeit und der Tod Gottes, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 69). 41 J. Lacan: Die Psychosen, S. 48. 42 Vgl. J. Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, S. 313: „Die Analyse muß abzielen auf den Übergang eines wahren Sprechens, das das Subjekt an ein anderes Subjekt fügt, auf der anderen Seite der Sprachmauer.“

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Stimme dieses, verspricht eine Einheit und Gegenwart, die jedoch immer wieder neu nach einer Bestätigung verlangen.43 Die Stimme ordnet sich den Signifikanten nicht ein, sie übernimmt vielmehr die Funktion eines absoluten Signifikanten. Als ein Signifikant geht sie nicht in der Signifikantenproduktion auf, sondern fungiert als Instanz, die den Sinn des Sprechens hervorbringt. Die Stimme ist nicht sinn-los, obwohl sie als unartikulierte nichts sagt. Die Wortbedeutung kommt erst im Nachhinein dazu, doch der Sinn, der das Sprechen allererst eröffnet, geht von einer noch unartikulierten Stimme aus. Die Stimme selbst hat keine Bedeutung, denn als losgelöster Signifikant steht sie in keiner bedeutungsevozierenden Opposition.44 Jenseits einer phonologischen Analyse der Stimme in differentielle Oppositionen (wie in Trubetzkoys Grundzüge der Phonologie), die Bedeutung generieren, wirkt die Stimme als drängende und fordernde Präsenz im Sprechen.45 Diese Präsenz der Stimme im Sprechen geht nicht im bewusst Gehörten auf, sondern bietet für Lacan wie für Lévinas Zugang zu einem Außerhalb des Sprechens, dem Jenseits und dem Unbewussten. Daher aber ist die Stimme auch nicht als eine genuin lautliche Stimme zu verstehen. Oder anders gesagt: Das Sprechen bringt die Stimme zugleich zum Schweigen.46 Ihre Präsenz ist ambivalent, da sie sich als

43 Vgl. Dolar, Mladen: A voice and nothing more, Cambridge, Mass.: The MIT Press 2006, S. 36. 44 Damit nimmt sie die Funktion des Phallus ein. Vgl. dazu Widmer, Peter: Subversion des Begehrens, Wien: Turia & Kant 2009, S. 72: „Das heißt, daß der Phallus bedeutend, signifizierend ist, sich selber aber jeder Bedeutung entzieht. Dennoch wird unablässig versucht, den Schleier seines Geheimnisses zu lüften, ihn zu deuten. Die Zeichensetzung des Phallus ist gleichbedeutend mit der Kreation der symbolisch vermittelten Realität, durch ihn erlangt das Seiende für ein Subjekt Sinn und Bedeutung.“ 45 Und Mladen Dolar ergänzt: „There is no meaning that could be assigned to it, since meaning springs only from those oppositions. [...] the differential logic always refers to absence, while the voice seems to embody a presence, a background for differential traits, a positive basis for their inherent negativity.“ (Ders.: A voice and nothing more, S. 36). 46 Vgl. Poizat, Michel: Vox populi, vox Dei, Paris: Métailié 2001, S. 127: „La parole fait taire la voix, la réduit au silence. Support de l’énonciation discursive, la voix présente en effet la particularité de s’effacer littéralement derrière le sens du discours qu’elle énonce.“ Für Dieter Mersch ist die „nicht zu fassende Präsenz“ das wesentliche Charakteristikum der Stimme. Sie „zeigt sich [Herv. i.O.] mir, indem sie sich an mich wendet und mir zuspricht“. (Ders.: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Wilhelm Fink 2002, S. 113). Mersch betont dabei die Materialität der

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Forderung, als eine ethische Dringlichkeit zeigt, nicht aber als inhaltliche Aufstellung einer bestimmten Ethik. Einerseits ist die Stimme absolut präsent, andererseits entzieht sie sich gerade in dieser ungreifbaren Präsenz. Aus diesem Grund rückt sie von einem tatsächlich Hörbaren ab und wendet sich hin zu einem nicht fassbaren Transzendenten. Das durch die Stimme ausgelöste Begehren zeugt von einer Negativität im Sprechen, die nicht einfach nichts ist, sondern eine wichtige Funktion erfüllt: die Evokation des Sprechens.47 Für Lévinas und Lacan ist die Stimme des Anderen diesem ‚Jenseits‘ oder ‚Unbewussten‘ verbunden, daher weder hörbar noch aufzeichenbar. Der ihre Präsenz ständig begleitende Entzug macht die Stimme zur Grenzziehung beider Seiten. Zugleich stiftet die Stimme das gemeinsame Band zwischen den Subjekten im Sprechen; sie ist Bedingung des Sprechens überhaupt. Der Einsatz der Stimme im Sprechen bedeutet das Einverständnis in den Vertrag oder den Pakt, der damit geschlossen wird.48 Die Stimme im Sprechen bildet sowohl für Lacan wie auch für Lévinas den Zugang zum ‚großen‘ oder ‚absoluten‘ Anderen. Allein die Stimme gewährt einen Zugang zu dem, was das Bewusstsein und das Sein in einer Weise übersteigt und zugleich bedingt. Doch dieser Zugang, die Stimme, zeichnet sich ebenso durch eine grundlegende Flüchtigkeit und Unbeständigkeit aus, die wiederum Ausdruck für die Unmöglichkeit sind, den Anderen zu objektivieren. Daraus folgt für Lévinas und Lacan jedoch nicht, dass in der Stimme Wahrheit und Bedeutung in der Gegenwart eines Bewusstseins zusammenfallen. Die Stimme ist vielmehr Spur ihrer selbst; sie ist zwar Präsenz, aber Präsenz, die nicht einholbar ist.

Stimme, die sinnliche Qualität des Lautes. Aber ist damit das Problem der Ambivalenz der Stimme gelöst? Lévinas und Lacan halten den Widerspruch offen. 47 Vgl. A. Juranville: Lacan und die Philosophie, S. 108: „Das Begehren [...] kann nicht von einer Negativität [Herv. i.O.] getrennt werden.“ 48 Vgl. S. Žižek: Jacques Lacan. Eine Einführung, S. 23: „Die menschliche Rede transportiert niemals nur eine Botschaft, sie bekräftigt immer auch auf selbstreflexive Weise den grundlegenden symbolischen Pakt zwischen den kommunizierenden Subjekten.“

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1.3 A USSAGE UND A USSAGEN , S AGEN UND G ESAGTES Aufgabe der Psychoanalyse ist, so Lacan, das Subjekt (Je) zu einem ‚vollen‘ Sprechen zu bringen, das den ‚großen‘ Anderen anvisiert. Im Gegensatz dazu steht das ‚leere‘ Sprechen eines imaginären Ich (moi), das den anderen als Projektion seiner selbst sieht. Der ‚kleine‘ andere ist der ins Gegenteil verkehrte ‚große‘ Andere, ein dem imaginären Ich angepasstes Bild des anderen. Das ‚leere‘ Sprechen kann bis zur Reduktion des anderen auf eine „korrelative Funktion des Ichs des Subjekts“49 gehen. Die Illusion, den Gesprächspartner vollständig verstehen zu können und von diesem ebenso verstanden zu werden, diese Täuschung einer reibungslosen Kommunikation ignoriert den unauflösbaren Rest, der in jedem Sprechen insistiert.50 Erst durch das ‚volle‘ Sprechen kann das Subjekt sich von dieser illusionären Position lösen und wird im Prozess des Sprechens selbst verwandelt: „Das volle Sprechen ist Sprechen, das bewirkt.“51 Die grundlegende Funktion der Sprache als performativer Vollzug des Sprechens bestehe daher nicht darin „zu informieren, sondern zu evozieren“52. Der Akt des Sprechens soll eine Wirkung hervorrufen: Es geht nicht um einen Informationsaustausch, sondern darum, im Sprechen anerkannt zu werden, den anderen ‚glauben zu machen‘, einen Appell an jemanden zu richten und sich selbst durch das Sprechen zu verändern: „Was ich im Sprechen suche“, so Lacan, „ist die Antwort des anderen“53. Die Beziehung, die sich im Sprechen, im Austausch der Stimmen, zwischen den Sprechenden aufbaut, ist wichtiger als das Thema. Erst das ‚volle‘ Sprechen macht den Einfluss des Anderen im Subjekt deutlich. Es verdeutlicht, dass es nicht immer darauf ankommt, etwas zu sagen. Die Tatsache, dass jemand spricht, genügt, um Sinn entstehen zu lassen. So finden wir uns in Situationen wieder, in denen gesprochen wird oder werden muss, ohne dass etwas gesagt wird. Schwieriger als ein Sprechen ohne etwas zu sagen, ist es, ein Schweigen bei Anwesenheit der Gesprächsteilnehmer auszuhalten. „Daß man sprechen kann, um nichts zu sagen, ist genauso bedeutsam, wie der Umstand, daß, wenn man spricht, so im allgemeinen, um etwas zu sagen. Was frappierend ist, ist

49 J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 69. 50 Vgl. ebd., S. 66. 51 Ebd., S. 141. 52 J. Lacan: Schriften I, S. 143. 53 Ebd., S. 143.

34 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ dies, daß man in vielen Fällen spricht, während man genauso gut schweigen könnte. Aber dann zu schweigen, ist genau das Schwierigste.“

54

In der Differenz von ‚vollem‘ und ‚leerem‘ Sprechen findet sich das Subjekt als gespaltenes wieder. Von Beginn seines Eintritts in die symbolische Ordnung ist das Subjekt sowohl auf der Ebene des Aussagens (Je) (énonciation), dem Akt des Sprechens, als auch auf der Ebene der Aussage (moi) (énoncé), des Inhalts des Gesagten. Aus dieser zweigeteilten Struktur der Sprache, eines unbewussten Akts des Aussagens und eines inhaltlich festhaltbaren Teils der Aussage, kann das Subjekt nicht heraustreten. Dem Akt des Aussagens muss die Aussage gegenübergestellt sein. Dieser Einteilung folgend spricht Lacan von einem Subjekt der Aussage und einem Subjekt des Aussagens.55 Gleichwohl es sich um einen Akt des Sprechens handelt, ist das Subjekt im Aussageakt in eine passive Position gedrängt, von der aus es ‚gemacht‘ wird: „Das Subjekt, das uns interessiert, Subjekt, nicht insofern es den Diskurs macht, sondern insofern es durch den Diskurs gemacht ist, [...] ist das Subjekt des Aussagens.“56 Wie die reine Stimme unmöglich ist, so bleibt gleichfalls das absolut ‚volle‘ Sprechen unerreichbares Ideal, da im Sprechen immer auch die ‚leere‘ Seite beteiligt sein muss. Dennoch soll das ‚volle‘ Sprechen für Lacan die Wahrheit „trotz aller Zensur, zwischen den Zeilen [Herv. i.O.] hören lassen allein durch den Signifikanten“57. Der Sinn des Sprechens erschließt sich somit für Lacan erst in dem Akt, der das Sprechen hervorbringt. Oder anders formuliert ist der Sinn der Einbruch des Unbewussten in den Fluss des Sprechens. Allerdings verschwindet der Sinn in seinem Auftauchen zugleich wieder. Das Paradoxe an der analytischen Situation ist, dass der

54 J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 203. 55 Hans-Dieter Gondek weist darauf hin, dass Lacan „von Dire und Dit spricht, in Formulierungen, die auch vom Ton her stark an Levinas erinnern“ (ders.: Cogito und séparation – Lacan/Levinas, S. 67). Auch in Encore geht es Lacan um eine Dichotomie von Sagen und Gesagtem: „Daraus taucht ein Sagen auf, das nicht immer so weit geht, ex-sistieren zu können zum Gesagten.“ (Ders.: Encore. Seminar Buch XX (1972-73), Berlin/Weinheim: Quadriga 2006, S. 26). 56 J. Lacan: Meine Lehre, Wien: Turia & Kant 2008, S. 45. 57 J. Lacan: Schriften II, S. 30. Lacan hält nicht nur am Begriff des Subjekts, sondern ebenso an dem der Wahrheit fest (wenngleich dieser auch völlig neu bewertet wird). Vgl. hierzu Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 198.

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Sinn nach Lacan nur Geltung hat, sofern „er strauchelt oder sogar unterbrochen wird“58. Dabei ist die Stimme für Lacan das, was die Spaltung des Subjekts bewirkt.59 Wie er betont, handelt es sich nicht um eine musikalische Stimme, sondern um eine Stimme, die sich allein im Sprechen findet: „Die Stimme, um die es geht, ist die Stimme als imperativische Stimme, die Stimme insofern sie Gehorsam oder Überzeugung fordert. Sie ist nicht im Verhältnis zur Musik, sondern im Verhältnis zum Sprechen anzusiedeln.“60 Die Stimme ermöglicht die Kontinuität der Signifikantenkette, hält das Sprechen in Fluss und begründet das Begehren des Anderen, das den Sinn des Sprechens ausmacht. Sie lässt sich damit am Ort oder besser am Nicht-Ort des Anderen ausmachen. Da die Stimme am Ort des Anderen teilhat, gehört sie nie allein dem Subjekt an. Gerade in der eigenen Stimme erkennt das Subjekt die ihr inhärente Fremdheit. Die Vorstellung eines tatsächlich möglichen und absoluten Selbstgesprächs wird damit illusionär. Lacans teils pathetische Wertschätzung des Sprechens mithin des ‚vollen‘ und damit ‚wahren‘ Sprechens entspricht hier zumindest teilweise Derridas Kriterien eines Phonozentrismus. Die konstitutive Gespaltenheit von Sprache und Subjekt bei Lacan kann sowohl strukturell als auch inhaltlich mit Lévinas’ Konzeption verglichen werden.61 Die Stimme nimmt auch bei Lévinas den Platz ein, der das Prozesshafte, die Bewegung, den Akt des Sprechens selbst provoziert. Wie das Lacansche Aussagen ist es bei Lévinas das dire, das Sagen als Akt, das die Bedingung für Sprache überhaupt darstellt. Das Sagen bedeutet die nötige und erste Offenheit, den Anderen zu hören und ihm zu antworten. Dagegen ist das dit, das Gesagte, lediglich Inhalt, das zwar Informationen weitergibt, aber grundsätzlich abhängig ist von dem vorgängigen Sagen, das dazu erst die Möglichkeit erschließt. Lévinas unterstreicht die herausragende Stellung des Sagens: „Doch geht die Bedeutung des Sagens über das Gesagte hinaus: nicht die Ontologie bringt das

58 J. Lacan: Schriften II, S. 175. 59 Vgl. J. Lacan: Autres Écrits, S. 219. Lacan erwähnt als Auslöser der Spaltung hier nicht nur die Stimme, sondern auch den Blick. 60 J. Lacan: Die Angst, S. 346. Vgl. Baas, Bernard: De la chose à l’objet, S. 186. Es handelt sich, so stellt Baas klar, um eine „sonorité en quelque sorte non physiquement sonore“ (ebd., S. 186). 61 Gleichwohl Lévinas diese Nähe zur Psychoanalyse bestreiten würde. So schreibt er beispielsweise in Anlehnung an das unbewusste Sprechen in Jenseits des Seins: „Nicht die Entdeckung des ‚es spricht‘ oder des ‚die Sprache spricht‘ gibt dieser Passivität recht.“ (Ebd., S. 116).

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sprechende Subjekt hervor. Im Gegenteil, erst die Bedeutsamkeit des Sagens, die über das im Gesagten versammelte sein [Herv. i.O.] hinausgeht, kann die Auslegung des Seins oder die Ontologie rechtfertigen.“62 Die Unterscheidung von ‚Sagen‘ und ‚Gesagtem‘ (dire und dit) macht die fundamentale sprachliche Ambiguität aus. Die Stimme gehört der Seite des Sagens an, die zwar keine Botschaft als semantisch aussagbaren Inhalt übermittelt, aber doch, und wichtiger noch, über das bloß Ausgesagte hinausgeht. Diese ‚andere‘ Botschaft bleibt nach Lévinas ein Rätsel, insofern sie nicht vollständig entschlüsselbar ist. Gerade die fortwährende Beschäftigung mit dem unlösbaren Rätsel der Stimme des Anderen hält das originäre Verhältnis des Subjekts zum Anderen aufrecht. Im Sprechen ist es also die Stimme, die den Bezug zum dire hält und so eine Ahnung der Dimension des Anderen im Sprechen und in der Beziehung zum anderen Menschen herstellt. Anders als der Inhalt des Gesagten sorgt die Stimme auf der Ebene des Sagens für eine Annäherung an den Anderen im Sprechen. Auch bei Lévinas ist das Subjekt als sprachliches daher gespalten in ein Subjekt des Sagens und ein Subjekt des Gesagten. Die Stimme im Sagen stammt sowohl vom Anderen als auch vom Subjekt des Sagens; sie ist einerseits Aufforderung und zugleich Antwort auf diese Aufforderung. Als solche hält sie die Bewegung des Sagens am Laufen. Sie sorgt dafür, dass das Sprechen nicht zum Stillstand kommt und selbst im Schweigen weitergeht. Das große Verdienst des Sagens ist die Unterbrechung des bloßen Inhalts durch die sich stets aufdrängende Erinnerung an den Grund des Sprechens überhaupt. Die Stimme verortet Lévinas dabei außerhalb des Seins, in einem absoluten Außen, einem ‚Jenseits‘: So „ertönt die Stimme vom anderen Ufer her. Eine Stimme unterbricht das Sagen des schon Gesagten“63. Als Spur zieht sich das Sagen durch das Gesagte und als Spur, als anwesende Abwesenheit, „bedeutet“ das Sagen als Stimme „ohne im Gesagten haltzumachen, es geht nicht von einem Ich aus und beschränkt sich nicht auf das Enthüllen in einem Bewußtsein“64. Die Stimme ist nicht nur Störung des Sprechens, sondern ermöglicht dieses erst. Die Entstehung des Gesagten aus dem Sagen heraus verhindert eine Sprache als bloßes Zeichensystem.65 Hinter oder vielmehr ‚jenseits‘ des alltäglichen Sprechens, hinter dem bekannten Klang der Worte, gilt es, einen anderen Klang zu entdecken, einen nach Lévinas nicht seinsmäßigen Klang. Doch dieser gänzlich unontologische Klang wäre nicht als Klang in der Welt, die eine Welt des Seins ist,

62 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 95. 63 Ebd., S. 390. 64 Ebd., Fußnote S. 117. 65 Vgl. ebd., S. 99.

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hörbar. Er könnte nicht aufgezeichnet werden, da es sich um einen Klang handelt, der dem Sprechen vorausgeht und dieses erst erschafft. 66 Die Gefahr besteht für Lévinas darin, dass sich das Sagen immer wieder als bloß Gesagtes manifestiert, dass es eine Form und einen Inhalt bekommt, dass es hörbar wird wie alles andere auch und damit seinen eigentlichen, außerordentlichen Sinn verliert. Was tatsächlich verstanden und gehört werden kann, ist das Gesagte; naheliegend ist insofern, sich an dieses greifbare Gesagte zu halten. Doch Lévinas fordert gerade eine Annäherung an den Anderen, die nur als reines Sagen durch die Stimme geschehen kann. Anderer und Subjekt sind keine Gesprächspartner, die sich sprachlich Informationen übermitteln. Vielmehr konstituiert sich die Beziehung zwischen Subjekt und Anderem allein durch die Tatsache, dass überhaupt gesprochen wird. Daher rührt die Bedeutung des Dass des Sprechens, das keinen Inhalt, sondern Voraussetzung für jegliche Form von Kommunikation überhaupt darstellt und für Lacan wie für Lévinas grundlegend ist. Als Umkehrung des heideggerschen Seinsdenkens ist der jedem Sein vorausgehende Sinn für Lévinas einzig gebunden an die Transzendenz des Anderen. Die Stimme, das Sagen, ist eben dieser Sinn, der sich aus dem ‚Jenseits‘ des Seins verkündet. Die sich daraus ergebende Aporie erfährt bei Lévinas keine Auflösung. Allein im Sagen findet sich der transzendente Sinn, in der Stimme des Anderen, der in der Sprache als Gesagtem unwiederbringlich verloren gehen muss. Zugleich ist der Mensch auf Sprache, die in Kategorien fasst, die Ordnung schafft und Zusammenhänge von Ursache und Wirkung deutlich macht, die sich an die Regeln der Logik hält, angewiesen. In dieser Spannung muss auch die Stimme verstanden werden. Sie ist zwar Stimme im Sprechen; sie deckt sich aber nicht mit der empirischen Sprechstimme, die tatsächlich gehört werden kann. Die transzendente Stimme evoziert die akustische dadurch, dass sie den Anderen als absoluten Bezugspunkt markiert. Die Stimme als Sagen, als die Eröffnung und Möglichkeit des Gesagten, gewährleistet die Begegnung mit dem Anderen. Trotz der Abwendung von jeder Empirie bindet Lévinas die Erfahrung des Anderen an eine Körperlichkeit, die als reine Passivität, als buchstäbliches Er-

66 Vgl. E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 96: „Wenn das Sagen nicht allein das Korrelativ eines Gesagten ist, wenn seine Bedeutsamkeit nicht aufgeht in der gesagten Bedeutung, kann man dann nicht in diesem Jenseits – oder in diesem Diesseits – des Sagens, das das Sein sagt, die Bedeutsamkeit der Diachronie finden? Hinter dem Sein und seinem Sich-Darbieten wird von jetzt an der Klang anderer, in der Ontologie vergessener Bedeutungen vernehmbar, die eine Untersuchung verlangen.“

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leiden und Leiden zu verstehen ist. Es ist eine Ebene, die zwar über die der Sinnlichkeit hinausgeht, diese aber zugleich auch eröffnet und bedingt, daher als Sinnlichkeit vor aller Sinnlichkeit, als eine absolute Sinnlichkeit, betrachtet werden kann.67 Das sinnlich Wahrnehmbare unterliegt demnach gleichfalls einer Reduktion auf eine Identität, ein Erlebnis des Seins, das für ein Bewusstsein „verstehbar“ ist und „erklingt“68. Dieser Klang jedoch ist neutral, steril, unabhängig vom Anderen, im Sein zu Hause. Vor der Ästhetik muss eine Ethik stehen, die sich dem „auf das Schöne reduzierten Gesagten“69 widersetzt. Während Lévinas den schönen Klang der Poesie dem Sein zuspricht, sieht er dessen Gegenspieler in der nicht-indifferenten Stimme des Anderen. Zwei ‚Klänge‘ konkurrieren in der Sprache miteinander, wobei keine Seite die jeweils andere völlig beherrschen kann. So klingt im Ästhetischen, dem Klang des Seins, das Ethische, die Stimme des Anderen, mit an: „Das Sein [...] ist zwar Thema, doch läßt es auch sein [Herv. i.O.] erklingen, ohne dabei das Echo des Sagens, von dem es getragen wird und durch das es entsteht, ganz zu übertönen.“70 Es muss daher eine sinnliche Wahrnehmung der Stimme angenommen werden, die auf eine Transzendenz hin gespannt ist und damit jenseits der empirischen, sinnlichen Wahrnehmung liegt, jenseits der tatsächlich hörbaren und aufzeichenbaren Stimme. Sprache entsteht und hält sich in dieser Spannung. Für Lévinas ist die Stimme des Anderen als ethische Setzung, das Sagen, auch für die heideggersche Sprache des Seins absoluter Bezugspunkt. Selbst wenn Heidegger, so Lévinas, diese als „schweigende[...] und nicht menschliche[...] Sprache“ betrachtet, eine „Sprache, die früher als die Menschen spricht“71. Denn erst im Sagen begründet sich das ursprünglich ethische Moment; dadurch, dass der Eine für den Anderen seine Stimme ‚hergibt‘, gibt er auch sich. Diese besondere Gabe, das Hergeben und Aussetzen der eigenen Stimme, spaltet das Subjekt nicht nur, sondern markiert es allererst als solches. Die Stimme identifiziert und spaltet zugleich; sie begrenzt und entgrenzt das Subjekt:

67 Und richtig bemerkt Marty Slaughter, dass Lévinas in Totalität und Unendlichkeit eine sinnliche Wahrnehmung ablehnt, dies sich jedoch in Jenseits des Seins ändert und er sich einer sinnlichen Erfahrung des Anderen annähert. Dies manifestiere sich eben im Zusammenwirken von Sagen und Gesagtem. (Vgl. dies.: „Levinas, mercy and the Middle Ages“, in: Marinos Diamantides (Hg.), Levinas, Law, Politics, Oxon, UK/ New York, USA: Routledge Cavendish 2007, S. 49-70, hier S. 57f.). 68 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 91. 69 Ebd., S. 100. 70 Ebd., S. 113. 71 Ebd., S. 296.

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„Das ‚hier, sieh mich‘ als Zeichen, das dem Andern von ebendieser Zeichenbedeutung gegeben wird, bedeutet mir im Namen Gottes den Dienst an den Menschen, die mich angehen, ohne daß ich mich mit irgendetwas identifizieren könnte, es sei denn mit dem Klang meiner Stimme oder der Figur meiner Handbewegung – mit dem Sagen selbst.“

72

Diese Identität in der Stimme ist eine brüchige, ihre Präsenz nur mehr als Spur greifbar.73 Sich zu einem Zeichen für den Anderen zu machen – als ‚Gabe‘ – bedeutet keine besondere Art der Selbstdarstellung, sondern geschieht allein durch die Stimme, die sich der Repräsentation entzieht. Denn zwar ist das Subjekt durch seine Stimme markiert und identifiziert, zugleich ist diese vermeintlich ganz eigene Stimme schon entäußert, für den Anderen. Jedes Sprechen, jede Form von Kommunikation, trägt dieses Moment in sich. Die Nachricht kann für Lévinas nicht vom dem, der die Nachricht spricht, abstrahiert werden. So ist der Sprechende zugleich selbst Nachricht, Nachricht an den Anderen.74 Das Ethische ist nicht in Sätzen festzuhalten, sondern in allem Sprechen präsent.75 Darum un-

72 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 327. Zur Spaltung des Subjekts schreibt Lévinas in Gott, der Tod und die Zeit: „Das Sagen ohne Gesagtes ist dem Anderen gegebenes Zeichen, durch das das Subjekt aus der Heimlichkeit des Subjekts heraustritt.“ (Ebd., S. 210). 73 Eben diesen Aspekt unterstreicht Rodolphe Calin. Die Identifikation mit der Stimme als einzig mögliche schließe den Anderen von vornherein ein: „Mais nous avons vu que l’identité du moi est toujours en même temps défaite. Dès lors, la voix n’est-elle pas à penser comme perte et comme trace?“ (Ders.: Levinas et l’exception du soi, Paris: Presses Universitaires de France 2005, S. 281). 74 Vgl. E. Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 8: „[...] Zeichen, das genau durch dieses Zeichen-Geben gegeben wird, der Bote als die Botschaft“. (Vgl. hierzu das französische Original: Ders.: L’humanisme de l’autre homme, Paris: Fata Morgana 1973, S. 13: „[...] signe fait de cette donation même du signe, le messager étant message“). 75 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Deutsch-französische Gedankengänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 281. Waldenfels macht auf das Zögern Lyotards aufmerksam, der das Ethische wie Lévinas nicht in Satztypen und Diskursarten fassbar sieht. Waldenfels bestätigt den lévinasschen Ansatz und hinterfragt zugleich den Lyotards: „Es könnte daran liegen, daß sich das Ethische als ein Sagen ereignet, das Sätze durchquert und niemals in gesagten Sätzen heimisch wird. Dies würde allerdings das Satzmodell, das Lyotard verwendet, erheblich in Mitleidenschaft ziehen.“ (Ebd., S. 281).

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terstreicht Lévinas die Bedeutung des Sprechens: „Das ‚ich spreche‘ wird mitgehört in jedem ‚ich tue‘ und selbst im ‚ich denke‘ und ‚ich bin‘.“76

1.4 J ENSEITS DES S PRECHENS ; DIE T RANSZENDENZ

DAS

U NBEWUSSTE ,

Grundlegend für die Stimme bei Lévinas’ ist ihre Verortung. Sie erklingt aus einem ‚Jenseits‘, das einem unvorstellbaren Nicht-Ort, einer absoluten Transzendenz außerhalb von Raum und Zeit entspricht: „Jene Stimme […] lehrt die Transzendenz selbst.“77 Die Stimme des Anderen, die in jeder anderen Stimme mit bezeugt wird, bietet einen Zugang zum Göttlichen: „Durch die Stimme des Zeugen wird die Herrlichkeit des Unendlichen bezeugt (und nur in diesem Sinne ‚braucht Gott die Menschen‘).“78 Die in der Begegnung mit dem Anderen liegende transzendente Sinnlichkeit lässt sich in der „Reichweite“ und dem „Tonfall der Stimme“79 vernehmen. Das Unendliche ist zwar nicht mit Worten erklärbar, nicht verstehbar, aber doch auf einmalige Weise – als sich vollziehender Entzug der Stimme – hörbar. In der Stimme sagt sich mehr als das Subjekt weiß, da die Stimme des Subjekts dem Anderen angehört. Das Innerste des Subjekts bildet keinen homogenen Kern des Selbst, sondern ist schon vom Anderen besetzt; das Subjekt ist konstitutiv gespalten: „Das Unendliche bildet die Ausnahme zum Seinsvollzug, und dennoch betrifft es mich und bedrängt mich und bestimmt mich durch meine eigene Stimme. Das unendliche Äußere wird zum unendlich Inneren als meine Stimme, die von der Spaltung des inneren Geheimnisses zeugt, von der Spaltung der Zeichen-Gabe selbst.“

80

In der Stimme scheint sich das Jenseits zu öffnen; es wird hörbar, um doch im selben Moment wieder zu verschwinden. Die Botschaft der Transzendenz, die sich in der Stimme kundtut, hat keinen Inhalt: „Die Transzendenz ist es sich schuldig, ihre eigene Bekundung zu unterbrechen. Ihre Stimme muß verstummen, sobald man ihre Botschaft hört.“81 Die Frage, wie die (göttliche) Stimme

76 E. Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 8. 77 E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München: Karl Alber 2005, S. 248. 78 E. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, S. 209. 79 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 307. 80 E. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, S. 209. 81 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 333.

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wahrgenommen werden kann, die Frage also, ob diese tatsächlich sinnlich hörbar ist, geht bis auf die Anfänge des Volkes Israel zurück. Gershom Scholem greift die Frage auf, die sich schon im Talmud stellt, inwieweit nämlich die göttliche Stimme, die Zehn Gebote am Berg verkündend, eine wirklich hörbare ist. Bemerkenswert, so Scholem, sei doch, dass das Volk Israel nichts anderes hörte „als jenes Aleph, mit dem im hebräischen Texte der Bibel das erste Gebot beginnt“, ein Konsonant also, der den „laryngalen Stimmeinsatz“ bezeichnet und daher „so gut wie nichts“82 ist. Gottes Stimme offenbart sich der Gemeinde Israel nicht als artikuliert sinnvolle, sondern eröffnet den „Übergang zu aller vernehmbaren Sprache“83. Die Aporie einer sich ständig entziehenden, ungreifbaren und einer dennoch als Thema verhandelbaren Stimme, wird bei Lévinas nicht aufgelöst. Denn gerade ihre Unfassbarkeit ist Grundlage für Lévinas’ Ethik. Das ‚Jenseits‘ zu umreißen, bleibt eine nie enden wollende Aufgabe, da es gerade keine „‚andere Welt‘ hinter der Welt“ meint. Vielmehr „transzendiert es alle symbolische oder zeichenvermittelte Erkenntnis“84. Trotz allem handelt es sich um eine Stimme, die sich für Lévinas in einer gewissen Art von Sinnlichkeit, Klanglichkeit und Tonalität dem repräsentierenden und versammelnden Bildlichen (mithin der Kunst) gegenüberstellt. Im Sichtbaren bliebe also nichts unerklärt. Ein Klangeffekt jedoch ist die Unterbrechung oder Störung der visuellen, ganzheitlich vorgestellten Welt, wie Lévinas in Eigennamen schreibt. Im Klang finden Form und Inhalt keine Einheit mehr; sie klaffen auseinander.85 Im Sprechen ist es allein die

82 Scholem, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 47. 83 Ebd., S. 47. Vgl. auch Pfestroff, Christina: Der Name des Anderen, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, S. 60f. 84 E. Lévinas: Die Spur des Anderen, München/Freiburg: Karl Alber 1998, S. 226. 85 Vgl. E. Lévinas: Eigennamen, München/Wien: Carl Hanser 1988, S. 89 f.: „In der Tat liegt im Ton – und in jenem Bewußtsein, das sich als Hören begreift – ein Bruch mit der stets vollendeten Welt des Sehens und der Kunst. Der Ton ist ganz und gar Erschütterung, Eklat, Skandal. Während in der Schau eine Form dem Inhalt sich vermählt und ihn befriedet, ist der Ton wie ein Überfließen der sinnlichen Qualität aus sich selbst, die Unfähigkeit der Form, ihren Inhalt bei sich zu behalten – ein wahrer Riß durch die Welt – wodurch die Welt von ‚hier‘ eine Verlängerung in eine Dimension erfährt, die nicht in Schau ummünzbar ist. Auf diese Weise ist der Ton Symbol par excellence – Überwindung des Gegebenen. Wenn er dann aber doch als Phänomen erscheinen kann, als ‚hier‘ [Herv. i.O.], dann, weil seine transzendentale Funktion sich erst im Ton des Wortes durchsetzt. Die natürlichen Töne und Geräusche sind

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Stimme, die den Bezug zum Anderen, zum ‚Jenseits‘, zum radikalen Außerhalb schafft.86 Damit eröffnet Lévinas eine wertende Dichotomie von Sichtbarem und Akustischem, eine Abwertung der heideggerschen Ontologie sowie der husserlschen Phänomenologie und eine Aufwertung der Klanglichkeit, vor allem aber der Stimme. Das Rauschen des Seins ist lediglich zu ertragen, um über das Sein hinauszugehen. In diesem indifferenten Rauschen aber findet sich der Klang der Stimme, die für den Anderen bestimmt ist. Das Eingeständnis Lévinas’, auf das Sein angewiesen zu sein, im gleichgültigen Rauschen nach der einzigartigen Stimme zu suchen, verhindert zugleich eine reine Stimme des Anderen. Denn diese ist immer überlagert von den Geräuschen des Seins: „Hinter dem anonymen Rauschen des Es-gibt erreicht die Subjektivität jene Passivität, die nicht zu übernehmen ist. [...] Um zu ertragen, ohne entschädigt zu werden, ist das exzessive und widerliche Geräusch und Gedränge des Es-gibt [Herv. i.O.] notwendig.“87 Diese grundlegende Dimension der Stimme bei Lévinas als ungreifbarer und jenseitiger Grund des Sprechens findet sich in ähnlicher Gestalt bei Lacan wieder. So ist das Unbewusste auch hier der ‚jenseitige‘ Diskurs des Anderen. Erst ein Sprechen, das vom Anderen ausgeht, ist in der Lage, die Wahrheit dieses Unbewussten hörbar werden zu lassen. Sprechen richtet sich nicht nur an den Anderen, es hat seinen Ursprung und Motivation zugleich im Anderen. Es gehört zwar einerseits zur „Vorstellungsmasse des Ichs“, doch findet sich an seinen Grenzen ein anderes Sprechen, ein in der Tat ‚grenzwertiges‘ Sprechen, in das sich das Unbewusste als absolutes Außen mischt.88 Als Bestandteil des Sprechens selbst taucht das Unbewusste lediglich als Störung im Sprechen auf, ist aber selbst nicht sprachlich fassbar. Die Wahrheit des Unbewussten im Sprechen kann sich als Stimme, als Unterbrechung und Störung im artikulierten Sprechen, verwirklichen. Nicht was als positiv Gehörtes erfasst wird, sondern was sich dem in der Stimme entzieht, ist das Unbewusste im Sprechen. So lässt sich das Sprechen, entgegen der Sehnsucht, nie in einer harmonischen Totalität schlie-

enttäuschende Worte. Wirklich vernehmen kann man einen Ton erst als Wort. Der reine Ton ist das Wort.“ 86 Vgl. E. Lévinas: Eigennamen, S. 91f.: „Meine Stimme bringt das Element hinzu, das diese dialektische Situation konkret vollendet. Das sprechende Subjekt stellt die Welt in Bezug zu sich selbst vor, stellt sich nicht selbst, wie der Künstler es tut, klar und einfach inmitten seiner Zurschaustellung dar – sondern in Bezug zum Anderen.“ 87 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 357. 88 Vgl. J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 33.

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ßen.89 Wie Lévinas benennt auch Lacan das, was über das Verstehen des Subjekts hinausgeht, als ein ‚Jenseits‘. Im Sprechen des Subjekts, dem ‚Diesseits‘ des ‚Jenseits‘, findet sich eine stimmliche Ebene des Sprechens, die bis zum Unsagbaren geht. Es bewegt sich damit auf zwei Ebenen: Auf derjenigen des ‚vollen‘ Sprechens gerät das Sprechen selbst noch an eine Grenze, die von dem ‚Jenseits‘ des Subjekts kündet.90 Dass sich das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert im Sprechen wiederfindet, bedeutet nicht, dass es eine Sprache ist, sondern lediglich, dass die Struktur der Sprache mit derjenigen des Unbewussten übereinstimmt.91 Als solches übt das Unbewusste eine Wirkung auf das sprechende Subjekt aus, welches sich durch diese Wirkungen zugleich konstituiert.92 Das, was das Subjekt zu einem Sprechenden macht, ist jenseits des Subjekts; es ist das Unbewusste. „Welches ist dieser Teil im Subjekt, der spricht? Die Analyse sagt – das ist das Unbewußte. Natürlich, damit die Frage einen Sinn hat, müssen Sie gelten lassen [...], daß dieses Unbewußte etwas ist, das spricht im Subjekt, jenseits des Subjekts, und selbst wenn das Subjekt es nicht weiß, und das mehr davon sagt, als es glaubt.“93

Die Stimme nun nimmt im Sprechen gerade dadurch den Platz des Unbewussten ein, weil sie eigene und äußere Stimme ist. Sie bleibt, auch als Stimme des Subjekts, merkwürdig fremd und verrät mehr als der Inhalt des Gesagten. Die Distanz, die sich zwischen dem Subjekt und der Stimme des Subjekts hält, das Ausgeliefertsein an die eigene, unkontrollierbare Stimme und damit die Spaltung des Subjekts, ist unüberwindbar. Das von Lévinas und Lacan reklamierte ‚Jenseits‘ steht für den ständigen Bedeutungsüberschwang im Sprechen durch die Stimme: „Das Sprechen hat nie einen einzigen Sinn, das Wort eine einzige Verwendung. Jedes Sprechen hat immer ein Jenseits, unterhält mehrere Funktionen, um-

89 Vgl. J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 332. „Jede Aussendung des Sprechens ist immer, bis zu einem gewissen Punkt, in einer internen Notwendigkeit des Irrtums befangen. Damit sehen wir uns also, anscheinend, zu einem historischen Pyrrhonismus geführt, der den Wahrheitswert alles dessen, was die menschliche Stimme aussenden kann, suspendiert, ihn suspendiert in der Erwartung einer künftigen Totalität.“ 90 Ebd., S. 291f. 91 Vgl. J. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 26: „[...] das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache.“ 92 Vgl. ebd., S. 133. 93 J. Lacan: Die Psychosen, S. 52.

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schließt mehrere Bedeutungen.“94 Die Stimme geht, aus dem Jenseits des Unbewussten stammend, über das Hörbare hinaus. Damit ist die Stimme für Lacan nicht lediglich auf der Ebene des Signifikanten angesiedelt, sondern steht zwischen den Ebenen des Symbolischen und des Realen. Sie ermöglicht das Übergehen des Realen ins Symbolische und damit den Artikulationsfluss.95

1.5 Z USAMMENFASSUNG : S TIMME UND T RENNUNG

ALS

Ü BERGANG

Die Stimme bei Lévinas und Lacan ist das, was einen wenn auch flüchtigen Zugang zum Unbewussten, zum Jenseits schafft, zu dem also, was per definitionem unzugänglich ist. Sie bietet die ausgezeichnete Möglichkeit, das Außerhalb zu erahnen, das sich als Störung der strukturierten Ordnung zeigt. Damit liegt die Stimme zwischen dem empirisch Erfassbaren und dem transzendent Unzugänglichen. Als Grenzziehung, als Differenzsetzung macht sie den Unterschied dieser Bereiche erst deutlich und als Übergang verbindet sie das Unvereinbare wieder. Sie trennt und verknüpft zugleich. Sowohl für Lévinas als auch für Lacan ist die

94 J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 304. Lévinas versucht sich immer wieder abzugrenzen gegen eine Vereinnahmung seines ‚Jenseits‘ des Seins durch das Unbewusste: „Es geht hier nicht darum, zum Unbewußten hin abzusteigen, dessen Definition noch in rein negativer Weise auf das Bewußte bezogen bleibt und das damit die Struktur des Wissens um sich selbst behält [...].“ (Ders.: Jenseits des Seins, Fußnote S. 228). Trotz seiner Zurückweisung können Parallelen aber nicht geleugnet werden. 95 Vgl. J. Lacan: Die Bildungen des Unbewussten, S. 404: „Dieser Übergang als verschwindender ist genau das, was Stimme wird – ich sage gar nicht signifikante Artikulation, denn es kann sein, daß die Artikulation rätselhaft bleibt, doch das, was den Übergang unterstützt, ist Stimme. Es ist auch auf dieser Ebene, daß das emergiert, was dem entspricht, was wir zunächst am Signifikanten als von einer vergangenen Anwesenheit zeugend bezeichnet haben. Umgekehrt manifestiert sich in einem Übergang, der aktuell ist, etwas, das dies vertieft, was jenseits ist, und das daraus eine Stimme macht.“ Und einige Zeilen vorher schreibt Lacan: „Der Signifikant ist somit eine Hohlform, insofern er von einer vergangenen Anwesenheit zeugt. Umgekehrt gibt es in dem, was signifikant ist, in dem voll entwickelten Signifikanten, der das Sprechen ist, stets einen Übergang, das heißt etwas, das jenseits von jedem der Elemente ist, die artikuliert werden und die von ihrer Natur her flüchtig, verschwindend sind. Dieser Übergang vom einen zum anderen konstituiert das Wesentliche dessen, was wir die signifikante Kette nennen.“ (Ebd., S. 404).

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Stimme nie bloß als akustisch vernehmbare zu verstehen, sondern steht immer in Bezug auf eine Transzendenz, ein Jenseits oder ein Unbewusstes. Übersteigt diese Transzendenz alle Wahrnehmung und Erfahrung, bleibt auch die Stimme in einer Reinheit, einer Unberührtheit, die sie bei Lévinas und Lacan nicht ‚aus dieser Welt‘ zu kommen lassen scheint. Als Grenzmarkierung ist die Stimme sowohl verantwortlich für die Spaltung des Subjekts als auch für dessen Konstitution, dessen gespaltene Einheit, in der beide Seiten, das Sagen und das Gesagte, miteinander kommunizieren. Sie spricht im Subjekt und kommt doch von außerhalb, vom Anderen. Sie ist zwar empirisch hörbar – so im Sprechen –, dies jedoch nur, weil sie zugleich das Akustische auf ein Jenseits hin übersteigt. Verbindung und Trennung, Grenze und Übergang: Die Stimme vereint diese auf den ersten Blick gegensätzlich erscheinenden Funktionen. Der entscheidende Punkt der Stimme liegt im Widerspruch von Hörbarem und Unhörbarem, von Subjekt und der Auflösung des Subjekts, von Sprache und nicht Sprachlichem. Lévinas und Lacan ‚bedienen‘ sich dieses Charakteristikums der Stimme ohne die Aporie selbst zu problematisieren. In einem Atemzug betont Lacan sowohl, dass Sprache nicht nur ‚vokal‘ (vocale) vermittelt ist als auch die notwendige Verbundenheit der Sprache mit einer Klanglichkeit (sonorité).96 Lévinas’ und Lacans Behandlung der Stimme schließt nicht an die von Agamben aufgezeigte Reihe von Untersuchungen an, die die Stimme als „Ausdruck (bewußter oder unbewußter) vorsprachlicher Inhalte, die anders in der Rede nicht ausgedrückt werden könnten“, betrachten. Auch weiten Lévinas und Lacan den „Bereich der Bedeutung“ nicht einfach auf die „stimmliche Verlautbarung der Phoneme“97 aus. Aber sie genügen der, wie Agamben formuliert,

96 Vgl. J. Lacan: Die Angst, S. 344: „Alles das, was das Subjekt vom Anderen durch die Sprache empfängt, die gewöhnliche Erfahrung ist, dass es das in stimmlicher Form empfängt. Die Erfahrung von Fällen, die gar nicht so selten sind, auch wenn man immer so glanzvolle Fälle wie den von Helen Keller aufruft, zeigt, dass es andere als stimmliche Wege gibt, um die Sprache zu empfangen. Die Sprache ist nicht Vokalisierung. Sehen Sie die Gehörlosen.“ Und weiter schreibt Lacan: „Dennoch glaube ich, dass wir uns vorwagen können zu behaupten, dass ein mehr als zufälliges Verhältnis die Sprache an eine Stimmhaftigkeit bindet. Und wir werden vielleicht gar glauben, auf dem richtigen Weg voranzukommen, wenn wir versuchen, die Dinge genauer zu artikulieren, indem wir diese Stimmhaftigkeit zum Beispiel als instrumentell qualifizieren.“ Im Original verwendet Lacan die Ausdrücke vocale (in der deutschen Ausgabe übersetzt als ‚stimmlich‘) und sonorité (übersetzt als ‚Stimmhaftigkeit‘) (vgl. ders.: L’angoisse. Le séminaire livre X (1962-63), Paris: Seuil 2004, S. 317). 97 Agamben, Giorgio: Die Sprache und der Tod, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 61.

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„Teilung der Sprache in zwei irreduzible Ebenen“98, die für das gesamte abendländische Denken charakteristisch ist und die schließlich auch die Vorstellung einer Transzendenz begründet. Wenn die Stimme bei Lévinas und Lacan anders als die sinnlich hörbare aus einem ‚Jenseits‘, einem radikalen ‚Außen‘, erklingt, so stellt sich die Frage, warum diese unhörbare, transzendente Stimme überhaupt noch in der mündlichen Rede allein ihren Platz hat. Wenn die Stimme als radikaler Entzug ohne festen Ort gesehen wird, dennoch aber an Sprache gebunden ist, dann müsste sie sich nicht zuletzt auch im (literarischen) Text wiederfinden.99

98 Ebd., S. 139. Agamben versucht in seinem Seminar mit Blick auf Hegel und Heidegger, jenseits dieser Oppositionen zu denken: „Das Seminar denkt also von der endgültigen Löschung der STIMME aus, oder vielmehr, es denkt die STIMME als nie gewesen, es denkt die STIMME, die unsagbare Überlieferung [Herv. i.O.] nicht mehr.“ (Ebd., S. 168). Zu Agambens Philosophie der Stimme als Negativität und Tod vgl. die Arbeit von A. Lagaay: Towards a philosophy of voice. 99 Diese These macht Michael Eggers stark. (Vgl. ders.: Texte, die alles sagen, S. 213).

2. Ruf und Verantwortung, Befehl und Gehorsam. Eine Ethik der Stimme (Lévinas, Lacan)

2.1 D IE G ABE DER S TIMME AN DEN A NDEREN

ALS

A NTWORT

Im Vernehmen der Stimme des Anderen liegt für Lévinas nicht nur die Begründung des Subjekts, sondern zugleich auch der Aufruf, diesem rufenden Anderen keine Gleichgültigkeit entgegenzubringen. Die Stimme als Ruf geht einher mit der ethischen Forderung, dem Anderen zu antworten. Das Subjekt erhält seine Stimme von der Stimme des Anderen. Daher steht das Subjekt schon immer in dessen Schuld und der Verantwortung ihm gegenüber; es ist von Beginn an in eine radikale Ethik verwickelt.1 Da die Zeitlichkeit des Rufs keine lineare ist, sondern aus der kontinuierlich fortschreitenden Zeit herausfällt, eine Zeit, die dem Bewusstsein entgehen muss, hat der Hörende keine Wahl: Er muss antworten noch bevor er verstanden hat. Die von Lévinas geforderte Ethik als ‚Erste Philosophie‘ basiert auf einem Subjekt, das in erster Instanz keinen freien Willen, keine absolute Entscheidungsmacht über sein Denken, Sprechen, Handeln besitzt, aber gerade aus diesem Grund ein genuin ethisches ist. Der ethische Moment ist die Gleichsetzung des vorgängigen und nicht freiwilligen Antwort-Gebens mit der Verantwortung für den Anderen.2 Der Andere kann dem Subjekt niemals gleichgültig sein, denn es 1

Vgl. E. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, S. 213.

2

Auf den Aspekt der ethischen Potentialität der Stimme ist in der Forschungsliteratur wiederholt hingewiesen worden, beispielsweise von Dieter Mersch (ders.: „Präsenz und Ethizität der Stimme“, in: D. Kolesch/S. Krämer (Hg.), Stimme, S. 211-236), oder Sybille Krämer (dies.: „Die ‚Rehabilitierung‘ der Stimme. Über die Oralität hin-

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hat die Last der Verantwortung für den Anderen zu übernehmen. Die Paradoxie dieser Situation hängt an der Stimme des Anderen: Sein Ruf ertönt zwar, doch kann er nicht festgehalten werden.3 Die Unmöglichkeit, sich diesem Ruf und der an ihn gebundenen Verantwortung zu entziehen, beschreibt Lévinas als „Ausgesetztsein“4 des Subjekts gegenüber dem Anderen. Gerade die Stimme, die nicht aufgezeichnet werden kann, die über das bloß Akustische hinausgeht, macht den Ruf unüberhörbar. Das Subjekt ist dazu ‚verdammt‘, den Anderen immer, auch gerade gegen den eigenen Willen, zu hören und ihm zu antworten. Die Stimme „eröffnet eine Responsivität ohne Reziprozität“5. Die Dringlichkeit des Rufs unterscheidet sich für Lévinas vom Ruf des Gewissens bei Heidegger dadurch, dass es sich nicht um einen anonymen Ruf des Seins handelt, sondern um den Ruf des Anderen, dem wir die Antwort nicht verweigern können.6 So unterbricht der aus dem ‚Jenseits‘ stammende Ruf bei Lévinas die „Unheimlichkeit des anonymen Seins“ und damit die Ordnung des Seins, während der Rufende bei Heidegger ein „In-der-Welt-sein“7 ist. Der Ruf ist niemals neutral, sondern macht auf das Leid und Elend des Anderen aufmerksam. Der Andere drängt sich mir in seinem Rufen auf, „ohne daß ich gegen seinen Aufruf taub sein oder ihn vergessen könnte, d.h. ohne daß ich aufhören könnte, für sein Elend verantwortlich zu sein“8. Das Subjekt kann sich nicht in

aus“, in: D. Kolesch/S. Krämer (Hg.), Stimme, S. 269-295, besonders S. 284f.). Simon Critchley sieht die „ethische Subjektivität“ als Schlüsselbegriff in Lévinas’ Werk (ders.: Unendlich fordernd. Ethik der Verpflichtung, Politik des Widerstands, Zürich/Berlin: Diaphanes 2008, S. 76). 3

Vgl. E. Lévinas: Zwischen uns, S. 270: „Appell des Antlitzes des Nächsten, der mit seiner ethischen Dringlichkeit die Verpflichtungen des angerufenen Ich sich selbst gegenüber verschiebt oder beiseitewischt, so daß die Sorge um den Tod des Anderen für das Ich noch vor seine Sorge um sich treten kann.“

4

E. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, S. 150.

5

S. Krämer: Die ‚Rehabilitierung‘ der Stimme, S. 284.

6

Vgl. E. Lévinas: Eigennamen, S. 26.

7

Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1993, S. 276f. Vgl. dazu auch Weber, Elisabeth: Verfolgung und Trauma. Zu Emmanuel Lévinas’ Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Wien: Passagen 1990, S. 68.

8

E. Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 223. Lévinas betont die Bedeutung des rufenden Gesichts des Anderen. Indem es spricht, wendet es sich an das Subjekt. Lévinas versteht das Gesicht demnach als primär sprechendes. Es zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass es eine Stimme besitzt. Wiederholt erklärt Lévinas, dass mit dem

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eine absolute Innerlichkeit zurückziehen; es ist nie allein mit sich. Vielmehr ist es von Anfang an verpflichtet, dem Leiden des Anderen nicht gleichgültig gegenüberzustehen. Der an das Subjekt appellierende Andere ist transzendenter Anderer, der gerade keine transzendentale Bedingung der Möglichkeit darstellt, sondern, so Lévinas, das „Zerbersten der Ureinheit der transzendentalen Apperzeption“9. Die Stimme des Anderen ist in ihrer Transzendenz nicht kategorial fassbar; sie ‚berührt‘ vielmehr ganz direkt und wird damit als ethische Verpflichtung erfahrbar. Dabei entspricht die rufende Stimme nicht dem (schlechten) Gewissen, das in uns spricht und an moralische Maßstäbe gemahnt. Dieses letztere Gewissen entsteht erst durch die Teilhabe an einer gesellschaftlichen Ordnung, durch die Einbettung in eine Gemeinschaft mit anderen Menschen, die bestimmte Moralvorstellungen teilen und Regeln zur Einhaltung der öffentlichen Ordnung verlangen. Stattdessen vergleicht François Lyotard die Ethikkonzeption Lévinas’ mit der Unbedingtheit des ethischen Gesetzes bei Kant, auch wenn dieses dann unterschiedlich begründet ist.10 Der fordernde Ruf liegt also jenseits jeder Ordnung oder Moral. Er richtet sich ausdrücklich an ein Subjekt. Die Singularität des Einzelnen ist primordial: Weder Stimme noch Anderer noch Subjekt sind im Plural zu verstehen. Für Lévinas geht es gerade um die Einzigartigkeit des Einen. Jeder Plural bringt die transzendente und ‚reine‘ Konstellation des singulären Anderen, des singulären Subjekts und der singulären Stimme ins Wanken. Das gemeinschaftliche ‚Wir‘ hört nur noch eine gestörte Stimme des Anderen. Diese störende Stimme findet sich auch im (schlechten) Gewissen wieder: Dort mahnt sie noch vor der Einhaltung bestimmter gesellschaftlicher und konventioneller Regeln an die viel grundsätzlichere Haltung der Nicht-Indifferenz gegenüber dem Anderen. Lévinas bezeichnet die Stimme, die sich ins Gewissen mischt, als eine „Ausnahmestimme, die in ihrer Nichtreduzierbarkeit die Eventualität eines Wortes Gottes anklingen läßt“11.

Gesicht keine Sichtbarkeit gemeint ist: es geht gerade nicht um Gesichtszüge, Mimik, Blicke. 9

E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 325.

10 Vgl. Lyotard, Jean-François: „Logique de Lévinas“, in: François Laruelle (Hg.), Textes pour Emmanuel Lévinas, Paris: Place 1980, S. 127-150. 11 E. Lévinas: Zwischen uns, S. 211. Im französischen Original spricht Lévinas von einer „exceptionnelle sonorité“: „Elle signifierait – par-delà les apports de la mémoire, de la délibération et de la force violente – une exceptionnelle sonorité qui, dans son irréductibilité, suggère l’éventualité d’une parole de Dieu.“ (Ders.: Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre, Paris: Grasset & Fasquelle 1991, S. 191).

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Die Stimme ruft das Subjekt buchstäblich hervor. Subjektivität besteht daher wesentlich in einem Antwort-Geben, in einer Erwiderung auf diesen Ruf, mit der zugleich eine fundamental ethische, auf der Übernahme von Verantwortung basierende Beziehung begründet ist. Dabei ist der Ruf weder eindeutig innerhalb noch außerhalb des Subjekts verortbar.12 Vielmehr eröffnet er die Grenzziehung von Innen und Außen. Erst indem das Subjekt den Ruf hört, jedoch noch nicht als sinnlich-akustisches Wahrnehmen der Stimme, ist die Spaltung vollzogen. Die Stimme zieht die Linie, die die ersten Differenzsetzungen erlaubt: zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Anderem, zwischen Sinnlichem und Intelligiblem. Ethik als ‚Erste Philosophie‘ gründet bei Lévinas in der Stimme des Anderen. Das Hören dieser Stimme ist damit auf engste Weise verknüpft. Wie auch die Stimme so geht das Hören bei Lévinas über das gewöhnliche Hören hinaus: Die Israeliten hörten die Zehn Gebote am Sinai nicht als deutlich artikulierte Worte, sondern als etwas, das dem tatsächlichen Hören vorausgeht und dieses erst möglich macht. So wird die Stimme Gottes scheinbar erst dadurch tatsächlich hörbar, dass darüber gesprochen wird, dass die Gebote weitergegeben werden, dass sich also das, was außerhalb des empirisch Hörbaren liegt, in das tatsächliche Sprechen einmischt, dass es artikuliert und diskutiert wird. Auch Scholem hält im Zuge seiner Reflexion auf das Hören der Stimme Gottes und die Zehn Geboten fest: „Erst der Prophet war berufen, den Sinn jener unartikulierten Stimme der Gemeinschaft zu deuten.“13 Für Lévinas ist der Ruf erst in der Antwort hörbar, erst „in dem Wort“, das dieser Ruf „weckt“, wie Pascal Delhom formuliert14. Die reine Stimme des Anderen aber bleibt unverfügbar. Die Unverfügbarkeit kennzeichnet Lévinas als „ein Ohr auf der Lauer“, als „ein Ohr an der Tür der Sprache“, das die Stimme hört und zugleich, im Moment des Hörens selbst, schon nicht mehr hört. Denn „über ihren eigenen Eröffnungen schließt sich die Tür wieder“15. Ohne die unverfügbare Stimme und das vorgängige, immer zum Scheitern verurteilte Hören aber gäbe es für Lévinas keinen Zugang zur Welt und zum Sein.

12 Vgl. E. Lévinas: Zwischen uns, S. 87. Lévinas schreibt der Stimme hier eine Innerlichkeit zu, die jenseits aller Innerlichkeit zu hören ist. Die Inspiration, von der Lévinas spricht, meint keine künstlerische, sondern eine genuin ethische. Vgl. dazu auch Th. Wiemer: Die Passion des Sagens, S. 377. 13 G. Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 48. 14 Delhom, Pascal: Der Dritte. Lévinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, München: Wilhelm Fink 2000, S. 91. 15 E. Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 252.

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Was das Hören der Stimme bei Lévinas auszeichnet, ist das damit direkt verbundene Betroffensein durch den Anderen. Das Hören fordert, ja provoziert eine Antwort. Dass wir überhaupt sprechen, dieses Dass meint für Lévinas schon die unfreiwillige oder passive Antwort auf die vorgängige Stimme.16 Das Betroffensein durch die Stimme bringt das Subjekt von Beginn an in eine Verantwortung und Schuld dem Anderen gegenüber. Die Antwort ist somit zugleich Verantwortung für den Anderen, der diese Antwort verlangt. Eben darum geht es Lévinas: „das Andere-im-Selben zu denken“17. Im Innersten des Selben insistiert der Andere als nicht-assimilierbarer Knotenpunkt, als Grund der Spaltung des Subjekts. Die Antwort und Verantwortung für den Anderen beginnt im Innern des Subjekts selbst als einer ursprünglichen Verletzung. Somit steht das Subjekt durch das Hören der Stimme des Anderen in der Schuld, dieser Verantwortung nachzukommen. Das vorgängige offene Hören ohne Wahl gehört grundsätzlich zur Konstitution des Subjekts. Obgleich die Verantwortung „gegen meinen Willen“18 hervorgerufen wird, will Lévinas diese dennoch nicht negativ verstanden wissen. Denn in der Verantwortung drückt sich ein Überschuss, eine grundlegende Positivität aus. Durch die fordernde Stimme des Anderen entsteht ein Überschuss an Sinn oder ein Sinn, der über den Sinn des Seins hinausgeht, ein „ethischer Sinn“ (sens éthique)19. Alle kulturellen Ausdifferenzierungen von Bedeutung sind an einen vorgängigen Sinn gebunden: „Fordern die Bedeutungen nicht einen einzigen Sinn, von dem sie ihr Bedeuten selbst erhalten?“20 Für Lévinas gründet sich selbst die Ästhetik in der Ethik als Sinn überhaupt. Ethik, aber auch davon abgeleitete Moralvorstellungen, sind nicht kulturell und historisch kontingent, sondern unterliegen dem Gesetz des einen Anderen. Die Herausforderung an eine Ethik besteht für Lévinas darin, dass die Verpflichtung zur Verantwortung gerade nicht in der freien Entscheidung des Subjekts liegt. Vielmehr gehorcht das Subjekt einem Befehl, der noch nicht einmal artikuliert und verstanden ist. Die Stimme als paradoxe Erscheinung zwischen absoluter Präsenz und sich beim Hören zugleich entziehender Gegenwart, die Stimme als Spur ihrer selbst, scheint dafür prädestiniert, die Erfahrung einer un-

16 Vgl. E. Weber: Verfolgung und Trauma, S. 68. 17 E. Lévinas: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg/München: Karl Alber 2004, S. 98. Wie auch der Übersetzer Lévinas’, Thomas Wiemer, anmerkt, kann le Même und l’Autre auch den Selben und den Anderen bezeichnen (ebd., S. 98). 18 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 42f. 19 E. Lévinas: Außer sich, S. 62. Vgl. ders.: Hors sujet, Paris: fata morgana 1987, S. 139. 20 E. Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 30.

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freiwilligen Verantwortung zu bestätigen.21 Der Zwang, dem Anderen zu antworten, lässt sich auch in ganz konkreten Situationen ausmachen. Wie der Gruß an Mitmenschen zur Pflicht wird, so wird das Schweigen im Zusammensein mit anderen als unangenehm empfunden. Besser man spricht über Belangloses als sich stillschweigend anzustarren.22 Obwohl die ‚jenseitige‘ Stimme eine nicht tatsächlich hörbare ist, fordert Lévinas nicht zu einem Schweigen auf.23 Im Gegenteil zeigt sich im Lautwerden die Transzendenz dieser Stimme. Waldenfels weist diesbezüglich darauf hin, dass es gerade um das Unhörbare als „Ereignis des Lautwerdens“24 geht. Insofern ist die bloße Entgegensetzung von Hörbarem und Unhörbarem sowie die damit verbundene Abwertung einer Seite (körperlich – geistig) wenn nicht ganz aufgehoben, so doch in Frage gestellt.

2.2 D IE S TIMME ALS E INFÜHRUNG DES G ESETZES Die Stimme des Anderen hat auch bei Lacan Rufcharakter. Sie ist nicht neutral, sondern appelliert an das Subjekt. Der Appell wird damit zur elementaren Bedingung für das so wichtige Sprechen des Subjekts. Ist diese dem Sprechen zugrunde liegende Bedingung fehlerhaft oder nicht vorhanden, kann es zwar Sprache geben, aber kein Sprechen.25 Denn Sprechen verlangt, anders als die Spra-

21 Wohingegen das klassische Modell der Verantwortung das Sprechen mit eigener Stimme propagiert, in der die allgemeine Stimme der Vernunft anklingt. Vgl. B. Waldenfels: Deutsch-Französische Gedankengänge, S. 324. 22 Vgl. E. Lévinas: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien: Passagen 1986, S. 67: „Es ist schwierig, in Gegenwart von jemandem zu schweigen; diese Schwierigkeit beruht letzten Endes in dieser eigentlichen Bedeutung des Sagens, unabhängig davon, was das Gesagte ist.“ 23 Die wittgensteinsche Formulierung, dass sich „die Ethik nicht aussprechen läßt“, gilt auch für Lévinas (Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, 6.421, S. 83). Vgl. dazu Juranville, der Lacan hier auf einer Linie mit Wittgenstein und Lévinas sieht (ders.: Lacan und die Philosophie, S. 23). 24 B. Waldenfels: „Das Lautwerden der Stimme“, in: D. Kolesch/S. Krämer (Hg.), Stimme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 191-210, hier S. 208. 25 Vgl. J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 112. So etwa im Fall des Jungen Dick, ein Fall, den Lacan von Melanie Klein aufgreift: Dick ist ein etwa 14jähriger Junge, dessen Entwicklungsstand dem eines Kleinkindes entspricht. Obwohl er die Bedeu-

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che, als das bloße Sprachsystem, eine Antwort. Im Sprechen liegt sowohl der Appell des Sprechers an den anderen, Antwort zu geben, Gesprächspartner zu sein, als auch der Appell an den anderen, vom Sprecher selbst wiederum eine Antwort zu verlangen. Sprechen besteht aus fortwährenden Appellen, die die Anerkennung des anderen bestätigen. Am Bühlerschen Modell von Aussage, Appell und Mitteilung erläutert Lacan diese Funktion: Nicht auf den Inhalt des Appells komme es an, sondern auf den Ton. Der Ton verwirklicht die Funktion des Appells.26 Jeder Appell birgt die Gefahr einer nicht eingelösten, ignorierten Forderung. Die Möglichkeit zur Verweigerung des Appells macht das Subjekt vom anderen abhängig.27 Ob der Appell letztendlich beantwortet wird oder nicht ist für die Appellfunktion gleichgültig: Das Subjekt entkommt dieser nicht. Wie bei Lévinas ist das Subjekt angewiesen auf die Antwort, die wiederum zu einer Gegenantwort herausfordert. Appell und Antwort zirkulieren zwischen Subjekt und Anderem. Die Stimme fordert als Appell eine Antwort und stellt zugleich die Bedrohung einer möglichen Verweigerung dar. Sie ist der Versuch, durch die Forderung nach einer Antwort dem anderen näher zu kommen. Es bleibt bei einem Versuch, der niemals zur Vollendung kommt, und so ist die Stimme dazu verurteilt, stets von Neuem zu erklingen, den Fluss des Sprechens nie enden zu lassen.28 Der Appell im Sprechen ist die Anrufung (invocation), die nach Lacan nicht immer im selben Maße in allen Äußerungen gegeben ist. Das Besondere der Anrufung ist das, „womit ich auf den anderen den mir eigenen Glauben übergehen lasse“29. Es handelt sich um eine doppelte Bewegung des Glaubens: Man muss an die eigene Stimme, die überzeugt und verführt, glauben, um den anderen an den eigenen Glauben glauben zu machen. Ohne diesen Glauben verlöre das

tung von Wörtern zu verstehen scheint, ist sein Wortschatz sehr begrenzt. Es scheint, als habe er kein Begehren zu sprechen. 26 Vgl. ebd., S. 111: „In jedem beliebigen Imperativ gibt es eine andere Ebene, die des Appells. Es geht um den Ton, in dem dieser Imperativ ausgesprochen wird. Derselbe Text kann, je nach dem Ton, vollkommen verschiedene Werte haben. Die einfache Aussage Halten Sie an kann, je nach den Umständen, vollkommen verschiedene Appellwerte haben.“ 27 Vgl. ebd., S. 115. 28 Vgl. M. Dolar: A voice and nothing more, S. 28: „The voice is carried by an interpretation of the unfathomable other with which it tries to cope; it tries to present itself as an object of its desire, tame its inscrutability and whim.“ 29 J. Lacan: Die Psychosen, S. 359.

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Sprechen seine Motivation. In welcher Form auch immer – das Sprechen ist für Lacan ein Glauben-Machen. Die Anrufung funktioniert nach Lacan im Sprechen als ein Appell an die Stimme, nicht an das Sprechen.30 Durch die Stimme findet eine Vergewisserung des anderen statt, dies zwar im Sprechen, aber als Stimme. Die Anrufung vollzieht sich allein in der Stimme, nicht durch den Inhalt des Gesagten. Mit ihr werden die Konturen des Subjekts wie des anderen gezogen sowie Forderungen an Hörer wie Sprecher nach einer ständigen Neubewertung und Bestätigung dieser Grenzen gestellt.31 Die erste Übernahme von Verantwortung liegt im Antwortgeben auf den Appell der Stimme im Sprechen. Hier findet sich eine, wie Bernard Baas formuliert, „responsabilité plus originaire et qui […] fonde la possibilité de la responsabilité pratique“32. Baas unterstreicht dabei den Zusammenhang des Rufs bei Lacan mit dem Heideggerschen Ruf, der zwar in mir ertönt, mich zugleich aber übersteigt. Die Antwort ist meine Antwort, obwohl ich dem Appell nicht habhaft werden kann.33 Die Stimme ist dieser Appell, der zum Sprechen auffordert, der das Sprechen, das Antwort-Geben und damit die Verantwortung für den anderen hervorruft. Ein Blick auf die Funktion der Anrufung im Sprechen als Stimme zeigt, dass sich Lacan vom tatsächlich hörbaren Sprechen entfernt hin zu einer Stimme, die letztlich selbst nicht mehr hörbar ist.34 Die Bedeutung der Stimme geht der Bedeutung des Sprechens noch voraus, da erst die Stimme des Anderen das Subjekt aus der imaginären Verkennung

30 Vgl. J. Lacan: Die Bildungen des Unbewussten, S. 177. 31 Vgl. ebd, S. 179: „Es genügt nicht einfach nur, zum Anderen du, du, du zu sagen und darauf ein Zucken des Augenlides als Ausdruck der Anteilnahme zu erhalten. Es geht darum, ihm genau die Stimme zu geben, von der wir wünschen, daß er sie hat, diese Stimme zu evozieren [...]. Auf der Ebene des Sprechens, und insofern es darum geht, daß diese Stimme sich konform unserem Begehren artikuliert, hat die Anrufung ihren Platz.“ 32 B. Baas: De la chose à l’objet, S. 203. 33 Vgl. ebd., S. 205 f.: „La réponse est toujours ma réponse, même si elle est réponse à un appel qui me dépasse, à une voix étrangère qui, en moi, dépasse la singularité de ma propre cohésion symbolique par laquelle mon monde est monde familier. On aura compris que tout ici s‘apparente à la structure de l’appel, telle que l‘explicite le § 57 de Sein und Zeit: ‚L’appel vient de moi et pourtant il me dépasse [...]. L’appel est adressé à moi depuis moi-même en me dépassant‘.“ 34 Vgl. J. Lacan: Autres écrits, S. 371: „Une fois de plus, on l’aura vu, j’ai pris l’avantage de ce qu’un langage soit évident où l’on s’obstine à figurer le préverbal. Quand verra-t-on que ce que je préfère est un discours sans paroles?“

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herausreißt und in das Symbolische einführt. Der Andere spricht im Namen des Vaters das verbietende ‚Nein‘ aus, das das Subjekt aus der imaginären Beziehung zur Mutter befreit. Der Vater ist Repräsentant für das primordiale Gesetz, das den Inzest verbietet und die duale Beziehung zur Mutter bricht. Das ‚Nein‘ des Vaters ist die Setzung des ersten Signifikanten; es ist ein Signifikant, der als reine Stimme in keiner Opposition zu anderen Signifikanten steht und gerade deshalb in die symbolische Ordnung einführt. Die Stimme ermöglicht es, das Begehren des Subjekts auf die Ebene der Signifikanten umzuleiten. Damit richten sich Ansprüche nicht mehr unmittelbar an den anderen, sondern werden durch das Sprechen vermittelt. Die Funktion des Vaters ist das ‚Nein‘ (non) des Vaters. Der symbolische Vater ist als Metapher zu verstehen; als ‚Name‘ (nom) kann er ersetzt werden, ist also nicht (notwendig) leiblicher Vater. Diese Funktion ist die in die Sprache einführende Stimme.35 Allerdings ist die Stimme des Vaters nicht zu verwechseln mit der Stimme des Über-Ich. Was Lacan meint, ist die Stimme, die das ödipale Begehren verbietet und es auf die symbolische Ebene führt.36 Als toter Vater (père mort) steht er für das von ihm verkündete Gesetz. Er ist nur mehr Name für eine Funktion. Er ist der besondere und hervorgehobene Signifikant, der die Signifikantenproduktion am Laufen hält, indem er den stets leeren Platz konstituiert. Lacan betont: „Sie müssen die Wichtigkeit des Mangels dieses besonderen Signifikanten verstehen, von dem ich gerade sprach, der Name-des-Vaters, insofern er als solcher die Tatsache begründet, daß es Gesetz gibt, das heißt Artikulation in einer bestimmten Ordnung des Signifikanten [...]“37 Als Name-des-Vaters markiert der ‚Gott-Vater‘ demnach die leere Stelle in der symbolischen Ordnung, eine Stelle, die ständig neu besetzt werden will.38 Der Name-des-Vaters ist kein Signifikant wie jeder andere; er besitzt einen transzendenten Status. Übertragen wir diese Überlegung auf die Stimme, so wird ihre Position deutlicher: Die Stimme (des Vaters als Name-des-Vaters) nimmt den Platz des einen Signifikanten, der in keiner Opposition steht, ein. Ihr Status ist ambivalent, denn zum einen ist sie Teil der Signifikantenkette, des Sprechens

35 Vgl. J. Lacan: Die Bildungen des Unbewussten, S. 20: „Es ist dies – der Vater ist eine Metapher.“ Lacan definiert die Metapher als die Ersetzung eines Signifikanten durch einen anderen Signifikanten. 36 Vgl. dazu auch Th. Lipowatz: Der Fortschritt in der Geistigkeit und der Tod Gottes, S. 70. 37 J. Lacan: Die Bildungen des Unbewussten, S. 171f. 38 Vgl. J. Lacan: Autres écrits, S. 337: „Cette place du Dieu-le-Père, c’est celle que j’ai désignée comme le Nom-du-Père“.

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also, zum anderen fällt sie aus dem Sprechen heraus, weil sie dieses erst eröffnet. Auf der Ebene des Sprechens ist der Name-des-Vaters ein sich ständig entziehender Signifikant, der Platz macht für andere Signifikanten, das heißt für die Bewegung der Signifikanten.39 Er bildet den Mangel als Ursache des Begehrens, das in den Bahnen des Sprechens endlos zirkuliert. Lacan bringt die Stimme des Vaters, die inzestuöse Verbindung zur Mutter verbietend, mit der Stimme Gottes in Verbindung, dessen Reichweite und Funktion anhand der Bedeutung eines besonderen Instruments, welches im Alten Testament Erwähnung findet, deutlich wird: dem Schofar.40 Der Schofar ist das Horn, das als Erinnerung an die Stimme Gottes auf dem Berg Sinai geblasen wird. Im Exodus wird er als Klang beschrieben, der sich in den Dialog zwischen Gott und Moses mischt. Lacan widmet sich dem Schofar, der schon von Theodor Reik41 als pure Stimme Gottes interpretiert worden war, ausführlich in Die Angst. Das Seminar Buch X.42 Der Schofar dient dazu, aus allen geläufigen Harmonien herauszureißen, indem er – als Stimme – den Ort der Angst begründet. In dieser Stimme Gottes, die die Einhaltung seiner Gebote verlangt, liegt der Verweis auf die Einführung des Subjekts in die symbolische Ordnung durch den Namen des Vaters oder die Stimme des Gott-Vaters, die zugleich die Stimme des Anderen ist und in einem Verbot besteht.43 Der Schofar als Stimme und als ein Signifikant ist bei Lacan von der differentiellen Ordnung losgelöst. Aufgrund des Unvermögens, in einem oppositionellen System von Phonemen, in einer Ordnung, aufzugehen, bricht der Schofar als Klangmacht der Stimme in diese Ordnung ein. Die Klangmacht als Gottes Stimme äußert sich in einem tosenden

39 Vgl. Th. Lipowatz: Der Fortschritt in der Geistigkeit und der Tod Gottes, S. 5. Auch Lipowatz stellt hier fest: „Der Name des Vaters ist jener fundierende Name der Stimme des Anderen, die dem Subjekt einen Namen gibt, und an es appelliert, ein Begehren zu haben, und den es konstituierenden Mangel zu akzeptieren.“ Vgl. dazu auch P. Widmer: Subversion des Begehrens, S. 126. 40 Es handelt sich dabei um ein meist aus einem Widderhorn gemachtes Blasinstrument. Erwähnt wird der Schofar im Exodus, Kapitel 19, 16-19 und Kapitel 20, 18. Gott zeigt sich den Israeliten durch den Klang der Hörner am Berg Sinai, wo er die Zehn Gebote bekannt gibt. Der Schofar ertönt immer dann, wenn der Bund Gottes mit dem Volk Israel erinnert und erneuert werden soll. 41 Vgl. Reik, Theodor: Das Ritual. Psychoanalytische Studien, Leipzig/Wien/Zürich: Internationaler psychoanalytischer Verlag 1928, S. 201-330. 42 Vgl. darin das Unterkapitel Die Stimme Jahwes, S. 303-320. 43 In Schriften II schreibt Lacan, er bedauere es sehr, dass er darauf verzichtet habe, die Funktion des Namen-des-Vaters in der Bibel zu untersuchen (ebd., S. 253).

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Gebrüll, in dem Gott den Bund mit den Menschen besiegelt. So heißt es im Exodus: „[...] und der ganze Berg erbebte heftig. Und der Hörnerschall wurde immer stärker. Mose redete, und Gott antwortete ihm mit einer 〈lauten〉 Stimme.“44 Mit dieser Stimme auferlegt Gott den Menschen seine Gebote, denen sie fortan unterstehen: „Als nun das Volk 〈das〉 wahrnahm, zitterten sie, blieben von ferne stehen und sagten zu Mose: Rede du [Herv. i.O.] mit uns, dann wollen wir hören! aber Gott soll nicht mit uns reden, damit wir nicht sterben.“45 Die Stimme Gottes ist nicht in die Sprache eingebettet, denn außer Moses kann diese Stimme keiner unter den Menschen verstehen. Allein durch ihre Stimmgewalt, ohne dass sie einen konkreten Inhalt transportierte, fordert sie Unterwerfung unter Gottes Gebote. Die Stimme legt nicht nur den ethischen Grundstock, sondern führt zugleich, als nicht Sprachliches, in die Sprache ein. Sie ist „eine anonyme, übergeordnete Gesetzesinstanz“46. Die Bibelstelle bleibt jedoch mysteriös, die Bedeutung des Schofar ein Rätsel, so Lacan: „Der Ton des Schofar wird in dem donnernden Dialog zwischen Moses und dem Herrn erwähnt, auf den in einer Art großem Tumult sehr rätselhafterweise ein wahrer Sturm von Geräuschen folgt. Ein Stück aus diesem Vers zeigt gleichermaßen an, dass, obgleich es nicht nur jedem Menschen, sondern jedem Lebewesen streng untersagt ist, sich dem von Donner und Blitzen umschlossenen Kreis zu nähern, in dem dieser Dialog erfolgt, das Volk wird hinaufsteigen können, wenn es die Stimme des Schofar hören wird. Ein so sehr widersprüchlicher und rätselhafter Punkt, dass man in der Übersetzung den Sinn umbiegt und behauptet, einige werden aufsteigen können. Welche? Die Angelegenheit bleibt im Dunkeln.“47

Zum einen scheint der Schofar die angsteinflößende Stimme Gottes zu sein, die den Menschen verbietet, näher zu kommen. Andererseits ist es eben diese Stimme, die den Menschen Zeichen gibt, auf den vormals verbotenen Berg zu steigen.48 Für Lacan stellt der Schofar in dieser Ambiguität das ideale Objekt zur

44 Exodus 19, 19: Elberfelder Bibel, Witten: SCM R. Brockhaus/ Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft, 4., verbesserte Auflage 2011. 45 Exodus 20, 18-19. 46 M. Eggers: Texte, die alles sagen, S. 241. 47 J. Lacan: Die Angst, S. 309. 48 Vgl. ebd., S. 310: Die Stimme des Schofars ist die Stimme Gottes: „In diesem Licht, vervollständigt durch den Vergleich verschiedener Anlässe, in denen uns der Schofar angezeigt wird und in denen er tatsächlich in Funktion tritt, scheint der Schofar, wie Reik uns darlegt, tatsächlich die Stimme Jahwes, die von Gott selbst zu sein.“ Juden-

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Verkörperung der Stimme dar. Die Stimme ist nicht nur Stimme, die in ihrer Klanglichkeit faszinierend, anziehend und zugleich furchterregend wirkt, sondern ebenso die Stimme des Gott-Vaters, der sein Gesetz verkündet.49 Anders dagegen verhält es sich mit dem unwiderstehlichen Zauber der Stimmen der Sirenen, die Lacan ebenfalls in seinem Seminar über Die Angst erwähnt. Während letztere eine libidinöse und todbringende Vereinigung implizieren, trennt die Stimme des Vaters, indem sie diese Vereinigung, das ödipale Verlangen, gerade verbietet. In der Musik scheinen noch Züge dessen durch. So gilt der Gesang von der Liturgie bis zur Oper als gefährlich, als „teuflisch oder weiblich“50, insofern er allzu große Lust bringt und Leidenschaften evoziert. Der Bezug zur Stimme Gottes im Alten Testament verdeutlicht ihren angsteinflößenden Charakter. Diese durch die Stimme evozierte Angst fällt immer wieder auf das Subjekt zurück.51 Doch der Vater ist nicht nur ‚père terrible‘, furchtbarer und zorniger Gott, sondern zugleich derjenige, der einen Bund mit den Menschen eingeht, indem er Verbote und Gesetze erstellt. Das durch die Stimme Gottes verkündete Gesetz gilt nicht nur für den Einzelnen, da die Verkündung der Zehn Gebote am Berg Sinai durch Mose das ganze Volk Israel anspricht.52 Diese Stimme fordert die bedingungslose Unterwerfung unter ihr Gesetz. Sie übermittelt zwar keine artikulierte Nachricht, ist aber zugleich die Eröffnung des Sinns überhaupt. Stimme und Gesetz sind unauflösbar verbunden:

tum und Psychoanalyse verbinden sich durch ein „überwältigendes Argument“, wie Slavoj Žižek in seiner Einführung zu Lacan schreibt: „In beiden Fällen liegt der Schwerpunkt auf der traumatischen Begegnung mit dem Abgrund des begehrenden Anderen, mit der furchtbaren Figur eines unzugänglichen Anderen, der etwas von uns will, aber nicht klarmacht, was dieses Etwas sein soll – die Begegnung des jüdischen Volks mit seinem Gott, dessen unzugänglicher Ruf die Routine der täglichen menschlichen Existenz zerreißt; […]“ (Ders.: Lacan. Eine Einführung, S. 131). 49 Vgl. M. Dolar: A voice and nothing more, S. 53. 50 M. Eggers: Texte, die alles sagen, S. 175. Vgl. dazu Poizat, Michel: La voix du diable, Paris: Métailié 1991, sowie ders.: L’opéra ou le cri de l’ange, Paris: Métailié 2001. Poizat geht gar von zwei Figuren des Anderen mithin zwei unterschiedlichen Stimmen aus: einer Stimme, die den Ort des tödlichen Genießens meint, und einer anderen, die das Sprechen einführt, Differenzen setzt (vgl. M. Poizat: Vox populi, vox Dei, S. 140). 51 Vgl. B. Baas: De la chose à l’objet, S. 180. 52 Vgl. M. Dolar: A voice and nothing more, S. 53: „By hearing this voice, the community of believers establishes its covenant, its alliance with God; they assert their submission and obedience to the law.“

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Der ‚tote‘ Buchstabe des Gesetzes erlangt erst durch die Stimme seine Gültigkeit. Erst durch den Akt der Verlautbarung, der dem geschriebenen Gesetz inhaltlich nichts hinzufügt, kann das Gesetz wirken. Die Stimme ist der Akt, der das Gesetz überhaupt möglich macht. Ihre Wirkkraft ist nicht an die artikulierte Wortbedeutung gebunden. Die Stimme erst setzt die Wortbedeutung in Kraft. Dennoch ist sie nicht bloße Verlautbarung. Eben dies ist ihre Aporie: Sie transzendiert ihr Lautwerden; sie ist immer auch jenseits der wirklich hörbaren Stimme; sie übersteigt die Ordnung einer differentiellen Opposition von Phonemen. Mit Mladen Dolar ließe sich von einem Kampf der ‚Stimme gegen die Stimme‘ sprechen.53 Die von Lacan in Seminar X über die Angst thematisierte Stimme ist keine psycho-pathologische. Vielmehr ist sie entscheidend für die Entstehung des Subjekts und verhindert die Psychose. Die psychotischen Stimmen und Stimmhalluzinationen, für Lacan in einem früheren Seminar (Die Psychosen. Das Seminar Buch III, 1955-1956) von Bedeutung, verwerfen die symbolische Funktion, d.h. den Namen-des-Vaters.54 Wo der Name-des-Vaters fehlt, kann die Metaphernfunktion ihre Wirkung nicht entfalten. Das Subjekt findet sich dann nicht auf der symbolischen Ebene wieder; der Signifikant wird nicht ersetzt, sondern bildet die gesamte Realität. Daher kann auch das Begehren des Anderen nicht im Sprechen zirkulieren, sondern verlangt unmittelbare Befriedigung.55 Weder die Stimme in der Psychose als akustische Halluzination noch die Stimme des ÜberIch, die in ihrem imperativen Charakter zur Neurose, zu Zwangshandlungen führt, ermöglichen ein Zirkulieren des Begehrens im Sprechen. Allein die Stimme als das Gesetz des Vaters bildet den garantierten Mangel, der das Sprechen

53 Vgl. M. Dolar: A voice and nothing more, S. 55f. „So that ultimately, we have not the battle of logos against the voice, but that of the voice against the voice.“ 54 Vgl. auch J. Lacan: Die Bildungen des Unbewussten, S. 239f. Hier geht Lacan auf Freuds Studie zu Daniel Paul Schreber ein. 55 Vgl. ebd., S. 565f.: „Diese Metapher baut sich auf dem ursprünglichen, undurchdringlichen, dunklen Begehren der Mutter auf, das zunächst völlig verschlossen für das Subjekt ist, während am Horizont der Name-des-Vaters aufscheint, der Träger der durch die signifikante Kette eingerichteten Ordnung. […] Da, wo der Name-desVaters fehlt, kommt dieser metaphorische Effekt nicht zustande, und es gelingt mir nicht, ans Licht zu bringen, was dafür verantwortlich ist, daß x als der Signifikant Phallus bezeichnet wird. Das ist das, was in der Psychose geschieht, sofern der Namedes-Vaters verworfen wird, das Objekt einer ursprünglichen Verwerfung* ist, nicht in den Zyklus der Signifikanten eintritt, und deshalb auch wird das Begehren des Anderen, namentlich der Mutter, darin nicht symbolisiert.“

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am Laufen hält.56 Die singuläre und transzendente Stimme des Anderen ermöglicht die, wenn auch gespaltene, Identität des Subjekt. Die vielen Stimmen, die dem psychotischen Subjekt nachstellen, verhindern gerade, dass dem Subjekt diejenige Konsistenz verliehen wird, die es in der symbolischen Ordnung erfährt. Die Autorität der Stimme bestimmt das Subjekt als sprachliches. Als absoluter Bezugspunkt des Sprechens ist sie selbst nicht vorstellbar, symbolisierbar, da sie aus dem Sprechen herausfällt. Sie markiert die Differenz, die die Ebenen des Symbolischen, des Realen und des Imaginären bei Lacan scheidet.57 Erst die Trennung der Ebenen ermöglicht Subjekt, Sprache, Denken. Damit ist sie aber, genau wie für Lévinas, vorursprüngliche Bedingung für Sprachlichkeit überhaupt. Die aus dem Sprechen fallende, nicht-symbolisierbare Stimme bezeichnet Lacan als Partialobjekt, als ‚Objekt a‘.58 Dieses Objekt kann sich andernorts – wie im Schofar – wieder materialisieren. Als solches löst sich die Stimme vom Subjekt und wird Ursache des Begehrens selbst. Damit ist die Stimme, das ‚Objekt a‘, auch Objekt der Angst. Denn das Subjekt fürchtet sich nicht so sehr vor dem ‚Nein‘ des Vaters, dem Namen-des-Vaters, der die imaginäre Beziehung unterbindet, sondern vor dem Versiegen des fundamentalen Mangels, vor dem Ausbleiben der Stimme, die das ‚Nein‘ ausspricht. An die Stelle der Angst setzt das Subjekt das ‚Objekt a‘, den Stimm-Akt.59 Da sie am Rande des Körpers wie der Sprache steht, muss sie als deren Grenzmarkierung, als Kontur und Trennung verstanden werden. Zwar besitzt oder erzeugt praktisch jeder menschliche Körper auch eine Stimme und das Sprechen basiert auf der Grundlage ihres körperlichen Erklingens. Doch zugleich entgeht sie einer rein körperlichen Zugehö-

56 Vgl. J. Lacan: D’un autre à l’Autre. Le séminaire livre XVI (1968-69), Paris: Seuil 2006, S. 258: „Il est strictement impossible de concevoir ce qu’il en est de la fonction du surmoi si l’on ne comprend pas – ce n’est pas le tout, mais c’est l’un des ressorts – ce qu’il en est de la fonction de l’objet a réalisée par la voix, en tant que support de l’articulation signifiante, la voix pure […]“ 57 Vgl. P. Widmer: Subversion des Begehrens, S. 126. 58 Lacan nennt, Freud folgend, drei Partialobjekt (Brust, Kot, Phallus) und fügt diesen zwei weitere, für ihn elementare hinzu: den Blick und die Stimme. Lacan macht deutlich, dass es nicht um das Sprechen, sondern um die Stimme geht: „Je vous le dis tout de suite, ce n’est pas la parole qui est ici l’objet a […] Ce dont il s’agit, c’est la voix.“ (Ders.: D’un autre à l’Autre, S. 257). 59 Vgl. J. Lacan: Namen-des-Vaters, Wien: Turia & Kant 2006, S. 68f.

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rigkeit.60 Es handelt sich um eine, wie auch Mladen Dolar formuliert, aphonische Stimme in der hörbaren Stimme.61 Nun wird deutlich, warum sie zwar ein Signifikant ist, jedoch einer, der „aus jeder Verkettung von Signifikanten“62 ausgestoßen ist. Der Ort des Anderen, an dem die Stimme erklingt, ist kein physischer. Insofern ist die Stimme des Anderen auch keine räumlich-akustische. Der Ort der Stimme als Nicht-Ort, von dem aus sich zuallererst Differenzen konstituieren, ist mit Lévinas’ Jenseits vergleichbar. Ihre Klanglichkeit geht über das Physisch-Empirische hinaus. Als reiner Aussagefluss (flux de l’énonciation), wie Bernard Baas sie bezeichnet, bildet sie eine Klanglichkeit (résonance) vor der Akustik, die wie in der Musik das Feld des Kommenden öffnet.63 Sie ist ein der Bedeutung vorgelagerter Sinn. Baas beschreibt sie treffend als Grenzlinie zwischen dem Symbolischen und dem Realen, zwischen der Signifikantenordnung und dem Ding: „C’est cette limite que désigne en général, dans le lexique lacanien, l’objet a qu’il nous faut rendre compte. En effet, si la voix peut être, au-delà de la matérialité sonore, cet objet non-empirique qui fait limite entre l’ordre signifiant et la Chose, autrement dit entre le symbolique et le réel (au sens lacanien), il est toutefois essentiel que cet objet-limite ne puisse s’atteindre que par une sorte d’exaspération du dire, par une sorte d’exaspération de la parole, y compris dans sa résonance phonatoire.“64

60 Vgl. M. Dolar: A voice and nothing more, S. 73. „What language and the body have in common is the voice, but the voice is part neither of language nor of the body. […] this is the topology of objet petit a [Herv. i.O.].“ 61 Vgl. ebd., S. 74. 62 Gondek, Hans-Dieter: Angst-Einbildungskraft-Sprache, München: Boer 1990, S. 248. 63 Vgl. B. Baas: De la chose à l‘objet, S. 196: „C’est le silence en attente de la continuité de la phrase; autrement dit, c’est le flux de l’énonciation, mais vide de tout contenu, c’est la pure résonance où rien d’autre ne résonne que la résonance elle-même.“ 64 Ebd., S. 207. Der Schrei, so schreibt Baas weiter, zeichnet diese Grenze zwischen dem Symbolischen und dem Realen, zwischen dem Sprechen (parole) und dem Ding (Chose), zwischen der Welt und dem Außerhalb der Welt (l’outre-monde) (vgl. ebd., S. 208). Gerade Michel Poizat hat dies in L’opéra ou le cri de l’ange im Hinblick auf die Oper aufgenommen.

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2.3 V OM H ÖREN

ZUR

H ÖRIGKEIT

Mit der Dimension der Stimme, als ‚Objekt a‘ in der Psychoanalyse, ist nicht zuletzt auch das Hören angesprochen.65 Schon Theodor Reik hat ein solches besonderes Hören gefordert. Doch geht es Lacan nicht wie bei Reik um ein Hören mit dem so genannten ‚dritten‘ Ohr, das hinter den Täuschungen des Sprechens die Wahrheit zu finden glaubt. Vielmehr soll der Akt des Aussagens selbst, der Redefluss, gehört werden, denn allein die Ebene des Sprechens ist uns zugänglich. Fällt die Stimme aus dem Sprechen heraus, so wirkt sie doch im Sprechen als Eröffnung, als Bruch und Störung.66 Der Sinn der Stimme eröffnet den Sinn der Rede: „Zweifellos müssen wir unser Ohr dem Nichtgesagten öffnen, das in den Löchern des Diskurses ruht, aber es ist nicht herauszuhören wie Klopfzeichen hinter einer Mauer.“67 Das Unbewusste kann nicht unmittelbar gehört werden, so Lacan, weil die Stimme im Sprechen einen Zugang bietet, der sich zugleich entzieht. Lacan fordert mit seiner Formel „Ohren haben, um nicht zu hören“68 ein paradoxes Hören als Nicht-Hören. An anderer Stelle beschreibt Lacan das Hören als ein Vernehmen, das den Hörer nicht zu einem Verstehen zwingt.69 Nicht der Inhalt des Gesagten, sondern die Produktion und Bewegung der Signifikanten, die Passivität des Hörens also, ist von Bedeutung. Gerade die Ohren, die nicht willentlich geschlossen werden können, sind einer solchen Passivität ausgesetzt. Das von Lacan geforderte Hören findet vor dem bewussten Hören statt und begleitet den Hör-Akt zugleich. In diesem Hören findet sich das Subjekt nicht nur fremden, sondern auch der eigenen Stimme ausgesetzt. Beide erklingen auf je eigene Weise im Innern des Subjekts als auch in einem Außen. Das Hören der eigenen Stimme ist grundsätzlich für das „Verhältnis des Subjekts zu seinem eigenen Sprechen“70. Schließlich ist es unmöglich zu sprechen, ohne sich zugleich zu hören. Dies stellt jedoch gerade keine phänomenologische Erschließung des Bewusstseins dar. Vielmehr ist dadurch eine konstitutive Spaltung des Subjekts ausgelöst. Dem Ausgesetztsein im Hören stellt Lacan das Ver-

65 Lacan spielt immer wieder mit Gleichklängen. So betitelt er sein Seminar XXI Les non-dupes errent (dt.: Die nicht-Geirrten irren.), eine Homophonie zu Les noms du père (Die Namen des Vaters). 66 Vgl. J. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 272. 67 J. Lacan: Schriften I, S. 152. 68 Ebd., S. 92. 69 Vgl. ebd., S. 207. Im Original heißt es: „L’entendement ne me force pas à comprendre.“ (Ders.: Écrits, Paris: Seuil 1966, S. 94). 70 J. Lacan: Schriften II, S. 65.

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langen, vom anderen gehört und erhört zu werden, gegenüber. Das Subjekt, so Lacan, will ‚sich hören machen‘ (se faire entendre): „Die Ohren sind auf dem Feld des Unbewußten die einzige Öffnung, die sich nicht schließen kann. Während se faire voir mit einem Pfeil ausgedrückt werden kann, der tatsächlich auf das Subjekt zurückkehrt, geht das se faire entendre an den andern.“71 Dadurch, dass die Stimme mehr oder weniger ungehindert durch das Ohr in den Hörer ‚eindringt‘, rückt der andere näher. Mit der Stimme wird stets auch versucht, den anderen zu erreichen.72 Dass die Stimme etwas vom Hörer will, dass sie niemals neutral, gleichgültig ist, lässt den Hörer aufhorchen. Der Hörer wird horchend und, indem er der Stimme so folgt, gehorchend. Erst dieses vordergründige und nicht absichtsvolle Gehorchen macht das Hören der Stimme möglich. Das Hören geht einher mit einem Gehorchen, das zunächst nicht negativ zu verstehen ist. Jede Kommunikation gründet sich auf dem Prinzip eines gewissen Gehorsams dem anderen gegenüber, dem damit das für das Sprechen nötige Mindestmaß an Anerkennung zuteil wird: „Worte hören, ihnen sein Gehör schenken, heißt schon, ihnen mehr oder weniger gehorsam sein. Gehorchen ist nichts anderen, es ist Entgegengehen im Anhören.“73 Das Subjekt ist zuallererst ein gehorchendes, ein höriges und unterworfenes; die „Hörigkeit“ und „Unterwerfung auf dem Felde des Andern“74 macht dieses erst aus. Die Stimme ist für Lacan eine befehlende, „imperativische Stimme“75, die im Sprechen situiert ist. Die imperative Stimme wirkt, insofern sie als Stimme des Anderen einverleibt wird. Dabei wird sie gerade nicht assimiliert, sondern be-

71 J. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 204. 72 Vgl. J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 44. Im Radio, so Lacans Beispiel, wendet sich der Sprecher während des Sprechens nie nur an die tatsächlichen Hörer, sondern an eine unzählige Menge von anderen, die ihn alle prinzipiell hören könnten. 73 J. Lacan: Die Psychosen, S. 164. 74 J. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 197. 75 J. Lacan: Die Angst, S. 346. Lacan unterstreicht, dass die Stimme, um die es geht, nicht die in der Musik ist. Lacan weist das Musikalische der Stimme vielmehr zurück. Der Schofar stellt für ihn kein Musikinstrument, sondern vielmehr ein Substitut des Sprechens dar: „Wir finden hier mein Instrument von neulich wieder, den Schofar aus der Synagoge, und seine Musik. Aber ist das wirklich eine Musik [...]? Ist es nicht vielmehr das, was der Möglichkeit ihren Sinn gibt, dass es einen Augenblick Ersatz für das Sprechen sein könnte und so machtvoll unser Ohr aus allen seinen gewohnten Harmonien herausreißt?“ (Ebd., S. 347).

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steht als Anderer im Selben fort.76 Es scheint, als gebe es in jeder phänomenalen Stimme eben diese andere Stimme, die sich, selbst unhörbar zwar, einmischt und den Ort des Anderen im Subjekt konturiert.77 Die Spannung zwischen Verlautbarung und Schweigen, zwischen Klang und Stille, liegt in der Stimme selbst begründet. Das Subjekt muss sich der Stimme des Anderen als Ursache des Begehrens versichern können.78 Das Sprechen des Subjekts ist dann die Antwort auf die Stimme als Imperativ, auf den Appell der ‚reinen‘ Stimme des symbolischen Vaters. Sie befiehlt, die symbolische Kette nicht reißen zu lassen. Der Befehl selbst ist lautlos, zieht jedoch das lautliche Sprechen nach sich.79 Allerdings kann sich die Stimme auch pervertieren. Als imperatives Über-Ich geht sie eine paradoxe Beziehung zum Gesetz des Sprechens ein und trägt tyrannische Züge: „Das Über-Ich ist gleichzeitig das Gesetz und seine Zerstörung.“80 Erst die Stimme eines wirklich transzendenten Anderen (als Name des Vaters), nicht einer persona-

76 Vgl. ebd., S. 347: „Eine Stimme assimiliert sich folglich nicht, sondern sie verleibt sich ein.“ 77 Vgl. B. Baas: De la chose à l'objet, S. 216. 78 Daher ist die Stimme der absoluten Selbstpräsenz immer gestört durch die fremde Stimme im Innern: „So wurde, was die Psychoanalyse angeht, der selbstaffektiven Stimme einer Selbstpräsenz und Selbstbeherrschung ständig widersprochen durch ihre entgegengesetzte Seite, jene widerspenstige Stimme des Anderen, die man nicht kontrollieren kann.“ (M. Dolar: „Das Objekt Stimme“, in: F. Kittler/Th. Macho/S. Weigel (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung, S. 233-256, hier S. 241). 79 Vgl. B. Baas: De la chose à l’objet, S. 201 f. Baas sieht eine solche imperative Stimme, die befiehlt und doch nichts sagt, in der Tradition der Philosophie verankert: als Stimme des Gewissens bei Rousseau, als Stimme der Pflicht und der Vernunft bei Kant, als Stimme des Gewissens bei Heidegger: „[...] en insistant sur cette dimension essentielle de la voix en tant qu’impérative, Lacan renoue […] avec toute la tradition philosophique qui [...] a fait de la voix ce qui commande silencieusement et sans rien dire: c’est la voix de la conscience chez Rousseau, cette ‚immortelle et céleste voix‘ [...] C’est aussi la voix du devoir et donc de la raison, chez Kant, voix ‚insurcriable‘ (unüberschreibar) […]. Mais il faut ici songer surtout à la voix étrangère de la conscience, du Gewissen, chez Heidegger“ (ebd., S. 201f.). 80 J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 134. Masochismus und Sadismus sind Variationen einer Stimme, die das Gesetz nicht ausreichend symbolisiert, das somit pervertiert wird. Vgl. dazu auch J. Lacan: D’un autre à l’Autre, S. 258: „Un certain masochisme moral ne peut être fondé que sur cette pointe de l’incidence de la voix de l’Autre“.

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lisierten Vater-Führerfigur, führt zu einem symbolischen Verständnis des Gesetzes.81 Masochismus und Sadismus sind pervertierte Formen der Stimme: Das eine Mal drängt sich die Stimme eines (kleinen) anderen auf, das andere Mal versucht das Subjekt diesem seine Stimme aufzudrängen.82 Dass die Dimension der Stimme die des Hörens einschließt, wird auch bei Lévinas deutlich. Wie Lacan versteht Lévinas dieses Hören weder als ein bewusstes Hören noch als einen akustischen Eindruck. Und wie bei Lacan besteht in diesem nicht fassbaren Hören die Unmöglichkeit, sich der Stimme des Anderen zu entziehen. Das Subjekt hört – auch gegen seinen Willen – die Stimme des Anderen. Es ist ihr ausgeliefert und, mehr noch, ihr gehorsam und unterwürfig: ein „Gehorsam, der allem Hören des Gebots vorausgeht“83. Daher kommt es nicht darauf an, die Bedeutung des Gesagten gehört und damit verstanden zu haben, vielmehr verweist das Hören auf ein vorursprüngliches Hören, eine Hörigkeit also, die nichts versteht, sondern nur die absolute Bereitschaft, diesem Anderen zu gehorchen, bekundet. In diesem Hören schreibt sich die Stimme in das Subjekt als Befehl ein: Sie ist „Einschreibung des Befehls“, so Lévinas84. Der von Lévinas verlangte Gehorsam geht über die Erfahrung, und damit auch über den ‚weltlichen‘ Gehorsam, hinaus. Er bedeutet nicht die Befolgung konkreter Bitten oder Befehle. Gehorsam im Sinne Lévinas‘ ist absolute Unterwerfung unter das Gesetz des Anderen, ohne dass der Inhalt des Befehls überhaupt bekannt wäre: „Die Ethik bedeutet das Zerspringen der ursprünglich synthetischen Einheit der Erfahrung und somit ein Jenseits dieser Erfahrung selbst. Sie verlangt ein Subjekt, das alles erträgt, allem unterworfen ist, das mit einem Gehorsam gehorcht, der allem Verstand, jedem Befolgen eines Gebots vorausgeht.“85

81 Vgl. H.-D. Gondek: „Vom Schönen, Guten, Wahren. Das Gesetz und das Erhabene bei Kant und Lacan“, in: Hans-Dieter Gondek/Peter Widmer (Hg.), Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens: Kant und Lacan, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 133-168, hier S. 151. 82 Vgl. J. Lacan: D’un autre à l’Autre, S. 159. 83 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 325. 84 Ebd., S. 325. Bei Lyotard steigert sich diese Paradoxie eines Gehorsams noch vor dem Hören „zum Widerstreit zwischen der Befolgung und dem Vernehmen oder gar Verstehen jener ethischen Forderung, die in den ethischen Texten laut wird.“ (B. Waldenfels: Deutsch-Französische Gedankengänge, S. 274). 85 E. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, S. 212. Das Ethische sprengt die Sprache, die Sätze unserer Sprache, wie Waldenfels im Hinblick auf Lévinas und den frühen Wittgenstein (‚es gibt keine Sätze der Ethik‘) kommentiert. (Vgl. B. Waldenfels: Deutschfranzösische Gedankengänge, S. 275).

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Der radikale Gehorsam dem Anderen gegenüber fällt bei Lévinas mit der Ethik als ‚Erster Philosophie‘ zusammen. So ist das bei ihm an erster Stelle stehende „Gute“ nichts, was eine „Annehmlichkeit“ bereitet, sondern etwas „das befiehlt und vorschreibt“86. Das Gute ist vielmehr eine Art von Gewalt, unter der das Subjekt zu leiden hat. Subjektivität ist in erster Linie eine wörtlich verstandene Passivität, ein Erleiden. Erst die gebietende Stimme und der damit einhergehende Gehorsam ist ‚Auslöser‘ des Subjekts.87 Ihre Erfahrung vollzieht sich in der jeweils „eigenen, schon gehorchenden Stimme“88. In der eigenen Stimme ist die Stimme des Anderen stets als Spur anwesend. Das Subjekt ist ein im buchstäblichem Sinne dem Anderen ausgesetztes. Die Stimme, als Befehl inkorporiert, scheint dafür prädestiniert, die Grenzen von Innen und Außen in einem Zug zu ziehen sowie beständig zu verschieben: „Gebot, das durch den Mund dessen zur Sprache kommt, dem es gebietet. Das unendlich AußerhalbBleibende wird zur ‚inneren‘ Stimme, zur Stimme aber, die den Riß des inneren Geheimnisses bezeugt, indem sie dem Anderen Zeichen gibt – Zeichen gerade von diesem Zeichengeben.“89 Der absoluten Gehorsamkeit schließt sich die absolute Anerkennung der Autorität an. Lévinas spricht von einer „Autorität par excellence“90, dargestellt durch das Wort Gottes. Ethik ist verbunden mit einem grundlegenden, durch die Stimme verkündeten Gehorsam gegenüber dem Anderen. Die Stimme verlangt Befolgung des Gebots und Unterwerfung. Jenseits der konkreten, alltäglichen Erfahrung im Umgang mit Menschen und noch bevor das Subjekt sich selbst als solches erkannt hat, fordert Lévinas in seiner Ethik, Verantwortung für den Anderen zu übernehmen: „[...] es handelt sich hier nicht darum, einen Befehl zu erhalten, indem man ihn zuerst wahrnimmt und ihm dann in einer Entscheidung, in einem Willensakt gehorcht.“91 Diese nicht-willentliche Übernahme der Verantwortung erscheint paradox. Doch für Lévinas besteht in dieser Paradoxie die ethische Grundlegung. Die Freiheit der Entscheidung, der eigene Wille, das Selbstbewusstsein untersteht immer schon dem Anderen. Der Verantwortung kann sich das Subjekt also nicht entziehen, ganz gleich, welche Entscheidung es trifft. Das Bewusstsein des Subjekts nimmt seinen Ausgang in der „Besessen-

86 E. Lévinas: Wenn Gott ins Denken einfällt, S. 193. 87 Vgl. E. Lévinas: Zwischen uns, S. 206. 88 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 308. 89 Ebd., S. 322. 90 E. Lévinas: Zwischen uns, S. 190. 91 E. Lévinas: Wenn Gott ins Denken einfällt, S. 262.

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heit“92 durch den Anderen, in einem „Trauma der Verfolgung“ durch den Anderen, einer „Nacht des Unbewussten [Herv. i.O.]“93. Daher ist die Stimme für Lévinas primär nicht die konkrete Stimme des Menschen. Sie ist vielmehr einzigartig im buchstäblichen Sinne: Sie ist singulär, eine Stimme im absoluten Singular, die Stimme des einen Anderen und gerade nicht die der vielen anderen Mitmenschen. Solchermaßen geht die ‚einsame‘, unvergleichliche, in keiner Opposition zu anderen Stimmen stehende Stimme über alle empirische Klanglichkeit hinaus. In ihrer Reinheit ist sie nicht vorstellbar. Dennoch gesteht ihr Lévinas ein Wirken im Gesagten, im tatsächlich Hörbaren und Klanglichen, zu. Dieser Übergang vom Jenseitigen in die Erfahrungswelt des Menschen macht das Gesagte als Artikulation, als akustisches Verstehen und Begreifen notwendig. Die Stimme zieht somit eine weitere Grenze: eine Grenze zwischen der einen Stimme und den vielen Stimmen. Die Ebene der vielen, phänomenalen Stimmen steht dabei in einem Spannungsverhältnis zu der einen, transzendenten Stimme des Anderen. Dennoch sieht Lévinas die eine Stimme mit einer ‚übersinnlichen‘ Sinnlichkeit verbunden, einer Sinnlichkeit ‚jenseits‘ aller Erfahrung, die äußerste Passivität und Erleiden ist. Diese radikale „Sensibilität“ ist die „Subjektivität des Subjekts“94. Subjektivität ist somit als radikale Passivität zu verstehen, als ein Erleiden, das das Innerste des Subjekts entblößt „über die bloße Haut hinaus, bis zur tödlichen Verletzung“. Die Spaltung des Subjekts ist für Lévinas eine „Kernspaltung, die das Innerste ihrer punkthaften Kerngestalt öffnet“95. Der dem Subjekt damit zugefügte Schmerz hat den einen Sinn: sich für den Anderen zu geben, sich zu opfern. Lévinas denkt den Einsatz für den Anderen bis zum eigenen Tod. Diese ‚Sensibilität‘ für den Anderen treibt das Subjekt bis zum „Wahnsinn“96, bis zu einem „Psychismus schon als Psychose“97. Die Stimme zeugt von dieser Einschreibung des Anderen im Innern des Subjekts. Sie ist jenes SichGeben an den Anderen. Die von Lévinas intendierte Präsenz als Befehl (commandement) übersteigt die bloße phänomenale Erscheinung. Mit der Stimme kommt eine Transzendenz ins Spiel, die eine absolute und unerreichbare Präsenz in Wirkung setzt. Der Sinn der Präsenz liegt in der unmöglichen Ablehnung des

92 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 223. 93 Ebd., S. 273. 94 Ebd., S. 50. 95 Ebd., S. 120. 96 Ebd., S. 122. 97 Ebd., S. 311.

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Befehls.98 Diese Radikalität in der Begegnung mit dem Anderen, die Verletzung, die dem Subjekt allein durch das Empfangen und Hören der Stimme zugefügt wird, erhält eine fast monströse Dimension, wie Slavoj Žižek treffend bemerkt.99

2.4 V OM A NDEREN

ZUM

D RITTEN

Lévinas erkennt aber, dass sich die Radikalität der Beziehung von Subjekt und Anderem nicht ohne Weiteres auf die soziale Realität übertragen lässt. Obwohl die Stimme in erster Linie die des einen und absoluten Anderen ist, ignoriert Lévinas nicht die Tatsache, dass das Sprechen in einem Miteinander von vielen unterschiedlichen Menschen stattfindet. Somit ist auch die Stimme eingebettet in bestimmte gesellschaftlich-soziale Zusammenhänge, in denen eine Vielzahl von Menschen zu Gesprächspartnern werden. Die ausgezeichnete Beziehung des Subjekts zum Anderen hingegen scheint sich in einem sterilen und hermetisch von jeder Außenwelt abgetrennten Raum abzuspielen, der empirisch auf keine Weise erfasst, ja überhaupt nicht in Worten und Begriffen verstanden werden kann. Die alltägliche Erfahrung in der Begegnung mit anderen Menschen zeigt aber, dass wir offenkundig nicht in einer Welt leben, die eine reine und hermetische Beziehung zum absoluten Anderen ermöglicht. Den einen Anderen in seiner Reinheit zu denken, fällt schwer, weil wir den Standpunkt des Dritten, eines weiteren Beteiligten, nie aus unserem Denken ausklammern können. Um über den absolut Anderen im Sinne Lévinas’ sprechen und denken zu können, braucht es schon die Perspektive eines weiteren, eines Dritten, der die Beziehung zum Anderen erst verständlich macht. In diesem Sinne ist der Andere von Beginn an notwendigerweise beschnitten, und das heißt: eingebettet in eine Ordnung, die der Dritte erst konstituiert. Er muss auf seine „radikale Andersheit [...] verzichten“ um für ein Ich erscheinen zu können, so Lévinas100. Der Stimme des Anderen gesellt sich eine weitere bei: Die Stimme des Dritten. Auch dieser spricht und erhebt Forderungen. „L’intrigue de l’altérité naît avant le savoir. Mais cette apparante simplicité de la relation du Je et du Tu, dans son asymétrie même, est encore troublée par l’apparition du troisième

98

Vgl. E. Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 40ff.

99

Vgl. S. Žižek: Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 52f.

100 E. Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 241.

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homme, qui se place à côté de l’autre, le tu. Le tiers est lui aussi un prochain, un visage, une altérité inatteignable.“101

Der Dritte stört die Beziehung von Anderem und Subjekt empfindlich. Das Subjekt ist damit einer unauflösbaren Spannung ausgeliefert, die es einerseits dem Ruf des Anderen, andererseits aber der Forderung des Dritten verpflichtet. Die Stimme des Anderen ist also bereits getrübt durch die Stimme des Dritten, die eine Pluralität bedeutet. Der Ursprung der Beziehung von Ich und Anderem schließt die Intervention des Dritten ein, der zu einem Anderem des Anderen wird. Das Subjekt steht nun vor der schwierigen und bewussten Entscheidung, wie es handeln soll. Denn der Andere erscheint als einer unter vielen, die alle berücksichtigt werden müssen und daher einen objektiven Vergleich verlangen. Nicht mehr die eine Stimme des einzigartigen Anderen spricht, vielmehr handelt es sich jetzt um ein regelrechtes Stimmengewirr, dem ganz unterschiedliche Forderungen zu entnehmen sind. „Durch den Umstand, daß der Andere auch Dritter in bezug auf einen Anderen ist, der ihm wiederum Nächster ist (in der Gesellschaft ist man niemals zu zweit, sondern immer mindestens zu dritt), durch den Umstand, daß ich mich vor dem Nächsten und [Herv. i.O.] dem Dritten befinde, ist es notwendig, daß ich vergleiche, daß ich erwäge und abwäge.“102

Die Aufgabe des Dritten besteht darin, das Subjekt der Nähe des Anderen zu entreißen, wie Lévinas betont, und so „ursprüngliche Sozialität“103 zu ermöglichen. Die absolute Unterwerfung unter das Gebot des Anderen ist aufgehoben. Das Subjekt muss erkennen, begreifen und entscheiden, vor allem aber eine Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit finden. Gerechtigkeit verlangt die Einrichtung von Institutionen, eine Strukturen schaffende Ordnung von Gesetzen und Regeln, an die sich alle in einer Gesellschaft lebenden Individuen zu halten haben. „Doch die Anderen müssen beurteilt werden. In der Begegnung des Antlitzes war kein Urteil vonnöten: der Andere, Einzige, erträgt kein Urteil, er hat stets vor mir Vortritt, ich bin ihm untertan. Urteil und Gerechtigkeit bzw. Justiz wird mit dem Dritten nötig. Gerade im Namen der absoluten Verpflichtungen gegenüber dem Nächsten muß die absolute Untertänigkeit, die er fordert, in einem gewissen Maß aufgehoben werden. Damit entsteht das

101 E. Lévinas: Altérité et transcendance, Paris: Fata Morgana 1995, S. 112f. 102 E. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, S. 195. 103 E. Lévinas: Zwischen uns, S. 236.

70 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ Problem einer neuen Ordnung, für die es Institutionen und eine Politik geben muß, den ganzen Staatsapparat.“104

Der Dritte verhält sich zum Anderen wie das Gesagte zum Sagen. Nur durch den Dritten, der dem Anderen in seiner unendlichen Forderung nach Verantwortung Einhalt gebietet, ist der Andere überhaupt erfahrbar. Im Gegenzug verhindert der Ruf des Anderen das Aufgehen des Subjekts in der Neutralität und Gleichgültigkeit der Masse. So konstituiert der Andere dieses Ich, das sich aus der Masse hervorheben, als Einzelner Verantwortung übernehmen und handeln kann. Insofern ist „jedes Individuum“ einer Masse auch „virtuell ein Erwählter“105. Der Dritte steht für die Vervielfältigung des Anderen, denn der Nächste hat einen Nächsten, der wiederum einen Nächsten hat; diese Reihe ließe sich endlos weiterführen. Mit der Vielheit der anderen tauchen allerdings neue Fragen und Probleme auf: Wie verhält es sich mit der Stimme des Anderen, wenn sie mit Phänomenen der Masse, der Gesellschaft und Gemeinschaft konfrontiert wird? „Wer kommt in dieser Vielheit vor dem anderen?“106 Auch die vielen anderen haben eine Stimme, die sich anders artikuliert als die Stimme des einen Anderen. Die Stimmen der Vielen bringen eine politische Ebene in die rein ethische Dimension des Anderen ein. Beide stehen sowohl in Konflikt miteinander als auch in notwendigem, gegenseitigem Austausch. Lévinas gelangt mit diesen Überlegungen an einen Punkt, an dem er selbst die Stimme des Anderen, die Transzendenz dieser Stimme, neu betrachtet. Er fragt nach einer „Stimme der bedrängten und in Nöten befangenen Leute“, einer nicht nur transzendenten, sondern ebenso weltlichen Stimme, einer „Stimme, die in diesem Sinne die Entzauberung selbst wäre“107. Der „Vorrang der ethischen Subjektivität“ hebt für Lévinas, so sieht es auch Stéphane Moses, „das geschärfte Bewußtsein für die objektive Wirklichkeit der Welt in all ihrer ökonomischen, sozialen und politischen Komplexität nicht auf“108. Der Dritte ruft das Subjekt aus seiner Vereinzelung in der ungleichen Beziehung zum Anderen heraus in ein gesellschaftliches Miteinander, in der die Verantwortung sich begrenzen muss, um allen gerecht zu werden. Die Einrichtung von Institutionen zur Wahrung die-

104 Ebd., S. 259. 105 E. Lévinas: Jenseits des Seins, S. 394 106 E. Lévinas: Zwischen uns, S. 203. 107 E. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, S. 181. 108 Stéphane Mosès: „Gerechtigkeit und Gemeinschaft bei Emmanuel Lévinas“, in: Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 364-384, hier S. 369.

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ses Miteinanders fußt für Lévinas schließlich nicht mehr auf dem Hobbeschen Diktum, nach dem der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, sondern darauf, dass der Mensch „Geisel des anderen Menschen“109 ist. Zu diesem Aspekt macht Lévinas eine in Bezug auf die Stimme beachtenswerte Anmerkung. So kann die Gerechtigkeit, wie Lévinas schreibt, eben nur wirken, weil sie die „Einzigkeit des Anderen“ nicht vergessen macht, weil „Stimmen“ vernehmbar werden, die scheinbar zwischen Transzendentem und Weltlichem agieren, so genannte „prophetische Stimmen“: „Sie [die Gerechtigkeit, Anm. S.T.] erwartet die Stimmen, die die Urteile der Richter und Staatsmänner wieder auf das unter den Identitäten der Staatsbürger verborgene menschliche Antlitz aufmerksam werden lassen. Vielleicht sind das die ‚prophetischen Stimmen‘!“ 110 Die prophetischen Stimmen verhindern also eine Gerechtigkeit, die die absolute Verantwortung gegenüber dem Anderen, „die Möglichkeit ungeahnter Güte“ ignoriert. Diese zwischen Gerechtigkeit und Verantwortung vermittelnden Stimmen werden, so formuliert Lévinas, „zuweilen in den Schreien, die aus den Zwischenräumen der Politik aufsteigen und unabhängig von jeder offiziellen Institution die ‚Menschenrechte‘ verteidigen“ vernommen, aber auch „in den Gesängen der Dichter“, „in der Presse oder auf den Plätzen der Öffentlichkeit“111. Die Spannung zwischen dem Dritten und dem Anderen ist nicht aufhebbar, darin aber hat sie für Lévinas ihre Notwendigkeit: Denn ohne die unbedingte Sorge für den Anderen kann die Gerechtigkeit kein Ziel bleiben, das einer ständigen Verbesserung der aktuellen gesellschaftlich-politischen Zustände bedarf.112 Die vielen anderen Menschen als Figur des Dritten appellieren zwar an das Subjekt, fordern Gerechtigkeit und rufen auf zu einem vernünftigen und überlegten Handeln. Allerdings sind diese Stimmen für Lévinas nicht von gleicher Bedeutung wie die transzendente eine Stimme. Obwohl Lévinas die Bedeutung des Dritten anerkennt, verliert der Andere seine ausgezeichnete Position nicht. Die Stimme des Anderen bleibt den vielen Stimmen absolut übergeordnet. So gesehen aberkennt Lévinas dem Dritten eine Stimme, wie sie den Anderen auszeichnet, eine Stimme, die das Subjekt konstituiert und das erste Sagen begründet. Es

109 E. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, S. 195. 110 E. Lévinas: Zwischen uns, S. 237. 111 Ebd., S. 237f. So gesteht Lévinas unter bestimmten Umständen auch der Schrift eine Klangfarbe zu, beispielsweise in den Werken Samuel J. Agnons (vgl. ders.: Eigennamen, S. 13f.). 112 Vgl. S. Mosès: Gerechtigkeit und Gemeinschaft bei Emmanuel Lévinas, S. 377. Vgl. auch Letzkus, Alwin: Dekonstruktion und ethische Passion, München: Fink 2002, S. 411.

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verwundert daher nicht, dass Lévinas der Stimme des Anderen große Aufmerksamkeit schenkt, während er die vielen Stimmen, die Stimme des Dritten, kaum beachtet.113 Dabei entfalten gerade die vielen Stimmen, sei es auf politischer, sozialer, musikalischer, literarischer Ebene eine Wirkung, die auch die ethische Fragestellung zu bedingen scheint. Der bei Lévinas problematische Übergang von der Ethik zur Politik wird deutlich.114 Der Dritte fordert Lévinas’ Ethik heraus. Denn unweigerlich stellt sich der Übergang vom Transzendenten zum konkret Weltlichen als problematisch und widersprüchlich dar. Mehrfach macht Lévinas deutlich, dass die asymmetrische Beziehung zum Anderen im Vordergrund steht und dass sich erst aus dieser heraus jede weitere Beziehung sowie die Gemeinschaft als solche bildet. Er leugnet damit nicht die reziproke Beziehung zwischen einem Ich und einem Du, wie Martin Buber sie behauptet hat, betont jedoch die Priorität des einen Anderen, der noch vor den vielen anderen Menschen, die Gleichheit und Gerechtigkeit einfordern, steht.115 Für Lévinas stellt dies den Übergang der absoluten Verantwortung („l’ordre de la responsabilité“) zu Gerechtigkeit, Justiz, Rechtsprechung („justice“) dar.116 Die Stimme des Anderen wird zu einer Stimme, die ebenfalls dazu auffordert, sich um die anderen Menschen zu kümmern, die anderen des

113 Vgl. P. Delhom: Der Dritte, S. 270. Delhom sieht bei Lévinas das Politische nicht sonderlich berücksichtigt. Kritischer betrachtet diese Vernachlässigung beispielsweise Howard Caygill, vor allem, so Caygill, wenn Lévinas sich eines Urteils über die Politik Israels enthält (vgl. Caygill, Howard: „Levinas’s silence“, in: Marinos Diamantides (Hg.), Levinas, Law, Politics, Oxon/New York: Routledge Cavendish 2007, S. 83-92, hier S. 84). Auch Simon Critchley bezeichnet das Politische als die Achillessehne in Lévinas’ Werk und zweifelt an der Ableitung des Politischen aus der Ethik. Ethik müsse vielmehr für die Politik da sein (vgl. S. Critchley: „Five problems in Levinas’s view of politics and a sketch of a solution to them“, S. 93ff., in: Marinos Diamantides (Hg.), Levinas, Law, Politics, S. 93-106, hier S. 93ff.). 114 Auch Žižek sieht Lévinas’ Ethik kritisch: Die „Darstellung der Begegnung mit dem Gesicht des Anderen als dem primordialen Gesicht“ leide an einer „immanenten Unzugänglichkeit“. „Diese Darstellung ist in ihren Begriffen, als phänomenologische Beschreibung, falsch, da sie der Art und Weise nicht gerecht wird, in der der Dritte immer schon da ist.“ (S. Žižek: Die politische Suspension des Ethischen, S. 100). 115 E. Lévinas: Altérité et transcendance, S. 112: „Je passe de la relation sans réciprocité à une relation où entre les membres de la société, il y a une réciprocité, une égalité.“ 116 Ebd., S. 113.

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Anderen. Dessen Stimme ist daher nicht abgeschnitten von jeglichem gesellschaftlichen Zusammenhang: „Cette voix est un ordre, j’ai l’ordre de répondre de la vie de l’autre homme.“117 Der Andere ruft nicht nur zu Verantwortung und Aufopferung für ihn selbst auf, sondern ebenso, jedoch erst in einem zweiten Zug, zu Gerechtigkeit für alle. Er fordert, oder befiehlt gar, die Einführung einer politischen Ordnung, das Aufstellen von Regeln und Gesetzen zum Wohle aller Menschen. In Frage steht jedoch der Übergang von der Stimme des Anderen, die zu absolutem Gehorsam aufruft zu einer Stimme, die diese fatale Unterwürfigkeit gerade verbietet. Die Forderungen der Stimme sind insofern paradox als sie die Widersprüche von Ethik und Politik zu vereinen suchen. Sie sind Unterwerfung, Gehorsam und zugleich deren Aufhebung.118 So ist die paradoxe Forderung der Stimme des Anderen ein Dilemma. Die Verantwortung gegenüber dem konkret anderen Menschen kann nur erfolgen, wenn die Gerechtigkeit schon erkannt und etabliert ist. Die Verantwortung gegenüber dem Individuum verlangt demnach immer schon die Fähigkeit zu urteilen; sie verlangt das Wissen und die Theorie, das heißt all das, was für Lévinas notwendigerweise die Unvergleichbarkeit und Einzigartigkeit der Menschen verletzt.119 Die Figur des Dritten ist auch für Lacan von Bedeutung. Denn es gibt keine „two-bodies’ psychology [Herv. i.O.]“, wie Lacan betont, „ohne daß ein drittes Element interveniert“; die analytische Beziehung basiert auf einem „Dreierverhältnis“, nicht auf einer „Zweierbeziehung“120. Zwar ist der Dritte bei Lacan nicht deckungsgleich mit dem Dritten bei Lévinas, dennoch verbindet beide das Moment, das die hermetische Zweierbeziehung unterbricht. Die analytische Beziehung versteht Lacan als grundsätzlich triadisch strukturiert, was nicht verbietet, diese in dyadische Beziehungen zu zerlegen und als solche zu untersuchen.121 Beachtenswert ist also, dass sich das Sprechen bei Lacan nicht nur an einen Anderen richtet, sondern (mindestens) schon an zwei Andere. Der mir ge-

117 Ebd., S. 113. 118 Vgl. ebd., S. 173: „Nous avons dit plus haut que l’origine du sensé dans le visage d’autrui appelle cependant – devant la pluralité de fait des humains – la justice et le savoir; l’exercice de la justice demande des tribunaux et des instutitions politiques et même – paradoxalement – une certaine violence que toute justice implique. La violence est originellement justifiée comme la défense de l’autre, du prochain (fût-il mon parent ou mon peuple!), mais est violence pour quelqu’un.“ 119 Vgl. E. Lévinas: Zwischen uns, S. 133. 120 J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 19. 121 Vgl. ebd., S. 19.

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genübertretende Gesprächspartner impliziert den ‚großen‘ Anderen als störenden Dritten. Die damit eingeführte symbolische Ebene verhindert eine auf tödlicher Rivalität und Konkurrenz basierende Beziehung zum ‚kleinen‘ anderen als konkretem Gesprächspartner. „Diese rivalitätshafte und konkurrenzhafte Basis am Grund des Objekts ist genau das, was im Sprechen überwunden wird, sofern es den Dritten angeht. Das Sprechen ist immer Pakt, Einverständnis, man versteht sich, man ist einverstanden – das gehört Dir, das gehört mir, das ist dies, das ist jenes. Aber der aggressive Charakter der ursprünglichen Konkurrenz hinterläßt seine Marke in jeglicher Art von Diskurs über den kleinen andern, über den Anderen als Dritten, über das Objekt.“122

Der Dritte steht dabei nicht für die vielen anderen wie bei Lévinas. Er ist der die destruktive Zweierbeziehung störende ‚große‘ Andere und damit zugleich ausschlaggebend für die Bildung einer gesellschaftlich-sozialen Ordnung.123 Denn indem der Dritte ins Symbolische einführt, etabliert er im Sprechen zugleich Regeln für das Zusammenleben einer Gemeinschaft. So richtet sich auch der Schofar als verkörperte Stimme Gottes an das Volk Israel. Für Bernard Baas erklingt die Stimme als paradoxer Ruf, der zum einen die Vereinigung mit der Gemeinschaft fordert, zum anderen ein Aufgehen in dieser verbietet.124 Die Stimme verführt (wie die Stimme der Sirenen beispielsweise) und sie verbietet (als Stimme des Vaters). Die Stimme ruft zur Gemeinschaft auf, konstituiert eine Gemeinschaft, verbietet indes zugleich das Aufgehen des Subjekts in der Gemeinschaft. Insofern die Stimme aufruft zu einer „im Gemeinschaftlichen aufgehende[n] Unterschiedslosigkeit“, die getragen wird von einem Horchen und Gehorchen auf ein Ideal des Führers, ist sie für Baas ‚Objekt a‘ des Politischen. Gerade bei Heidegger sieht Baas diesen Ruf als Aufruf einer Gemeinschaft, eines

122 J. Lacan: Die Psychosen, S. 50. 123 Vgl. Stavrakakis, Yannis: Lacan & the Political, London/New York: Routledge 1999, S. 32: „The paternal function introduces an order, but an order structurally different from the natural order, an order instituting human society, a certain community of meaning.“ 124 Vgl. B. Baas: „Das öffentliche Ding. Die Schuld (an) der Gemeinschaft“, in: HansDieter Gondek/Peter Widmer (Hg.), Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 93-130, hier S. 117f.

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Volkes.125 Folgen wir Baas, so ist Lacans Stimme des Anderen nicht nur im Privaten wirksam, sondern ebenso im Öffentlichen und hat Einfluss auf das soziale Leben. Insofern hängt die Psychoanalyse nicht im luftleeren, apolitischen Raum, sondern ist „ihrem Wesen nach politisch“126 . Bei Lacan und mehr noch bei Lévinas gerät die Stimme in einen scheinbar unlösbaren Konflikt. Die singuläre transzendente Stimme entfaltet ihre Wirkung erst in der ständigen Auseinandersetzung mit den vielen Stimmen. Konstituiert die eine Stimme das Subjekt, so laufen die vielen Stimmen Gefahr, die Grenzen des Subjekts wieder zu verwischen. In diesem Punkt scheidet die Stimme nicht nur Ethik und Politik, sondern verbindet sie auch.

2.5 Z USAMMENFASSUNG : S TIMME UND P OLITIK

ZWISCHEN

E THIK

Bei Lévinas wie Lacan ist die Stimme wesentlich die des Anderen. Sie steht im Singular, hält sich in der Spannung zwischen Hörbarem und Unhörbarem. Als transzendente (unbewusste und jenseitige) Stimme übersteigt sie alles Empirische und ist doch in jeder akustischen Stimme anwesend. Ihre Präsenz ist nicht fassbar, aber wirksam. Um die Stimme bewusst wahrzunehmen, muss sie sich schon eingeschrieben haben, muss sie im lévinasschen Gesagten oder im lacanschen Ausgesagten aufgehen. Ihre Wirkung besteht im Akt der Grenzziehung, der Scheidung zwischen Subjekt und Anderem, zwischen Sagen und Gesagtem.127 An dieser Stelle lassen sich nicht nur Lévinas und Lacan zusammen denken. Auch Jacques Derrida und Gilles Deleuze implizieren in ihrer Philosophie die Stimme als Denkfigur ‚Objekt a‘, die den Punkt umreißt, an dem Neues entsteht. Sie bildet damit eine Abwesenheit, die nicht rein negativ verstanden werden darf, von der aus sich vielmehr Verbindungen wie Trennungen auftun.128

125 Ebd., S. 124: „Der Ruf ist diese reine Stimme, er ist die Stimme als Objekt a, die das Dasein teilt und die aufgrund dieser Teilung teilhat an dessen Geschick. Das besagt nun aber auch, dass der Ruf das Objekt a der Gemeinschaft, das Objekt a des Volkes an seiner Stätte: das Objekt a des Politischen ist.“ 126 A. Juranville: Der psychoanalytische Diskurs nach Lacan, S. 47. Vgl. auch Widmer, Peter: Vorwort, in: Alain Juranville: Der psychoanalytische Diskurs nach Lacan, Zürich: RISS 1994, S. 7-17, hier S. 10. 127 Vgl. S. Krämer: Die ‚Rehabilitierung‘ der Stimme, S. 290. 128 Vgl. Weber, Elisabeth: „Fragment über die Wissenschaft reiner Ereignisse“, in: Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie,

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Im Unterschied zu Derrida und Deleuze aber ist die Stimme für Lévinas und Lacan vor allem das Ethische par excellence, der Beginn aller Ethik noch vor ihrer sprachlichen Ausformulierung. Ihre Forderung beläuft sich auf eine unabweisbare Übernahme der Verantwortung für den Anderen, die sich durch ein nicht-willentliches Antworten auf den Ruf des Anderen begründet. Das AntwortGeben bedeutet zugleich, das Gesetz des Anderen anzuerkennen, diesem Gehorsam zu zeigen. Sowohl Lévinas als auch Lacan konstatieren dies nicht lediglich als einen Umstand, sondern fordern ein Hören und eine Annahme dieser Stimme. Daraus entsteht freilich ein Konflikt: Einerseits scheint die Unterwerfung des Subjekts unumgänglich; der Stimme kann sich das Subjekt nicht entziehen und dem Anderen haftet eine für das Subjekt unerreichbare Transzendenz an. Zugleich aber liegt in der Forderung, dem Ruf des Anderen zu folgen, das Eingeständnis an einen wenigstens minimal freien Willen, eine Entscheidungsgewalt auf Seiten des Subjekts. Wenn die Stimme Grenzziehung zwischen Subjekt und Anderem ist, dann muss ihr ebenso im Hinblick auf ihren nichttranszendenten Charakter Aufmerksamkeit geschenkt werden. Mehr noch stellt sich die Frage, ob die strenge Abgrenzung einer transzendenten von einer empirischen Stimme in dieser Weise haltbar ist. Wie verhält es sich mit dem Platz des ‚großen‘ Anderen, der politisch besetzt und missbraucht wird? Die Dynamik des Angerufen-Werdens, in dem sich zugleich das Subjekt erkennt, funktioniert auch hier, wie Žižek bemerkt: „[…] indem ich mich im Ruf des ideologischen großen Anderen (Nation, Demokratie, Partei, Gott) als sein Adressat ‚erkenne‘, indem dieser Ruf in mir ‚seinen Bestimmungsort erreicht‘, begreife ich sozusagen automatisch, daß ich erst mit dieser ‚Erkenntnis‘ zu dem geworden bin, als was ich mich ‚erkannt‘ habe [Herv. i.O.] – indem ich mich im Anruf des großen Anderen ‚erkenne‘, werde ich zu seinem Adressaten.“129

Wenn es Lévinas und Lacan nicht darum geht, dem Subjekt einen Willen zuzugestehen und es aus der Unterwerfung herauszuführen, sondern gerade um die Annahme des Gehorsams, dann ist zu fragen, inwiefern von weltlichen, politi-

München: Wilhelm Fink 1996, S. 198-210, hier S. 202. Weber sieht im ‚Objekt a‘ Lévinas, Lacan, Derrida und Deleuze miteinander verbunden: Für Lévinas und Derrida ist Lacans ‚Objekt a‘ eine wichtige Denkfigur; für Deleuze, der Lacans ‚Objekt a‘ positiv aufnimmt, ist es virtuelles Objekt, Urheber also der ständigen Produktion von Begehren. 129 S. Žižek: Liebe dein Symptom wie dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin: Merve 1991, S. 29f.

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schen Zusammenhängen abstrahiert werden kann und inwiefern das Subjekt, das nicht in einem hermetisch sterilen Raum lebt, das die Stimme des Anderen niemals in ihrer ‚Reinheit‘ hören kann, mit dem Problem des Gehorsams, des Befehls, der Unterwerfung in der Alltagswelt, in einer Gesellschaft, umzugehen hat. Lévinas’ Beschreibungen extremer Gewalt im Hinblick auf die Beziehung von Subjekt und Anderem, die Gewalt eines ‚guten‘ Sagens zwar, das sich gegenüber dem Gesagten (das selbst wiederum Gewalt ist) behaupten muss, erinnert stellenweise an ein entwürdigendes, masochistisches Szenario, eine Erniedrigung vor dem Anderen, die durch die körperliche Dimension in Verbindung mit einer absoluten Passivität sexuelle Anspielungen mit sich führt (beispielsweise das gewaltsame Eindringen des Anderen in das Innerste des Subjekts).130 Der Andere erscheint als ‚männlicher‘ Anderer, eine durchaus problematische Haltung. Auch Derrida betont in einer Diskussion, dass Lévinas Gefahr laufe, die sexuelle Differenz, vor allem die Position der Frau, wenn nicht zu ignorieren, so doch zumindest abzuschwächen. Derrida versucht, diese Differenz, mithin eine „voix féminine“131 , wieder einzuführen. Die Problematisierung der Stimme im Zusammenhang mit den Fragen der Vervielfältigung von Stimmen, des Literarischen, des Musikalischen und schließlich des Politischen führt uns zu Derrida und Deleuze, die sich beide auf eigene und unterschiedliche Weise der Stimme und den Stimmen nähern. Die bisher skizzierten Umrisse der einen Stimme bei Lévinas und Lacan sollen die

130 Vgl. Hand, Séan: Emmanuel Levinas, London: Routledge 2009, S. 53f. Hand folgert daraus: „The suggestion of sexual positions here, in conjunction with visions of maternity and femininity elsewhere, can evoke extremity in a way that seems problematical to gender a philosophy of the other.“ (Ebd., S. 53f.). Simon Critchley spricht von einer „ethischen Überlastung“, die schließlich selbstzerstörerisch auf das Subjekt wirken könne (vgl. ders.: Unendlich fordernd. Ethik der Verpflichtung, Politik des Widerstands, Zürich/Berlin: Diaphanes 2008, S. 82). Auch Rudolf Bernet äußert sich gegenüber der lévinasschen Ethik kritisch: „Can giving oneself away for the Other, without reservations and limit, be the paradigm, the norm, and even the ideal of ethical life?“ (Ders.: „The Encounter with the Stranger: Two Interpretations of the Vulnerability of the Skin“, in: Jeffrey Bloechl (Hg.), The face of the other and the trace of God, New York: Fordham University Press 2000, S. 43-61, hier S. 60). 131 Diskussion mit Derrida nach Jean-Luc Nancys Vortrag La voix libre de l’homme, in: Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy (Hg.), Les fins de l’homme. A partir du travail de Jacques Derrida. Colloque de Cerisy-la-Salle, Paris: Galilée 1981, S. 163184, hier S. 184.

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folgenden Überlegungen zu Derrida und Deleuze begleiten, um schließlich zu zeigen, wie eng Immanenz und Transzendenz der Stimme miteinander verwoben sind.

3. Phonozentrismus und Stimme (Derrida)

3.1 D IE

PHONOZENTRISCHE

S TIMME

Derrida ist mit Lacan und Lévinas durch eine intensive und kritische Rezeption ihrer Werke verbunden. Er ist Teil einer Tradition, die der Psychoanalyse in der Nachfolge Freuds und der Phänomenologie Husserls und Heideggers verpflichtet ist. Sein Ansatz der Dekonstruktion geht auf die Geschichte der Stimme in der Philosophie zunächst in einer dezidiert kritischen Perspektive ein, die sich jedoch von Anfang an nicht gegen die Stimme als solche wendet. Von Derridas frühen Schriften bis hin zu seinen letzten Texten wird die Stimme an entscheidenden Punkten thematisch und bleibt doch rätselhaft mehrdeutig. Immer wieder entgleitet sie dabei Derridas dekonstruktivem Verfahren. In Derridas wohl wichtigsten frühen, alle im Jahr 1967 veröffentlichten Schriften Die Stimme und das Phänomen, Die Schrift und die Differenz und Grammatologie thematisiert er die Stimme im Hinblick auf eine phonozentristische Tendenz in der Geschichte der Philosophie. Auf den ersten Blick, und in der Forschungsliteratur oft bestätigt, sieht es so aus, als wolle Derrida die Hierarchie von Stimme und Schrift einfach umkehren. Richtig ist, dass Derrida die scheinbar von der Philosophie vernachlässigte Schrift stark machen möchte. Zugleich aber konturiert er auch die Stimme neu. Beide Seiten beziehen sich bei Derrida aufeinander und bestimmen sich gegenseitig.1 Derrida sieht in der Tradition der Philosophie, von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, eine Bevorzugung des Mündlichen und damit verbunden eine Verdrängung der Schrift. Seine Aufgabe richtet sich auf die Dekonstruktion dieses

1

Vgl. S. Krämer: Die ‚Rehabilitierung der Stimme‘, S. 269f. Ebenso merkt Michael Eggers an, dass Derridas phonozentrismuskritische Argumentationen es zugleich vermeiden, „die ‚Schrift‘ als einen strikten Gegenbegriff ins Feld zu führen“ (ders.: Texte, die alles sagen, S. 145).

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logo- und phonozentristischen Denkens, eines Denkens, das die Stimme an den Ursprung von Wahrheit, Bewusstsein, Bedeutung stellen will und die Schrift als sekundäres, defizitäres Phänomen denunziert. Eine Umkehrung der hierarchischen Beziehung von Stimme und Schrift ist nicht Derridas Ziel. Vielmehr nimmt er die Verstrickungen, die sich aus dem Verhältnis beider Seiten ergeben, in den Blick.2 Sein Begriff der Schrift ist nicht als schlicht positiver Gegenpol zur Mündlichkeit und somit auch nicht als Alphabetschrift zu verstehen. Vielmehr geht es Derrida um eine Ur-Schrift (archi-écriture), eine vor-ursprüngliche Differenz, von der aus die Sprache erst ihren Anfang nimmt.3 Indem Derrida die archi-écriture ins Spiel bringt, versucht er, die so häufig anzutreffende Vorstellung, die Stimme sei Übersetzung einer authentischen Innerlichkeit, zu brechen. Denn Sprache entsteht nicht dadurch, dass innere Zustände durch die Stimme ohne Verluste veräußert werden, d.h. dass die Stimme in einer Gegenwart erklingt, die den idealen Gegenstand des Bewusstseins verkörpert. Erst die Bewegung der Differenz, die selbst nur schwer thematisiert werden kann, bringt Sprache hervor und stiftet Bedeutung. Sie scheint völlig abstrakt, jeder Empirie enthoben: „Es geht hier nicht um eine bereits konstituierte Differenz, sondern, vor aller inhaltlichen Bestimmung, um eine reine Bewegung, welche die Differenz hervorbringt. Die (reine) Spur ist die Differenz [Herv. i.O.]. Sie ist von keiner sinnlich wahrnehmbaren, hörbaren oder sichtbaren, lautlichen oder graphischen Fülle abhängig, sondern ist im Gegenteil deren Bedingung.“4

Derridas dekonstruktive Lektüre der Philosophiegeschichte ist sicherlich angreifbar; nicht zu leugnen ist, dass auch Derridas Interpretationen mangelhaft bleiben müssen, weil oft nur einzelne Aspekte herausgegriffen werden. Es geht hier jedoch nicht so sehr um eine Kritik an Derrida oder um eine Rehabilitierung der von ihm diskutierten Autoren. Vielmehr soll im Folgenden versucht werden,

2

Derrida versucht immer wieder, gegen die metaphysischen Gegensätze wie ‚extern/intern‘, ‚Abbild/Wirklichkeit‘, ‚Repräsentation/Präsenz‘ anzudenken (vgl. ders.: Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 59). So bemerkt er: „Es geht also hier weder um die Rehabilitierung der Schrift im engeren Sinn noch um die Umkehrung eines evidenten Abhängigkeitsverhältnisses.“ (Ebd., S. 98).

3

Vgl. J. Derrida: Grammatologie, S. 99.

4

Ebd., S. 109.

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das Positive und auch Überraschende an Derridas Ansatz zur Stimme (und Schrift) nachzuvollziehen.5

3.2 P LATONS P HARMAKON Für Derrida steht Platon, als einer der ersten Philosophen in der Geschichte, für die Gleichsetzung des lebendigen Sprechens mit dem Ursprung der Sprache überhaupt, während die Schrift lediglich Abbild der Stimme ist, der Malerei vergleichbar, die sich von der Wahrheit entfernt, indem sie nur schlecht kopiert. Damit verbunden sieht Derrida eine Abwertung der Schrift wie eine Aufwertung der Stimme. Insofern die Schrift eine schlechte Abbildung des lebendigen Sprechens ist, muss sie für Platon eine phonetische Schrift sein. Als solche wird sie ein „Zeichen der Stimme“, ein „Zeichen von Zeichen“6. Durch die Einschreibung der Stimme in den Raum, als Schrift, ist die Stimme für Platon, so rekonstruiert Derrida, auf gewaltsame Art entstellt. Die Schrift raubt der Stimme ihre Lebendigkeit und Innerlichkeit. Diese ist, verräumlicht und sichtbar gemacht, nur noch ‚toter‘ Buchstabe, eine dem Sprechenden entrissene Stimme. Folge dieses Gewaltaktes ist die Entfernung von der Wahrheit, die ihren Grund im lebendigen Sprechen, in der Innerlichkeit des Sprechenden hat. So erläutert Derrida mit Bezug auf Platon: „Sie [die Schrift, Anm. S.T.] entstellt (déplace) ihr Vorbild, liefert davon kein Bild mehr, reißt ihrem Element gewaltsam die belebte Innerlichkeit des Sprechens aus. Indem sie dies tut, entfernt sich die Schrift unermeßlich von der Wahrheit der Sache selbst, der Wahrheit des Sprechens und der Wahrheit, die sich dem Sprechen eröffnet.“7

Ein Vorbehalt gegenüber der Schrift zeigt sich für Derrida auch in Platons Phaidros, verdeutlicht an einem Mythos8: Der Gott Theuth präsentiert dem Kö-

5

Am Anfang dieses Kapitels steht ein kurzer Überblick über Derridas Lektüre von Platon, Husserl, Rousseau, Lévinas und Lacan. Dieses selektive Vorgehen hat keine ausführliche Darstellung der einzelnen Autoren im Sinn und kann ihnen daher auch nicht gerecht werden, sondern will vielmehr zentrale Aspekte bei Derrida hervorheben. Die Auswahl ließe sich durch andere, für Derrida wichtige Denker erweitern, beispielsweise Hegel, Lévi-Strauss oder de Saussure.

6

J. Derrida: Dissemination, Wien: Passagen 1995, S. 155.

7

Ebd., S. 155.

8

Vgl. Platon: Phaidros, 274c.

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nig Thamous die Entdeckung der Schrift als Hilfsmittel (remède) gegen das Versagen des Gedächtnisses. Doch der König ficht das Lob auf die Schrift an. Selbst wenn es zunächst den Anschein hat, als könne die Schrift dem Denken und der Erinnerung behilflich sein, unternimmt Platon den Beweis ihrer Minderwertigkeit gegenüber der Stimme. So ist ihm die Schrift gefährliches Medium, das den Menschen abhängig macht, während die Stimme im Menschen selbst das Gedächtnis wahrt. Doch Derrida erkennt in Platons Denken über die Schrift eine gewisse Ambiguität, die er am Begriff des ‚Pharmakon‘ festmacht. ‚Pharmakon‘ kennzeichnet Platon zufolge die Schrift und bedeutet sowohl ‚Hilfsmittel‘ (remède) als auch ‚Gift‘ (poison). Diese Zweideutigkeit spielt für Derrida eine tragende Rolle. Denn sie unterwandert im Ansatz die oppositionelle Gegenüberstellung von Stimme und Schrift. „Das pharmakon ist also ‚ambivalent‘, weil es genau die Mitte bildet, in der die Gegensätze sich entgegensetzen können, die Bewegung und das Spiel, worin sie aufeinander bezogen, ineinander verkehrt und verwandelt werden (Seele/Körper, gut/böse, Drinnen/Draußen, Gedächtnis/Vergessen, Sprechen/Schrift, etc.). […] das pharmakon ist die Bewegung, der Ort und das Spiel (die Hervorbringung der) Differenz. Es ist die différance der Differenz.“9

Diese Darstellung lässt sich gewiss als Versuch Derridas lesen zu beweisen, dass Platon von der Schrift her denken muss, dass die Schrift der Stimme vorausgeht.10 Auch wenn Dieter Mersch darin nicht ganz unbegründet den Verlust einer „Ethizität der Stimme“11 sieht, darf nicht voreilig geschlossen werden, Derrida verkenne die Stimme einseitig zu Gunsten der Schrift.

9

J. Derrida: Dissemination, S. 143.

10 Dieter Mersch fasst dies folgendermaßen zusammen: „In einer doppelten Bewegung wird damit versucht, (I) erstens aufzuweisen, dass nicht die Stimme der Schrift, sondern die Schrift der Stimme vorausgeht, sowie (II) zweitens, dass der Begriff der Präsenz, der sich selbst gegebenen Gegenwart nicht existiert, dass vielmehr das Gedächtnis und sein Spiel aus Erinnern und Vergessen primär ist.“ (Ders.: Präsenz und Ethizität der Stimme, S. 224). 11 D. Mersch: Präsenz und Ethizität der Stimme, S. 233.

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3.3 H USSERLS

SCHWEIGENDE

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S TIMME

Einen durchweg phonozentrischen Ansatz sieht Derrida bei Husserl realisiert. Denn erst die Verknüpfung von Stimme (phoné) und logos im Sprechen ermöglicht das Bewusstsein im Sinne Husserls. Dieses Vorrecht der Stimme, das im Sprechen das Bewusstsein verkörpert und das in der „gesamten Geschichte der Metaphysik“12 impliziert ist, wird von Husserl, so Derrida, radikalisiert. Der Grund für diese Radikalisierung liege in der husserlschen Ablehnung einer körperlichen, tatsächlich klanglichen Stimme. Allein der phänomenologischen Stimme kommt dieses Vorrecht zu, „der Stimme in ihrem transzendentalen Leib, dem Atem, der intentionalen Beseelung, die den Körper des Wortes in den Leib verwandelt, die aus dem Körper einen Leib, eine geistige Leiblichkeit [Herv. i.O.] macht“13. Da die Stimme keine körperliche und veräußerte, keine klanglich wahrnehmbare Stimme ‚in der Welt‘ ist, sondern einer reinen Transzendentalität angehört, ist sie rein innerlich, das sich gegenwärtige Bewusstsein. Da die Stimme das Bewusstsein nicht verlässt, gilt sie Husserl als Ausdruck der idealen Bedeutung. Im Zentrum steht hierbei auch Husserls Unterscheidung von ‚Anzeichen‘ und ‚Ausdruck‘. Anders als das Anzeichen teilt der Ausdruck nichts mit und zeigt nichts an. Er hat vielmehr, unabhängig vom Anzeichen, im „einsamen Seelenleben“14 seinen Platz. Husserl räumt ihm daher einen Vorrang gegenüber dem Anzeichen ein. Der Ausdruck tritt zwar als „bedeutsames Zei-

12 J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 26. Kritik an Derridas Vorgehen in Bezug auf seine Husserl-Lektüre ist sicher nicht unangebracht und in der Forschungsliteratur häufig zum Thema gemacht, so etwa Claude Evans, der auf die Unzulänglichkeiten bei Derrida hinweist: „All of this makes it clear that for Husserl the voice, be it the ‚phenomenological voice‘ or not, is not the original medium of meaning, is not the locus of presence that Derrida claims it is. So when Derrida speaks of a ‚necessary bond‘ between expression and the phenomenological voice, this is precisely what Husserl has not asserted.“ (Ders.: Strategies of Deconstruction. Derrida and the Myth of the Voice, Minneapolis: University of Minnesota Press 1991, S. 118). Wie schon angemerkt, soll diese Kritik hier nicht unterschlagen werden. Doch im Zentrum steht Derridas Perspektive auf die Stimme, nicht die Richtigkeit seiner Lektürepraxis. 13 J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 26. 14 Ebd., S. 67: „Die reine Funktion von Ausdruck und Bedeutung ist nicht die mitzuteilen, in Kenntnis zu setzen, kundzugeben, das heißt anzuzeigen. Nun soll also das ‚einsame Seelenleben‘ den Beweis erbringen, daß ein solcher Ausdruck ohne Anzeige möglich ist.“

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chen“ nach außen, die Bedeutung jedoch kommt aus dem Inneren und stellt den idealen Gegenstand dar, jedoch kein reales Außen, keine ‚Welt‘: „Das Bedeuten [Herv. i.O.] meint ein Draußen, welches das Draußen eines idealen Gegenstandes ist“, so Derrida15 über Husserl. Der Ausdruck bleibt in der Innerlichkeit eines Bewusstseins. Durch die im Innern zu sich selbst sprechende Stimme, als absolute Selbstpräsenz, ist die reine Bedeutung bewahrt. Zwischen der Stimme und der Bedeutung besteht keine Differenz. Sie fallen im Bewusstsein als Gegenwart zusammen. Als Stimme aber, die über keine Materialität in der Welt verfügt, sondern geistig ideal ist, kann es sich nur um eine stumme Stimme handeln, eine Stimme, die, wie Derrida schreibt, „das Schweigen wahrt“16. Erst die lautlose Stimme, die Stimme des Selbstgesprächs, verfügt über eine absolute Innerlichkeit, in der sie, durch nichts Fremdes gestört, zum Ausdruck einer reinen Bedeutung für das Selbst wird. Sie wahrt die Präsenz, in der die „Gegenwärtigkeit des Gegenstandes“ und die „Selbstgegenwart“17 zusammenfallen. Im Sprechen hört sich der Sprechende und ist sich zugleich selbst am nächsten. Durch seine Stimme drückt er eine von ihm intendierte Bedeutung aus, eine durch keine Äußerlichkeit verunreinigte Idealität. Nicht nur hört er seine eigenen Worte als rein sinnliches Phänomen, im selben Augenblick versteht er auch ihre Bedeutung, das heißt „seine eigene Ausdrucksintention“18. Die Idealität des Gegenstandes kann, so Derrida, damit nur im Medium der Stimme ausgedrückt werden: „Die Stimme hört sich, versteht sich (s’entend) [Herv. i.O.].“19 Denn die Stimme verlässt den Körper nicht wirklich. Es hat zwar den Anschein, als ob sich die Stimme ‚aussende‘, aus dem Subjekt heraustrete, doch die Stimme bleibt gebunden an die Innerlichkeit, an den lebendigen Atem des Subjekts. Sie ist lebendige Stimme: „Meine Worte sind ‚lebendig‘, weil sie mich scheinbar gar nicht verlassen: weil sie nicht in einer sichtbaren Entfernung aus mir, aus meinem Atem herausfallen [...] So jedenfalls gibt [Herv. i.O.] sich das Phänomen der Stimme, die phänomenologische Stimme.“20 Das Sich-sprechen-Hören muss also als eine implizite Form verstanden werden, als eine vergleichbare Form des Kantischen ‚ich denke‘, als ein ‚ich sage – ich höre‘.21 Insofern das Sprechen bei Husserl ein buchstäblich einsames Spre-

15 Ebd., S. 46. 16 Ebd., S. 95. 17 Ebd., S. 103. 18 Ebd., S. 106. 19 Ebd., S. 103. 20 Ebd., S. 103. 21 Vgl. B. Waldenfels: Deutsch-Französische Gedankengänge, S. 97.

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chen ist, bedarf es keiner anderen, um verstanden oder gehört werden zu können. In dieser Konsequenz muss man allerdings ebenso schlussfolgern, dass es noch nicht einmal ein Sprechen mit sich selbst sein kann, denn dies setzte schon die Spaltung des Subjekts (als ich und mich) voraus. Vielmehr ist es eine Stimme in sich, die das exklusive Selbstgespräch garantiert, das Sich-sprechen-Hören und das Sich-verstehen in einem. Zwischen Phänomen und Bedeutung, Signifikant und Signifikat besteht keine Differenz. Wie Derrida an Husserl nachzeichnet, ermöglicht die Stimme somit den idealen Gegenstand. Der Träger der Bedeutung wird durch die Gegenwart der Stimme überflüssig. Die Gegenwärtigkeit der Bedeutung in der Stimme verlangt keine materielle Übertragung mehr. In diesem Sinne spricht Derrida mit Bezug auf Husserl von der „absolute[n] Nähe des Signifikanten zum Signifikat und seiner Auslöschung in der unmittelbaren Gegenwärtigkeit“22. Da sich das Sich-sprechen-Hören bei Husserl auch dann nicht auflöst, wenn ich mit einem anderen spreche, muss Husserl davon ausgehen, dass mein Gegenüber mein Sprechen ebenso hört und versteht wie ich das tue. Der andere ist damit lediglich Abbild des sprechenden Subjekts. „Die Stimme ist [Herv. i.O.] das Bewusstsein“23 und damit Ausgangs- und Endpunkt des Sprechens und Verstehens. In keiner Weise wird die Stimme dabei vom anderen affiziert, vielmehr projiziert sie sich als eigene im anderen. Im anderen wird also nur die eigene Stimme verstanden: „Zu jemandem sprechen heißt zweifellos sich sprechen hören, von sich gehört werden, aber auch und im selben Zug, wenn man vom Anderen gehört wird, bewirken, daß dieser unmittelbar in sich das Sich-sprechenhören in eben der Form wiederholt, in der ich es hervorgebracht habe.“24 Die Schrift hingegen stört für Derrida die Nähe von Signifikant und Signifikat und damit die Auslöschung des Signifikanten, die Selbstgegenwart sowie die Gegenwärtigkeit der Bedeutung. Die Schrift (aber auch gestische Zeichen, das Graphische) bringt eine Verräumlichung, eine veräußerte Materialität mit sich, die die Bedeutung verzögert, aufschiebt und damit die Selbstaffektion, die Präsenz der Bedeutung im Bewusstsein verhindert. Die Schrift im Sinne Derridas ist daher gerade nicht als phonetische Schrift zu verstehen, da diese immer noch im Dienste der Stimme steht, indem sie „ein bereits vorliegendes Sprechen fixieren, einschreiben, verzeichnen und verkörpern“25 will. Von dieser phonetischen Schrift unterscheidet sich die ‚Ur-Schrift‘ (archi-écriture) als Bedingung von

22 J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 109. 23 Ebd., S. 108. 24 Ebd., S. 108. 25 Ebd., S. 110.

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Sprache überhaupt, die weder einen Autor, noch einen konkreten Adressaten, noch eine ideale Bedeutung besitzt. Die archi-écriture geht noch über die Gegenüberstellung von Stimme und Schrift hinaus. Derrida versucht, die Hierarchie von Stimme und Schrift zu umgehen, indem er gerade zeigt, dass die Spur, die anwesende Abwesenheit, die différance von Beginn an wirkt. Für Derrida kommt daher auch Husserl nicht ohne diese grundlegende Schrifthaftigkeit der Sprache aus. Dies sieht er nicht zuletzt darin bestätigt, dass Husserl betont, Sprache beruhe auf der Wiederholung von Worten. Die Wiederholung präsentiert aber keine originäre Wortbedeutung, sondern ist nur noch Repräsentation einer schon vergangenen und nicht mehr vollständig reproduzierbaren Bedeutung. Die ideale, gegenwärtige Bedeutung als Zusammenfallen von Gegenstand und Bewusstsein ist unwiederbringlich verloren. Zweifel an der Vorrangstellung der Stimme über die Schrift, so Derrida, müssten Husserl selbst gekommen sein. Das Sich-sprechen-Hören ist niemals absolutes Selbstgespräch, vielmehr braucht es immer den Abstand, das Andere, die Öffnung im Inneren, im Eigenen: „Das Sich-sprechen-hören ist nicht die Innerlichkeit eines auf sich hin geschlossenen Drinnen, es ist die irreduzible Öffnung im Drinnen, das Auge und die Welt im Sprechen. Die phänomenologische Reduktion ist eine Szene [Herv. i.O.].“26 Das vermeintlich Ursprüngliche und Präsente ist bei Husserl von Beginn an kontaminiert von dem, was es ausschließt. Am Anfang steht keine ursprüngliche, ideale Bedeutung, sondern das eigentlich Ursprüngliche ist die Metapher, das Metaphorische als Übertragung, die sich auf keinen Ursprung mehr berufen kann.27 Das Ursprüngliche ist für Derrida nicht anders als grundlegend metaphorisch zu verstehen.28 Daher lässt sich auch die Stimme als solche nicht auf die ‚Stimme, die das Schweigen wahrt‘ reduzieren. Die Stimme, mag sie auch im Bewusstsein sprechen, ist eine andere Stimme, eine nicht eigene. Sie ist weiterhin, folgen wir Jean-Luc Nancy, nicht die ‚Stimme des freien Menschen‘ („la voix de l’homme libre“), sondern eben die ‚freie Stimme des Menschen‘ („la

26 Ebd., S. 117. 27 Deleuze würde dem beipflichten: Es gibt kein Original, sondern nur Kopien. Sowohl Derrida als auch Deleuze halten der Unterscheidung von Original und Kopie die „Macht des Simulakrum“ entgegen. (Goldschmit, Marc: Derrida. Une introduction, Paris: Pocket 2003, S. 52). 28 Vgl. Nancy, Jean-Luc: „La voix libre de l’homme“, in: Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy (Hg.), Les fins de l’homme. A partir du travail de Jacques Derrida, Colloque de Cerisy-la-Salle, Paris: Galilée 1981, S. 163-184, hier S. 175.

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voix libre de l’homme“)29. So bestimme auch der kategorische Imperativ als Stimme bei Kant den Menschen und nicht umgekehrt.30

3.4 R OUSSEAUS S TIMME

ZWISCHEN

N ATUR

UND

K ULTUR

Widmet sich Derrida Husserls Phonozentrismus in Die Stimme und das Phänomen, geht es ihm in der Grammatologie zu einem großen Teil um Jean-Jacques Rousseaus Denken. Die Stimme bei Rousseau rekonstruiert Derrida als direkte Übertragung der natürlichen Leidenschaften der Seele des Menschen, als erste Metapher, als „Selbstpräsenz des Subjekts im Gewissen oder im Gefühl“31. Dagegen wertet Rousseau die Schrift „im eigentlichen und strengen Sinne“32 als bloßes Abbild, als Verhüllung der Stimme ab. Doch nimmt er gleichfalls an, dass es eine ‚natürliche‘ Schrift gebe, die „unmittelbar an die Stimme und den Atem gebunden“ und deren „Wesen“ nicht „grammatologisch“, sondern „pneumatologisch“33 ist. Diese natürliche Schrift wertet Rousseau wiederum auf, denn sie gilt ihm als direkte Übertragung. Derrida will nun in seiner Rekonstruktion Rousseaus zeigen, dass sich dieser in Widersprüche verwickelt, wenn er darauf besteht, dass Sprache, will sie genau sein, gerade nicht metaphorisch sein dürfe. Alles Metaphorische entfernt sich für Rousseau von der Natürlichkeit, der Eigentlichkeit der Leidenschaften und Gefühle. Dazu bemerkt Derrida: „Eine genaue und exakte Sprache müßte absolut eindeutig und geeignet, das heißt nichtmetaphorisch sein. Die Sprache wird jedoch geschrieben […] die Sprache ist ursprünglich metaphorisch. Dies rührt Rousseau zufolge von ihrer Mutter, der Leidenschaft, her. Die Metapher ist die Linie, welche die Sprache zu ihrem Ursprung in Beziehung setzt.“34

Für Rousseau ist die Stimme ursprünglicher Ausdruck des Gefühls; sie ist das Gewissen des Menschen. Aber schon dieser Ausdruck muss das Ursprüngliche

29 Ebd., S. 178f. 30 Vgl. ebd., S. 178f. 31 J. Derrida: Grammatologie, S. 175. Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: „Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird“, in: Ders., Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, Leipzig: Reclam 1989, S. 99-168, hier S. 102ff. 32 J. Derrida: Grammatologie, S. 33. 33 Ebd., S. 33. 34 Ebd., S. 463.

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übertragen; die Stimme übersetzt also die Leidenschaften der Seele. Sprache ist demnach, auch für Rousseau, immer schon metaphorisch, so Derrida: „Da die ersten Motive, die den Menschen zum Sprechen veranlaßten, Leidenschaften waren, wurden seine ersten Äußerungen Tropen. Die figurierte Sprache sollte als erste entstehen.“35 Die Wahrheit und Eigentlichkeit der Leidenschaft ist unwiederbringlich verloren und kann somit in keiner Weise adäquat präsentiert werden. Die Ersetzung, das, was Derrida das ‚Supplement‘ nennt, ist nicht Derivat, sondern steht am Anfang von allem. Insofern Rousseau die Unterscheidung eines Eigentlichen, Ursprünglichen und eines davon Abgeleiteten, Metaphorischen beibehält, muss er sich in seinen Aussagen selbst widersprechen. Dies wird auch in seinen Annahmen über die Stimme deutlich, wo er das Ursprüngliche und das Natürliche sucht und alles Abgeleitet und Sekundäre verurteilt. So ist sein Lob auf die Stimme ebenso von Misstrauen begleitet, wenn er schließlich erkennt, dass die Präsenz des Gegenstandes im gesprochenen, lebendigen Wort eine Illusion ist. Als Metapher ersetzt die Stimme den wahren Ursprung und täuscht die Wahrheit lediglich vor.36 Da die Stimme also auch bloß Ersetzung ist und eben nicht unmittelbarer Gefühlsausdruck, muss sie vom natürlichen Ursprung, von der Wahrheit und der Präsenz, genauso entfernt sein wie die Schrift. Dies lässt Rousseau skeptisch werden, so Derrida. „Die Präsenz des Gegenstandes verschwindet ja schon in der Stimme. Die Selbst-Präsenz der Stimme, des Sich-im-Reden-Vernehmens entzieht die Sache selbst, die der sichtbare Raum vor uns weilen ließ. Während die Sache verschwindet, substituiert ihr die Stimme ein lautliches Zeichen, das anstelle des entzogenen Gegenstandes tief in mich eindringen, sich ‚bis auf den Grund des Herzens‘ einsenken kann.“37

Am Anfang stünde damit nicht das gesprochene Wort, sondern die Supplementarität der Schrift, die Stellvertreterschaft als „metaphorische[r] Ursprung des gesprochenen Wortes“. Mit der Stimme erhöbe sich sodann auch die Schrift; die Stimme wäre immer schon von einer Schriftlichkeit durchzogen: In den „Geburtsakt der Stimme“ ist die „Sichtbarkeit“38 eingeschrieben. Ein weiteres Argument, das für Rousseau gegen eine besondere Wertschätzung der Stimme spricht, ist ihr gewaltsames Eindringen, ihre Aufdringlichkeit,

35 Ebd., S. 185. 36 Vgl. ebd., S. 243. 37 Ebd., S. 413. 38 Ebd., S. 410.

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der sich ein Hörer nicht erwehren kann. Denn gerade der Stimme gelingt die Täuschung einer Präsenz. Die Stimme kann verführen, faszinieren und Glauben machen, sie könne die Wahrheit präsentieren. Doch tatsächlich ist ihr Eindringen gewaltsam und überdeckt ihre Stellvertreterschaft, so Derrida über Rousseau: „Das gesprochene Wort liefert niemals die Sache selbst, sondern ein Trugbild, das uns tiefer berührt als die Wahrheit, uns wirksamer ‚trifft‘.“ 39 Die Ambivalenz der Stimme, ihre Verschränkung mit der Schrift, verdeutlicht Derrida im Hinblick auf einen weiteren Aspekt bei Rousseau. Rousseau verurteilt das artikulierte Sprechen als eine gewaltsame Entstellung des Ursprungs der Sprache. Derrida hingegen sieht die Artikulation als „Schriftwerdung der Sprache“ und damit als „Sprachwerdung der Sprache“: „[...] die Artikulation und folglich der Raum der Schrift wirken am Ursprung der Sprache.“40 Doch gerade die Stimme, nicht der natürliche Laut, wird geschrieben. Rousseaus Argumentationsgerüst scheint nicht zu halten. Die Stimme steht der Schrift nicht fern, sondern geht mit ihr eine Verbindung ein, die grundlegend ist. Derrida hält fest: „Wenn aber Rousseau feststellen konnte, daß man ‚die Stimme und nicht die Laute niederschreibt‘, so heißt das, daß die Stimmen von den Lauten sich gerade dadurch unterscheiden, wodurch die Schrift möglich wird, also die Konsonanten und die Artikulation.“41 Um dem Widerspruch auszuweichen, sucht Rousseau nach einer „natürliche[n] Stimme“42, die weder artikuliert noch durch die Schrift kontaminiert ist. Diese unartikulierte Stimme kommt einer unartikulierten Sprache gleich, einer Sprache, die noch keine Sprache ist, da sie keinen bloßen Laut produziert, aber auch kein artikuliertes Sprechen bedeutet. „Es geht“, wie Derrida konstatiert, „um eine Sprache, die völlig frei von Supplementarität ist“43. Rousseau fordert also eine unmögliche Stimme, wenn er auf einem Sprechen beharrt, das noch vor dem Sprechen liegt, einem „Sprechen, bevor man sprechen kann [Herv. i.O.]“44. Und dennoch ist es für Rousseau gerade die artikulierte Stimme, die den Menschen vom Tier scheidet, das lediglich den unartikulierten Schrei kennt. Die Ar-

39 Ebd., S. 414. 40 Ebd., S. 394. 41 Ebd., S. 539. 42 Ebd., S. 417. 43 Ebd., S. 424. 44 Ebd., S. 425.

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tikulation gehört also paradoxerweise auch für Rousseau von Beginn an zur Natur der menschlichen Sprache.45 Auch auf politischer Ebene, so hält Derrida fest, machen sich für Rousseau die negativen Auswirkungen der Schrift bemerkbar. Denn die „Propagierung der Schrift, die Unterrichtung ihrer Regeln, die Produktion ihrer Instrumente und ihrer Objekte begreift Rousseau als eine politische, auf Unterdrückung abzielende Tätigkeit“46. Er erklärt die Stimme des Volkes zur wahren Gesetzgebung, die sich den Machthabern entgegenstellen kann. Der Wille des Volkes verkündet sich durch dessen Stimme. Anderenfalls läge das Gesetz in den Händen Einzelner, die auf Macht und Unterdrückung des Volkes bedacht sind. Rousseau fordert ein ‚souveränes‘ Volk, das seine Stimme gegen oder für die Regierung erhebt. Demgegenüber sieht Rousseau die Machthaber vielmehr in der Rolle derjenigen, die daran interessiert sind, das Volk zum Schweigen zu bringen.47 Letztlich sieht sich selbst Rousseau immer wieder mit den Unzulänglichkeiten seiner Behauptungen konfrontiert. Er unterscheidet nicht nur zwischen einer ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Stimme, sondern ebenso zwischen einer ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Schrift. Denn neben der ‚guten‘ Seite als die der inneren Gemütsverfassung, der Seele, gibt es immer auch eine ‚schlechte‘ Seite des Außen, des Körpers, an der auch die Stimme teilhaben kann.48 Doch obwohl Rousseau die Ambiguität der Stimme und der Schrift zumindest ansatzweise erkennt, obwohl er ahnt, dass die ursprüngliche Stimme nicht rekonstruiert werden kann, gesteht er ihr weiter einen Vorrang gegenüber der Schrift ein. Stimme und Schrift haben demgemäß seinen Vorstellungen zu Kultur und Natur zu entsprechen.49 Dabei sieht er eine ‚gute‘, originäre Seite (die Stimme) grundsätzlich bedroht und ersetzt durch ein ‚schlechtes‘ Supplement (die Schrift).

45 Vgl. J. Derrida: Randgänge der Philosophie, S. 155f.: „Wenn das Tier nicht spricht, so deshalb, weil es nicht artikuliert. Die Möglichkeit der menschlichen Sprache, das, wodurch diese sich vom tierischen Schrei abhebt, das, was das Funktionieren der konventionalen Sprache ermöglicht, ist also die Artikulation. Das Wort und der Begriff der Artikulation spielen im Essai eine zentrale Rolle, ungeachtet des Traumes von einer natürlichen Sprache, von einer unartikulierten Singsprache nach dem Modell der Neume.“ 46 J. Derrida: Grammatologie, S. 518. 47 Vgl. ebd., S. 518. 48 Vgl. ebd., S. 34. 49 Vgl. Mfouakouet, Léopold: Jacques Derrida. Entre la question de l’écriture et l’appel de la voix, Paris: L’Harmattan 2005, S. 228.

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Derrida kommt im Zuge seiner Untersuchung zu Rousseau zu dem Schluss, dass die différance als unendliche Ersetzung und Differenz-Setzung am Anfang stehen muss, dass die Stimme als unmittelbarer Ausdruck einer Eigentlichkeit und Wahrheit eine Illusion ist, die sich in einem Widerspruch selbst aufhebt. Keineswegs aber negiert Derrida auf diese Weise die Stimme. Vielmehr dekonstruiert er bei Rousseau eine Vorstellung, die ein Ursprüngliches und Wahres annimmt und die Stimme damit verknüpft sieht. Tatsächlich scheinen Stimme und Schrift bei Derrida ein unauflösbares Verhältnis einzugehen, das eben nicht geprägt ist von der Vormachtstellung des einen über das andere.

3.5 L ÉVINAS , L ACAN : E INE

ANDERE

S TIMME

Auch Lacans ‚volles Sprechen‘ verurteilt Derrida als phonozentristisch; er hält die Unmöglichkeit eines „erfüllte[n] gesprochene[n] Wort[es]“50 in der Gegenwart dagegen. Lacan sieht die Wahrheit in der Stimme als volles Sprechen, das nicht aufgezeichnet oder archiviert werden kann. Diese Auffassung einer nichtaufzeichenbaren Stimme, einer Unmöglichkeit der (technischen) Archivierung ist für Derrida gleichbedeutend mit der Ablehnung der Schrift und, damit verbunden, einer Aufwertung der Stimme.51 Wie das ‚volle Sprechen‘ der Psychoanalyse so ist es bei Lévinas das Sprechen des Anderen (als sprechendes Gesicht), das sich als unmittelbare und absolute Präsenz zeigt. „Das Gesicht“, so Derrida, und also auch die Stimme, „ist Präsenz, ousia“52. Derrida erkennt in Gewalt und Metaphysik, einem Text, der sich mit Lévinas’ früher Schrift Totalität und Unendlichkeit auseinandersetzt, dass die „Thematik der Spur“ bei Lévinas „zu einer gewissen Rehabilitierung der Schrift führen“53 müsste. Dennoch findet sich, laut Derrida, bei Lévinas keine „innere Differenz, keine fundamentale und eingeborene Andersheit im Ich“54. Denn nicht die Differenz steht

50 J. Derrida: Grammatologie, S. 122: „Die Brisur markiert, daß es für ein Zeichen, für die Einheit eines Signifikanten und eines Signifikats unmöglich ist, in der Fülle einer Gegenwart und einer absoluten Präsenz zu entstehen. Aus diesem Grund gibt es kein erfülltes gesprochenes Wort, ob man es mit oder gegen die Psychoanalyse wiederherstellen will.“ 51 Vgl. J. Derrida: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 43. 52 J. Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 154. 53 Ebd., S. 156. 54 Ebd., S. 167.

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am Anfang von Allem, sondern der absolut Andere ist es, dessen Ruf mich erst hervorruft. Der Anruf lässt sich aber weder sagen noch denken; er bleibt ausschließlich als Problem bestehen. Obwohl Lévinas die Bedeutung des Gesagten im Zusammenspiel mit dem Sagen hervorhebt, ist letzteres schließlich doch der Wahrheit des Anderen näher. Der von Lévinas geforderten Stimme des Anderen im Sagen stellt sich die Schrift als deren Verunreinigung gegenüber, so Derrida: „Denn die Schrift, Obliteration des im Spiel der Differenz geordneten Eigenen, ist die ursprüngliche Gewalt selbst: reine Unmöglichkeit des Vokativs, unmögliche Reinheit der Anrufung.“55 Derridas Urteil über Lévinas wie Lacan bleibt jedoch ambivalent. Einerseits wirft er ihnen vor, einer Metaphysik der Präsenz nachzuhängen, andererseits sollen sie doch zur Dekonstruktion beigetragen haben. So muss Lévinas’ Auffassung der Stimme als extreme Gegenposition zum husserlschen Entwurf der Innerlichkeit verstanden werden, als ein Sprechen zum Anderen als Antwort-Geben, das ‚immer schon‘ außen ist. In der Tat gibt es für Lévinas keine Innerlichkeit, die nicht schon dem Anderen ausgesetzt ist. Die Stimme des Anderen bringt bei Lévinas also die irreduzible Nicht-Gegenwart mit sich, deren Fehlen Derrida bei Husserl kritisiert.56 Zudem gesteht Derrida auch Lacan eine ‚Umkehr‘ ein: Lacan selbst widerspreche schließlich einem Phonozentrismus.57 Diese bei Lacan und Lévinas deutlich werdende Ambivalenz scheint aber gerade zum Wesen der Stimme zu gehören, einer Stimme, die sich zwar zwei Seiten zuordnen lässt, jedoch keiner ganz alleine zugesprochen werden kann. Die Stimme des Anderen ist bei Lévinas und Lacan nicht bloß durch eine drängende Präsenz gekennzeichnet, sondern bleibt in einem ständigen Entzug ungreifbar fern. Selbst die eigene Stimme spricht schon für den Anderen und geht daher über die Selbstbestimmung des Subjekts hinaus. Mehr noch ist das Subjekt einer Stimme ausgeliefert, die sein Fassungsvermögen übersteigt, die es in eine absolute Passivität versetzt. Als Spur ist die Stimme bei Lévinas immer schon vergangen, eine das Subjekt überwältigende, aber nicht einholbare Präsenz. Gleiches gilt auch für Lacan. Stört sich Derrida an einer im Innern verbleibenden stillen Stimme, einer Stimme ohne Materialität, die sich dann auch bei Lévinas und Lacan wiederfin-

55 J. Derrida: Grammatologie, S. 193f. 56 Derridas und Lévinas’ Verhältnis zueinander ist von mannigfaltigen Überschneidungen geprägt. So behauptet Lévinas beispielsweise: „In ‚Die Stimme und das Phänomen‘, einem Text, der den logozentrischen Diskurs umstößt, gibt es nicht einen überflüssigen Teil eines Satzes.“ (E. Lévinas: Eigennamen, S. 67f.). 57 Vgl. J. Derrida: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, S. 44.

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det, so wird doch folgendes deutlich: In der Stimme verbinden sich zwei Seiten, die dadurch zugleich eine Trennung erfahren. Die Stimme erklingt nicht nur als absolute Präsenz, sondern entstammt zugleich einer vor-ursprünglichen Vergangenheit. Lacan und Lévinas betonen zwar primär die transzendente, nicht sinnliche Dimension der Stimme. Dennoch machen sie auf die fundamentale Ambivalenz in der Stimme selbst aufmerksam. Auch Derrida kann folglich die Bedeutung der Stimme in dieser Ambivalenz nicht ignorieren. Dies wird deutlich, wenn er schließlich von einer ‚Stimme ohne Autor‘ spricht.

3.6 D ERRIDAS S TIMME ( N )

OHNE

A UTOR

In Auseinandersetzung mit einer Leser- oder Autorenstimme, die sich nicht veräußert, vielmehr die Einheit des Subjekts bestätigt, deutet Derrida dem entgegengesetzt eine andere Stimme an. Derrida verurteilt nicht die Stimme als solche, sondern jene „gewisse[...] Stimme“58, d.h. eine gewisse Vorstellung davon, was Stimme sein soll. Aus der Verwerfung jener Autorenstimme, die auf ein kohärentes Subjekt rekurriert, resultiert für Derrida nun kein „absolutes Schweigen“, keine „mythische Reinheit der Schrift“ oder „irgendeine Graphie, die endlich allein ist“59. Vielmehr löst das „Verschwinden der ‚Autorenstimme‘“ für Derrida ein „lautliches (phonique) Einschreibungsvermögen aus“, ein „polyphonisches“60 Einschreibungsvermögen gar. Derrida kehrt die Stimme nicht einfach um in eine Stimme, in der sich die Schrift eingeschrieben hat, die verräumlicht ist. Vielmehr betont Derrida, dass die „Enteignung […] auch eine Operation in der Stimme“61. Die Polyphonie, die Vielstimmigkeit also, verhindert die Einheit des Autors (wie des Lesers). Sie verhindert aber ebenso die singuläre Stimme

58 J. Derrida: Dissemination, S. 375: „‚Die verschwiegene Ode‘ in der Mimique signiert bloß das Dahinscheiden einer gewissen Stimme, einer besonderen Funktion des Sprechens, der repräsentativen, der Leserstimme oder der Autorenstimme, die nur da sein sollte, um das Subjekt in seinem inneren Denken zu re-präsentieren, um die Wahrheit – oder Gegenwärtigkeit – eines Signifikats zu bezeichnen, auszusagen, auszudrücken, um sie in einem getreuen Spiegel zu reflektieren, um sie unberührt durchscheinen zu lassen oder sich mit ihr zu verschmelzen.“ Derrida bezieht sich hier auf die Mimique Stéphane Mallarmés. 59 Ebd., S. 375. 60 Ebd., S. 376. 61 Ebd., S. 377.

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des Vaters, die die eine transzendente Stimme als Befehl und Gehorsam bedeutet. Derrida fordert damit keine Aufhebung der Stimme, sondern eine „Stimme ohne Autor, ohne Urheber“62, eine Stimme, die nicht mehr für die ideale Vergegenwärtigung der Wahrheit und des Ursprungs steht. Auf eine solche andere Stimme scheint Derrida gerade in literarischen Texten zu stoßen, so etwa in Philippe Sollers’ Nombres. Hier wird die Stimme im Text nicht als die eines mit sich identischen Autors konstruiert, sondern verteilt sich auf mehrere, unbestimmte Orte, nimmt gar den Klang von Metall oder Flüssigkeit an. Sie ist weder an ein Subjekt noch an einen Ort gebunden, scheint sich aber mit vielem verbinden zu können: „Als ‚verschwiegenes Gedicht‘, um den Variations sur un sujet (Variationen über ein Thema) zu folgen […], sind die Nombres gleichfalls ein Gedicht von höchst erhobener Stimme. Versuchen Sie es. Sie sind in einem weiten und kontrollierten, zurückgehaltenen, drängenden, angespannten Geschrei zu lesen. Eines Gesangs, der den Vokal in Szene setzt und die Artikulation, deren früheres Echo auf den Wandoberflächen er vorwegnimmt, von einer Türfüllung zur anderen in hundertfachem Widerhall den Aufprall reflektierend. Jedes Mal in einem anderen Metall, die Skulptur einer anderen Flüssigkeit, das Durchqueren einer unerhörten Materie. Stimme ohne Autor, Schrift aus vollen Lungen, Gesang, bis die Stimme sich verliert.“63

Was sich hier andeutet, bestätigt den grundlegend ambivalenten Charakter der Stimme in der Literatur. Sie scheint Stimme des Autors zu sein. Dies beruht aber auf einer wirkungsvollen Täuschung. Denn genauso ist sie gerade nicht die Stimme des Autors. Die Stimme hat keinen ursprünglichen Ort; sie kann aber, so verdeutlicht Derrida, verschiedene Orte besetzen und umreißen. Wie schon bei Lévinas und Lacan skizziert, ist die Stimme als Bewegung und Setzung der Differenz beschreibbar. Damit einher geht eine grundlegende Nicht-Neutralität, die sich in Faszination, Ablehnung, Verführung und Einschüchterung zeigen kann. Der Vorwurf, Derrida ignoriere die Stimme als ein „Phänomen der différance“64 muss daher entschieden zurückgewiesen werden.

62 Ebd., S. 375. 63 Ebd., S. 376. 64 Weigel, Sigrid: „Echo und Phantom – die Stimme als Figur des Nachlebens“, in: Brigitte Felderer (Hg.), Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, Berlin: Matthes & Seitz 2004, S. 56-70, hier S. 58. Dieser Vorwurf stammt unter anderem von Weigel.

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Will Derrida die metaphysische Hierarchie umgehen, kann das für ihn nicht bedeuten, dass Stimme und Schrift beliebig werden, gegeneinander austauschbar sind. Stimme und Schrift sind vielmehr, so deutet es sich bei Derrida an, aufeinander angewiesen und wirken im jeweils anderen. Im Unterschied zur Schrift scheint sich die Stimme dadurch hervorzuheben, dass sie nicht neutral ist.65 Sie übt eine Verführungsgewalt, eine Attraktion aus, deren Beschreibung Derrida schon in den Schriften Platons ausmacht: Sokrates sei derjenige, der durch eine „Stimme ohne Beiwerk“ eine „Zauberei“66 betreibe. Und schließlich, so Derrida, „dringt derjenige, der mit der Stimme agiert, leichter in die Seele des Schülers ein, um darin stets einzigartige Wirkungen hervorzubringen und sie so, als würde er in ihr wohnen, dahin zu führen, wohin er will“67. Da die Stimme nicht neutral ist, da sie Wirkungen im Hörer hervorruft, ist sie auch fähig, andere zu täuschen. Auch Lévinas und Lacan sehen die Stimme als eine unmöglich neutrale. Denn die ungreifbare Präsenz der Stimme berührt buchstäblich.

3.7 Z USAMMENFASSUNG : D IE

DIFFÉRANCE DER

S TIMME

Jean-Luc Nancy, der die Stimme als das „Nichtphänomenale des Phänomens“68 bezeichnet, bringt den Aspekt der ersten Markierung, der ersten Differenz ins Spiel. Die Stimme hält sich für ihn in einem ‚Zwischen‘, einer Aporie, die es erlaubt, dass Unterscheidungen überhaupt erst getroffen werden können und dass die Bewegung der Grenzziehung nicht ins Stocken gerät. Damit verbunden sieht er eine Aufwertung der Stimme bei Derrida: „Nun hat Derrida die Stimme aber nie hinter die Schrift zurückgedrängt: Er wollte nur zeigen, dass die Stimme sich (nieder)schreibt, dass die Schrift also auch die Spur des Atems ist und der Atem letztendlich die Auslöschung der Spur, allerdings so, dass die

65 Bekanntlich hat gerade Roland Barthes (Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 280) auf die Nicht-Neutralität der Stimme hingewiesen: „Es gibt keine menschliche Stimme auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder des Abscheus: Es gibt keine neutrale Stimme.“ (Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 280). 66 J. Derrida: Dissemination, S. 131. 67 Ebd., S. 128. 68 J.-L. Nancy: „Derridas Spuren. Über das Risiko des Denkens und die Schrift im Herzen der Stimme“, Gespräch mit Sergio Benvenuto, in: Lettre International, Nr. 70, Berlin: 2005, S. 98-102, hier S. 100.

96 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ Spur in dieser Auslöschung endlos ihre Rolle weiterspielt, die genau darin besteht, nicht aufzuhören.“69

Derridas Denken lässt sich somit, auch wenn er dies selbst nicht ganz so deutlich formuliert, in einem Chiasmus von Stimme und Schrift verorten.70 Verfolgt man das Thema durch sein gesamtes Werk hindurch, bemerkt man, dass es ihm nicht um eine Vorgängigkeit, sondern um ein Zusammenwirken beider geht. Eine Kritik, die Derrida vorwirft, die Stimme in ihrer ‚Intensität‘, ‚Blöße‘ und ‚Fülle‘ zu unterschlagen, läuft Gefahr sich bei dem Versuch einer Aufwertung der Stimme, und damit einer Wiedereinführung einer hierarchischen Relation, in Widersprüche zu verwickeln.71 Dieter Mersch hat zwar nicht Unrecht, wenn er die Stimme als „Intensität des Überschusses“72 bezeichnet, die zu einer Antwort (und einer Verantwortung) zwingt. Zugleich spricht er aber von der Stimme als Spur, und in der Spur entzieht sich die Präsenz der Stimme wieder. Die Frage darf daher nicht lauten, ob die Stimme in der ‚Intensität des Überschusses‘ die Schrift übertrifft, sondern wie die Interaktion beider sich gestaltet.73 Dieses Ineinander deutet sich bei Derrida schon in den frühen Schriften an. Wenn er betont, dass die différance sich schreibt, dass sie graphisch ist, aber nicht gehört werden kann, so ist die différance dennoch im Innersten abhängig von der Stimme, die in diesem Fall den graphischen Unterschied gerade nicht vertont und daher erst sichtbar macht: „Das a der différance ist also nicht vernehmbar, es bleibt stumm, verschwiegen und diskret, wie ein Grabmal: oikesis.“74 Dass der Unterschied zwischen dem graphischen a und dem e so bedeutend ist, wissen wir nur, weil es ihn im Stimmlichen in diesem Falle nicht gibt. Um nicht in die gleiche ‚Falle‘ wie Husserl oder Rousseau zu gehen, die die Stimme einer stummen und körperlosen Idealität annähern, muss Derrida die Di-

69 Ebd., S. 100. 70 Bernhard Waldenfels spricht mit Bezug auf Derrida von einem „Chiasmus von Wort und Schrift“ (ders.: Deutsch-französische Gedankengänge, S. 94). 71 Vgl. D. Mersch: Präsenz und Ethizität der Stimme, S. 220f. Mersch bemerkt aber selbst, dass der Stimme die „Paradoxie einer Präsenz der Nichtpräsenz“ (ebd., S. 221) innewohnt. Insofern ist sie beides und muss nicht einer Seite zugeordnet werden. 72 Ebd., S. 221. 73 Vgl. ebd., S. 222: „Die Stimme als Spur des Körpers bezeichnet so zugleich den Ort einer ‚Anrufung‘, der den Respons erzwingt. Beide, ‚Anruf‘ und ‚Antwort‘, deplatzieren den Rahmen von Schriftlichkeit und fallen aus dem Repertoire von Grammatologie heraus.“ 74 J. Derrida: Randgänge der Philosophie, S. 30.

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chotomie von Phänomen und Metapher umgehen. Was, wenn nicht die Stimme, ist dafür prädestiniert, sich der Opposition von Wahrnehmbarem und Intelligiblem, wie Derrida es fordert, zu widersetzen?75 Das Überraschende an der Stimme ist für Derrida, dass sie gerade als eigene Stimme zu einer fremden, sogar unheimlichen Stimme werden kann - wie auch der eigene Stil im Schreiben.76 Eindeutig zeigt sie sich hier als Markierung der Trennung auf eine ihr charakteristische Weise: Sie gehört beiden Seiten, dem Eigenen wie dem Fremden, dem Inneren wie dem Äußeren an. Wo sie ihren Platz auch einnimmt: Mit der Stimme ‚stimmt‘ etwas nicht. Entweder täuscht sie eine Präsenz vor oder sie wird unheimlich, vage, geheimnisvoll. Wo sie auch auftaucht: Sie ist niemals neutral. Dass selbst die eigene Stimme ein Täuschungsmanöver ist, dass die eigene Stimme also immer radikal fremd bleiben muss, diesen Aspekt sieht Derrida mit der Frage des Schreibens, der Poetik (poétique), verbunden. Er konstatiert und kritisiert eine Wende in der Geschichte, die die fremde Stimme von außen als Einflüsterung und Inspiration verleugnet zugunsten der eigenen beherrschten und kontrollieren Stimme, eines Sich-selbst-Verstehens im Hören der eigenen Stimme, eines Selbstverständnisses im kreativen Schreiben.77 Die Frage nach der Verbindung von Dichtung und Wahnsinn drängt sich auf.78

75 Die Vorstellung einer rein wörtlichen und einer rein übertragenen Bedeutung ist dabei in Frage gestellt. Insofern ist auch dem gegen Derrida oft vorgebrachten Vorwurf, er vernachlässige gänzlich die Stimme als akustisches Phänomen, zu widersprechen. (Vgl. beispielsweise S. Weigel: „Die Stimme als Medium des Nachlebens: Pathosformel, Nachhall, Phantom, kulturwissenschaftliche Perspektiven“, in: D. Kolesch/S. Krämer (Hg.), Stimme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S 16-39, hier S. 17). Die Beziehung von Stimme und Schrift ist vielfältig und übersteigt die strenge Dichotomie von Metapher und Buchstäblichkeit. 76 J. Derrida: Randgänge der Philosophie, S. 280: „Das Timbre meiner Stimme, der Stil, in dem ich schreibe, ist das, was für (ein) Ich niemals präsent gewesen sein wird. Weder höre noch erkenne ich das Timbre meiner Stimme.“ 77 Vgl. ebd., S. 280f. 78 Vgl. ebd., S. 281.

4. Stimmen in der Schrift (Derrida)

4.1 P OLYLOG Dass für Derrida die Frage nach der Stimme mit der Dekonstruktion der phonozentristischen Tendenz in der Philosophie nicht einfach abgeschlossen ist, wird bei einem Blick auf seine nachfolgenden Werke deutlich. Schon in den frühen Werken (vor allem Grammatologie, Die Schrift und die Differenz, Die Stimme und das Phänomen) kündigt sich eine Weiterführung an. In den späteren Werken wird dann umso deutlicher, dass sich Derrida einer Philosophie der Stimme öffnet.1 In einem mit Hélène Cixous geführten Interview im April 2004 äußert sich Derrida wiederholt zum Thema.2 Seine Ausführungen zeigen, dass ihn die Frage der Stimme bis kurz vor seinem Tod am 8. Oktober 2004 beschäftigt hat. Teils drängt sich der Eindruck auf, er wolle frühere Aussagen zurechtrücken oder in gewisser Weise korrigieren. So stellt er gleich zu Beginn des Interviews klar, dass es ihm nicht darum gehe und niemals darum gegangen sei, die Schrift gegen die Stimme auszuspielen.3 Ihr Verhältnis sei komplex und vielschichtig, mitunter unauflösbar. Gerade in der Situation eines Interviews, so Derrida, ist die Stimme einerseits gezielt einsetzbar, andererseits aber schlägt sie ebenso einen ‚unvorhersehbaren Weg‘ ein, stellt damit für den Sprecher, den Interviewten, auch eine Gefahr oder ein Risiko dar. Die eigene Stimme ist von anderen in

1

Auch Alice Lagaay hält in ihrer Arbeit fest: „Derrida may engender a philosophy of

2

Vgl. J. Derrida/H. Cixous: „Du mot à la vie: un dialogue entre Jacques Derrida et

voice.“ (Dies.: Towards a philosophy of voice, S. 88). Hélène Cixous“, in: Magazine littéraire, n° 430, April 2004, S. 22-29. 3

Dies betont Derrida auch an anderer Stelle: „[...] etwas voreilige Leute meinen, mich interessiere nicht die Stimme, sondern allein die Schrift. Das stimmt natürlich nicht.“ (Ders.: Auslassungspunkte, Wien: Passagen 1998, S. 151).

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ihrem Werdegang beeinflusst; sie ist nicht (oder nicht allein) Ausdruck einer Sprecherintention. Derrida bestätigt dies in einem Gespräch mit Hélène Cixous: „J’ai du mal à improviser sur les enjeux qui comptent le plus pour moi. Nos trois voix s’aventurent ici pour un exercice redoutable et singulier: nous passer la parole, nous la laisser pour frayer un chemin plutôt imprévisible.“4 Die Spannung zwischen der jedem Menschen eigenen, ganz unbestreitbar individuellen Stimme und ihrer Unfähigkeit, absolut homogen und autonom zu sein, werfen die Frage nach den Grenzen und der Möglichkeit einer eigenen Stimme auf. Im Akt ihres Lautwerdens, so deutet Derrida an, setzt sich die eigene Stimme einer Gefahr aus. Sie ‚entblößt‘ sich, wird durch die Veräußerung beeinflussbar und verliert ihre scheinbare Homogenität. Wer seine Stimme erhebt, ‚gibt‘ sie her und ‚setzt‘ sich dem anderen aus. Die Stimme wird also nicht einzig durch das Selbstbewusstsein des Subjekts kontrolliert, sondern ganz grundlegend und von Beginn an von außen mitbestimmt. Wenn es Derrida um die Stimme geht, dann beschränkt er sich jedoch nicht nur auf die laute Stimme im Sprechen. Der lauten Stimme (der Stimme im Interview zum Beispiel) entspricht eine Stimme in der Schrift oder im Schreiben. Derrida schreibt seine Text, wie er von sich sagt, in Begleitung einer Stimme. Sowohl Texte für Vorlesungen als auch Texte, die nicht dazu bestimmt sind, laut verlesen zu werden, haben oder folgen gar einer Stimme: einer „voix haute“ (hohe, laute Stimme) oder „voix basse“5 (tiefe, leise Stimme). Damit provoziert Derrida eine zweifache Täuschung: Er gibt vor, beim Vortragen seiner Texte zu improvisieren, wo doch ein fertiger und abgeschlossener Text vorliegt. Durch die in den Text integrierte Stimme gelingt es ihm also, den Zuhörern eine in der Gegenwart stattfindende Denkbewegung vorzutäuschen. Diese Täuschung findet nun auch in nicht laut und öffentlich verlesenen Texten statt, und damit täuscht Derrida sich selbst, wie er sagt. Die Selbsttäuschung verdeckt den langwierigen Arbeitsprozess, in dem, mal mehr, mal weniger mühsam, Gedanken verfestigt werden, jedoch nicht als bereits fertige zu finden sind. Die Stimme täuscht hier, indem sie uns eine nicht vorhandene Gegenwärtigkeit vorspiegelt: „Depuis plus de quarante ans, j’écris ce que j’enseigne du premier mot jusqu’au dernier, j’expérimente d’avance le rythme et la tonalité de ce que, feignant d’improviser, je ‚vocaliserai‘ dans l’amphithéâtre. Je n’écris jamais en silence, je m’écoute ou j’écoute la

4

J. Derrida/H. Cixous: Du mot à la vie: un dialogue entre Jacques Derrida et Hélène

5

Ebd., S. 22.

Cixous, S. 22.

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dictée d’une autre voix, de plus d’une voix: mise en scène, donc, danse, scénographie des vocables, du souffle et du ‚changement de ton‘.“6

Die Stimme im Text ist gerade nicht nur eigene Stimme. Sie ist, wie die Sprecherstimme, nicht Ausdruck einer absoluten Innerlichkeit oder Intention als idealer Bedeutung. Es sind Stimmen von außen, andere Stimmen (im Plural), die diktieren und einflüstern.7 Halten sich Derridas Vorträge an einen vorgefertigten Text, der nur noch vorgelesen werden muss, so findet sich eben nicht nur in der Art des Vortragens, sondern schon im Text selbst eine Vorgabe, die die reale Stimme, die Mündlichkeit des Vortrags mit bestimmt. Umgekehrt wirkt sich die Stimme aber auch auf die Verfassung der Texte aus. Derrida schreibt immer mit einer Stimme im Ohr, die sich dem Textgenre anpasst und zugleich den Text gestaltet. Interessant ist insofern Derridas Hinweis, dass die Stimme sich je nach Art und Funktion des Textes (z.B. Vortrag oder Publikation) ändert. Hélène Cixous bestätigt, sich auf Derrida beziehend, eine Verdoppelung des Autors durch die Stimme oder Stimmen, denen Derrida sich schreibend bedient und mit denen er sich als Akteur des Autors in Szene setzt.8 Derrida betont den Plural ‚Stimmen‘, die in ihm, ja, die ihn sprechen. Damit werden nicht nur die äußeren Stimmen zu inneren, auch die inneren Stimmen scheinen von außen zu kommen. Sie antworten aufeinander und sind dabei nicht klar zu unterscheiden. Diese Verselbständigung der Stimme lässt sie unheimlich werden: „Toujours plus d’une voix que je laisse résonner avec des différences de hauteur, de timbre et de ton: autant d’autres, hommes ou femmes, qui parlent en moi. Qui me parlent. Comme si je me risquait alors à prendre la responsabilité d’une sorte de chœur auquel je dois néansmoins rendre justice.“9

6

Ebd., S. 22.

7

Vgl. Bennington, Geoffrey/Derrida, Jacques: Jacques Derrida, Paris: Seuil 1991, S. 55. Bennington sieht die Schrift auch als Einflüsterung, als eine fundamentale Passivität.

8

J. Derrida/H. Cixous: Du mot à la vie: un dialogue entre Jacques Derrida et Hélène Cixous, S. 22. Cixous fügt an dieser Stelle hinzu: „Quand tu écris tes séminaires, tu pré-voix, ta voix est une pré-voix, tu écris un texte à reparler. Cette reparlance est une théâtralisation de ce qui est déjà une mise en scène. Tu doubles la mise théâtrale. Tu es acteur de celui que tu es en tant qu’auteur. Tu te doubles – en tous les sens.“

9

Ebd., S. 24. Das Unheimliche besteht gerade in der Vervielfältigung der Stimme. Auch David Appelbaum betont die Anwesenheit einer geisterhaften Stimme im Schreiben als eine Art ‚Doppelgänger‘: „The writing invites a double (Doppelgänger), a loosely attached, neither audible nor sonorous, but trembling aura, signifying

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Die Pluralität von Stimmen bedeutet jedoch keinen Zustand der Anarchie, vielmehr ist es Aufgabe des Schreibers, wie Derrida nahelegt, die vielen Stimmen in einer bestimmten Art und Weise und in bestimmten Grenzen zu organisieren, sie zu dirigieren, ihnen Plätze zuzuweisen.10 Um überhaupt sprechen und schreiben zu können, setzt Derrida nicht eine Stimme, sondern viele Stimmen voraus. Diese Bedingung einer Mannigfaltigkeit von Stimmen erklärt, warum das reine Selbstgespräch, als innerer Monolog, schon mehr als einer Stimme bedarf und daher unmöglich ist.11 Die vielen Stimmen können zugleich laut werden, sich ineinander verweben und nicht eindeutig unterscheidbar sein, so dass sie auch nicht auf einen Ursprung rückführbar sind. Derrida bezeichnet diese Stimmenvielfalt in der Schrift als ‚Polylog‘. In seiner Schrift Feuer und Asche stehen sich „zwei Schriften gegenüber: einerseits, rechts, der eigentliche Polylog, ein Durcheinander von Stimmen unbestimmter Anzahl, von denen einige männlich, andere weiblich scheinen, was sich manchmal an der Grammatik der Sätze abzeichnet.“12 Die Stimmen, die sich im Text vermengen, sind kaum als einzelne erkennbar; dennoch scheint es unter ihnen weibliche und männliche zu geben. Das Genus der Stimme zeige sich in der Grammatik, vor allem wohl in der französischen. Beim Hören nun wird das Genus, wie auch andere „grammatikalische Zeichen“, unsichtbar, und daher rührt die „Unentscheidbarkeit zwischen Schrift und Stimme“13, von der Derrida spricht. Er führt dazu folgendes Beispiel im Französischen an: „Il y a la cendre/ il y a là cendre.“14 Wie die Verlautbarung, die Stimme also, die Schrift auslöscht, so löscht die Schrift die Unentschiedenheit in der Stimme (la/là) aus. Die différance ist in der Stimme am Werk, doch erst durch die Stimme wird die différance hörbar und lesbar.15 Der Polylog wird dadurch

the possibility of singularity, and incorporating the mark of ‚selfhood‘, which is announced in the voice of the ghost.“ (Ders.: Jacques Derrida’s Ghost. A Conjuration, Albany/NY: State University of New York Press 2009, S. 9). 10 Vgl. J. Derrida: Auslassungspunkte, S. 396ff. 11 Vgl. J. Derrida: „Post-Scriptum: Aporias, Ways and Voices“, in: Harold Coward/Toby Foshay (Hg.), Derrida and Negative Theology, New York: State University of New York Press 1992, S. 283-323, hier S. 283. 12 J. Derrida: Feuer und Asche, Berlin: Brinkmann & Bose 1988, S. 6. 13 Ebd., S. 6. 14 Ebd., S. 5. 15 Zu dieser These kommt auch Léopold Mfouakouet: „Nous voulons [...] tenter un ‚passage‘ de la question de l’écriture à l’appel de la voix. [...] nous voudrions montrer que l’appel de la voix, loin d’être une sorte d’excroissance dans la pensée de Derrida,

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möglich, dass Stimme und Schrift zusammen agieren. Gerade die Verstrickung der Stimme mit der Schrift ruft diese Vielzahl von Stimmen hervor. Weder Stimme noch Schrift sind eindeutig, daher die grundlegende verstörende Unentscheidbarkeit zwischen beiden, daher die unmögliche Wahl, sich für ausschließlich eine Seite zu entscheiden. Stimme und Schrift schließen sich nicht gegenseitig aus. So ist auch die Vorstellung einer im übertragenen Sinne verstandenen Stimme als Selbstbewusstsein des Subjekts gebrochen und die allzu selbstverständlich gezogene Trennung von abgeleiteter Metapher und ursprünglichem Phänomen wird fraglich.16 Ähnlich einem Schleier verhüllt die Stimme für Derrida eine andere Stimme, macht letztere jedoch durch die wahrnehmbare Verhüllung allererst sichtbar. Sie provoziert ihre eigene Vervielfältigung, eine immer andere Stimme hinter (nach oder neben) der Stimme: „Dadurch genau kann die Stimme einer Aussage eine andere verdecken, die sie nun zu zitieren scheint, ohne sie zu zitieren, indem sie sich selbst als eine andere Gestalt, als ein Zitat der anderen darstellt.“17 Die ‚Verschleierung‘ einer Stimme durch eine andere und die damit verbundene Vervielfältigung – ein Geschehen, das gerade in der Schrift, und dort als Unentscheidbarkeit, stattfindet – bezeichnet Derrida schließlich als ‚Grammophonie‘. Damit soll erklärt sein, dass die Stimme den Text nicht eindeutig bestimmt, sondern vielmehr die Schrift vervielfältigt und damit eine ‚wahre‘ Lesart verhindert.18 Dennoch kann der Leser nicht umhin, sich für eine Interpretation zu entscheiden, will er den Text lesen. Dabei ist es für Derrida paradoxerweise erst die Stimme in der Schrift, die dieses Verlangen oder gar den Zwang zur Entscheidung auslöst, zugleich aber auch die Unmöglichkeit einer Entscheidung begründet. Zwar kann die Stimme einen Text auch ‚verraten‘, d.h. eine Lesart nahelegen, aber sie beseitigt damit nicht seine Unentschiedenheit. Im Gegenteil ver-

s’inscrit dans la logique même de la déconstruction [...]“ (Ders.: Jacques Derrida. Entre la question de l’écriture et l’appel de la voix S. 167). 16 Vgl. R. Bernet: „Derrida – Husserl – Freud. Die Spur der Übertragung“, in: HansDieter Gondek/Bernhard Waldenfels (Hg.), Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 99-123, hier S. 109. 17 J. Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien: Passagen 1989, S. 80. 18 Gunter Gebauer und Christoph Wulf beschreiben Mimesis als ein Verhältnis, das der derridaschen Dynamik zwischen Stimme und Schrift, der Unentscheidbarkeit, nahekommt. Denn Mimesis bleibt ambivalent; sie ist verbindend und trennend zugleich: „Sie treibt die Dissemination einzelner Elemente voran, verhindert Eindeutigkeit.“ (Dies.: Mimesis. Kultur – Kunst - Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 430).

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stärkt sie diese Unentscheidbarkeit. Der Polylog bedeutet für Derrida sowohl den Verrat am Text durch die Wahl einer Interpretation unter vielen möglichen als auch die Verschleierung des Textes durch eine pluralisierte Stimme, die die Möglichkeiten wieder offen hält: „Um – manchmal ohne es zu wollen – zwischen mehreren Interpretationen (im Sinne der Lektüre aber auch des Theaters und der Musik) eine Entscheidung zu fällen, verrät die Stimme einen Text nicht. Wenn sie es tut, dann in dem Sinne, in dem Verrat offenbart: zum Beispiel der Polylog, der jedes Atom der Schrift teilt, als Manifestation der unmöglichen Wahrheit, über die man jeden Augenblick und trotz der Wiederholungen ein einziges Mal wird entschieden haben müssen. Die Aussageweise (énonciation) verrät (dénonce) unter diesen Umständen, sie enthüllt das, was sie, eines Tages, zwischen all diesen Stimmen, die sich verteilen oder in die sich dieselbe Stimme teilt, durchgesetzt haben wird.“19

Zwar scheint das laute Aussprechen, als Aktualisierung der Stimme, eine Eindeutigkeit zu erlauben, doch auch diese akustisch vernommene Stimme verschleiert und verrät in einem Zug; auch sie lässt andere, immer mehrere Stimmen mit anklingen. Sie ist schon eine Stimme in der Schrift. Nicht mehr nur sind Sagen und Gesagtes ineinander verflochten, sondern auch die Schrift (l’Écriture) und das Gesagte sowie das Sagen und das Geschriebene (l’écrit).20 Lévinas’ Sagen und Gesagtes sowie Lacans Aussagen und Aussage werden hier durch Derrida nicht nur erweitert, sondern zugleich auch überholt. Denn die Schrift bleibt bei Lévinas und Lacan weitestgehend außen vor.21 Bei Derrida sind Stimme und Schrift unauflösbar miteinander verbunden und eben diese Verbindung ist Auslöser der Aporie.

19 J. Derrida: Feuer und Asche, S. 10. 20 Vgl. J. Derrida: „Eben in diesem Moment in diesem Werk findest du mich“, in: Michael Mayer/Markus Hentschel (Hg.), Lévinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie, Parabel Bd. 12, Gießen: Focus 1990, S. 42-83, hier S. 48. 21 Lacan allerdings spielt selbst immer wieder mit der Verschränkung von Stimme und Schrift, von Lesen, Hören, Sprechen, Schreiben, wie es z.B. der Titel eines seiner Seminare Les non-dupent errent (‚Die Nicht-Genarrten irren‘) zeigt, der auch verstanden werden kann als Les noms du père (‚Die Namen des Vaters‘).

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4.2 G RAMMOPHONIE In Ulysses. Gramophone (1987, Vortrag 1984) und Deux mots pour Joyce (Zwei Worte für Joyce, 1987, Vortrag 1982) geht Derrida näher auf diese Verstrickung ein: Wir stehen beim Lesen von James Joyces Finnegans Wake, so Derrida, vor dem unlösbaren Problem, wie dem unentscheidbaren Ineinander von Stimme und Schrift begegnet werden kann. An einem bekannten Beispiel aus Finnegans Wake zeigt Derrida die Ausweglosigkeit beim Versuch, eine korrekte Lesart zu finden: „He war [...] Aber wie soll man diese beide Wörter lesen? Sind es ihrer zwei? Mehr oder weniger? Wie soll man sie vernehmen? Wie sie aussprechen? Wie soll man sich zu ihrem Sujet aussprechen?“22 Die Worte ‚He war‘ sind hörbar, sie sind lesbar, doch beim Hören wie beim Lesen muss zugleich entschieden werden, wie diese zu hören und lesen sind: Ist das ‚war‘ deutsch und also eine Form des Präteritum? Ist es englisch und bedeutet ‚Krieg‘? Die Grammophonie entsteht dadurch, dass im Hören zugleich gelesen wird, dass im Lesen zugleich gehört wird oder eben: dass in der Stimme eine Schrift ist, dass in der Schrift eine Stimme ist. Die Frage nach der Stimme zieht die Frage nach der Schrift mit sich – und umgekehrt. Das geschriebene ‚He‘ klingt; der Klang der Stimme verweist auf wiederum andere, und zwar geschriebene Worte wie ‚ear‘ und ‚hear‘, Ohr und hören. ‚Hear‘ kann, so Derrida, ebenso Imperativ sein: ‚höre!‘ (als Aufforderung des Vaters oder etwa Gottes (he); als Gebot zu hören und zu gehorchen). Schließlich aber bleibt die Unentscheidbarkeit zwischen Stimme und Schrift bestehen: „Tatsächlich: die babelsche Verwirrung zwischen dem englischen war und dem deutschen war kann nur verschwinden, wenn sie sich beim Hören festlegt. Man muss wählen, und das ist immer dasselbe Drama. Die Verwirrung verlischt in der Differenz; und mit der Verwirrung verlischt auch die Differenz, wenn man sie ausspricht. Man ist gezwungen, sie entweder auf englisch oder auf deutsch zu sagen. Man kann sie also nicht als solche mit dem Ohr empfangen. Auch nicht mit dem Auge allein. Die Verwirrung in der Differenz erheischt einen Raum zwischen Auge und Ohr, eine phonetische Schrift, die das Aussprechen des sichtbaren Zeichens induziert, aber dessen reiner Auslöschung in der

22 J. Derrida: Ulysses Grammophon. Zwei Deut für Joyce, Berlin: Brinkmann & Bose 1988, S. 25. Derridas Beziehung zur Literatur ist vielfältig. Die Grenzen zur Philosophie verwischen. Vor allem aber ist die Literatur Anreiz und Anregung zur Philosophie. Sie ist, so Marc Goldschmit, eine Provokation für die Philosophie, etwas, das das Denken evoziert („une provocation à penser“) (M. Goldschmit: Jacques Derrida. Une introduction, S. 115).

106 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ Stimme widersteht. […] Sie beschützt den Babelismus, der sich also zwischen Sprechen (parole) und Schrift (écriture) abspielt.“23

Gerade Joyces Ineinander von Schrift und Stimme drängt Derrida zu einer erneuten Auseinandersetzung ihrer Beziehung. Joyce selbst dekonstruiert die Hierarchie von Stimme und Schrift, indem sein Text einerseits in einer bestimmten Sprache gehört werden und zugleich in vielen Sprachen gelesen werden kann.24 Die Sprachverwirrung, für die die Zerstörung des Turmbaus zu Babel durch Gott steht, bringt die Notwendigkeit einer ständigen Übersetzung mit sich. Erst die laute Stimme zeigt das Unaussprechbare, das nicht in diesem Stimm-Akt vokalisiert ist: wie das Schibboleth25 paradoxerweise erst im Aussprechen des Wortes zu etwas Unaussprechbarem wird. Insofern steht die Stimme selbst für das Unsagbare der Sprache. In ihr trägt sich die Differenz zwischen Lautwerden und Unsagbarem aus. Die Unentscheidbarkeit, obwohl von Derrida als ‚Drama‘ bezeichnet, darf dabei nicht als sprachliche Einschränkung verstanden werden. Im Gegenteil ist die Grammophonie für Derrida ebenso ‚Chance‘, ein ‚Glücksfall‘. Worte (oder Teile von Worten) sind eine „zugleich gesprochene und geschriebene Markierung [...], als Graphem vokalisiert und als Phonem ge26 schrieben“ . Die Grammophonie macht Sprache überhaupt erst möglich.27 Wie

23 J. Derrida: Ulysses Grammophon, S. 33f. 24 Vgl. Roughley, Alan: Reading Derrida. Reading Joyce, Gainesville: University Press of Florida 1999, S. 66. 25 Ein Schibboleth ist ein Wort, das, wenn ausgesprochen, (unfreiwillig) auf die Herkunft des Sprechers schließen lässt. Derrida weist darauf hin, dass Schibboleth eigentlich ‚Fluss‘, ‚Getreideähre‘ oder ‚Olivenzweig‘ bedeutet. Während des Krieges von Jephtahs Armee gegen die Ephraimiter wurde ‚Schibboleth‘ jedoch zum Kodewort oder Passwort, da die flüchtenden Ephraimiter leicht an ihrer Aussprache des Wortes zu erkennen waren. Die andere ‚falsche‘ Aussprache machte sie zu Feinden und verhinderte ihre Flucht. Das Schibboleth ist für Ephraimiter unaussprechbar (imprononçable), so Derrida. (Vgl. J. Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan, Wien: Passagen 1986, S. 51. 26 J. Derrida: Ulysses Grammophon, S. 58. 27 Die Grammophonie ist der Babelismus der Sprache. Nicht nur gibt es viele unterschiedliche auf der Welt verteilte Sprachen, sondern die Sprache selbst ist schon mehrere Sprachen. Eine Sprache ist viele Sprachen zugleich als Unentscheidbarkeit zwischen Stimme und Schrift. Insofern kann die Zerstörung des Turms zu Babel nichts anderes sein als die Einführung der Differenz von Stimme und Schrift: immer mehr als eine Sprache: „Vielfalt und Wanderung der Sprachen, gewiß, und in der Sprache

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die eine Stimme bei Lévinas und Lacan die Sprache konstituiert und das Sprechen provoziert, so ist es für Derrida die Reibung von Stimme und Schrift, die den sprachlichen Stillstand verhindert. Die Auseinandersetzung mit der Grammophonie führt unweigerlich zu der Frage nach der Metaphorizität von Stimme und Schrift. Denn mit der Unentscheidbarkeit zwischen Stimme und Schrift geht auch eine Unentscheidbarkeit zwischen Metapher und Phänomen einher. Dies bedeutet keine schlichte Gleichsetzung beider Seiten. Vielmehr geht es darum zu zeigen, dass keine Seite ohne die andere auskommt und dass ihre Beziehung nicht hierarchisch strukturiert ist. Die Vorsicht vor dem tatsächlichen Stimm-Akt, dem Lautwerden der Stimme, erklärt sich durch das Wagnis, das durch einen solchen Akt eingegangen ist, insofern das Gedruckte erscheint, als ob „keine Verlautbarung durch irgendeine Stimme jemals dort heranreichte“28. Doch die einmal in der lauten Stimme getroffene Entscheidung (als Lesart), ruft sogleich andere Stimmen herbei (man muss nur genau hinhören, wie Derrida behauptet). Die Differenz wird offen gehalten: Es gibt keine ‚eine‘ Stimme, da ‚eine‘ Stimme immer eine andere verlangt, um entweder eine Verbindung mit dieser einzugehen oder aber um sich in dieser selbst aufzulösen. Die verlautbarte Stimme macht damit die Schrift überhaupt erst lesbar. In der Stimme, die erklingt, zeigt sich eine, wie Derrida schreibt, ‚Zurückhaltung der Schrift‘. Diese Zurückhaltung meint kein Auslöschen der Schrift, der Spur, sondern ein Lesbarwerden dieser Spurhaftigkeit in der Stimme: „Indem sich die ‚aufgenommene‘ (recordée) laute Stimme auf die Unmöglichkeiten der Wahl einlässt, macht sie eine Zurückhaltung der Schrift lesbar, ihre tonalen und stimmlichen Schwingungen, die Wellen (weder Schrei noch Rede), die sich in dem einen einzigen Herausschreien (vocifération), der einzigartigen Reichweite einer anderen Stimme verbinden oder auflösen. Diese andere Stimme lässt man also passieren, um die möglichen Stimmen zu filtern, sie ist im voraus passée, ein doppelt gegenwärtiges Gedächtnis oder eine doppelte Gegenwärtigkeit.“29

selbst: Babel in einer einzigen Sprache. Schibboleth ist ein Merkmal für die Vielfalt in der Sprache.“ (J. Derrida, Schibboleth, S. 63. Vgl. dazu L. Mfouakouet: Jacques Derrida. Entre la question de l’écriture et l’appel de la voix, S. 201f.). 28 J. Derrida: Feuer und Asche, S. 8. 29 Ebd., S. 9.

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Die Vervielfältigung der Stimme meint nicht nur die „Vielheit der Personen“30. Der Autor selbst als vermeintlich einheitliche Person löst sich zugunsten einer Vielheit von Stimmen, die ihn durchlaufen, auf. Wie die eine Stimme bei Lévinas und Lacan das Subjekt konstituiert, so ist es bei Derrida eine Vielzahl von Stimmen. Derrida sieht darin gar eine ‚Forderung‘: Jede Stimme verlangt nach einer anderen Stimme. Die niemals neutrale Stimme fordert, wünscht, befiehlt, bittet und verspricht: „dass zu dieser Stunde noch eine andere Stimme käme“31. Sie verweist auf andere Stimmen und wird dadurch selbst zu einer anderen. Die Zahl der Stimmen ist unbegrenzt; sie eröffnen den Raum des zukünftig (Hinzu)-Kommenden. Die Erwartung der kommenden Stimmen richtet sich auf den (oder das) Andere (l’autre). Dieser Andere, der kommende Andere, der noch nicht hier ist, der aber erwartet wird, ist keine Erfindung, keine Vorstellung im Geiste eines Subjekts: „[...] l’autre, c’est ce qui ne s’invente jamais et qui n’aura jamais attendu votre invention. L’autre appelle à venir et cela arrive qu’à plusieurs voix.“32 Da eine Stimme immer andere fordert, bleibt sie nie allein. So ist die eigene Stimme durchzogen von anderen Stimmen, die immer weitere, auch zukünftige, evozieren. In Adieu beschreibt Derrida die Beeinflussung als Beeinträchtigung seiner eigenen Stimme, wobei es sich in diesem Fall um die Stimme eines Freundes, die Stimme Lévinas’ handelt. Das scheinbar Eigene, das uns gerade in unserer Stimme begegnet, wird durch die Stimme eines anderen permanent beschnitten. In dieser Erfahrung des allmählichen UnkenntlichWerdens des Eigenen gründet sich das Gefühl, dem anderen ausgeliefert zu sein. Denn die Stimmen werden nicht nur gehört, so Derrida, sie mischen sich beim Sprechen, gerade aber auch beim Verfassen von Texten, ein. Die Verwischung und Überdeckung der eigenen, singulären Stimme, die die Rückführung auf einen Absender als Ursprung der Botschaft unmöglich machen, sind von Beginn an wirksam. Daher auch bezeichnet Derrida die Stimme als immer schon übertragene Stimme. Die Übertragung kann dabei in einem ganz konkreten technischen Zusammenhang gesehen werden. Für Derrida sind es Telefon und Grammophon. Jede Stimme äußert sich als schon durch andere übermittelt, präsentiert keinen Ursprung, keine erste Bedeutung, sondern übernimmt die Rolle des Weitergebens. Wie die Stimme am Telefon die Differenz zwischen An- und Abwesenheit des Sprechers verdeutlicht, so markiert die Stimme auf dem Grammophon die merkwürdig gespaltene Präsenz ihres Lautwerdens, die zugleich schon verloren ist. Die Übertragung der Stimme bedeutet also ihre

30 Ebd., S. 11. 31 Ebd., S. 12. 32 J. Derrida: Psyché. Inventions de l’autre, Paris: Galilée 1987, S. 61.

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Spurhaftigkeit. Der lebendigen und präsenten Stimme ist die technische Verzerrung inhärent. Die Übertragung kommt nicht erst von außen hinzu, sondern gehört genuin zur Stimme.33 Die Stimme am Telefon steht paradigmatisch für jeden Stimm-Akt. Das Klingeln des Telefons, so Derrida, kündigt den anderen an, verlangt zugleich eine Antwort, eine Reaktion auf den Anruf. Die Antwort auf den Anruf erfolgt gewöhnlich durch ein kurzes ‚Ja‘, womit die bloße Bereitschaft, den anderen anzuhören, bekundet wird. Die Antwort auf das Klingeln des Telefons, das ‚Ja‘, sagt ebenso wenig wie das Klingeln selbst; es bedeutet vielmehr die bloße Anwesenheit des einen für den anderen. Die Stimme wird zu einer Markierung. „Es gibt mehrere Möglichkeiten oder Tonalitäten des telephonischen ja, aber eine unter ihnen läuft darauf hinaus, ohne irgendetwas zu sagen, lediglich zu markieren, dass man da [Herv. i.O.] ist, anwesend, am Hörer, am anderen Ende der Leitung, bereit zu antworten aber im Moment noch ohne etwas anderes zu antworten, als die Vorbereitung zu antworten.“34

Die Anwesenheit aber ist gestört, da der andere anwesend nur durch seine Stimme ist, die zugleich räumlich abwesend ist. So ist die Stimme selbst in ihrem Inneren gebrochen; sie ist durch eine immanente ‚telefonische‘ Übertragung gespalten in eine anwesende Abwesenheit. Die différance ist in die Stimme eingeschrieben und diese Einschreibung findet nicht nur in der Stimme am Telefon statt, sondern in jeder Stimme.35 Die Stimme markiert damit nicht nur die Trennung von Präsenz und Absenz, sie bedeutet zugleich die Aufforderung zu hören und zu antworten. Auch bei Derrida bringt die Stimme also einen Imperativ mit sich. So ergeht, ähnlich wie bei Lévinas, die Aufforderung ‚höre, antworte‘ noch bevor der Hörende eine Entscheidung über seine Antwort fällen könnte, noch

33 Vgl. Westphal, Kristin: Wirklichkeiten von Stimmen. Grundlegung einer Theorie der medialen Erfahrung, Frankfurt a.M./Berlin: Lang 2002, S. 119. 34 J. Derrida: Ulysses, S. 62f. 35 Ebd., S. 64. „Telephonische Innerlichkeit also: denn vor jedem Dispositiv dieses Namens in der Moderne ist die telephonische téchne im Innern der Stimme am Werk, multipliziert die Schrift der Stimmen ohne Instrumente, wie Mallarmé sagen würde, mentale Telephonie, die, indem sie die Ferne, die Distanz, die Differänz und die Verräumlichung in die phonè einschreibt, auf einen Streich [Herv. i.O.] den sogenannten Monolog stiftet, untersagt und durcheinanderbringt. Auf einen Streich, im selben Coup, vom ersten Telephon-Coup und von der einfachsten Vokalisierung an, von dem monosyllabischen Quasi-Anruf des ‚ja‘, ‚yes‘, ‚ay‘ an.“

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bevor er sich dessen gegenwärtig bewusst ist: „Das minimale und primäre ja, telephonisches Hallo [Herv. i.O.] oder Klopfzeichen durch eine Gefängnismauer hindurch, markiert, bevor es ‚ich-da‘ meint oder bedeutet, höre, antworte, es gibt Markierung, es gibt anderes.“36 Mit der Stimme ist sogleich eine andere Stimme, eine Antwort auf die Forderung, verlangt. Das telefonische ‚Ja‘ steht für diese grundlegende Forderung nach einer immer anderen Stimme.37 Sie gibt es nicht nur, weil es den anderen gibt, sondern – als Ausdruck eines Wunsches – auch damit es den anderen gibt (wie eben die Klopfzeichen an der Gefängnismauer in der Hoffnung auf einen anderen). Das Aufnahmegerät konserviert die Gegenwart der Stimme nur scheinbar. Auch oder gerade die Aufzeichnung als Bewahrung und Konservierung der Stimme entzieht ihr die Präsenz sowie dem Sprecher die Stimme. Daher rührt die merkwürdige Ambivalenz gegenüber dem Aufnahmegerät, ein Gefühl des Ausgesetztseins, eines Sich-Aussetzens der Stimme durch die Stimme – Derrida spricht dabei von einer nackten Stimme (voix nue) – , und zwar trotz oder gerade eben durch die Bewahrung der Stimme. Wie der Telefon-Akt findet sich die Wirkung des Aufnahmebandes als Effekt der différance in jeder Stimme wieder. Durch den ‚Grammophoneffekt‘ hat sich in die Stimme die Schrift eingeschrieben, auch wenn sie als lebendige, gegenwärtige Stimme gegen ihre Archivierung angeht.38 Derrida evoziert das Bild eines doppelten Bandes: Die Stimme ist präsent und zugleich die Aufhebung dieser Präsenz. Die Spannung zwischen Präsenz und Absenz bestimmt die Stimme. Sie ist nie ganz präsent, nie Ausdruck einer absoluten Innerlichkeit, da sie aufgezeichnet werden und in der Aufzeichnung wiederholt werden kann.39 Die dem Subjekt entrissene Stimme, die ortlos

36 Ebd., S. 102. 37 Vgl. ebd., S. 111. 38 Vgl. ebd., S. 70. „Aber wir hören schon jene Grammophonie, die in die lebendigste Stimme die Schrift einspeichert. Sie reproduziert sie a priori [Herv. i.O.], in Abwesenheit jeder intentionalen Anwesenheit des oder der Bejahenden.“ 39 Vgl. ebd., S. 70. „Ja muss sich bewahren, also sich wiederholen, seine Stimme archivieren, um sie wieder zu hören zu geben. Das ist es, was ich den Grammophoneffekt nenne. Ja grammophoniert und telegrammophoniert sich a priori [Herv. i.O.].“ Und in Auslassungspunkte merkt Derrida an: „Das Tonband unterscheidet sich von anderen Bändern und selbst von anderen Aufnahmebändern darin, daß es als differenziertes Gerät oder System, das zwischen eine Ausstrahlung und einen Empfang geschaltet ist – eine Zwischenposition also einer ganzen Batterie von Schaltstellen, Aufschüben und verzögerter Investitionen -, dennoch Dringlichkeit provoziert; es hetzt den Sender, um ihm jede schützende Vermittlung zu entziehen, um ihn zu nötigen, sich

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durch medientechnische Geräte ‚geistert‘, wird uns gerade deshalb unheimlich, weil sie losgelöst ist vom Körper des Subjekts. Mit der körperunabhängigen Stimme verlieren wir aber unser Selbstverständnis und unsere Selbstsicherheit.40

4.3 A POKALYPSE Gershom Scholem beklagt 1926 in einem Brief an Franz Rosenzweig eine Säkularisierung der Sprache (gemeint ist das aufkommende moderne Hebräisch), in eine Sprache, die die Stimme Gottes nicht mehr hören wolle.41 Scholem beschwört den Tag herauf, wie Derrida in Les Yeux de la langue schreibt, an dem eine Revolution der Sprache stattfinden wird, an dem Gottes Stimme von neuem erklingt.42 Die Ignoranz gegenüber dem Heiligen, gegenüber Gottes Stimme in

schutzlos und mit entblößter Stimme zu exponieren. Es hat also einen doppelten und widersprüchlichen Effekt. In diesem Sinne ist auch das Doppel-Band (double-bande) ein Effekt der différance.“ (Ebd., S. 44). 40 Vgl. Th. Macho: „Stimmen ohne Körper. Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme“, in: D. Kolesch/S. Krämer (Hg.), Stimme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Macho betont die „ubiquitäre Distanzlosigkeit der Radiostimme, die keine Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem respektiert“. Ihre Unheimlichkeit resultiere gerade aus der „körperlose[n] Intensität“ dieser Stimme (ebd., S. 141). 41 Vgl. G. Scholem: „Bekenntnis über unsere Sprache. An Franz Rosenzweig (1926)“, abgedruckt in: Brocke, Michael: „Franz Rosenzweig und Gerhard Gershom Scholem“, in: Walter Grab/Julius H. Schoeps (Hg.), Juden in der Weimarer Republik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 148-150. Scholem stand dem modernen Hebräisch deshalb kritisch gegenüber, weil er die Heilige Sprache missbraucht sah in ihrer Anwendung im Alltag. Jede Verwendung des Hebräischen aber evoziere Gott und reduziere diesen schließlich auf säkulare Dinge, jenseits der Heiligkeit. Vgl. dazu Herzog, Annabel: „‚Monolingualism‘ or the language of god: Scholem and Derrida on Hebrew and politics“, in: Modern Judaism 29/ 2 (2009), S. 226-238. 42 Vgl. J. Derrida: Les yeux de la langue, Paris: Herne 2005, S. 11. Abgedruckt ist dort der Briefwechsel, in französischer Übersetzung, von Scholem an Rosenzweig. Scholems Brief an Rosenzweig geht in dieser Ausgabe Derridas Text voraus. Scholem schreibt: „Diese unausbleibliche Revolution der Sprache aber, in der die Stimme vernommen wird, ist der einzige Gegenstand, von dem in diesem Lande nicht gesprochen wird, denn die, die die hebräische Sprache zum Leben wieder aufriefen, glaubten nicht an das Gericht, das sie damit über uns beschworen. Möge uns dann nicht der

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der Sprache, dieses ‚Verbrechen‘, ziehe die Strafe Gottes auf sich, so Scholem.43 In Les yeux de la langue folgt Derrida diesem apokalyptischen Ton in Scholems Text. Die nahende Apokalypse sieht Scholem in der von neuem erklingenden Stimme Gottes erfüllt. Die Beschwörung dieser Stimme zeigt ein paradoxes Verlangen nach dem Eintreten der apokalyptischen Prophezeiung und zugleich der Hoffnung, dieser Strafe Gottes zu entkommen: Angst und Begehren zugleich nach der Stimme Gottes, die die ‚Möglichkeit des Unmöglichen‘ darstellt, das heißt die Antwort Gottes, das Sagen Gottes, das Hervortreten Gottes aus der Stille: „[...] attente effrayée, désir et effroi devant la possibilité de l’impossible, c’est-à-dire du dire, rien de moins que la réponse de Dieu décidant de sortir de son silence.“44 Scholems Brief an Rosenzweig wurde erst 1985, also nach seinem Tod, gefunden. Scholems Aufruf zur Umkehr, der noch heute, nach dem Tod des Verfassers, im Text erklingt, dränge sich ihm auf, so Derrida, wie die Stimme eines Gespenstes, eines Wiedergängers. Das Auftauchen dieses Briefes zu einem historisch wichtigen und schwierigen Zeitpunkt für Israel – 1987 war das Jahr des Beginns der Ersten Intifada – macht seinen Ton für Derrida noch eindringlicher und bedeutsamer. Es ist ein Zeitpunkt, so Derrida, der empfänglich macht für das Heraufbeschwören einer kommenden Apokalypse: „Cette lettre n’a pas de caractère testamentaire bien qu’elle ait été retrouvé après la mort de Scholem, dans ses papiers, en 1985. Néanmoins, la voici qui nous arrive, elle nous revient et nous parle après la mort de son signataire. Quelque chose en elle résonne comme la voix d’un fantôme. Ce qui donne une sorte de profondeur à cette résonance, c’est encore autre chose: cette voix de revenant qui met en garde, prévient, annonce le pire, le retour ou le renversement, la vengeance et la catastrophe, le ressentiment, la représaille, le châtiment, la voici qui ressurgit à un moment de l’histoire d’Israel qui rend plus sensible que jamais à cette imminence de l’apocalypse.“45

Leichtsinn, der uns auf diesem apokalyptischen Weg geleitet, zum Verderb werden.“ (Ders.: Bekenntnis über unsere Sprache. An Franz Rosenzweig, S. 150). 43 Vgl. J. Derrida: Les yeux de la lange, S. 54: „Si on demande ‚qui‘ est la langue ici, quel est son nom, la réponse ne fait pas de doute, c’est le nom de Dieu se nommant par la voix de Dieu. Le crime a lieu contre Dieu, la vengeance est la vengeance ou le châtiment de Dieu.“ 44 Ebd., S. 74. Zwiespältiges Begehren, das Derrida geheiligter Wahnsinn oder heiliger Wahnsinn nennt (la folie sacrée/la sacrée folie). 45 Ebd., S. 12.

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Nicht allein mahnt Scholem an Gottes Stimme als kommende Apokalypse, als Strafe für das Verbrechen einer Entheiligung der Sprache, auch der Text selbst ist mit einer apokalyptischen Stimme geschrieben. Und nicht nur ist diese Apokalypse bei Scholem als bloße linguistische Angelegenheit aufzufassen, wie Derrida herausstellt, denn zugleich ist eine politische und nationale Dimension angeschnitten. Von Bedeutung ist die Sprache eines Landes.46 Das Land ‚beherbergt‘ nach Scholem die Sprache, weshalb jeder Versuch, eine Sprache künstlich zu erschaffen (gemeint sind Volapück und Esperanto), scheitern muss. Der falschen Künstlichkeit steht die Schaffung einer Sprache unter der göttlichen Macht und Heiligkeit gegenüber. Das Kreieren künstlicher Sprachen setzt die Trennung von Sprache in Inhalt und Form voraus, eine Entweihung der gottgegebenen Sprache, die die göttliche Stimme zum Schweigen bringt und daher Gottes Zorn hervorruft.47 Für Scholem steht dem Menschen nicht zu, sich über die Sprache zu ermächtigen und diese zu bestimmen. Nicht die sprechenden Subjekte kreieren die Sprache, sondern Gottes Stimme, die vor allen anderen spricht. Mit Bezug auf Scholem bedeutet dies für Derrida, dass in der Sprache eine „Virtualität“, eine „Potentialität“ am Werk ist, die die Sprache in Bewegung setzt („faire passer à l‘acte“48). Scholem aber verstricke sich in einen Widerspruch, da er auf der einen Seite als Ankläger die säkularisierte Sprache verurteilt, andererseits selbst an einem Sprach-Fetischismus festhält, an einer eigenen Vorstellung der heiligen Sprache, und sich damit zum Angeklagten macht. Wenn die Sprache nicht in der Macht der Sprechenden liegt, sondern in der Gottes, kann nicht bestimmt werden, welche Sprache ‚richtig‘ und ‚wahr‘ ist.49 Die Rückkehr zu einer heiligen Sprache muss über die heilige Schrift erfolgen, die in sich die Stimme Gottes bewahrt. Eben darin liegt auch für Derrida die Revolution, von der Scholem spricht.50 Zum einen verweist Derrida in Les yeux de la langue auf eine die Apokalpyse beschwörende Stimme im Brief von Scholem, zum Anderen charakterisiert Scholem die Apokalpyse selbst als das Eingreifen Gottes durch seine Stimme, als Laut-Werden der Stimme Gottes.

46 Vgl. ebd., S. 22: „Dès le début de la lettre, la dimension politique et nationale est mise en scène: ‚Ce pays est pareil à un volcan où bouillonnerait le langage‘ (Das Land ist ein Vulkan. Es beherbergt die Sprache).“ 47 Vgl. ebd., S. 95. 48 Ebd., S. 69. 49 Vgl. ebd., S. 65f. 50 Vgl. ebd., S. 96.

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Einer im Text rufenden, warnenden und fordernden Stimme, von einer bevorstehenden Apokalypse kündend, folgt Derrida in Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie. Hierfür nimmt Derrida zunächst Kants fast gleichlautenden Text Über einen neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) in den Blick und damit die Frage, wie ein Ton im Text zu greifen sei. Dabei geht es nicht um die Charakterisierung eines Stils, sondern tatsächlich um den Ton selbst, der bislang, so Derrida, vernachlässigt wurde. Die Beziehung des Tons zur Stimme ist schwierig. Derrida will beide voneinander geschieden wissen und sieht dennoch eine Verbindung. Der Ton ist somit nicht mit der Stimme gleichzusetzen; er wirkt aber in ihr, als Klanglichkeit der Stimme im Text.51 Stimme und Ton sind demnach unauflösbar miteinander verbunden. So sei die Stimme in der Lage, den Ton sowohl zu verbergen als auch zu verraten. Die Frage nach dem Ton habe Derrida schon in der Grammatologie beschäftigt. Die tonale Differenz ist für Derrida wie die Geste im Sprechen. Von Kant ausgehend, der einen „vornehmen Ton in der Philosophie“ seiner Zeit scharf kritisiert, widmet sich Derrida der Untersuchung des Tons. Kant fordert die Wahrung eines neutralen Tons in der Philosophie, da nur dieser „die Beziehung zum Wahren und Allgemeinen“52 aufrechterhält. Manierismus ist zu vermeiden, nicht nur weil es die Neutralität des guten Tons zu wahren gilt, sondern auch weil die Manier des Tons die Philosophie selbst an den Abgrund bringt, den „Tod der Philosophie“53 verkündet. Was genau ist es aber, was Kant an diesem vornehmen (und apokalyptischen) Ton so stört? Der Ton selbst kann dies nicht sein, vielmehr stört sich Kant an dem, wofür er seiner Meinung nach steht. Derrida bemerkt: „Aber wenn er einen Ton, der den Tod aller Philosophie ankündigt, ins Lächerliche zieht, so ist es nicht der Ton selbst, der sich verspottet findet. Denn was ist das überhaupt, der Ton selbst?“54

51 Vgl. J. Derrida: Apokalypse, 2. Auflage, Graz/Böhlau: Passagen 1997, S. 25: „Es reicht nicht aus, um den Sinn des Wortes Ton zu erfassen, daß man nur von der Stimme ausgeht; um so weniger noch, wenn sich der Ton eines Diskurses oder einer Schrift durch eine Vielzahl tropischer Figuren und Verschiebungen in Ausdrücken des Inhalts, der Aussageweisen, der Konnotationen, der rhetorischen Inszenierung und der eingenommenen Haltung, das heißt in semantischen, pragmatischen, szenographischen usw. Ausdrücken, kurz sich also kaum oder keineswegs nur durch das Vernehmen einer Stimmhöhe oder einer Qualität des Timbres bestimmt.“ 52 Vgl. ebd., S. 19. 53 Vgl. ebd., S. 20. 54 Ebd., S. 21.

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Jede Bewertung eines Tons, sei er hochmütig, stolz oder vornehm, ist metaphorisch gemeint. Die Aussage ‚Er spricht in einem hochmütigen Ton‘ meint keinesfalls, dass sich der Hochmut selbst im Ton bemerkbar macht, sondern lediglich, dass ein Ton gesellschaftlich als ‚hochmütig‘ kodiert ist.55 Derrida schließt, dass es sich bei dem von Kant kritisierten Ton nur um einen Ton handeln kann, der in Differenz zu anderen Tönen steht, die alle einer gesellschaftlichen Kodierung folgen. Das bedeutet für ihn aber auch, dass sich die Wahrheit, d.h. der neutrale Ton als objektiver Ausgangspunkt, nirgendwo findet.56 Kant, der seinen eigenen Ton als Ausgangspunkt nimmt und diesen als neutralen und zu bewahrenden Ton in der Philosophie bezeichnet, unterliegt Derrida zufolge einer Selbsttäuschung. Denn schon Kant selbst übernimmt in seiner Mahnung und seinem Aufruf einen apokalyptischen Ton, vor dem er gerade warnen möchte. Derrida interessiert sich nun weniger für die Charakterisierung eines Tons als ‚hochmütig‘, ‚stolz‘ oder ‚schmeichelnd‘. Der Grund, warum ihn Kants Verurteilung eines apokalyptischen Tons nicht in Ruhe lässt, ist die Frage nach dessen Wirkung. Warum, so Derrida, bedient man sich eines gewissen Tons? Welchen Vorteil verspricht man sich durch die Verwendung eines bestimmten Tons (z.B. die Evokation von Gefühlen wie Freude oder Angst)?57 Eine von Derrida hervorgehobene Funktion des Tons ist die Absicht, zu verführen und anzuführen. So kann der Ton vorgeben, die Wahrheit zu kennen, diese aber geheim zu halten. Gewahrt ist das Geheimnis (als Glaube der anderen an das Geheimnis) aufgrund des Einsatzes eines bestimmten Tons, der einschüchternd und anziehend zugleich wirkt, der, wie die Stimme Gottes bei Scholem, Angst und Faszination zugleich ausübt. Die damit begründete politische Absicht hinter der Adaption eines Tons ist nun unübersehbar: Es geht um die Erlangung von Macht, um Machterhalt und Herrschaft. So kann der Ton schließlich auch zur Sektenbildung führen, zu einer „Geheimsprache“, „zu einer Bande, einer Clique oder einer kleinen Partei“58. Mit dem apokalyptischen Ton werden ebenfalls bestimmte, auch gerade politische Absichten verfolgt. Zurecht erinnert Hartmut Böhme in diesem Zusammenhang daran, dass die Apokalypse nicht mit einer absoluten Katastrophe verwechselt werden darf, denn sie ist immer auch als eine „Theolo-

55 Vgl. ebd., S. 21: „Der Hochmut des Tons, den er mit seinem Spott überhäuft, bleibt ein metaphorischer Hochmut. Jene Leute sprechen hochmütig, sie erheben wie LautSprecher (haut-parleurs) die Stimme, aber dies läßt sich nur übertragen und in bezug auf soziale Zeichen sagen.“ 56 Vgl. ebd., S. 21. 57 Vgl. ebd., S. 22. 58 Ebd., S. 26.

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gie der Hoffnung“ zu verstehen, die die Geschichte nicht im fortschreitenden Zerfall sieht, sondern durchaus „im Licht des Heils rekonstruiert“59. Nicht zuletzt ist sie an einem quasi-revolutionärem Umsturz der Verhältnisse interessiert.60 Immer geht es darum, so betont Derrida, gewisse Effekte zu erzielen: „zu verführen oder zu unterwerfen, einzuschüchtern oder zu erfreuen“61. Dementsprechend kann der Ton selbst nicht originär der Absicht einer einzelnen Person entstammen, sondern wird in der ständigen Übernahme und Weitergabe durch viele andere geschaffen. Auch die sich für vornehm haltenden Philosophen müssen den von anderen als solchen qualifizierten, ‚vornehmen‘ Ton erst annehmen und übernehmen, um damit ihre Haltung kundzutun. Der hier vorliegenden Täuschung einer Vornehmheit – die Philosophen halten sich nur für vornehm, sind es aber in Wirklichkeit nicht – steht eine echte Vornehmheit gegenüber, deren Ton nach Kant wahr und neutral ist. Dieser Konfrontation eines falschen, übernommenen und eines wahren und neutralen Tons entspricht die Unterscheidung Kants in zwei Stimmen, die wohl, so Derrida, zu den „abgegriffen zu nennenden Metaphern“ gehört: Es handelt sich um die „Stimme der Vernunft“ und um die „Stimme des Orakels“62. Die ‚erste‘ Stimme, auf die zu hören erstes Gebot ist, ist für Kant die Stimme der Vernunft. Dieser ‚guten‘ steht eine sie bedrohende Stimme gegenüber, die Stimme des Orakels.63 Letztere orientiert sich an Wünschen, Gefühlen und Begierden; sie fordert nicht auf, verlangt nichts, sagt nichts Bestimmbares; sie sagt lediglich irgendetwas: etwas, was wir hören wollen, was Freude macht, was keine Arbeit verlangt, was keine Pflichten nach sich zieht. Damit drängt sich die Stimme des Orakels als Störung in den Frequenzbereich der Stimme der Vernunft, verdeckt diese, so dass sie nicht mehr in ihrer Reinheit gehört werden kann. Die „Stimme der praktischen Vernunft“ ist hingegen eine Stimme, die uns „diktiert“: „Sie erklingt in jedem Menschen, denn jeder Mensch findet in sich die Idee der Pflicht [...]“64 Die Stimme der Vernunft spricht in jedem Menschen gleich; sie ist allgemein und ohne Geheimnis; die Stimme des Orakels jedoch

59 Böhme, Hartmut: Natur und Subjekt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 389. 60 Vgl. ebd., S. 389: „Die Apokalypse ist jene Schrift, die das Gewaltmonopol des Staates und der Herrschenden bestreitet und - theologisch - erlaubt, in grandiosen Rachephantasien den Untergang eines ins Zeichen der tyrannischen Willkür getretenen Geschichte zu feiern.“ 61 J. Derrida: Apokalypse, S. 54. 62 Ebd., S. 28. 63 Vgl. ebd., S. 30. 64 Ebd., S. 33.

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benutzt einen „Privat-Code“65, richtet sich nicht an eine Allgemeinheit, sondern vielmehr an die Triebe und Wünsche eines Einzelnen. Die Stimme der Vernunft, die das moralische Gesetz verkündet und gebietet, ist das Hörbare par excellence.66 Sie ist Stimme in einer Reinheit, einer Klarheit, die jedermann vernimmt und die durch keinen visuellen Zusatz, keine ‚Blendung‘ und ‚Verblendung‘ (wie bei der Stimme des Orakels) beeinträchtigt wird. Das „Wesen der Stimme“ ist für Kant, so Derrida67, die Stimme der Vernunft. In ihrer Reinheit abstrahiert sie von allem Körperlichen und Sinnlichen. Derrida macht den für ihn wichtigen Charakter des Apokalyptischen anhand seiner Untersuchung zur Offenbarung des Johannes deutlich. In der Erzählstimme, die keinem bestimmten Autor oder Absender zugeordnet werden kann, zeigt sich sowohl die Weitergabe der Stimme(n) als auch die Unmöglichkeit einer einzelnen und ganz eigenen Stimme.68 Derrida unterscheidet dazu die „Erzählstimme“ und die „Erzählerstimme“. Während die Erzählerstimme die „des identifizierbaren Subjekts, des bestimmten Erzählers oder Absenders in einer Erzählung“69 ist, handelt es sich bei der Erzählstimme um eine Stimme, die keinem Subjekt zugeordnet werden kann. Insofern auch ist die Erzählstimme eine ortlose Stimme. Ihre Atopie darf jedoch nicht als Mangel verstanden werden, vielmehr begreift sie Derrida positiv als Hypertopie, als eine (auch gespenstische) Stimme, die viele Orte besetzen kann.70 Wie Bettine Menke bemerkt, ist im Geschriebenen „eine Ambiguität von eigener Stimme und den (vielen) anderen Stimmen absehbar“71, die eine Vielstimmigkeit in der Stimme eröffnet. Die Pro-

65 Ebd., S. 32: „Der Ton springt und steigt in die Höhe, wenn die Stimme des Orakels Sie beiseite nimmt, zu Ihnen in einem Privat-Code spricht, Ihnen Geheimnisse einflüstert, indem sie Ihnen die Ohren aufdeckt und zugleich die Stimme der Vernunft trübt, überdeckt oder stört, welch letztere zu jedem und zu allen in derselben Sprache (langue) spricht. Die ‚Stimme der Vernunft‘, sagt Kant, spricht zu jedermann ‚deutlich‘ [Herv. i.O.] und gewährt Zugang zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis. Und das ist wesentlich, um Anordnungen zu geben und vorzuschreiben [...]“ 66 Vgl. ebd., S. 34. 67 Ebd., S. 46. 68 Vgl. ebd., S. 59f. 69 Ebd., S. 59f. Derrida übernimmt die Unterscheidung und das Konzept einer Erzählstimme von Blanchot. 70 Vgl. J. Derrida: Gestade, Wien: Passagen 1994, S. 152. 71 Menke, Bettina: „Die Stimme der Rhetorik – Die Rhetorik der Stimme“, in: F. Kittler/Th. Macho/S. Weigel (Hg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kulturund Mediengeschichte der Stimme, Berlin: Akademie 2002, S. 115-132, hier S. 131.

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sopopoiia ist dabei als die rhetorische Figur zu verstehen, die im Geschriebenen die Illusion einer lebendigen Rede erzeugt, die Personen erfindet und sogar Tote sprechen lässt, indem sie ihnen eine Stimme verleiht.72 Das Schreiben nun ist auch für Derrida gebunden an die Vorgängigkeit einer Stimme, die die Schrift diktiert. Dies erinnert wiederum an eine Bemerkung Blanchots, der den Zwang zu Schreiben durch eine Stimme verursacht sieht, die nichts bestimmtes sagt, vielmehr scheinbar ohne Grund ein Schreiben einfordert.73 Die Stimme kommt, wie im Falle der Offenbarung des Johannes, von ‚hinten‘: „hinter dem Rücken des Johannes“74 erklingt die Stimme, die ihn die Apokalypse niederschreiben lässt, eine kommende und doch nicht vorhersehbare Stimme. Hier liegt nach Derrida die Bedeutung der Apokalypse: Sie ist eine „Charakterisierung des Sprechmodus“75. Die Erzählstimme ist eine Stimme, die durchzogen ist von anderen Stimmen, die nicht auf den Autor rückführbar ist.76 Johannes, der Schreiber, wird zum Übermittler einer Botschaft an die Menschen, die nicht von ihm selbst stammt. Die Botschaft bleibt eine indirekte Weitergabe von Stimmen, denn Gottes Stimme wird nie als solche vernommen, sondern ist durch Engel als Boten übermittelt. Die ständig weitergereichte Botschaft wird selbst zum Ereignis der Stimme, die auf keinen greifbaren Ursprung mehr verweist. Für Derrida vermengen sich generell im Schreiben eine Vielzahl von Stimmen, die nicht allein der Intention eines Autors entspringen. Schreiben ist in diesem Sinne ein ‚Erleiden‘ der Stimmen, die einen schreiben machen, die den Schreiber niemals völlig Herr über sein Schreiben werden lassen.77 Mit Blanchot spricht Derrida

72 Vgl. ebd., S. 115ff. Vgl. dazu auch: dies.: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München: Fink 2000. 73 Vgl. Blanchot, Maurice: Der Gesang der Sirenen, München: Hanser 1962, S. 46f.: „‚Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt.‘ […] Die Antwort ‚Ich muß‘ wird zwar gehört, sie wird sogar ständig gehört, aber das ‚Was‘ dieses ‚Ich muß‘ wird nicht gehört.“ 74 J. Derrida: Apokalypse, S. 60. 75 H. Böhme: Natur und Subjekt, S. 384. 76 Darin unterscheidet sich Derrida (mit Blanchot) auch von Paul Ricœur. Vgl. L. Mfouakouet: Jacques Derrida. Entre la question de l’écriture à l’appel de la voix, S. 178. 77 Hartmut Böhme bemerkt hierzu: „Das Einzigartige der apokalyptischen Schrift – sosehr sie sich auch aus apokalyptischer Rhetorik herleitet – macht den Schreibenden zum subiectum, zum Unterworfenen der Sprache, die ihm jede Subjektivität, jede Souveränität verwehrt. […] In der Apokalypse spricht nicht eine Stimme im dialogischen Geflecht mit vielen anderen, sondern die einzig-eine Stimme, auf der Sprache

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von einer fundamentalen Passivität, einer ‚Archi-Passivität‘ (archi-passivité), die sich in der Erzählstimme eröffnet. Die Erzählstimme bildet kein ‚Ich‘ heraus, vielmehr ist das ‚Ich‘ ihrem Eigenleben – mit Lévinas gesprochen – ausgesetzt.78 Dieter Mersch räumt ein, dass Derrida eine unerwartete Wendung nimmt, wenn er sich, entgegen seiner frühen Schriften zum Phonozentrimus, Lévinas annähert.79 In Bezug auf die Stimme bedeutet dies eine Ausweitung der Ethik, die sich nicht nur einer lévinasschen Verantwortung gegenüber dem Anderen verpflichtet fühlt, sondern ebenso ein auf die Zukunft gerichtetes Versprechen abgibt: „Jede Sprache richtet sich an den anderen, um ihm zu versprechen, irgendwie zu ihm zu sprechen. Auch wenn ich es tue, um zu drohen, zu beschimpfen, einen wissenschaftlichen Diskurs zu führen, um etwas ganz anderes zu tun als zu versprechen, gibt es in der einfachen Tatsache, daß ich zum Anderen spreche, eine Art Verpflichtung, meinen Satz zu Ende zu sprechen, ihn mit anderen Sätzen zu verknüpfen, zu bestätigen, indem ich eine Verbindlichkeit eingehe.“80

Wie bei Lacan und Lévinas handelt es sich hier um eine quasi göttliche Stimme, die bei Derrida zwar vervielfältigt und indirekt übermittelt ist, aber doch als Befehl und Imperativ erklingt.81 Anders aber als bei Lacan und Lévinas ist die Erzählstimme ohne Erzählerstimme keiner absoluten Transzendenz verschrieben. Sie bejaht vielmehr die Pluralität und negiert die eine wahre Stimme.82 Derrida orientiert sich an Blanchot, der ebenfalls eine „schon eingeschriebene Stimme“83 ausmacht, eine Stimme, die nicht Stimme des Einen ist, sondern die „Stimme al-

überhaupt beruht. Das ist die ungeheure Anmaßung und Zumutung der apokalyptischen Sprechweise.“ (Ders.: Natur und Subjekt, S. 385f.). 78 Vgl. J. Derrida: Bleibe. Maurice Blanchot, Wien: Passagen 2003, S. 28. Derrida fasst die Blanchotsche Erzählstimme durchgehend positiv auf und sieht sie nicht im Zusammenhang mit dem Phonozentrismus stehend, eine Tatsache, die in der Forschungsliteratur häufig vernachlässigt wird. 79 D. Mersch: Was sich zeigt, S. 381. 80 J. Derrida: Auslassungspunkte, S. 388. 81 Hartmut Böhme verweist in diesem Zusammenhang auf Deleuze und Guattari, die in Anti-Ödipus die Stimme ‚von oben‘ als „despotischen Signifikanten“ kritisieren. (H. Böhme: Natur und Subjekt, S. 386). 82 Vgl. L. Mfouakouet: Jacques Derrida. Entre la question de l’écriture et l’appel de la voix, S. 243. 83 Blanchot, Maurice: Das Unzerstörbare, München/Wien: Hanser 1991, S. 150.

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ler“84. Die Stimme ist bei Lévinas und Lacan eine väterlich transzendente; Derrida hingegen versucht bewusst, die Geschlechterdifferenz in das Thema ‚Stimme‘ einzubringen. Auch wenn er nicht explizit über eine ‚weibliche‘ Stimme schreibt, so lehnt er eine allmächtige Stimme des Vaters, die keine Stimmenvielfalt zulässt, ab.

4.4 Z USAMMENFASSUNG : H YPERTOPISCHE V IELSTIMMIGKEIT Der apokalyptische Ton lässt sich allerdings nicht einfach als abgeschlossene Vielheit begreifen, in der die einzelnen Stimmen zu analysieren wären. Die Schwierigkeit besteht darin, überhaupt eine Stimme als solche zu identifizieren. Aber mehr als das interessiert sich Derrida dafür, wie diese nicht abschließbare Anzahl einer „Feineinstellung der Stimmen und der Töne“85 funktioniert. So schnell und wenig nachvollziehbar wie die apokalyptische Stimme ihren Ton wechselt, so unerkennbar bleiben sowohl der Absender wie auch der Adressat, an den die Stimme ihre Nachricht sendet. Der Ursprungsort der Sendung ist auch deshalb kaum ergründbar, weil er keiner linearen Zeitlichkeit unterliegt, diese vielmehr gerade aus den Fugen wirft: „Man weiß nicht (weil es nicht mehr der Ordnung des Wissens unterliegt), wem die apokalyptische Sendung zukommt, sie springt von einem Sende-Ort zum anderen (und ein Ort wird immer im Ausgang [Herv. i.O.] (à partir) vom mutmaßlichen Senden bestimmt), sie geht von einer Bestimmung, von einem Namen und einem Ton zum anderen, sie verweist immer auf den Namen und den Ton des anderen, der da ist, aber als derjenige, der dagewesen ist und noch kommen muß, der in der Gegenwart der Erzählung nicht mehr da oder noch nicht da ist.“86

Das Subjekt als Mittelpunkt, d.h. als Sender und Empfänger von Nachrichten, wird in der Apokalypse, in der sich nicht nur unzählige Stimmen vermischen, sondern ebenso weitergegeben und ausgetauscht werden, radikal ersetzt. Derrida verweist auf die Funktion einer „Telephonleitung“ oder eines „Terminals“, wo die Stimme, losgelöst vom Subjekt, ein Eigenleben gewinnt. Der Mensch ist hier in der Tat nicht notwendigerweise „die Zentrale dieser Telephonleitung“ und die

84 Ebd., S. 152. 85 J. Derrida: Apokalypse, S. 63. 86 Ebd., S. 63.

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Stimme ist nicht rückführbar auf einen Sprecher, da niemand weiß, wer „seine Stimme oder seinen Ton dem anderen leiht“87. Eben in diesem Moment, wenn die verschiedenen Stimmen (und Töne) sich vermengen, wenn sie keinem Ursprung zugeordnet werden können, handelt es sich für Derrida um einen apokalyptischen Text. Geht es Derrida einerseits um eine Demystifikation eines apokalyptischen Tons, so zeichnet er ebenso die Grenzen dieser Demystifikation. Derrida sieht im Apokalyptischen vielmehr auch eine Voraussetzung für die Dekonstruktion, ein Verlangen, dem entgegenzugehen, das noch nicht gedacht ist, das unsagbar bleiben muss und dennoch im Kommen begriffen ist, und das bedeutet: die Hoffnung auf die Einlösung eines Versprechens und die Unmöglichkeit eines sich Einrichtens im schon Gedachten.88 Diese „engelhafte Struktur“ der Apokalypse, der ständige Verweis auf andere „Sendungen ohne entscheidbare Bestimmung“, ist für Derrida auch diejenige eines „Schauplatzes der Schrift“89. Der apokalyptische Ton, den Derrida bei Kant ausfindig macht, zeichnet sich also dadurch aus, dass man nicht mehr weiß, wer wem die Stimme leiht, wer spricht. Nicht Gott spricht direkt zu Johannes, sondern Gottes Botschaft ist schon vermittelt durch den Engel als Boten. Johannes Offenbarung ist eine Weiterleitung einer Nachricht, die bereits übermittelt wurde. Gerade diese unheimliche, atopisch-hypertopische Stimme übt eine einflussreichere Macht aus als das bloße Geräusch. Ohne die Möglichkeit, die Stimme einer konkreten Person zuzuordnen, hören die Apostel und Propheten diese als „unbedingte Autorität“90. Die Differenz der Stimmen, der Töne kann nicht „grammatisch, linguistisch, semantisch, pragmatisch“ sein. Die Unmöglichkeit, die Differenz anders als „tonal“ zu erfassen, sie also nicht linguistisch erklären zu können, kennzeichnet für Derrida den „Gestus im Sprechen“91. Der apokalyptische Diskurs ist daher für Derrida Bedingung für jeden anderen Diskurs, insofern in ihm schon vergangene Stimmen im Kommen sind, noch ausstehen. Er ist somit auch Garant dafür, dass wir uns in Erwartung auf anderes und neues eine Offenheit bewahren, die ein ethisches Fundament legt. Gerade die Ungewissheit, mit der wir doch zu rechnen wissen, schafft Raum für verantwortliches Handeln.

87 Ebd., S. 63. 88 Vgl. Despland, Michel: „On Not Solving Riddles Alone“, in: Harold Coward/Toby Foshay (Hg.), Derrida and Negative Theology, Albany NY: State University of New York Press 1992, S. 143-166, hier S. 157f. 89 J. Derrida: Apokalypse, S. 63f. 90 Th. Macho: Stimmen ohne Körper, S. 131. 91 J. Derrida: Apokalypse, S. 76.

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Stimme ist für Derrida sowohl Übergang und Verbindung als auch Trennung und Differenz. Wie das Schibboleth trennt und verbindet sie; sie schafft ein Gemeinsames oder markiert gerade einen Unterschied. Daher ist die Stimme nie an einem Ort; sie ist eine „Atopie“ (atopique). Derrida nennt dieses Ungreifbare einen „Wahnsinn der Stimme“ (folie de la voix)92. Mit der Stimme werden Verbindungen gelöst, um sogleich neue einzugehen. Insofern wird sie wie die Erzählstimme bei Blanchot zum Ort (oder Nicht-Ort) eines Neutralen, aus dem heraus sich ein Kommendes eröffnet, das schließlich niemals neutral sein kann. Wie bei Lacan ist die Stimme Ursache eines fundamentalen Begehrens. Derridas Denken scheint demnach nicht nur geprägt von einer ursprünglichen Nachträglichkeit als Schrift, sondern ebenso durch die Stimme, die sich immer schon in die Schrift eingemischt hat. Die reine Schrift kann es ebenso wenig geben wie die reine Stimme.93 Die Vervielfältigung der Stimme, die ohne Ursprung ist, findet sich bei Derrida gerade auch im Text wieder. Etwa, wenn Derrida selbst betont mit vielen Stimmen (plus d'une voix) zu schreiben. Stimme und Schrift wirken zusammen, beeinflussen sich gegenseitig und erzeugen so eine Unentscheidbarkeit. Dabei gemahnt die Stimme nicht nur als vergangenabwesende; sie ist für Derrida insbesondere auch als Erwartung eines Zukünftigen zu betrachten. Diese genuin ethische Dimension deutet mit der Pluralisierung der Stimme zugleich den Übergang zum Politischen an.

92 J. Derrida: Auslassungspunkte, S.171. Derrida greift in Bezug auf das Schibboleth auf einen Ausdruck Jean-Luc Nancys zurück: partage (dt.: Teilung), das sowohl das Gemeinsame als auch die Trennung meint. Auch im Deutschen gibt es diese Doppeldeutigkeit. Vgl. J. Derrida, Schibboleth, S. 69. 93 Vgl. Zeillinger, Peter: „Das Ereignis als Symptom. Annäherung an einen entscheidenden Horizont des Denkens“, in: Peter Zeillinger/Dominik Portune (Hg.), Nach Derrida. Dekonstruktion in zeitgenössischen Diskursen, Wien: Turia & Kant 2006, S. 173-199, hier S. 183.

5. Stimme zwischen Literatur, Musik, Sprache und Bild (Deleuze)

5.1 D AS S TOTTERN

DER

S PRACHE

Von der Stimme des transzendenten Anderen bei Lacan und Lévinas über die Stimme, die sich bei Derrida aus der hierarchischen Beziehung zur Schrift löst und sich im Text vervielfältigt, lässt sich eine Verbindung zu Deleuzes Konzept einer Stimme ziehen. Nicht nur verliert die Stimme bei Deleuze ihren festen Bezugspunkt, sei es den des Subjekts, sei es den des Anderen; in einem stetigen Werden begriffen, besetzt sie auch immer mehrere Ort. Da sie sich nicht in festen Positionen niederlässt, wird sie – im Sinne Deleuze – zu einer ‚Linie‘. Als solche ist sie absolut autonom und kann sich mit allem in Verbindung setzen, das sie berührt. Deleuze versteht die Stimme zunächst weder in einem positiven noch in einem negativen Sinn. Je nach Wirkung kann sie vielmehr positive oder negative Folgen haben. Dabei durchzieht sie so verschiedene Bereiche wie die Literatur, die Musik, das Bild, das Denken, die Politik. Was die Literatur für Deleuze auszeichnet und weswegen er sich im Besonderen auf literarische Werke beruft, ist ihre Kraft, die Sprache selbst zu transformieren. Die Literatur erschafft die Sprache in der Sprache neu. Die schon vorgegebene Sprache wird hierbei nicht einfach imitiert, vielmehr wird die Vorgabe transformiert, um mit und in ihr Neues zu schaffen. Nicht die totale Freiheit des literarischen Schaffens, frei von jeglichen Grenzen und Vorgaben, ist dabei das, was Deleuze im Sinn hat. Es geht im Gegenteil darum, Grenzen auszuweiten, sie zu verändern. Deleuze nennt dies mit Marcel Proust die ‚Schaffung einer Fremdsprache in der Sprache‘, einer neuen Sprache in der gewohnten und übernommenen Sprache.1 So erst wird sie von innen her auf ihre eigenen Grenzen

1

Vgl. Deleuze, Gilles: Kritik und Klinik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 9.

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gerichtet, werden „neue grammatikalische oder syntaktische Mächte zutage“2 gefördert. Die Sprache wird in ein ‚Delirium‘ versetzt. Gerade hierin liegt die Kreativität des Schreibens. Ein solches Schreiben ist von „einer Unmöglichkeit“ begleitet, wie Deleuze über Kafka sagt: „Ein Schöpfer ist jemand, der seine eigenen Unmöglichkeiten schafft und gleichzeitig Mögliches.“3 Unmöglich ist das Schreiben deshalb, weil die Fremdsprache gerade in der Sprache entsteht, also nicht von außerhalb kommt, sondern die von einer Sprachgemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt verwendete Sprache von innen her aufbricht. Möglich ist der Literatur dies aber nur, weil die Sprache selbst sich schon auf ihre Grenzen zubewegt und eben kein abstraktes Sprachsystem mit festen grammatikalischen, syntaktischen Regeln darstellt. Sprache impliziert für Deleuze ihre eigenen Aussetzer, Störungen, Brüche. Literatur soll diese Irritationen provozieren. Nicht nur „die Meisterwerke der Literatur“ sind in einer Fremdsprache geschrieben, schon die Sprache als solche ist von einem „Hauch von Wahnsinn“4 durchzogen. Was Deleuze vom Schriftsteller verlangt, ist einer Schizophrenie ähnlich, die das Paradoxe der Situation aussteht. Das Eigene und Vertrauteste, die Muttersprache, soll verstoßen werden und zugleich als Basis dienen für die kreative Schöpfung einer fremden Sprache in ihr.5 Die Sprache ist damit in ein ‚Werden‘ versetzt, das sich durch einen besonderen Stil auszeichnet. Der Stil soll „die Worte öffnen, die Dinge aufbrechen, damit sich Vektoren herauslösen“ 6. Wie bei Derrida schreibt der Autor des Textes nicht mit eigener Stimme; er ist durchzogen von „Fluchtlinien“7, die ihn schreiben machen und die ihn als Urheber des Textes aus dem Zentrum rücken. Das Schreiben kann nicht auf eine Stimme oder bestimmte Stimmen zurückgeführt werden, denn es ist ein gewaltiger Produktionsprozess, ein ständiges „Fließen“ oder „Strömen“8, in dem sich die Stimmen vermengen. Zwei Beispiele zeigen, was Deleuze unter einer solchen Produktion, einem Werden der Sprache versteht: der Autor Louis Wolfson, der seit der Kindheit an Schizophrenie litt und 1970 Le schizo et les langues veröffentlichte sowie die Figur Bartleby aus Herman Melvilles Erzählung Bartleby, the Scrivener (1953).

2

Ebd., S. 9.

3

Ebd., S. 194.

4

Ebd., S. 97.

5

Vgl. ebd., S. 17.

6

Ebd., S. 195.

7

Ebd., S. 195.

8

G. Deleuze/F. Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 172.

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Wolfson sucht zwanghaft nach sprachlichen Neuschöpfungen. Er übersetzt Aussagen in seiner Muttersprache stets in eine von ihm erfundene Fremdsprache und schafft damit einen Bruch. Für Deleuze liegt daher keine wirkliche Produktion von Neuem vor. Wolfson kreiert keine Sprache in der Sprache, sondern stellt Muttersprache und Fremdsprache nebeneinander. Die Übersetzung ist dabei abhängig von der Vorstellung einer Ähnlichkeit von Laut und Sinn.9 Bartleby hingegen ist für Deleuze ein ausgezeichnetes Beispiel für die wahre Produktion einer Fremdsprache in der eigenen Sprache. Er transformiert die Sprache selbst und treibt sie an ihre äußerste Grenze. Es sind keine lauten Ausbrüche, sondern seine „geduldige[n], tonlose[n] Stimme“10, die an den Rand des Sagbaren, des Erträglichen und Verstehbaren führt. Gerade die Stimme ist dafür prädestiniert, „Variationen der Sprache“ zu erzeugen, die Sprache in die Spannung auf „ein Außen“11 zu setzen, denn sie gehört einerseits zur Sprache, ist aber andererseits von ihr unabhängig. Damit charakterisiert Deleuze den Stil als das, was auch die Stimme für Lévinas, Lacan und Derrida auszeichnet: eine Zugehörigkeit zur Sprache, die jedoch nicht absolut ist, da ein Bezug zum ‚Außen‘ der Sprache immer mitgedacht ist. Insofern ist es für Deleuze der Stil (oder die Stimme als Stil), die sowohl die Trennung als auch den Übergang bezeichnet.12 Doch wie zeigt sich der Stil nun konkret im Schreiben? Was genau bedeutet es, eine Fremdsprache in der Sprache zu schaffen? Deleuze charakterisiert die auf ihr Außen gespannte Sprache als eine stotternde Sprache. Dieser Stil des Stotterns meint weder die Nachahmung des Stotterns im Text noch die explizite Kennzeichnung des Stotterns. Vielmehr soll, so Deleuze, die Sprache selbst zu stottern anfangen. Nicht die literarische Figur stottert, sondern der Schriftsteller muss zum ‚Stotterer‘ seiner eigenen Sprache werden beziehungsweise muss sich selbst von der Sprache stottern lassen. Er drückt keine inneren Zustände aus; er nimmt die in der Sprache zirkulierenden Affekte passiv auf, um sie aktiv umzusetzen: „Es ist nicht mehr die Person, deren Rede stottert, vielmehr wird der Schriftsteller zu einem Stotterer der Sprache: Er lässt die Sprache als solche ins Stottern geraten. Eine affektive, intensive Sprache, und nicht länger eine Affektion dessen, der spricht.“13

9

Vgl. G. Deleuze: Kritik und Klinik, S. 29.

10 Ebd., S. 95. 11 G. Deleuze: Unterhandlungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 205. 12 Vgl. ebd., S. 237. 13 G. Deleuze: Kritik und Klinik, S. 145.

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Das Stottern findet auch als Stimme statt, aber nicht als Stimme eines Subjekts, dessen Rede durch ein zusätzliches stotterte er präzisiert wird und auch weniger durch ein Stottern, das im Schreiben ‚gemacht‘ wird (wie etwa st t t ott te te t t tee er). Vielmehr löst sich die Stimme sowohl von ihrer Beschreibung als auch von ihrem scheinbaren Träger und infiziert die Sprache als ganze.14 Dabei kann sie einem Subjekt verbunden sein, muss es aber nicht. Überhaupt scheint sich die Stimme bei Deleuze von einer anthropozentrischen Perspektive zu entfernen. Nicht nur sieht er eine medialisierte und technisierte Stimme am Werk, deren Unheimlichkeit hervorgerufen wird durch die verlorengegangene Verbindung mit dem Körper. Auch ist die Stimme bei Deleuze von vornherein nicht notwendigerweise an eine menschliche Körperlichkeit gebunden. Bei Melville beispielsweise verbinden sich eine murmelnde Stimme mit dem „Raunen der Wälder oder Höhlen“, mit der „Stille des Hauses“ und der „Gegenwart der Gitarre“. Bei Kafka ist es das Piepsen Gregor Samsas, das durch das „Zittern seiner Beinchen und den Schwingungen seines Körpers bestätigt“15 wird. Im Vergleich mit Derrida vervielfältigt und verkompliziert sich bei Deleuze das Verhältnis von Stimme und Text. Es geht nicht mehr nur um die Erzählstimme als eine vom Autor unabhängige Instanz und nicht mehr nur um die Stimmen im Text, die nicht lokalisierbar sind, sondern auch um die Thematisierung einer physischen Stimme. So konzentriert sich Deleuzes Untersuchung neben dem Stil, der die Sprache als solche ergreift, ebenso auf die im Text gesprochenen Stimmen, etwa die Gregor Samsas. Diese ist keine ausschließlich dem Subjekt gehörende Stimme; sie berührt vielmehr die Dinge der Welt und trägt ihren Klang gerade auch dann noch in sich, wenn sie zum sprechenden Subjekt zurückfindet. Gregor Samsas Piepsen, die Deformation der menschlichen Stimme in eine andere Stimme, kommt einem Stottern gleich, das die Sprache „denaturiert“16. In dieser Transformation scheint die Musikalität der Sprache auf. Sprache ist nicht einfach die Aneinanderreihung von Lauten, sondern schließt ein genuin Musikalisches ein, das auch in Deleuzes ‚Stottern‘ der Sprache zum Vorschein kommt. Es scheint, als komponiere der Schriftsteller den Text nach nicht vorgegebenen Maßstäben, nach ihm nicht selbst schon vorher bekannten Mustern. Hierzu zitiert Deleuze Kleist, der von sich sagt: „Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche auch wohl

14 Vgl. ebd., S. 145. 15 Ebd., S. 145f. 16 Ebd., S. 100.

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eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre.“17 Auch hier ist der Grenzgang zwischen bewusster Sprachverwendung und passivem Geschehenlassen entscheidend, der schmale Grat, der das Literarische kennzeichnet.

5.2 D IE S TIMME ,

DAS

W ERDEN

Die Sprache an ihre eigenen Grenzen zu treiben, sie in ein Werden zu versetzen und dort Neues zu schaffen, das ist nur möglich, da die Sprache selbst schon alle Voraussetzungen dafür mit sich bringt. Deleuze verwirft die Vorstellung eines einheitlichen Sprachsystems mit festem Regelwerk, einem System, das keine Änderungen und Prozesse zulässt. Sprache im Sinne Deleuzes verbindet eine Vielzahl unterschiedlicher variabler Komponenten, die kein Ganzes ergeben, sondern ständig im Wandel begriffen sind, gleich einem fortwährenden Spiel von Kräften. Es ist ebenso ein Spiel um die Besetzung von Machtpositionen, die es erlauben, Konventionen festzulegen. Gegen diese Bestimmungen regen sich wiederum Kräfte, die die Konventionen brechen oder zumindest gefährden und die Sprache so in einem Wandel halten. Wenn es überhaupt so etwas wie ein homogenes System der Sprache gibt, dann ist dessen Zustand nicht von Dauer. Das „Regime der Sprache“ bestimmt das „Sagbare“, das nur für eine gewisse Zeit gilt, eben solange bis die Variationen der Sprache das „homogene System“ stürzen und in ein anderes homogenes System überspringen lassen; „die Sprache“, so Deleuze, „befindet sich immer im Ungleichgewicht“ 18. Das Stottern hat damit seinen Sinn nicht in sich selbst, sondern soll die Sprache zum Stottern bringen. Dadurch ist eine Bewegung angestoßen, die die Sprache insgesamt ein Werden sein lässt.19 Eben dies versteht Deleuze auch als seine Aufgabe: In der Sprache und mit der Sprache Neues schaffen. Dabei ist der Prozess der Hervorbringung des Neuen wichtiger als das neue und fertige Produkt

17 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 520. Vgl. von Kleist, Heinrich: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, Band 2, hg. von Helmut Sembdner, München: Carl Hanser 1993, S. 320. 18 G. Deleuze: Unterhandlungen, S. 139. Inspiriert ist Deleuze in seiner Konzeption der Sprache als heterogenes Ungleichgewicht von Foucault, der mit seiner „Theorie der Aussage“ eine „Konzeption der Sprache als heterogenes und ungleichgewichtiges Ensemble“ darlegt. Zudem formiere die Theorie der Aussage bei Foucault neue „Aussagetypen in allen Bereichen“. (Ebd., S. 218). 19 Vgl. G. Deleuze: Kritik und Klinik, S. 134.

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selbst.20 Die Sprache in ein Werden zu überführen, dies geschieht für Deleuze vor allem in der Literatur, als stotternde, zitternde Stimme, als Stimme, die die Sprache verändert. Sie durchzieht dabei die ganze Sprache und ist nicht nur Stimme im Sprechen. Sie steht für eine unbegrenzte Vervielfältigung der Sprache, jedoch nicht im Sinne einer Schaffung unterschiedlicher Sprachen. Die Stimme vervielfältigt die eine Sprache selbst. Die Schaffung einer Fremdsprache in der eigenen Sprache ist auch die Schaffung von Literatur.21 Deleuze macht sich deshalb eine ‚kleine Literatur‘ (littérature minoritaire) zur Aufgabe: Jeder Sprache könne eine Literatur abgezwungen werden, „die fähig ist, die Sprache auszugraben“22. Die Sprache mit Hilfe der Literatur ‚ausgraben‘, das ist nur möglich, so Deleuze, wenn man zum einen die Sprache selbst vervielfältigt, eine Vielsprachigkeit in der Sprache entstehen lässt, und zum anderen einen ‚minderen‘ (minoritaire) Gebrauch von der Sprache macht.23 Die Vielsprachigkeit wendet sich gegen die Hierarchisierung der Sprache, an deren Ende die standardisierte Hochsprache steht. Deleuze formuliert diese Forderung als Forderung nach einem Gewirr von unzähligen Stimmen, in dem nicht festgestellt werden kann, welche Stimme nun genau den Ton angibt. Nicht mehr bestimmt eine Stimme die anderen, vielmehr beeinflussen sich alle Stimmen gegenseitig, nehmen andere Stimmen in sich auf und leiten sie weiter. Gerade der ‚kleine‘ oder ‚mindere‘ Gebrauch der Sprache vervielfältigt die Stimmen und ermöglicht eine Vielsprachigkeit, die in der Lage ist, die standardisierte Sprache zu stürzen, sie aus einem statischen Zustand in den eines Werdens zu versetzen. Literatur, die dies umsetzt, ist deshalb eine ‚kleine Literatur‘, eine ‚Minderheitenliteratur‘ (littérature minoritaire). Diese spricht aber nicht (notwendigerweise) die Sprache einer wirklichen Minderheit, bedient sich keines Dialekts, keines Ideolekts etc., sondern zeichnet sich „durch die Art und Weise, wie sie die dominierende Sprache behandelt“24 aus. Die ‚kleine‘ Literatur ist somit in einem ständigen Prozess begriffen, der die Sprache in ein Werden überführt.

20 Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Anti-Ödipus, S. 173: „Jedes Geschriebene ist Sauerei – das heißt jede Literatur, die sich als Ziel nimmt oder sich Ziele fixiert statt Prozeß zu sein“. 21 Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 29. 22 Ebd., S. 29. 23 Vgl. ebd., S. 38f. 24 G. Deleuze: Kritik und Klinik, S. 76.

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Nicht das Subjekt setzt diesen Prozess in Gang. In einer ‚kleinen‘ Literatur löst sich sowohl der Autor als auch der Romanheld auf. Statt festen IchIdentitäten ist es bei Deleuze vielmehr ein „Strom“, der sich mit anderen „Strömen“ verbindet, überkreuzt und überlagert. Das Subjekt ist damit nicht abgeschafft, aber es geht fließend von einem Zustand in den nächsten über. Festhalten lässt sich das Subjekt daher nur als kurzes „Leuchten“25. Doch Deleuze konstatiert dies nicht lediglich als Tatsache, sondern fordert es als Aufgabe. So muss und soll von der festen Identität des Subjekts abgesehen werden, damit erst eine Fremdsprache in der Sprache geschaffen werden kann. Die eigene Aussage muss zu einer kollektiven Aussage werden. Der Einzelne spricht nicht mehr nur für sich, sondern wird zur ‚Meute‘. Er wird einer unter vielen; letztendlich wird es schwierig, ihn von dieser Kollektivität zu unterscheiden. Zwar spricht er mit einer Stimme, doch diese ist in eine Vielheit von Stimmen integriert. Kafkas Romanfigur ‚K‘ spricht mit eben dieser Stimme. Für Deleuze ist ‚K‘ „eine allgemeine Funktion, die aus sich selbst heraus wuchert [Herv. i.O.]“26. Deleuze begreift das Aufgehen in der „kollektiven Aussage“ als einen „Übergang vom einzelnen Tier zur Meute“, zu einer „kollektiven Vielzahl“27. Dieses Tier-Werden, das das Individuum zugunsten der Kollektivität aufgibt, ist im Schreiben mit einer besonderen Stimme verbunden. Vor allem in Kafkas Werken zeigt sich dieser Aspekt für Deleuze. Bei Kafka sind es besonders die kleinen Leute, Angestellte und Dienstmädchen, deren Aussagen keine individuellen Akte sind, sondern einer kollektiven Verkettung angehören.28 Dadurch kann Literatur, so Deleuze, zu einer „Angelegenheit des Volkes“ werden: „Die individuellste [Herv. i.O.] literarische Aussagenproduktion ist ein Sonderfall der

25 Ebd., S. 71. Deleuze schreibt hier: „Das Ich ist keine Beziehung, es ist ein Reflex, das kleine Leuchten, das ein Subjekt ausmacht, das Leuchten des Triumphs in einem Auge […] Aufhören, sich als Ich zu denken, um wie ein Strom zu leben, eine Vielzahl von Strömen, in Beziehung zu anderen Strömen außerhalb und innerhalb seiner selbst.“ 26 G. Deleuze/F. Guattari: Kafka, S. 117. Dazu schreibt Deleuze: „Die Abkürzung K. bezeichnet weder einen Erzähler noch eine Romanperson, vielmehr eine Verkettung“ (ebd., S. 27). 27 Ebd., S. 26. „Josefine, die singende Maus, verzichtet auf die individuelle Ausübung ihrer Sangeskunst, um aufzugehen in der kollektiven Aussage ‚der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes‘. Übergang vom einzelnen Tier zur Meute oder zur kollektiven Vielzahl: sieben musizierende Hunde.“ 28 Vgl. ebd., S. 90.

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kollektiven Aussagenproduktion.“29 Keine Aussage, sei es die des Autors, des Erzählers, der literarischen Figur, will Deleuze auf ein Subjekt als feststehende Entität zurückgeführt wissen. Auch eine Spaltung des Subjekts wie etwa bei Lévinas und Lacan und die Aufwertung des Subjekts des Aussagevorgangs weist Deleuze zurück. Denn das gespaltene (oder gedoppelte) Subjekt setzt immer noch ein Subjekt voraus und basiert nicht auf der für Deleuze fundamentalen kollektiven Aussagenverkettung, in der das Subjekt nur als ‚kurzes Leuchten‘ in einer Überlagerung von Aussagen vorkommt. Dennoch hebt Deleuze das Aussagen als Vollzug, als Akt des Sagens hervor und reiht sich damit ein in eine Reihe von Philosophen, die in der Performativität des Aussageakts die Grundlage von Sprachlichkeit sehen. Die Performativität im Sprechen entspringt für Deleuze aber nicht der Absicht des Subjekts, sondern gehört einer „Verkettung“30 an, aus der das Subjekt herausfällt. Das „aktive[...] [Herv. i.O.] Sichäußern“31, von dem Deleuze spricht, hat seinen Ursprung in der Verkettung, die sich – ohne Subjekt oder Urheber – in Gang setzt. Gerade in einer ‚kleinen Literatur‘ findet diese Verkettung ihren Ausdruck. Kafkas „unbegrenzte Romane“ heben für Deleuze nicht nur die Vormachtstellung des Subjekts auf, sie brechen ebenso mit der Konstellation eines „Duos“ (Zweierbeziehungen wie Mutter-Kind, Vater-Mutter, Mann-Frau) oder „Trios“32 (Dreierbeziehungen wie Vater-Mutter-Kind), in die das Subjekt eingebunden ist. Die Stimme im Sinne Deleuzes und vor allem in seinen Studien zu Kafka schließt sich diesen (psychoanalytischen) Strukturen nicht an. Gerade die „musikalische Stimme“, so Deleuze, ist in ein Werden eingebunden, das Dualitäten wie etwa die von männlich/weiblich hinter sich lässt, das keine Entscheidung für „Mann oder Frau“33 braucht. Eben dies wirft Deleuze in Bezug auf die verlautbarte Stimme in der Oper Verdi und Wagner vor: Sie hätten die Stimmen wieder Geschlechtern zugeordnet, wo die Stimme sich doch vielmehr im Übergang zwischen den Geschlechtern befinde.34 Das Subjekt, das bei Deleuze ersetzt ist durch einen Subjektivierungsprozess, lässt die Grenzen zwischen Tier, Mensch, Maschine verwischen. Es ist nicht einfach da, sondern muss produziert werden.35 Es ist „ein Ereignis“, eine „Individu-

29 Ebd., S. 116. 30 Ebd., S. 118. 31 Ebd., S. 118. 32 Ebd., S. 76. 33 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 414. 34 Vgl. ebd., S. 419. 35 Vgl. G. Deleuze: Unterhandlungen, S. 164.

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ierung“36. Da das Subjekt in eine Kollektivität eingebunden ist, entspricht es, so Deleuze, der Figur einer ‚dritten Person‘.37 Auch die Stimme erfährt dadurch eine Neubewertung. Die ‚dritte Person‘ ist für Deleuze ein ‚man‘, ein Plural im Singular, die Andeutung einer Vielzahl. So ist die sprachliche Aussage keinem isolierten Subjekt zuzuordnen, sondern entstammt einem „immense[n] ‚es gibt‘, in der dritten Person“38. Trotz der Betonung des Plurals und der Zurückweisung der Vorstellung einer ‚Person‘, geht Deleuze von einzigartigen Singularitäten aus.39 Was uns ausmacht, sind Ereignisse, die vorübergehen und uns angehen, die uns aber nicht gehören, wie etwa „ein Luftzug, ein Wind, ein Tag, eine Stunde des Tages, ein Fluß, ein Ort, eine Schlacht, eine Krankheit“40. Ereignisse wie diese sind entsubjektiviert; sie gehören zu uns ohne uns zu gehören, sind nicht beständig, sondern ändern sich und damit auch uns. Was wir ‚Subjekt‘ nennen, ist für Deleuze ein äußerst fragiles Gebilde, das von mannigfaltigen Ereignissen produziert und ständig im Wandel begriffen ist. Nicht das Subjekt der Äußerung zählt, sondern das „kollektive Äußerungsgefüge“41. Demgemäß ist auch die eigene Stimme schon durchsetzt von anderen Stimmen. Auch die Stimme im Text besteht, wie Deleuze zu Nietzsche kommentiert, aus mehreren Stimmen.42 Und doch fordert selbst Deleuze ein „Minimum an Subjekt“43, damit nicht alles in einem vernichtenden Chaos versinkt. Deleuzes radikal alternatives Konzept eines Subjekts geht nicht zurück auf eine ursprüngliche Einheit, sondern gründet sich in einer Vielfalt von Stimmen, die das Subjekt überhaupt erst evozieren.

36 Ebd., S. 143. 37 Vgl. ebd., S. 155. 38 Ebd., S. 167. Diese Position einer ‚dritten Person‘ erinnert nicht zufällig an Blanchots Erzählstimme und damit auch an Derrida, wenn er Blanchot hierin aufgreift und übernimmt. Blanchot charakterisiert die Fruchtbarkeit Kafkas Literatur als einen „Übergang vom Ich zum Er“ (Blanchot, Maurice.: Von Kafka zu Kafka, Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 73). 39 Vgl. G. Deleuze: Unterhandlungen, S. 206. Deleuze nennt diese Singularitäten mit einem Begriff von Duns Scotus ‚Haecceitäten‘. 40 Ebd., S. 205f. 41 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 360. 42 G. Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 141. 43 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 368.

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5.3 D ETERRITORIALISIERUNGEN (S TIMME

UND

M USIK )

Der Sinn ist das, was nach Deleuze eine Sprache dazu befähigt, Bedeutungen zu generieren. Er meint weder den gesunden Menschenverstand (bon sens) noch den Gemeinsinn (sens commun), noch ist er die Bedeutung hinter den Zeichen; vielmehr ist er Voraussetzung für das Funktionieren von Sprache. Für Deleuze steht dieser Sinn nun in enger Verbindung mit der Stimme. Sprache, so Deleuze, beginnt dort, wo die Stimme autonom wird, wo sie sich vom Körper trennt, wo sie sich ‚deterritorialisiert‘. Der Sinn macht die Trennung der Stimme vom Körper möglich; er unterscheidet sie von den Körpergeräuschen. Nur wenn die Stimme, von einem Körper stammend, sich von diesem trennt, kann sie als Stimme wahrgenommen werden.44 So formuliert Deleuze: „Die Sprache zu ermöglichen bedeutet: die Vermischung der Töne mit den Tonqualitäten der Dinge, mit der Geräuschkulisse der Körper, mit ihren Aktionen und Passionen verhindern.“45 Deleuze spricht hier zwar von der Unabhängigkeit der Töne und erwähnt an dieser Stelle nicht explizit die Stimme, doch ist es vor allem auch die Stimme, die, indem sie Ton oder Klang wird, kein bloßes Geräusch eines Körpers mehr ist. In der Stimme als Ton findet so die grundlegende Verschiebung statt. Die Unabhängigkeit der Stimme vom Körper bedeutet nicht, dass diese sich der Sprache unterordnen muss. Deleuze sieht die Stimme auf einer Ebene mit der Sprache, ohne dass die Stimme in der Sprache einfach aufgeht. Somit kann es für Deleuze auch kein Vorsprachliches oder Vorursprüngliches geben, denn die Stimme findet – obgleich sie nicht Sprache ist – im selben Augenblick wie die Sprache statt. Eine transzendente Stimme gibt es für Deleuze nicht. Anders hingegen im psychoanalytischen Diskurs: dort wird die Stimme, so Deleuze, als eine ‚Stimme der Höhe‘ gedacht, als Stimme des Vaters, des Gesetzes, als Stimme Gottes. Sie verbleibt dabei in einem Vorstadium, in dem sie noch nicht sprachlich ist, in einem ständigen Zustand des Wartens darauf, eine Sprache zu werden.46 Für Deleuze hingegen ist das Ereignis der Grenzziehung von Stimme

44 Vgl. G. Deleuze: Logik des Sinns, S. 121. 45 Ebd., S. 226. 46 Vgl. ebd., S. 240: „Die Stimme verfügt noch nicht über die Univozität, die aus ihr eine Sprache machen würde, und bleibt, da sie Einheit nur durch ihre Höhe, Erhabenheit aufweist, in die Äquivokation ihrer Bezeichnungen, die Analogie ihrer Bedeutungen, die Ambivalenz ihrer Manifestationen verstrickt. […] Sie ist zugleich Objekt, das Gesetz des Verlustes und der Verlust. Sie ist die Stimme Gottes als Über-Ich, jene, die verbietet, ohne daß man wüßte, was verboten wird, da man dies erst durch die Strafe

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und Geräusch auf einer Ebene mit der Sprache zu verstehen. Besteht keine Trennung vom Körper, wirkt die Stimme – die ‚Stimme der Tiefe‘ – unmittelbar auf jenen ein. Deleuze bezeichnet dies als die schizoide Phase der Stimme. In der depressiven Phase hingegen ist die Stimme zwar getrennt vom Körper, spricht aber, so Deleuze, aus der ‚Höhe‘. Sie ist präexistent, eine Stimme vor dem Sprechen. Dies stelle die Situation in der Psychoanalyse dar.47 Im Gegensatz zur Psychoanalyse versteht Deleuze die Stimme gerade nicht hierarchisch. Sie ist vielmehr Stimme der Immanenz, der Univozität. Von Anfang an, ‚mit einem Schlag‘ gibt es viele, hierarchisch gleichgestellte Stimmen. Die Verweigerung einer hierarchischen Struktur kennzeichnet Deleuzes Umkehrung des Platonismus. Er versucht nicht, der platonischen Privilegierung der ‚Höhe‘ eine ‚Tiefe‘ entgegenzusetzen. Die „Entmachtung der Ideen“ bedeutet keine „Inthronisierung der Körper“48, vielmehr geht es um ein produktives Schaffen von Realitäten. Die Differenz ist von Anfang an ohne einen VorUrsprung, von dem aus eine Stimme erklingen würde. Sprache kommt weder von einer Stimme über uns, noch entstammt sie einer Tiefe; sie breitet sich vielmehr auf einem Immanenzfeld aus. Nicht die Stimme des Vaters initiiert die Sprache, sondern die ‚Oberfläche‘ sondert die Stimme von anderen Geräuschen.49 Diese „Oberflächeneffekte“ machen Sprache möglich. Die Stimme muss getrennt werden von den Körpern, von den Dingen, von den Sprechenden. Sprache wird „ermöglicht durch die Grenze, die sie von den Dingen, den Körpern und nicht minder von den Sprechenden trennt“50. Dies ist nach Deleuze nur auf einer Ebene ohne ‚oben‘ und ‚unten‘ möglich. Hinter der Stimme steht keine Person, kein Subjekt; sie ist autonom. Was Deleuze über das Ereignis schreibt, trifft auch auf die Stimme zu: „Das Ereignis existiert nicht vor ihr [der Sprache, Anm. S.T.], insistiert aber vorgängig in ihr und verschafft ihr so Grundlage und

erfahren wird. Das Paradox der Stimme (das zugleich die Unzulänglichkeit aller Theorien der Analogie und der Äquivozität kennzeichnet) ist folgendes: Sie verfügt über die Dimensionen einer Sprache, ohne über deren Bedingung zu verfügen, sie wartet auf das Ereignis, die aus ihr eine Sprache machen wird. Sie ist nicht mehr Geräusch und noch nicht Sprache.“ 47 Vgl. ebd., S. 240. 48 Balke, Friedrich: Gilles Deleuze, Frankfurt a.M.: Campus 1998, S. 36. Diese Bewegung, so erläutert Balke, geht auf die Stoiker zurück. Dort ist der Sinn auf der Oberfläche, d.h. auf einer Ebene mit allem anderen. Die Wirkungen lösen sich von den Substanzen und werden ‚Unkörperliche‘ (incorporels). (Vgl. ebd., S. 36). 49 Vgl. G. Deleuze: Logik des Sinns, S. 207. 50 Ebd., S. 208.

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Bedingung.“51 Deleuze, der eine Philosophie des Ereignisses propagiert, stellt damit auch die Stimme ins Zentrum, die ein Werden, eine „unvorhersehbare Erfindung, ein fast unmerkliches Ausscheren“52 bedeutet. Daher rührt Deleuzes Betonung der Univozität, der Einstimmigkeit des Seins. Univozität bedeutet für Deleuze, dass „alles Seiende [...] vielfach und different“53 ist. Zugleich aber kann dieses Vielfache nicht verglichen werden. Es gibt keine Analogie, kein Original, das der Kopie gegenübergestellt werden könnte. Das Sein selbst ist univok. Das heißt, dass „das Sein Stimme ist, daß es sich sagt und sich in einem einzigen und selben ‚Sinn‘ all dessen sagt, wovon es sich sagt“54. Grundlegend für die Univozität ist ihr Ereignischarakter, der das Gesagte mit dem Akt des Aussagens zusammenfallen lässt. Daher ließe sich behaupten: Die Univozität ist die Performativität par excellence. Nicht zufällig spricht Deleuze in diesem Zusammenhang von ‚Stimme‘. Die Stimme vereint Ereignis und Sinn: „Die Univozität bedeutet, daß das, was eintritt und sich sagt, dasselbe ist: das Attribuierte aller Körper oder Dingzustände und das Ausdrückbare aller Sätze. Die Univozität bedeutet die Identität des noematischen Attributs und des sprachlichen Ausgedrückten: Ereignis und Sinn.“55 Deleuze entwirft die Stimme als „Einheitsgrund“56. Damit aber ist sie nichts anderes als die Grenzziehung, die Dinge voneinander unterscheidbar macht, ohne jedoch, im Sinne Deleuzes, hierarchische Beziehungen aufzustellen. Wie bei Lévinas und Lacan ist die Stimme der Sinn, der sich ‚mit einem Schlag‘ gibt, der also keine chronologisch ablaufende Zeitlichkeit kennt, sondern immer schon da ist ohne auf einen Ursprung der Sinnsetzung zurückzugreifen. Anders als Lévinas und Lacan aber negiert Deleuze gerade jede Transzendenz. Auch die Stimme in der Literatur, die Erzählstimme, „überragt“ das Werk nicht, wie Blanchot formuliert. Wie bei Blanchot ist Deleuzes Stimme keine, die „unter dem Schutz einer höheren Transzendenz“57 steht. Lévinas als Philosoph der

51 Ebd., S. 226. 52 F. Balke: Gilles Deleuze, S. 32. 53 G. Deleuze: Logik des Sinns, S. 223. Der Begriff der Univozität geht zurück auf Duns Scotus. 54 Ebd., S. 223. 55 Ebd., S. 224. 56 Michaela Ott weist in ihrem Einführungsband zu Deleuze eben darauf hin: „Die Stimme als Einheitsgrund kennt keine Hierarchie von seelischen und körperlichen Ausdrucksformen, sondern nur mannigfaltige und damit lebensbejahende Artikulation.“ (Dies.: Gilles Deleuze zur Einführung, Hamburg: Junius 2005, S. 63). 57 M. Blanchot: Von Kafka zu Kafka, S. 148f.

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Transzendenz und Alterität ließe sich somit Deleuze als Philosoph der Immanenz und der Differenz gegenüberstellen. Während sich der Sinn bei Lévinas auf ein Gutes jenseits des Seins bezieht, ist er bei Deleuze nicht in gleicher Weise von oben vorgegeben.58 Die Stimme befindet sich auf einer Immanenzebene, auf gleicher Ebene mit allem anderen; sie ist als Univozität die Differenz selbst. Zugleich gliedert sich ihre Vielfältigkeit keiner Hierarchie ein.59 Und doch wirken sowohl die transzendente Stimme des Anderen als auch die univoke Stimme als Differenzsetzung und Grenzziehung. Insbesondere in der Literatur sieht Deleuze eine Stimme am Werk, die sich einer Unterscheidung in eine phänomenale und eine metaphorisch verstandene Stimme widersetzt: die univoke Stimme des permanenten Werdens. Die Stimme löst sich weitgehend vom Sprechen und erlangt im Text eine musikalische Tragweite. Das Musikalisch-Werden der Sprache im Schreibprozess bezeichnet Deleuze als intensive Verwendung von Sprache. Gerade ihre Klangmacht zeichnet die Wirkung der Stimme aus. Nicht die Artikulation, ihre Musikalität ist von Bedeutung. Die Stimme, so Deleuze, „verweist auf die Musik mit ihren auditiven Entsprechungen (das Ohr selber ist ein Ritornell, es hat die Form eines Ritornells). Musik ist eine Deterritorialisierung der Stimme, die immer weniger sprachlich wird“60. Es geht Deleuze um den Einsatz einer deterritorialisierten Stimme in der Literatur, die für sich eine gewisse Autonomie dem Sprechen gegenüber behauptet. In Kafkas Erzählungen (z.B. Josefine, die Sängerin oder Die Verwandlung), so legt Deleuze dar, begleitet oder bestimmt der Klang oft eine Bewegung, eine Geste oder eine Handlung.61 Nicht nur ist damit eine Entfremdung zwischen Stimme und Sprechen geschaffen, auch die Romanfiguren werden durch die Klangwirkung verändert; sie verlieren ihren rein menschlichen (Gregor Samsa in

58 Leonard Lawlor formuliert dies in seinem Aufsatz zu Lévinas und Deleuze. Er gibt allerdings auch zu bedenken, dass sich die anfänglichen Unterschiede bei genauerer Betrachtung immer mehr verwischen. (Ders.: „Dieu et le concept: une petite comparaison de Levinas et Deleuze à partir de Bergson“, in: Frédéric Worms (Hg.), Annales bergsoniennes II. Bergson, Deleuze, la phénoménologie, Paris: Presses Universitaires de France 2004, S. 442ff.). 59 Vgl. Ruf, Simon: Fluchtlinien der Kunst. Ästhetik, Macht, Leben bei Gilles Deleuze, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 117: Gerade die Kunst „wächst mitten zwischen den Dingen“ und entstammt eben nicht einem transzendenten Jenseits des Seins. 60 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 412. 61 Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Kafka, S. 9.

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Die Verwandlung) oder rein tierischen (Josefine in Josefine, die Sängerin) Status. Neben dem äußeren Erscheinungsbild zeigt gerade die Stimme diese Veränderung an. Die Stimme zeugt also nicht nur von den Grenzen des Sprechens, sondern auch von den Grenzen des Menschseins. Für Deleuze steht sie deshalb in enger Verbindung mit einem Tier-Werden. Im Falle der Sängerin Josefine ruft dieses Werden eine unerklärlich faszinierende Wirkung hervor, im Falle Gregor Samsas Befremden und Entsetzen über den allmählichen Verlust der menschlichen Stimme und des Sprechens. Gerade an Gregor Samsa zeigt sich, dass die Stimme nicht nur das Sprechen ermöglicht, sondern es auch wieder zerstören kann.62 Zugleich drängt die Stimme an ihre eigenen Grenzen. Wie weit kann sich der Klang der Stimme entfernen bevor er nur noch Geräusch ist? Mit der deterritorialisierten Stimme, der Stimme an den Rändern der Sprache, stellt sich nicht nur die Frage ‚Wer spricht?‘ neu, sondern ist zugleich die Voraussetzung für das Menschsein und das Sprechen in Zweifel gezogen. Es geht nicht mehr um die Bedeutung und Artikulation von Worten, vielmehr dient die Stimme dazu, Emotionen hervorzurufen: Befremden, Entsetzen, Grauen und Angst, aber auch Entzücken, Faszination, Bewunderung und Freude. Was die Stimme in diesem Zusammenhang für Deleuze auszeichnet, ist wohl vor allem ihre Möglichkeit, sowohl asignifikant als auch asubjektiv zu sein.63 So widersetzt sie sich beispielsweise im Schrei einer bedeutungsgebenden Artikulation. Die Stimme basiert auf einem „intensiven, klanglichen Rohstoff“64. Aus der Stimme im Sprechen löst sich eine Stimme, die schreit, heult, krächzt und piepst. Gerade „die Stimme“, so betont Deleuze, „scheint ein viel stärkeres Vermögen zu haben, deterritorialisiert zu werden“65. Das bedeutet, so lässt sich schlussfolgern, dass die Stimme in ihren Deterritorialisierungen neue Grenzen und Räume erschließt, festsetzt und wieder auflöst. Zugleich geht von der Stimme nicht nur eine Kraft zur kreativen Neuschöpfung aus, sie kann ebenso zu einer Gefahr, ja einer „faschistischen Gefahr“, werden. Denn die Musik übt gleichfalls eine „kollektive Faszination“ aus: „Musik (Trommeln und Trompeten) zieht Völker und Armeen in ihren Bann, sie kann sie sogar bis in den Abgrund mitreißen, und zwar viel eher als Banner und Fahnen, die Bilder, Mittel zur Einteilung und Erkennung sind.“66

62 Vgl. ebd., S. 10: Das Piepsen Gregor Samsas zerstört „den Nachklang der Worte“. 63 Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 412. 64 G. Deleuze/F. Guattari: Kafka, S. 11. 65 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 412. 66 Ebd., S. 412f.

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Das Musikalisch-Werden der Stimme ist mit einer ihr wesentlichen Klangmacht verbunden. Die Stimme soll, so Deleuze, nicht vom Instrument begleitet werden, sondern ebenso „wie das Instrument“67 spielen. Es geht ihm dabei nicht darum, dass die Stimme Noten trifft und hält. Wichtig ist die Klangfarbe der Stimme, das, was nicht im Notationssystem verzeichnet werden kann.68 Obwohl Deleuze die Stimme mit der Musik in Verbindung bringt, ‚macht‘ die Stimme für ihn keine Musik. Der Klang der Stimme entspricht keiner organisierten und durchkomponierten Musik. Vielmehr ist der Klang eine „ungeformte Ausdrucksmaterie“69, eine Materie also, die niemals feste Form annimmt, sondern offen bleibt, sich zu entwickeln. Daher fällt der Klang weder mit der Musik noch mit der Artikulation zusammen. Als rein lautliches Material behält er seine Unabhängigkeit gegenüber beiden. Als eine sich im Werden befindende Lautlichkeit durchschneidet die Stimme „die organisierte Musik“ wie auch die „Sinnsprache“70. Dies zeigt sich beispielsweise in Gregor Samsas piepsenden Worten: als eine Stimme, die Laut ist, der sowohl das Musikalische wie die sinnhafte Sprache stört.

5.4 S TIMME

UND

B ILD , B ECKETT

UND

K INO

Wie wichtig literarisches Schaffen für Deleuzes eigenes Denken ist, wurde bereits dargelegt. Mit Becketts Werk nun findet Deleuze in L’épuisé (1992) den Übergang vom Text zum Bild, zum bewegten Bild, zum Film. Gerade in Becketts – allerdings nicht sonderlich bekannt gewordenen – Fernsehstücken sieht Deleuze eine fruchtbare Verbindung von Stimme und Bild. Deleuze unterscheidet drei Sprachen in Becketts Werk.71 Die erste Sprache (langue I) ist eine Sprache der Namen, die zweite Sprache (langue II) eine Sprache der Stimmen, die dritte Sprache (langue III) eine Sprache, die die Sprachen I

67 Ebd., S. 135. Deleuze bezieht sich hier auf Visage (1961) von Luciano Berio und auf Glossolalie (1959/1960) von Dieter Schebel (*1930). Berio (1925-2003) war ein italienischer Komponist, der in seinem Stück Visage Aufzeichnungen einer Stimme miteinbezieht. Schnebel ist ein deutscher Komponist, der in Glossolalie mit unterschiedlichen Dimensionen der Stimme experimentiert. 68 Vgl. Jäger, Ludwig: Gilles Deleuze. Eine Einführung, München: Fink 1997, S. 191. 69 G. Deleuze/F. Guattari: Kafka, S. 11. Vgl. auch S. Ruf: Fluchtlinien der Kunst, S. 63f. 70 G. Deleuze/F. Guattari: Kafka, S. 30. 71 Vgl. G. Deleuze: L’épuisé, Nachwort in: Samuel Beckett: Quad et autres pièces pour la télévision, Paris: Minuit 1992, S. 66ff.

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und II hinter sich lässt und an ihre eigenen Grenzen geht: „Il y a donc une langue III [Herv. i.O.] qui ne rapporte plus le langage à des objets énumérables et combinables, ni à des voix émettrices, mais à des limites immanentes qui ne cessent de se déplacer, hiatus, trous ou déchirures“.72 Alle drei Sprachen sind für Deleuze von Bedeutung, die dritte Sprache nimmt aber einen besonderen Stellenwert ein, da sich in ihr Stimme und Bild verbinden. Sind die Stimmen in Sprache II noch an Personen gebunden und erzählen sie deren Geschichten, so lösen sich die Stimmen in Sprache III davon. Deleuze möchte mit der Sprache III ein, wie er es nennt, ‚Auslöschen‘ oder ‚Versiegen‘ der Stimmen erreichen. Dies hat jedoch kein Verschwinden, sondern gerade eine neue Autonomie der Stimme zur Folge. Die Stimme, die dort spricht, ist eine Stimme, die wie in den von Deleuze untersuchten Filmstücken an keine Person gebunden ist, die sich als aufgezeichnete Stimme mit einer Maschine verbindet. Doch schon in den Sprachen I und II zeigt sich eine Stimme, die gleich der Erzählstimme bei Derrida keinem Autor zugeordnet werden kann, eine Stimme ohne Subjekt.73 Wie bei Derrida besteht das Gespenstische dieser Stimme in ihrer Ortlosigkeit, im Fehlen einer eindeutigen Erzählerinstanz. Sie wird vielmehr von mehreren Positionen aus zugleich laut.74 In Becketts Theaterstücken haben die Figuren zwar Stimmen, doch diese scheinen merkwürdig entfremdet, als gehörten sie nicht zu ihren Sprechern. Diese irritierende Ortlosigkeit der Stimmen steht in einer Spannung zum Anspruch einer unbedingten Zugehörigkeit der Stimmen. Gerade dadurch, dass die Stimme keine feste Instanz beherbergt, konfrontiert sie unablässig mit der Frage nach dem Subjekt. Sie steht zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem klar definierten Ort und der absoluten Ortlosig-

72 Ebd., S. 69. 73 So formuliert es beispielsweise auch Simon Critchley, der sich dabei auf Blanchots ‚Erzählstimme‘ bezieht: „That is – and this is Blanchot’s hypothesis – in Beckett’s work we approach an experience, a literary [Herv. i.O.] experience, that speaks to us in a voice that can be described as impersonal, neutral or indifferent: an incessant, interminabe and indeterminable voice that reverberates outside of all intimacy, dispossessing the ‚I‘ and delivering it over to a nameless outside.“ (Ders.: Very little... almost nothing. Death, Philosophy, Literature, London/New York: Routledge 1997, S. 172f.). 74 Simon Critchley macht auf das Gespenstische oder Phantomhafte dieser Stimme mit Bezug auf Blanchot aufmerksam: „The narrative voice is like some specter that lingers in the background of our everyday identity, disturbing the persistent ‚I‘ of our monologues and dialogues […]“ (Ders.: Very little... almost nothing, S. 174).

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keit. Die Stimme gehört nicht zu einem Subjekt, aber in ihrem Lautwerden umreißt sie es.75 Daher bewahrt die Stimme auch vor jener Sinnlosigkeit, die das Ende des Sprechens bedeuten würde. Nicht das Subjekt bestimmt die Stimme, sondern die Stimme bestimmt die Grenzen, in denen das Subjekt ist. Gerade weil es keine endgültige Bedeutung, keine Wahrheit hinter den Worten gibt, ist das Lautwerden der Stimme der Sinn schlechthin. So formuliert auch Simon Critchley: „‚We have to talk‘. Beckett’s deeper truth is that given the absence of meaning, the story continues, the voice carries on speaking […]“76 Wie schon bei Derrida ist die Stimme hier auch Täuschung, die mit der An- und Abwesenheit eines Sprechers, eines Subjekts, spielt. Sie täuscht über die Abwesenheit des Erzählers im Text, indem sie die Anwesenheit vorspielt. Zugleich aber zeigt sich in der Täuschung ihre eigene Negativität, ihr Entzug. Die Stimme grenzt ab und unterscheidet, einer Linie ähnlich, die doch beiden Seiten zugehört. Darin liegt ihre Kraft zur Neuschöpfung. Auch der Klang kann ein Bild (image) schaffen, so Deleuze: „Ce quelque chose de vu, ou d’entendu, s’appelle Image, visuelle ou sonore, à condition de la libérer des chaînes où les deux autres langues la maintenaient.“77 Der Klang besitzt die Macht, ein Bild zu erschaffen, ein image sonore. Eben dafür steht die Sprache III. Das Bild ist kein Objekt, sondern prozesshaft.78 Mit Bezug auf Becketts Stücke beschreibt Deleuze nun eine Stimme, die ein Bild heraufbeschwört. Wie die Stimme des Ansagers (présentateur) könne sie ein kommendes Bild (image à venir) ankündigen. Dies geschehe beispielsweise in Becketts Filmstück Trio du Fantôme. Die Stimme, die wie im Lied von der Musik getragen und zugleich zur parole wird, besitzt für Deleuze die Fähigkeit zur Schaffung eines verbalen Bildes (image verbales).79 So geht es Deleuze in Sprache III vor allem um die Vereinigung der Wörter und Stimmen zu Bildern. Was Becketts Fernsehstücke dabei auszeichnet, ist die darin aufgezeichnete Stimme, die sich mit dem Bild, das Form annimmt, verknüpft.80

75 Vgl. Bryden, Mary: Gilles Deleuze. Travels in literature, Basingstoke u.a.: Palgrave Macmillan 2007, S. 137: „To identify what is ‚not I‘, there must be some antecedent awareness of ‚I‘. Severance and perseverance: each is held in tension by the other.“ 76 S. Critchley: Very little... almost nothing, S. 152. 77 G. Deleuze: L’épuisé, S. 70. 78 Ebd., S. 72: „L’image n’est pas un objet, mais un ‚processus‘.“ 79 Vgl. ebd., S. 73. 80 Vgl. ebd., S. 73f.: „La langue III peut donc réunir les mots et les voix aux images […] Mais la langue III, née dans le roman (Comment c’est), traversant le théâtre (Oh les beaux jours, Acte sans paroles, Catastrophe), trouve dans la télévision le secret de

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Im Besonderen die aufgezeichnete Stimme ist für Deleuze, mehr noch als die Stimmen der Figuren im Theater oder im Roman bei Beckett, in der Lage, von sich selbst abzulenken, um anderes hervorzurufen. Sie besitzt eine größere Freiheit, da sie nicht mehr an ein Subjekt, an einen Sprecher gebunden ist, scheinbar aus dem Nichts kommt und von dort Bilder evoziert. Vor allem die Sprache III zeichnet sich dadurch aus, dass sie Bilder hervorruft. Dies geschieht unter anderem durch eine Stimme, die unabhängig vom visuellen Geschehen auf der Leinwand ist. Diese evozierende Stimme ist auch daran beteiligt, dass das Bild keine Einbildung ist (image – imagination). Das Bild im Sinne Deleuzes ist kein Bild, an das jemand denkt, das sich jemand ausdenkt oder einbildet, sondern ein Hervorrufen/Heraufbeschwören (évocation), eine Anrufung/Beschwörung (invocation), eine Einberufung (convocation), ein Widerruf (révocation).81 In seinen Schriften zum Kino, vor allem im zweiten Teil (Das Zeit-Bild. Kino 2), widmet sich Deleuze ebenfalls der Verbindung von Stimme und Bild. Im Film wird die Stimme zu bestimmten Zwecken eingesetzt. Die Stimme muss nicht Stimme der Figuren auf der Leinwand sein, sie kann auch von Außerhalb, aus dem Off, kommen. Teils wird sie damit für Deleuze zum Wesen des Gedächtnisses, das sich zum Geschehen äußert. Er beschreibt das Gedächtnis als „sprechende, mit sich sprechende oder flüsternde, aber auch das Geschehene schildernde Stimme. Von daher ist die Stimme im Off zu erklären, die die Rückblende begleitet.“82 Die Stimme spielt mit ihren eigenen Ambivalenzen. Bild und Ton treten im Film in eine Beziehung, die etwas Neues hervorbringt. Der Ton, so Deleuze, tritt „in ein außerordentlich schöpferisches Verhältnis zum Visuellen“83. Auch das Akustische lässt sich bei Deleuze als Bild bezeichnen.84 Denn erst das Akustische zeigt im visuellen Bild etwas an, das sonst, wie beispielsweise im Stummfilm mit eingeblendeten Zwischentiteln, nicht deutlich wird. Der Sprechakt, der

son assemblage, une voix préenregistrée pour une image chaque fois en train de prendre forme. Il y a une spécifité de l’œuvre-télévision.“ 81 Vgl. ebd., S. 96f.: „Certes, il n’est pas facile de faire une image. Il ne suffit pas de penser à quelque chose ou à quelqu’un. La voix dit: ‚Lorsque je pensais à elle..., Non... Non, pas exact...‘ Il faut une obscure tension spirituelle, une intensio seconde ou troisème comme disaient les auteurs du Moyen Age, une évocation silencieuse qui soit aussi une invocation et même une convocation, et une révocation, puisqu’elle élève la chose ou la personne à l’état d’indéfini: une femme“. 82 G. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 73. 83 Ebd., S. 93. 84 Ebd., S. 126: „Das Kristallbild ist nicht weniger akustisch als optisch.“

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sich „einen Weg in das visuelle Bild bahnt“85, macht im Visuellen etwas sichtbar und wird dadurch selbst zu etwas Sichtbarem. Von woher die Stimme auch spricht, sie markiert stets etwas Räumliches. Sie durchschreitet für Deleuze einen Raum und hinterlässt Spuren im visuellen Bild, das wir dadurch anders erfahren als ohne Stimme. „Demgegenüber haben wir es nun mit der gehörten Stimme zu tun, die sich im Raum ausbreitet oder ihn erfüllt, indem sie ihren Empfänger über Hindernisse und Umweg hinweg zu erreichen sucht. Sie höhlt den Raum aus. Bogarts Mikrophonstimme ist wie ein suchender Kopf, der sich bemüht, in der Menge denjenigen zu finden, den er dringend warnen muß [...]“86

Im Kino findet eine Spannung, ein Spiel zwischen der Stimme aus dem ‚Off‘ und der Stimme im ‚On‘ statt. So kann die Stimme von außerhalb, die aufgrund der Unmöglichkeit der Verortung eine gewisse Macht gerade über das Sichtbare, über eine Bilderfolge besitzt, sehr wohl später als eine Stimme, die von innerhalb des Bildes kommt, ausgemacht werden.87 Die Stimme durchquert das Bild und verleiht diesem eine Konsistenz.88 Dabei führt sie nicht unbedingt durch eine reibungslose Bildfolge; sie kann ebenfalls störend wirken, wie beispielsweise in Marguerite Duras’ Filmen: „India Song, der Mittelpunkt einer Trilogie, errichtet ein außergewöhnliches metastabiles Gleichgewicht zwischen einem akustischen Bild, das uns sämtliche Stimmen vernehmen läßt (aus dem ‚On‘ und aus dem ‚Off‘, aus dem relativen und aus dem absoluten Off; Stimmen, die sich zuordnen lassen oder auch nicht; Stimmen, die miteinander rivalisieren und sich gegeneinander verschwören, sich ignorieren, sich vergessen, ohne daß einer von

85 Ebd., S. 299. Deleuze bezieht sich bei seinen Untersuchungen immer wieder auf Michel Chion und dessen Überlegungen zur Stimme im Kino, beispielsweise La voix au cinéma. 86 Ebd., S. 299. 87 Vgl. ebd., S. 303f.: „Man kann sich das am Testament des Dr. Mabuse klarmachen, und sich dabei auf eine ausgezeichnete Analyse von Michel Chion stützen: folgen wir dem ersten Aspekt des hors-champ, dann scheint die furchterregende Stimme immer nebenan zu sein; dringt man aber zu diesem ‚Nebenan‘ vor, dann ist sie, dem zweiten Aspekt folgend, schon woanders und ist allmächtig, bis sie endlich im gesehenen Bild (als Stimme im ‚On‘) lokalisiert und identifiziert wird.“ 88 Vgl. Rehm, Jean-Pierre: „Commune misère“, in: Sans commune mesure. Image et texte dans l’art actuel, Paris: Léo Scheer 2002, S. 170.

142 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ ihnen die Allmacht oder das letzte Wort zukäme), und einem visuellen Bild, das uns eine stumme Stratigraphie lesen läßt (Figuren, die ihren Mund selbst dann geschlossen halten, wenn sie von der anderen Seite her sprechen, so daß das, was sie sagen, sogleich in einer Vergangenheitsform erscheint“.89

Der Film spielt mit den Voraussetzungen, die mit der Stimme verbunden sind. Die Zugehörigkeit der Stimme zu einem Körper kann im Film unterbrochen werden, entweder indem einer Stimme ein nicht passender Körper zugedacht wird oder indem zwei Körper sich eine Stimme teilen müssen, wie Deleuze an Filmbeispielen darlegt (an dieser Stelle besonders Syberbergs Filme wie HITLER, EIN FILM AUS DEUTSCHLAND, PARSIFAL und auch TH. HIERNEIS ODER: WIE MAN 90 EHEM. HOFKOCH WIRD). Im Film besteht die Möglichkeit, die Fremdheit der Stimme gegenüber einem lebendigen Körper zu zeigen. Das moderne Kino beschreibt Deleuze als eines, das sich nicht mehr der Stimme aus dem Off bedient, einer Stimme, die ankündigt, was im Anschluss als visuelles Bild gesehen wird. Vielmehr stehen sich Akustisches und Visuelles als je eigene Bilder gegenüber: „Das Akustische muß selbst zu einem Bild werden, statt Bestandteil des visuellen Bildes zu sein.“91 Beide Bilder stehen für sich; sie sind autonom: „Das visuelle Bild wird nun niemals mehr dasjenige zeigen, was das akustische Bild aussagt.“92 Dennoch spielen beide Bilder zusammen, machen das Filmische aus. So bezeichnet Deleuze ihr Zusammenwirken als eine „Komplementarität zwischen dem akustischen Bild“ und „dem visuellen Bild“93, welche das audiovisuelle Bild erst schafft.

5.5 Z USAMMENFASSUNG : D AS A USSEN Die Stimme gehört einerseits der Sprache an, andererseits fällt sie aus der Sprache heraus. Sie besitzt die Fähigkeit, die Sprache mit ihren eigenen Grenzen zu konfrontieren, sie zu deterritorialisieren. Der Text macht eine Stimme hörbar, die das Geschriebene an den Rand der Sprache drängt. Dass es für Deleuze eine Stimme ist, die hier im Geschriebenen agiert, wird deutlich, wenn er über Kafka sagt, er schreibe das Pragerdeutsche „in einem ganz nüchternen und strengen

89 G. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino II, S. 328. 90 Vgl. ebd., S. 343. 91 Ebd., S. 356. 92 Ebd., S. 356. 93 Ebd., S. 357.

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Schrei“. Es geht ihm um „eine Syntax des Schreis [...], die sich mit der starren Syntax dieser papierenen Sprache vereint“94. Die Sprache bezieht sich damit auf ein Außen, das sich durch die Stimme aufdrängt. Denken ist nur möglich in Bezug auf dieses Außen, das zu denken gibt. Vielleicht auch daher fragt sich Deleuze: „Was erwartet ein Text, vor allem ein philosophischer Text, von der Stimme?“95 Die Antwort darauf findet er in der „Stimme des Schauspielers“, der den Text liest. Diese Stimme, so Deleuze, lässt die „Rhythmen“, die „Bewegungen des Geistes im Raum und in der Zeit hervortreten“. Sie zeigt die Denkbewegung selbst, die Schaffung von Begriffen im Denken. Die Stimme wird so zu einer „vokalen Linie“96. In ihr verbinden sich Begriffe mit Wahrnehmungen und Affekten. Die so von der Sprache autonome Stimme besteht in einer reinen, klanglichen Intensität, die auf die Sprache wirkt.97 Wie bei Derrida lässt sich hier eine Verflechtung von Stimme und Schrift im Text festhalten, auch wenn Deleuze einen völlig anderen Begriff von Schrift beansprucht. Die Stimme ist dabei stets das Element, das den Text an seine Grenzen treibt. Sie vermischt sich mit der Syntax und Grammatik und spielt mit dem Hörbaren und Nicht-Hörbaren, mit dem Lesbaren und Nicht-Lesbaren. Sprechen und Schreiben implizieren „ein Hören (der Stimme) und Sehen (der Schrift)“98. Anders als für Derrida ist die Stimme bei Deleuze nicht (unbedingt) für einen anderen. Gemeinsam haben Derrida und Deleuze aber das Denken einer Stimme, die als Evokation auf ein Ausstehendes, ein Zu-Kommendes verweist.

94 G. Deleuze/F. Guattari: Kafka, S. 37. 95 G. Deleuze: „Was die Stimme dem Text bringt...“, in: ders.: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975-1995, hg. von Daniel Lapoujade, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 309-310, hier S. 309. Deleuze schätzt die Stimme des Schauspielers Alain Cuny: „Traumhaft, Spinozas Ethik von Alain Cuny lesen zu hören. Die Stimme wird gleichsam von einem Wind mitgerissen, der die Wogen der Beweisführungen vorantreibt.“ (Ebd., S. 309f.). 96 Ebd., S. 309. 97 Vgl. S. Ruf: Fluchtlinien der Kunst, S. 62. 98 Zechner, Ingo: Der Gesang des Werdens, München: Fink 2003, S. 55.

6. Politiken der Stimme (Deleuze)

6.1 I NDIREKTE R EDE : W EITERGABE

DER

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Dass die Stimme eine bedeutende Position bei Deleuze und auch bei Derrida besetzt, beruht nicht nur auf ihrer ethischen Verpflichtung, ein Aspekt, der besonders bei Lévinas und Lacan zum Ausdruck kommt, sondern auch, und für Deleuze mehr noch, auf ihrer politischen Wirkkraft. Die Stimme wird politisch. Deleuze wendet sich in Tausend Plateaus explizit gegen das Paradigma, demzufolge Sprache „informativ und kommunikativ“1 sein soll und schließt sich somit Lévinas, Lacan und Derrida an, die die Grundlage der Sprache nicht im semantischen Inhalt einer Aussage sehen, die als Information an einen Kommunikationspartner weitergegeben wird. Die Unterrichtssituation in der Schule, so Deleuze, steht paradigmatisch für das Funktionieren von Sprache. Dort wird mit sprachlichen Aussagen primär keine Information übermittelt, kein Wissen ausgetauscht, denn es geht vielmehr darum, bereits vorgegebenen Äußerungen zu folgen. Die sprachliche Äußerung besteht für Deleuze aus Anweisungen oder Befehlen (mot d’ordre), die eine Antwort diktieren.2 Der Behauptung, der Informationsaustausch sei wesentlich für Sprache und stehe an deren Anfang, widerspricht dies. In der Schule wird den Kindern, so Deleuze, eine „Syntax zur Verfügung“ gestellt, „damit sie Aussagen produzieren, die mit den herrschenden Bedeutungen konform gehen“3. Dabei unterscheidet sich der Inhalt nicht von der

1

G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 106.

2

Die deutsche Übersetzung für das französische mot d’ordre ist Befehl. Allerdings muss hier differenziert werden. Der Befehl (mot d’ordre) im Sinne Deleuze geht weiter als es das deutsche Wort nahelegt. Er ist nicht als bloße Aufforderung gemeint, sondern bedeutet die Funktion der Sprache. Befehle sind der Aussage inhärente Akte, die mit einer sozialen Verpflichtung einhergehen.

3

G. Deleuze: Unterhandlungen, S. 62.

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Form der Aussage. Was gelehrt wird, sind keine Informationen, sondern vielmehr die Wiederholung und Weitergabe von Befehlen: „[...] ein Befehl beruht immer und in jedem Fall auf Befehlen, deshalb ist der Befehl redundant.“4 Diese dem Kind aufgedrängten „semiotische[n] Koordinaten“5 lassen sich auf den gesamten sprachlichen Bereich übertragen. Eine Sprache sprechen bedeutet vor allem, Befehle zu befolgen, Befehle weiterzureichen und somit die Sprache ‚am Laufen‘ zu halten. Sprache konstituiert sich nach Deleuze durch die „Transmission von Befehlen“6 (transmission de mots d’ordre). Der Befehl meint nicht die imperative Form einer Aussage (wie etwa „Mach die Tür zu!“), sondern basiert auf einer ganz allgemeinen Voraussetzung jeder Aussage. Jedes Wort, jede Äußerung als Sprachhandlung bezieht sich auf eine „gesellschaftliche Verpflichtung“. „Es gibt keine Aussage“, so Deleuze, „die diese Bindung nicht direkt oder indirekt darstellt“7. Doch die Befehle vermischen sich nicht mit der Sprache; sie sind eine „Bedingung der Möglichkeit“8 von Sprache. Sie beschreiben mehr ihr Funktionieren als dass sie selbst inhaltlicher Bestandteil derselben wären. Wichtiger als der Glaube an die Wahrheit eines sprachlichen Inhalts ist es, eine konforme Aussage zu machen und damit den vorgegebenen Regeln zu gehorchen. Eine Sprache sprechen bedeutet somit auch die Unterordnung unter eine Macht, die Regeln aufstellt, denen Gehorsam geschenkt werden muss. Jeder Befehl ist eine Markierung von Macht.9 Die Weitergabe der Befehle, das Funktionieren von Sprache also, nennt Deleuze ‚indirekte Rede‘. Die indirekte Rede versteht Deleuze als eine Gegenposition zur gängigen Informationstheorie, die davon ausgeht, dass die ideale Aussage ein Maximum an Information übermittelt. An erster Stelle steht für Deleuze gerade nicht die Weitergabe von Information, sondern die Redundanz einer Aussage. Diese Wiederholungen sind Wiederholungen von Befehlen.10 Die von Deleuze gemeinte Redundanz ist anders zu begreifen als die Redundanz in der linguistischen Informations- und Kommunikationstheorie.11 Die Redundanz ist

4

G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 106.

5

Ebd., S. 106.

6

Ebd., S. 111.

7

Ebd., S. 111.

8

Ebd., S. 120.

9

Vgl. ebd., S. 106f.

10 Vgl. G. Deleuze: Unterhandlungen, S. 62f. 11 Im Lexikon der Sprachwissenschaft (Hadumod Bußmann) ist Redundanz allgemein beschrieben als „überschüssige Information, d.h. solche Information, die bei störungsfreier Kommunikation ohne Informationsverlust wegfallen könnte“. Weiter wird er-

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nicht sekundär; sie gesellt sich nicht nachträglich dazu und kann auch nicht, als überflüssiges Anhängsel, weggelassen werden. Vielmehr ist die Redundanz Bedingung: Sie setzt vor dem Sprechen an, da dieses schon auf bestimmte Aussagen beschränkt ist. Jede gemachte Aussage sagt uns nicht, was ist, sondern was wir tun sollen.12 Sprache besteht für Deleuze im Wesentlichen darin, Befehle, also redundante Elemente, zu erhalten und weiterzugeben. Gilt der Befehl nun zunächst als Blockierung jeder Entwicklung, da er keine neue Aussage zulässt, so stellt Deleuze fest, dass er aber auch „ein Alarmruf oder eine Fluchtmeldung“ sein kann, dass er also „zwei Klänge“13 hat. Eben die Flucht vor dem Schicksal des Befehls noch innerhalb des Befehls ermöglicht es, die „Variablen hier in einen neuen Zustand eintreten“ zu lassen, in „einen Zustand der kontinuierlichen Variation“14. Dies bedeutet eine Transformation des Befehls, eine schöpferische Aktivität, der den Befehl zu einem Übergang werden lässt.15 Sprache erfindet sich im Prozess des Weitergebens und Übertragens ständig neu. Darin liegt ihr für Deleuze so bedeutendes Potential zur Transformation. Deleuze verdeutlicht damit die Unmöglichkeit, den Beginn, den Ursprung der Sprache auszumachen. Entscheidender ist es, die Sprache als Weitergabe unzähliger Aussagen, die nicht auf eine ‚erste‘ Aussage zurückgeführt werden können, zu verstehen. Eine Sprache sprechen bedeutet, auf eine vorgegebene Anzahl von Aussagen zurückzugreifen, sich sprachlichen, gesellschaftlichen Konventionen ein- und unterzuordnen. Zu sprechen heißt also, etwas zu sagen, das bereits ein anderer gesagt hat, das schon gehört und weitergegeben wurde. Hinter den ständig übermittelten Aussagen verbirgt sich keine ursprünglichere sprachliche Ebene. Eine Erzählung, so Deleuze, besteht nicht darin, „zu kommunizieren, was man gesehen hat, sondern zu übermitteln, was man gehört hat und was einem ein anderer gesagt hat“16. Daher ist die indirekte Rede, das heißt die permanente Weitergabe des Gesagten, für Deleuze die ‚erste‘ Sprache. Weit-

klärt: „Da sprachliche Kommunikation aber stets sowohl durch Störgeräusche als auch durch ungleiche Zeicheninventare der Sprachteilnehmer behindert ist, hat sich die Sprache als Kommunikationsmittel von hoher Redundanz entwickelt.“ (Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart: Kröner 1990, 2. Auflage, S. 631). 12 Vgl. Günzel, Stephan: Immanenz. Zum Philosophiebegriff bei Gilles Deleuze, Essen: Die blaue Eule 1998, S. 31. 13 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 149. 14 Ebd., S. 151. 15 Vgl. ebd., S. 153. 16 Ebd., S. 107.

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aus wichtiger als Metapher und Metonymie ist ihm die indirekte Rede. Denn Metapher und Metonymie funktionieren erst, wenn der Ausdruck weitergegeben wird, wenn er sich wiederholt, in Umlauf gerät und so ‚geläufig‘ wird. Damit unterstreicht Deleuze in einem zweiten Zug die Unhintergehbarkeit von Sprache, die weder einen Bereich außerhalb der Sprache kennt noch ein ursprünglich Erstes der Sprache vorausgehen lässt. Jede Erfahrung ist schon eingebettet in die Grenzen einer sprachlichen ‚Verpackung‘. Dies meint Deleuze, wenn er davon spricht, dass Sprache „zwangsläufig vom Zweiten zu einem Dritten“ geht und eben nicht „von einem Ersten zu einem Zweiten“17. Daher ist Sprache auch nicht dazu da, Informationen in Zeichen zu ‚kopieren‘ und so zu kommunizieren. Sie ist, wie Deleuze oft wiederholt, eine „Karte und keine Kopie“18. Als Karte schafft sie Wege, Pfade, verbindet und trennt. Sprache als solche ist indirekte Rede, eine fortwährende Weitergabe von Aussagen, die keinen Ursprung kennen. Die Masse der Aussagen als kollektives Gefüge bezeichnet Deleuze als „Stimmengewirr“19. Auch die eigene Stimme entstammt diesem Durcheinander von Stimmen, in dem es keine festen Orte, keine Konsistenz gibt. Der Subjektivitätsprozess basiert auf der Isolierung einer Stimme, die jedoch immer einer Vielzahl von Stimmen entzogen wird: „[...] eine Art von Stimmengewirr, in dem ich meinen Eigennamen vernehme, ein Komplex von harmonischen oder disharmonischen Stimmen, aus dem ich meine Stimme beziehe.“20 Die eigene Stimme bleibt abhängig von der „Glossolalie“21, aus der sie extrahiert wird. Sprache als Glossolalie bedeutet viele Stimmen in einer Stimme: „Es gibt viele Leidenschaften in einer Leidenschaft und alle möglichen Stimmen in einer Stimme, ein regelrechtes Stimmengewirr, eine Glossolalie.“22 Das Wählen und Extrahieren der Stimme findet für Deleuze gerade auch

17 Ebd., S. 108. 18 Ebd., S. 108. 19 Ebd., S. 118. Die deutsche Übersetzung benutzt den Ausdruck „Stimmengewirr“ für „rumeur“ (Gerücht, Gemunkel). Im Original heißt es: „Le discours direct est un fragment de masse détaché, et naît du démembrement de l’agencement collectif; mais celui-ci est toujours comme la rumeur où je puise mon nom propre, l’ensemble des voix concordantes ou non d’óù je tire ma voix.“ (Dies.: Mille Plateaux. Capitalisme et schizophrénie 2, Paris: Minuit 1980, S. 106 f.). 20 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 118. 21 Ebd., S. 118. 22 Ebd., S. 107f. Im französischen Original heißt es: „Il y a beaucoup de passions dans une passion, et toutes sortes de voix dans une voix, toute une rumeur, glossolalie.“ (Dies.: Mille Plateaux, S. 97).

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im Schreiben statt. Denn „Schreiben bedeutet vielleicht, dieses Gefüge des Unbewußten an den Tag zu bringen, die flüsternden Stimmen auszuwählen, die geheimen Stämme und Idiome heraufzubeschwören, aus denen ich etwas extrahiere, das ich als Ich bezeichne“23. Die Pluralität der Stimme macht eine Auswahl erst möglich, die dann schließlich die Möglichkeit zur Transformation des Vorgegebenen offen hält. Nicht eine absolute Stimme ist ein für alle Mal gesetzt (wie etwa bei Lacan, wo das Unbewusste mit einer Stimme spricht), sondern viele Stimmen drängen sich auf. Blanchot kennzeichnet die Stimme, ähnlich wie Deleuze, als die „Stimme aller“, als das „unpersönliche, umherirrende, anhaltende, gleichzeitige, aufeinanderfolgende Sprechen“, das wie eine indirekte Rede, als „Gerücht“, zirkuliert und worin sich jeder eine „falsche Identität“24 zuschreibt. Wenn Deleuze von der indirekten Rede spricht, der ständigen Weitergabe von Aussagen, die eine Aussage als wahren Ausdruck eines Erlebten einer Person unmöglich machen, dann bedeutet das nicht, dass aus dieser Transmission von Befehlen nicht auch ausgebrochen werden kann. In der „freien indirekten Rede“25 geht es darum, sich dem ‚Todesurteil‘ des Befehls (d.h. der Unvermeidlichkeit der Wiederholung der Aussage) zu entziehen. Die Aussage wird für Deleuze so in ein ‚Werden‘ versetzt. Anstatt die vorgegebene Aussage unverändert weiterzugeben, besteht die Möglichkeit, Neues innerhalb der Transmission zu schaffen.26 Dies bedeutet nichts anderes, als die Sprache ‚offen‘ zu halten, sie beständig mit dem vorhandenen Material zu erneuern. Sich auf Pasolinis Ketzererfahrungen beziehend und diesen zitierend hält Deleuze fest, dass die freie indirekte Rede „weder in einer Sprache A noch in einer Sprache B liegt, sondern ‚in einer Sprache X, die nichts anderes ist als die Sprache A, die tatsächlich im Begriff ist, zu einer Sprache B zu werden‘“27. In der freien indirekten Rede wird Sprache zu einem kreativen und intensiven Ereignis, die nicht auf dem Aus-

23 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 118. 24 M. Blanchot: Das Unzerstörbare, S. 152. 25 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 108. Deleuze rekurriert mit der ‚indirekten Rede‘ vor allem auf Michail Bachtin (Marxismus und Sprachphilosophie) und Pier Paolo Pasolini (Ketzererfahrungen, ‚Empirismo eretico‘). 26 Vgl. François, Alain: „Beschreibung, Redundanz und indirekte Rede bei Gilles Deleuze“, in: Friedrich Balke/Joseph Vogl, Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, München: Wilhelm Fink 1996, S. 276-286, hier S. 285. 27 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 148.

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tausch von Informationen baut.28 Dabei stellt sie ein Stimmengewirr dar, in dem möglichst viele unterschiedliche Stimmen aufgenommen sind und produktiv werden. Schon bei Pasolini ist die freie indirekte Rede politisch gedacht, zu verstehen als „ein Nachleben derjenigen Rede“, die für eine „ganze Klasse von Sprechern“ steht. Insofern repräsentiert sie für Pasolini ein „Milieu“, ein „Volk“29. Deleuze möchte mit dieser freien indirekten Rede die herrschenden Sprech- und Denkmuster, die ein Ausscheren aus der Konformität verbieten, zumindest teilweise umgehen. Dementsprechend formuliert auch Derrida sein Anliegen: „Die Notwendigkeit des Unmöglichen besteht darin, in der Sprache – der knechtischen Gesinnung – zu sagen, was nicht knechtisch ist.“ 30 Die Möglichkeit der Schaffung von Neuem liegt darin begründet, dass, selbst wenn die Aussage weitergegeben wird, sie niemals als Identische bestehen bleibt. Mehr noch: Der Mensch ist überhaupt nicht fähig, „identische Bewegungen zu reproduzieren“31. Im Bruch der Nicht-Identität tut sich die Chance einer ‚freien indirekten Rede‘ auf. Auch bei Lacan funktioniert die symbolische Ebene nur, wenn sie durch den ständigen Austausch der Symbole in Bewegung gehalten wird. Das Sprechen

28 Vgl. Colebrook, Claire: Gilles Deleuze, London/New York: Routledge 2002, S. 108f.: „We think of language as a vehicle for messages among speakers, rather than as a creative and intensive event that produces speakers. Deleuze, by contrast, wants to show how speakers are the effect of investments in language.“ Manola Antonioli sieht dieses Stimmengewirr, die vielen Stimmen in der einen Stimme, auch in Deleuzes eigenem Schreiben verwirklicht: „À la difference du discours direct rapporté ou du discours indirect régi, le discours indirect libre mêle inextricablement plusieurs voix, toutes sortes de voix dans une seule. C’est aussi le procédé habituel de l’écriture de Deleuze et Guattari qui ne se limite jamais au commentaire d’une parole rapportée mais qui mêle toujours à leur discours commun les voix superposées de philosophes, artistes, historiens, ethnologues, linguistes et psychanalystes qui lui confèrent une dimension multiple irréductible à l’unité.“ (Dies.: Géophilosophie de Deleuze et Guattari, Paris: L’Harmattan 2003, S. 88). 29 Pasolini, Pier Paolo: Ketzererfahrungen. ‚Empirismo eretico‘, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1982, S. 103. 30 J. Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 397. 31 Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Spiel, Ritual, Geste, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998, S. 14. Insofern gleicht Mimesis in diesem Aspekt der ‚freien indirekten Rede‘ bei Deleuze: „Sie [Mimesis, Anm. S.T.] ermöglicht Differenzen und damit produktive Freiheit.“ (Dies.: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 373).

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ordnet sich der Weitergabe ein. Aussagen agieren als ‚Losungen‘ oder ‚Kennwörter‘ denen zufolge falsche Aussagen bestraft werden, während die richtigen ‚weiterlaufen‘. Der Sprecher hat sich den Vorgaben des Sprechens zu beugen, da er sonst auf der symbolischen Ebene nicht anerkannt ist. So bringt Lacan auf den Punkt: „Das Wort/ das Sprechen/ la parole ist zunächst jenes Tauschobjekt, an dem man sich erkennt, und weil Sie das Paßwort/ le mot de passe gesagt haben, kriegen Sie keins auf die Schnauze, usw.“32 Wie die ‚Losungswörter‘ oder ‚Passwörter‘ unabhängig von ihrer Bedeutung funktionieren, so ist das Sprechen eben nicht in erster Linie ein Informationsaustausch.33 Das Sprechen ist dem, der spricht, in einem Ausmaß auferlegt, das parasitären Charakter hat. Es regiert das sprechende Subjekt und produziert sich fortwährend neu.34 Das Sprechen konstituiert nicht nur das Subjekt, sondern macht es ebenso von sich abhängig. „Alle menschlichen Wesen“, so bemerkt Lacan, „haben am Universum der Sprache teil. Sie sind darin eingeschlossen und lassen es mehr über sich ergehen, als daß sie es konstituieren.“35 Deleuze bestreitet die Annahme eines homogenen Sprachgebildes, das als Standardsprache vollständig linguistisch analysiert werden kann. Vielmehr besteht Sprache für ihn aus einer Vielzahl von Sprachen, die sich wandeln, die beständig in weitere, andere Sprachen übergehen, die mitunter gegeneinander wetteifern, die jedoch kein in sich geschlossenes linguistisches System bilden. Die als Standard aus diesem Durcheinander gefilterte Sprache ist abhängig von einer politischen Ordnung, die diese Sprache allen Sprechern (innerhalb der Grenzen eines Landes beispielsweise) vorgibt. So existiert nach Deleuze auch keine „Muttersprache, sondern die Machtergreifung einer vorherrschenden Sprache in einer politischen Mannigfaltigkeit“36. Linguisten wie Chomsky seien nur daran interessiert, Konstanten oder konstante Beziehungen ausfindig zu machen, die es so gar nicht gebe und die über die Beschreibung von Sprache hinaus dazu dienen, Regeln des Sprachgebrauchs vorzugeben. Sprache wird damit „homoge-

32 J. Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, S. 64. 33 Vgl. J. Lacan: Namen-des-Vaters, S. 28f. 34 Vgl. J. Lacan: Le Sinthome. Le séminaire livre XXIII (1975-76), Paris: Seuil 2005, S. 95. „Comment est-ce que nous ne sentons pas tous que les paroles dont nous dépendons nous sont, en quelque sorte, imposées? [...] La question est plutôt de savoir pourquoi un homme normal, dit normal, ne s’apercoit pas que la parole est un parasite, que la parole est un placage, que la parole est la forme de cancer dont l’être humain est affligé.“ 35 J. Lacan: Freuds technische Schriften, S. 203. 36 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 17.

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nisiert, zentralisiert und standardisiert“; sie wird „zu einer dominierenden Hochsprache der Macht“37. Demnach ist eine bestehende, standardisierte Sprache reglementiert durch eine bestimmte politische Ordnung, die zugleich Sprachordnung ist. Der Nichteinhaltung grammatikalischer und semantischer Regeln kann eine wie auch immer geartete Bestrafung folgen – wie zum Beispiel in der Schule, beim Verhör oder vor Gericht. Wie Deleuze proklamiert auch Blanchot die Befreiung der Stimme vom Wort und dadurch eine Befreiung der Sprache, die als eine „Sprache im Werden“ vielmehr „neben den Regeln und außerhalb der Regeln“, „außerhalb der Herrschaft“38 ist. Eine Abweichung in der standardisierten Stimmgebung, einem die Regeln einhaltenden Sprechen, kann in einem solchen Regime ebenfalls als ein Hinweis auf Mängel verschiedener Art gedeutet werden. Hierfür finden sich denkwürdige Beispiele. So stellte der Berliner Polizeipräsident im Jahr 1926 folgendes Projekt einer Stimmanalyse auf die Beine: Verurteilte sollten für eine Stimmaufzeichnung Lieder singen und ihre Taten schildern. Diese aufgezeichneten Stimmen wurden schließlich ausgewertet; man erhoffte sich offensichtlich Erkenntnisse über den (verbrecherischen) Charakter und zwar allein anhand der Stimmführung.39 Die Annahme, aus der Stimme ließe sich eine ‚Wahrheit‘ des Subjekts heraushören, beschreibt Coetzee drastisch und eindrücklich in seinem Roman Warten auf die Barbaren. Der Verhörte wird dort so lange körperlich misshandelt, bis sein Folterer schließlich glaubt, in der gemarterten Stimme die Wahrheit auf seine Fragen zu vernehmen.40 Beide Male gilt die Annahme, die Stimme des Sprechers zeige seinen ‚wahren‘ Charakter an. Dabei wird eine genormte Stimme vorausgesetzt, von der sich eine verräterische und verbrecherische Stimme abgrenzt. Die stimmliche Verfasstheit konstituiert nicht nur soziale Gruppen und schafft eine Zusammengehörigkeit, sie grenzt auch ab gegen all das, was sich den gesetzten Maßstäben nicht ein- und zuordnen lässt. Richard Wagner ist wohl nur einer unter vielen, der die Stimme des Juden im Vergleich zur rein deutschen Stimme rigoros abwertet:

37 Ebd., S. 140. 38 M. Blanchot: Das Unzerstörbare, S. 160. 39 Vgl. „Ich schlage dich gleich mit dem Kochlöffel um die Ohren, du Affe“. Stimmphysiognomik und Verbrecherjagd in der Weimarer Republik, Feature von Sabine Weber im Deutschlandradio vom 31.07.2007. 40 Vgl Coetzee, J. M.: Warten auf die Barbaren, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 12f.

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„Im Besonderen widert uns nun aber die rein sinnliche Kundgebung der jüdischen Sprache an. Es hat der Cultur nicht gelingen wollen, die sonderliche Hartnäckigkeit des jüdischen Naturells in Bezug auf Eigenthümlichkeiten der semitischen Aussprechweise durch zweitausendjährigen Verkehr mit europäischen Nationen zu brechen. Als durchaus fremdartig und unangenehm fällt unsrem Ohre zunächst ein zischender, schrillender, summsender und murksender Lautausdruck der jüdischen Sprechweise auf: eine unsrer nationalen Sprache gänzlich uneigenthümliche Verwendung und willkürliche Verdrehung der Worte und der Phrasenconstructionen giebt diesem Lautausdrucke vollends noch den Charakter eines unerträglich verwirrten Geplappers, bei dessen Anhörung unsre Aufmerksamkeit unwillkürlich mehr bei diesem widerlichen Wie, als bei dem darin enthaltenen Was der jüdischen Rede verweilt.“41

Die hier von Wagner dargestellte jüdische Sprechweise ist ihm nicht nur aufgrund der Laute, des Klangs der Stimme unangenehm, sondern ebenso oder gerade dadurch, dass das jüdische Volk weder eine eigene Nation mit territorialem Raum bildet, noch in den anderen europäischen Nationen aufgeht. Die Politik wirkt in einem Nationalstaat auf die „Sprache des Innen“ ein und verändert dabei „nicht nur die Lexik“, „sondern auch die Struktur und alle Satzelemente“, so Deleuze42. Die der Sprache vorgeschriebene Ordnung impliziert Normen, deren Verletzung nicht folgenlos ist. Tatsächlich aber mischen sich in einer Gesellschaft mehrere Ordnungen, das „Zeichenregime“43 ist nicht konstant stabil, so Deleuze. Zur konsolidierten Ordnung gehört zugleich der unterschwellige Drang zum Umsturz oder zumindest zum Wandel. Dass durch mündliche Überlieferung Macht konsolidiert wird, bestätigt Eric A. Havelock mit der Behauptung, dass gerade diejenigen, die in der Lage sind, ihre Stimme zu erheben und andere auch zu hören, eine privilegierte Stellung einnehmen. Macht ist Wissen, das eben nicht zu allen vordringt. Die Stimme erhält hier eine „Form medialer Macht“44. Anders als Havelock aber versteht Deleuze die Sprache selbst als Agitator und die Sprecher, selbst diejenigen, denen es erlaubt ist, Sprache zu kontrollieren als schon von dieser beherrscht. Der ein-

41 Wagner, Richard: Das Judenthum in der Musik, Leipzig: Weber 1869, S. 13. Vgl. auch Michel Poizat, Vox populi, vox Dei, S. 204. 42 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 117. 43 Ebd., S. 118. 44 M. Eggers: Texte, die alles sagen, S. 58. Eggers macht diesen Punkt der ‚medialen Macht‘ bei Havelock deutlich (vgl. ders.: Texte, die alles sagen, S. 58). Vgl. auch Havelock, Eric A.: Als die Muse schreiben lernte. Eine Medientheorie, Berlin: Wagenbach 2007.

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zelne Sprecher ist nicht autonom; er allein kann Sprache nicht aus sich heraus ändern. Selbst die ‚Hüter des Wissens‘ sind in ein Kollektiv eingebunden, das immer auch eine Eigendynamik entwickelt, in dem der Einzelne zwar agieren, aber die Bewegung des Ganzes selbst nicht vollständig überblicken kann.

6.2 T ÖNE

IM

K AMPF

GEGEN DIE

M ACHT

In einem kollektiven Gefüge, das sich Machtstrukturen beugt, spricht das Subjekt nicht mit einer Stimme. Die eigene Stimme ist durchsetzt von anderen, von vielen Stimmen. Das „Gefüge“ erklärt für Deleuze „alle Stimmen, die in einer Stimme vorhanden sind“45. Es organisiert ihre Weitergabe, besitzt einen gesellschaftlichen Charakter. Somit ist auch die Stimme in die kollektiv-gesellschaftliche Ordnung einbezogen.46 Die fest umrissene Kontur eines Subjekts der Äußerung gibt es nicht, vielmehr verschiebt sich diese im Prozess ihrer Generierung immer wieder. Daher ist auch die Stimme nicht im Singular als Stimme eines Subjekts der Äußerung zu verstehen. Die Kollektivität durchzieht und generiert die Stimme des Einzelnen. Sie darf nicht verstanden werden als „Zusammenschluß von verschiedenen Subjekten der Äußerung“ (wie dies wohl Lacan und Lévinas tun würden), da das kollektive Gefüge selbst erst „die jeweiligen Prozesse der Subjektivierung, die Zuweisungen von Individualität und ihre wechselnde Verteilung in der Rede oder im Diskurs determiniert“47. Vor allem im gesellschaftlich-politischen Prozess scheint die Stimme für Deleuze eine privilegierte Rolle einzunehmen. Denn ein ‚Tonbild‘ könne eine größere Macht entfalten als bloße Bilder. Die Stimme ist in der Lage, Bilder zusammenzuziehen, zu bündeln und ergreift damit „die Macht über ein Ensemble von Bildern“. Diese wirkmächtigen Tonbilder „bestimmen unsere Wahrnehmung“48. Bilder haben zwar Wirkungen, doch erst der Stimme gelingt es, Bilder zu bündeln und zwar so, dass sie damit Handlungen, Gefühle, Gedanken, Einstellungen steuern oder beeinflussen kann. Die Stimme eines politischen Führers oder eines begehrten Stars beispielsweise verändert durch die Stimmgebung selbst die Wahrnehmung auf Bilder und Dinge, die zunächst nichts mit der Stimme zu tun haben. Adolf Hitler spricht auf dem Appell der Politischen Leiter

45 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 112. 46 Vgl. ebd., S. 112. 47 Ebd., S. 112. 48 G. Deleuze: Unterhandlungen, S. 65.

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am 11. September 1936 zu seinen Hörern: „Ihr habt einst die Stimme eines Mannes vernommen, und sie schlug an eure Herzen, sie hat euch geweckt, und ihr seid dieser Stimme gefolgt. Ihr seid ihr jahrelang nachgegangen, ohne den Träger der Stimme auch nur gesehen zu haben; ihr habt nur eine Stimme gehört und seid ihr gefolgt.“49 Joseph Goebbels beschreibt die Faszination der Stimme Hitlers in den Reden als eine magische, fast übermenschliche, die die Massen an Hörern in ihren „Sinnen und Herzen“50 trifft und eine absolute Unterwerfung zur Folge hat. In ausgezeichneter Weise scheint die Stimme in der Lage, Macht über Menschen zu gewinnen, eine Gemeinschaft derjenigen zu schaffen, die diese Stimme hören.51 Der Einsatz der Stimme ästhetisiert nicht nur die Politik, er umreißt zugleich eine autoritäre Machtinstanz.52 Ton und Bild beeinflussen sich für Deleuze gegenseitig, so dass das Tonbild eine Wirkmacht entfalten kann, die auch auf einer politischen Ebene herausfordert. Der Ton, die Stimme geben dem Bild eine Richtung. Wie die Subjektivitätsprozesse provoziert sind durch unzählige Stimmen, so ist das Bild durch die Stimme und den Ton geformt. Die Form ist nicht endgültig, gleicht vielmehr einer Linie, wie die des Subjekts, die wieder verschoben werden kann. Die politische Forderung besteht für Deleuze darin, die Macht des Tons über Bilder in einer Weise wiederzugewinnen, die sich derer annimmt, die sonst nicht das Recht haben, ihre Stimme zu erheben und gehört zu werden. Wer das privilegierte Recht besitzt, mit eigener Stimme in der Öffentlichkeit zu sprechen, darf dies nicht für oder anstelle anderer tun. Denn gerade die bisher ungehörten Stimmen sollen sich Gehör verschaffen, so Deleuze. Wie aber ist das zu leisten? Deleuze sieht darin eine politische und ethische Verpflichtung: Er fordert ein radikales Fremdwerden der eigenen Sprache, die sich in den Dienst ‚vernachlässigter‘ Stimmen stellen muss. Es scheint, als könne sich Deleuzes

49 Zitiert nach Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, 1. Band, Würzburg: Schmidt 1962/63, S. 641. Vgl. dazu Epping-Jäger, Cornelia: „Stimmgewalt. Die NSDAP als Rednerpartei“, in: D. Kolesch/S. Krämer (Hg.), Stimme, S. 147171, hier S. 147. 50 Goebbels, Joseph: Der Führer als Redner, S. 27, zitiert nach: C. Epping-Jäger: Stimmgewalt, S. 148. 51 Vgl. C. Epping-Jäger: Stimmgewalt, S. 148. 52 Vgl. B. Waldenfels: „Das Lautwerden der Stimme“, in: D. Kolesch/S. Krämer (Hg.), Stimme, S. 191-210, hier S. 205: „Die Ästhetisierung des Politischen, in der Politisches inszeniert wird wie ein Bühnenstück, verbindet sich durchweg mit einer entsprechenden Phonetisierung.“

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Forderung, politische Einflussnahme zu erreichen, nur in der Literatur, der Kunst und der Musik realisieren. „Wie kann man nun dahin kommen zu sprechen, ohne Befehle zu geben, ohne jemanden oder etwas vertreten zu wollen, wie kann man diejenigen zum Sprechen bringen, die nicht das Recht dazu haben, und wie kann man den Tönen wieder ihren Wert im Kampf gegen die Macht geben? Das ist es wohl: In seiner eigenen Sprache wie ein Fremder sein, für die Sprache eine Art Fluchtlinie ziehen.“53

Die Anpassung an die majoritäre Ordnung, die die standardisierte Kommunikation zwischen Sprechern vorgibt, die die Regeln für eine gelungene, angemessene Kommunikation vorschreibt und deren Verletzung zum Ausschluss führt, steht für Deleuze im Widerspruch zum schöpferischen Schaffen, dem die Aufgabe zukommt, die ‚normale‘ Kommunikation zu stören.54 Literatur als ein Minoritär-Werden bedeutet, die Sprache zum Stottern zu bringen und damit aus der herrschenden Sprachordnung auszubrechen. Nur ein „minoritärer Gebrauch“ der Sprache ist in der Lage, die „Elemente der Macht oder Mehrheit“55 zu unterlaufen. Das „Minoritär-Werden“ erweist sich dabei als „eine politische Angelegenheit und erfordert einen Kraftaufwand, eine aktive Mikropolitik“56. Derrida kommt in dieser Hinsicht Deleuze sehr nahe.57 Seine aporetische Aussage in Die Einsprachigkeit des Anderen (Le monolinguisme de l’autre), man habe nur eine Sprache, die zugleich nicht die eigene ist („Je n’ai qu’une langue, ce n’est pas la mienne“58), ist wie die deleuzesche Fremdsprache in der eigenen Sprache ein Versuch, der etablierten Ordnung zu entkommen, sich dem Neuen, Fremden und Kommenden zu öffnen.

53 G. Deleuze: Unterhandlungen, S. 63. 54 Vgl. ebd., S. 252. 55 G. Deleuze: Kleine Schriften, Berlin: Merve 1980, S. 54. 56 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 397. Zum Begriff ‚Minorität‘ vgl. Bogue, Ronald: „The Minor“, in: Charles J. Stivale (Hg.), Gilles Deleuze. Key Concepts, Towbridge: Cromwell Press 2005, S. 110-120. 57 Dies stellt auch M. Antonioli fest: „L’image du langage qui émerge de ce chapitre du Kafka sur la littérature mineure devrait être à mon avis aussi rapprochée des recherches sur le langage qui animent la pensée de Jacques Derrida.“ (Dies.: Géophilosophie de Deleuze et Guattari, S. 79). 58 J. Derrida: Le monolinguisme de l’autre ou la prothèse d’origine, Paris: Galilée 1996, S. 13.

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Wie Deleuze nimmt Derrida Überlegungen zu Stimme und Ohr auf, die von einem politischen Einfluss ausgehen. Mit Nietzsche beschreibt Derrida die Staatsgewalt als Vereinnahmung des Einzelnen durch Befehle und Regelwerke. Dies geschehe durch Einflüsterungen, durch eine faszinierende, fordernde und auch gewaltsame Stimme. Dem Hörenden wird diese propagandistische Stimme nicht bewusst; er folgt ihr im Glauben, sie sei natürlich und gerechtfertigt. Allerdings wendet Derrida diese einseitige Sicht und fragt sich, ob es nicht auch eine andere Perspektive auf die phonographische Perspektive gebe: „Ist das unsere Szene? Geht es um dasselbe Ohr, das Sie mir leihen oder das ich selber sprechend leihe, ein Leihohr? Oder aber hören/verstehen wir uns schon mit einem anderen Ohr?“59 Damit deutet sich, ähnlich wie bei Deleuze, eine Forderung an: Wenn schon die Stimme und das Ohr einer Macht zuspielen, die als politische Kraft im Staat wirksam werden kann, so implizieren sie zugleich einen möglichen Bruch, eine Gegenkraft. Die Stimme ist mehr als das bloße Risiko einer Gefahr durch eine ohnmächtige Vereinnahmung, ein heimliches Infiltrieren des Hörenden, der sich ihrer Macht nicht mehr erwehren kann. Vielmehr vereint die Stimme beides: Sie ist in politischer Hinsicht sowohl Gefahr als auch Chance. Unabweisbar aber nimmt die Stimme durch Faszination, Anziehung oder Abschreckung politischen Einfluss. Derrida verdeutlicht dies an einer für ihn besonderen Stimme. Nelson Mandelas Stimme strahlt eine einzigartige Kraft aus, die über den Inhalt des Gesagten hinaus wirkt. Die Bewunderung für Mandela geht auch von seiner Stimme aus, so Derrida: „La voix de Nelson Mandela – qu’est-ce qu’elle nous rappelle, nous demande, nous enjoint?“60 Seine Stimme

59 J. Derrida: Nietzsche. Politik des Eigennamens, Berlin: Merve 2000, S. 58: „Der Staat hat nicht nur das Zeichen und väterliche Antlitz des Toten, er will auch als die Mutter gelten, anders gesagt als das Leben, das Volk, die Eingeweide selber der Dinge. In Von großen Ereignissen ist er ein Heuchelhund wie die Kirche, er will glauben machen, seine Stimme redete ‚aus dem Bauch der Dinge‘. Der Heuchelhund spricht Ihnen ins Ohr durch seine Schulapparate, die akustischen oder akromatischen Maschinen sind. Ihr Ohren wachsen, Sie werden Langohren, wenn Sie, statt mit kleinem Ohr dem besten Lehrer und besten Führer zuhören und zu gehorchen, sich frei und autonom dem Staat gemäß glauben, wenn Sie ihm die Ohrmuschel auftun, ohne zu wissen, dass er schon von den reaktiven und entarteten Kräften kontrolliert und zur Vernunft gebracht wird (arraisonné). Sie werden ganz Ohr für diesen Hund von Phonographen und verwandeln sich in einen Highfidelity-Empfänger; Ihr Ohr, das das des anderen ist, nimmt an Ihrem Körper den unverhältnismäßigen Platz eines ‚umgekehrten Krüppels‘ ein.“ 60 J. Derrida: Psyché, S. 455.

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ist mit seinem Namen wie mit seinem Volk (son peuple) verbunden, das sich in seinem Namen, diesen ausrufend, bestätigt fühlt: „[...] entendenz la clameur de son peuple quand il manifeste en son nom: Man-de-la!“61 Mandelas Biographie ist durchsetzt von Auseinandersetzungen zwischen Stimme und Schrift. So konnte er seine ersten Kurse an der Universität nur „par correspondance“ durchführen und nicht „de vive voix“. Das Recht, mit ‚lauter Stimme‘ zu sprechen, vor Ort präsent zu sein und zu diskutieren, blieb ihm verwehrt. Politische Zwänge schränkten das Lautwerden seiner Stimme ein.62 Im Allgemeinen war es der schwarzen Bevölkerung Südafrikas nicht erlaubt, ihre Stimmen – in einem ganz physiologischen Sinn – zu erheben. Die Vorstellung eines mit eigener Stimme sprechenden Volkes verunsichert Machthaber offensichtlich. Die Gefahr der Stimme(n) kann demnach nur durch ein ‚Stimmenverbot‘ gebannt werden.63 Dennoch behauptet der Staat, im Namen des Volkes zu sprechen. Der von den Herrschenden ausgehende Aufruf ans Volk ist oft nicht mehr als eine „imaginäre Referenz“64.

6.3 L ITERATUR

UND

P OLITIK

Die Literatur politisiert, indem sie die Sprache (als Hochsprache) deterritorialisiert. Das bedeutet, der Schriftsteller ist in seinem Schreiben nie allein, sondern immer mit anderen - und nicht so sehr für andere. Schreiben ist ein „gemeinsames Handeln“65 und damit auch ein politisches Tun. Deleuze Beispiel einer in diesem Sinne gelungenen Literatur stellt Kafkas Werk dar. Kafka sei „von A bis Z ein politischer Autor, Künstler der kommenden Welt“. Denn sein „geschichtlicher, politischer und gesellschaftlicher Ausdruck“ sei „jenseits aller Gesetze, Staaten und Regime“66. Kafka schreibt identitätslos, das heißt mit einer Stimme, die nicht die Identität des Autors oder des Staates repräsentiert, sondern viel-

61 Ebd., S. 455. 62 Vgl. ebd., S. 466. 63 Vgl. ebd., S. 466: „L’histoire des gouvernements blancs nous enseigne que les Africains, lorsqu’ils expriment à haute voix leurs exigences, rencontrent toujours l’oppression et la terreur.“ 64 Krauß, Dietrich: Die Politik der Dekonstruktion, Frankfurt a.M.: Campus 2001, S. 141. 65 G. Deleuze/F. Guattari: Kafka, S. 26. 66 Ebd., S. 58f.

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mehr ‚im Kommen‘ ist. Diese Stimme appelliert an ein ‚kommendes Volk‘67; sie schafft damit keine letzten Maßstäbe für eine Gemeinschaft, sondern fordert vielmehr die Bereitschaft, die Grenzen der Gemeinschaft immer wieder in Frage zu stellen. Kafka gelingt in der Art seines Schreibens, durch seinen Schreibstil, und nicht lediglich durch den Inhalt des Geschriebenen, so Deleuze, die Sprache in der Tat zu verändern. Diese schöpferische Behandlung der Sprache versucht, sich den vorgegebenen sprachlichen Ordnungen nicht vollständig anzupassen, sondern in dieser Ordnung etwas Neues entstehen zu lassen, die Sprache von innen heraus zu durchbrechen. Schreiben ist in diesem Sinne eine freie indirekte Rede, die keine eigene Stimme aus sich heraus schafft, sondern Stimmen aufnimmt und weitergibt. Die Stimme(n) oder der Stil im Schreiben begründen die verschiedenen Sprecherinstanzen, nicht umgekehrt erfindet der Sprecher seinen Stil oder seine Stimme.68 Das Subjekt konstituiert sich erst in der Erzählung; es ist nicht von Beginn an gegeben, sondern wird durch die indirekte Rede in der Literatur, als Effekt der vielen Stimmen in einer Stimme, geformt.69 Deleuze kennzeichnet Kafkas Stil als ein Stottern, ein Schreien und ein Geheul im Schreiben. Sein Schreiben birgt eine akustische Dimension, die nicht allein sprachlich ist, obwohl sie in der Sprache beherbergt ist. Die geschriebenen Worte werden nicht einfach als gesprochene gehört, denn damit wäre die Stimme reduziert auf ein Sprechen. Mehr als das geht es Deleuze um die Grenzen der Sprache innerhalb der Sprache, um eine Stimme, die diese Grenzen aufzeigt. Der Schrei, das Stottern, das Heulen stören und befördern den sprachlichen Ablauf zugleich. Schreiben kann nie nur die Aneinanderreihung von Worten sein, sondern beinhaltet eine akustisch-stimmliche Ebene an den Rändern der Sprache, dem Unsagbaren. Wie bei Derrida erscheint hier die Motivation zu Schreiben als eine Art Eingebung oder zumindest als ein passives Element, ein Vernehmen von Stimmen und Klängen, ein Zulassen und Geschehen-Lassen, das sich in den aktiven Vorgang des Schreibens mischt. Deleuze spricht von einer „Auflösung

67 Vgl. C. Colebrook: Gilles Deleuze, S. 104. Colebrook schreibt über Kafka: „He wrote, not as a being with an identity, but as a voice of what is not given, a ‚people to come‘.“ 68 Ähnlich sieht dies in Bezug auf Deleuze auch Claire Colebrook: „It is not that there are speakers who then adopt specific styles; styles produce speaking positions.“ (Dies.: Gilles Deleuze, S. 112). 69 Vgl. auch I. Zechner: Der Gesang des Werdens, S. 41: „Die Erzählung ist jener Prozess, durch den sich in der freien indirekten Rede ein Subjekt konstituiert – in einem doppelten Akt.“

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der konstanten Formen zugunsten der dynamischen Differenzen. Und je näher eine Sprache einem solchen Zustand kommt, um so näher steht sie nicht nur der musikalischen Notation, sondern der Musik selber.“70 Eine ‚Literatur der Mehrheit‘ nimmt nicht wie das minoritäre Schreiben kollektive Stimmen auf, sondern konstruiert Stimm-Identitäten, die als abgeschlossene Einheiten unverrückbar sind. Nicht nur spricht der Held mit einer Stimme, die auf einem durch nichts gestörten Selbstbewusstsein beruht, auch die Stimme des Erzählers bestätigt unaufhörlich seine Identität und gibt dem Leser die einzig richtige Interpretation vor. Die minoritäre Literatur kämpft stets mit dem unlösbaren Problem, nicht nur die schon gegebenen Stimmen hörbar werden zu lassen, sondern ebenso, im Vorgriff, zukünftige Stimmen zu artikulieren.71 Es gilt, eine Stimme immer als Stimme unter anderen wahrzunehmen und zugleich diese Stimmen auf das, was noch aussteht, was ‚im Kommen‘ ist, zu beziehen.72 Eine ‚kleine‘, eine ‚minoritäre‘ Literatur zeichnet aus, dass sie keine Helden hervorbringt, dass sie keine Geschichte eines Einzelnen, eines großen Individuums erzählt. Statt des einsamen ‚Meisters‘, der die Wahrheit für sich beansprucht, sind es für Deleuze die kollektiven Aussagen, die in der Literatur eine politische Bedeutung erhalten.73 Schreiben ist ein Akt, bei dem der Schreibende nicht alleine bleibt. Ähnlich formuliert es auch Derrida: man müsse „zu mehreren sein, um schreiben [...] zu können“74. Jede Aussage entstammt für Deleuze einer kollektiven Aussagenmaschine, die Aussagen beständig produziert, weiterleitet und transformiert: „Es gibt keine individuelle Aussage, sondern nur maschinelle Gefüge, die Aussagen produzieren.“75 Die Kollektivität, die hinter den Aussagen steht und diese generiert, ist eine Mannigfaltigkeit, die sich nicht einem abgeschlossenen, arretierten Ganzen anpasst – wie es hingegen die Begriffe ‚Volk‘ und ‚Gesellschaft‘ nahelegen.76 Die kollektive Aussage bringt andere

70 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 145. Das Musikalisch-Werden des Textes durch ein Stottern, den Stil im Schreiben, der klangliche Elemente im Text inszeniert, erläutert Deleuze auch anhand der Arbeiten von Carmelo Bene, dessen Stil im Text eine melodische Linie entwickelt. (Vgl. G. Deleuze: Kleine Schriften, S. 57f.). 71 Vgl. R. Bogue: The Minor, S. 113f. 72 Vgl. C. Colebrook: Gilles Deleuze, S. 120. 73 Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Kafka, S. 24. 74 J. Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 344. Weiter bemerkt Derrida: „Das ‚Subjekt‘ der Schrift existiert nicht, versteht man darunter irgendeine souveräne Einsamkeit des Schriftstellers.“ 75 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 56. 76 Vgl. ebd., S. 57.

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Kräfte ins Spiel: Meuten und Massen. Die herkömmliche linguistische Untersuchung, die das Subjekt der Äußerung in den Blick nimmt, ignoriert dadurch sowohl den „zwangsläufig gesellschaftliche[n] Charakter der Äußerung“ sowie deren Bezug auf das „kollektive Gefüge“77. Was Deleuze an der Annahme eines Subjekts der Äußerung und eines Subjekts der Aussage stört, ist die damit einhergehende Auffassung, dass der Ursprung der Aussage/Äußerung im Subjekt beziehungsweise im Anderen liege. Wie Deleuze mit der ‚indirekten Rede‘ deutlich machen will, ist die Aussage aber in einer ständigen Weitergabe begriffen, einer Weitergabe, die ihren Ursprung nicht in einem Subjekt und auch nicht im Anderen hat, sondern ohne Bezug auf einen Ursprungsort produziert werden muss. Ordnet er die Aussage dennoch einem Subjekt zu, so deshalb, weil dieses lediglich eine Subjektivierung darstellt, ein Gefüge unter anderen: „[...] ein Subjekt ist niemals die Bedingung der Möglichkeit von Sprache oder die Ursache einer Aussage: es gibt kein Subjekt, sondern nur kollektive Äußerungsgefüge. Subjektivierung ist nur eins dieser Gefüge und bezeichnet daher eine Formalisierung des Ausdrucks und ein Zeichenregime, und nicht eine der Sprache innewohnende Bedingung.“78

Ist die Stimme bei Lacan und Lévinas die des ‚großen‘ Anderen oder des Subjekts des Aussagevorgangs, so kennt Deleuze nur eine Stimme, die sich in einem kollektiven Gefüge vervielfältigt. Diese Stimmen entspringen nicht dem Subjekt, weder dem der Aussage noch des Aussagens und auch keinem Anderen; sie sind überhaupt nicht auf einen Ursprung rückführbar. Deleuze will die Topologie eines höher gestellten Subjekts der Äußerung – als Subjekt des Unbewussten – und eines ‚minderwertigen‘ Subjekts der Aussage umgehen. Jede transzendente Stellung, sei es die des Anderen, sei es die des Subjekts des Aussagevorgangs, weist er zurück. Als indirekte Rede spricht die Stimme nicht von einer erhöhten Position aus.79 Daher bewertet Deleuze die Stimme auch nicht durchgehend als

77 Ebd., S. 112. 78 Ebd., S. 181. 79 Vgl. C. Colebrook: Gilles Deleuze, S. 112f. Colebrook betont den politischen Impetus bei Deleuze: „This is why all minor literature is directly political: not because it expresses a political message but because its mode of articulation takes voices away from the speaking subject to an anonymous or pre-personal saying. Joyce’s style, for example, is less the expression of an individual subject than it is the articulation of what Deleuze and Guattari refer to as a ‚collective assemblage‘. Instead of establishing a transcendent position outside life – a higher moralism – free-indirect style repeats the language of Dublin from within, showing its own limits.“

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positiv. Die Stimmen können ganz unterschiedliche Auswirkungen haben; sie sind jedoch weder genuin gut noch schlecht. Sie haben vielmehr die Möglichkeit, sich in differierende Richtungen zu entwickeln und darin jeweils andere Kräfte freizusetzen. Für die Literatur fordert Deleuze eine minoritäre Stimme, die die Sprache für Neues öffnet. Doch auch diese Stimme kann wiederum missbraucht werden, wenn sie versucht, absolute Macht und Herrschaft über andere zu erlangen.

6.4 P SYCHOANALYSE ,

DIE

R EDUKTION

DER

S TIMME

Gegen die Lacansche Vorstellung, in der Psychoanalyse habe man es mit einem Subjekt der Aussage und einem Subjekt des Aussagens zu tun, wobei das Unbewusste letzterem zugeordnet werden kann, fordert Deleuze einen anderen, neuen Begriff des Unbewussten. Das Unbewusste ist nicht an ein einzelnes Subjekt gebunden, sondern zirkuliert innerhalb von Gesellschaften, Gruppen, Räumen als eine „Produktionsmaschine“; es „deliriert nicht über Papa-Mama, sondern über Rassen, Stämme, Kontinente, Geschichte und Geographie, immer über ein gesellschaftlichen Feld“80. Die Psychoanalyse versucht, jedes Sprechen auf die ödipale Situation zurückzuführen und unterdrückt so gerade die „Stimme der Verrückten“, in der sich nicht die persönliche Biografie artikuliert, sondern gesellschaftliche Fragen „von Politik und Ökonomie, von Ordnung und Revoluti-

80 G. Deleuze: Unterhandlungen, S. 210. Allerdings muss angemerkt werden, dass Deleuze Lacans Leistungen durchaus anerkennt und ihm ebenso klar ist, dass Lacan über die reine Ödipalisierung hinausgeht. Das vom Körper getrennte Partialobjekt entspricht grundsätzlich Deleuzes Ansatz. Auch Guattari zeigt Sympathien mit dem Lacanschen ‚Objekt a‘. Er erklärt dazu: „Indem das Partialobjekt zum Objekt ‚a‘ wird, hat es sich detotalisiert, deterritorialisiert, es hat sich endgültig von einer individuierten Körperlichkeit distanziert; es ist imstande, auf die Seite der realen Mannigfaltigkeiten zu kippen und sich molekularen Maschinismen aller Art zu öffnen, die die Geschichte bearbeiten.“ (G. Deleuze/F. Guattari: „Deleuze und Guattari erklären sich...“, in: G. Deleuze: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953-1974, hg. von Daniel Lapoujade, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 315-334, hier S. 325.) Nach Juranville ignoriert Deleuze (und mit ihm Guattari) jedoch das für Lacan viel wichtigere Gesetz des Mangels, der Kastration, das nicht etwa einen bloß leeren Platz meint. (Vgl. A. Juranville: Lacan und die Philosophie, S. 134).

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on“81 dominieren. Deleuze wirft der Psychoanalyse weiter vor, unfähig zu sein, „den Plural oder das Vielfache zu denken“82. Der Macht des Anderen, des Einen, ist nach Deleuze der produktive Plural entgegengesetzt.83 Stattdessen entwerfe die Psychoanalyse eine transzendente Position, an der sich alles andere auszurichten hat. Die freie Produktion des Unbewussten wird dadurch behindert. Bei Lacan ist dieser absolute Bezugspunkt der ‚große‘ Andere, dem sich das Subjekt unterwirft. Für Deleuze hingegen ist das Unbewusste weder an einen Anderen noch an ein Subjekt gebunden. In der Psychoanalyse nimmt die Stimme des Anderen, die das Subjekt hörig macht, die als vom Körper abgetrenntes Stimm-Objekt einverleibt wird, eine transzendente Stellung ein. Deleuze hebt diesen Aspekt hervor: Die Stimme spricht ‚von oben‘. Die Fähigkeit, aus den unzähligen, akustischen Phänomenen die Stimme auszusondern, hängt an dieser höheren Instanz, sei es als Über-Ich, als Anderer oder als Unbewusstes, die den Unterschied zwischen Stimme und Geräusch deutlich werden lässt. Erst die Stimme ‚von oben‘ scheidet in der psychoanalytischen Perspektive zwischen unbedeutendem Körpergeräusch und bedeutungsstiftender Äußerung, so Deleuze. Deshalb auch muss sie vom Körper abtrennbar sein. Sie ist eben nicht bloß ein unwillkürliches Körpergeräusch. Auf diese Weise wird „der Laut unabhängig“84. Erst durch die Errichtung einer Hierarchie und im Falle der Psychoanalyse einer transzendenten Instanz zeichnet sich eine Stimme ab, die Sprache und Sprechen bedingt. Diese Stimme spricht nicht, um etwas zu sagen, sondern um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, um ein Hören und Gehorchen einzufordern. Das „gute Objekt“ der Psychoanalyse, so Deleuze, ist eben die Stimme, „die spricht und von oben kommt“. Dies sei die „erste Etappe einer Sprachentstehung“85. Vehement kritisiert Deleuze die familiäre Zuordnung der Stimme als ‚gutem‘ Objekt ‚von oben‘, das die Stelle des Vaters vertritt. Die Psychoanalyse dränge den Analysanden dazu, immer wieder auf die familiäre Geschichte zurückzukommen, auf die Vater-Mutter-Kind Konstellation und ihre ödipalen Implikationen. Für Deleuze können die Partialobjekte gerade keinen Personen zugeordnet

81 G. Deleuze: „Drei Gruppenprobleme“, in: G. Deleuze, Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953-1974, S. 282-297, hier S. 285. 82 G. Deleuze: Unterhandlungen, S. 210. 83 Vgl. Schmidgen, Henning: Das Unbewusste der Maschinen, München: Wilhelm Fink 1997, S. 29. 84 G. Deleuze: Logik des Sinns, S. 231. 85 Ebd., S. 239: Auch „Freud beharrt“, so Deleuze, „auf dem akustischen Ursprung des Über-Ich“.

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werden, denn das Unbewusste setzt sich nicht mit Personen auseinander, sondern ist autonom produktiv. Partialobjekte wie die Stimme gehen Beziehungen ein, die ganz unterschiedlich sein können; sie sind nicht beschränkt auf die familiäre und hierarchische Position.86 Die Stimme hat sich bei Deleuze aus der Beziehung von Subjekt und Anderem, wie Lacan sie noch begreift, gelöst.87 Wichtiger als familiäre Strukturen und Beziehungen sind territoriale Verteilungen, Bevölkerungen, soziale und politische Bewegungen. „Der Wahn“, so Deleuze, „ist weltlich-historisch, und nicht familial“88. Die Familie hängt von einem gesellschaftlichen Feld ab und nicht umgekehrt. Ausgangspunkt bildet für Deleuze eine Pluralität, eine Mannigfaltigkeit.89 So sinnlos es ist, den Wolf als einzelnen außerhalb seines Rudels zu betrachten, so sinnlos ist es, das Unbewusste als vereinzelte Einheit zu sehen. Daher spricht das Unbewusste nicht mit einer, sondern mit vielen Stimmen. Das Unbewusste ist für Deleuze ein Stimmenkollektiv, aus dem zwar eine Stimme gewählt werden kann, diese aber muss als solche erst von den anderen gesondert, das heißt kreiert werden. Deleuze hält der Psychoanalyse die Unfähigkeit vor, das Phänomen der Masse in ihre Überlegungen miteinzubeziehen. Das Unbewusste wird als ein mit sich identisches Objekt verkannt. Deleuze schreibt dazu in Tausend Plateaus:

86 Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Anti-Ödipus, S. 58. 87 Auch Claire Colebrook unterstreicht diesen Aspekt bei Deleuze: „The modern oedipal family places the individual in relation to a world that is now reduced to the privacy of an entire history and geography given through the figure of the father. This creates a distinct ‚organology‘. The body is not opened out to all the forces of the earth but faces the private familial scene in which all the cultures and races of the earth are read through oedipal figures. Every affect, figure, scene, voice, body, animal or motif is now translated through the voice of the father who stands for the law as such, the symbolic order, beyond which is the undifferentiated pre-oedipal abyss […]“ (Dies.: Deleuze and the Meaning of Life, London/New York: Continuum 2010, S. 96). 88 G. Deleuze: Unterhandlungen, S. 35. 89 Wobei Deleuze verschiedene Arten von Ansammlungen in Betracht zieht: Die Masse unterscheidet sich insofern von der Meute als deren Führer oder Oberhaupt die Masse zu seinen Zwecken benutzt. Die Meute hingegen organisiert sich anders. Ihr Anführer ist ohne Ansprüche auf Gewinn, Kapital, Vermögen. Er hält etwas zusammen, das stets Gefahr läuft, außer Kontrolle zu geraten. Wie der Führer der Masse, so dient die Masse dem Führer als Identifikationsobjekt. Diese Masse zielt darauf ab, möglichst homogen zu bleiben. Sie lässt keine Bewegung zu. (Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 52f.).

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„Freud hat versucht, Massenphänomene aus der Sicht des Unbewußten anzugehen, aber er hat nicht richtig oder überhaupt nicht gesehen, daß das Unbewußte selber vor allem eine Masse ist. Er war kurzsichtig und taub; er hielt Massen für eine Person. Die Schizos dagegen haben scharfe Augen und Ohren. Sie halten das Gemurmel und Gedränge der Menge nicht für Papas Stimme.“90

Die von Subjekt und Anderem unabhängige Stimme ist für Deleuze kein Gegenpart zur Schrift. Er betrachtet Stimme und Schrift vielmehr als zwei voneinander unabhängige Systeme, die aber als ‚Maschine‘ zusammenarbeiten und wirken, so z.B. in Kunst und Literatur. Deleuze bestätigt damit auch Derridas Neubewertung der Schrift als ‚Urschrift‘ in der Grammatologie.91 Der Unterschied zwischen einer Schrift im weiteren Sinne (die Urschrift), die unabhängig von der Stimme ist, und einer Schrift im engeren Sinne, einer phonetischen Schrift, die sich von der Stimme abhängig macht, ist entscheidend. Deleuze wie auch Derrida verteidigen die Annahme, dass Stimme und Schrift voneinander unabhängig, autonom sind und dennoch gemeinsam auftreten.92 Die Unterordnung der Schrift unter die Stimme, oder allgemein die Abhängigkeit der Schrift von der Stimme und umgekehrt, verhindert einen produktiven Gebrauch von Stimme und Schrift. Sie schränkt beide in ihrer Funktionsweise ein. Bewirkt die Stimme eine Verkümmerung der Schrift, so bewirkt die Schrift eine Einschränkung der Stimme auf eine Stimme der ‚Höhen‘, eine Stimme des ‚Jenseits‘, eine Stimme ‚von oben‘, so Deleuze: „Zum ersten, der Graphismus richtet sich aus an der, beschränkt sich auf die Stimme und wird Schrift. Gleichzeitig induziert er die Stimme nicht mehr als die der Heiratsverbindung, sondern des Neuen Bundes, als fiktive Stimme des Jenseits, die sich im Strom der Schrift als direkte Filiation zum Ausdruck bringt. Diese beiden fundamentalen despotischen Kategorien bilden ebensosehr die Bewegung des Graphismus, der in einem sich der Stimme unterordnet, um sich die Stimme unterzuordnen, an deren Stelle zu treten. So vollzieht sich denn die Vernichtung des magischen Dreiecks: die Stimme singt nicht mehr, vielmehr diktiert, verordnet sie; die Schrift (graphie) tanzt nicht mehr und hört auf,

90 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 48. Schon Canetti, auf den sich Deleuze wiederholt beruft, kreidet Freud ein Verkennen der Masse an, die er immer wieder auf die Psyche/das Unbewusste des Einzelnen zurückführt. 91 Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Anti-Ödipus, S. 260. „Zu Recht sagt Jacques Derrida, daß jede Sprache eine Urschrift voraussetzte, wenn er darunter die Existenz und die Konnexion eines beliebigen Graphismus (Schrift im weitesten Sinne) versteht.“ 92 Vgl. ebd., S. 260.

166 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ die Körper zu beseelen, sie schreibt sich nun ein und gerinnt in Tafeln, Steinen und Büchern“.93

Diesen Einfluss sieht Deleuze vor allem in Religion und Psychoanalyse am Werk. Hier schreibt sich der Schuldkomplex durch die Stimme (des Gott-Vaters, des Anderen), die von einem erhöhten transzendenten Punkt aus erklingt, in den Körper des Subjekts ein, in einen leidenden und von Schuldkomplexen verfolgten Körper. Den Sinn dieser Einschreibung auf dem Körper durch die Stimme besteht schließlich darin, „den Menschen zu dressieren, ihn tief ins Fleisch zu kennzeichnen“94. Hier scheinen Psychoanalyse und Religion für Deleuze ähnliche Strukturen zu besitzen: Bei beiden schließt sich ein Bund zwischen einem transzendenten, übermenschlichen Despoten und den Vielen, die sich der Stimme unterordnen (Gott und das Volk, der Andere und die Subjekte). So werden die Vielen zum Gegenpol des Einen, der Gehorsam verlangt. Der Despot muss nicht unbedingt ein absoluter, abstrakter Anderer sein, sondern kann auch ein weltlich konkreter Machthaber sein, der sich selbst erhöht, indem er eine direkte Verbindung zur Transzendenz herstellt. Der „akusmatische Meister“95, der nicht gesehen wird, ja dessen Sichtbarwerden sogar verboten ist, findet sich nicht nur in der (Freudschen) Psychoanalyse (wo der Analytiker hinter dem Analysanden sitzt) und in der Religion (als monotheistisches Bilderverbot), sondern auch im Kino: Die Allmacht einer Stimme im Film, deren Ausgangspunkt nicht erkennbar ist, stärkt die transzendente Figur des unzugänglich Anderen. In der Literatur sieht Deleuze eine Möglichkeit, sich dem Despotismus der einen Stimme ‚von oben‘ zu widersetzen. Dieses politische Anliegen findet seinen Ausdruck in der Schaffung oder besser Erfindung eines Volkes, in dem nicht eine Stimme regiert, sondern eine Stimmenvielfalt produktiv wird. Deleuze spielt mit der Bezeichnung einer ‚Erfindung‘ des Volkes darauf an, dass dieses Volk nicht schon geschaffen, homogen und abgeschlossen ist, sondern konsequent in einem Werdensprozess verbleiben muss.96 Nur so bewahrt es das Potenzial, die herrschende Ordnung zu destabilisieren. In diesem Sinne ist es ein ‚zu kommendes‘ Volk und damit eine „schöpferische Minorität“97.

93 Ebd., S. 263. 94 Ebd., S. 244. 95 M. Eggers: Texte, die alles sagen, S. 203. Zum Akusmatischen im Kino vgl. Chion, Michel: La voix au cinéma, Paris: Étoile 1982. 96 Vgl. G. Deleuze: Kritik und Klinik, S .14. 97 G. Deleuze: Unterhandlungen, S. 249.

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„Nicht der Mythos eines vergangenen Volkes, sondern das Fabulieren eines künftigen. Der Sprechakt muß als fremde Sprache in einer herrschenden Sprache (langue) entstehen, um gerade die Unmöglichkeit auszudrücken, unter dieser Herrschaft zu leben. Die reale Person verliert ihre Privatheit im selben Zuge wie der Autor seine Abstraktheit, um zu zweit, zu mehreren, die Aussagen Québecs, Aussagen über Québec, über Amerika, über die Bretagne und über Paris zu bilden (freie indirekte Rede).“98

Literatur wie auch Film werden zu einem Politikum; sie sind Möglichkeit eines politischen Ausdrucks und einer politischen Wirkung. Ihre Tragweite ist geopolitisch, historisch, global: Sie durchqueren Länder und Kontinente. Der Sprechakt, sei es in der Literatur oder im Film, „spricht mit vielen Stimmen und sät nach und nach die Elemente eines künftigen Volkes aus“99.

6.5 Z USAMMENFASSUNG : Ü BER

DAS

R ITORNELL

Wie nun die Stimme politische Wirkmacht erhält, wie sie geopolitisch aktiv wird, lässt sich anhand des Ritornells, einem für Deleuze zentralen Begriff, näher erläutern. Insbesondere die Musik, ja das Klangliche überhaupt, kann durch die „Arbeit des Ritornells“100 bestimmt werden. Im Begriff des Ritornells sind die drei für Deleuze grundlegenden Dimensionen des Perzepts, des Konzepts und des Affekts vereint. Es spielt eine bedeutende Rolle bei der Absteckung und Eingrenzung von Räumen. Vor allem das klangliche Ritornell trägt dazu bei: „Ganz allgemein bezeichnet man als Ritornell jedes Ensemble von Ausdrucksmaterien, das ein Territorium absteckt und das sich in territorialen Motiven und Landschaften entwickelt (es gibt motorische, gestische, optische und viele andere Ritornelle). Im engeren

98

G. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino II, S. 287.

99

Ebd., S. 287f. In Kritik und Klinik merkt Deleuze dazu an: „Für Mitteleuropa bietet Kafka, für Amerika Melville die Literatur als kollektive Äußerung eines kleinen Volkes oder aller kleinen Völker, die ihren Ausdruck nur durch und im Schriftsteller finden. Obwohl sie stets auf einzelne Akteure verweist, ist die Literatur ein kollektives Äußerungsgefüge. Die Literatur ist Delirium, das Delirium aber ist keine Sache von Vater-Mutter: Es gibt kein Delirium, das nicht die Völker, Rassen und Stämme durchquert und die Weltgeschichte heimsucht. Jedes Delirium ist historisch und global, ein ‚Wandern von Rassen und Kontinenten‘.“ (Ebd., S. 15).

100 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 411.

168 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ Sinne spricht man vom Ritornell, wenn das Gefüge klanglich ist oder vom Klang „beherrscht“ wird – aber warum dieses scheinbare Privileg?“101

Das Ritornell ist eine Art chaotische oder labile Organisation, eine Bewegung, die kein festes Ziel kennt, nicht abgeschlossen strukturiert ist und doch ein Territorium bestimmt bzw. wieder auflöst um ein neues zu formen. Damit kommt dem Ritornell die Funktion zu, Grenzen und Ränder abzustecken, die sich wiederum ändern können. Im Übergang der Schaffung und Auflösung von Grenzen findet sich die Stimme als dasjenige wieder, was sowohl dem reinen Lärm eine Form gibt (territorialisiert) als auch die Sprache offen hält für Wandlungen (deterritorialisiert).102 Gerade das Ritornell als Stimme zieht Grenzen, trennt zwischen Bereichen und verschiebt die Grenzen wieder. Die von der Stimme abgesteckten Gebiete können sich wieder verschieben; die Ränder sind beweglich. Deleuze erwähnt das Beispiel eines Kindes, das „im Dunkeln Angst bekommt“ und sich beruhigt, „indem es singt“103. Die Stimme garantiert in diesem Fall die Sicherung des eigenen Terrains; sie markiert die Grenze, die die Angst nicht überschreiten kann. Es ist ein gewisser Rhythmus, eine Wiederkehr von Mustern und Tönen, die eine Kraft entwickeln und damit Grenzen errichten können, ein Bereich gegen den anderen abschirmend. Dies geschieht zum Beispiel im Lied: „[...] ein Arbeitslied, ein Marschlied, ein Tanzlied, ein Lied für die Ruhe, ein Trinklied, ein Wiegenlied..., fast immer ein kleines ‚Leier-Lied‘, das jeweils sein eigenes Gewicht besitzt.“104 Die Stimme als Ritornell wirkt im Privaten wie im Öffentlichen, als Angst lindernde Stimme des Kindes wie als eine Begeisterung weckende Stimme in der politischen Einflussnahme. Damit nimmt die Stimme, neben anderen Klangmustern, einen Platz ein, der die Produktion eines Ritornells vorantreibt. Auch die Erfindung eines Volkes hängt an einer Klanglichkeit, die als Ritornell Grenzen absteckt und immer wieder neu zieht. Die damit skizzierte Stimme geht nicht im

101 Ebd., S. 440. 102 Vgl. Aracagök, Zafer: „Retenir la ritournelle“, in: Manola Antonioli/Pierre-Antoine Chardel/Hervé Regnauld (Hg.), Gilles Deleuze, Felix Guattari et le politique, Paris: Sandre 2007, S. 213-227, hier S. 221: „Le moment qui marque le passage du territoire à sa déterritorialisation marque aussi le passage du bruit (milieu) à la ritournelle (territoire). Deleuze explique ce trajet, ce moment de passage entre bruit et voix.“ 103 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 424. 104 G. Deleuze: Kritik und Klinik, S. 142.

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Sprechen auf, ihre Intensität, ihr Klang umreißt vielmehr soziale Gruppen wie Räume und Territorien.105 Stärker noch als visuelle sind es bei Deleuze akustische Eindrücke, die auf einer politischen Ebene wirksam werden: „Mit Farben kann man ein Volk nicht auf die Beine bringen. Fahnen sind ohne Trompeten wirkungslos, die Laser richten sich nach dem Klang.“106 Eine Gemeinschaft gründet und bestätigt sich wirkungsvoll durch eine stimmlich-klangliche Manifestation, sei es nun in der Nationalhymne oder im Slogan, in der Parole. Michel Poizat hat diesen Aspekt eindrucksvoll untersucht und konstatiert darin eine fundamentale Verbindung zwischen Heiligem und Politischem.107 Ausdrücklich weist er auch auf den notwendigen Zusammenhang von Stimme und Musik hin. Die Stimme verbindet sich mit der Musik, mehr noch: die Musik ist die ‚Verlängerung‘ der Stimme.108 In welchem Bereich auch immer, als Schlachtruf im Krieg oder im Sportstadion, als gemeinsames Gebet in der religiösen Gemeinschaft, als Hymne einer Nation, die Stimme entwickelt eine vor allem auch emotionale Kraft, die vielen zu vereinen. Diese Forderung nach einer Einheit der Stimme als ‚vox populi, vox dei‘ zieht einen Bogen vom Heiligen zur Demokratie. Das Ritornell ist eine musikalisch-klangliche und stimmliche Kraft; es „ist par excellence klanglich, aber es entfaltet seine Kraft sowohl in einem kitschigen Chanson, als auch in einem ganz reinen Motiv oder in dem kleinen Thema von Vinteuil“109 . Es durchquert den Raum, zieht Grenzen und schafft neue Aufteilungen. Zugleich steckt in der Macht des Klanglichen die Gefahr einer beständigen Reterritorialisierung. Das bedeutet: Die Stimme kann auch faschistische Züge annehmen und ein starres System des Gehorsams befehlen.

105 Vgl. C. Colebrook: Deleuze and the Meaning of Life, S. 118: „There is a voice that is other than speech, a sound or intensity that is not the expression of a self or body and that occurs extra-organically as a rhythm or pulsation from which something like a social body or territory would emerge.“ 106 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 475. 107 Vgl. M. Poizat: Vox populi, vox Dei, S. 14ff. 108 Vgl. ebd., S. 18. „C’est que selon nous (et bien d’autres), le musical n’est qu’une modalité du vocal, en tout cas dans ses implications profondes: l’instrument n’est que l’instrumentation, voire le simple prolongement de la voix.“ Zum Slogan schreibt Poizat: „Avec le slogan nous retrouvons donc explicitement ce que G. Agamben décrit comme le propre de la politique: le passage de la voix à la parole“ (ebd., S. 18). 109 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 475.

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Die Stimme wirkt dabei auf einer vielfältig affektiven Ebene. Wir geben uns bestimmten Rhythmen und Klängen hin (z.B. dem Rhythmus einer Rede, Hymnen, Schlachtrufen, sei es im Fußballstadion oder auf einer Demonstration) und genießen diesen akustischen Affekt. Nicht nur ist die Stimme Spur des Körpers, auch umgekehrt affiziert die Stimme den Körper. Politische Ideen und Ziele sind daher nicht nur intellektuell nachvollziehbar zu machen, sondern ebenso notwendig sinnlich – sichtbar und vor allem hörbar – zu vermitteln.110 Schließlich ist die Stimme an sich weder ein positiv noch ein negativ zu bewertendes Phänomen, sondern entwickelt Kräfte, die in beide Richtungen – insbesondere auf einer politischen Ebene – wirken können. Die von der Stimme provozierte, zunächst neutrale Bewegung ist, ähnlich wie bei Lacan, Lévinas und auch Derrida, ein Akt der Grenzziehung, die nicht nur Räume abstecken wie auflösen, sondern auch Gemeinschaften bilden wie trennen kann. Anders als bei Lévinas und Lacan hingegen ist die Stimme, das Klangliche, das Musikalische aber auch dazu da, Neues zu schaffen, d.h. es geht gerade nicht um die Unterwerfung unter einen Anderen, sondern um die Umformung des Bestehenden, in der Erwartung eines ‚Zu-Kommenden‘. Die Betonung einer Stimme, eines klanglichen Materials im Schreiben bedeutet auch, dass die streng passive Position (wie bei Lévinas als Passivität vor jeder Passivität) in eine aktiv-passive aufgehoben ist. Denn es geht nicht nur darum, Stimmen weiterzugeben, sondern eben in dieser Weitergabe, die Vorgabe zu verändern. Damit ist der schwierige Übergang von einer fundamentalen Ethik in eine Politik angedeutet.

110 Vgl. G. Deleuze: Kleine Schriften, S. 63. Deleuze kommentiert hier Carmelo Benes La rose et la hache (nach Shakespeares Richard III), wo sich Gebärden mit Stimmen verbinden, die zusammen die politische Problematik deutlich werden lassen: „Und die stimmlichen Variationen der beiden, Phoneme und Tonalitäten, bilden eine sich immer mehr verengende Linie, die sich in die Gebärden einschleicht und umkehrt. Der Zuschauer muß das Ziel, das die Stammeleien und Stolpereien des Anfangs verfolgen, nicht nur verstehen, sondern auch hören und sehen: die Idee ist sichtbar und fühlbar geworden, die Politik erotisch.“

7. Freundschaft, Gemeinschaft, Demokratie (Derrida)

7.1 D IE S TIMME

DES

F REUNDES

Anknüpfend an eine Stimme in der Schrift, als Grammophonie und Polylog, stellt sich für Derrida eine politische Dimension der Stimme heraus, die wie bei Deleuze eine Vervielfältigung der Stimme bedeutet. Mit dem ‚Stimmengewirr‘ oder ‚Stimmenkollektiv‘ ohne feste Grenzen, die sich mit der ‚einen‘ Stimme konfrontiert sieht, eröffnet sich ebenso die Frage nach der Gefahr wie der Chance einer Stimme, die politische Ausmaße impliziert. Besonders in den späteren Werken geht Derrida der Frage nach der politischen Tragweite der Stimme nach. In Politik der Freundschaft1 thematisiert Derrida die ambivalente Bedeutung der Stimme des Freundes. Mit dem nach Michel de Montaigne zitierten aporetischen Ausruf „O meine Freunde, es gibt keinen Freund“ richtet sich Derrida am Anfang seines Seminars an die Zuhörer und lässt damit nicht nur Montaigne (Über die Freundschaft) sprechen, sondern auch Aristoteles (Nikomachische Ethik), auf den sich Montaigne wiederum bezieht. Dass Aristoteles selbst auf anonyme Vorgänger zurückgreift, macht die Problematik von eigener und anderer Stimme deutlich. Mit dem Zitat, das selbst wiederum Zitat ist, weist Derrida auf den Umstand der Stimme hin, die schon weitergegeben und übernommen ist. Spricht Derrida also in seinen eigenen Worten, mit eigener Stimme, oder mischt sich hier nicht schon eine andere Stimme in die eigene, vermeintlich ursprünglichere? Wie für Deleuze jede Aussage auf eine andere zurückgeht, eine ständige Weitergabe von Stimmen, ist die eigene Stimme für Derrida eine in endloser

1

Vgl. J. Derrida: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.

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Rekurrenz schon ‚zitierte‘ Stimme. Im Ausruf „O meine Freunde, es gibt keinen Freund“2 klingen andere Stimmen mit an. Die Konzentration Derridas auf das Thema ‚Freundschaft‘ steht ganz im Zeichen der Forderung einer Neubewertung politischer Leitsätze. Eine ‚Politik der Freundschaft’ im Sinne Derridas muss die Begriffe ‚Freund‘ und ‚Freundschaft‘ zunächst dekonstruieren, um diese dann jenseits jeder ‚natürlichen‘ Freundschaft neu einzusetzen. Der ‚natürliche‘ Freund ist als ein Bruder zu verstehen, als jemand, der zur Familie, zum eigenen engsten Kreis gehört. In der Politik wird der Freund als Bruder, als nächster männlicher Verwandter, zu einem politisch Verbündeten. Derrida propagiert dagegen eine Politik „jenseits des Brüderlichkeitsprinzips“, eine strenggenommen unmögliche Politik, die auch ihm selbst schwer vorstellbar erscheint: „Stünde ihr der Name der ‚Politik‘ noch zu?“3 Sie müsste die Unterscheidung in Freunde und Feinde unterlaufen und sich ausrichten an einer Freundschaft ohne Gegenbegriff. Dass gerade die Stimme des Freundes für Derrida eine Rolle spielt, wird ebenso deutlich, wenn er sich an die Stimmen verstorbener Freunde immer wieder erinnert und diese, wie er sagt, im Ohr behält.4 Der schon verstorbene Freund Roland Barthes ‚begleitet‘ Derrida durch seine ihn überlebende Stimme. Die lebendige Stimme verweist somit stets auch auf den Tod des Menschen, der mit dieser Stimme spricht. So entzieht sich die Stimme des Freundes bei Derrida dem Antagonismus von Tod und Leben: Als lebendige Stimme ist sie zwar Hinweis auf den Tod des Sprechers; als verstorbene Stimme aber macht sie den Sprecher in gewisser Weise wieder lebendig, ruft ihn ins Gedächtnis. Die Stimme wird so für Derrida zu einer Mahnung, die auf den Verlust des Freundes und auf unwiderrufliche Versäumnisse aufmerksam macht. Sie ruft die Trauer um den Freund hervor, den man immer verlieren wird. Daher besteht die Stimme für Derrida gerade in einer Aufforderung, den Freund zu hören, sein Reden wie sein Schweigen anzunehmen.5 Die Stimme des Freundes, das „Timbre einer Stimme“ zu einem bestimmtem Augenblick, „der Tonfall am Telefon“ beispielsweise, ist

2

Ebd., S. 17. Dass Philosophie eng mit der Frage der Freundschaft verknüpft ist, darauf weist auch Deleuze hin: „Bleibt die Frage der Freundschaft. Sie gehört in die Philosophie, denn der Philosoph ist kein Weiser, sondern ein ‚Freund‘ - von wem, von was? Kojève, Blanchot, Mascolo haben diese Frage des Freundes im Zentrum des Denkens aufgegriffen.“ (Ders.: Unterhandlungen, S. 236).

3

J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 10.

4

Vgl. J. Derrida: Jedesmal einzigartig, das Ende der Welt, Wien: Passagen 2007, S. 72.

5

Vgl. ebd., S. 128.

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für Derrida ein solch unbeschreibbarer Moment, der „ohne Archiv und ohne Worte“6 bleibt, und der Ausgang für die Trauer um den Freund ist. Was den Freund also unverwechselbar macht und selbst nach seinem Tod noch Spuren hinterlässt, ist die Eigenart seiner Stimme. Die unvergleichbare Stimme des Freundes mahnt in der Trauer um den Freund zugleich, diesem Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Der Tod des Freundes macht ihn nicht vergessen. Im Gegenteil geht damit die Forderung einher, die Erinnerung an ihn zu bewahren. Hier nun steht die Einzigartigkeit der Stimme in Widerspruch zur Behauptung der Unmöglichkeit, eine eigene Stimme zu besitzen. Deutlich kündigt sich damit der von Derrida problematisierte Konflikt zwischen ethischer und politischer Verpflichtung an. Deutlich wird aber auch, dass zwischen beiden sich scheinbar widersprechenden Seiten eine notwendige Verbindung besteht. Der andere wird als Freund in unserer Alltagsbegegnung konkret. Er ist unser Nächster, mit dem wir Erfahrungen teilen, der uns buchstäblich nahekommt. Indes ist er trotzdem anderer, den wir irgendwann verlieren werden. Dieser drohende Verlust ist der Beziehung immanent und lässt sie ambivalent werden. Die Stimme steht in eben dieser Spannung: Sie ist wie der uns nächste Freund nah und fern zugleich, vertraut und doch fremd. Sie ist Stimme eines uns bekannten Individuums, eines Freundes, aber als solche schon fremd und anders. Derrida beschreibt diesen Zustand immer wieder in seinen Betrachtungen Jedesmal einzigartig, das Ende der Welt, einem Werk, das er aus Anlass des Todes einiger seiner Freunde geschrieben hat. Zitiert Derrida verstorbene Freunde, wie zum Beispiel Max Loreau, dann geht es ihm nicht darum, „ihn allein von sich selber sprechen zu lassen“7, denn die Stimme des Freundes ist durch Derrida schon ‚transkribiert‘. Derrida kann die Stimme des Freundes nicht wiederholen. Will Derrida dies tun, so entspricht dies seinem eigenen Wunsch, den verlorenen Freund in gewisser Weise wieder lebendig werden zu lassen. Die Stimme des Freundes mischt sich durchaus mit Derridas eigener Stimme; sie spricht aber nicht direkt. Im eigenen Sprechen und Schreiben möchte Derrida „seine [die Stimme Loreaus, Anm. S.T.] Stimme hören und seine Schrift betrachten“8. Eigenartig ist dieses Wirken der Stimme, die selbst nach dem Tod des Freundes noch hörbar ist. Derrida erscheint sie, als ob er sie „immer noch sehen [Herv. i.O.] würde“ und zwar auch in der Schrift, so etwa wenn Derrida Loreaus Texte liest und währenddessen darauf wartet „den schattenhaften Teil einer Stimme zu

6

Ebd., S. 128.

7

Ebd., S. 135.

8

Ebd., S. 135.

174 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ

überraschen, die ich kenne, die ich immer noch sehr deutlich höre“9. Die Stimme besteht auch nach dem Ableben des Körpers in einer ihr eigenen Lebendigkeit fort. Auf diese Weise verwischen sich für Derrida die sonst strengen Grenzen von Leben und Tod. Die Stimme bewirkt eine doppelte Umkehrung: Sie verweist als lebendige Stimme auf ihren Verlust, den Tod, und kann als tote Stimme eine Erinnerung lebendig machen. Nicht ohne Grund haben die letzten Worte vor dem Tod, die letzte Verlautbarung der Stimme, ein besonderes Gewicht und gelten über den Tod hinaus. So hat der Tod seines ohne Zweifel bedeutenden Freundes Emmanuel Lévinas Derrida tief bewegt. Seine „Stimme“ würde er „heute so gern hören“10. In der Trauer trägt Derrida Lévinas’ Stimme bei sich, als Erinnerung an den lebenden Freund und in dem Wunsch, dieser Freund möge wieder nah sein. Die Stimme spiegelt eine Lebendigkeit vor, die nicht real ist; das Wissen um den doch unwiderruflichen Verlust macht dies bewusst. Mit der Stimme des Freundes macht Derrida einen entscheidenden Schritt, der ihn, trotz der weiterhin bestehenden Gemeinsamkeiten, von Lévinas trennt. Derrida geht eben nicht von einer transzendenten Stimme eines absolut Anderen aus. Dieser Andere wird bei Derrida vielmehr zum ‚Freund‘. Die Stimme des Freundes führt Derrida weiter aus als politisch-ethischer Konflikt. Er geht damit sowohl über die Stimme des Anderen wie auch noch über die Figur des Dritten bei Lévinas hinaus. Die politische Dimension ist von Beginn an vorauszusetzen.11

7.2 G ESPENSTISCHE S TIMME Verstören können die Stimmen Verstorbener aber dann, wenn sie sich der gezielten und kontrollierbaren Erinnerung entziehen. Wenn die Stimme des Freundes unaufhörlich und unaufgefordert heimsucht, kann sie zu einer unheimlichen Stimme werden, die in ihrem Bedrängen ein gewisses Eigenleben führt. Diese Stimme ist dann nicht mehr nur die Stimme, die uns in der Trauer begleitet und an den verlorenen Freund erinnert, sondern auch eine verfolgende und mahnende

9

Ebd., S. 137.

10 Ebd., S. 250. 11 Vgl. Simon, Rupert: Die Begriffe des Politischen bei Carl Schmitt und Jacques Derrida, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2008, S. 137f. Simon weist auf den Unterschied des Anderen (l’autre oder l’autrui) bei Lévinas und dem Fremden/dem Ausländer (l’étranger) bei Derrida hin.

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Stimme, den Freund nicht zu vergessen.12 Sie wird zum Ohrwurm, der sich parasitär einnistet. Für Derrida sind solche (be)drängenden und verfolgenden Stimmen sogar in der Lage, sich durch die Jahrhunderte zu ziehen. Sie leben in der dauernden Weitergabe in einer scheinbaren Lebendigkeit fort. Die Philosophiegeschichte ist nach Derrida Beispiel für eine solche Wiedergabe von Stimmen, in denen sich Namen von Philosophen markieren. Die Stimme übernimmt die Aufgabe der Übertragung und schafft es, selbst über einen langen Zeitraum hinweg, das Andenken an eine Person in fast geisterhafter Lebendigkeit zu halten. Unheimlich wirkt dies deshalb, weil die Stimme eine Präsenz vorgibt, die schon vergangen, also ‚tot‘ ist. „Dann kann man von Generationen von Schädeln oder von Geistern (Kant zeugte Hegel, dieser zeugte Marx) nur unter der Bedingung der Sprache sprechen – und der Stimme, jedenfalls nur unter der Bedingung dessen, was den Namen markiert oder seine Stelle vertritt (‚Hamlet: That Scull had a tongue in it, and could sing once.‘).“13

Stimme bedeutet nicht nur das tatsächliche Lautphänomen, sondern auch die damit verbundene Markierung des Namens, der sich in der Stimme weitergibt, sich fortsetzt, sich wieder-holt. Insofern kehren die Stimmen mehr als ‚Wiedergänger‘ (revenant) denn als Gespenster (fantôme) zurück, so Derrida. Die Stimmen Verstorbener sprechen aber nicht nur aus der Vergangenheit, sondern projizieren sich, als Prophezeiung, in die Zukunft. Sie leben nicht nur in den Hörern, sondern gerade in den noch kommenden Hörern fort. Sie bringen das Vergangene in einer paradoxen Weise wieder, das zugleich aus einem Zukünftigen erklingt.14 Die scheinbare „Überwindung des Todes“15 durch Konservierung und Archivierung der Stimme unterstreicht überdies ihre Sonderstellung als Umkehrung und Verschränkung von Lebendigem und Toten. Die Unheimlichkeit der

12 Vgl. J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 92. 13 J. Derrida: Marx’ Gespenster, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 24. 14 Vgl. M. Goldschmit: Derrida. Une introduction, S. 137. 15 Th. Macho: Stimmen ohne Körper. Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme, S. 139. Macho zitiert dazu William Croffut über Thomas Alva Edison, der die Stimme eines Hundes aufzeichnet: „Eines Tages kam ein Hund hier vorbei und bellte in den Trichter, [...] und dieses Bellen wurde in phantastischer Qualität reproduziert. Wir haben die Walze gut aufgehoben und nun können wir ihn jederzeit bellen lassen. Dieser Hund mag von mir aus sterben und in den Hundehimmel kommen [...], aber wir haben ihn – alles, was Stimme hat, überlebt.“ (Ebd., S. 139).

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Stimme rührt gerade aus der Verwobenheit von Leben und Tod, von der Nähe des Lebendigen zum Toten. Als technisch aufgezeichnete Stimme wird sie unheimlich, weil sich darin stets diese Ambivalenz spiegelt. Die aufgezeichnete Stimme ist oder wird eines Tages diejenige eines bereits Verstorbenen sein.16 Schon das Selbstgespräch ist infiziert mit einer gespenstischen Stimme, einer toten Stimme in der lebendigen. Eine Wiederkehr gespenstischer Stimmen, die die Präsenz brechen, wie auch Roland Barthes bestätigt: „[...] die Stimme ist immer schon tot, und nur aus verzweifelter Verleugnung nennen wir sie lebend“.17 Die bedrängende und verfolgende Stimme ist unheimlich. Sie geht um, geistert durch die Zeit, kehrt unerwartet wieder und entzieht sich durch ihre Ortlosigkeit. Da sie keinem lebendigen Körper mehr angehört, kann sie – als Stimme eines Geistes – an vielen Orten zugleich sein. Die der Stimme charakteristische Unheimlichkeit beruht gerade auf der Unmöglichkeit, die Stimme auf einen Ort festzulegen. Die Atopie oder vielmehr Hypertopie der Stimme setzt eine irritierende Heimsuchung in Gang, die noch intensiver wirkt als der unheimliche Blick, der sieht ohne gesehen zu werden: „Aber um daselbst zu wohnen, wo man nicht ist, um alle Orte gleichzeitig heimzusuchen, um atopisch (verrückt und nicht lokalisierbar) [Herv. i.O.] zu sein, muß man nicht nur durch ein Visier blicken, sehen, ohne von dem gesehen zu werden, der sich sehen läßt (ich, wir), sondern man muß sprechen. Und Stimmen hören. Dann erklingt gespenstisches Gemurmel, das alles erfüllt: Der Geist der ‚Erhabenheit‘ und der Geist der ‚Sehnsucht‘ überschreiten alle Grenzen. ‚Und man hört‘, zitiert Marx, ‚aus den Menschen Millionen Geister reden‘.“18

Der Geist (esprit) der Philosophiegeschichte verbreitet sich wie ein Gespenst. Er verfolgt (haunter) das Denken durch die Jahrhunderte. Der Geist, zunächst verstanden als Bewusstsein, als Instanz des Denkens und Urteilens, überlappt sich sowohl mit dem Spirituell-Transzendenten (der ‚Heilige Geist‘) als auch mit dem Gespenstischen, dem Spuk.19 Die Philosophie, die sich auf neutralem Boden glaubt, ist nicht frei von ‚Spuk‘, von Wiedergängern der Geschichte. Wie bei Deleuze ist jede Rede eine indirekte und damit eine Weitergabe von Stimmen, so dass letzten Endes undurchschaubar wird, wer den Anfang gesetzt hat

16 Vgl. B. Waldenfels: Das Lautwerden der Stimme, S. 209. 17 R. Barthes: Über mich selbst, Berlin: Matthes & Seitz 1978, S. 74. 18 J. Derrida: Marx’ Gespenster, S. 184. 19 Vgl. ebd., S. 186.

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und wer wem seine Stimme leiht. Die Stimme führt darin ein unheimliches Eigenleben. „Zitieren wir Marx, der Stirner zitiert, um ihn zu dem Eingeständnis zu zwingen, daß er sich unwiderstehlich mit dem Gegen-Zeugen identifiziert, den er zum Vergleich zitiert, nämlich mit dem armen Szeliga. Dieser letztere wird die Vergessenheit nur in einer inkonsistenten Gestalt überlebt haben, er spricht nur noch vermittels dieser indirekten Stimme.“20

Es gibt keine ‚erste‘ Stimme, denn „am Ursprung“, so Derrida, „steht ein Gerücht“. Wiederum Deleuze in der indirekten Rede vergleichbar fährt Derrida fort: „Alles beginnt mit einem ‚wie man sich erzählt‘, mit einem ‚man sagt, er hätte gesagt‘.“21 Aus diesem Grund wendet sich die lévinassche vorursprüngliche Begegnung eines ‚von Angesicht zu Angesicht‘ bei Derrida zu einem Hören und Sprechen des anderen, das erst gegeben werden muss. Die Gabe der Stimme ist aber schon vermittelt; die Stimme eines anderen (la voix d’un autre) ist die eines ‚anderen anderen‘ (un autre autre), der für Derrida Bote, Engel, Prophet ist.22 Sei es in der mündlichen, sei es in der schriftlichen Überlieferung: Der Ursprung ist schon eine Weitergabe, eine Transmission; eine erste Aussage als Ausgangspunkt ist für Derrida nicht möglich. Eben dieser Aspekt klingt in Derridas leitmotivischem Ausruf ‚O Freunde, es gibt keine Freunde‘ an, das selbst einem „Zitatengewirr“ entstammt, das ohne Ursprung ist und „in dem dieses Gerücht kursiert“. „Es hat niemals begonnen“, so Derrida, „es hat nur das Simulakrum seiner Entstehung in die Welt gesetzt“23.

20 Ebd., S. 186. Und weiter schreibt Derrida: „Alles verdichtet sich also in dieser deutschen Redewendung ‚Es spukt‘, die von den französischen Übersetzungen nur umgeschrieben werden kann. Man müßte sagen: Es sucht heim, es wiedergängert, es gespenstert, es gibt Phantomhaftes darin, es riecht nach Untoten [...] Das Subjekt, das heimsucht, ist nicht identifizierbar, keinerlei Gestalt ist sichtbar, lokalisierbar, fixierbar“. 21 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 238. 22 Vgl. J. Derrida: Donner la mort, Paris: Galilée 1999, S. 87. „Mais le plus souvent on doit me le donner à entendre, je m’entends dire ce qu’il me dit par la voix d’un autre, d’un autre autre, un messager, un ange, un prophète, un messie ou un facteur, un porteur de nouvelles, un évangéliste, un intermédiaire qui parle entre Dieu et moi.“ 23 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 239. Gunter Gebauer und Christoph Wulf bemerken im Hinblick auf Mimesis in Prozessen der Dekonstruktion daher: „Texte sind

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7.3 H EIDEGGER :

DIE

S TIMME ,

DIE

G EMEINSCHAFT

Einen Schwerpunkt in Derridas Auseinandersetzung mit einer Politik der Stimme bilden Heideggers Schriften. In Heideggers Ohr. Philopolemologie (Geschlecht IV) (1989), einem Text, der sich an die Politik der Freundschaft anschließt, stellt Derrida ein Zitatfragment Heideggers voran, das als roter Faden den Gedankengang durchziehen wird: „[...] als Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt.“24 Die Bedeutung der Stimme des Freundes vergleicht Derrida auch in der Politik der Freundschaft mit derjenigen der Stimme des Gewissens bei Heidegger: „Vielleicht muß diese fremdartige, zugleich innere und von draußen ertönende Stimme, durchaus mit jener Stimme des Gewissens* in Zusammenhang gebracht werden, der Heidegger ihrerseits eine existenzialanalytische Beschreibung widmet. Das Woher des Rufs ist die Unheimlichkeit* [Herv. i.O.]; und schon diese Unheimlichkeit würde ausreichen, dem Diskurs Heideggers alles ungebrochen Heimische auszutreiben, käme ihr nicht in ihm eine zweideutigere, aber gespenstische und stets entscheidende Rolle zu. Dem ‚alltäglichen Man-selbst‘ ist die Stimme dieses Rufs ‚unvertraut – so etwas wie eine fremde Stimme‘.“25

also das Ergebnis von Zitaten, von unbekannten Bezügen und haben so gesehen nie den Charakter von Originalen.“ (Dies.: Mimesis, S. 406). 24 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1993, §34, S. 163. Heidegger schreibt an dieser Stelle: „Das Hören auf... ist das existenziale Offensein des Daseins als Mitsein für den Anderen. Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen, als Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt. Das Dasein hört, weil es versteht. Als verstehendes In-der-Welt-sein mit den Anderen ist es dem Mitdasein und ihm selbst ‚hörig‘ und in dieser Hörigkeit zugehörig. Das Aufeinander-hören, in dem sich das Mitsein ausbildet, hat die möglichen Weisen des Folgens, Mitgehens, die privaten Modi des Nicht-Hörens, des Widersetzens, des Trotzens, der Abkehr.“ Vgl. J. Derrida: Heideggers Ohr. Philopolemologie (Geschlecht IV), in: ders.: Politik der Freundschaft, S. 411-492. Gerade weil Derrida über seinen frühen Ansatz, beispielweise in der Grammatologie, hinausgeht, findet seine Hinwendung zu Heidegger in der Forschungsliteratur reges Interesse. Auch das Thema ‚Stimme‘ wird in diesem Zusammenhang diskutiert. (Vgl. hierzu Erik M. Vogt/Hugh Silverman/Serge Trottein (Hg.): Derrida und die Politiken der Freundschaft, Wien: Turia & Kant 2003. 25 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 325. Die mit * markierten Wörter aus der Politik der Freundschaft sind auch im Original deutsch.

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Indem sich Derrida auf die heideggersche Stimme, die eine Ausweitung ihrer Tragweite in ethischer und politischer Hinsicht bedeutet, beruft, nimmt er seine frühe Kritik an Heidegger, dessen Ruf des Gewissens er einem phonozentrischen Denken zuordnete, zurück.26 Was aber zeichnet die Stimme des Freundes bei Heidegger für Derrida aus? Die Stimme ist nicht beliebig; sie ist Stimme des Freundes. Das Dasein trägt nicht etwa die Stimme, sondern den Freund als Stimme bei sich, den es durch dessen Stimme hört. Im Moment des Hörens rückt die Stimme zwar näher, sie bleibt aber dennoch in einer Distanz zum Dasein und ist nicht ins Dasein integriert. Das Hören der Stimme gründet sich auf dieser Ambivalenz einer Stimme, die nahe ist, aber nicht eingeholt werden kann. Insofern konstituiert die Stimme auch die Ambivalenz des Freundes: „Durch seine Stimme, die ich höre, durch dieses Hören hindurch höre ich den Freund selbst, jenseits seiner Stimme und doch in ihr. Der Freund ist es, was ich im Vernehmen seiner Stimme höre und bei mir trage.“27 Weder wird dabei das ‚Woher‘ als Ursprung der Stimme deutlich, noch ist sie als innere oder äußere klar unterscheidbar. Die strenge Trennung in eine äußerliche, akustisch vernehmbare Stimme und eine innere Stimme, die im ‚inneren Ohr‘ still gehört wird, ist bei dieser Stimme des Freundes aufgehoben. Sie ist weder reines Phänomen noch reine Metapher. Denn das heideggersche ‚Beisich‘, das auch Derrida nicht übersieht, charakterisiert die eigentümliche Atopie der Stimme, die eine Dichotomie von Innen und Außen unmöglich macht: „[...] und von diesem Freund, dessen Stimme ich höre, sagt Heidegger ja ausdrücklich, das Dasein* trage ihn hörend nicht in, sondern ‚bei sich‘*. Die Stimme des Freundes ist weder in sich selbst noch wird sie an sich selbst bezeichnet; aber sie ist auch weder in mir noch in einem Dasein* [Herv. i.O.], das sie als Teil oder Moment der eigenen Konstitution gleichsam in seinem eigenen Ohr einschließen könnte“.

28

Wie die Stimme nicht nur einen, sondern mehrere Ort zugleich besetzt, so ist sie auch nicht nur als gegenwärtige Stimme zu hören. Die Stimme des Freundes macht den Freund anwesend und abwesend zugleich. Er ist im Hören der Stimme zwar da; er hat teil am „Da* des Seins*“29. Und doch ist er darin nicht präsent. Die heideggersche Stimme des Freundes irritiert Derrida, gerade weil sie nicht im Horizont des Phonozentrismus zu begreifen ist. So lassen sich

26 Vgl. dazu M. Eggers: Texte, die alles sagen, S. 162f. 27 J. Derrida: Heideggers Ohr, S. 413. 28 Ebd., S. 417. 29 Ebd., S. 417.

180 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ „die kritischen oder dekonstruktiven Fragen, die Husserls Rekurs auf die rein innere Stimme des Bewußtseins in den Logischen Untersuchungen aufgeworfen hatte […] angesichts dieser Stimme nicht stellen. Wir haben es hier nicht mit dem Phänomen einer idealen Selbstpräsenz in der inneren Stimme zu tun. Es geht durchaus um die Stimme des Anderen.“30

Die Stimme des Freundes betrachtet Derrida offensichtlich als nicht dekonstruierbar. Der Freund, der bei Heidegger nicht näher bestimmt ist, ist auch „der sans-figure, der Gestaltlose und Gesichtslose“ und daher geeignet, „eine exemplarische Rolle zu spielen“31. Auch der andere nimmt den Platz des Freundes bei Heidegger ein: „Jede Stimme des anderen ist in gewisser Weise Stimme des Freundes, vertreten durch die Figur jeder Stimme des anderen, durch die Stimme des Freundes des Daseins* [Herv. i.O.].“32 Der andere also konstituiert das Dasein in seiner ‚Offenheit‘. Eine Stimme aber, die so gesehen nicht das reine Selbstbewusstsein bestätigt, die nicht (nur) innere Stimme ist, sondern von Anfang an die Unterscheidung in Innen und Außen verletzt, entzieht sich, wie Derrida gesteht, der Dekonstruktion. Das Dasein wird zum Ohr, der Freund zur Stimme.33 In dieser Konstellation ist das Dasein aber nicht nur Ohr, sondern wird von einem Hörenden zu einem Hörigen. Vom Hören zur Hörigkeit gelangt Derrida schließlich zur Gehörigkeit im Sinne einer gerade auch sozialen Zugehörigkeit. Konstituiert die Stimme des Freundes zwar die Offenheit des Daseins, so geschieht dies zugleich mit einer Stimme, die sich bei Heidegger als diktierende und Gehorsam fordernde gebiert. Auf diese Weise wird die Stimme ebenso Voraussetzung für das „Seinkönnen des Daseins*“: „Von Anfang an ist die gemeinsame, in der Differenz geteilte Zugehörigkeit als eine Art ursprünglicher socius jener Bewegung einbeschrieben, die – durch das Ohr hindurch – vom Hören* zur Hörigkeit* als einem geringfügigen Hören (der Andere, der Freund, der Andere als Freund ist bereits da, seine Stimme zumindest ist bereits erklungen, als würde er in dem Moment, in dem das Dasein* sein eigenes Seinkönnen erschließt, ihm eine Art Gesetz diktieren) und von der Hörigkeit* zur Gehörigkeit* führt. Ohne diese Stimme des

30 Ebd., S. 429. 31 Ebd., S. 430. 32 Ebd., S. 430. 33 Vgl. ebd., S. 416.

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Anderen als des Freundes gäbe es kein Eigentum, gäbe es kein eigenes Seinkönnen des Daseins* [Herv. i.O.].“34

Derrida stellt auf Heideggers Sein und Zeit Bezug nehmend fest, dass das Dasein ein grundsätzlich Höriges ist und sich in dieser unterordnenden Hörigkeit als ein Dasein konstituiert, das etwas oder jemandem zugehörig ist oder angehört.35 Die Stimme des Freundes bei sich zu tragen, bedeutet zunächst aber nicht, dass es sich um eine „Zugehörigkeit zur selben Gemeinschaft oder zum selben Volk [Herv. i.O.]“ handelt. Denn das Horchen richtet sich auf das, was „jenseits des Ohres, des offenen Ohres ist, dort [Herv. i.O.], in der Welt“36. Vor aller Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, zu einer bestimmten und in erster Linie eigenen Gemeinschaft, ist die Stimme des Freundes eine Stimme des Anderen, eine Stimme also, die gerade nicht die Bedeutung des Eigenen in den Vordergrund stellt. Die Stimme des Anderen ist vielmehr eine Stimme ohne Zugehörigkeit zu einer eigenen Gemeinschaft. Eben dieses Charakteristikum ist auch in der Stimme des Freundes bei Heidegger angelegt. Wir sind „schon mit dem Anderen“, so Derrida, „(das heißt außerhalb unserer selbst) bei dem Seienden* [Herv. i.O.]“37. Heidegger setzt keineswegs voraus, dass der Freund zur selben Gemeinschaft gehören muss. Allerdings ist die Zugehörigkeit zu einer, d.h. irgendeiner Gemeinschaft unabdingbar. Die Stimme des Freundes müssen wir nicht verstehen; er kann eine uns gänzlich fremde Sprache sprechen, von der wir annehmen, dass sie prinzipiell verständlich ist. Trotzdem ist der Freund immer Angehöriger einer Gemeinschaft, eines Volkes. Die „Stimme des Anderen“, so hält Derrida zu Heidegger fest, muss „eine bestimmte Sprache sprechen und einem Volk* [Herv. i.O.] angehören“. Dabei kann „es aber durchaus die Sprache eines fremden Volkes sein“38, die schließlich in der Stimme erklingt: „Der Freund kann ein Fremder sein, aber wie jedes Dasein* gehört er einer Gemeinschaft und einem Volk an, ist er in ein Geschehen*, das ein Mitgeschehen* ist, und in einen Kampf* [Herv. i.O.] einbezogen. Wie jede Stimme und also jedes Ohr – des Freundes.“39 Dieser Aspekt bei Heidegger stellt für Derrida die unscheinbare, aber doch entscheidende Wende dar, die sich gegen Ende von Sein und Zeit zu erkennen gibt. Die Betonung verschiebt sich: Der Freund gilt schließlich vor allem als

34 Ebd., S. 428. 35 Vgl. ebd., S. 428. 36 Ebd., S. 435. 37 Ebd., S. 436. 38 Ebd., S. 436. 39 Ebd., S. 437.

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Angehöriger einer Gemeinschaft, die der eigenen gegenübersteht und insofern in einen „Kampf“ einbezogen ist. Heidegger spricht „vom Kampf* als einer wesentlichen Form des Miteinanderseins*, des Volkes*, der Gemeinschaft* [...] Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem philein und dem Kampf* oder, wie es später heißen wird, dem polemos [Herv. i.O.], weil die Stimme des Freundes den Gegensatz und das Widersetzen nicht ausschließt, weil sie sich ihnen nicht entgegensetzt.“40

Die Stimme ist damit wie der ‚Kampf‘ einbezogen in die Entgegensetzung des Selben und des Anderen, als „Eröffnung der Zwei, der Zweiheit“ 41. „Jede Gemeinschaft“, so Derrida, „trägt, in ihrem Ohr, die Stimme des Gegners, eine Art inneren Widerstand bei sich oder in sich“42. Die Stimme wird zum Ausgangspunkt nicht nur der Gemeinschaft, sondern auch des von der Gemeinschaft ausgeschlossenen. Die Stimme des Gegners umreißt sowohl den Gegner als auch seinen Gegenpart, das Eigene. Mehr noch: Die Stimme konstituiert nicht nur die Gemeinschaft der Selben, sondern scheint auch den Widerstand gegen das Nicht-Selbe hervorzurufen.

40 Ebd., S. 432. Derrida schreibt weiter: „Bevor ich Sein und Zeit verlasse, möchte ich daher im Umkreis des Wortes Kampf* ein Motiv situieren, das nicht bloß jener Evokation der Stimme des Freundes nicht widerspricht – an die es im Gegenteil in eben dem Maße anschließt, in dem das Hören dieser Stimme die Offenheit des Daseins* als Mitsein* konstituiert -, sondern auch in einem genauen Sinne die nachhaltige Thematisierung des Streites*, des polemos und vor allem des Kampfes* in der Rektoratsrede (1933) und der Einführung in die Metaphysik (1935) ankündigt.“ Und schließlich (ebd., S. 433f.): „Außer Frage steht indessen, daß der Diskurs, der sich in Sein und Zeit, vollends aber in der Rektoratsrede und der Einführung in die Metaphysik im Umkreis der Begriffe des Volkes* und des Kampfes* einspielt, in keinem Widerspruch zu dem Satz steht, der 220 Seiten weiter oben die Stimme des Freundes evoziert hatte – und wenn die Worte Kampf* und Freund* meines Wissens in Sein und Zeit nur an diesen beiden Stellen auftauchen. Von einem Widerspruch oder einem Gegensatz kann, noch einmal, schon darum keine Rede sein, weil der Gegensatz und das Widersetzen* selber noch als Wesensmöglichkeiten des Aufeinander-Hörens*, der Hörigkeit* und der Zugehörigkeit* beschrieben werden, deren exemplarischer Fall das Hören der Stimme des Freundes bleibt, den jedes Dasein bei sich trägt* [Herv. i.O.].“ 41 Ebd., S. 472. 42 Ebd., S. 472.

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Der Zusammenschluss der Selben zu einer Gemeinschaft, so kritisiert Derrida, bedeutet in politischer Hinsicht „Fraternalismus“ und „Brüdergemeinschaft“, in der die „männliche Autorität des Bruders (der außerdem Sohn, Gatte, Vater ist)“43 regiert. Diese „Orientierung an Herkunft und Familie, Geburt, Bodenständigkeit und Nation“44 in Frage stellend, entwickelt Derrida den Gedanken einer unbedingten Gastfreundschaft, die nicht mehr auf die Versammlung der Brüder baut, in der sich der Staat nicht mehr ableiten lässt aus dem „Geschlecht*“ und dem „Blut“45. So übernimmt er zwar die Stimme des Freundes, erweitert sie aber um eine Vielstimmigkeit, die sie herkunftslos macht.46 Die bei Heidegger eingeführte Stimme des Freundes zeigt für Derrida ihre von Grund auf ambivalente Position, ihre aporetische Struktur. Damit kann sie aber auch Ausgangspunkt sein, um jenseits der politischen Gegenüberstellung von Freundschaft und Feindschaft eine „minimale“, „inkommensurable ‚Gemeinschaft‘“, „eine Mindestgemeinschaft im Sprechen derselben Sprache“47 zu schaffen.

7.4 D IE Z AHL

DER

S TIMME

Das gängige Modell einer Freundschaft, so betont Derrida, gründet sich in erster Linie auf einer beschränkten Anzahl von Freunden, einer exklusiven Auswahl an Freunden. Aristoteles führt ihre begrenzte Zahl als Voraussetzung für Freundschaft überhaupt ein. Die Zahl, die Zählbarkeit der Freunde wird damit auch für Derrida zum Thema. Sie rührt an das Kernproblem einer Politik der Freundschaft. Denn die Einzigartigkeit, mit der uns der andere als Freund begegnet, verbietet, ihn zu einer zählbaren Einheit zu machen. Sie kann und darf nicht an einer bestimmten Anzahl von Freunden hängen. So macht nicht die Zahl für Derrida den Freund aus, vielmehr fordert er, Freunde gerade nicht zu zählen. Derrida konstatiert eine unauflösbare Spannung zwischen der Singularität des Freundes und der immer getroffenen (rationalen) Auswahl aus einer Menge.48

43 J. Derrida: Schurken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 86. 44 Ebd., S. 86. 45 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 11. 46 Vgl. M. Eggers: Texte, die alles sagen, S. 166. 47 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 329. 48 Vgl. ebd., S. 44. Für Aristoteles „gilt nicht sowohl die Freundschaft, als vielmehr der Freundschaft selbst die Freunde vorzuziehen. Eine unvermeidliche Konsequenz, geht es doch um besondere, einzigartige Freunde, um die Singularität von Einzelnen: vor-

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Behauptet man die notwendige Zählbarkeit und mithin Auswahl der Freunde als Voraussetzung für die Freundschaft, impliziert dies zugleich den Ausschluss derer, die keine Freunde sind. Damit aber ist die Dichotomie von Freund und Feind geschaffen, die gerade auf politischer Ebene zum Tragen kommt. Zugespitzt formuliert bedeutet dies: Ohne Feinde, ohne Gegner, kann es keine Freunde, keine Verbündeten geben. Derrida sieht sowohl Subjekt als auch Nationalstaat durch die Aufrechterhaltung dieser Entgegensetzung bestärkt. Ohne Feinde, so scheint es, ist der eigene Standpunkt nicht mehr sicher: „Wo findet man sich wieder, wenn man ohne Feind und also ohne Freunde ist, wenn man weder seine Freunde noch seine Feinde zählen kann?“49 Verständlich daher der Drang, diesem beunruhigenden Zustand zu entkommen, sich im Selben zu versammeln, um dort den Ort einer Heimat einzurichten, der sich gegen das Andere, Fremde abgrenzt. Der Staat besteht aus einer Auswahl an Mitgliedern; er ist nicht nur territorial begrenzt, sondern auch personal. Innerhalb eines Staates setzt sich die Zählung und Unterteilung fort. So funktioniert eine Demokratie bekanntlich als Herrschaft einer Mehrheit durch die Auszählung von Stimmen bei freien Wahlen. Die „Stimme des Subjekts“ bildet dabei die Bezugsgröße für die Möglichkeit der Zählbarkeit und damit der Konstitution von Mehrheiten. Sie ist, so Derrida, die „berechenbare[...] Form der darstellbaren Einheit oder Größe“50. Dass Stimmen zählbar sind, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Der zur Wahl berechtige Bürger hat eine Stimme, die mit anderen Stimmen zu Einheiten addiert werden kann. Derrida setzt an der unhinterfragten Voraussetzung der Einheitlichkeit und Addierbarkeit einer solchen Stimme an und fragt: „Wie soll man

zuziehen sind bestimmte Freunde. Und die kraft dieser Präferenz getroffene Auswahl ist es, die in die Vielfalt dieser unberechenbaren Singularität von Einzelnen, also genau dort die Zahl und die Berechnung wiedereinführt, wo man (auf) die Freunde nicht hätte zählen dürfen wie man (auf) Sachen zählt.“ Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, Stuttgart: Philipp Reclam 1983, übersetzt von Franz Dirlmeier, 1170b-2-24: „Soll man sich nun möglichst viele zu Freunden machen oder soll [...] auch bei der Freundschaft die Regel gelten, man solle nicht ohne Freund sein, aber auch nicht im Übermaß Freunde um sich scharen?“ Aristoteles beantwortet diese Frage nur wenig später (1170b 24-1171a 11): „So ist es doch wohl das Richtige, nicht so viele Freunde wie nur irgend möglich zu wollen, sondern nur so viele, als für das gemeinsame Leben ausreichen.“ 49 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 114. 50 Ebd., S .150.

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zählen? [...] Was ist eine unteilbare und zählbare Stimme“?51 Nicht nur in der Politik, auch in der Psychoanalyse wird eine einheitliche Stimme unterstellt, so Derrida. Denn geht es in der Demokratie um die Auszählung von Stimmen zur Bildung von Mehrheiten, so spricht das Unbewusste in der Psychoanalyse mit einer Stimme. Ist die ‚eine‘ Stimme des Unbewussten aber, so fragt Derrida, nicht auch nur Ergebnis eines demokratischen Prozesses, in dem StimmMehrheiten gebildet werden? „Wieviel Stimmen für ein Unbewußtes? Wie wären sie zu zählen? Was kann uns eine vergangene oder zukünftige Psychoanalyse über die Demokratie sagen? Gibt es eine Demokratie im psychischen Apparat? [...] Wer stimmt ab, was ist eine Stimme im psychischen und politischen System? [...] Wie wären die Stimmen zu zählen?“52

Die Einheit der Stimme in Politik und Psychoanalyse schließt auf die Einheit des Subjekts mithin die Einheit und Abgeschlossenheit eines Staates. Selbst wenn Lacan das Subjekt als ein gespaltenes problematisiert, sieht Derrida darin noch die Einheit des Unbewussten und des Subjekts bestärkt. Indem Derrida die allgemein vorausgesetzte Zählbarkeit von Stimmen problematisiert, zweifelt er auch an den damit gebildeten Mehrheiten, die über die ausgeschlossene Minderheit regieren. Der Mehrheit der Stimmen steht die Unverwechselbarkeit, die Singularität einzelner Stimmen entgegen. Die Spannung einer Demokratie besteht in der Entgegensetzung der singulär einzigartigen Stimme und der allgemeinen Vergleichbarkeit der Stimmen, die ihren singulären Status darin verlieren. „Die Frage der Demokratie“ ist somit die Frage nach „dem Subjekt als einer zählbaren Singularität“53. Mit den gezählten Freunden – und das sind nach Derrida zunächst die Brüder, die Familie – muss gehaushaltet werden. Sie sind einer Ökonomie des Eigenen unterworfen. Das Unversöhnliche der Demokratie ist für Derrida der Widerspruch zwischen dieser Ökonomie und einer irreduziblen Alterität des Freundes, der sich nicht in Mehrheiten versammeln lässt. „Keine Demokratie ohne Achtung vor der irreduziblen Singularität und Alterität. Aber auch keine Demokratie ohne ‚Gemeinschaft der Freunde‘ (koina ta philon), ohne Berechnung und Errechnung der Mehrheiten, ohne identifizierbare, feststellbare, stabilisierbare, vorstellbare, repräsentierbare und untereinander gleiche Subjekte. Diese beiden Gesetze

51 J. Derrida: Schurken, S. 50. 52 Ebd., S. 83. 53 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 47.

186 | D IE S TIMME ZWISCHEN I MMANENZ UND T RANSZENDENZ lassen sich nicht aufeinander reduzieren; sie sind in tragischer und auf immer verletzender Weise unversöhnbar.“54

Neben der Zählbarkeit der Stimmen, der Versammlung von Stimmen zu Mehrheiten, baut die Demokratie auch auf der Voraussetzung einer Einzigartigkeit des anderen auf, die nicht berechnet werden kann und buchstäblich unvergleichbar ist. Da die Freundschaft fundierend ist für die Gründung von Beziehungen, nicht nur in der Politik, auch in der Philosophie, ist es von Bedeutung, ihre Verankerung zu erkennen und gegebenenfalls in Frage zu stellen. Wie lässt sich der Freund begreifen, wenn er nicht zum Gegenpart ‚Feind‘ zu verstehen ist, jenseits des Rasters von Inklusion und Exklusion? Derrida gibt auf diese Fragen keine endgültige Antwort. Er deutet einzig einen Weg an, der auch die Stimme einbezieht. Die Auslegung des Satzes ‚O meine Freunde, es gibt keine Freunde‘, mit dem Derrida die Politik der Freundschaft beginnen lässt, hängt an den unterschiedlichen Möglichkeiten der Aussprache, der Betonung, die Derrida selbst in seinem Vortrag mit lauter Stimme ausprobiert. So provozieren unterschiedliche Tonarten unterschiedliche Lesarten. In der Spannung von Stimme und Schrift wird die Ambivalenz deutlich. Das von einigen als Seufzer wahrgenommene ‚O meine Freunde‘ ist zutiefst zweideutig. Denn „es gilt“, so Derrida, „über einen Atem zu entscheiden, über die weiche oder harte Aussprache eines ‚Hauchs‘“: Das griechische ‚O‘ kann sowohl „vokative Anrufung“ als auch „Pronominaldativ“55 sein. Die Unentschiedenheit in der Stimme wie in der Schrift, das heißt einer Schrift, die eine bestimmte Aussprache festlegen kann und einer Aussprache, die im Ausprobieren verschiedener Betonungen besteht, zeigt die Verschränktheit beider Seiten.56 Derrida wehrt sich gegen die geläufige Auslegung des Buchstabens ‚O‘ (griech. Omega) als Interjektion, als Aufruf (‚O meine Freunde...‘) ohne die möglichen anderen Lesarten in Betracht zu ziehen (etwa ‚Der, dem Freunde gegeben sind, dem ist kein Freund‘). Er stellt fest, dass das ‚O‘, einmal auf den Vokativ festgelegt, auch als solcher exklusiv weitergegeben wird: „Auf diese Lesart vertrauen etwa Montaigne, Florian, Kant, Nietzsche, Blanchot, Deguy – um nur einige Beispiele zu nennen.“57 Als Pronominaldativ gelesen wird allerdings die Thematik der Zahl und Auswahl der Freunde, der unversöhnliche

54 Ebd., S. 47. 55 Ebd., S. 259. 56 Vgl. ebd., S. 259. 57 Ebd., S. 260.

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Widerspruch des einen Freundes und der vielen Freunde, deutlich. Dieser Widerspruch setzt sich in der Politik, die als Politik der Freundschaft stattfindet, fort. Wie schon in Derridas Ausführungen zur Grammophonie (bei Joyce) geht es ihm darum, die Unentschiedenheit aufrecht zu erhalten. Sie ist, mit Deleuze gesprochen, wie die freie indirekte Rede die niemals arretierende Sprache, das Offene und Neue, das Zukünftige, das sich gerade nicht den üblichen Vorgaben beugt. Die Differenz in Stimme (und auch in Schrift) kann damit Auswirkungen im politischen Bereich haben, beispielsweise indem eine übliche, gängige Auffassung transformiert wird. Die Möglichkeit einer Unentschiedenheit von Stimme und Schrift betrifft nicht allein die Auslegung von Aussagen, sondern impliziert einen politischen Impetus. Eine Politik der Freundschaft muss für Derrida eine Politik begründen, die nicht mehr auf der Zahl und Zählung von Freunden (und Feinden) baut. Vielmehr fordert Derrida ein Unmögliches: eine Offenheit, eine Gastfreundschaft ohne ökonomische Hintergedanken; Freunde, die man nie zu viele haben kann. Charakterisiert die Stimme zum einen das Singuläre, so wird sie in Demokratien in Mehrheiten gefasst und verliert ihren singulären Status, um die Identität der Gemeinschaft zu bestätigen.58 Diese Begrenzung versucht Derrida aufzubrechen. Wie die Stimme in der Schrift eine immer andere, hinzukommende Stimme evoziert, so verlangt auch die Stimme des Freundes nach immer anderen Stimmen. Wieder einmal wirkt die Stimme als Aporie: Sie stiftet aus vielen ein Einheitliches, eine Gemeinschaft; zugleich hält sie im Verlangen nach einer immer anderen Stimme die Grenzen offen. Sie ist sowohl verantwortlich für die Offenheit nach Außen als auch für den Ausschluss der anderen. Derrida nähert sich darin Jean-Luc Nancy an, dessen Stimmenteilung als partage des voix nicht die Einheit der Stimme, sondern deren Vielfalt betont. Sowohl in ethischer Hinsicht, als Hören der Stimme des Anderen, als auch in politischer Perspektive, als Offenheit gegenüber allen anderen Stimmen, wird die Stimme relevant. So bestätigt die singuläre und einzigartige Stimme eine Vielheit, die offen bleibt für anderes, die sich nicht in einer Homogenität schließt.59

58 Vgl. M. Poizat: Vox populi, vox Dei, S. 24. Poizat beschreibt dieses Aufgehen der einzelnen Stimme in einer Gruppenidentität: „[...] le groupe va tenter, lui aussi, de se caractériser par une marque vocale, à la différence près toutefois que pour constituer la voix du groupe, chacun de ses membres doit abandonner la singularité qui le définit comme sujet pour se fondre dans la voix collective.“ 59 Vgl. M. Eggers: Texte, die alles sagen, S. 212.

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Eben in diesem „Spannungsfeld zwischen Singularität und Alterität“ 60 liegt das Politische. Das „Drama einer singulären Vielfältigkeit“61 bedeutet auch die Unmöglichkeit eines absolut ‚Einen‘, der mit sich allein bleibt. Erst in dieser Reibung von Ethik und Politik treten beide deutlich hervor Der Andere ist niemals allein: „Der Dritte ist da.“62 Daher hängt der Wert der derridaschen Freundschaft nicht von einer möglichst begrenzten Anzahl von Freunden ab, wie Aristoteles empfiehlt, sondern besteht in der generellen, zukünftigen Öffnung für immer mehr und andere Freunde. Die unauflösbare Aporie ist vorprogrammiert: Derrida versucht zwar, eine Form von Gemeinschaft zu denken, eine ‚minimale‘ Gemeinschaft. Doch diese besitzt weder Außen noch Innen, weder ‚wir‘ noch ‚sie‘. Sie ist Derrida unumgänglich und unmöglich zugleich.63

7.5 R EIM

UND

G EFAHR

Die Stimme spielt für das Politische eine entscheidende Rolle; sie ist sowohl Chance als auch Gefahr. In der Klangmacht des Reims wird diese Kraft für Derrida konkret. Der Reim, als Rhythmus und Tonfall der Stimme, schafft Zugehörigkeiten und zieht Grenzen. Nicht zufällig erinnert dies an Deleuzes Ausführungen zum Ritornell als einer klanglichen Kraft, die Grenzen und Räume absteckt: „Alles beginnt mit Echo. Aber nur in einer Sprache, für ein Volk, für eine Nation. Die Reime signieren, im Takt besiegeln sie eine Zugehörigkeit. Sie stiften den Einklang zwischen dem Wort einer Sprache, dem Ort und schließlich seiner Pforte.“64 Die Nationalhymne bestätigt nicht nur die Einheit einer Gemeinschaft als Nation, sie weckt auch Kräfte, die diese nach außen stark machen. Die Hymne steckt Territorien ab, schafft eine gemeinsame Identität, die die Massen mobilisieren kann, die gar den Kampfgeist stärkt. So charakterisiert František Gel mit Bezug auf die Schlacht bei Valmy die Marseillaise als „Waffe“: „die Marseillai-

60 Thomas Frank: „Dekonstruktion und Weltpolitik“, S. 54, in: Dominik Portune/Peter Zeillinger (Hg.), Nach Derrida. Dekonstruktion in zeitgenössischen Diskursen, Wien: Turia & Kant 2006, S. 51-70. Vgl. dazu auch R. Simon: Die Begriffe des Politischen bei Carl Schmitt und Jacques Derrida, S. 132f. 61 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 290. 62 Ebd., S. 290. 63 Vgl. R. Simon: Die Begriffe des Politischen bei Carl Schmitt und Jacques Derrida, S. 136. 64 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 229.

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se war einer der Umstände, die es ermöglichten eine neue Taktik im Kampf anzuwenden – Schützenkette und Marschkolonne“65. Die Hymne als die eine und vereinte Stimme des Volkes, der Nation, sollte für Robespierre auch den inneren Feind zum verstummen bringen.66 Poizat weist zudem darauf hin, dass Nationalhymnen oft nur instrumental gespielt werden, so etwa die spanische, denn damit könne über die eigentlich herrschende Sprachenvielfalt hinweggetäuscht werden. Die Einheit der Nation braucht keine Artikulation, sondern die eine Stimme, die alle, auch ohne Worte, verstehen.67 Auch die Stimme eines Führers kann die Einheit eines Volkes stiften, das sich dieser Stimme unterwirft, sich mit ihr identifiziert und sich ihren Befehlen widerstandslos fügt: Die „Führerworte“ erhalten „Gesetzeskraft“68. Hitlers Stimme ist wohl eines der berühmtesten Beispiele einer Stimme, die nichts sagt, deren Inhalt kaum verstanden wird, und die dennoch ihre größte Wirkung unter den Hörern entfaltet. Im Nationalsozialismus entwickelte sich eine besondere Kraft durch stimmliche Verlautbarungen.69 Der Reim trägt in seinem Klang als Gleichklang offenbar eine Kraft, die eine Gemeinschaft als Volk in Bewegung bringen kann, in eine auch gefährliche Be-

65 Gel, František: Internationale und Marseillaise, Prag: Artia 1954, S. 282, zitiert nach Nicklaus, Hans Georg: „Rousseau und die Verurteilung der Mehrstimmigkeit“, in: F. Kittler/Th. Macho/S. Weigel (Hg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung, S. 153173, hier S. 164. 66 Vgl. H. G. Nicklaus: Rousseau und die Verurteilung der Mehrstimmigkeit, S. 171f.: „Jede Polyphonie war Verrat an den Idealen der Unité, jenem gemeinsamen Ursprung, an dem die einfachen Melodien regieren. Darum mußten nicht fremde Körper oder äußere Feinde, sondern Stimmen im Inneren dieses Nationenkörpers eliminiert werden. Und darum auch sind die letzten Worte und Gesänge, also die Stimmen der Verurteilten bei ihrer Exekution so wichtig.“ 67 Vgl. M. Poizat: Vox populi, vox Dei, S. 68. 68 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München: Piper 2006, S. 246. Für Adolf Eichmann, so Arendt, hatten die „Führerworte Gesetzeskraft“. Dies bedeutete auch, „daß ein Befehl, der direkt von Hitler kam, nicht schriftlich fixiert zu sein brauchte“ (ebd., S. 246). 69 Vgl. Schmölders, Claudia: „Stimmen von Führern. Auditorische Szenen 1900-1945“, in: Friedrich Kittler/Thomas Macho/Sigrid Weigel (Hg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung, S. 175-195. Vgl. ebenfalls M. Poizat: Vox populi, vox Dei, S. 18 und S. 161 f. Beeindruckend parodiert ist diese Stimme Hitlers in Charles Chaplins Der große Diktator (1940). In der Rolle des Anton Hynkel imitiert Chaplin den Diktator Hitler und gibt ihn damit zugleich der Lächerlichkeit preis.

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wegung. Das Volk wird gefügig und gehorcht dem Gleichklang als Gleichschritt wie beispielsweise in der Marschmusik: „Wäre es nicht zu spät gewesen, man hätte Schmitt warnen, nämlich daran erinnern sollen, daß in allen Sprachen, in allen, und für alle Völker ein Reim zu einem Signal, einem ‚Leuchtfeuer‘ werden kann. Zuweilen zu Schlimmerem.“70 Derrida versucht gegen die Formierung von geschlossenen Gemeinschaften anzudenken. Eine Politik in diesem Sinn müsse traditionelle Werte wie „Familie“, „Nation“, „Vaterland“ in Frage stellen und radikaler noch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft im allgemeinen, schließlich sogar „die Menschheit selbst“71. Die von Derrida verlangte Freundschaft, diese Stimme des Freundes, ist jenseits der Zugehörigkeit, der „Ordnung der Gemeinschaft“72. Der Freund setzt schon die Vielzahl der Freunde voraus. Freundschaft gründet auf einer Vielzahl von Freunden, so Derrida. Die Vielfältigkeit macht die Politik aus. Dies negiert aber nicht die „unberechenbare[...] Singularität“ des Subjekts, das gerade nicht als „berechenbare Identität“73 gedacht werden soll. Wie Lévinas, jedoch radikaler noch, bedeutet der Dritte als Freund bei Derrida von Anfang an die Unmöglichkeit einer Zweiheit, eines Paars. Die von Derrida aufgestellte Formel ‚N+1‘ steht für die prinzipiell unabgeschlossene Anzahl von anderen als Freunden, eine unzählbare, da unübersichtliche Vielzahl. Das Politische hat immer schon Einzug in die Ethik gehalten. Die Einzigartigkeit des anderen ist für Derrida nicht vor-ursprünglich, sondern stets eingebettet in das Vorhandensein des Dritten. So geht es Derrida „jenseits des Von-Angesicht-zuAngesicht Einzelner in ihrer Singularität“ um das „Auftauchen des dritten Freundes“74. Die Unentscheidbarkeit zwischen den Vielen und dem Einen prägt Derridas Auseinandersetzung mit der Politik und vor allem der Demokratie, die sich dadurch in einer endlosen Bewegung hält, die stets mit der Frage der Gerechtigkeit ringt. Dass dieses Problem keine Lösung erfährt, sondern immer wieder scheitert, macht paradoxerweise das Wesen der Demokratie aus. Derrida verschärft die Problematik zwischen Ethik und Politik, indem er sich mit seiner Forderung einer radikalen Gastfreundschaft dem Anderen gegenüber Lévinas annähert, schließlich aber den Konflikt der vielen anderen deutlich an den Anfang stellt. Denn der Stimme des Anderen bedingungslos zu folgen, sich dem

70 J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 230. 71 Ebd., S. 119. 72 Ebd., S. 398. 73 Ebd., S. 44. 74 Ebd., S. 368.

F REUNDSCHAFT , G EMEINSCHAFT , D EMOKRATIE

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Anderen zu ‚geben‘, wie Lévinas dies fordert, birgt Risiken, die ethisch und politisch fragwürdig sind.75

7.6 Z USAMMENFASSUNG : D IE

KOMMENDE

S TIMME

Zwar konturiert Derrida mit seinen Untersuchungen zur Stimme als Stimme des Freundes weder eine handlungs- und praxisorientierte Politik noch Ethik, aber er möchte Spuren im Denken über eine „künftige Politik“, eine „künftige Ethik“76 hinterlassen. Selbst wenn Derrida gesteht, dass seine Äußerungen für eine „Politik, die ein Nationalstaat verwirklichen könnte“ als unpolitisch gelten müssen, so behauptet er vehement die Notwendigkeit, das „Prinzip der unbedingten Gastfreundschaft“ zu bewahren. Erst damit sei der „Bezug zur Gerechtigkeit“77 gewährleistet. Derridas Aufruf, der darin Deleuze ähnelt, richtet sich an ein „Denken des kommenden Ereignisses“, an die „kommende[...] Demokratie“, an die „kommende[...] [Herv. i.O.] Vernunft“78. Das Kommen des Anderen bleibt in einer nicht vorhersehbaren Zukunft. Einzig in Erwartung auf die Stimme des Anderen, einer Stimme, der wir antworten müssen, aber nicht können, ist für Derrida eine Politik möglich. Die différance verschwindet nicht im Aufschub, sie stellt sich für Derrida „der Dringlichkeit der Gegenwart“ und damit gerade „den drängenden ethischen oder politischen Fragen“79. Das Drängende der Stimme richtet sich dabei auf ein unvorhersehbar Künftiges. Doch bleibt diese Stimme nicht allein; sie besetzt kein Jenseits im Sinne einer lévinasschen Loslösung vom Sein. Der Gegensatz zwischen dem Einen und dem Vielen ist unauflösbar. Die eine Stimme des Anderen und die vielen Stimmen der anderen ergeben in ihrer Spannung den politischen Wirkbereich. Diese „Antinomie“ sieht Derrida bei der

75 Gegen Dieter Merschs „Rehabilitation der Präsenz der Stimme“, einer Stimme, die sich aufdrängt und „zu sprechen nötigt, Antwort erbittet [Herv. i.O.]“ ließe sich ebenso eine Gefahr der Stimme anführen, die nicht mehr bloß einer reinen und ‚guten‘ Ethik zuzuschreiben ist. Vgl. D. Mersch: Was sich zeigt, S. 117. 76 J. Derrida: Schurken, S. 13. 77 J. Derrida: Echographien. Fernsehgespräche, Wien: Passagen 2006, S. 29. 78 J. Derrida: Schurken, S. 13. Die Betonung des Kommenden, des Ausstehenden, des Messianischen ist weder utopisch noch religiös gemeint. Um sich von der messianischen Tradition abzugrenzen, benennt Derrida seine Verwendung des Messianismus mit der aporetischen Formel eines „Messianismus ohne Messianismus“ (ders.: Marx & Sons, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 81). 79 J. Derrida: Echographien. Fernsehgespräche, S. 21.

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Gastfreundschaft am Werk: das „unbedingte[...] Gesetz der Gastfreundschaft“ steht „den Gesetzen der Gastfreundschaft [Herv. i.O.]“80 gegenüber. Beides, das Eine und das Viele, schließt sich gegenseitig aus und bedingt sich doch. Als Widerspruch sind sie untrennbar verbunden. Dem Plural kommt eine grundlegende Bedeutung zu, die, anders als bei Lévinas, dem Singular nicht nachsteht. Die von Derrida vorgeschlagene Gastfreundschaft soll zwar ein Appell sein, aber doch kein Befehl: „ein Gesetz ohne Gesetz“81. Der Widerspruch überträgt sich auf die Stimme, die ruft, ohne damit eine Pflicht einzufordern. Mit der Stimme, die Derrida in einen politischen Kontext einführt, verdeutlicht er die unlösbare Problematik des Einen und der Vielen, der Stimme im Singular und der Stimme im Plural. Im Widerspruch der einen und der vielen zeichnet sich die Herausforderung einer Demokratie ab. Weder verwendet Derrida die Stimme rein metaphorisch noch begreift er sie schlicht als Phänomen. Vielmehr zeigt sich gerade im politischen Zusammenhang die Verschränktheit beider Seiten. Darin wird die Stimme zu etwas, das sich nicht zwischen zwei Seiten zu entscheiden hat. Als solch Unentscheidbares ist sie für Derrida das Nichtdekonstruierbare sowohl der Politik als auch der Ethik, das heißt die unabweisbare Forderung nach Gerechtigkeit, eine Forderung nach einem Kommenden als Prophezeiung und Hoffnung.

80 J. Derrida: Von der Gastfreundschaft, S. 60. 81 Ebd., S. 64. Mersch gesteht Derrida in seinem späteren Denken einen Wandel – der allerdings nicht radikal genug ist – zu. (Vgl. D. Mersch: ‚Geschieht es‘? Ereignisdenken bei Derrida und Lyotard, http//www.momo-berlin.de/Mersch_Ereignis.html vom 3.8.2013).

8. Ausblick: Stimme des Tieres

8.1 S TIMME

ZWISCHEN

T IER

UND

M ENSCH

Schon zu Beginn der Philosophiegeschichte nimmt die Stimme eine Position ein, die den Scheideweg zwischen Mensch und Tier markiert. So sehr sie Teil der tierischen Physiologie sein mag, begründet sie doch vor allem auch die Sprachfähigkeit des Menschen. Tiere geben zwar stimmliche Laute von sich, diese sind aber, so schreibt Aristoteles, keine Buchstaben, aus denen Worte gebildet werden können: „Ein Buchstabe ist ein unteilbarer Laut, nicht jeder beliebige, sondern ein solcher, aus dem sich ein zusammengesetzter Laut bilden läßt. Denn auch Tiere geben unteilbare Laute von sich, von denen ich jedoch keinen als Buchstaben bezeichne.“1 Die menschliche Stimme ist phone semantike, ist bedeutende und somit sprachliche Stimme. Die nicht-sprachliche, asemantische hingegen gehört dem Tier. Damit trennt sie den Menschen nicht nur vom Tier, sondern zeigt zugleich den Übergang und die Gemeinsamkeit. Denn erst durch die notwendige Verknüpfung der Stimme mit einem semantischen Gehalt wird diese der weit verbreiteten Ansicht nach menschlich. Daher ermöglicht die Stimme das Sprechen nicht nur, sie verhindert auch ein absolut ‚reines‘ Sprechen; sie wird zur Störung im Sprechen, da sie den semantischen, ideellen Gehalt nie ohne Verlust oder Überschuss überträgt. Idealerweise also müsste die Stimme ganz zugunsten der reinen Bedeutung verschwinden. Erst wenn die Klanglichkeit der Stimme in den Hintergrund rückt, wenn die Stimme allein Bedeutung trägt, wenn der Stimmklang selbst an Aufmerksamkeit verliert, dient sie der Sprache. Auf dieser Grundlage unterscheidet auch Agamben die Stimme als reine Klangsubstanz, die der Mensch mit dem Tier teilt (Stimme/voce) und die Stimme als Ausdrucksmit-

1

Aristoteles: Poetik, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Philipp Reclam 1994, § 20.

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tel, Bedeutungsträger des Sprechens (STIMME/Voce).2 Die Negativität der Stimme liegt für ihn in letztgenannter Dimension, wo der Klang sich in einem Schweigen aufhebt. Hier ist die Stimme also nicht mehr reiner (animalischer) Klang, aber auch noch nicht reine Bedeutung: eine Stimme als negative Potentialität. Vom Sprachvermögen zieht Aristoteles Rückschlüsse auf die Möglichkeit, eine ‚wahre‘ Stimme zu besitzen, die das Tier ohne Sprache und ohne Ausdrucksabsicht nicht besitzt.3 Eben diesen Gedanken sieht Derrida bei Heidegger in der Daseinsanalyse weitergeführt. Den von den Tieren produzierten Geräuschen und Lauten mangele es nach Heidegger an Bedeutung: „[...] l’animal ne veut rien dire et ne comprend rien à travers son cri (Das Tier meint und versteht nicht bei seinem Schrei).“4 Schon in Die Schrift und die Differenz sieht sich Derrida mit einer strikten Gegenüberstellung von Menschlichem und Nicht-Menschlichem in der Philosophietradition konfrontiert, die sich vor allem in der Aufwertung des menschlichen Gesichts zeigt. Nur der Mensch besitzt ein Gesicht in vollem Sinne, das Tier aber nicht. Die Erhöhung des Menschen über das Tier nimmt seinen Ausgang auch in der ihm zugestandenen ‚Gesichthaftigkeit‘. Denn das Gesicht verweist auf eine höhere Instanz, auf Gott, das Göttliche, das Übermenschliche. Für Lévinas etwa ist das sprechende Gesicht, und damit auch die Stimme, unmittelbar mit dem göttlichen Antlitz in Verbindung zu setzen. Der Mensch ist Ebenbild Gottes; das Tier aber fällt aus dieser Ordnung heraus. 5 Was als Stimme unter der menschlichen Sprachfähigkeit und Ausdrucksabsicht liegt oder über die Sprache des Menschen hinausgeht, erhält einen entweder animalischen oder aber göttlich über-menschlichen Status. Die Stimme Gottes, des Anderen, spricht gerade nicht in verständlichen Worten. Vielmehr handelt es sich um eine Stimmgewalt, der man ohnmächtig ausgeliefert ist. Die Negation der rohen Klangmaterialität der Tierstimme ist Voraussetzung für die Sprachfähigkeit des Menschen; der symbolische Tod, das Tier-Opfer, gilt als Negation einer sinnlich materiellen, gegenwärtigen Stimme und erlaubt eine be-

2

G. Agamben: Die Sprache und der Tod, S. 66. Agamben macht diese Unterscheidung

3

Vgl. Göttert, Karl-Heinz: Geschichte der Stimme, München: Wilhelm Fink 1998, S.

4

J. Derrida: La bête et le souverain II, Paris: Galilée 2010, S. 308.

5

Vgl. J. Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 216: „Die Analogie des Gesichtes

durch Groß- und Kleinschreibung deutlich. 24.

mit dem Angesicht Gottes unterscheidet allerdings auf die klassischste Weise den Menschen vom Tier und bestimmt seine Substantialität.“

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deutungsstiftende Sprache.6 Damit reichen sich animalisch-rohe und göttliche Stimme die Hand: Beide ermöglichen erst die genuine Stimme des Menschen, sei es als Negation, sei es als unberechenbare Stimme Gottes. Sie sind Bedingung für die Stimme des Menschen, begrenzen und bedrohen sie allerdings zugleich. Lacan und Lévinas bekräftigen in ihren Ausführungen die Stimme als entweder originär menschliche oder als darüber hinausgehende, transzendente Stimme. Dem Tier ist dabei keine Stimme zugedacht; es hat auch keinen Bezug zum Anderen, zum Jenseits oder zum Unbewussten. Derrida und Deleuze hingegen schneiden die Problematik dieser die Tierstimme abwertenden Unterscheidung an.

8.2 D ELEUZES ‚T IER -W ERDEN ‘ Im Besonderen in der Literatur macht Deleuze ein Tier-Werden aus, das dort eine wesentliche Verbindung mit der Stimme eingeht. In Kafkas Josephine, die Sängerin und das Volk der Mäuse ist es sowohl eine Maus, die zum Menschen wird als auch ein Mensch, der in ein Tier-Werden einbezogen ist. Ihre Geschichte spielt sich über die ein Volk von Mäusen faszinierende Stimme ab. Josephine behauptet ihre Stellung gegenüber diesem Volk von Mäusen mit dem Gesang ihrer Stimme.7 Deleuze bestätigt damit die Verbundenheit von Mensch und Tier in der Stimme. Die Stimme ist kein Privileg des Menschen. Vielmehr hat sie ihren Wirkbereich zwischen Mensch und Tier, die sich sowohl aufeinander zubewegen als auch wieder Distanz nehmen. Den ausgezeichneten menschlichen Status kann die Stimme daher verlieren. Ihr ist der drohende Verlust inhärent und dadurch provoziert sie eine permanente Verunsicherung. Schließlich wird uns die Stimme auch gerade dann unheimlich, wenn wir nicht mehr eindeutig sagen können, ob sie einem Tier oder einem Menschen entstammt. Die andauernde Bedrohung bedeutet nun für Deleuze kein völliges Verschwinden der eigenen, menschlichen Stimme, sondern betont vielmehr den ständigen Kampf um deren Wahrung. Denn die Stimme tendiert dazu, sich zu deterritorialisieren: „Wir müssen zusammenfassen, bevor wir unsere Stimme verlieren. Challenger kam zum

6

Vgl. M. Eggers: Texte, die alles sagen, S. 248.

7

Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 332.

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Ende. Seine Stimme war unerträglich schrill geworden. [...] ‚Haben Sie gehört? Das ist eine Tierstimme.‘“8 Um schreiben zu können, so Deleuze, benötigt der Schriftsteller die Fähigkeit zum Tier-Werden, eine Fähigkeit aber, die gerade die Stimme betrifft. Der Schreibprozess selbst ist ein Tier-Werden; er verbindet sich für Deleuze mit einer stimmlichen Klanglichkeit, die vom anthropozentrischen Standpunkt abrückt, ohne sich ganz davon zu lösen. „Ein Mensch, der schreibt, ist niemals ‚nur ein Schriftsteller‘: Er ist ein politischer Mensch, und er ist ein Maschinenmensch, und er ist ein experimentierender Mensch (der aufhört, Mensch zu sein, um versuchsweise Affe zu werden, oder Käfer, Hund, Maus, irgendein Tier, jedenfalls etwas Nichtmenschliches – denn in Wahrheit ist es die Stimme, der Klang, ein gewisser Stil, wodurch man Tier wird, und zwar in aller Nüchternheit).“9

Das Schreiben verändert den Schriftsteller, der die Bedrohung des Verlusts mithin der Wandlung der eigenen Stimme aushalten muss. Wie bei Derrida ist das Schreiben begleitet von Stimmen, die nicht die eigenen sind, die die eigene Stimme durchziehen und verändern. Da es sich um eine klangliche Dimension handelt, verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf das Hören, das wie bei Derrida einer diktierenden Inspiration gleichkommt, aus einem nicht-sichtbaren Bereich ‚hinter dem Rücken‘ stammend. Dass die Stimme bei Deleuze in ausgezeichneter Weise mit dem Tier-Werden zusammenhängt, unterstreicht deren grenzziehende wie verbindende Funktion: Sie gehört weder allein dem Bereich des Menschlichen noch des Tierischen an, sondern lotet das Verhältnis beider aus. Die Frage, ob die eben gehörte Stimme die eines Tieres oder eines Menschen ist, bleibt damit virulent. Die Instanz eines autonomen Sprech- bzw. Erzählsubjekts ist gerade durch die Klanglichkeit der Stimme gefährdet, eine Klanglichkeit, die sich für Deleuze ebenso im Schreiben findet. Drei zunächst ganz unterschiedliche Stimm-Ebenen konstituieren bei Deleuze also eine intensive Klanglichkeit, in der alles Sprachliche letztlich aufgeht: Die Stimme als Erzählstimme (die Stimmen, die den Schriftsteller schreiben lassen), die Stimme als erzählte Stimme (etwa die Stimme Josephines bei Kafka) sowie die phänomenale Stimme (die ‚tatsächlich‘ hörbare Akustik).10

8

Ebd., S. 100. Deleuze bezieht sich hier auf eine Erzählung von H. P. Lovecraft. Er identifiziert Challenger in Lovecrafts Erzählung Durch die Tore des Silberschlüssels.

9

G. Deleuze/F. Guattari: Kafka, S. 13.

10 Vgl. ebd., S. 32: „Die Sequenzen vibrieren, das Wort öffnet sich unerhörten inneren Intensitäten, kurzum die Sprache wird asignifikant, also intensiv benutzt. Desgleichen

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Schreiben geht mit einer Klanglichkeit, die „Hundegebell“, „Affenhusten“ und „Käfergesumm“ mit einschließt, an die Grenzen der Sprache selbst. Die damit von Deleuze propagierte „Syntax des Schreis“11 schöpft alle Möglichkeiten der Sprache aus und experimentiert mit allen vorgegebenen Maßstäben. Sie ist, so die Behauptung, die Stimme als Tier-Werden. Dem lévinasschen und lacanschen Modell eines gespaltenen Subjekts (in Aussage und Aussagen) stellt Deleuze ein anderes Modell entgegen: das in ein Werden gezogene Subjekt, niemals statisch, in einer ständigen Transformationsbewegung begriffen, die seinen scheinbar so selbstverständlichen menschlichen Status irritiert. Dies zeigt sich vor allem im Schreiben: „Und wenn man durch Literatur zu einem Tier oder einer Pflanze würde? Was natürlich nicht buchstäblich gemeint ist. Wird man nicht vor allem durch die Stimme zum Tier?“12 Im Klang der Stimme kann die Beziehung von Signifikant und Signifikat, zumindest zeit- und teilweise, aufgelöst sein. Deleuze sieht den Zerfall des Gefüges von Ausdruck und Bedeutung im Klang der Stimme, der wie die Musik zunächst nichts bedeutet, sondern für sich steht. Schon ein sich in die Stimme mischendes „schmerzliches Piepsen“ als „Insekt-Werden“ kann „den Nachklang der Worte“13 zerstören. So kann das Tier-Werden auch als Widerstand oder Flucht betrachtet werden, das sich der Anpassung des Einzelnen an die herrschenden Konventionen verweigert. Wie in Gregor Samsas Stimme, die allmählich ihren menschlichen Status verliert und tierisch wird, geht es Deleuze um die Irritation nicht von außen, sondern in der schon gegebenen Sprache, die durch die Stimme mit ihren eigenen Grenzen konfrontiert wird. Auf diese Weise sucht auch der Schriftsteller nach einem Fluchtweg, der anhand des vorgegebenen sprachlichen Inventars aus der allgemeingültigen Ordnung ausschert.14 Wie bei Derrida eröffnet sich hier die Dimension des Zukünftigen als Neuem, einer realen Transformation dessen, was schon da ist. Es scheint, als sei die Stimme dafür prädestiniert, diesem Neu-

gibt es auch nicht mehr ein ‚erstes‘ Subjekt der Aussage und ein ‚zweites‘ des Ausgesagten: Das zweite Subjekt ist nicht Hund, während das erste weiterhin ‚wie‘ ein Mensch bleibt; das erste Subjekt ist nicht ‚wie‘ ein Mistkäfer, während das zweite weiterhin Mensch bleibt. Es gibt nur noch einen einzigen Stromkreis von Zuständen, der sich, inmitten einer zwangsläufig vielfältigen oder kollektiven Verkettung, zu einem umfassenden Werden, einem Prozeß schließt.“ 11 Ebd., S. 37. 12 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 13. 13 G. Deleuze/F. Guattari: Kafka, S. 20. 14 Vgl. ebd., S. 49.

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en einen Weg zu bereiten: In der Sprache reizt die Stimme deren Grenzen aus; die Stimme schafft Neues im Bekannten.15

8.3 A NTWORTET

DAS

T IER ?

Die Frage nach dem Tier, nach dem gerade auch ethisch-politischen Zusammenleben mit dem Tier, wird oft ausgeblendet, so Derrida: „[...] die Werte des Menschen und der Menschenrechte des Menschen: Der Bruder ist stets ein menschlicher Bruder.“16 Ganz selbstverständlich steht der Mensch im Mittelpunkt, wenn es um Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit geht. Im Vergleich zum Menschen wird das Tier meist als mangelhaft beschrieben und besitzt auch in ethisch-politischer Hinsicht weder Gesicht noch Stimme. Während Gesicht und Stimme des Menschen dessen Einzigartigkeit unterstreichen, entbehren die des Tieres einer Individualität. So trägt die menschliche Stimme eine sprachliche Bedeutung, die des Tieres aber impliziert keine oder nur eine minderwertige Vorstufe von Sprache. Selbst wenn es also eine Tiersprache gibt, ist diese der Sprache des Menschen nicht ebenbürtig. Derrida betont vor allem die dem Tier zugeschriebene Unfähigkeit zu antworten und zu rufen. Lévinas und Lacan sieht er als zwei zeitgenössische Stellvertreter dieser Anschauung.17 Bei Lacan schließt das Unvermögen des Tieres zu antworten auch die Möglichkeit zu täuschen und zu lügen aus, so Derrida: „Nous le verrons, même ceux qui, de Descartes à Lacan, ont concédé audit animal une certaine aptitude au signe ou à la communication, toujours ils lui ont dénié le pouvoir de répondre – de feindre, de mentir et d’effacer [Herv. i.O.] ses traces.“18

15 Im Gegensatz zum Gesicht produziert die Stimme revolutionäre transformatorische Kräfte. Das Gesicht sieht Deleuze als Ausdruck der Macht einer Majorität, das als starrer Abdruck einer herrschenden Ordnung gebrochen werden muss. 16 J. Derrida: Schurken, S. 89. Derrida wendet sich vor allem in seinen späten Werken der Frage nach dem Tier zu. Jean-Luc Nancy betont, es gebe einen Zusammenhang zwischen der Schrift und dem Tier. Beide, so die Behauptung, sind von der Philosophie oft vernachlässigt worden, wobei das Tier vielleicht sogar mehr noch als die Schrift vom Denken ausgeschlossen ist. (Vgl. J.-L. Nancy: Derridas Spuren, S. 100). 17 Vgl. J. Derrida/Elisabeth Roudinesco: Woraus wird morgen gemacht sein? Ein Dialog, S. 113. Vgl. ebenso J. Derrida: L’animal que donc je suis, Paris: Galilée 2006, S. 30. 18 J. Derrida: L’animal que donc je suis, S. 55.

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Der Punkt, an dem dem Tier eine Sprache in vollem Sinne aberkannt wird und ihm nur noch eine ‚verkümmerte‘, instinktgeleitete und vorprogrammierte Stimme bleibt, bedeutet auch die Entstehung des Politischen, des Menschen als politischem Wesen, der Gemeinschaft. In seinem Seminar La bête et le souverain geht Derrida auf diesen Zusammenhang ein. Schon der Titel macht auf die Analogie von Tier (bête)19 und Souverän/Herrscher (souverain) aufmerksam. Während das Tier durch das Bestialische gekennzeichnet ist, kommt dem Souverän eine übermenschliche, göttliche, eine anthropo-theologische Dimension zu.20 Beide verbindet, dass sie außerhalb der Gemeinschaft, des Rechts und des Gesetzes stehen: „[...] le souverain et la bête semblent avoir en commun leur être hors-la-loi.“21 Ihre Verbindung irritiert die sonst klare Unterscheidung von Mensch und Tier: „[...] il reste que, partageant ce commun être-hors-la-loi, la bête, le criminel et le souverain se ressemblent de façon troublante“22. Ohne weiter darauf einzugehen, deutet Derrida eine weitere verstörende Analogie von Tier und Souverän an: Ähnelt die verschlingende Gewalt eines Herrschers nicht dem gierigen Fressen des Tiers? Und steht dieses gewaltsame Verschlingen nicht in Verbindung mit dem Ort des Sprechens, dem Mund? Somit stünden beide, Tier und Souverän, in gewisser Weise außerhalb der Grenzen der Sprache und der Gesetze des Sprechens. Der Stimme kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, denn der Ort des Verschlingens ist auch der Ort der Stimme, so Derrida. Mund, Zähne, Kehle, Zunge dienen nicht mehr dem Sprechen, halten sich nicht an die Konventionen einer ‚angepassten‘ Stimme, sondern werden zu Gebrüll, zu Geschrei, zu einer den anderen einverleibenden Stimmgewalt: „Le lieu de la dévoration, c’est aussi le lieu de ce qui porte la voix, c’est le topos du porte-voix, en un mot le lieu de la vocifération. Dévoration, vocifération [Herv. i.O.] [...]“23 Die dévoration (Fressen, Verschlingen) ist vocifération (Gebrüll). Die Stimme ist eine einverleibende und sich zugleich veräußernde Gewalt. Dass das Tier damit in eine Nähe zum politischen Souverän gebracht wird, ist erstaunlich, denn gerade dem Tier wird ein Bezug zum Politischen abgesprochen. Warum aber, so fragt Derrida, werden gerade Machthaber und Staatsge-

19 Zu beachten ist, dass das französische ‚bête‘ und ‚animal‘ im Deutschen mit ‚Tier‘ übersetzt werden, wobei die Doppeldeutigkeit des ‚bête’ verlorengeht. ‚Bête‘ kann sowohl ‚Tier‘, ‚Vieh‘, ‚Wild‘ als auch ‚dumm‘, ‚doof‘, ‚blöd‘ bedeuten. 20 Vgl. J. Derrida: La bête et le souverain I, Paris: Galilée 2008, S. 34f. 21 Ebd., S. 38. 22 Ebd., S. 38. 23 Ebd., S. 46.

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walten oft als monströse, animalische Bestien beschrieben?24 Aus dieser frappierenden Vermengung von Mensch und Tier ergibt sich für Derrida ein Widerspruch: Einerseits wird der Mensch als l’homme politique dem Tier überlegen dargestellt, andererseits ist der politische Mensch animalisch und bestialisch in seiner Herrschaftsform: „L’homme politique supérieur à l’animalité et l’homme politique comme animalité.“25 Diese widersprüchliche Doppelung findet Derrida auch in Bezug auf die Stimme wieder. Der Macht und Gewalt ausübende Souverän oder Staatsapparat gerät mit einer Stimme, die mehr Gebrüll als verständliche Rede ist, an den Rand des rein Humanen und in die Reichweite der Stimme des Tieres, die, unfähig zu sprechen, auf das verschlingende Maul rückgeführt wird.26 Zugleich aber unterscheidet sich der Mund des Menschen durch die Fähigkeit zu Sprechen von dem Maul des Tieres, das nur zum Fressen und Brüllen gemacht ist. Sowohl das Tier als auch der Souverän stehen außerhalb der ‚menschlichen‘ Sprache und Stimme. Auch der Souverän ist wie das Tier vom Gesetz des Antwort-Gebens, das die Sprache auszeichnet, ausgenommen, so Derrida. Denn er hat stets das Recht, nicht zu antworten.27 Wie Derrida beschreibt auch Michel Poizat den politischen Machthaber (tribun) als denjenigen, der die Massen aufgrund seiner rednerischen Fähigkeiten in

24 Vgl. ebd., S. 49. „[...] la figure sans figure d’une monstruosité artificielle de l’animal qu’on a souvent représenté l’essence du politique, en particulier de l’État et de la souveraineté.“ 25 Ebd., S. 50. 26 Vgl. ebd., S. 100. „La bête et le souverain. La... le. Et quant à l’oreille, entre la bouche et la gueule, nous en avons déjà perçu la double portée, la double langue, la portée de celle qui parle, la portée comme portée de voix vociférante (vociférer, c’est porter la voix), et l’autre portée, l’autre, celle qui dévore, la portée vorace [Herv. i.O.] de la gueule et des dents qui lacèrent et déchiquettent. Vocifération et dévoration, disionsnous, mais ne nous hâtons pas d’attribuer la parole à la bouche de l’homme supposé parler et la voracité, voire la vocifération du cri, à la gueule de l’animal. C’est précisément à cette simple et digmatique opposition, c’est aux abus de ce simplisme que nous en avons ici.“ 27 Vgl. ebd., S. 91: „Et c’est bien là la définition la plus profonde de la souveraineté absolue, de l’absolu de la souveraineté, de cette absoluité qui l’absout, la délie de tout devoir de réciprocité. Le souverain ne répond pas, il est celui qui peut, qui a toujours le droit de ne pas répondre, en particulier de ne pas répondre de ses actes.“

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seinen Bann ziehen kann, einer Fähigkeit, die die Stimme betrifft und auf die Dimension des Tierischen (animalité), Bestialischen (bestialité) weist.28 Dass das Tier angeblich unfähig ist, Antwort zu geben, zieht Derrida in L’animal que donc je suis in Zweifel. Denn die identifizierende Funktion von Tierstimmen, die das Eigene, den Artgenossen erkennbar macht, wird allzu oft ignoriert. Ein Spiel von Ruf und Antwort („le jeu de l’appel et de la réponse“29) findet sich gleichermaßen bei Tieren, die damit eigene und fremde Identitäten umreißen. Stattdessen aber wird die tierische Stimme als bloßes Piepsen, Miauen, Bellen degradiert; sie besitzt bestenfalls eine reduzierte Bedeutung, kann aber keineswegs als vollwertige, der menschlichen Stimme gleichwertig gelten.30 Im Ausgang von Heideggers Analyse zum Dasein als weltbildend, zum Tier als weltarm und zum Stein als weltlos, fragt sich Derrida, ob diese defizitäre Einordnung des Tieres haltbar ist.31 Ist nicht das Tier das bisher ignorierte Andere? Kann die Stimme des Anderen, die Stimme des Freundes nicht auch die eines Tieres sein? Oder, so Derrida, „antwortet das Tier? Stellt es Fragen? Und vor allem, kann der Ruf, den das Dasein* vernimmt, in seinem Ursprung zum Tier

28 Vgl. M. Poizat: Vox populi, vox Dei, S. 69: „D’un homme politique qui subjugue les foules par son pouvoir oratoire, on dit communément qu’il est un ‚tribun‘, un peu comme on dit de l’artiste qui agit de même sur son public qu’il est ‚une bête de scène‘. Gardons à l’esprit ce rapprochement qui pointe, derrière le pouvoir sur les foules par la voix, la dimension de l’animalité, sinon de la bestialité, en tout cas de la corporéité.“ 29 J. Derrida: L’animal que donc je suis, S. 88: „Certains animaux identifient leur partenaire ou leur semblable, ils s’identifient eux-mêmes et les uns les autres au son de leur voix ou de leur chant. Ils reconnaissent non seulement la voix de leur maître ou d’autres animaux, amis ou ennemis, mais d’abord la voix de leurs congénères et semblables lors de ce qu‘on peut sans forcer appeler des déclarations d’amour ou de haine, de paix ou de guerre, de séduction ou de chasse, donc des modalités du suivre, du ‚je suis‘, ou du ‚je te suis‘. [...] L’identification narcissique du prochain de la même espèce passe aussi par le jeu de l’appel et de la réponse entre des voix, des chants et des manifestations sonores à la fois codées et inventives.“ 30 Vgl. ebd., S. 92f. 31 Vgl. M. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a.M.: Klostermann 1992, S. 263. Heidegger weist dem Tier einen Platz zu, der widersprüchlich ist: „Somit zeigt sich im Tier ein Haben von Welt und zugleich ein Nichthaben von Welt [Herv. i.O.].“ (Ebd., S. 293). Daher bleibt die Frage nach dem Tier weiter problematisch: „So muß die These ‚das Tier ist weltarm‘ als Problem bestehen bleiben“ (ebd., S. 396).

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kommen oder vom Tier kommen? Gibt es ein Kommen des Tieres? Kann die Stimme des Freundes die eines Tieres sein?“32 Derrida konstatiert vor allem auch bei Lévinas und Lacan eine Gegenüberstellung von Mensch und Tier, die weniger Interferenzen zulässt denn eine hierarchische Beziehung festlegt. Das Tier wird dabei abgewertet und dient als Beispiel der Mängel, die beim Menschen behoben sind. So richtet sich Lévinas’ Ethik an einen Anderen als ‚menschlichem‘ Anderen. Das sprechende Gesicht, die Stimme des Anderen sind nur in einem humanen Zusammenhang denkbar.33 Auf die Frage, ob nicht auch Tiere ein Gesicht haben, ob nicht auch sie also rufen können, eine Stimme haben, kann Lévinas nach eigenen Angaben keine Antwort geben.34 Tiere entbehren all der Eigenschaften oder Grundlagen, die Lévinas’ Ethik ausmachen. Daher hat es weder Pflichten und Verantwortung zu tragen noch besondere Rechte.35 Wenn das Gesicht bei Lévinas die Aufforderung ‚tu ne tueras point‘ (‚du sollst nicht töten‘) bedeutet, so steht dem Tier diese Aufforderung nicht zu. Mehr noch ist der Tod dem Tier unbekannt. Das Tier stirbt nicht, es verendet. Denn der Tod ist für Lévinas eben das Nicht-mehrAntworten-Können, eine negative Stimme, dort, wo einmal eine Stimme war. Das Tier ohne Stimme kann auch diese negative Stimme nicht haben. Es kann weder antworten noch nicht-antworten.36

32 J. Derrida: Auslassungspunkte, S. 289. 33 Vgl. J. Derrida: L’animal que donc je suis, S. 147. 34 Derrida führt dazu einen Diskussionsbeitrag, den Lévinas im Rahmen eines Seminars geführt hat, an. Vgl. J. Derrida: L’animal que donc je suis, S. 149: „Llewelyn rapport qu’un jour, ici même, à Cerisy, en 1986, il lui avait adressé un certain nombre de questions. Par exemple: le fait d’avoir un visage implique-t-il l’aptitude au langage? L’animal a-t-il un visage? Peut-on lire le ‚tu ne tueras point‘ dans les yeux de l’animal? Voici la réponse de Lévinas, telle que je la traduis depuis la transcription de Llewelyn: ‚Je ne peux pas dire à quel moment vous avez (ou on a) le droit d’être appelé ‚visage‘ […] Le visage humain est absolument différent et c’est seulement après coup que nous découvrons le visage de l’animal. Je ne sais pas si le serpent a un visage. Je ne peux pas répondre à cette question. Une analyse plus spécifique est nécessaire.‘“ 35 Vgl. ebd., S. 147f. 36 Vgl. ebd., S. 154f: „La non-réponse de ce ‚il ne répond pas‘ du visage mort signifie ‚il ne répond plus‘, là où ‚il aura répondu‘, tandis que le ‚il ne répond pas‘ de l’animal signifie, ‚il n’a jamais répondu‘, ‚il ne répondra jamais‘, ‚il n’aurait jamais répondu‘, ‚il n’aura jamais pu répondre‘. L’animal est donc privé à la fois du pouvoir et du droit de répondre, certes, donc de la responsabilité (donc du droit, etc.); mais il est aussi

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Derrida wendet sich in diesem Punkt äußerst kritisch gegen Lévinas. Denn wenn dieser nicht auf die Frage antworten könne, inwiefern das Tier ein Gesicht habe, wie soll er dann überhaupt wissen, was ein Gesicht sei. Dies lässt sich ebenso auf die Stimme, das sprechende Gesicht, das Rufen und Antworten übertragen.37 Für Derrida wird das Tier mehr und mehr zu einem ganz Anderen, der ihn in seiner menschlichen Selbstverständlichkeit irritiert. Diese ‚animalische‘ Verstörung trifft ihn beispielsweise, wenn seine Katze ihn unbekleidet frühmorgens im Bad erblickt: „Comme tout regard sans fond, comme les yeux de l’autre, ce regard dit ‚animal‘ me donne à voir le limite abyssale de l’humain: l’inhumain ou l’anhumain, les fins de l’homme...“38 Direkt an den Abschnitt zu Lévinas anschließend geht Derrida in L’animal que donc je suis auf Lacan ein (Et si l’animal répondait?). Für Lacan besitzt das Tier keinen Zugang zum Symbolischen, zur sprachlichen Ordnung, vielmehr bleibt es gefangen im Imaginären. Es kennt weder das Unbewusste noch den Anderen.39 Lacan formuliert im Die Ethik der Psychoanalyse: „Wenn wir uns bemühen, die Sonde an der Grenze von Tier- und Menschenwelt anzusetzen, wird deutlich [...], wie sehr der Symbolvorgang als solcher in der Tierwelt inoperant ist. […] Daß der Mensch von den symbolischen Vorgängen in einer Weise erfaßt ist, an die kein Tier in gleichem Maße herankommt, ist nicht in Termen der Psychologie auflösbar, es impliziert vielmehr, daß wir von Anfang an über eine vollständige, strikte Kenntnis dessen verfügen, was dieser symbolische Vorgang besagen will.“ 40

Wie bei Lévinas ist das Tier für Lacan nicht in der Lage, Antwort zu geben. Es funktioniert wie eine auf Befehle reagierende und programmgesteuerte Maschine.41 Alle diese Defizite spitzen sich in einem zu: Das Tier kann nicht vorgeben zu täuschen. Wohl täuscht es, aber es täuscht nie vor zu täuschen.42 Da das Tier nur reagiert, ist ihm diese Doppelung verwehrt. Seine Spuren kann es nicht verwischen: „[...] l’animal se caractérise par l’incapacité à feindre de feindre et à ef-

privé de la non-réponse, du droit de non-réponse qui est accordé au visage humain dans le secret ou dans la mort.“ 37 Vgl. ebd., S. 162. 38 Ebd., S. 30. Ob diese Szene sich so zugetragen hat oder nicht, mag dahingestellt sein. 39 Vgl. ebd., S. 166. 40 J. Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII (1959-60), Berlin/Weinheim: Quadriga 1996, S. 58f. 41 Vgl. J. Derrida: L’animal que donc je suis, S. 169. 42 Vgl. ebd., S. 111.

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facer ses traces, en quoi il ne saurait être ‚sujet‘, c’est-à-dire ‚sujet du signifiant‘.“43 Die Fähigkeit, falsche Fährten zu legen, ist, folgt man Lacan, dem menschlichen Lügen, das die Dopplung des Lügens einschließt, unterlegen. Den Widerspruch zwischen Akt und Inhalt eines Ausdrucks, einer Aussage oder Handlung, erkennt das Tier nicht, da es nicht teilhat an der symbolischen Ordnung.44 Das Wirken des Signifikanten im Sprechen, die Stimme des Anderen ist das, was dem Tier fehlt. So formuliert auch Derrida: „[...] Lacan avait voulu identifier ce qui, je le cite, ‚manque au discours des animaux‘, à savoir le signifiant, la voix, la parole.“45 Das Tier ist für Lévinas und Lacan, so folgert Derrida, ein Mängelwesen in mehrfacher Hinsicht. Es befindet sich außerhalb der sprachlichen Ordnung, kennt weder ein ‚Jenseits‘ des Seins noch ein Unbewusstes, kann weder fragen noch antworten. Die Stimme des Tieres ist keine dem Menschen gleichwertige; sie mag mehr als ein Geräusch sein, aber nicht viel mehr als eine bloße Reaktion auf einen Reiz.46 Für Derrida ist die von Lévinas geforderte Ethik als Unterwerfung des Subjekts unter den Anderen nicht genug, weil sie nicht nur das Tier ausschließt, sondern den Anderen immer noch als einen dem Selben ähnlichen und menschlichen Anderen betrachtet. Derrida wirft die Frage auf (ohne diese schlussendlich zu beantworten), ob der Andere nicht vielmehr ein nichtmenschlicher Anderer sein müsste. Und wäre dieser un-menschliche Andere

43 Ebd., S. 165. 44 Vgl. ebd., S. 175f. 45 J. Derrida: La bête et le souverain II, S. 345. 46 Vgl. J. Derrida: „The Transcendental ‚Stupidity‘ (‚Bêtise‘) Of Man And The Becoming-Animal according to Deleuze“, in: Gabriele Schwab (Hg.), Derrida, Deleuze, Psychoanalysis, New York: Columbia University Press 2007, S. 35-60, hier S. 58. Auch bei Deleuze sieht Derrida das Tier verurteilt zu einer ‚unverantwortlichen Reaktion‘ (irresponsible reaction). In Tausend Plateaus betone Deleuze, dass eine Dummheit (‚bêtise‘) nur ein Mensch, nicht aber ein Tier (‚bête‘) begehen könne. Derrida sieht auch hierin die von ihm angezweifelte Unterscheidung zwischen Reaktion und Antwort, zwischen Tier und Mensch. Ohnehin ist Deleuzes Tier-Werden für Derrida eher „a question of the becoming-anthropomorphically-animal of man and not a question of the animal or the beast“ (ebd., S. 39). Der Frage nach der schwierigen bzw. paradoxen Verbindung wie Gegenüberstellung von Tier und Souverän – der Souverän, der wie das Tier von bestimmten menschlichen Eigenschaften befreit scheint – geht Derrida in seinem Seminar La bête et le souverain nach.

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dann nicht der transzendentale und zugleich ausgeschlossene Grund, der allererst die menschlich-symbolische Ordnung erlaubt?47

8.4 Z USAMMENFASSUNG : M IT - DEM -T IER -S EIN Die für Derrida ins Wanken geratene heideggersche Einteilung in den ‚weltbildenden Menschen‘, das ‚weltarme Tier‘ und den ‚weltlosen Stein‘ drängt die Frage nach einem ‚Mit-dem-Tier-Sein‘ („être-avec-l'animal“48) auf. Denn der Mensch ist in der Welt wesentlich mit Tieren; die Welt wäre niemals als tierlose vorstellbar. Ist dann aber nicht auch die Bedeutung des Anderen neu zu überdenken? Was ist der Andere, wenn er nicht unbedingt ein menschlich Anderer ist? Die Präsenz eines Tieres kann das ‚Ich‘ radikal in Frage stellen, wie Derrida erfahren hat. Im Hinblick darauf müssten also die Fragen nach dem Ich und dem Anderen neu gestellt werden.49 Die hier aufgeworfenen Fragen nach dem Tier, nach der Möglichkeit einer Stimme des Tieres, zeigt die tiefe anthropozentrische Verwurzelung eines Nachdenkens über die Stimme. Zwar wird die Stimme des Tieres nicht ausgespart, doch von Bedeutung ist stets das genuin Menschliche der Stimme. An dieser Stelle soll nun keine ‚neue‘ Stimme des Tieres verkündet werden. Die oftmals gezogene Begrenzung der Stimme ist jedoch fragwürdig. Derrida und Deleuze deuten in diesem Zusammenhang eher eine Stimme des Tieres an, als dass sie diese angemessen ausführen. Nichtsdestotrotz stehen sie damit in Kontrast zu Lévinas und Lacan, die die Stimme des Tieres meist abwerten. Was bedeutet es, wenn die Stimme des Anderen, die Stimme des Unbewussten ihren humanen Status verliert? Ausgerechnet Lévinas gibt an einer Stelle in Schwierige Freiheit ein eindrückliches Beispiel, das das Tier in einen anderen Blickwinkel rückt. Zum einen erwähnt Lévinas die Hunde, die beim Auszug des Volkes Israel aus Ägypten nicht bellen.50 Es scheint, als hätten sie eine besondere Beziehung zu Gott, als wüssten sie um das, was hier geschieht; als hätten sie anders, aber eben nicht völlig unbewusst, teil an diesem so außergewöhnlichen Geschehen. Zum anderen berichtet Lévinas von einer persönlichen Erfahrung mit einem ganz besonderen Hund, Bobby, der ihm während seiner Kriegsgefangenschaft in einem Lager in Deutschland begegnet. Inmitten der Entwürdigung und Erniedrigung,

47 Vgl. J. Derrida: La bête et le souverain I, S. 177. 48 J. Derrida: L’animal que donc je suis, S. 113. 49 Ebd., S. 133. 50 Vgl. Exodus, 11,7.

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die die Lagerinsassen erfahren, ist Bobby eine Hoffnung, eine Erinnerung und Bestätigung ihres Menschseins und ihrer Würde. Während ihn die anderen Menschen seiner Würde, und sei es nur mit Blicken, berauben, ist es ein Hund, der in seiner bellenden Begrüßung auch mitteilt, dass für ihn, den Hund, kein Zweifel daran besteht, dass die Lagerhäftlinge Menschen sind.51 Ohne die grundlegende Frage nach dem Tier in ihrer philosophischen Tragweite an dieser Stelle ausführen zu können, ist es wichtig, sie im Zusammenhang der vier hier behandelten Philosophen mindestens anzusprechen. An der Grenze der Stimme bricht ihr scheinbar rein menschlicher Kern selbst auf. Die Stimme des Tieres insistiert als drängende, aber (noch) unbeantwortete Frage.

51 Vgl. E. Lévinas: „Nom d’un chien ou le droit naturel“, in: Ders., Difficile liberté, Paris: Albin Michel 1976, S. 199-202, hier S. 202. „Et voici que, vers le milieu d’une longue captivité – pour quelques courtes semaines et avant que les sentinelles ne l’eussent chassé – un chien errant entre dans notre vie. Il vint un jour se joindre à la tourbe, alors que, sous bonne garde, elle rentrait du travail. Il vivotait dans quelque coin sauvage, aux alentours du camp. Mais nous l’appelions Bobby, d’un nom exotique aux rassemblements matinaux et nous attendait au retour, sautillant et aboyant gaiement. Pour lui – c’était incontestable – nous fûmes des hommes.“ (In der deutschen Ausgabe ist dieser Text nicht inbegriffen).

Schlussbemerkung

Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, von der Stimme zu sprechen Auch am Ende der vorliegenden Studie bleibt die Stimme ein schwer zu greifender, oft widerwilliger Untersuchungsgegenstand. Und doch hat sich in der vergleichenden wie kontrastierenden Lektüre von Lévinas, Lacan, Derrida und Deleuze ihre philosophische Bedeutung unmissverständlich abgezeichnet. Gerade die Mehrdimensionalität der Stimme macht es möglich, Politik und Ethik, Musik und Literatur, Text und (bewegtes) Bild in ihrer Interaktion zu denken. Zugleich öffnet die überraschende Verschränkung scheinbar nicht miteinander zu verschränkender Erfahrungsräume die Frage nach dem anthropozentrischen Standpunkt des traditionellen Weltbildes, nach der Relation von Menschlichem, Tierischem, Göttlichem. Die aporetische Verknüpfung von Transzendentem und Immanentem lässt die über-natürliche Stimme Gottes oder des Anderen immer schon mit einer Stimme ‚in der Welt‘, einer realen Pluralität von Stimmen, verbunden sein. Die innere Widersprüchlichkeit ist grundlegend; Derrida formuliert diese als unmögliche Möglichkeit: „S’entendre est l’expérience la plus normale et la plus impossible.“1 Für die Stimme gilt: Sie ist nah und vertraut, zugleich aber unfassbar und fremd. Eine exakte Definition, die in klaren Kategorien beschreibt, greift für die Stimme nicht. So auch bemerkt Derrida: „Weder Physik noch Phonetik, weder Linguistik noch Psychoanalyse oder Philosophie lehren uns irgendetwas über dieses Wesen der Stimme.“2

1

J. Derrida: Marges de la philosophie, Paris: Minuit 1972, S. 353. In der deutschen Übersetzung geht die Doppeldeutigkeit des französischen ‚s’entendre‘ (‚hören‘ wie ‚verstehen‘) verloren: „Sich hören ist die allernormalste und die unmöglichste Erfahrung.“ (Ders., Randgänge der Philosophie, S. 280).

2

J. Derrida: Auslassungspunkte, S. 172.

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Die Stimme kann weder als reines Phänomen noch als bloße Metapher gedacht werden. Sie ist eine Denkfigur, welcher die inhärente Spannung konstitutiv ist. Die simple Unterscheidung in phänomenale und metaphorische Stimme hilft daher zum Verständnis der Wichtigkeit des Themas für Lacan, Lévinas, Derrida und Deleuze nicht weiter. Das Phänomenale ist immer schon metaphorisch – und umgekehrt. Für Lévinas und Lacan gewährt die Stimme den Zugang zum Anderen. Sie erlaubt eine Annäherung an das, was eigentlich unzugänglich ist, das Jenseits und das Unbewusste. Sie stellt die ausgezeichnete Möglichkeit dar, das Außerhalb zu erahnen, das sich als Störung der strukturierten Ordnung zeigt. Zugleich ist die Stimme selbst das, was sich verflüchtigt, was sich einem Zugriff entzieht. Sie befindet sich im Sprechen und doch außerhalb dieses Sprechens; sie unterscheidet und verbindet das Transzendente und Empirische von- und miteinander. Wie sie Subjekt und Anderen, Sagen und Gesagtes voneinander trennt, muss sie beiden angehören. Sie ist erste Differenz im Singular. Lévinas und Lacan betonen nun vor allem eine transzendente Stimme, eine reine und unberührte Stimme, in der das tatsächlich Akustische reduziert ist. Hier kennt die Stimme keinen Plural. Die eine Stimme als Ruf des Anderen fordert eine nicht-willentliche Antwort und damit eine unabweisbare Übernahme der Verantwortung. Das AntwortGeben bedeutet zugleich, den Anderen anzuerkennen, auf seine Stimme zu hören, diesem gehorsam zu sein. Lévinas und Lacan fordern ein Hören auf das Gebot der Stimme, die damit Beginn aller Ethik noch vor deren sprachlicher Ausformulierung ist. Diese Stimme im Singular bleibt in gewisser Weise artifiziell transzendent; als sich entziehende Präsenz kann sie weder in den Plural gesetzt noch (technisch) übertragen oder aufgezeichnet werden. Der Übergang zur tatsächlich akustischen Stimme ist stets gebrochen. Derrida eröffnet keine neue Hierarchie zwischen Stimme und Schrift, vielmehr gehen beide in seinem Denken ein komplexes Verhältnis ein, das sich vor allem im Text, im Schreiben zeigt. Derrida fordert keine reine Schrift, sondern eine Stimme ohne Autor. Im Text gibt es immer eine Vielzahl von Stimmen, eine ‚Unentscheidbarkeit‘, eine ‚Grammophonie‘ zwischen Schrift und Stimme. Letztere hält den Text offen, vervielfältigt die Schrift und verhindert die eine ‚wahre‘ Lesart. Die Erzählstimme im Text kann keinem identifizierbaren Subjekt oder Autor mehr zugeordnet werden. Sie ist vielmehr durchzogen von einer immer anderen Stimme. Schreiben ist in diesem Sinne ein ‚Erleiden‘ der Stimmen, die einen schreiben machen. Stimme ist damit hypertopisch gedacht; sie besetzt viele Orte. Sie ist nicht dekonstruierbar, da sie die Bewegung der Differenz selbst darstellt. Derrida definiert sie durch ihre Nicht-Neutralität, die Emo-

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tionen wie Faszination, Verführung, Abscheu provoziert, zugleich aber auch täuschen kann. Lévinas und Lacan hingegen haben die Stimme auch als eine buchstäblich berührende, eine nicht neutrale beschrieben. Die Stimme wird als Akt eines Vorübergehens zur ersten Grenzziehung, zur ersten Differenzsetzung. Ist es für Lévinas und Lacan die eine Stimme, die den Zugang zum Anderen, sowie Sprache und Subjekt konstituiert, das Sprechen provoziert, so ist es für Derrida die Reibung von Stimme und Schrift sowie die Vielzahl von Stimmen, die den sprachlichen Stillstand verhindern. Die Transzendenz der einen Stimme mischt sich in die Vielzahl der immanenten Stimmen. Die Ethik wird zu einer Politik. Auch bei Deleuze ist Schreiben nicht auf eine bestimmte Stimme, die des Verfassers, zurückzuführen, sondern vielmehr ein Prozess, in dem sich viele Stimmen vermengen. Seine Forderung, die Sprache zum Stottern zu bringen, findet in der Literatur als ein Hören auf minoritäre Stimmen statt. Deleuze geht es aber nicht nur um die Erzählstimme, sondern auch um die tatsächliche Beschreibung der Stimme in der Literatur, wie zum Beispiel die Stimme Gregor Samsas in Kafkas Verwandlung. Immer ist eine kollektive, nicht-individuelle Stimme am Werk, eine, die nicht die Identität der Person bestätigt. Diese ist nicht nur vom Sprecher, sondern auch vom Sprechen gelöst, verbindet sich mit allem, was sie berührt: Bäumen, Häusern, dem Wind. Jede Hierarchisierung lehnt Deleuze ab: Es gibt keine Stimme von oben oder unten, vielmehr befindet sie sich auf einer Ebene mit allem anderen. In dieser Transformation der Stimme scheint die Musikalität der Sprache auf. Die Stimme steht somit für Deleuze der Musik näher als dem Sprechen, behält aber ihre Autonomie. Sie ist das unbedingt Nicht-Neutrale der Sprache; ihr ist es damit möglich, eine Kraft in der Sprache zu evozieren, die sich auch mit dem Bildhaften zu etwas Neuem verbindet (z.B. im Film). Die Stimme, die sich von den Körpergeräuschen scheidet, um in der Unabhängigkeit der Töne Sinn entstehen zu lassen, ist für Deleuze körperlich und unkörperlich zugleich. Zwar entstammt sie einem Körper, doch agiert sie schließlich autonom. Politik und Kunst erfahren in ihr eine vielschichtige Verbindung. Das von Deleuze hervorgehobene ‚Stottern‘ der Sprache zeichnet literarische Werke aus, impliziert aber zugleich eine politische Ebene. Die Sprache, durch die Stimme zum Stottern gebracht, verweigert sich konventionellen Vorgaben und versucht, mit und zugleich gegen das Vorgegebene Neues zu schaffen, künstlerisch tätig zu sein. Sprache funktioniert für Deleuze als indirekte Rede. Stimmen werden aufgenommen und weitergereicht, ohne dass es eine erste Stimme gäbe. Auf dieser Grundlage einer ‚Glossolalie‘ der Sprache, so Deleuze, kann eine Stimme, die

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das ‚Ich‘ konstituiert, extrahiert werden. Dies geschieht lediglich nachträglich; die vielen Stimmen bestimmen die eine Stimme stets weiter mit. Die politische Forderung besteht für Deleuze in einem Ankämpfen der Töne gegen die herrschenden Ordnungen (als freie indirekte Rede). Gerade der Literatur kommt diese Aufgabe zu: In ihr entsteht ein „kollektives Äußerungsgefüge“, in dem der Schriftsteller seine Stimme vielen Stimmen leiht, die sonst nicht zu Wort kommen. Die Klangmacht der Stimme bewirkt eine gerade auch politische Absteckung von territorialen Grenzen, Räumen, Gemeinschaften. Auch das Unbewusste spricht nicht mit einer Stimme, so Deleuze, sondern mit vielen Stimmen, die nicht ödipal, sondern territorial, politisch sind. Die sich vervielfältigenden und weitergegebenen Stimmen erscheinen bei Derrida als Stimmen, die in ihrer nicht nachlassenden Verfolgung unheimlich, gespenstisch werden. Die Zahl und die Zählbarkeit der Stimmen werfen politische Fragen auf: Die oft selbstverständlich gemachte Annahme einer Einheit der Stimme, sowohl in Psychoanalyse als auch im demokratischen System, wird fraglich. Das Hören auf die Stimme schafft Zugehörigkeit, versammelt, ermöglicht Gemeinschaft und birgt darin eine Gefahr. Gehorsam kann in Hörigkeit umschlagen; die Konzentration auf das Gemeinsame unterteilt schließlich in Freund und Feind und schirmt sich gegenüber dem Fremden ab. Dagegen fordert Derrida eine Stimme des Freundes, die vor aller Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft eine unbedingte Gastfreundschaft ankündigt. Die Stimme besitzt folglich einen politischen Impetus: Ihre Klanglichkeit stiftet eine wie auch immer geartete Zugehörigkeit, sie steckt Räume, Gemeinschaften und Territorien ab und kann diese wieder auflösen (der Reim bei Derrida, das Ritornell bei Deleuze). Derrida und Deleuze problematisieren den Zusammenhang der Stimme und der Zahl, ihrer Vielzahl und führen damit das Literarische, Musikalische, Politische ein. Der Leitfaden vorliegender Studie ergibt sich somit aus der Spannung der Stimme im Singular, der einen Stimme einer Transzendenz und der Stimmen im Plural, der vielen Stimmen und, als Ausblick, einer daraus resultierenden Ethik und Politik der Stimme. Beide Seiten interagieren. So können sich die vielen Stimmen an einer Stimme, die transzendenten Charakter gewinnt, orientieren. Die transzendente Stimme kann direkten Einfluss auf die realen Stimmen nehmen. Wie die absolute Ethik, die Ausrichtung an der einen Stimme, nicht ohne den Einschluss der vielen Stimmen, die schließlich ins Politische führen, auskommt, so kann es vermutlich keine Politik geben ohne eine Transzendenz der Stimme, die eine Richtung vorgibt. Die Stimme vereint in sich den Widerspruch des Einen und der Vielen, der Transzendenz und der Immanenz. Sie bewegt sich an der Grenze, wo die eine Stimme mit den vielen Stimmen in einer produktiven

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Spannung steht. Weder gibt es die eine gute Stimme noch sind die vielen Stimmen an sich erstrebenswert. Von beiden kann auch eine Gefahr ausgehen. Der Hybridcharakter der Stimme findet bei Lévinas, Lacan, Derrida und Deleuze seine Bestätigung. Denn die Stimme ist nicht so sehr durch ein ‚EntwederOder‘ denn durch ein ‚Sowohl-als-auch‘ gekennzeichnet, das zwei sonst disjunkte Bereiche zugleich durchzieht.3 Die Stimme markiert nicht nur Grenzen, sie löst diese Grenzen auch wieder auf und konstituiert neue, eben weil sie nicht ausschließlich einer Seite angehört. Das Feld der Stimme beschreibt damit eine immanente Transzendenz, der mit eindeutigem, analytischem Vokabular kaum noch beizukommen ist. Die Spur der Stimme hat uns von der Ethik zur Politik und schließlich mit der Frage nach der Stimme des Tieres an die Grenzen des ‚Menschlichen‘, des rein ‚Humanen‘ geführt. Eine der wichtigsten Forderungen im Hinblick auf Politik und Ethik gilt der kommenden Stimme, einer Verheißung der Stimme, die noch aussteht, von der sich nicht sagen lässt, ob sie Mensch oder Tier angehört. Das Spurhafte der Stimme bei Lacan und Lévinas verkehrt sich so in ein Zukünftiges, Prophetisches bei Derrida und Deleuze. Das Zuvorkommen der Stimme ist nicht nur eines, das schon vor-ursprünglich war und aus einer absoluten Vergangenheit gemahnt, sondern bedeutet eine ‚offene‘ Zukunft, aus der viele Stimmen zu erwarten sind, die zugleich nach einer Übernahme ethischpolitischer Verantwortung verlangen.

3

Darauf hat Sybille Krämer schon hingewiesen (vgl. dies.: Die ‚Rehabilitierung der Stimme‘, S. 290f.).

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Edition Moderne Postmoderne Friedrich Balke, Marc Rölli (Hg.) Philosophie und Nicht-Philosophie Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen 2011, 342 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1085-7

Michael Fisch Werke und Freuden Michel Foucault – eine Biografie 2011, 576 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1900-3

Oliver Flügel-Martinsen Jenseits von Glauben und Wissen Philosophischer Versuch über das Leben in der Moderne 2011, 144 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1601-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Moderne Postmoderne Anke Haarmann Die andere Natur des Menschen Philosophische Menschenbilder jenseits der Naturwissenschaft 2011, 146 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1761-0

Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel März 2014, ca. 224 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1069-7

Franziska Martinsen, Oliver Flügel-Martinsen (Hg.) Gewaltbefragungen Beiträge zur Theorie von Politik und Gewalt Dezember 2013, 234 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2541-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Moderne Postmoderne Mara-Daria Cojocaru Die Geschichte von der guten Stadt Politische Philosophie zwischen urbaner Selbstverständigung und Utopie 2012, 256 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2021-4

Stefan Deines, Daniel Martin Feige, Martin Seel (Hg.) Formen kulturellen Wandels 2012, 278 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1870-9

Christian Dries Die Welt als Vernichtungslager Eine kritische Theorie der Moderne im Anschluss an Günther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas 2012, 518 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1949-2

Gerhard Gamm, Jens Kertscher (Hg.) Philosophie in Experimenten Versuche explorativen Denkens 2011, 308 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1681-1

Heike Guthoff Kritik des Habitus Zur Intersektion von Kollektivität und Geschlecht in der akademischen Philosophie Juni 2013, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2424-3

Maximilian Lakitsch Unbehagen im modernen Staat Über die Grundlagen staatlicher Gewalt Mai 2013, 244 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2368-0

Hilge Landweer, Catherine Newmark, Christine Kley, Simone Miller (Hg.) Philosophie und die Potenziale der Gender Studies Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie 2012, 346 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2152-5

Christian Lavagno Jenseits der Ordnung Versuch einer philosophischen Ataxiologie 2012, 228 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1998-0

Matthias Mayer Objekt-Subjekt F.W.J. Schellings Naturphilosophie als Beitrag zu einer Kritik der Verdinglichung Februar 2014, ca. 390 Seiten, kart., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2586-8

Sibylle Schmidt, Sybille Krämer, Ramon Voges (Hg.) Politik der Zeugenschaft Zur Kritik einer Wissenspraxis 2011, 358 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1552-4

Paul Sörensen, Nikolai Münch (Hg.) Politische Theorie und das Denken Heideggers August 2013, 252 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2389-5

Juliane Spitta Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee 2012, 356 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2236-2

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