Die Ästhetik des Zwitters im filmischen Werk von Pedro Almodóvar 9783964565396

Die Autorin stützt sich auf die verschiedenen Theoreme und Theorien der Psychoanalyse, der Postmoderne, der Intermediali

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German Pages 232 Year 2005

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Postmoderne und intermediale Verfahrensweisen als Folien almodóvarianischer Ästhetik
3. Zeit der Repressionen und der Zensur
4. Almodóvar als autor universal
5. Laberinto de pasiones (1982): Ablösung der Freudschen Theoreme und Apologisierung der Hysterie
6. Qué he hecho yo para merecer estol (1982) - Transgression und Konfusion
7. Entre tinieblas (1983): Sakrale und säkulare Heterotopien der Frau
8. Matador (1986): Der menschliche Stierkampf
9. La ley del deseo (1987) - Gesetze der Begierde
10. La flor de mi secreto (1995) - die Praxis des Zwittrigen und ihre Strategien der Vermarktung
11. Schlussbetrachtung
12. Bibliographie
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Die Ästhetik des Zwitters im filmischen Werk von Pedro Almodóvar
 9783964565396

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Isabel Maurer Queipo Die Ästhetik des Zwitters im filmischen Werk von Pedro Almodövar

Isabel Maurer Queipo

Die Ästhetik des Zwitters im filmischen Werk von Pedro Almodovar

Vervuert

• Frankfurt am Main

2005

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2005 Wielandstr. 40 - D-60318 Frankfurt am Main [email protected] www.ibero-americana.net ISBN 3-86527-198-7

Zugl.: Siegen, Univ., Diss., 2003 Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Cover-Abbildung: la vie en rouge © 1999 Mai Chij Das Papier dieses Bandes enspricht der ISO-Norm 9706 Printed in Germany

A mis padres, Olga y Dietrich, en memoria de mi primo, Dr. Javier Grossi Queipo

Men allerherzlichster

Dank geht an Volker Rolofif und Uta Feiten für ihre

wisienschaftliche und freundschaftliche Förderung und Unterstützung.

Inhaltsverzeichnis 1

EINLEITUNG

11

2

POSTMODERNE UND INTERMEDIALE VERFAHRENSWEISEN ALS FOLIEN ALMODÓVARIANISCHER ÄSTHETIK

2.1

High- und low-Art im Zeichen einer concordia discordia

18

2.2

Zwischen Popart, Kitsch und Camp

19

2.3

Intermediale Verfahrensweisen

23

2.3.1 3

Ars combinatoria

als ästhetisches Vorbild

ZEIT DER REPRESSIONEN UND DER ZENSUR

3.1

Spanien als Widerspruch und als Verkörperung der Ideologien Francos 3.1.1

5

26 29

34

Der Kreuzritter gegen das Schlechte und Retter Spaniens Inszenierungen des Generalísimo por la Gracia de Dios

4

17

35

3.2

Der Aufbruch der 50er Jahre

3.3

Die 60er Jahre

44

3.4

Die 70er Jahre

46

ALMODÓVAR ALS/4UTOR UNIVERSAL

40

51

4.1

Die ersten Schritte in Richtung filmischen Mediums

51

4.2

Schwarze Tradition und bunte Moderne

54

4.3

Zwischen traditionellem Land- und modernem Stadtleben

54

4.4

Transición und Destapes

57

4.4.1

Almodóvars filmischer Anfang

57

4.4.2

Patty Diphusa, Almodóvars literarisches alter ego

59

LABERINTO DE PASIONES ( 1 9 8 2 ) : ABLÖSUNG DER FREUDSCHEN THEOREME UND APOLOGISIERUNG DER HYSTERIE

5.1

La Movida zwischen Dokumentation und Inszenierung 5.1.1

5.2

Labyrinthische Vernetzungen und sexuelle Polymorphie 5.2.1

5.3

5.4

Androgyne Blickpositionen

Weibliches Begehren und Subvertierung der Psychoanalytik

63 64 66 66 70

5.3.1

Die Lacanianerin Susana Díaz und Revision des Ödipuskomplexes

70

5.3.2

„Felliniesque Sexilia" und freudsches Kindheitstrauma

74

5.3.3

Auflösungen des Ödipus- und Elektrakomplexes

78

5.3.4

Toraya und Soraya: zwischen Fiktion und Realität

80

„It was a most stränge phenomenon;" - surreale Anklänge 5.4.1

5.5

Die Movida als Symbol eines spanischen Neopaganismus

63

Hysterie als theatrales Alltagsphänomen

Das visuelle Labyrinth als Zeitdokument

84 85 86

VIII 6

QUÉ HE HECHO YO PARA MERECER ESTO? ( 1 9 8 2 ) TRANSGRESSION U N D KONTUSION

89

6.1

El Nuevo Cine Español zwischen spanischem und italienischem Neorealismus 89 6.2 Tragik und Monotonie einer Hausfrau 92 6.3 Tradition versus Moderne - Dekonstruktion abendländischer Denkmodelle anhand „gewisser chinesischer Enzyklopädien" 95 6.3.1 Intermediale Performances 96 6.3.2 Apologie des Irrationalen 105 6.4 Scheinhaftigkeiten und erotische Simulationen 105 6.5 Die spanische Nora befreit sich aus ihrem Puppenhaus 108 7

ENTRE

TINIEBLAS ( 1 9 8 3 ) : SAKRALE UND SÄKULARE HETEROTOPIEN DER F R A U . . . . 1 1 1

7.1

Entre tinieblas - im dunklen Ungewissen 7.1.1 Schreibende Frauen in ihren eigenen vier Wänden „los delirios de una monja menopáusica" 7.2 Buñuel: Surrealismus und Skeptizismus 7.2.1 Der almodóvarianische Tiger im Klostergarten als grotesk-surreales Pendant zur buñuelesken Kuh auf dem Bett 7.3 Säkularisierungen 8

MATADOR

( 1 9 8 6 ) : DER MENSCHLICHE STIERKAMPF

Stierkult als heidnisches Kultsymbol, als Spielball der Macht zwischen Kirche und Staat in Spanien 8.1.1 Stierkult und Christentum: die Janusköpfigkeit klerikaler und staatlicher Instanzen 8.1.2 Stierkampf als Inszenierungsreigen der Geschlechter 8.2 Der Film Matador und die Macht des Bildes 8.2.1 Der ,menschliche Stierkampf1 als Variation von Batailles .obszönem Werk' 8.3 Zwittrige Dichotomien und ihre Enthüllungen 8.4 Christliche Blickverbote und begehrliche Skopophilie 8.4.1 Schuldgefühle als Tugend des Opus Dei 8.4.2 Schuldbewusstsein als générateur visionärer Skopophilie 8.4.3 Der Topos der ,dos Españas' 8.5 Die Stierkämpferin als Revision surrealistischer femme /äte/e-Phantastik... 8.5.1 Androgynisierung bataillscher Opferrituale 8.6 Androgynisierung als Befreiung

113 114 120 120 128 135

8.1

9

LA LEY DEL DESEO ( 1 9 8 7 ) - GESETZE DER BEGIERDE

9.1 9.2

Der Film La Ley del deseo Intermediale Einflechtungen und hispanische Aktualisierungen 9.2.1 Anleitung zum Liebesspiel

136 137 139 141 143 145 146 149 150 151 154 160 162 165

167 170 170

IX

9.2.2

Intermediale Interaktion zwischen Jean Cocteaus La voix humaine und Pablo Quinteros La voz humana

9.3

Die Transsexualität Tinas 9.3.1

9.4

10

Echos des Surrealismus: das Zeitalter der Prothesen

Über das Schreiben

176 179 182 185

9.4.1

Die verhängnisvollen Briefe

185

9.4.2

Das verhängnisvolle Drehbuch

186

LA FLOR DE Ml SECRETO ( 1 9 9 5 ) - DIE PRAXIS DES ZWITTRIGEN UND IHRE STRATEGIEN DER VERMARKTUNG

10.1 10.2

Chromatische Veräußerungen - vom ,rosa' Kitschroman zur ,schwarzen' Schreibweise

189

Die Transsexualisierung des Schriftstellers

196

10.2.3 10.3

189

Männliches versus weibliches Schreiben?

Die Vereinigung der platonischen Hälften

198 201

11

SCHLUSSBETRACHTUNG

203

12

BIBLIOGRAPHIE

215

12.1

Primärliteratur

215

12.2 12.3 12.4

Sekundärliteratur Filmographie Abbildungsverzeichnis

218 228 230

1

Einleitung

Pedro Almodóvar hat ein filmisches Werk geschaffen, in dem sein extravaganter und origineller Stil mit Hilfe intermedialer Konzeptionen konventionelle Diskurse verkehrt, parodiert und subvertiert und die konservativen, repressorischen Werte des ehemaligen Spanien unter Franco ironisierend demontiert werden. Jene für Spanien eigene Ambivalenz, das Oszillieren zwischen Schein und Sein, zwischen Tradition und Moderne und nicht zuletzt zwischen Emanzipation und Machismus, spiegelt sich auf verschiedenste Weise in den einzelnen Filmen wider. Dabei erfährt die Umsetzung der oftmals eigentümlich spanischen Themen durch die intermediale Spielfreude Almodóvars eine zusätzliche Bereicherung. Er pendelt zwischen einer national geprägten Linie, die sich vom Siglo de Oro (engaño/desengaño, honor/honra), über goyesk/groleske und esperpentische Anleihen bei Francisco de Goya, Ramón María del Valle-lnclán und Federico García Lorca, bis hin zu seinen filmischen Vorbildern wie Carlos Saura und Luis Buñuel nachzeichnen lässt, und einer internationalen Linie, zu der u.a. Jean Cocteau, Tennessee Williams, George Cukor und Ingmar Bergmann zählen. Sein filmisches Werk bietet mit seinen interkulturellen Versatzstücken nicht nur für die gegenwärtige Genderforschung1 neue und interessante Beiträge und Einblicke, sondern diesbezüglich auch für die spezifische Diskursgeschichte Spaniens. Die Untersuchung wird sich auf die verschiedenen Theoreme und Theorien der Psychoanalyse, der Postmoderne und der Intermedialität stützen, um das .Zwittrige' in dem Gesamtwerk von Pedro Almodóvar zu veranschaulichen. Im Anschluss an die inzwischen habitualisierten Thesen von Judith Butler werden auch hier nicht nur die gesellschaftlich/kulturell bedingte Geschlechtsidentität (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (iex) als Konstrukte, als performative Zuschreibungen gesehen - „sex could not qualify as a prediscursive anatomical facticity"2. Sex und gender werden als radikal unabhängig gedacht. Gender erscheint damit als „freefloating artifice"3, als konstruierte Variation des biologischen Geschlechts, die unzählige offene kulturelle Bedeutungen generiert und sich in besonderem Maße im vorliegenden filmischen Ensemble niederschlägt. Der Begriff des .Zwitters' verweist in diesem Zusammenhang auf das Spiel mit Konfusionen und Diffusionen, auf eine Ästhetik der Synästhesien und der Hybridisierungen und insbesondere auf die Vermischung der Geschlechterkonstrukte, der Transformation und ironischen Dekonstruktion weiblicher und männlicher Stereotype. Solche transformierten Stereotypen manifestieren sich bei Almodóvar nicht

'

2 3

Vgl. hierzu insbesondere die Beiträge von Renate Kroll/Margarete Zimmermann (Hg.), Feministische Literaturwissenschaft in der Romanistik - Theoretische Grundlagen - Forschungsstand Neuinterpretationen, Stuttgart 1995, Dies. (Hg.), Gender studies in den romanischen Literaturen: Revisionen, Subversionen, Frankfurt a.M. 1999, Lena Lindhoff, Einführung in die feministische Literaturtheorie, Stuttgart 1995, Jutta Osinski, Einführung in die feministische Literaturtheorie, Berlin 1998, Renate Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender studies, Geschlechterforschung, Ansätze Personen - Grundbegriffe, Stuttgart 2002. Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of identity, New York 1990, 8. Ebd. 6. Vgl. auch, Dies., Bodies that matter. On the Discursive Limits of „Sex", New York 1993.

12

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nur in alltäglichen Situationen - im Haushalt, der Arbeit, in der Freizeitgestaltung - , sondern auch in ungewöhnlichen oder marginalisierten Lebensräumen, die nicht selten mit den Heterotopien, den Nicht-Orten Michel Foucaults4 identisch sind. Solche anderen Orte bezeichnen nicht nur die filmischen Komponenten wie Diskontinuitäten, das Zwischen-den-Zeilen (zwischen den Bildern und Tönen), sondern auch die (Flucht-) Räume besonders marginalisierter Mitglieder der Gesellschaft: Hier seien zu nennen: Prostituierte und ihre ,Bordelle' s , das Kloster in Entre Tinieblas (1983, Kap. VII), die private Wohnung als ,Arbeitsstätte' der Frau in Qué he hecho yo para merecer esto? (1984, Kap. VI), der Straßenstrich in Todo sobre mi Madre (1999). Im Anschluss an Virginia Woolf und ihre Forderung nach eigenen Räumen6, gilt ein besonderes Interesse solchen weiblichen Heterotopien. Diese Vernetzung eines die Spezifik der spanischen Diskursgeschichte fokussierenden Ansatzes mit der kulturübergreifenden GenderThematik ist bisher in diesem Umfang noch nicht unternommen worden. Zwar existieren Einzeluntersuchungen7 zu bestimmten Themenbereichen, doch stoßen viele Untersuchungen allzu schnell an eine Grenze, die eine tiefgründigere Analyse des Films aussparen. Diese Grenze wird nicht selten von einem oberflächlichen und einseitigen Blick auf die almodovarianische Komik gebildet, die den Eindruck entstehen lässt, dass diese bereits das filmische Werk beschließt, so dass dadurch .subtile Subversivitäten' nicht mehr aufgedeckt werden können und (insbesondere hinsichtlich der GenderDiskussion) Missverständnisse auftreten: Diese manifestieren sich insbesondere in solchen zur unfreiwilligen Parodie neigenden Untersuchungen, die die Überdetermination beispielsweise der männlichen Stereotype eben nicht als ironisches - destruktives Verfahren Almodóvars erkennen, sondern diese systemafFirmatorisch verkennen und in seinen Filmen einen „krampfhaften Wunsch" nach Familienglück entdecken wollen8 und bspw. Átame als Eloge an eine konservative Familienidylle lesen.9 Dabei entpuppe Almodóvar sich „als traditionsverbundener Autor (fast ist man dazu geneigt, im heutigen Polit-Jargon von einem „Wertekonservativen" zu sprechen), der die filmimmanente Nostalgie des Familienglücks immer nur durch seine extremen Darstellungsweisen kaschiert."10 Die dieser Untersuchung zugrunde liegenden Prämissen einer .Ästhetik des Zwitters' hingegen zielen auf eine offensichtliche Provokation der biologischen Diskursivierung der Geschlechterdifferenz, die sich bei Pedro Almodóvar anhand seiner für Spanien ungewöhnlichen eklektizistischen und intermedialen Form deduzieren lässt. Der Begriff des Zwitters wird hierbei nicht ontologisch oder biologistisch verstanden, sondern fungiert als Metapher für das ambivalente Spiel mit Medien und Kulturen, mit 4

5 6 7 8

9

10

Michel Foucault, „Andere Räume", in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, 34-46, hier 39. Vgl. ebd., 46. Vgl. Virginia Woolf, A Room of One 's Own, London 1974. Vgl. Kap. XI. Stefanie Karg, Trabajar y formar una familia, como una persona normal: Zeichen der Identität im filmischen Werk Pedro Almodovars, [Diss ] Saarbrücken 1997, 264. Vgl. Karg, Klaus-Peter Walter, ,.Pedro Almodövar und das Kino der Gegenwart", in: Walter L. Bemecker/Klaus Dirscherl (Hg.), Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Darmstadt 1998, 581608. Ebd., 597.

Kapitel 1 : Einleitung

13

Geschlecht (Sex und Gender), fur die Freude an Gender-switch und ,„gender-benders', des transfuges du sexe", an Phänomenen der Verwandlung und des ,Überläufers', an Theatralität und Maskerade." In Bezug auf Butler, ließe sich, wie erwähnt, auch hier das Anliegen auf die Formel bringen, dass Sex (biologisches Geschlecht) und Gender (kulturelles/soziales Geschlecht) performativ zu begreifen sind - Thesen, die Almodovar in den achtziger Jahren in seinen Werken und seinem Madrider Lebensstil bereits vor ihrer Theoretisierung praktizierte. Die auch schon von Simone de Beauvoir formulierte Erkenntnis der ,K.ünstlichkeit' und Konstruktivität der Zuschreibungen „On ne naît pas femme, on le devient"12 - ist Voraussetzung für ihre Befreiung von den bis heute (besonders in Spanien) dominierenden bürgerlichen Normierungen und Kanalisierungen von Sexualität. Eine Neustrukturierung des Geschlechts in allen Bereichen wie Beruf, Haushalt und Freizeit ist somit nur zu erreichen über eine Entlarvung der bisher gültigen geschlechtsspezifischen Normen und Stereotype, „phallogocentrism and compulsory heterosexuality."13 Diese gelten als soziokulturelle Konstrukte eines auch von Jacques Derrida kritisierten phallogozentrischen Patriarchats, welches im Nationalkatholizismus Spaniens immer noch tief verwurzelt ist. Denn obwohl Spanien längst die eigene postdiktatoriale Explosion erlebt hat und sich in das von Jean Baudrillard so bezeichnete postorgiale Stadium begeben hat, dem Moment der Befreiung in allen gesellschaftlichen Bereichen14, existiert weiterhin eine moralische, auf klarer Rollenverteilung bedachte Instanz in der spanischen Gesellschaft. Schon Almodóvars erster noch in der spanischen Transición - der Übergangsphase von der Diktatur in die Demokratie - entstandener Langfilm Pepi, Lud, Bom y las otras chicas del montón (1980) kann als programmatischer Auftakt für eine ridikülisierende Demontage der starren Traditionen, der traditionellen Geschlechterrollen verstanden werden. Festgefahrene Systeme werden mit Hilfe einer gerade für Spanien signifikanten karnevalesken Lachkultur15 durchbrochen. Mit diesen, im Folgenden dargestellten Demontagen konventioneller Rollen von Mann und Frau, schafft Almodovar gleichzeitig .zwittrige' Freiräume für andere anti-konventionelle und anti-konservative Rollenspiele zwischen den Geschlechtern und macht den Blick frei auf neue Rollengefüge, in denen homoerotische und transsexuelle Spielvarianten wie in La ley de mi

" Jean Baudrillard, La Transparence du mal Essai sur les phénomènes extrêmes, Paris 1990, 29, hier besonders hier das Kap. „Transsexuel", 28-32. Vgl. zu den Begrifflichkeiten auch den Band von Meike Penkwitt und Tina-Karen Pusse („Cross-dressing und Maskerade", Freiburger Frauen Studien (Heft 2, Jahrgang 4, 1998), in dem die verschiedenen Begriffe wie cross-dressing, queer, drag, genderswapping anhand prominenter Werke von Judith Butler, Marjorie Garber, Joan Rivière, Cindy Sherman, Virginia Woolf vorgestellt werden. I: Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe, Paris 1978; 285. " Butler, Gender Trouble, x/xi. Vgl. zum Begriff des Phallogozentrismus Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967. Vgl auch Lindhoff, Kap. III, 2., „Derrida: Der Phallus und der Schleier", 97-110. " Vgl. Baudrillard, La Transparence, hier besonders das Kap. „Après l'Orgie", 11-21. " Vgl. zur karnevalesken Lachkultur Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskuhur als Gegenkultur, Frankfurt a.M. 1987. Von besonderem Interesse erweisen sich hierzu auch die Werke aus dem spanischen Siglo de Oro, die Schelmenromane, Werke von Francisco de Quevedo (La vida del buscôn, Barcelona 1993), Luis de Göngora (Fabula de Polifemo y Galatea, Madrid 1983) und Francisco de Goya (Caprichos, Prag 1958). Vgl. auch Susanne Schlünder, Karnevaleske Körperwelten Francisco Goyas Zur Intermedialität der Caprichos, Tübingen 2002.

14

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deseo (vgl. Kap. IX) oder in Todo sobre mi madré (1999) ihren ihnen zustehenden Raum finden.16 Immer wieder stellt Almodovar gängige Vorstellungen von .natürlich',,normal' oder .moralisch' in Frage und bietet neue .androgyne' Liebeskombinationen an, da für ihn jedes Individuum komplementäre Dichotomien, männliche und weibliche Elemente in sich vereint: „Je crois que l'être humain a en lui tous les personnages, masculins et féminins, [...]." 17 Aus dieser nicht nur an Piatons Androgynenmythos18 anknüpfende Perspektive erweist sich der heterosexuelle von der patriarchalischen Einäugigkeit begrenzte Diskurs als eine und nicht als die absolute bzw.,normale' Spielform aus dem Repertoire der kulturellen Codierungen von Sex und Gender. Almodovar inszeniert in seinem Werk eine Vielfalt erotischer Kombinationen19, die zudem an unterschiedliche kulturelle Versatzstücke geknüpft werden. Die vorliegende Untersuchung zielt deshalb auf ein Offenlegen der hybriden Darstellung von Sex und Gender, ihrer kulturellen Diskursivierung und (intermedialen) Performance ab.20 In den Einzelanalysen der vorliegenden Untersuchung soll anhand spezifischer, für das Gesamtwerk repräsentativer Themen, aufgezeigt werden, inwiefern jeder Film sich für eine (sozio-kulturelle) Analyse derartiger Gender-Troubles, der Variationen der menschlichen (homo-) erotischen Beziehungen, als Konfusion der Geschlechter im Sinne der baudrillardscher Prämissen anbietet: Nous sommes tous des transsexuels. De même que nos sommes des mutants biologiques en puissance, nous sommes des transsexuels en puissance. Et ce n'est pas une question de biologie. Nous sommes tous symboliquement des transsexuels. 2 '

Eine besondere Rolle im theatralen Spiel des Gender-Switchings kommt dem Transvestismus, der körperlichen, und dem Travestismus, der äußerlichen Umwandlung, zuteil. Almodovar attestiert immer wieder die ,Artifizialität' der Zuschreibungen, die allgegenwärtige Ersetzbarkeit und Transformierung des Körpers und unterstreicht auch hierbei die baudrillardschen Theoreme, dass es im Zeitalter der Prothesen - der chirurgischen oder semichirurgischen Operationen, Zeichen oder Organe - Schicksal 16

Vgl. auch Vf., „Todo sobre mi madré (1999) - Schauspiele zwischen Realität und Fiktion", in: Vf./Michael Lommel/Nanette Rißler-Pipka/Volker Roloff (Hg.), Theater und Schaulust im aktuellen Film (geplanter Titel), Siegen [2003], " Almodovar zit. nach Jean-Claude Seguin, „La Flor d'Almodovar", in: L'Avant-Scène Cinéma (Pedro Almodovar, Femmes au bord de la crise de nerfs), 10/1995, Nr. 445, Comptes rendus du Festival de Cannes 1995, 75. 18 Platon, Das Gastmahl, Hamburg 1981. Vgl. auch Ovid, Metamorphosen Das Buch der Mythen und Verwandlungen, Frankfurt a.M. 1993, hier besonders der Abschnitt „Der Zwitter Hermaphrodites" (IV, 93-97). " Almodôvars Liebesrepertoire reicht von sadomasochistischer (Pepi, Lud, Bom y las otras chicas del montôn, 1980), homoerotischer (La Ley del deseo, 1986, Entre tinieblas, 1983), über die konstruierte Familienidylle (Atame, 1989) und passionierten Liebe (Matador, 1986) bis hin zur matemellen Liebe (Tacones lejanos, 1991, Todo sobre mi Madre, 1999). 20 Performance wird hier nicht mehr als uralter Topos der theatralen Maskeraden, wie sie bereits bei den dionysischen Ritualen verwendet wurden, als integraler Bestandteil des Theaters auf der Bühne gesehen, sondern im Sinne des theatrum mundi als konstitutives Element der Gesellschaft selbst, in der besonders die Rollen von weiblich und männlich als Effekte des Geschlechterdiskurses, als konstruierte Geschlechtsidentitäten durchschaut werden. 21 Baudrillard, La Transparence, 28, hierzu besonders das Kap. „Transsexuel", 28-32.

Kapitel 1: Einleitung

15

des Körpers ist, Prothese zu werden und dass das Modell der Sexualität die Androgynie sei. Der Körper wird zum Ort der Verführung. 22 Wie Alejandro Varderi erläutert, simuliert der Travestit, während der/die Transsexuelle performativ die männliche oder weibliche Figur mit all ihren von Gesellschaft und Kultur auferlegten Konventionen kopiert. El travestí no copia, simula pues no hay forma que invite y magnetice la transformación, que decida la metáfora: es más bien la inexistencia del ser minimado que constituye el espacio, la región o el soporte de esa simulación, de esa impostura concertada: parecer que regula una pulsación goyesca: entre la risa y la muerte. 23

Travestie und Transvestie werden bei Almodóvar zum Manifest der gesellschaftlichen Konstruktionen, zum zwittrigen Modell des ,puren Theaters', des .fingierten Simulacrum' wie es in einem von Bola de Nieve Almodóvar gewidmeten Lied heißt. Die Vorliebe für das Prothetische, Hybride und Zwittrige kennzeichnet gleichsam Almodóvars Umgang mit den Medien: Seine Filme montieren filmische Versatzstücke aus Thriller, Porno, Film Noir und Melodrama mit pikturalen Elementen aus Popart, Comic, Hagiographie, katholischem Reliquienkult und musikalischen Versatzstücken aus Funk, Rock, Saínetes, Zarzuelas und Boleros zu einer zwittrigen Melange. Darüber hinaus rekurriert er mit seinen Vermischungen, in welche gleichsam Theatralität und Artifizialität, Ironie, neobarocke Ästhetik, Kamevalisierung, Kitsch und Camp eingebunden werden, auf archetypische Mythologeme und biblische Imagina. Wie sich im Rahmen einer solchen intermedialen und interkulturellen Kombinationsfreude Mythen, Werbung, Mode und (Gewder-)Realität gegenseitig beeinflussen, soll anhand mehrerer ausgewählter Filme Almodóvars gezeigt werden. Die folgenden Kapitel befassen sich mit den ästhetischen Verfahrensweisen der Postmodeme und der Intermedialität, beleuchten den soziohistorischen Kontext, um schließlich paradigmatisch - unter Berücksichtigung spezifischer Schwerpunkte, übergreifender Themen, Überschneidungen und Konstanten und unterschiedlicher Theorien u.a. von S. Freud, J. Lacan, G. Bataille, J. Baudrillard und Piaton - auf die ausgewählten filmischen Werke näher einzugehen. Dabei werden diejenigen Filme ausgewählt, in denen die Zeichen des Zwittrigen besonders deutlich sind: die Movida und die Hysterie in Laberinto de pasiones (1982), surrealistische Säkularisierungen in Entre tinieblas (1983), die Phase des spanischen Desencanto mit neorealistischen Anleihen in Que he hecho yo para merecer esto (1984), der Stierkampfmythos in Matador (1986), die Homo- und Transsexualität in La ley del deseo (1987) und androgyne Kunstproduktionen in La flor de mi secreto (1995).

22

2)

Baudrillard, La Transparence, 15/16. Almodövar geht dabei auch auf foucaultsche Körperdiskurse ein, die in der Genderdiskussion, in der Unterscheidung zwischen Körperleib und Kultur-Körper, eine entscheidende Rolle spielen. Einen Höhepunkt bildet diesbezüglich Todo sobre mi madre, in dem die Besessenheit des Körperkultes, das Erreichen des körperlichen Ideals, von der Transsexuellen Agrado auf der Bühne vorgeführt wird (vgl. Kap. IX).

Alejandro Varderi, Severo Sarduyy Pedro Almodövar: Del barroco al kilsch en la narrativay et eine

postmodemos, Madrid 1996, 74.

2 Postmoderne und intermediale Verfahrensweisen als Folien almodóvarianischer Ästhetik Die im Zeichen des Zwitters stehende Ästhetik Almodóvars korreliert mit der offenen Praxis der Intermedialität einerseits und dem theatralen Aufkommen transvestitischer Spielformen andererseits, die sich in der heutigen Postmoderne fest etabliert haben. Die ,Postmoderne' selbst ist aufgrund der ihr eigenen Offenheit schwer definierbar. Untersuchungen zum Begriff der Postmoderne stoßen immer wieder auf Ungewissheiten, auf Unklarheiten und lassen sich nur schwerlich resümieren. Wie auch A. Huyssen und K.R. Scherpe in ihrer Studie zeigen, erscheint es sinnvoll, der offenen Praxis der Postmoderne über Seitenblicke und Relationen näher zu kommen. Hierbei wird insbesondere die Relation der Postmoderne zur historischen Moderne um die Jahrhundertwende (20. Jhd.) analysiert. In den Werken Almodóvars lässt sich eine Hybridisierung beider Strömungen ausmachen, die Ihab Hassans Aussage einer Koexistenz beider Bewegungen folgt: „Modernism does not suddenly cease so that Postmodemism may begin: they now coexist."' Während die Postmoderne einerseits - so wiederum Spitzmesser - die Radikalität der modernen Avantgarden in ihrer totalen Missbilligung der kulturellen bürgerlichen Traditionen ablehnt und andererseits die Dominanz und Alleingültigkeit der historischen Moderne zugunsten neuerer ludischer Mischformen verweigert2, präsentiert sich im Werk des spanischen Regisseurs - in Einklang mit den neuen Tendenzen des Ludischen und Hybriden - eine gemäßigte Koexistenz: Vor diesem Hintergrund zeichnen sich die Filme Almodóvars durch ihre Verknüpfung von traditionellen und progressiven Elementen aus. Es ergibt sich ein Zusammenspiel von Tradition, historischer Moderne und Innovation, von Kulturelitismus und Massenkultur, die die Originalität seiner Filme prägen. Wenn die Moderne aus dem fundamentalen Gefühl des Verlusts, der Spiritualität, der Traditionen und Konventionen, der religiösen oder mythischen Dogmen entstanden ist3, so drängt sich in Bezug auf Almodóvars Filme eine anfängliche ,moderne' Motivation mit umgekehrten Vorzeichen auf: Nach der fast vierzigjährigen Diktatur Francos eröffnet sich in Spanien mit der Transición und speziell im Phänomen der Movida (vgl. Kap. 5) zunächst ein Klima der Instabilität und der Unsicherheit, letztlich einer nach Hassan postmodernen Indetermanenz, einer der postmodernen Ära wesenhaften Ungewissheit.4 Denn das neue Spanien suchte vorerst nicht nach Ordnung und Sicherheit, sondern verharrte zunächst in einer Art eskapistischer dismemoria, einer

'

2

3 4

Ihab Hassan, Paracriticisms. Seven Speculalions of the Times, Illinois 1975, 47. Die historische Moderne bezieht sich auf die ästhetischen Bewegungen um die Jahrhundertwende, welche sich von ihrer Grundidee her mit Hilfe ästhetischer Ausdracksmittel und Verfahrensweisen gegen die etablierte Ordnung stellte und einen Brach mit der Vergangenheit anstrebte. Das Adjektiv modern bezieht sich hier auf progressive Verhaltens- und Verfahrensweisen. Vgl. Ana Maria Spitzmesser, Crónica de un desengaño. Narrativa posmodema española, New York 1999, 6/7. Vgl. Ebd., 6. Ihab Hassan bezeichnet die Postinoderne als Ära der .Indetermanenz', der Verknüpfung von Indeterminiertheit und Immanenz. Hassan zit. in: Spitzmesser, 5.

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Abwendung von der Vergangenheit, und kostete die zunächst befreiende Situation aus, bis schließlich das sogenannte Stadium des Desencanto, der Enttäuschung (vgl. Kap. 6), erreicht wurde. Erst dann trat der an der historischen Moderne orientierter Wunsch nach „Stabilisierung gegen Chaos und Fragmentarisierung"5 auf, der die Rückbesinnung auf die alte Ordnung und den aufkommenden Neopuritanismus rechtfertigte. Einhergehend mit der Kritik an der anscheinend engagementlosen Postmoderne bestätigt die Phase des Desencanto einen Neokonservatismus, der nun wieder die klassischen Traditionen und Konventionen als Garanten einer stabilen Ordnung propagiert. Wiederholt konnte auch Almodóvars frühes Œuvre Anlass zu einer solchen Kritik geben: Seine Progressivität und sein provokatives Potential ließen sein Traditionsbewusstsein und sein soziokulturelles Engagement hinter schrillen Fassaden vorerst unerkannt. Hierin lässt sich somit auch die Quelle eines Verkennens seiner Werke ausmachen. Gerade diesen postmodemen Zwiespalt zwischen einer in Spanien hochgehaltenen konservativen Traditionsverwurzelung und dem Verlangen nach progressiven Elementen konsolidiert Almodovar als Konstante in seinen Werken - visualisiert in dem sinngeladenen Bild des „corralito en la terraza"6 (Abb. 2-1, vgl. auch Kap. 4).

Abb. 2-1.: Screenshot aas Atamt

2.1

High- und low-Art

im Zeichen einer concordia

discordia

Almodövar bringt mit der Amalgamisierung von sogenannter high- und /ow-Art zwei weitere scheinbar paradoxale Elemente zueinander und steht damit in einem weiteren postmodemen Spannungsfeld, das auch A. Huyssen wie folgt darstellt: Zum erstenmal war eine Rebellion gegen eine Tradition „hoher Kunst" und deren Hegemonieanspruch in Amerika politisch und gesamtgesellschaftlich sinnvoll. [...] So operiert die Postmodeme der achtziger Jahre in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, Bewahrung und Erneuerung, Massenkultur und hoher Kunst.7

Nachdem die Kunst der Moderne sich für den Bürger als Abstraktum erwies, sich von ihm entfernte, wurden seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Forderungen nach populärer 5 6 7

Vgl. ebd., 6/7. Almodövar zit. in: Nuria Vidal, El eine de Pedro Almodövar, Barcelona 1988, 389. Andreas Huyssen, „Postmodeme - eine amerikanische Internationale?", in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.), Postmodeme Zeichen des kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, 19/41.

Kapitel 2: Postmoderne und intermediale Verfahrensweisen

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Kultur immer dringender. Almodövars Werke erweisen sich in diesem Sinne auch noch gegenwärtig als Brücken zwischen der high- und low- Art, zwischen Massenkultur und ästhetischem Kunstwerk. In seinem zum Standardwerk avanciertem Le plaisir du texte (1973) kritisierte der französische Philosoph Roland Barthes an der Massenkultur scheinbar zu Recht die „répétition honteuse": La forme bâtarde de la culture de masse est la répétition honteuse : on répète les contenus, les schèmes idéologiques, les gommages des contradictions, mais on varie les formes superficielles : toujours des livres, des émissions, des film nouveaux, des faits divers, mais toujours le même sens. 8

Für viele Kritiker schien dies zunächst auch auf Almodövars Filme zuzutreffen. Entgegen Barthes Äußerungen erhebt Almodovar jedoch in Einklang mit der Ideologie der Popart (des Kitsch und des Camp) die Massenkultur zum Kultobjekt. Man könnte hier von einer Apologisierung der Serialität, der kreativen und konstruktiven, jedoch keineswegs platten Wiederholung in Form des Mosaik, des Pastiche, des Patchwork sprechen. In Anschluss an Borges sei vielleicht sogar „die ganze Weltliteratur eine Reihe von Variationen über dasselbe Thema" 9 (vgl. Kap. 10). Damit muss die künstlerische Wiederholung also keineswegs negativ - honteuse - sein, liegt die Kreativität des Künstlers doch gerade in der originellen Transformation, in der kreativen Auseinandersetzung mit den intermedialen Prätexten. Almodövars kreative Re-écriture der kulturellen Zeichen und Diskurse, sein Spiel mit den Zitaten, verweist auch auf die grobe Vernachlässigung (seitens der Kritik) der intermedialen Bereicherung seines Werkes: durch den spielerischen Umgang mit vorhandenen Medien, durch ihre Aktualisierungen, das Einbetten vorhandener Stoffe und Formen in neue Kontexte erreicht das daraus entstandene Werk eine häufig unerkannte Sinnänderung und -Verschiebung. 2.2

Zwischen Popart, Kitsch und Camp10 „Camp refisses both the harmonies of traditional seriousness identifying with extreme states of feelings." (Susan Sontag)"

and the risks of fully

Ein weiteres grundlegendes Problem der Konkurrenz von high and low-Art bildet gerade die umstrittene Ästhetik der Popart, des Kitsch und Camp. Sontag betrachtet Camp als Liebe zum Künstlichen und zur Übertreibung, als Sensibilität, die das Seriöse ins Frivole umwandelt, als subjektive Blickweise: „[...] purely subjective preferences, those mysterious attractions, mainly sensual, that have not been brought under the 8

' 10

11

Roland Barthes, „Le plaisir du texte", in: Ders., Œuvres complètes II 1966-1973, Paris, 1994, 14931529, 1515. Osvaldo Ferrari/Jorge Luis Borges, Lesen ist denken mit fremdem Gehirn. Gespräche über Bücher und Borges, Zürich 1990, 166. Vgl. hierzu besonders die Studien Alejandro Yarzas (Un caníbal en Madrid: ia sensibilidad camp y el reciclaje de la historia en el cine de Pedro Almodovar, Madrid, 1999) und Alejandro Varderis (Severo Sarduy y Pedro Almodovar: Del barroco a! kitsch en la narrativa y el cine postmodernos, Madrid 1996) und Susan Sontag, A Susan Sontag Reader, Bungay Suffolk 1982. Vgl. hier besonders das Kapitel „Notes on „Camp"", 96-119. Ebd., 115.

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souveranity of reason."12 Wie sich später auch besonders in Qué he hecho yo para merecer esto? (Kap. 5) und Entre tinieblas (Kap. 6) bestätigen wird, hinterfragt Almodovar mit dieser Vorliebe zum antikonventionellen Camp bereits auf stilistischer Ebene die Souveränität der Vernunft, die Hierarchisierungen der Ästhetik und des Geschmacks, der nach Sontag weder System nachweisen noch Beweise zur Unterscheidung von gutem und schlechtem Geschmack vorweisen kann - „Taste has no system and no proofs."13. Yarza ergänzt Sontags Ausführungen zum Camp: Junto con el exceso - emocional, representacional y formal - Susan Sontag define el Camp como el gusto por lo no natural; esto es, la apreciación de lo artificial que lleva implícita la percepción del mundo como fenómeno estético. Percibir el mundo a través de la sensibilidad Camp implica, entonces, extender hasta sus últimas consequencias la tradicional metáfora de Shakespeare o de Calderón del mundo como teatro: su resultado es la teatralización ontològica, el sujeto se transforma en máscara, en ser-actuante-que-representa-un-papel.14 Almodovar nimmt damit die barocken (Theater-)Traditionen, den Topos des theatrum mundi parodistisch in seinem Œuvre auf. Diese in den Werken des spanischen Künstlers verwendeten Elemente des Camp weisen auf die Freude an heiterer und kritischer Dekonstruktion des Pantheon der Hohen Kunst - „truth, beauty, and seriousness"15 - hin. Dabei kann Almodovar im Zuge dieses Patchworks auf das vorhandene Instrumentarium, auf die vorhandenen intermedialen Prätexte zurückgreifen und sich ihrer vorgefertigten Konnotationen - wie etwa des ihnen inhärenten provokativen oder gesellschaftskritischen Potentials bedienen.16 Der spanische Regisseur lässt die Vorläufer und Vertreter der Postmoderne im Madrid der achtziger Jahre wieder aufblühen und demonstriert dies immer wieder in seinen künstlerischen Umsetzungen. In diesem Sinne rekurrieren z.B. die seriellen Bilder in Tacones lejanos (1991)17 oder in Átame (1989) auf die Seriographien Andy Warhols und zitieren so die u.a. von Marcel Duchamp initiierte und von Warhol in der Popart weitergeführte Kritik an spezifischen Kunst- und Konsumproduktionen, an Konsum und Gesellschaft, die u.a. in der Thematisierung von Entfremdung und fehlender Kommunikation manifest wird (Abb. 2-2, 2-3).

12

Ebd., 105/106. Ebd., 106. Yarza, 7. " Sontag., 114. 16 Vgl. hierzu auch Huyssen: „Dennoch war der Angriff auf die modernistische „Institution Kunst" im Kontext der sozialen Bewegungen der sechziger Jahre immer auch ein Angriff auf hegemoniale soziale Institutionen. Darin liegt das avantgardistische Moment der Pop-Kunst, egal, ob einzelne PopKünstler nur mehr Kalauer und Dummheiten ä la Andy Warhol in die Welt posaunten." Huyssen, „Postmodeme - eine amerikanische Internationale?", 20. 17 Dass der Protagonist aus Tacones lejanos von der spanischen Ikone Miguel Bos£ gespielt wird, der auch im realen Leben durch seine (damals ungewöhnlichen) musikalischen Auftritte in Frauenkleidern bereits früh seine Freude an der Travestie bezeugte, bestätigt gleichzeitig die Freude Almodövars an der Vermischung von Realität und Fiktion und letztlich am Zwittrigen. 13

14

Kapitel 2: Postmoderne und intermediale Verfahrensweisen

Abb. 2-2: Andy Warhol, Mary/in Monroe Dyptichon (Ausschnitt)"

21

Abb. 2-3: Screenshot aas Tacones Ujanos

Andererseits bedeutet Popart auch, wie Alejandro Yarza hervorhebt, die radikale Negierung der herkömmlichen Konzepte von Kunst und Künstler: En principio, el pop significaba el rechazo radical de esta concepción del arte y de esa imagen del artista. La revolución pop fue precisamente la glorificación de lo inmediato y de lo trivial y, por consiguiente, el rechazo de este intelectualismo elitista." Im Zusammenhang mit den Werken Almodóvars und denjenigen seiner spanischen Kollegen (insbesondere während der Movida) hebt Yarza weiter die ästhetisch-sozialen Verschiebungen zur amerikanischen Popart hervor: Si el Pop y el Camp en los años sesenta, pretendían deshancar el puritanismo y el patemalismo moralista de la intelectualidad liberal norteamericana, producto de la guerra fría, el Pop y el Camp en manos de Almodovar y otros artistas e intelectuales españoles de fines de los setenta y principios de los ochenta, sirvió para distanciarse de la pesada herencia del puritanismo estético y moral producto de cuarenta años de una izquierda ortodoxa que había monopolizado la critica cultural española.20 Mit seinen unverblümten Darstellungsmethoden subvertiert Almodovar gleichzeitig die Vorstellungen und klassischen Muster. Ernste Themen wie die Repressionen der Diktatur seien nur auf seriöse Art und Weise zu medialisieren, um Ernsthaftigkeit zu bedienen. Er knüpft an die von Michail Bachtin analysierte „Lachkultur des Mittelalters" an, die „der Seriosität nicht prinzipiell feindlich gegenüber [stand], sie wehrte sich nur gegen die zeitgenössische dogmatische Seriosität." 21 Almodovar operiert gerade deswegen mit der Praxis des Camp, des Frivolen, des Disparaten, um, wie damals bereits in einigen avantgardistischen Bewegungen und gerade in der Popart angelegt, die gängigen Denkmuster zu verwirren und parodistisch, aber emsthaft den soziopolitischen Diskurs zu problematisieren: Paradójicamente, es precisamente a través de la frivolidad de su cine que Almodovar subvierte el discurso político y social. La valorización de superficies, texturas, el sentido del humor y la crítica puesta en cuestión de la sagrada seriedad que dominó la mayoría del arte español de orientación política de los años sesenta y setenta, sitúan los filmes de Almodovar dentro de la estética del Camp.22 Kontrapunktiv zur schwarzen Franco-Ära zeigt sich bei Almodovar die Lust am Bunten, am Frivolen und Erotischen, am Anti-Mainstream in seinem gesamten Œuvre, wie im folgenden Kapitel (4) näher ausgeführt wird. Es scheint im Beitrag Almodóvars dabei l!

" 20 21

22

© 2005 Andy Warhol Foundation for the Visual Arts / Artists Rights Society (ARS), New York Yarza, 13. Ebd., 26. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M. 1995, 167. Vgl. auch Kap. 7. Ebd., 5/6.

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sinnvoll, Barthes Ausfuhrungen zur erotischen Wollust, zu einem plaisir du text und Sontags23 seltener beachtete Analyse zur synästhetischen Erotik in der Kunst zu kombinieren, wie es auch schon Huyssen vorschlägt: Vergessen wird dabei freilich meist, daß Susan Sontag schon vor über zwanzig Jahren eine Erotik der Kunst gefordert hatte, die das muffige und beengende Korsett akademischer Interpretation sprengen sollte. Wie immer man die Unterschiede zwischen Barthes' Wollust und Sontags Erotik definieren mag (die betreffenden Feindbilder sind der Strukturalismus bei Barthes und der New Criticism bei Sontag), so ist doch deutlich, daß Sontags Geste damals relativ radikal war, weil sie einen gesellschaftlich sanktionierten Kanon angriff, der Objektivität und Distanz, Kälte und Ironie als höchste ästhetische Werte pries, und weil sie schließlich den Weg aus den Höhengefilden der klassischen Moderne zurückfand in die Niederungen von Pop und Camp.24 Wie des Weiteren gezeigt werden soll, ist die an der Oberfläche der Filme sichtbare, aber oftmals unterbewertete Ästhetik des Kitsch oder des von Sontag früh beachteten Camp in ihrer Tiefenstruktur als Weiterführung, Aktualisierung und Apologie insbesondere der spanischen Ikonographie und Hagiographie angelegt (Abb. 2-4).

Abb. 2-4: Screenshot ao> Âtame

Diese Bildtraditionen spielen im Zuge barocker Verfahrensweisen und Spielformen in Spanien schon seit jeher eine ausschlaggebende Rolle, die sich hier beispielsweise in spezifischen Ikonisierungen deutlich machen lassen: im andalusischen Barockaltar aus La ley del deseo (vgl. Kap. 10) oder den in venezianischer Karnevalsmaskerade präsentierten Heiligenstatuen aus Entre tinieblas (vgl. Kap. 7). Auch die ,Ready Mades' und seriellen Inszenierungen des spanischen Regisseurs kulminieren in Vermischungen von inkongruenten Gegenständen wie eklektischen Fotoalben (vgl. Kap. 7) oder Popund Heiligenikonen in Atame (1989). Almodövars Œuvre ist gekennzeichnet durch ein Programm gegen die Ghettoisierung der Marginalisierten und insbesondere der Frau. Die Aufwertung der im gängigen (Kunst-)Diskurs banalisierten und trivialisierten Alltagsgegenstände deckt sich mit einer allgemeinen Apologie und Integration des Marginalen, der marginalisier-

24

„What is important now is to recover our senses. We must learn to see more, to hear more, to feel more. [...] In place ofhermeneutics we need an erotics of art." Sontag,,.Notes on Camp", 104. Sontag hat damit bereits sehr früh das synästhetische Potential als .erotisches Element' der Kunst erkannt. Huyssen, „Postmodeme - eine amerikanische Internationale?", 35.

Kapitel 2: Postmoderne und intermediale Verfahrensweisen

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ten Personengruppen - dem Ensemble von „homosexual, bisexual, transsexual, doper, punk, terrorist characters"25 - , die besonders unter Franco verstärkt ins Abseits gedrängt worden waren. Wie z.B. anhand Laberinto de pasiones beispielhaft gezeigt werden kann, lässt der spanische Regisseur das Marginale als Alltagsphänomen in den Vordergrund rücken. Begriffe wie Normalität und normal werden immer wieder kritisch unterlaufen und müssen schließlich neu überdacht werden. In diesem Sinne stellen die Filme kritische Rückblicke auf die repressive Francozeit (vgl. Kap. 3) dar entgegen zahlreicher reduktionistischer Stimmen, entgegen der habitualisierten Kritik an der sogenannten postmodernen Beliebigkeit und dem fehlenden Engagement. Obwohl sich die Postmoderne heute häufig als eklektizistische Fassaden-, Pasticheund Zitatkunst ausweist, besitzt sie doch eine historische Tiefendimension, die sie kulturell und politisch als mit den amerikanischen Protestbewegungen der sechziger Jahre verknüpft erscheinen läßt. 26

Auch der topische Vorwurf des Chaotischen, des Willkürlichen, des Anything goes, der gerne an die Postmodeme gerichtet wird, führt meist zu einer negativen Auffassung der Postmodeme und erscheint damit auch im Bezug auf Almodövar revisionsbedürftig. Denn hinter der oftmals komischen Fassade, seinem Hedonismus, seiner Unverblümtheit in der brisanten Darstellung von Sex und Gewalt, der scheinbar a-politischen Einstellung seiner Protagonisten - gleichzeitig Charakterzüge des postfrankistischen Spaniens selbst - verbirgt sich eine Art engagierte Kinematographie.27 2.3

Intermediale Verfahrensweisen

Als eine weitere offene Praxis ästhetischer Instrumentalisierung erweist sich das offene Konzept der Intermedialität, das, wie Volker Roloff anfuhrt, ihren Reiz in der Analyse der expliziten und impliziten Spielformen hat: Der Begriff Intermedialität bezieht sich darüber hinaus auf all das, was man, in Analogie zum Konzept der Intertextualität, als Präsenz von Prä- und Intertexten im künstlerischen Werk erkennen kann, wobei auch im Film zwischen den expliziten und impliziten Spielformen der Intermedialität zu unterscheiden ist. 28

25

26 27

28

Marsha Kinder, „Pleasure and the New Spanish Mentality: A Conversation with Pedro Almodövar", in: Film Quarterly, vol. XLI, no. 1, fall, 1987, 33-44, hier 2-10, 3. Huyssen, „Postmoderne - eine amerikanische Internationale?"', 13. Vgl. dazu auch Ursula Link-Heer, „Film „light" als Ereignis / Anmerkungen zur Frivolität und Genialität von Almodövars Mujeres al borde de un ataque de nervios", in: Hispanorama Nr. 62 (Der spanische Film), 99-105. Volker Roloff, „Film und Literatur. Zur Theorie und Praxis der intermedialen Analyse am Beispiel von Bufluel, Truffaut, Godard und Antonioni", in: Peter V. Zima (Hg.), Literatur intermedial. Musik Malerei - Photographie - Film, Darmstadt 1995, 269-309, 272. Roloff, „Intermedialität als neues Forschungsparadigma", 121. Zum Begriff der Intermedialität liegen hier besonders die von Volker Roloff, Jürgen Müller und Jochen Paech angebotenen, offenen Forschungsparadigmen zugrunde, die abweichend von anderen Begriffsdefinitionen Interstitien, Diskontinuitäten fokussieren und somit gängige Betrachtungsweisen unterlaufen und erweitern. Sie öffnen den Blick auf die Wechselbeziehung der verschiedenen Medien (Theater, Musik, Fotographie...) und zielen auf eine Überwindung eines engen hierarchischen und nationalen Medienbegriffs. (Vgl. Jürgen E. Müller, Intermedialität. Formen modemer kultureller Kommunikation, Münster 1996, J. Paech, „Intermedialität", in: Medienwissenschaft 1 (1997), 12-30, hier 58-69, Volker Roloff, „Intermedialität als neues Forschungsparadigma Allgemeiner Literaturwissenschaft", in: Carsten Zelle (Hg.), Konturen der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Profile im Pluralismus, Opladen 1999, und insbesondere die Siegener Forschungsreihe von V. Roloff.) Vgl. auch die neuste Studie, die eine Zusammenschau des

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Die bereits in den klassischen Medien - wie dem Intermezzo in der Oper oder den Gesangs- und Tanzeinlagen im Theater - angelegte intermediale Verfahrensweise29 erlebte durch die Erfindung des Kinematographen und dann durch die Avantgarden einen Aufschwung und erregte im Zuge der Postmoderne neues theoretisches wie praktisches Interesse. Aufgrund einer solchen polyvalenten Genealogie und relativ späten theoretischen Erfassung, erweist sich, wie auch Roloff weiter zusammenfasse das intermediale Forschungsparadigma als freie, unversperrte Verfahrensweise, die den Blick tatsächlich auch auf Bereiche zwischen den Medien - inter media - lenkt und damit immer wieder neue Perspektiven eröffnet. Die Suche nach neuen, passenden Begriffen und Kategorien gehört zur intermedialen Analyse selbst; es ist kein Zweifel, daß diese Begriffe metaphorisch, schillernd, gleitend sind, d.h. sich in einem schwer faßbaren und definierbaren Zwischenbereich bewegen, gewissermaßen ihre eigene Auflösbarkeit, ihre Dekonstruierbarkeit mitbedenken wollen. Das Gleiten und Entgleiten der Begriffe gehört paradoxerweise - wie das (Ent-)Gleiten der Bilder - zum Prinzip der Intermedialität selbst. [...] Anzumerken bleibt, daß es im Rahmen der Forschungsperspektive .Intermedialität' verschiedene Konzepte gibt, aber kein festliegendes wissenschaftliches Paradigma. Es geht um den Zusammenhang, die Wechselwirkungen, Interferenzen und Komplementarität der verschiedenen Medien, um die immer engere Vernetzung, die Substituierbarkeit eines Mediums durch andere.30 Das Forschungsfeld der Intermedialität splittet sich in verschiedene Richtungen mit folgenden Schwerpunkten, die hier nur grob anskizziert werden sollen: a) Raymond Bellours Betonung der Zwischenbilder als Durchgangs- und Übergangsorte - „Des passages entre les images" „[...] l'entre-images est un lieu de passage, le lieu oü passent aujourd'hui les images."31 - der Zwischenräume, interstitiell: als „visueller Raum, der sich im interstitium zwischen widerstreitenden Diskursen eröffnet". 32 b) die Akzentuierung einer von Albersmeier hervorgehobenen „integrierten Mediengeschichte", „in der die Konkurrenz und Isolierung einzelner Medien zu Gunsten einer Analyse der Wechselwirkungen zwischen den Medien abgelöst werden müsste"33 c) die Erfassung des ,intermedialen Komplexes', der „Mythen, literarische und visuelle Traditionen, Traumstrukturen, Utopien und hier besonders die Wechselwirkungen von Architektur, Fotografie und Literatur in ihrer Komplexität und Kombination

29

30 31 32

33

aktuellen Forschungsstandes zur Intermedialität bietet: Irina O. Rajewski, Intermedialität, Tübingen 2002. Zur Begriffs- und Vorgeschichte der Intermedialität vgl. ebd. So zählen zu den ersten Vor-Bildern, die gleichzeitig als Wurzeln der unterschätzten Comic-Ästhetik gelten, die von George Bataille so beachtete Höhlenmalerei von Lascaux (ca. 1300 v. Ch., vgl., G. Bataille, „Lascaux ou la naissance de l'art", in: Œuvres complètes IX, Paris [1955] 1979, 7-101, Kap. 13), Simonides von Keos, Piatons Höhlegleichnis (Piaton, Der Staat, München 1980, 7. Buch, 206-235.), die bebilderte Trajansäule (11 n. Ch.), der Wandteppich von Bayeux (1066-1077), der die Eroberung Englands durch Wilhelm der Eroberer erzählt, die Cántigas de Santa Maria (ca. 1270), die auf sechs Bildern pro Seite von den Wundem der Heiligen berichten. Vgl. auch Thierry Groensteen, La bande dessinée, Toulouse, 1998. Volker Roloff, „Intermedialität als neues Forschungsparadigma", 117/121. Vgl. Raymond Bellour, L entre-images. Photo, Cinéma, Vidéo, Paris 1990. Vittoria Borsô, „Luis Bufluel: Film, Intermedialität und Moderne", in: Ursula Link-Heer/ Volker Roloff (Hg.), Luis Bunuel, Darmstadt 1994, 159-179, hier 164. Franz Josef Albersmeier, Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992, 1.

Kapitel 2: Postmodeme und intermediale Verfahrensweisen

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erfaßt," 34 um „den thematischen und methodischen Zusammenhang, die Wechselwirkungen und Interferenzen sowie die Konvergenz und Komplementrarität der verschiedenen Medien zu verdeutlichen." 35 Ich selbst werde im Folgenden einige solcher .Fraktale' verwenden, insbesondere den Begriff des .intermedialen Komplexes', der für mich einen Angelpunkt intermedialer Analyse darstellt und Phänomene und Prozesse wir Vernetzung, Hybridisierung, Transformation und Transfiguration, die Mannigfaltigkeit der Wechselwirkungen zwischen den Medien zu umfassen sucht. Es geht schon bei der Begriffsbildung - und im Rahmen solcher intermedialen Komplexe selbst prinzipiell darum, die Beweglichkeit, Offenheit, Diffusion, sowie die Virtualität der Raum- und Zeitbilder, der „audiovisuellen Zeitmaschinen" zum Ausdruck zu bringen, d.h. die offene, unsichere, brüchige Grenze zwischen Wirklichkeit und Imagination sowie die Juxtaposition verschiedener Räume und Zeiten, die Formen der Simultaneität und Verschachtelung.36 So kann man die .Ikonen des Begehrens', die die Sunealisten faszinieren, wie z.B. der Minotaurus, Orpheus, Hermes, Dionysos, Narziß, Odysseus oder San Sebastian, ihren meist ironischen und satirischen Umgang mit der Mythologie nur dann erkennen, wenn man die traditionellen Kodierungen des Imaginären in der europäischen Kulturgeschichte zum Vergleich heranzieht.37 d) der Fokus auf die „Theorie des Dispositivs" - „im Sinne einer Analyse der Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen projizierender Apparatur, Filmraum, Filmbild, der Filmphantasie und mentale Dispositiv der Zuschauer." 38 e) als eine „Form der medialen Überdetermination", als ein „Ereignis im Spannungsfeld synästhetischer Erfahrung." 39 , mit denen Traum und Wachsein medialisiert werden sollen: Träume bieten ein gutes Anschauungsbeispiel für die ständige Vermischung und Konfusion der inneren und äußeren Sinne, die Spielformen der Dramatisierung, Verrätselung und Visualisierung, die dabei eine Rolle spielen und jetzt mit Hilfe neuer Medien besser denn je darstellbar sind.40 f) die Zuschauerrezeption, „das bewußte oder unbewußte Bild, das sich der Mensch von sich selbst und der Welt macht; hinzuzufügen wäre nur, zugleich um auch die Bilder, die uns machen, konstituieren, modellieren, manipulieren oder simulieren: d.h. um den Menschen in der Welt der Medien und um die Wechselwirkungen zwischen den Medien, in denen wir stecken." 41 Man kann den Strukturwandel der Medien, die Geschichte der Audiovision und der audiovisuellen Diskurse und damit auch die Veränderung unserer Wahmehmungsweisen durch die Medienwelt um so besser verstehen, je mehr man dabei rezeptionsästhetische Prozesse miteinbezieht, z.B. das ,Kino in unserem Kopf, die Sinne des Menschen als das älteste Medium bzw. als synästhetisches Mediensystem, das allen medientechnischen Innovationen schon voraus ist und sie bedingt. In diesem Sinne begreift z.B. Bufiuel, ebenso wie vorher schon Eisenstein,

34 35 36 37 38 39 40 41

Ebd., 119. Roloff, „Film und Literatur", 271. Ebd., 118. Roloff, „Intermedialität als neues Forschungsparadigma", 125. Ders., „Film und Literatur.", 276. Ebd., 121. Ebd. Roloff, „Intermedialität als neues Forschungsparadigma", 116.

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die Montage als einen geistigen und künstlerischen Vorgang, „die erste Projektion des Films findet im Him des Filmemachers statt". Deleuze wird diesen Gedanken noch weiterfuhren, „le cerveau c'est l'écran, c'est à dire, nous même". Zur Intermedialität gehört daher auch das „perzeptive Zusammenspiel von Medien der Wahrnehmung zur kognitiven Konstruktion von Realität".42 Letztlich kann Intermedialität mit Roloff als ein kreatives synästhetisches Projekt erfasst werden, das als Wechselspiel zwischen technischer Materie und menschlicher Wahrnehmung zu begreifen ist: Mit den neuen Medien, den Technologien audiovisueller ,Zeitmaschinen' wird nicht nur deutlich, daß sich die ästhetischen Gestaltungs- und Rezeptionsprozesse längst von der sogenannten Nachahmung der Natur gelöst haben; es geht vielmehr darum, die Veränderungen der sinnlichen Wahrnehmung und Imagination selbst, damit die Konstitution von Wirklichkeit, in ihrem engen Zusammenhang mit den Inszenierungen optischer und mentaler Täuschungen, mit den neuen intermedialen Spielformen der Simulation zu erkennen. Die gegenwärtige Medientheorie versucht, solche Zusammenhänge mit Hilfe des Begriffs des Dispositivs zu analysieren - d.h. im Rahmen der, um das Beispiel des Films zu wählen, Wechselwirkungen von technischer Apparatur, Film-Raum/Film-Bild/Film-Phantasie und mentaler Disposition des Zuschauers.43 Pedro Almodovar kostet die Möglichkeiten der Intermedialität als geeignete Folie ästhetischer Verfahrensweisen in ihrer gesamten Bandbreite aus, wobei gerade das Dispositiv des Kinos und dasjenige von Autor-Werk-Rezipient im Zusammenspiel, im Dechiffrieren von Codes, im Entdecken der Interstitien neue Akzentuierungen erfährt. 2.3.1

Ars combinatoria als ästhetisches Vorbild ,J0