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German Pages 734 Year 2012
TIPKE Die Steuerrechtsordnung
DIE STEUERRECHTSORDNUNG von
PROF. EM. DR. KLAUS TIPKE Korr. Mitglied der Nordrhein-Westf. Akademie der Wissenschaften
Band III Steuerrechtswissenschaft, Steuergesetzgebung, Steuervollzug, Steuerrechtsschutz, Steuerreformbestrebungen
2., völlig überarbeitete Auflage
2012
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Verlag Dr. Otto Sclnnidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-sch.m.idtde ISBN 978-3-504-20107-4 ©2012 by Verlag Dr. Otto Sclnnidt KG, Köln
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urbeberrecbtlicb geschützt. Jede Verwertong, die nicht ausdrucklieb vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustinuoung des Verlages. Das gilt insbesoodere für Vervielfiiltigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungeo uod die Einspeicherung uod Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Vorwort Dieser III. Band der 2. Auflage erscheint neun Jahre nach dem II. Band. Das ist ungewöhnlich und war so nicht geplant. Die lange Dauer der Bearbeitung erklärt sich daraus, dass die Sehkraft meines verbliebenen rechten Auges zunehmend sank. In den letzten vier Jahren konnte ich Bücher und Zeitschriften sowie die eigene Schrift nur noch mit Hilfe einer stark vergrößernden Videomatic lesen. Das erschwerte insbesondere die „handwerkliche“ Seite der Bearbeitung. Vor allem kam es zu Irrtümern beim Ablesen von Zahlen mit ähnlichem Duktus. Als ich die Arbeit einstellen musste und den Gesetzestext noch einmal las, bemerkte ich, dass der Stoff an einigen Stellen hätte gestrafft werden können, was zugleich den roten Faden noch besser sichtbar gemacht hätte. Aber die schwache Sehkraft ließ eine nochmalige Überarbeitung nicht mehr zu. Dass ich nicht aufgegeben habe, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass mich drei Grundfragen nicht losließen, die m. E. nicht oder zu wenig diskutiert worden sind, nämlich diese: (1) Worin besteht das Wissenschaftliche der Steuerrechtswissenschaft? (2) Inwieweit weicht die Steuerrechtswirklichkeit von den Idealen des Steuerrechts ab und (3) Warum gelingen Steuerreformen nicht, und insbesondere: Warum greifen Steuerpolitik und Steuergesetzgebung Steuerreformvorschläge aus der Steuerrechtswissenschaft nicht auf? Die, die sich Steuerrechtswissenschaftler nennen, sind sich oft nicht klar darüber, worin das Wissenschaftliche der Arbeit am Steuerrecht besteht. Wir sollten diese Frage nicht verdrängen, sondern breit diskutieren. Dazu möchte ich im III. Band einen Anstoß geben. Wissenschaftler müssen die manchmal unschöne Gesetzeswirklichkeit zur Kenntnis nehmen, und zwar auch dann, wenn die Ideale und die Wirklichkeit nicht übereinstimmen. So habe ich die Wirklichkeit der Steuergesetzgebung, des Steuervollzuges, des Steuerrechtsschutzes und des Steuerstrafrechts dargestellt und mit den Idealen verglichen. Meine Grundfrage zum Steuerstrafrecht lautet: Soll der demokratische Rechtsstaat möglichst viele Steuerstraftäter produzieren oder soll er Straftaten möglichst verhüten? Dass die Ideale und die Wirklichkeit in diesem Band besonders herausgestellt werden, hängt damit zusammen, dass das in Kommentaren und Lehrbüchern verständlicherweise wenig oder gar nicht geschieht. Andererseits, auch der III. Band will nicht Kommentare, Lehrbücher oder Rechtssprechungssammlungen ersetzen oder mit ihnen konkurrieren. Mehrere Steuerwissenschaftler haben dem Erkenntnisfortschritt im letzten Dezennium durch Entwürfe von Steuergesetzen und SteuerV
Vorwort
gesetzbüchern gedient. Jedoch haben Steuerpolitik und Steuergesetzgebung diese Entwürfe nicht als hilfreich angesehen, sondern sie verschmäht. Statt das zu verdrängen, müssen wir uns fragen, aus welchen Gründen das geschehen ist und geschieht. Wir müssen uns fragen: Ist die Steuerpolitik, ist der stark von Interessenverbänden beeinflusste Gesetzgeber der parlamentarischen Demokratie überhaupt fähig und willens, in den Bahnen eines Steuerkodex (wie ihn Rechtswissenschaftler verstehen) zu denken. M. E. werden die kritischen Steuerrechtsdenker sich ohne Mitwirkung des Bundesverfassungsgerichts nicht durchsetzen können. Aber auch insoweit ist die Frage: Was kann, was will das Verfassungsgericht? Wenn die Steuerrechtswissenschaft „Steuergerechtigkeitswissenschaft“ (K. Vogel) ist: Kann und will das Verfassungsgericht wirksam „Hüter der Steuergerechtigkeit“ sein? Die Frage, um die es im Grunde geht, lautet: Wollen wir noch mehr Freiheit für den Steuergesetzgeber, insbesondere indem wir den Gleichheitssatz diminuieren – oder wollen wir wirklich, dass der Gleichheitssatz die Magna Charta des Steuerrechts ist, nicht nur als Ideal, sondern auch in der Wirklichkeit? Wollen wir die Schranken, die der Rechtsstaat der Demokratie setzt, ernst nehmen? Von der Antwort hängt der Zustand unserer Steuergesetze ab. Ich habe mich im III. Band bemüht, auf diese Fragen eine Antwort zu finden. Dabei habe ich mich nicht darauf beschränkt, die Probleme verfassungsgerichtspositivistisch zu lösen, sondern auch die Gerechtigkeitsethik zu nutzen. Der unsymmetrische Verbändepluralismus kann m. E. keine Steuergerechtigkeit herbeiführen. Wie schlecht oder gar aussichtslos Reformvorschläge aus der Steuerwissenschaft auch sein mögen: Der Kampf um das Steuerrecht, um Steuergerechtigkeit zumal, muss fortgesetzt werden, auch in den eigenen Reihen. Ich wünsche mir eine argumentativ weiterführende steuerrechtswissenschaftliche Diskussion, aus der sich ergibt, welche Meinungen sich intersubjektiv durchsetzen. Wer sich die Lektüre von mehr als 600 Seiten zunächst ersparen möchte, mag gleich zu meinen Antworten übergehen; sie sind in einem resümierenden Nachwort auf Seite 1906 ff. zu finden. Bei Verlagslektorin Dr. Angelika Stadlhofer-Wissinger bedanke ich mich für die verständnisvolle, förderliche Zusammenarbeit und für ihre geduldige Rücksichtnahme auf meine schwache Sehkraft. Zu danken habe ich auch meiner im Allgäu ansässigen computerkompetenten Schreibkraft Dagmar Berger für das Typoskript sowie der Verlagssekretärin Dagmar Jeromin für Ergänzungen und Korrekturen, schließlich Katharina Schlücke für das Korrekturlesen und die Mitwirkung am Sach- und Personenverzeichnis. Köln, im Oktober 2012 VI
Klaus Tipke
Inhaltsübersicht Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX
Teil I Steuerrecht als Wissenschaft § 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Disput um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. (Steuer-)Rechtswissenschaftlichkeit durch Systemrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verteilungsgerechtigkeit als systembestimmend für die Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wissenschaftskriterien der Rechts- oder Wertungslogik – angelegt auch im Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . 6. Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Rechtswissenschaftliches Denken als rechtslogisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1238 1239 1242 1247 1251 1274 1275
§ 22 Rückblick: Die Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft 1. 2. 3. 4.
Die Zeit bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zeit von 1933–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zeit seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung steuerrechtswissenschaftlicher Denkschulen
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VII
Inhaltsübersicht
Teil II Der Gesetzgeber als Gestalter der Steuergesetze § 23 Die föderativen Vorgaben des Grundgesetzes für die Steuergesetzgebung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuern und andere Abgaben . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Steuerbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Über Steuergruppierung und Steuertatbestandslehre Exkurs: Zur Finanzierung durch Kreditaufnahme . . . . . Zur Gesetzgebungshoheit im Bundesstaat Deutschland . . . Exkurs: Bemerkungen zur Steuerertragshoheit und zum Finanzausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 24 Das Steuergesetzgebungsverfahren nach dem Grundgesetz 1. 2. 3. 4.
Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . Für wen müssen Steuergesetze verständlich sein? Müssen Steuergesetze begründet werden? . . . .
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§ 25 Allgemeines zum Gesetzesinhalt 1. Vom Recht der Rechtswissenschaft, sich mit der Gesetzgebung zu befassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhaltliche Vorgaben des Grundgesetzes für die (Steuer-)Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Einschränkung der Grundrechtsanwendung auf Steuern durch Art. 105, 106 GG – Gründe gegen die herrschende Gegenmeinung . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorgaben des Rechts der Europäischen Union für die nationale Steuergesetzgebung . . . . . . . . . . . . . 5. Exkurs: Über die Geltung von Gesetzen . . . . . . . .
VIII
Inhaltsübersicht
§ 26 Die Gesetzgebungsrealität 1. Die Wählerabhängigkeit der Steuerpolitik und der Steuergesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Abhängigkeit der Steuerpolitik und des Steuergesetzgebers von Interessenverbänden und externen Beratern . 3. Die Medienabhängigkeit der Steuerpolitik . . . . . . . . 4. Das Einwirken der Opposition auf die Steuergesetzgebung 5. Die Rolle des Bundesministers der Finanzen und der Steuerabteilung des Bundesministeriums der Finanzen in der Steuergesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Marginalisierung des Parlaments; Grenzen des Parlamentarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Parteipolitischer Missbrauch des Bundesrates in der Steuergesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Qualität der Steuergesetzgebung – gemessen an den rechtslogischen und besteuerungsmoralischen Kriterien der Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Vorbemerkung zur Steuervollzugsterminologie . . . . . . . 2. Über Ideal und Realität des Steuervollzugs . . . . . . . . .
1403 1404
Teil III Die Steuerverwaltungsbehörden als Mitgestalter der Steuerrechtslage § 27 Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung – Ideal und Realität
§ 28 Zur Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG) 1. Föderalismus und Steuerverwaltung . . . . . . . . . . . . 2. Gegenwärtiger Rechtszustand . . . . . . . . . . . . . . .
1410 1412
§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften 1. Der Steuervollzugsauftrag der Abgabenordnung von 1977 . 2. Das Veranlagungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . .
1415 1418 IX
Inhaltsübersicht Seite
3. Quellenabzugsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuervollzug auf der Grundlage von allgemeinen Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Großer Steuervollzugsbeitrag der Steuerberater . . . . . . .
1430 1431 1448
§ 30 Die Steuervollzugsrealität und ihre Folgen 1. 2. 3. 4. 5.
Mängel des Steuervollzugs . . . . . . . . . . . . . Kontrolle entsprechend dem Kontrollbedürfnis . . Folgen fehlender oder mangelhafter Kontrolle . . . Mängel des Quellenabzugsverfahrens . . . . . . . Effizienzunterschiede zwischen Veranlagungs- und Quellenabzugsverfahren – Abbauvorschläge . . . .
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§ 31 Ideen zu einer Steuervollzugsreform 1. Bundessteuerverwaltung statt Landessteuerverwaltungen? . 2. Ideen zur Reform des Steuervollzugs . . . . . . . . . . . .
1469 1474
Teil IV Steuerrechtsschutz der Steuerbürger § 32 Steuerrechtsschutz durch Finanzgerichtsbarkeit 1. Das Verhältnis der Finanzgerichtsbarkeit zur Steuerverwaltung und zur Steuergesetzgebung . . . . . . . . . 2. Der finanzgerichtliche Rechtszug unter dem Rechtsschutzaspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die besondere Rechtsstellung der Finanzrichter . . . . . 4. Steuerrechtsschutz durch Verfahren . . . . . . . . . . . 5. Über formelle Stolpersteine im Steuerprozess . . . . . . 6. Insbesondere: Scheitern an Ausschlussfristen und abgelehnter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . 7. Rechtsschutzlücke infolge zu engen Verständnisses der Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
X
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§ 33 Rechtsschutz durch Verfassungsgerichtsbarkeit
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1. Über die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der rechtsstaatlichen Demokratie – Verfassungsanwendung ist keine Steuerpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Rechtsschutzhürden des Bundesverfassungsgerichts 3. Präventivmittel restriktiver Verfassungsrechtsprechung in der Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Entscheidungsmöglichkeiten in der Sache . . . . . . . . . 5. Insbesondere: Zum Verfassungsrechtsschutz gegen Privilegien Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Über Reputation und Wirksamkeit des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1551 1556 1562 1566 1567 1574
§ 34 Appendix: Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsanwendung durch Sachverhaltssubsumtion oder -zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auslegung und Auslegungsmethoden . . . . . . . . . 4. Gesetzeslücken und ihre Ausfüllung; rechtsfreier Raum 5. Einfluss des Rechtsgefühls . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Organschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Divergenz zwischen wirtschaftlichem Verhalten und juristischem Zustand (§ 41 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei gesetzwidrigem oder sittenwidrigem Verhalten (§ 40 AO) . . . . . . . . . . . . 4. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Wahl einer unangemessenen, vom Steuergesetzgeber bei der Formulierung des Gesetzestatbestands nicht erfassten Rechtsgestaltung (§ 42 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wirtschaftliche Zurechnung von Wirtschaftsgütern (§ 39 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1648
§ 35 Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
1648 1657
1661 1689 XI
Inhaltsübersicht
Teil V Strafen und andere Sanktionen zum Schutze der Steuerrechtsordnung § 36 Über Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Einführung in die behandelte Problematik . . . . . . . Über das zu schützende Rechtsgut des Steuerstrafrechts Über Motive der Steuerhinterzieher . . . . . . . . . . Über Schuld und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Steuerstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu ausgewählten strafprozessualen Grundsatzfragen . . Reformideen zum Steuerstrafrecht . . . . . . . . . . .
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Teil VI Steuerreform und Steuerrechtswissenschaft § 37 Rückblick auf misslungene oder gescheiterte Steuerreformen 1. Erste Reformversuche in den 1950er Jahren . . . . . . . . 2. Missglückter Versuch einer „Großen Steuerreform“ durch eine sozialliberale Koalition in den 1970er Jahren . . . . . 3. Missglückter Versuch einer „Großen Steuerreform“ durch eine christlich-liberale Koalition in den 1980er und 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einkommensteuer-Änderungsgesetze einer rot-grünen Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble als rechtsreformabstinente Finanzminister . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Resultat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1783 1785 1793 1809 1811 1817
§ 38 Über zwei Steuergesetzbuchentwürfe aus der Steuerrechtswissenschaft und ihre Realisierungschancen Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Paul Kirchhofs Weg zum Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Joachim Langs Weg zum Reform-Entwurf, erarbeitet unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft . . . . . . . . . . XII
1821 1822 1830
Inhaltsübersicht Seite
3. Die Reformentwürfe unter dem Aspekt ihrer legistischen Realisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischen rechtslogischer Revision und Radikalreform . 5. Über Wert und Unwert der Kürze . . . . . . . . . . . 6. Vorstellungen der Reformer über die Gesetzessprache . 7. P. Kirchhofs extrem kurzer „Allgemeiner Teil“ . . . . . 8. P. Kirchhofs Besonderes Steuerrecht . . . . . . . . . . 9. Schlechte Chancen privater Steuergesetzbuchentwürfe, Bundestag und Bundesrat zu erreichen . . . . . . . . .
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1834 1841 1842 1844 1846 1859
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1867
Teil VII Schluss § 39 Blick nach vorn: Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Worin besteht das Wissenschaftliche des Steuerrechts? . . Zukunftsaufgaben der Steuerrechtswissenschaft . . . . . . Disharmonie zwischen Steuerpolitik (Steuergesetzgebung) und Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiedliche Vorstellungen über Gesetzgebung als Ursachen der Disharmonie? . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach einer Konfliktlösung durch Verfassungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abhilfe durch das Verfassungsgericht wäre möglich – ist aber eine Resthoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassendes Nachwort . . . . . . . . . . . . . . .
1879 1880 1881 1884 1885 1898 1903 1906
XIII
Inhaltsverzeichnis Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX
Teil I Steuerrecht als Wissenschaft § 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Disput um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. (Steuer-)Rechtswissenschaftlichkeit durch Systemrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verteilungsgerechtigkeit als systembestimmend für die Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wissenschaftskriterien der Rechts- oder Wertungslogik – angelegt auch im Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das Leistungsfähigkeitsprinzip als grundlegender Steuergerechtigkeitsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips durch Gebote der Rechts- oder Wertungslogik . . . . . . . . 5.21 Das Gebot der Verallgemeinerung . . . . . . . . 5.22 Das Gebot der Folgerichtigkeit . . . . . . . . . . 5.23 Das Gebot der Widerspruchsfreiheit . . . . . . . 5.24 Durchsetzbarkeit der Rechts- oder Wertungslogik mit Hilfe der Verfassung . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Wertprinzip der Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Rechtswissenschaftliches Denken als rechtslogisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 22 Rückblick: Die Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft 1. Die Zeit bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1277 XV
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1.1 Im 19. Jahrhundert: Finanzwissenschaft statt Steuerrechtswissenschaft; Anfänge einer Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Besondere legislatorische Leistungen ohne steuerrechtswissenschaftliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . 1.21 V. Miquelsche Preußische Steuerreform von 1890–93 und Erzbergersche Reichssteuerreform von 1919/20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.22 Einführung eines allgemeinen Steuergesetzbuchs: die Reichsabgabenordnung von 1919 . . . . . . . 1.221 Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.222 Kritik und Bewährung . . . . . . . . . . . 1.3 Forschung während der Weimarer Republik (1919–1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.31 Wegbereiter und Hauptschrittmacher der Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Albert Hensel . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Johannes Popitz . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ottmar Bühler . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Kurt Ball, Enno Becker, Herbert Dorn, Rolf Grabower, Max Lion, Georg Strutz . . . . (5) Großer Anteil von Steuerjuristen jüdischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.32 Zeitschriften: „Steuer und Wirtschaft“; „Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht“ . . . . 1.33 Die Situation gegen Ende der Weimarer Republik 2. Die Zeit von 1933–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Zeit seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Zeit bis 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Zeit seit 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Entwicklung steuerrechtswissenschaftlicher Denkschulen .
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Teil II Der Gesetzgeber als Gestalter der Steuergesetze § 23 Die föderativen Vorgaben des Grundgesetzes für die Steuergesetzgebung 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuern und andere Abgaben . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zum Steuerbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI
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4. Exkurs: Über Steuergruppierung und Steuertatbestandslehre 4.1 Über Steuergruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Steuertatbestandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Exkurs: Zur Finanzierung durch Kreditaufnahme . . . . . 6. Zur Steuergesetzgebungshoheit im Bundesstaat Deutschland 6.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Steuergesetzgebungshoheit des Bundes . . . . . . . . 6.3 Ausschließliche Steuergesetzgebungshoheit der Länder 6.4 Zustimmung des Bundesrates . . . . . . . . . . . . . 7. Exkurs: Bemerkungen zur Steuerertragshoheit und zum Finanzausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 24 Das Steuergesetzgebungsverfahren nach dem Grundgesetz 1. 2. 3. 4.
Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . Für wen müssen Steuergesetze verständlich sein? Müssen Steuergesetze begründet werden? . . . .
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§ 25 Allgemeines zum Gesetzesinhalt 1. Vom Recht der Rechtswissenschaft, sich mit der Gesetzgebung zu befassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhaltliche Vorgaben des Grundgesetzes für die (Steuer-)Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Einschränkung der Grundrechtsanwendung auf Steuern durch Art. 105, 106 GG – Gründe gegen die herrschende Gegenmeinung . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorgaben des Rechts der Europäischen Union für die nationale Steuergesetzgebung . . . . . . . . . . . . . 5. Exkurs: Über die Geltung von Gesetzen . . . . . . . .
§ 26 Die Gesetzgebungsrealität 1. Die Wählerabhängigkeit der Steuerpolitik und der Steuergesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Abhängigkeit der Steuerpolitik und des Steuergesetzgebers von Interessenverbänden und externen Beratern . .
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3. Die Medienabhängigkeit der Steuerpolitik . . . . . . . . . 4. Das Einwirken der Opposition auf die Steuergesetzgebung . 5. Die Rolle des Bundesministers der Finanzen und der Steuerabteilung des Bundesministeriums der Finanzen in der Steuergesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der Bundesminister der Finanzen . . . . . . . . . . . 5.2 Die Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums . . 6. Die Marginalisierung des Parlaments; Grenzen des Parlamentarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Parteipolitischer Missbrauch des Bundesrates in der Steuergesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Qualität der Steuergesetzgebung – gemessen an den rechtslogischen und besteuerungsmoralischen Kriterien der Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil III Die Steuerverwaltungsbehörden als Mitgestalter der Steuerrechtslage § 27 Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung – Ideal und Realität 1. Vorbemerkung zur Steuervollzugsterminologie . . . . . . . 2. Über Ideal und Realität des Steuervollzugs . . . . . . . . .
1403 1404
§ 28 Zur Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG) 1. Föderalismus und Steuerverwaltung . . . . . . . . . . . . 2. Gegenwärtiger Rechtszustand . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften 1. Der Steuervollzugsauftrag der Abgabenordnung von 1977 2. Das Veranlagungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Mitwirkungspflichten Privater . . . . . . . . . . . . 2.21 Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen . . . 2.211 Rechtfertigung der Mitwirkungspflicht . XVIII
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2.212 Allgemeines; Steuererklärungspflicht als grundlegende Mitwirkungspflicht . . . . . 2.213 Besondere Mitwirkungspflichten . . . . . 2.214 Folgen von Mitwirkungspflichtverletzungen 2.22 Mitwirkungspflichten anderer (Dritter) . . . . . . 2.3 Verfahrensrechte und Folgen der Verletzung von Verfahrensvorschriften durch Finanzämter . . . . . . . 2.4 Grenzüberschreitende Sachaufklärung . . . . . . . . . 2.5 Abstützung des Veranlagungsverfahrens durch Außenprüfung, Steuerfahndung, Steueraufsicht und Kontrollmitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.51 Außenprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.52 Steuerfahndung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.53 Nachschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.54 Kontrollmitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . 3. Quellenabzugsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuervollzug auf der Grundlage von allgemeinen Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Bedeutung von allgemeinen Verwaltungsvorschriften für den gesetzmäßigen, gleichmäßigen Steuervollzug . 4.2 Terminologische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . 4.3 Notwendige Gesetzeskonformität . . . . . . . . . . . 4.4 Bindungen, Bindungswirkungen . . . . . . . . . . . . 4.5 Zu einzelnen Arten von Verwaltungsvorschriften . . . 4.51 Verwaltungsvorschriften zur Sachverhaltsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.52 Gesetzauslegende Verwaltungsvorschriften . . . . 4.53 Ermessensleitende Verwaltungsvorschriften . . . 4.6 Nichtanwendungserlasse . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Verwaltungsvorschriften und Steuerplanung . . . . . . 4.8 Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Großer Steuervollzugsbeitrag der Steuerberater . . . . . . .
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§ 30 Die Steuervollzugsrealität und ihre Folgen 1. Mängel des Steuervollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Mängel des Veranlagungsverfahrens . . . . . . . . . . 1.11 Im Gesetz angelegte Mängel (legislative Mängel) . 1.12 In Maßnahmen der Verwaltung angelegte Mängel (administrative Mängel) . . . . . . . . . . . . . 1.121 Verantwortung der Steuerverwaltung für den gesetzmäßigen, gleichmäßigen Steuervollzug
1453 1453 1453 1455 1455 XIX
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1.13 Insbesondere: Über die Verwaltungsvorschriften zu den §§ 85, 88 AO und zur Betriebsprüfungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrolle entsprechend dem Kontrollbedürfnis . . . . . Folgen fehlender oder mangelhafter Kontrolle . . . . . . Mängel des Quellenabzugsverfahrens . . . . . . . . . . Effizienzunterschiede zwischen Veranlagungs- und Quellenabzugsverfahren – Abbauvorschläge . . . . . . .
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1467
1. Bundessteuerverwaltung statt Landessteuerverwaltungen? . 2. Ideen zur Reform des Steuervollzugs . . . . . . . . . . . . 2.1 Das Reformkonzept von Roman Seer . . . . . . . . . . 2.2 Stellungnahme zu Roman Seers Konzept . . . . . . . . 2.3 Insbesondere: Zur Reformbedürftigkeit des AO-Besteuerungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Nachtrag: Kurze Bemerkungen zum SteuergesetzbuchEntwurf von P. Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . . .
1469 1474 1475 1479
2. 3. 4. 5.
§ 31 Ideen zu einer Steuervollzugsreform
1482 1489
Teil IV Steuerrechtsschutz der Steuerbürger § 32 Steuerrechtsschutz durch Finanzgerichtsbarkeit 1. Das Verhältnis der Finanzgerichtsbarkeit zur Steuerverwaltung und zur Steuergesetzgebung . . . . . . . . . 2. Der finanzgerichtliche Rechtszug unter dem Rechtsschutzaspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die besondere Rechtsstellung der Finanzrichter . . . . . 4. Steuerrechtsschutz durch Verfahren . . . . . . . . . . . 5. Über formelle Stolpersteine im Steuerprozess . . . . . . 5.1 Scheitern an Klageformalien . . . . . . . . . . . . . 5.2 Scheitern an fehlendem Rechtsschutzbedürfnis . . . 5.3 Scheitern an übertriebenem Unterschriftsformalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Scheitern an Klageinhaltsformalismus . . . . . . . . 5.5 Scheitern an Revisionszugangshürden des Bundesfinanzhofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XX
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1496 1497 1501 1504 1504 1505
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6. Insbesondere: Scheitern an Ausschlussfristen und abgelehnter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . 6.1 Ausschlussfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . . 6.21 Verfassungsrechtliche Notwendigkeit der Wiedereinsetzungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . 6.22 Gegen übermäßige Fristenstrenge . . . . . . . . . 6.23 Der überanstrengte Verschuldensbegriff . . . . . 6.24 Exemplarische Verschuldens-/Nichtverschuldensfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.241 Urlaub und Reisen . . . . . . . . . . . . . 6.242 Verspätete Weiterleitung unzuständiger an zuständige Behörde . . . . . . . . . . . . 6.243 Verzögerungen im Postverkehr . . . . . . . 6.244 Rechtsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . 6.25 Vertreterverschulden . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Überlegungen de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . 7. Rechtsschutzlücke infolge zu engen Verständnisses der Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Selbstbetroffenheit durch Rechtsverletzung . . . . . . 7.2 Der Rechtsstaat verlangt: Rechtsschutz gegen Privilegien Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.21 Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . 7.22 Exemplifizierung durch zwei Anschauungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.221 Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit . . . . . . . . . 7.2211 Angeführte Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2212 Stellungnahme . . . . . . . . . . . 7.222 Steuerfreiheit der Abgeordneten-Kostenpauschale . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.23 Sonntags-/Nachtarbeiter und Abgeordnete privilegiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Ergänzende steuerethische Auffassungen . . . . . . .
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§ 33 Rechtsschutz durch Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Über die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der rechtsstaatlichen Demokratie – Verfassungsanwendung ist keine Steuerpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Formale Rechtsschutzhürden des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Hürden im Verfahren der konkreten Normenkontrolle . 2.2 Hürden im Verfahren der Verfassungsbeschwerde . . . 3. Präventivmittel restriktiver Verfassungsrechtsprechung in der Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Entscheidungsmöglichkeiten in der Sache . . . . . . . . . 5. Insbesondere: Zum Verfassungsrechtsschutz gegen Privilegien Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Über Reputation und Wirksamkeit des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Über die Reputation des Gerichts . . . . . . . . . . . 6.2 Über Wirken und Wirksamkeit des Gerichts im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 34 Appendix: Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsanwendung durch Sachverhaltssubsumtion oder -zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auslegung und Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . 3.1 Methodologische Strömungen des 19./20. Jahrhunderts 3.2 Ziel der Auslegung; Auslegungsmethoden . . . . . . . 3.3 Zu den einzelnen Auslegungsmethoden (-kriterien) . . 3.31 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.32 Zur grammatischen Methode . . . . . . . . . . . 3.33 Zur formal-systematischen Methode . . . . . . . 3.34 Zur historischen Methode . . . . . . . . . . . . 3.35 Zur teleologischen Methode . . . . . . . . . . . 3.351 Telosermittlung . . . . . . . . . . . . . . 3.352 Der Zweck im Steuerrecht . . . . . . . . . 3.36 Der Rückgriff auf den Wortlaut als „ultima ratio“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zur Frage der Reihen- und Rangfolge der Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Grenze der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Zur Methode der Praxis der Gerichte . . . . . . . . . . 3.7 Berufung auf Präjudizien und Literaturäußerungen . . 3.8 Insbesondere: Die „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ („wirtschaftliche Auslegung“) . . . . . . . . . . . . . 3.81 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXII
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3.82 Meinungen und Meinungsphasen . . . . . . 3.83 Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gesetzeslücken und ihre Ausfüllung; rechtsfreier Raum 5. Einfluss des Rechtsgefühls . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 35 Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise 1. Organschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Divergenz zwischen wirtschaftlichem Verhalten und juristischem Zustand (§ 41 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Erfassung des wirtschaftlichen Ergebnisses unwirksamer Rechtsgeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Insbesondere: Irrelevanz von Scheingeschäften . . . . 2.3 Ergänzende, verallgemeinernde Ableitungen . . . . . . 3. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei gesetzwidrigem oder sittenwidrigem Verhalten (§ 40 AO) . . . . . . . . . . . . 4. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Wahl einer unangemessenen, vom Steuergesetzgeber bei der Formulierung des Gesetzestatbestands nicht erfassten Rechtsgestaltung (§ 42 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11 Unternehmerfreiheit, Steuerumgehung und Steuervermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.12 Methodische Einordnung der Steuerumgehung . . 4.121 Unterschiedliche Meinungen . . . . . . . 4.122 Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . 4.123 Die besondere Lückenausfüllungstechnik des § 42 AO . . . . . . . . . . . . . . . . 4.13 § 42 AO ist verfassungsmäßig . . . . . . . . . . 4.2 Tatbestand der Steuerumgehung . . . . . . . . . . . . 4.21 Gesetzesanknüpfung an Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts, um einen wirtschaftlichen Sachverhalt zu erfassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.22 Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.221 Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts . . . 4.222 Missbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2221 Unangemessene Gestaltung . . . . . 4.2222 Gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil . . . . . . . . . . . . . . . .
1648 1648 1649 1655 1656 1657
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4.223 Missbrauchsabsicht . . . . . . . 4.224 Umgehung eines Steuergesetzes . 4.23 Rechtsfolgen der Steuerumgehung . . . 4.231 Steuerrechtliche Folgen . . . . . 4.232 Strafrechtliche Folgen . . . . . . 4.24 Nachweis außersteuerlicher Gründe . . 4.25 Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . 4.26 Exkurs in ausländisches Recht . . . . . 5. Wirtschaftliche Zurechnung von Wirtschaftsgütern (§ 39 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil V Strafen und andere Sanktionen zum Schutze der Steuerrechtsordnung § 36 Über Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts 1. Einführung in die behandelte Problematik . . . . . . . . . 2. Über das zu schützende Rechtsgut des Steuerstrafrechts . . 3. Über Motive der Steuerhinterzieher . . . . . . . . . . . . 3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der homo oeconomicus . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der ökonomische und der moralische Aufrechner . . 3.4 Der Steuerliberale . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Der Staatsverdrossene . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Insbesondere: Der Steuerverschwendungsverdrossene 3.7 Der aus wirtschaftlicher Not Handelnde . . . . . . . 3.8 Der Gerechtigkeitssensible . . . . . . . . . . . . . . 3.9 Der Nebenverdiener . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.10 Der Verführte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.11 Der Steuerlaie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.12 Exkurs: Der legalistische Steuervermeider . . . . . . 3.13 Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.14 Ableitbare Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Über Schuld und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Über die Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Insbesondere über Tatsachen- und Verbotsirrtum . . . 4.3 Zum Steuerrechtsirrtum im Steuerstrafrecht . . . . . . 5. Über die Steuerstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Ist die Steuerstrafe zum Schutze der Steuerrechtsordnung unverzichtbar? . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Über Strafzwecktheorien . . . . . . . . . . . . . . . . XXIV
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5.3 Strafzumessung zwischen Härte und Milde . . . . . 5.4 Vom komparativen Unwert der Steuerhinterziehung . 6. Zu ausgewählten strafprozessualen Grundsatzfragen . . . 6.1 Kein Steuerpflichten-Erfindungsrecht von Staatsanwälten und Strafrichtern . . . . . . . . . . . . . 6.2 Über Verständigung im (Steuer-)Strafrecht . . . . . . 6.3 Der Fiskalzweck heiligt nicht jedes Aufklärungsmittel 7. Reformideen zum Steuerstrafrecht . . . . . . . . . . . . 7.1 Prämisse: Es gibt grundsätzlich keine gleichmäßiggerechte Steuerstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Zum Reformvorschlag von Roman Seer . . . . . . . 7.3 Zum Reformvorschlag von Paul Kirchhof . . . . . .
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1747 1754 1757
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Teil VI Steuerreform und Steuerrechtswissenschaft § 37 Rückblick auf misslungene oder gescheiterte Steuerreformen 1. Erste Reformversuche in den 1950er Jahren . . . . . . . . 2. Missglückter Versuch einer „Großen Steuerreform“ durch eine sozialliberale Koalition in den 1970er Jahren . . . . . 3. Missglückter Versuch einer „Großen Steuerreform“ durch eine christlich-liberale Koalition in den 1980er und 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Missglückter Reformversuch von Finanzminister Gerhard Stoltenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gescheiteter Reformversuch von Finanzminister Theodor Waigel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einkommensteuer-Änderungsgesetze einer rot-grünen Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble als rechtsreformabstinente Finanzminister . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Peer Steinbrück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Wolfgang Schäuble . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Resultat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 38 Über zwei Steuergesetzbuchentwürfe aus der Steuerrechtswissenschaft und ihre Realisierungschancen Vorbemerkung
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1. Paul Kirchhofs Weg zum Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Vom „Karlsruher Entwurf“ zum EinkommensteuerReformentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Versuch, den Einkommensteuer-Reformenentwurf durch Eintritt in die Politik durchzusetzen. In der Politik: grandioser Aufstieg und jäher Fall . . . . . . . 1.3 Paul Kirchhof macht weiter . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Am Ziel der Entwurfsarbeit: Veröffentlichung eines Bundessteuergesetzbuch-Reformentwurfs . . . . . . . 2. Joachim Langs Weg zum Reform-Entwurf, erarbeitet unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft . . . . . . . . . . 2.1 Reformgesetz-Vorarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Erarbeitung eines Reform-Entwurfs unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Reformentwürfe unter dem Aspekt ihrer legistischen Realisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Stellungnahmen der Reformer zum Reformbedarf . . . 3.11 P. Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.12 Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Ziel eines deutschen Steuerkodex . . . . . . . . . 3.21 Beschränkung auf Deutschland . . . . . . . . . . 3.22 Zur Kodexidee der Reformer . . . . . . . . . . . 4. Zwischen rechtslogischer Revision und Radikalreform . . . 5. Über Wert und Unwert der Kürze . . . . . . . . . . . . . 6. Vorstellungen der Reformer über die Gesetzessprache . . . 7. P. Kirchhofs extrem kurzer „Allgemeiner Teil“ . . . . . . . 7.1 Zu Abschnitt 1: Grundsätze der Besteuerung . . . . . . 7.2 Zu Abschnitt 2: Zusammenwirken von Steuern . . . . 7.3 Zu Abschnitt 3: Rechts- und Erkenntnisquellen . . . . 7.31 Rechtsquellen des Steuerrechts . . . . . . . . . . 7.32 Auslegung und „Steuerjuristische Betrachtungsweise“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zu Abschnitt 4: Steuerrechtsverhältnis . . . . . . . . . 7.5 Zu Abschnitt 5: Gemeinnützigkeit . . . . . . . . . . . 7.6 Zu Abschnitt 6: „Verantwortlichkeiten“ . . . . . . . . 8. P. Kirchhofs Besonderes Steuerrecht . . . . . . . . . . . . 8.1 Zur Einkommen- und Körperschaftsteuer . . . . . . . 8.2 Zur Erbschaft- und Schenkungsteuer . . . . . . . . . . 8.3 Zur Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Besondere Verbrauchsteuern . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Zur Reform der Kommunalsteuern . . . . . . . . . . . XXVI
1822 1822 1824 1827 1829 1830 1830 1831 1834 1834 1834 1836 1837 1837 1838 1841 1842 1844 1846 1846 1848 1849 1849 1850 1852 1856 1856 1859 1861 1863 1864 1865 1866
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9. Schlechte Chancen privater Steuergesetzbuchentwürfe, Bundestag und Bundesrat zu erreichen . . . . . . . . . . .
1867
Teil VII Schluss § 39 Blick nach vorn: Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft 1. 2. 3. 4. 5.
6.
7. 8.
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Worin besteht das Wissenschaftliche des Steuerrechts? . . Zukunftsaufgaben der Steuerrechtswissenschaft . . . . . . Disharmonie zwischen Steuerpolitik (Steuergesetzgebung) und Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiedliche Vorstellungen über Gesetzgebung als Ursache der Disharmonie? . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Steuergesetzgebungsvorstellungen der Steuerpolitik . . 5.2 Steuergesetzgebungsvorstellungen von Steuerrechtswissenschaftlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.21 Die wohl herrschende Meinung . . . . . . . . . 5.22 Wertung abweichender Meinungen . . . . . . . . 5.23 Ergebnis: Steuerpolitik und Steuerrechtswissenschaft können in Sachen „Steuergesetzgebung“ nicht harmonieren . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach einer Konfliktlösung durch Verfassungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Das Konzept von F.A. von Hayek . . . . . . . . . . . 6.2 Der Vorschlag von Cay Folkers . . . . . . . . . . . . . 6.3 Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abhilfe durch das Verfassungsgericht wäre möglich – ist aber eine Resthoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassendes Nachwort . . . . . . . . . . . . . . .
1879 1880 1881 1884 1885 1885 1890 1890 1892 1896 1898 1898 1900 1901 1903 1906
XXVII
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. AbgG abl. Abl. EU
AWG AZO
andere(r) Ansicht am angegebenen Ort Abgeordnetengesetz ablehnend Amtsblatt der Europäischen Union (seit Februar 2003) Absatz Abschnitt abweichend Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift) am Ende Anwendungserlass zur Abgabenordnung Vertrag über die Arbeitsweise der EU alte(r) Fassung Archiv für Kommunalwissenschaften (Zeitschrift) Aktiengesellschaft; auch „Die Aktiengesellschaft“ (Zeitschrift); mit Ortsbezeichnung: Amtsgericht Aktiengesetz Alternative amtlich(e) Anfechtungsgesetz Anmerkung Abgabenordnung AO-Steuerberater (Zeitschrift) Archiv für öffentliches Recht (Zeitschrift) Artikel Archiv für Schweizerisches Abgaberecht (Zeitschrift) Außensteuergesetz Auflage ausführlich Ausführungsgesetz Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters (Zeitschrift) Außenwirtschaftsgesetz Allgemeine Zollordnung
BAG BAnz BayObLG
Bundesarbeitsgericht Bundesanzeiger Bayrisches Oberstes Landesgericht
Abs. Abschn. abw. AcP a.E. AEAO AEUV a.F. AfK AG AktG Alt. amtl. AnfG Anm. AO AO-StB AöR Art. ASA AStG Aufl. ausf. AusfG AWD, AWD BB
XXIX
Abkürzungsverzeichnis
BayStMFin. BayVBl. BayVerfGH BB BBG Bd., Bde. BdF BDI Begr. Beil. BerlinFG Bespr. bestr. betr. BewÄndG BewDV BewG BewRGr BfF BFG BFH BFHE BFH/NV BFuP BGB BGBl. BGE BGHSt BGHZ BIFD BIP BiRiLiG BMF BMWF BMWi. XXX
Bayerisches Staatsministerium der Finanzen Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Bayerischer Verfassungsgerichtshof Betriebs-Berater (Zeitschrift) Bundesbeamtengesetz Band, Bände Bundesminister der Finanzen Bundesverband der Deutschen Industrie Begründung Beilage Berlinförderungsgesetz Besprechung bestritten betrifft, betreffend Bewertungsänderungsgesetz Bewertungs-Durchführungsverordnung Bewertungsgesetz Richtlinien für die Bewertung des Grundvermögens Bundesamt für Finanzen Beweissicherungs- und Feststellungsgesetz; Berlinförderungsgesetz Bundesfinanzhof Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis (Zeitschrift) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bulletin for International Fiscal Documentation (Zeitschrift) Bruttoinlandsprodukt Bilanzrichtlinien-Gesetz Bundesminister(ium) der Finanzen Bundesminister(ium) für Wirtschaft und Finanzen Bundesminister(ium) für Wirtschaft
Abkürzungsverzeichnis
Bp BpO BR BRAGO BR-Drucks. BRRG BSG BSHG BSP BStBl. BT BT-Drucks. BVerfG BVerfGE
BZRG BZSt.
Betriebsprüfung Betriebsprüfungsordnung Bundesrat Bundesgebührenverordnung für Rechtsanwälte Bundesrats-Drucksache Beamtenrechtsrahmengesetz Bundessozialgericht Bundessozialhilfegesetz Bruttosozialprodukt Bundessteuerblatt Bundestag Bundestags-Drucksache Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundeszentralregistergesetz Bundeszentralamt für Steuern
CGI CIR
Code général des impôts Code des impôts sur les revenues
DATEV
Datenverarbeitungsorganisation des steuerberatenden Berufs in der Bundesrepublik Deutschland e.G., Nürnberg Der Betrieb (Zeitschrift) Doppelbesteuerungsabkommen Deutsche Gemeindesteuer-Zeitung (Zeitschrift) Digesten Deutscher Industrie- und Handelstag Dissertation Deutscher Juristentag Deutsche Notar-Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Recht (Zeitschrift) Deutsche Richterzeitung (Zeitschrift) Drucksache Der Steuerbeamte (Zeitschrift) Deutsche Steuergewerkschaft Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft (Tagungsbände) Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift)
BVerfGG BVerwG BVerwGE
DB DBA DGStZ Dig. DIHT Diss. DJT DNotZ DÖV DR DRiZ Drucks. DStB DStG DStJG DStR
XXXI
Abkürzungsverzeichnis
DStRE DStZ DStZA und B DStZ/E DV (DVO) DVBl. DVR DWS EAO 1974 EATLP ECOFIN EC Tax Rev. Ed. EDV EFG EFTA e.G. EG EGAO EGBGB EGHGB EGKS EGMR EGV Einf. Einl. EK EMRK EnergieStG entspr. ErbSt ErbStDV ErbStG ErbStR ErbStRG ESt EStDV EStG XXXII
Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst Deutsche Steuer-Zeitung, seit 1980 (Zeitschrift) Deutsche Steuer-Zeitung Ausgabe A und B, bis 1979 (Zeitschrift) Deutsche Steuer-Zeitung/Eildienst, seit 1980 (Zeitschrift) Durchführungsverordnung Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Deutsche Verkehrsteuer-Rundschau (Zeitschrift) Deutsches wissenschaftliches Steuerinstitut der Steuerberater e.V. Regierungsentwurf einer Abgabenordnung von 1974 European Association of Tax Law Professors Economic and Financial Council EC Tax Review Editor (Herausgeber) Elektronische Datenverarbeitung Entscheidungen der Finanzgerichte (Zeitschrift) Europäische Freihandelsassoziation eingetragene Genossenschaft Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zur AO Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Einführungsgesetz zum Handelsgesetzbuch Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einführung Einleitung Eigenkapital Europäische Menschenrechtskonvention Energiesteuergesetz entsprechend Erbschaftsteuer Erbschaftsteuer-Durchführungsverordnung Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz Erbschaftsteuer-Richtlinien Erbschaft- und Schenkungsteuerreformgesetz Einkommensteuer Einkommensteuer-Durchführungsverordnung Einkommensteuergesetz
Abkürzungsverzeichnis
EStGE Köln EStR
EU EuGH EuGHE EuGRZ EuR EuStZ EuZW EWG EWGV EWiR EWS FA FAG FAGO FamRZ FAZ FeuerschStG FG FGO FinArch. FinBeh. FinMin. FinSen. FinVerw. Fn. Fördergebietsgesetz FR
FS FuSt Fußn. FVG
Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005 Einkommensteuer-Richtlinien (mit Hinweisteil) Zitierweise: R 134 EStR (Richtlinienteil) H 134 EStR (Hinweisteil) Europäische Union Europäischer Gerichtshof Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Europäische Steuerzeitung Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG-Vertrag Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) Finanzamt Finanzausgleichsgesetz Geschäftsordnung für die Finanzämter Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Frankfurter Allgemeine Zeitung Feuerschutzsteuergesetz Finanzgericht Finanzgerichtsordnung Finanzarchiv (Zeitschrift) Finanzbehörde Finanzministerium Senator/Senatorin für Finanzen Finanzverwaltung Fußnote Gesetz über Sonderabschreibungen und Abzugsbeträge im Fördergebiet Finanz-Rundschau (bis 1990); FinanzRundschau für Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer (bis 1999); FinanzRundschau Ertragsteuerrecht (Zeitschrift) Festschrift Finanzen und Steuern Fußnote Gesetz über die Finanzverwaltung XXXIII
Abkürzungsverzeichnis
GenG GewArch. GewSt GewStDV GewStG GewStR GG GO-BT GGO gl.A. GmbH GmbHG GmbHR GmSOGB GNOFÄ GoB GrESt GrEStDV GrEStG GrS GrStG GS GuV GVBl. GVG Habil. Hdb. HFA des IdW HFR HGB HHR HHSp h.L. h.M. Hrsg., hrsgg. Hs. HWStR XXXIV
Genossenschaftsgesetz Gewerbearchiv (Zeitschrift) Gewerbesteuer Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung Gewerbesteuergesetz Gewerbesteuer-Richtlinien Grundgesetz Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Gemeinsame Geschäftsordung gleicher Ansicht Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die GmbH GmbH-Rundschau (Zeitschrift) Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Grundsätze zur Neuorganisation der Finanzämter und zur Neuordnung des Besteuerungsverfahrens Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung/ Bilanzierung Grunderwerbsteuer Grunderwerbsteuer-Durchführungsverordnung Grunderwerbsteuergesetz Großer Senat Grundsteuergesetz Gesetzessammlung oder Gedächtnisschrift Gewinn und Verlust Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Habilitationsschrift Handbuch Hauptfachausschuss des Instituts der Wirtschaftsprüfer Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung Handelsgesetzbuch Herrmann/Heuer/Raupach, Komm. zum EStG/KStG (Loseblatt) Hübschmann/Hepp/Spitaler, Komm. zur AO/FGO (Loseblatt) herrschende Lehre herrschende Meinung Herausgeber, herausgegeben Halbsatz Handwörterbuch des Steuerrechts
Abkürzungsverzeichnis
IBFD-Bulletin
InsO Inst. FuSt InvStG InvZulG I.R.C. i.S.d. IStR i.S.v. i.Ü. i.V.m. IWB i.w.S.
Bulletin of the International Bureau of Fiscal Documentation in der Fassung in der Regel in dem (diesem) Sinne Institut der Wirtschaftsprüfer im Einzelnen im Ergebnis im engeren Sinne International Fiscal Association Bulletin for International Fiscal Documentation, Amsterdam Institut für Finanzen und Steuern Die Information über Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) Insolvenzordnung Institut „Finanzen und Steuern“ Investmentsteuergesetz Investitionszulagengesetz Internal Revenue Code im Sinne des/der Internationales Steuerrecht (Zeitschrift) im Sinne von im Übrigen in Verbindung mit Internationale Wirtschafts-Briefe im weiteren Sinne
JA Jb. JbFSt. Jg. JGG JöR JStG Jura JuS JW JZ
Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) Jahrbuch Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht Jahrgang Jugendgerichtsgesetz Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Jahressteuergesetz Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift)
KAG Kfz-Steuer KG KGaA KiStG
Kommunalabgabengesetz Kraftfahrzeugsteuer Kommanditgesellschaft Kommanditgesellschaft auf Aktien Kirchensteuergesetz
i.d.F. i.d.R. i.d.S. IdW i.E. i.Erg. i.e.S. IFA IFA-Bulletin IFSt INF
XXXV
Abkürzungsverzeichnis
KJB Kölner EStGE KOM Komm. KÖSDI KraftStG KritV KSt KStDV KStG KStR KStZ KSzW Lfg. li. Sp. Lit. LPartG LS LStDV LStR LT-Drucks. m. Anm. m.a.W. MDR
Karlsruher Juristische Bibliographie (Zeitschrift) Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes (s. Allgemeines Literaturverzeichnis) Dokumente der Kommission der Europäischen Gemeinschaften Kommentar Kölner Steuerdialog (Zeitschrift) Kraftfahrzeugsteuergesetz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Zeitschrift) Körperschaftsteuer Körperschaftsteuer-Durchführungsverordnung Körperschaftsteuergesetz Körperschaftsteuer-Richtlinie Kommunale Steuer-Zeitschrift Kölner Schrift zum Wirtschaftsrecht Lieferung linke Spalte Literatur Lebenspartnerschaftsgesetz Leitsatz Lohnsteuer-Durchführungsverordnung Lohnsteuer-Richtlinien (mit Hinweisteil) Zitierweise: R 70 LStR (Richtlinienteil)/H 70 LStR (Hinweisteil) Landtags-Drucksache
m.w.N. MwStSystRL
mit Anmerkung(en) mit anderen Worten Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift) meines Erachtens Mineralölsteuergesetz mit Nachweisen Menschenrechtskonvention (s. EMRK) Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (Zeitschrift) mit weiteren Nachweisen Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie
Nds. n.F. N.F. NJW
Niedersachsen/niedersächsisch neue(r) Fassung Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)
m. E. MinölStG m.N. MRK MSchrKrim
XXXVI
Abkürzungsverzeichnis
NRW, auch NW NStZ NV NVwZ NWB
Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Strafrecht Nicht-Veranlagung Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Wirtschafts-Briefe
OECD
Organization for Economic Cooperation and Development OECD-MA OECD-Musterabkommen ÖJT Österreichischer Juristentag österr. EStG (öEStG) österreichisches Einkommensteuergesetz ÖStZ Österreichische Steuerzeitung (Zeitschrift) öVwGH Österreichischer Verwaltungsgerichtshof OFD(en) Oberfinanzdirektion(en) OFH Oberster Finanzgerichtshof OHG Offene Handelsgesellschaft OLG Oberlandesgericht OVG Oberverwaltungsgericht OVGE Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte OVGSt Entscheidungen des preuß. OVG in Staatssteuersachen OWiG Ordnungswidrigkeitengesetz p.a. Preuß. (pr.) ProtErklG
PStR RAO RechtsVO Reg.Begr. RegE RennwLottG re. Sp. RFH RFHE RGBl. RIW/AWD RJF
per annum preußisch Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz Praxis Steuerstrafrecht (Zeitschrift) Reichsabgabenordnung Rechtsverordnung Regierungsbegründung Regierungs-Entwurf Rennwett- und Lotteriegesetz rechte Spalte Reichsfinanzhof Sammlung der Entscheidungen des Reichsfinanzhofs Reichsgesetzblatt Recht der Internationalen Wirtschaft/Außenwirtschaftsdienst (Zeitschrift) Revue de Jurisprudence Fiscale (Zeitschrift)
XXXVII
Abkürzungsverzeichnis
R/K/L RL RLA Rn./Rnrn. RS Rspr. RStBl. RT Rz. S. sc. SchaumweinStG sec. SGb. SGB SGB-AT SGG Slg. SolZ SolZG StA StÄndG StAnpG StB StBereinG 1999 StBerG Stbg. StbJb. StbKongrRep. StBp. StBW StEK StEntlG SteuerStud SteuK StGB StJ StKl. StKongrRep. StMBG Stpfl. XXXVIII
Reiß/Kraeusel/Langer, Komm. zum UStG (Loseblatt) Richtlinie Rundschau für den Lastenausgleich Randnummer/Randnummern Rechtssammlung Rechtsprechung Reichssteuerblatt Reichstag Randziffer(n) Satz/Seite scilicet (nämlich) Schaumweinsteuergesetz section Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgesetzbuch Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil Sozialgerichtsgesetz Amtliche Sammlung der EuGHE Solidaritätszuschlag Solidaritätszuschlagsgesetz Staatsanwaltschaft Steueränderungsgesetz Steueranpassungsgesetz Der Steuerberater (auch Zeitschrift) Steuerbereinigungsgesetz 1999 Steuerberatungsgesetz Die Steuerberatung (Zeitschrift) Steuerberater-Jahrbuch Steuerberaterkongress-Report (seit 1977) Die steuerliche Betriebsprüfung (Zeitschrift) Steuerberater-Woche (Zeitschrift) Steuererlasse in Karteiform (Hrsg.: Felix/Carlé) Steuerentlastungsgesetz Steuer und Studium (Zeitschrift) Steuerrecht kurzgefasst (Zeitschrift) Strafgesetzbuch Steuerliches Journal (Zeitschrift) Steuerklasse Steuerkongreß-Report (bis 1976) Missbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz Steuerpflicht/Steuerpflichtiger
Abkürzungsverzeichnis
StPO StQ str. StraBu StraFo StrbEG StRG StRev, Schweiz StRK StRO StromStG st. Rspr. StSenkG
StWa SWI
Strafprozessordnung Quintessenz des Steuerrechts strittig Straf- und Bußgeldstellen Strafverteidiger Forum vgl. ZStAmnG Steuerreformgesetz Steuer-Revue (Zeitschrift) Steuerrechtskartei Tipke, Die Steuerrechtsordnung (Bände) Stromsteuergesetz ständige Rechtsprechung Gesetz zur Reform der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Steuersenkungsgesetz) Steuern und Bilanzen (Zeitschrift) Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) Strafverteidiger (Zeitschrift) Steuervergünstigungsabbaugesetz Steuerliche Vierteljahresschrift (Zeitschrift bis 1993) Steuer-Warte (Zeitschrift) Steuer & Wirtschaft International (Zeitschrift)
ThürVBl. Tz.
Thüringer Verwaltungsblätter Textziffer
Ubg. u.E. umstr. UmwG UmwStG UR
Die Unternehmensbesteuerung (Zeitschrift) unseres Erachtens umstritten Umwandlungsgesetz Umwandlungssteuergesetz Umsatzsteuer-Rundschau (Zeitschrift) (Zitierweise seit 1984) Umsatzsteuer Umsatzsteueränderungsgesetz Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung Umsatzsteuergesetz Umsatzsteuer-Identifikationsnummer Umsatzsteuerkongress-Bericht Umsatzsteuer-Rundschau (Zeitschrift) (Zitierweise bis 1983)/Umsatzsteuerrichtlinien unter Umständen Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht (Zeitschrift)
StuB StuW StV StVergAbG StVj
USt UStÄndG UStDV UStG USt-IdNr. UStKongrBericht UStR u.U. UVR
XXXIX
Abkürzungsverzeichnis
VA VAT VermBG Verpfl. VersStG VerwArch. Vfg. VG VGH VJSchrStFR
VwGH VwGO VwVfG VwZG
Verwaltungsakt Value added tax Vermögensbildungsgesetz Verpflichtung Versicherungsteuergesetz Verwaltungsarchiv (Zeitschrift) Verfügung Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht (Zeitschrift) Verordnung Volume Vorbemerkung Vorschriftensammlung Bundesfinanzverwaltung Vierteljahresschrift für Sozialrecht (Zeitschrift) Vermögensteuergesetz Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtshof Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Verwaltungszustellungsgesetz
Wiss. Beirat wistra WM WoPG WPg. WRV
Wissenschaftlicher Beirat Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift) Wohnungsbauprämiengesetz Die Wirtschaftsprüfung (Zeitschrift) Weimarer Reichsverfassung
ZEV
Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge (seit 1994) Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Betriebswirtschaft Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung Zeitschrift für Immobilienrecht Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern Zeitschrift für Gesetzgebung/Zollgesetz
VO Vol. Vorb. VSF VSSR VStG VVDStRL
ZIP ZfB ZfbF ZfgK ZfhF ZfIR ZfZ ZG XL
Abkürzungsverzeichnis
ZGR ZHR ZIS ZK ZKF ZollVG ZPO ZRP ZSteu ZStW
Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zollkodex/Zivilkammer/Zollkasse Zeitschrift für Kommunalfinanzen Zollverwaltungsgesetz Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Steuern und Recht Zeitschrift für die gesamte Steuerrechtswissenschaft
XLI
Teil I Steuerrecht als Wissenschaft § 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts 1. Einführung . . . . . . . . . . . . 1238 .. 2. Zum Disput um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . 1239 .. 3. (Steuer-)Rechtswissenschaftlichkeit durch Systemrationalität . . . . . . . . . . . . . . . 1242 .. 4. Verteilungsgerechtigkeit als systembestimmend für die Steuerrechtswissenschaft . . 1247 .. 5. Wissenschaftskriterien der Rechts- oder Wertungslogik – angelegt auch im Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . 1251 .. 5.1 Das Leistungsfähigkeitsprinzip als grundlegender Steuergerechtigkeitsmaßstab. . . . . . . . . . . . 1251 ..
5.2 Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips durch Gebote der Rechtsoder Wertungslogik . . . . 1258 .. 5.21 Das Gebot der Verallgemeinerung . . . 1259 .. 5.22 Das Gebot der Folgerichtigkeit . . . . . . . 1265 .. 5.23 Das Gebot der Widerspruchsfreiheit . 1268 .. 5.24 Durchsetzbarkeit der Rechts- oder Wertungslogik mit Hilfe der Verfassung . . . . 1271 .. 5.3 Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Wertprinzip der Stetigkeit . . . . . . . . 1272 .. 6. Offene Fragen . . . . . . . . . . 1274 .. 7. Rechtswissenschaftliches Denken als rechtslogisches Denken . . . . . . . . . . . . . . 1275 ..
Literatur Über Rechtstheorie, Rechtsphilosophie: J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie. Der Gedanke des Rechts, 2006; N. Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie4, 2007; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008. Über Rechtswissenschaftlichkeit: J. v. Kirchmann, Von der Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, Nachdruck 1990; J. Stahl, Widerlegung der Kirchmannschen Broschüre: Rechtswissenschaft oder Volksbewusstsein, 1848; J. Binder, Über den Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, Kant-Studien XXV, 1921, S. 321 ff.; K. Larenz, Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1966; R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, Rechtstheorie 1971, 37 ff.; J. Lang, Verantwortung der Rechtswissenschaft für das Steuerrecht, StuW 1989, 201 ff., Chr. Engel/W. Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007. Über System und Prinzipien: J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, Kap. 1: Zur Lehre von den Rechtsprinzipien; D. Birk, Ordnungsmuster im Steuerrecht: Prinzipien, Maßstäbe und Strukturen, in: Festschrift für H. Schaumburg, 2009, S. 3 ff.; M. Mössner, Prinzipien
1237
§ 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts im Steuerrecht, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 83 ff.; K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, in: Festschrift für W. Spindler, 2011, S. 29 ff.
1. Einführung Die Steuerrechtswissenschaft ist nur mittelbar Mitgestalter des Steuerrechts im Sinne der Steuergesetze. Steuern dürfen nur auf Grund von Gesetzen erhoben werden. 1 Steuerrechtswissenschaftler dürfen aber durch Rechtsrat (Politikberatung) auf den Gesetzgeber einwirken (s. S. 1242, 1344 ff.). Dass sie auch Gesetze kritisieren dürfen, ist allgemein anerkannt und allgemeine Praxis. Die Ausschüsse des Parlaments ziehen ständig auch Steuerwissenschaftler zur Beratung heran. Die Gesetzespositivisten sind allerdings der Auffassung, die Rechtswissenschaft gehe die Gesetzgebung nichts an. Die Einmischung in die Gesetzgebung sei Rechtspolitik. 2 Immer kommt es uns darauf an, nicht bloß Rechtsideale darzustellen, sondern auch die Rechtswirklichkeit. Ob und inwieweit ein Staat realer Rechtsstaat ist, ist an der Rechtswirklichkeit zu messen, nicht an papierenen Idealen. Es ist erfreulich, wenn das Bundesfinanzministerium sich zum Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit bekennt; das entbindet die Wissenschaft aber nicht von der Prüfung, ob und inwieweit dieses Prinzip in der Praxis der Steuergesetzgebung und der Steuerverwaltung umgesetzt wird. Die Voranstellung der Wissenschaft in diesem Band empfiehlt sich auch deshalb, weil die Wirklichkeit der Gesetzgebung und der Gesetzesanwendung an den Maßstäben der Wissenschaft kritisch bewertet werden soll. Gegenstand und Aufgaben der Steuerrechtswissenschaft sind abgehandelt in Bd. I2, S. 10 ff. Auch die finanzwissenschaftliche und die betriebswirtschaftliche Steuerlehre sind dort in Kürze erörtert (S. 18 ff.). 3 Steuerpolitik und Steuerrechtswissenschaft verfolgen realiter unterschiedliche Ziele. Wir werden den Konflikt näher erörtern und der Frage nachgehen, ob er auflösbar ist (s. S. 1884, 1885 ff.). 1 Bd. I2, S. 118 ff. 2 Diese Auffassung ablehnend z. B. M. Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 15 f. Zum Gesetzespositivismus ablehnend Bd. I2, 2000, S. 264 ff.; ihn ablehnend auch J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 358, 367. 3 Dazu auch K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, S. 11 ff.
1238
Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft
2. Zum Disput um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft Da die Steuerrechtswissenschaft eine Teildisziplin der Rechtswissenschaft ist, liegt es nahe, zunächst zu fragen: „Worin besteht das Wissenschaftliche der Rechtswissenschaft?“ Wir sprechen als Juristen wie selbstverständlich von Rechtswissenschaft und Steuerrechtswissenschaft, machen uns aber kaum Gedanken darüber, worin das Wissenschaftliche des Rechts besteht. Dass man mit dieser Frage auch die Teilnehmer eines Doktorandenseminars in Verlegenheit bringen kann, hängt damit zusammen, dass sie während des Studiums des Zivilrechts, des Strafrechts und des öffentlichen Rechts nicht erörtert zu werden pflegt. Man findet etwas darüber in der Literatur über Rechtsphilosophie, Rechtstheorie oder allgemeine Rechtslehre, u. U. auch etwas in Schriften über die Methode(n) der Gesetzesanwendung. Das sind jedoch Fächer, die während des Studiums vernachlässigt werden und vernachlässigt werden können, weil sie in juristischen Examina keine Rolle spielen. Die Prüfung der Juristen ist mehr Wissensprüfung über Gesetzesinhalte auf Grund von Fällen als wissenschaftliche Prüfung. 4 Übersicht, Einsicht, Verstehen, Argumentation kommen gegenüber Auswendiggelerntem zu kurz. 5 Die Rechtswissenschaft ist keine Naturwissenschaft, sondern eine Geisteswissenschaft oder Kulturwissenschaft. 6 Da die Rechtswissen4 N. Horn meint dazu allerdings: „Das Interesse der Juristen an den Grundlagenfächern, insbesondere an der Methodenlehre und an der Rechtsphilosophie, nimmt zu. Gerade die Stoffmasse des geltenden Rechts verstärkt den Wunsch nach übergreifender Orientierung durch eine Rückbesinnung auf die Grundfragen des Rechts und seiner Anwendung“ (Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie4, 2007, Vorwort; hingegen lesen wir bei K. Röhl/H. Röhl: „Das Studium des Rechts ist mehr und mehr verschult. Die juristische Praxis scheint weitgehend ohne wissenschaftliche Anleitung auszukommen. Die Masse des juristischen Schrifttums ist Gebrauchsliteratur.“ (Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 1 unten). Nach J. Braun dominiert in der juristischen Ausbildung „nicht das Nachdenken über Grundfragen des Rechts, sondern der doktrinäre Geist affirmativer Subordination . . . Der Gedanke des Rechts erstickt schier unter der Flut von Entscheidungen, die sich nicht auf das Recht, sondern auf andere Entscheidungen [gemeint sind Präjudizien, d. V.] beziehen.“ (Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 359 f.). 5 Über entsprechende positivistische Juristenausbildung und Rechtspraxis J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 358 ff. Hinweis auch auf J. Masing, Wissen und Verstehen, FAZ v. 29. 12. 2011, S. 7 („Das Ausbildungssystem in Deutschland ist zu sehr auf Wissen und zu wenig auf Verstehen angelegt“). 6 Kultur ist die von Menschen geschaffene Lebenswelt. Zu ihr gehört das Recht. Je nach dem Zustand, in dem die Kultur sich befindet, mag man von Primitiv- oder Hochkultur sprechen. Der Deutsche Finanzgerichtstag trat
1239
§ 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts
schaft es weithin mit Wertungen zu tun hat, wird sie auch als Wertungswissenschaft oder Idealwissenschaft bezeichnet. 7 Sie kann daher nicht so exakt in ihren Ergebnissen sein wie eine auf Empirie gegründete Naturwissenschaft. Aber ist sie deswegen nur eine Pseudowissenschaft? Auch soweit statt von Wissenschaft von Lehre gesprochen wird, 8 drückt das nicht Unwissenschaftlichkeit aus. Kritisch gelehrt werden soll, was wissenschaftlich erforscht worden ist. K. Röhl/H. Röhl bezeichnen es als Zweck ihrer „Allgemeinen Rechtslehre“, einen Weg aufzuzeigen „von der bloßen Rechtskunde zur Rechtswissenschaft“. 9 Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts sprach man von Jurisprudenz (iuris prudentia, nicht von iuris scientia), auch oder von Rechtsgelehrsamkeit (Rechtsgelahrtheit), erst von da ab setzte sich der Begriff Rechtswissenschaft durch. 10 Heute wird der Begriff Jurisprudenz eher synonym mit Rechtswissenschaft gebraucht. 11 Welcher Rechtswissenschaftler erinnert sich nicht an den Namen des preußischen Staatsanwalts Julius v. Kirchmann. Er hielt 1847 vor der Juristischen Gesellschaft in Berlin einen Vortrag mit dem provozierenden Titel „Von der Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“. Da v. Kirchmann nur die Naturwissenschaften als Wissenschaften akzeptierte, konnte es eine Rechtswissenschaft für ihn nicht geben.
7
8 9 10
11
auf seiner Tagung von 2004 für „eine bessere Steuerrechtskultur“ ein. Aber nur ein Referent (J. Wieland) ging kurz auf die Frage ein, was er unter einer „besseren Steuerrechtskultur“ verstehe (J. Brandt, Hrsg., Für eine bessere Steuerrechtskultur, 2004, S. 110 ff.). Die Steuerrechtswissenschaft kann sich allerdings auch empirisch betätigen. Sie kann z. B. die Realität der intakten Durchschnittsehe, die tatsächlichen Folgen von Steuervorschriften, auch von Steuervergünstigungen, aufklären. Sie kann die Motive der Steuerhinterziehung erforschen. Auch die bloß darstellende (nicht wertende) Rechtsvergleichung hat empirischen Charakter. – Soweit der Gesetzgeber auf Tatsachenwissen angewiesen ist, lassen die Juristen gern anderen den Vortritt, z. B. Ökonomen, Soziologen, Kriminologen. Die an der Gesetzgebung Beteiligten bedienen sich oft der sich aufdrängenden – interessierten – Lobbyisten. Auch das Typisieren setzt empirische Kenntnisse voraus. Z. B. Allgemeine Rechtslehre, Betriebswirtschaftslehre, Allgemeine Steuerlehre. K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 1 unten. W. Ernst, in: Chr. Engel/W. Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 4, Fußn. 2. S. auch schon Jan Schröder, Theoretische und praktische Jurisprudenz, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 1993, S. 229, 237 f. S. auch M. Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 17 ff. – Im englischsprachigen Raum wird unterschieden zwischen (Natural)Science und Humanities (die es mit Menschen zu tun haben). Zu den Humanities gehören insbesondere Geschichte, Philosophie (besonders Ethik = Moralwissenschaft), Recht, Theologie, Soziologie, Politologie, Kunst.
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Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft
Seine Polemik gipfelte in der zum geflügelten Wort avancierten Feststellung: „Indem die (Rechts-)Wissenschaft das Zufällige 12 zu ihrem Gegenstand macht, wird sie selbst zur Zufälligkeit: drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur“. 13 J. v. Kirchmann bestritt der Jurisprudenz nicht nur ihre Wissenschaftlichkeit. Er bejahte auch ihre Wertlosigkeit für die juristische Praxis. Offenbar galt seine besondere Abneigung der positivistischen Jurisprudenz. Sein Vortrag ist nicht nur auf Kritik gestoßen. 14 Aber nicht wenige Rechtswissenschaftler empfinden v. Kirchmanns Leugnen der Wissenschaftlichkeit nach 160 Jahren noch immer als Dorn im Fleische der Rechtswissenschaft. Bis in die Gegenwart hinein sind sie bemüht, v. Kirchmann zu widerlegen. 15 Solches Bemühen wäre schon erstaunlich, wenn v. Kirchmann der unbedeutende Durchschnittskopf gewesen wäre, als den manche ihn hingestellt haben. K. Röhl/H. Röhl fragen: „Warum legen Juristen Wert darauf, dass ihr Fach als Wissenschaft anerkannt ist?“ Ihre Antwort: „Wissenschaft gilt als gesellschaftlich wertvoll. Sie verleiht Ansehen und Autorität. Wissenschaftliche Berufe . . . bieten eine privilegierte Möglichkeit des 12 Gemeint war die Gesetzgebung. Dazu auch P. Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, 2009, S. 336. J. v. Kirchmanns Gesetzesbeschreibung mag P. Kirchhof an die Qualitätsmängel der Gegenwartsgesetzgebung erinnert haben. 13 Nachdruck 1990 der Schrift von 1848, S. 24. 14 Über J. v. Kirchmanns Karriere H. Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts3, 1983, Rz. 412–418. – J. v. Kirchmann, der übrigens auch in der Politik tätig war, wurde nach mehreren Disziplinarverfahren, bereits 65 Jahre alt, als Justizbeamter ohne Versorgungsbezüge aus dem Dienst entfernt. 15 Ohne Vollständigkeit nenne ich hier F. J. Stahl, Widerlegung der Kirchmannschen Broschüre: Rechtswissenschaft oder Volksbewusstsein?, 1848; Julius Binder, Über den Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, Kant-Studien, XXV, 1921, S. 321 ff.; ders., Philosophie des Rechts, 1925, S. 843 ff., 847 ff.; K. Larenz, Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1966 (Larenz beschäftigt sich vor allem mit dem wissenschaftlichen Wert der Rechtsanwendungsmethode); F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S. 415 f. M. w. N.; G. Radbruch, Rechtsphilosophie8, 1973, S. 218, 320; H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie3, 1976, S. 346; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, Rz. 281; K. Röhl/H. Röhl (Fußn. 4), S. 80 f.; W. Ernst (Fußn. 10), S. 21 f. M. w. N.; M. Jestaedt, ebenda S. 242 f. Hinzuweisen ist auch auf die Kontroverse zwischen Chr. Engel, JZ 2006, 614, 1118 f., und H. H. Jakobs, JZ 2006, 1115 ff. Auch Kurt Tucholsky, der Jura studiert hatte, aber insbesondere preußische Juristen nicht mochte, verneinte: „Juristerei ist keine Wissenschaft. Sie ist bestenfalls ein Handwerk. Aber Richten und Entscheiden ist oft mehr, das ist eine Kunst . . .“ Tucholsky sprach von der „jämmerlichen Kleinheit dieser Pseudowissenschaft“ (K. Tucholsky, Gesammelte Werke Bd. 1, Rowohlt 1995, S. 104). Schon in der Antike hieß es am Beginn der Digesten: „Iustitia est ars boni et aequi“.
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§ 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts
Broterwerbs. Wissenschaft ist umgeben von der Aura der Wahrheit und Neutralität. Wissenschaft verhilft der Justiz zu jener Unparteilichkeit, der sie ihre Anerkennung verdankt, und Wissenschaft steht unter dem Schutz des Art. 5 III GG . . .“ 16 Scientia nobilitat animum, hieß es. Nicht wenige Juristen scheinen, was die Wissenschaftlichkeit betrifft, keine sichere Antwort parat zu haben, nicht frei zu sein von Selbstzweifeln. Es wird auch die Auffassung vertreten, nur die Gesetzesanwendungsmethode sei wissenschaftlich. Die Rechtswissenschaft sei eine heuristische oder Interpretationswissenschaft. Die Gesetzgebung gehe sie nichts an. Es genügt indessen nicht, sich mit der Methodenlehre der Gesetzesanwendung zu befassen. Mit der Anwendungsmethode lassen sich schlechte Gesetze nicht in gute, ungerechte nicht in gerechte verwandeln. Daher ist es vordringlich, eine Methodenlehre für möglichst gerechte, möglichst einfache, gleichmäßig anwendbare Steuergesetze zu entwickeln. Auch die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, „das steuerrechtliche Gewissen“ in der steuerrechtspolitischen Diskussion, ist bestrebt, sich in die Steuergesetzesvorbereitung einzuschalten. „Die“ Rechtswissenschaft, „die“ Steuerrechtswissenschaft gibt es nicht. Es kann sie nicht geben, wenn „Forschung und Lehre“ – zu unserem Glück – frei sind. Der Verfasser ist sich wohl bewusst, dass es viele Meinungsverschiedenheiten gibt; aber auch der Wertungspluralismus braucht ein systematisches, ein rechts- oder wertungslogisches Konzept. Dieses Konzept ist wissenschaftlich, wenn auch nicht exakt wissenschaftlich.
3. (Steuer-)Rechtswissenschaft durch Systemrationalität Auch Geisteswissenschaften, die Rechtswissenschaft eingeschlossen, müssen möglichst rational sein. Beliebigkeit oder Willkür, bloß subjektives Meinen, Glauben, Vermuten, Ahnen erfüllen schwerlich den Wissenschaftsbegriff. Wissenschaft besteht in p einem Sammeln von Wissen, damit ein Fundus von Wissen entsteht, der über das Allgemeinwissen des Bürgers hinausgeht, p dem systematischen Ordnen und Verwerten des gesammelten Wissens. Nach Immanuel Kant ist Wissenschaft ein System, das ist „ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis“. 17 Das System besteht aus einem Prinzipien- und Regelgefüge, das eine einheitliche, 16 Fußn. 4, S. 79. 17 I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1786, Vorrede. Weiteres zum Systembegriff Kants ist nachgewiesen von C. C. E.
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Systemrationalität
folgerichtige, widerspruchsfreie Ordnung schafft. 18 Systemidee und Wissenschaftlichkeit sind unlöslich miteinander verbunden. Systemabhängig ist – anders als die Rechtskunde – auch die Rechtswissenschaft. Auch sie muss für ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes sorgen, für eine systematische Stoffanordnung. 19 Ohne System ist der Stoff – so P. J. A. Feuerbach, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Kriminalgesetz für Bayern erarbeitet hat –, „nichts als eine Last für das Gedächtnis, ein trauriger, abschreckender Schutthaufen zertrümmerter Materialien, die für den Staat nutzlos sind und der Vernunft ein Greuel sind“. 20 „Rechtswissenschaft ist systematisch oder sie ist nicht“, so formuliert prägnant Hans J. Wolff. 21 M. a. W.: „Die Systematik, die systematisch-rechtslogische (S. 1258 ff.) Ordnung ist es, die den Wissenschaftscharakter des Rechts begründet.“ 22 Unsystematische, chaotische Wissenschaft ist ein Widerspruch in sich. Auch im Recht ist Ordnung ein positiver Wert, Unordnung ein negativer. Geht es um Recht und Gerechtigkeit, so genügt indessen keine beliebige systematische Ordnung, sondern es bedarf einer auf Rechtsoder Gerechtigkeitsprinzipien gegründeten Rechts- oder Gerechtigkeitsordnung. Die Steuern jedenfalls sollen zwar die Kassen von Staat und Gemeinden ausreichend füllen, dies dürfen sie jedoch nicht auf beliebige, sondern nur auf gerechte Weise tun. Schon seit Philipp Heck wird zwischen äußerem (formalem) und innerem (inhaltlichem) System unterschieden, 23 so auch von C. W. Ca-
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Schmidt, Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften3, 1996 S. 512 f., Stichwort „System“. Dazu auch J. Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 839; A. v. d. Stein, System als Wissenschaftskriterium, in: Der Wissenschaftsbegriff, hrsg. von A. Diemer, 1970, S. 99, 107. Zumal in der Politik wird viel vom „deutschen Steuersystem“ gesprochen. Das kann indessen kein systematisches Ganzes meinen, sondern die ungeordnete Gesamtheit der deutschen Steuern, in Wirklichkeit ein Steuerkonglomerat. P. J. A. Feuerbach, Über Philosophie und Empirie im Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft, 1804, S. 87, zitiert nach Jan Schröder (Fußn. 10), S. 238. H. J. Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, Studium Generale, 1952, S. 205. Über die Abhängigkeit des Rechtswissenschaftscharakters vom Systemgedanken auch J. Binder (Fußn. 15), S. 838 ff., 852; ders., Kant-Studien XXV, 1921, S. 321 ff., 356; H. Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, Frankfurter Universitätsreden Heft 17, 1955; ders. (Fußn. 15), S. 340 ff., 346; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969; S. 13 (Fußn. 16), 29 f., 43; B.“Rüthers (Fußn. 15), Rz. 139, K. Röhl/H. Röhl (Fußn. 4), S. 442; H. Fleischer, in: Das Proprium (Fußn. 10), S. 58 f.; W. Frisch, ebenda, S. 160 ff. („Rechtswissenschaft als systematische [systematisierende] Wissenschaft“). Ph. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1933, S. 139 ff.
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§ 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts
naris, 24 K. Larenz, 25 F. Bydlinski, 26 B. Rüthers, 27 K. Röhl/H. Röhl, 28 A. Steichen. 29 Die Unterscheidung ist im Privatrecht entwickelt worden; sie hat sich aber auch im Steuerrecht als Gerechtigkeitsrecht (s. S. 1247) bewährt. 30 Alain Steichen hat das Systemdenken in das Luxemburger Steuerrecht eingeführt. 31 Besonders von wissenschaftlichen Lehrbüchern erwartet man eine Systematisierung des Stoffes, zum einen um ihn eingängig und übersichtlich zu präsentieren, zum anderen um ihn durch Orientierung an Prinzipien und Regeln einsichtig zu machen. 32 Joachim Lang drückt es so aus: „Ein systematisiertes Steuerrecht ist keine Frage bloßer juristischer Ästhetik oder Kosmetik. Es hat gegenüber einem nicht systematisierten Steuerrecht auch nicht nur den Vorteil größerer Stimmigkeit, Übersichtlichkeit, Klarheit, Durchsichtigkeit, Verständlichkeit, Praktikabilität, Lehr- und Lernbarkeit, Prüfbarkeit und Übersetzbarkeit. Fehlt das innere System, die rechtsethische Prinzipienordnung, so ist das Steuerrecht auch keine Gerechtigkeitsordnung. . . .“ 33 Wo Systemlosigkeit herrscht, kann von Wissenschaftlichkeit keine Rede sein.
24 C.-W. Canaris (Fußn. 22), S. 19, 34, 87, 91 (äußeres System), 35, 40 ff. 91 (inneres System). 25 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 1975, S. 61, 155, 161, 266, 315 f., 421, 430, 432 ff., 474 (äußeres System), 62, 143, 159 f., 315, 326, 361 ff., 458 ff., 471 ff. (inneres System). 26 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 9, 69 ff., 117 ff. (äußeres System), IX, 31, 135 ff. (inneres System). 27 B. Rüthers (Fußn. 15), Rz. 141 (äußeres System), 142 ff. (inneres System). 28 K. Röhl/H. Röhl (Fußn. 4), S. 438 f. (äußeres System), 439 ff. (inneres System). 29 A. Steichen, Manuel de droit fiscal général4, 2006, S. 100 ff. (Système externe du droit fiscal), 104 ff. (Système interne du droit fiscal). 30 K. Tipke, hat sie 1971 in das Steuerrecht eingeführt (StuW 1971, 2, 4 f., dann in seinen systematischen Grundriss „Steuerrecht“ aufgenommen (1. Aufl., 1973, S. 11–13). Sie findet sich auch in der Habilitationsschrift von J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, S. 11 insb. Fußn. 63. Hinweise auf die Gegenwartsliteratur: K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. I2, 2000, S. 61 (äußeres System), 67 ff. (inneres System); K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, in: Festschrift für W. Spindler 2011, S. 29 ff.; K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Rz. 71 ff. 31 A. Steichen, Manuel de droit fiscal général4, 2006, S. 100 ff., 104 ff. 32 Näher dazu K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. I2, 2000, S. 88–94: „Vorteile der Prinzipienhaftigkeit; Nachteile der Prinzipienlosigkeit“. 33 K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Rz. 26. Hinzuweisen ist auf das Werk von F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996; Vorwort und 1. Hauptteil sind nicht nur für Privatrechtler lehrreich; ferner auf E. Schmidt-Aßmann, Vom Wert einer systematischen Rechtswissenschaft im Verwaltungsrecht, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 74 ff.
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Systemrationalität
Auf diesen Erkenntnissen baut das Lehrbuch (früher Grundriss) „Steuerrecht“ Tipke/Lang seit der 1. Auflage auf. Der beste Beweis dafür, dass das Konzept sich auch praktisch bewährt hat, ist das Erscheinen der 21. Auflage im Jahr 2012. Das System wird von Prinzipien und Regeln 34 getragen und ausgefüllt. Diese sorgen dafür, dass die im Systembegriff angelegte Rationalität – Verallgemeinerung, Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit – erreicht wird. Diese Rationalität lässt sich auch als Rechtslogik, 35 Systemlogik, Normlogik, 36 juristische Logik oder Wertungslogik bezeichnen. Diese Logik – auch als cognito ex principiis bezeichnet – sorgt aber nicht nur für einen Fortschritt an Rationalität und damit an Wissenschaftlichkeit, sie fördert über den Gleichheitssatz auch das demokratische Element. Nur sollte klar sein, dass es sich nicht um exakte Logik (im strengen Sinne) handeln kann. Zumindest kann die Rechtslogik aber Beliebigkeit, Willkür, bloßes Gutdünken, Willfährigkeit gegenüber Interessengruppen ausschalten. Es muss untersucht werden, inwieweit die Rechtslogik des geltenden Steuerrechts ausreicht, um von Wissenschaftlichkeit sprechen zu können. Terminologisch ist klarzustellen: In der Ethikliteratur findet man Autoren, die entweder den Begriff „Prinzip“ (oder „Grundsatz“) oder den Begriff „Regel“ 37 bevorzugen, diese Begriffe überhaupt als Synonyme auffassen. Es gibt aber auch Autoren, die den Begriff „Prinzip“ den Fundamentalregeln (die nicht mehr von einem anderen Prinzip abgeleitet werden können) vorbehalten, während Regeln das Prinzip konkretisieren, umsetzen, ausführen. Dafür spricht sprachlich: principium kommt von primum (= Anfang) capere. Prinzip ist danach ursprünglich das, was als Ursprung, als oberster Wert am Anfang steht. 34 Von „Rechtslogik“ spricht I. Tammelo, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 1977, S. 120 („Im Bereich der Rechtstheorie kommt der Rechtslogik eine zentrale Rolle zu, da es ihre Aufgabe ist, die Voraussetzungen und den Verlauf des folgerichtigen (kurs. durch Verf.) Denkens zu bestimmen . . .“). K. Röhl/H. Röhl behandeln unter „Normenlogik“ z. B. die Allgemeinheit des Gesetzes und Normwidersprüche (Fußn. 4), S. 151 ff., 161. K. Seelmann spricht vom Rechtssystem als „möglichst stimmigen, logischen Wertungs- und Geltungszusammenhang“ (Rechtsphilosophie3, 2004, § 2 Rz. 87). M. G. Singer nennt seine Schrift „Generalization in Ethics“ (1971) einen „Essay in the Logic of Ethics“ (s. Preface). Dazu auch P. Lorenzen, Normative Logic and Ethics, 1969; O. Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, 1973. 35 K. Röhl/H. Röhl (Fußn. 4), S. 151 ff.; J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 42 ff. 36 O. Weinberger, Rechtstheorie Bd. 8 (1977), 32 ff. 37 In Deutschland spricht man von der „Goldenen Regel“ und nicht vom „Goldenen Prinzip“ (trotz aller Grundsätzlichkeit).
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§ 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts
Zwischen das Prinzip und ausführende Regeln lassen sich terminologisch noch Subprinzipien schieben. Ein Eingehen auf weitere terminologische Differenzen (und sich daraus eventuell ergebende Weiterungen) verlangt mein Thema m. E. nicht. 38 Rechtsprinzipien sind notwendige Wertmaßstäbe, Fundamente der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit (Planbarkeit, Berechenbarkeit) und Vergleichsmaßstab für die Anwendung des Gleichheitssatzes. Sie verhindern fiskalisches Belieben. Die Besteuerung ist ein Freiheitseingriff, der gerecht und rechtssicher sein muss. „Freiheit“ – so Nobelpreisträger F. A. v. Hayek – „kann nur erhalten werden, wenn sie Prinzipien folgt, und sie wird zerstört, wenn sie der Zweckmäßigkeit folgt.“ 39 Ein Gesetzgeber, der zur Fütterung des Haushalts bald diese, bald jene Gruppe sonderbelastet oder sonderentlastet, handelt grundsätzlich rechtsprinzipienlos – willkürlich. Was für das Prinzipiengefüge des Steuerrechts gilt, muss für andere Rechtsbereiche nicht gelten, auch nicht für andere Bereiche des besonderen Verwaltungsrechts, wie z. B. Straßen- und Wegerecht, Beamtenrecht, überhaupt nicht für gerechtigkeitsfreie oder -ferne Rechtsbereiche. Sie sind jedenfalls von anderer Eigenart. Die Steuerrechtswissenschaft als Gerechtigkeitswissenschaft muss das steuerrechtliche Prinzipiengefüge grundsätzlich an der Gerechtigkeit ausrichten (s. S. 1247 ff.). Mit gerechtigkeitsfreien Rechtsbereichen ist das Steuerrecht nicht zu vergleichen. Die Gebote der Rechtslogik, die im Steuerrecht gelten, sollten allerdings entsprechend insbesondere auch im Sozialrecht anwendbar sein. 40
38 J. Englisch stellt seiner ausgezeichneten Habilitationsschrift ein Kapitel über die Lehre von den Rechtsprinzipien voran. Er behandelt die Theorien von C.-W. Canaris, R. Dworkin, R. Alexy und J.-R. Sieckmann und entwickelt nach einer kritischen Stellungnahme seinen eigenen Ansatz (s. Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 7 ff., 34 ff., 54 ff.). Über Regeln, Prinzipien und Werte als Strukturelemente des Rechts K. Röhl/H. Röhl (Fußn. 4), S. 288 ff.; D. Birk, in: Festschrift für H.“Schaumburg, 2009, S. 3, 66 ff. („Prinzipien und Regeln“), 18 („Prinzipien haben Leitfunktion“), und M. Mössner, Prinzipien im Steuerrecht, in: Festschrift für J. Lang, 2010, 83 ff. Mössner geht es vor allem um die Rechtsnatur der Prinzipien. An meiner Meinung, dass auch die Verfassung und einfache Gesetze Prinzipien normieren können (obwohl das Wort „Prinzip“ in der Gesetzessprache nicht verwendet wird), halte ich fest. 39 F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1 („Regeln und Ordnung“), S. 84. 40 S. auch J. Englisch, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 179.
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Verteilungsgerechtigkeit
4. Verteilungsgerechtigkeit als systembestimmend für die Steuerrechtswissenschaft Auch die Steuerrechtswissenschaft hat ihre Eigenart, ihr Proprium. 41 Da die Gesamtsteuerlast gerecht auf die einzelnen Steuerbürger aufgeteilt und verteilt werden muss, muss die Steuergerechtigkeit Gegenstand der Steuerrechtswissenschaft sein. So nennt K. Vogel die Steuerrechtswissenschaft denn auch ausdrücklich „Gerechtigkeitswissenschaft“. 42 Das System und die es tragenden Prinzipien müssen daher auf Gerechtigkeit hin geordnet sein, von ihr abgeleitet werden. Wenn ich M. Droege richtig verstehe, möchte er wohl, dass auch das Steuerrecht als gerechtigkeitsfrei nicht aus der Reihe tanzt; er meint, die Betonung von Prinzipien liege „in der Logik der Utopie“. 43 Soweit die Steuerrechtswissenschaft es mit der chaotischen Steuergesetzgebung zu tun hat, lässt sich auch von Steuerchaosforschung sprechen. D. Birk 44 weist zutreffend darauf hin, dass der Steuergerechtigkeit immer häufiger andere „Gerechtigkeiten“ entgegengesetzt werden, etwa die „Umweltgerechtigkeit“ (die Abschaffung der Pendlerpauschale soll der Umwelt dienen), die „Emanzipationsgerechtigkeit“ (sie soll einen ermäßigten Steuersatz für Frauen und die Abschaffung des Splittings rechtfertigen – zur Herstellung der Gleichberechtigung der Frau). Auch Lenkungszwecke lassen sich besonders wirkungsvoll mit der Berufung auf irgendeine Gerechtigkeit propagieren.
Wer einen Blick in die Lehrbücher anderer Rechtsgebiete wirft, dürfte erstaunt sein, dass die Gerechtigkeit darin keine oder keine besondere Rolle spielt, dass dieses Stichwort jedenfalls weithin nicht für wert befunden wird, ins Sachverzeichnis aufgenommen zu werden. 45 Die (Steuer-)Rechtswissenschaft trägt Verantwortung für den Steuergerechtigkeitsdiskurs. 46 Ich habe Kollegen erlebt, die lebhaft bestritten, dass die Steuergesetze etwas mit Recht und Gerechtigkeit zu tun haben könnten. Eine Beilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter41 M. Reimann spricht zutreffend von den „Propria der Rechtswissenschaft“, in: Das Proprium (Fußn. 10), S. 87, 98 f. 42 K. Vogel, JZ 1993, 1123. Hinweis auch auf J. Lang, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 1 Rz. 34 („Dadurch wird die Steuerrechtswissenschaft . . . notwendig zur Steuergerechtigkeitswissenschaft“.). S. auch schon K. Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981; ders., Steuergerechtigkeit . . ., StuW 2007, 201 ff.; R. Mateotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, Bern 2007. 43 StuW 2011, 105. Wie der Verfasser aber auch J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 371 f.; „Gesetzgebung als prinzipiengeleitete Rechtsfindung“. 44 D. Birk, in: Festschrift für H. Schaumburg, 2009, S. 3, 4 ff. 45 Dazu J. Braun (Fußn. 43), S. 358 ff. In Strafrechtslehrbüchern wird allerdings schon nach Strafgerechtigkeit gefragt und nach Antworten gesucht. 46 J. Lang, StuW 1989, 201, 204 ff.
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§ 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts
scheidet auch zwischen „Recht und Steuern“. Da viele Juristen wenig Ahnung vom Steuerrecht haben, gibt es ein Lehrbuch mit dem Titel „Steuerrecht für Juristen“. Könnte man sich ein Lehrbuch mit dem Titel „Recht für Juristen“ oder „Schuldrecht für Juristen“ vorstellen? Anders verhält es sich in der Gerechtigkeitsfrage allerdings mit Monographien und Lehrbüchern zur Rechtsphilosophie, zur Rechtstheorie, zur Allgemeinen Rechtslehre. In Wirklichkeit haben vor allem diese „Randfächer“ Wissenschaftscharakter. In der Ethik besteht Konsens darüber, dass Gerechtigkeit ein ganz besonders hoher ethischer Wert ist. Schon Augustinus hatte gefragt: „Setzt man die Gerechtigkeit beiseite, was sind dann Reiche (Staaten) anderes als große Räuberbanden?“ 47 Und I. Kant: „Die Gerechtigkeit hört auf, eine zu sein, wenn sie sich für irgendeinen Preis weggibt“. 48 Nach Ch. Perelman ist Gerechtigkeit das, „was es . . . in der Gesellschaft an Grundlegendstem und an Ehrwürdigstem unter den Begriffen gibt . . .“ 49 H. Ruh ordnet die Gerechtigkeit den Begriffen zu, „die für das menschliche Zusammenleben von vitalster Bedeutung sind.“ 50 Für H. Coing „steht unter den sittlichen Werten, die das Recht gestalten, der Wert der Gerechtigkeit oben an“. 51 Es besteht heute „Einigkeit darüber, dass die Gerechtigkeit einen positiven ethischen und sozialen Wert darstellt . . .“ 52 Nach Paul Kirchhof fordert Gerechtigkeit „dauernde, unverbrüchliche Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens“. 53 O. Höffe bezeichnet sie als „das grundlegende normative Prinzip des äußeren Zusammenlebens . . ., als das sittliche Ideal und Kriterium . . . selbst der Grundordnung einer politischen Gemeinschaft . . .“ 54 Kein Politiker bekennt sich zur Ungerechtigkeit, auch dann nicht, wenn er Klientelpolitik betreibt, sich für Privilegien seiner Klientel einsetzt. Einen wissenschaftlichen Wert erhält der Gerechtigkeitsbegriff aber erst, wenn es gelingt, ihn in möglichst sicherer Weise zu konkretisieren. Nur so kann Gerechtigkeit einigermaßen sicher von Ungerechtigkeit unterschieden werden. Gerechtigkeit darf danach nicht bloß als Ausdruck eines subjektiven, irrationalen Gefühls verstanden werden, 47 Augustinus, Vom Gottesstaat, IV 4. 48 Zitiert nach H. J. Neubauer, Hrsg., Mit Kant am Ast der Dummheit sägen, 2006, S. 125. 49 Ch. Perelman, Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 14. 50 H. Ruh, in: A. Wildermuth/A. Jäger (Hrsg.), Gerechtigkeit, 1981, S. 55. 51 H. Coing, (Fußn. 15), S. 184. 52 I. Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, 1977, S. 12. 53 P. Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, 2009, S. 10. 54 O. Höffe, Lexikon der Ethik7, 1977, S. 96; s. auch O. Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, 2001, S. 30 f. Über den Wert der Gerechtigkeit für die Gesellschaft auch der Sozialpolitiker Norbert Blüm, Gerechtigkeit. Eine Kritik des homo oeconomicus, 2006, S. 20 ff.
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Verteilungsgerechtigkeit
sie muss als möglichst rationales, intersubjektives Konstrukt begriffen werden. Nur Rationalität erlaubt den (begrenzten) wissenschaftlichen Umgang mit dem Gerechtigkeitsbegriff. Ein erster Schritt dahin besteht in der Erkenntnis, dass die Gleichbehandlung (wenn Gerechtigkeit sich in ihr nicht erschöpft) jedenfalls den Kern der Gerechtigkeit ausmacht. Ch. Perelman meint: „Die Gerechtigkeitsidee steckt . . . in einer gewissen Anwendung der Gleichheitsidee.“ 55 H. Ruh bezeichnet die Gleichheit als den „dominanten Akzent der Gerechtigkeit“. 56 Wie viele andere sieht I. Tammelo die Gleichheit als „Kern der Gerechtigkeit“ an. 57 O. Höffe formuliert: „Den Kern unserer Vorstellungen von Gerechtigkeit bleibt – neben den Ideen der unantastbaren Menschenwürde, der Freiheit und der Solidarität – das ethische Prinzip der Gleichheit . . .“ 58 Man spricht auch von Gleichgerechtigkeit. Die Gleichheit ist Ausfluss der Gerechtigkeit, nicht ist umgekehrt die Gerechtigkeit Ausfluss der Gleichheit. Gerechtigkeit ist der weitere Begriff. In der Gleichheit verkörpert sich aber Gerechtigkeit. „Die steuerliche Ungleichheit war das klassische Thema der frühen Anhänger des Gleichheitssatzes.“ 59 Heute ist die Steuergleichheit „das elementare Wesensgesetz des Steuerstaates“, 60 sie wird auch als die Magna Charta des Steuerrechts bezeichnet. 61 „Mit der Gleichheit“ – so J. Isensee – „steht und fällt die Steuer.“ 62 Gleichheit ist aber auch ein Wesenselement der Demokratie. Man hat sie auch „Rückgrat der Demokratie“ genannt. So ist es nicht erstaunlich, dass der Gleichheitssatz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine hervorragende Rolle spielt.
55 Ch. Perelman (Fußn. 49), S. 22. 56 In A. Wildermuth/A. Jäger (Hrsg.), Gerechtigkeit, 1981, S. 59. Hinzugefügt wird von H. Ruh: „Folgerichtig wurde dann Gerechtigkeit durch die abendländische Geistesgeschichte hindurch immer wieder gerade von den größten Geistern als Gleichheit interpretiert.“ 57 I. Tammelo (Fußn. 52), S. 76. An anderer Stelle (S. 45) vermerkt er, dass „Gleichheit ein Merkmal der Gerechtigkeit ist, spielt in der philosophischen Tradition eine auffallende Rolle . . .“. 58 O. Höffe, Lexikon der Ethik7, 2008, S. 98. Auch H. Coing erwähnt den „Gedanken der Gleichbehandlung für die Gerechtigkeit“. (H. Coing [Fußn. 15], S. 185). – Was man der „Gerechtigkeitsidee“, der „Rechtsidee“, der „Rechtsstaatsidee“ zurechnet, ist eine Frage der Terminologie, betrifft nicht die Inhaltsbestimmung der zuteilenden (Steuer-)Gerechtigkeit. 59 H. Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, UTB 1983, S. 51. 60 M. Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, S. 9. 61 J. Hey, StbJb. 2007/08, 33. 62 StuW 1994, 3, 7 re. Sp.
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§ 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts
Sowohl die Gerechtigkeit als auch die aus ihr abgeleitete Gleichbehandlung oder Gleichbelastung sind auf einen Maßstab – auf ein maßstäbliches Grund- oder Primärprinzip – sowie auf dieses konkretisierende Subprinzipien und Regeln angewiesen. Sie konstituieren das Gerechtigkeitssystem. Das ist allgemein anerkannt. 63 Das Gerechtigkeitsprinzip und der es konkretisierende Gleichheitssatz sind leer, solange sie nicht durch einen sachgerechten Maßstab ausgefüllt werden. 64 Prinzipienloses, regelloses Entscheiden ist willkürlich; Willkür ist der Gegensatz von Gerechtigkeit. 65
Exkurs Im Bundesstaat muss nicht nur die Gesamtsteuerlast nach einem gerechten Maßstab auf die leistungsfähigen Bürger verteilt werden; der Gesamtsteuerertrag muss auch gerecht auf den Bund und die Länder sowie die Kommunen verteilt werden. Dabei kann zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ein solidarischer Finanzausgleich beschlossen werden, der die ärmeren Länder (Nehmerländer) zu Lasten der reicheren Länder (Geberländer) begünstigt. Über den Ausgleichsmaßstab lässt sich mit unterschiedlichen Argumenten streiten. Jedenfalls lässt sich von einer Transfergemeinschaft sprechen. Eine Transfergemeinschaft bilden auch die Staaten der Europäischen Union. Infolge der solidarischen Verteilung gibt es zurzeit elf Nettozahler (Geberländer) und nach der Osterweiterung elf Nettoempfänger 63 H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1977, S. 401 f., 404 („Gerechtigkeit verlangt Sich-Festlegen durch ein sachliches Maß, regellos zu verfahren ist ungerecht.“); Ch. Perelman (Fußn. 49), S. 57 („Gerecht sein heißt eine Regel anwenden.“), 59 („Die Gerechtigkeit ist ohne Regeln unbegreiflich. Sie bedeutet Treue der Regel und Gehorsam dem System gegenüber.“); B. Brülisauer, Die Idee der Gerechtigkeit, in: D. Christoff/H. Saner (Red.), Studia philosophia Vol. 38, 1979, S. 221 („alle sind sich darin einig: Gerecht sein heißt eine Regel anwenden“); I. Tammelo (Fußn. 52), S. 42 („Aus der Ideengeschichte über die Gerechtigkeit geht hervor . . ., dass die menschlichen Verhältnisse nur dann als gerecht qualifiziert werden, wenn sie an Prinzipien oder Regeln gemessen werden, das gerechte Verhalten ist ein regelhaftes – es hält sich an Regeln und Kriterien.“), S. 57 („Diese Prinzipien sind die Kriterien der Gerechtigkeit.“); F. A. v. Hayek, Recht, Gerechtigkeit und Freiheit Bd. 1: Regeln und Ordnung, 1980, S. 129 („ob sie aus einer universalen Regel gerechten Verhaltens besteht.“), 173 (Gesetzgebung als die „Feststellung von universalen Regeln gerechten Verhaltens.“). 64 L. Osterloh, Grundgesetz – Komm.2, hrsg. von M. Sachs, 1999, Art. 3 Rn. 5; R. Mellinghoff, in: Festschrift für P. Bareis, 2005, S. 176. 65 Dazu zum Steuerrecht auch J. Lang, StuW 2006, 22, 24 f.: „Verankerung von Steuergerechtigkeit im Gleichheitssatz“.
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(Nehmerländer). Nehmerländer sind seit jeher Spanien, Portugal, Griechenland und Irland. Der Wirtschaftsprofessor F.-U. Willeke hält den Verteilungsmaßstab zu Lasten Deutschlands und die Begünstigung Großbritanniens für ungerecht. Er spricht von der „Ausplünderung Deutschlands, die so nicht weitergehen kann“. 66
5. Wissenschaftskriterien der Rechts- oder Wertungslogik – angelegt auch im Gleichheitssatz 5.1 Das Leistungsfähigkeitsprinzip als grundlegender Steuergerechtigkeitsmaßstab K.-D. Drüen stellt zutreffend fest: „Aus der Gerechtigkeitsidee lässt sich keinesfalls punktgenau ableiten, welchen Beitrag der einzelne Steuerpflichtige durch welche einzelnen Steuern zum Steueraufkommen beitragen soll.“ 67 „Gerechtigkeit“ ist in der Tat ein unbestimmter, konkretisierungsbedürftiger Begriff. Auch das politische Schlagwort bleibt i. d. R. unbestimmt (z. B.: Die stärkeren Schultern müssen mehr tragen als die schwächeren). Geisteswissenschaften (wie die Rechtswissenschaft) sind nicht per se Wissenschaften. Die Steuerrechtswissenschaft als Gerechtigkeitswissenschaft wird es dadurch, dass sie mit möglichst rationalen Kriterien bestimmt, was der Inhalt der Steuergerechtigkeit ist. Dass dadurch nicht die Exaktheit und Präzision der Naturwissenschaften erreicht wird, liegt in der Natur von Wertungswissenschaften. Die Rechts-, Norm- oder Wertungslogik ist keine exakte Logik. Aber mit ihr kann doch ein Entscheiden nach Gutdünken oder Belieben, nach politischer Opportunität ausgeschaltet werden. Würde das nicht erreicht, so handelte es sich in der Tat um eine Pseudowissenschaft. Gerechtigkeit und die aus ihr folgende Gleichheit 68 benötigen als sachgerechtes Fundament einen grundlegenden Wertmaßstab, ein wertendes Grund-, Primär- oder Ausgangsprinzip 69 als Vergleichsmaßstab (tertium comparationis) für die Anwendung des Gleichheitssatzes. 70 J. Englisch formuliert es so: Es „gibt Art. 3 I GG nicht selbst den Maßstab vor, an dem ein Gebot sachgerechter Gleichbehandlung oder Un66 F.-U. Willeke, Deutschland, Zahlmeister der EU. Abrechnung mit einer ungerechten Lastenverteilung, 2011; über Ausplünderung S. 120 ff., 122. 67 In: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 196. 68 Dazu in diesem Band S. 1245, 1249. 69 J. Englisch (Fußn. 38) bevorzugt den Begriff „Leitprinzip“ oder (gelegentlich) „Leitwertung“ (s. z. B. S. 36, 93, 133, 135, 399, 402, 407, 410, 413). 70 So auch D. Birk, Steuerrecht12, 2009, Rz. 187; L. Osterloh (Fußn. 64), Rz. 134; R. Mellinghoff (Fußn. 64), S. 176 f.; J. Lang, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Rz. 70 ff.
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gleichbehandlung auszurichten ist. Da es sich um ein Gerechtigkeitsgleichmaß handeln muss, steht die Auswahl aber auch nicht im Belieben des Gesetzgebers. Der Maßstab muss vielmehr nach rechtsethischer Wertung ein gerechter sein . . . Je nach Regelungsbereich werden unterschiedliche Gerechtigkeitsideale dem Gerechtigkeitsempfinden der Rechtsgemeinschaft entsprechen.“ 71 Es ist weltweit anerkannt, 72 dass für den Bereich des Fiskal-Steuerrechts das Leistungsfähigkeitsprinzip der grundlegende sachgerechte Wertmaßstab, das Ausgangs- oder Leitprinzip sein sollte. 73 Auch das Bundesfinanzministerium bekennt sich verbal zum „Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“ als „zentraler Leitlinie für die gerechte Verteilung der steuerlichen Lasten auf die Bürger“. 74 Aber es gibt auch Lippenbekenntnisse. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist kein Axiom. Es ist auch nicht das Ergebnis bloßer Dezision. Es ist nicht zu ersetzen, weil das Kopfsteuerprinzip und das Äquivalenzprinzip nicht im Sinne des Sozialstaatsprinzips und des verfassungsrechtlichen Schutzes des Existenzminimums verallgemeinerungsfähig sind. Das Leistungsfähigkeitsprinzip hingegen nimmt darauf Rücksicht. 75 Es ist „alternativlos“. 76 Gemessen wird nicht die Leistung (soll heißen: die körperliche oder geistige Anstrengung und ihre Dauer), sondern die finanzielle Leistungsfähigkeit. Leistungsfähigkeit kommt, wenn auch nicht immer, durch Leistung zustande. Diese kann einfach sein, aber auch körperlich oder 71 J. Englisch (Fußn. 38), S. 84, So auch schon K. Tipke, Steuergerechtigkeit, 1981, S. 11 ff.; ders., Steuerrechtsordnung Bd. I2, 2000, S. 261 ff., 273 ff.; J. Lang, in: K. Tipke/J. Lang (Fußn. 70), § 4 Rz. 76 f. 72 Bd. I2, 2000, S. 488 ff. 73 Dazu D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983; ders. (Fußn. 70), Rz. 188; K. Tipke, Steuerrechtsordnung Bd. I2, 2000, S. 471; J. Lang, Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 313 ff.; J. Englisch (Fußn. 38), S. 563 ff. L. Osterloh (Fußn. 64), Rz. 134; R. Mellinghoff (Fußn. 64), S. 177. Für den Bereich der Lenkungsteuern nimmt J. Englisch eine „Zurückdrängung des Leistungsfähigkeitsprinzips“ an (a. a. O. S. 617 ff.); so auch schon J. Lang, DStJG Bd. 15 (1995), 113, 126 f. – Nicht einbezogen ist hier das internationale Steuerrecht (dazu H. Schaumburg, StuW 2000, 369 ff.; ders. StuW 2005, 306 ff.; J. Lang, in: Festschrift für H. Schaumburg, 2009, S. 45 ff.). Ausländische Literatur: A. Steichen, Manuel de droit fiscal4, Tome2, Luxembourg 2004, Index alphabetique, Capacité contributive; R. Mateotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, Bern 2007, S. 24 ff.; M. Reich, Steuerrecht, Zürich u. a. 2009, S. 85 ff.; P. Herrera Molina, Capacidad económica y sistema fiscal, Madrid 1998; G. Alarcón Garcia, Sistema fiscal español, Madrid 2005, S. 33 („Principio de capacidad contributiva“). Weitere Nachweise in Fußn. 80. 74 BT-Drucks. 17/2895, S. 3. 75 S. auch J. Englisch (Fußn. 38), S. 577 ff., 594. 76 J. Englisch, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 173.
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geistig besonders schwer sein, sie kann schmutzig sein oder mit besonderen Gefahren verbunden, sie kann zu ungewöhnlichen Zeiten verrichtet werden müssen. Das Gesetz nimmt darauf grundsätzlich keine Rücksicht, denn die Ermittlung der Modalitäten der Leistung würde die Finanzämter gänzlich überfordern. Dasselbe lässt sich von der Dauer der Tätigkeit sagen. Es ist z. B. bekannt, dass im Durchschnitt Landwirte und Freiberufler länger arbeiten als Arbeitnehmer. Aber die individuelle Arbeitszeit von Unternehmern lässt sich schwerlich ermitteln. Wer finanziell nicht leistungsfähig ist, sich selbst nichts leisten kann, kann auch an die Gemeinschaft nichts leisten. Ethiker mögen vermissen, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht berücksichtigt, warum jemand nicht leistungsfähig ist. Aber: Leistungsfähigkeit ist eine IstGröße. Soll-Leistungsfähigkeit lässt sich nicht gleichmäßig erfassen. Die Folgen des Leistungsfähigkeitsprinzips sind tragbar. Dieses Prinzip lässt sich, wenn bei Bedarf typisiert wird, auch praktizieren. Es hat sich praktisch bewährt. Gleichwohl, das Leistungsfähigkeitsprinzip muss möglichst moralisch verstanden werden, nicht primär-fiskalisch als ein: „Wir holen uns die Steuern da, wo etwas zu holen ist, nämlich bei denen, die so dumm sind, zu arbeiten und zu sparen.“ Das Leistungsfähigkeitsprinzip sollte für alle Fiskalzwecksteuern das fundamentale Wertungsprinzip und Träger eines monistischen Systems sein. 77 Der Einwand, das Leistungsfähigkeitsprinzip sei zu unbestimmt, ist durch Konkretisierung widerlegt worden. J. Lang hat dazu durch seine Habilitationsschrift 78 und durch seine Gesetzentwürfe einen großen Beitrag geleistet. Schwieriger zu konkretisieren als das Leistungsfähigkeitsprinzip ist das Rechtsstaatsprinzip. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist auch bestimmter als vage politische Parolen wie „Die starken Schultern müssen mehr tragen als die schwachen.“ Aus den USA stammende, vom Boulevard gern aufgegriffene Thesen wie „Die körperlich Großen und die Schönen, die Hemmungslosen und die Schlauen müssten einen Zuschlag zahlen, da sie berufliche Vorteile hätten“, sind nicht ernst zu nehmen. Trotz mehr als hundertjährigen Bemühens um den Inhalt des Leistungsfähigkeitsprinzips herrscht an seinen Rändern allerdings noch nicht in allen Fragen Übereinstimmung. 79 Durchweg beschäftigen diese Fragen aber hauptsächlich die Theorie, kaum die Praxis der Verwaltung und Rechtsprechung. Nicht selten rühren divergierende Ableitungen daher, dass gegen die Ableitungslogik (s. 5.2) verstoßen wird. 77 Lenkungsnormen und Lenkungsteuern fallen aus diesem System heraus. 78 J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88. 79 Dazu K. Tipke, Steuerrechtsordnung (Fußn. 32), S. 512 ff. („inhaltliche Sonderfragen“).
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Das Leistungsfähigkeitsprinzip hat nicht nur im deutschen Steuerrechtskreis, 80 sondern in der ganzen Welt 81 Zustimmung gefunden. Während das Leistungsfähigkeitsprinzip in Art. 134 der Weimarer Verfassung ausdrücklich verankert war, 82 fehlt eine solche Vorschrift im Grundgesetz. Das hat die Nachkriegs-Staats- und Steuerrechtslehre aber nicht daran gehindert, das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht nur als Vergleichsmaßstab für den Gleichheitssatz einzuführen, sondern auch bei der Gesetzesauslegung zu berücksichtigen. Störend ist, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip auf siebenerlei Weise gerechtfertigt wird. 83 Dass das unbestimmte Leistungsfähigkeitsprinzip konkretisiert werden muss, liegt auf der Hand. Das Leistungsfähigkeitsprinzip muss – zu Ende gedacht – alle Fiskalzwecksteuern erfassen. P. Kirchhof gründet seinen Bundessteuergesetzbuch-Entwurf von 2011 auf das Leistungsfähigkeitsprinzip. In § 1 I 2 des Entwurfs heißt es: „Eine Steuer belastet die finanzielle Leistungsfähigkeit des Betroffenen.“ Das nimmt P. Kirchhof für die Einkommensteuer (mit integrierter Körperschaftsteuer), die Erbschaft- und Schenkungsteuer und die Umsatzsteuer) an (s. §§ 2, 6, 7 des Entwurfs): Alle anderen Steuern des geltenden Rechts werden nicht fortgeführt, soweit sie nicht in die Einkommen- und Umsatzsteuer integriert werden. P. Kirchhof knüpft zu Recht nicht an den Steuerkatalog der Art. 105, 106 an, weil eben nicht alle von diesen Artikeln erfassten Steuern dem Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit entsprechen, daher nicht zu rechtfertigen sind. In Bd. II dieses Werkes von 2003, in dem ich alle Steuern auf ihre Rechtfertigung untersucht habe, bin ich zu dem glei80 Victor Thuronyi ordnet dem deutschen Steuerrechtskreis zu: das Steuerrecht von Deutschland, Österreich, Schweiz, Luxemburg (Tax Law Design and Drafting Vol. 1, 1996). Zum Leistungsfähigkeitsprinzip in Österreich W. Doralt/H. G. Ruppe, Steuerrecht I9, 2007, Rz. 25 f.; R. Beiser, Steuerrecht, 2004, S. 25 ff.; in der Schweiz M. Reich, Steuerrecht, 2009, § 10 Rz. 39 ff., 46 ff., § 12 Rz. 40; § 13 Rz. 248 ff., 269 f.; R. Mateotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, 2007, S. 31 ff., 357; in Luxemburg A. Steichen, Manuel de droit fiscal3, 2006, S. 105, 106 („le fils rouge du droit fiscal doit être guidé par une idée directrice“), 214 ff. („le principe de capacité contributive“). 81 K. Tipke, Europäisches Steuerverfassungsrecht, in: Festschrift für K. Vogel, 2000, S. 561 ff.; ders., Steuerrechtsordnung Bd. I2, 2000, S. 488 ff. 82 Dazu ausführlich A. Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers, VJSchrStFR 1930, S. 441–493, nachgedruckt in: R. Reimer/ Chr. Waldhoff (Hrsg.), Albert Hensel, 2000, S. 245–298. 83 Dazu mit Recht kritisch J. Englisch (Fußn. 38), S. 572 ff. Er lehnt es zutreffend ab, das Leistungsfähigkeitsprinzip aus Art. 106 GG abzuleiten. Nicht allen von Art. 106 GG erfassten Steuern liegt das Leistungsfähigkeitsprinzip wirklich zugrunde. Dieses Prinzip darf nicht so zurecht gebogen werden, dass es zu allen Steuern passt.
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chen Ergebnis gekommen wie jetzt P. Kirchhof in seinem Steuergesetzbuch-Entwurf (s. Erläuterung zu § 2 SteuGB-E Kirchhof Rz. 13 ff.). Das Bundesverfassungsgericht sollte seine Auffassung, dass alle von den Art. 105, 106 GG erfassten Steuern als solche für das Gericht tabu seien, aufgeben (dazu S. 1553 ff.). Dann könnte auch die die Sparer benachteiligende Vermögensteuer ohne Rücksicht auf Art. 106 II Nr. 1 GG auf ihre Rechtfertigung geprüft werden. Das Leistungsfähigkeitsprinzip sollte m. E. nicht in einem einfachen Gesetz, sondern in der Verfassung verankert werden. Im Übrigen muss das Leistungsfähigkeitsprinzip durch Unterprinzipien und Regeln verallgemeinernd, folgerichtig und widerspruchsfrei umgesetzt werden. 84 Das verlangt die Wissenschaftlichkeit. 85 Die vom Gewerbesteuergesetz angeordneten Hinzurechnungen sind mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht vereinbar. 86 Sie sind eine fiskalische Erfindung zugunsten der Kommunen. Bei periodischen Steuern wird i. d. R. die Leistungsfähigkeit eines Jahres erfasst. P. Kirchhof hält die Annuität nicht bloß für eine technische Regel, sondern für „Gerechtigkeit in der Zeit“. 87 Gerecht ist aber nur der Maßstab des Lebenseinkommens. Die strikte Periodisierung schließt eine periodenübergreifende Durchschnittsbesteuerung, auch einen Verlustrück- und -vortrag sowie eine Progressionsglättung aus. Nach geltendem Recht diskriminiert die Besteuerung der Kapitaleinkünfte diejenigen Steuerpflichtigen, die bei gleichem Lebenseinkommen den Zukunftskonsum präferieren. Die Periodenbesteuerung bewirkt bei investiertem Einkommen einen gehörigen Anstieg der Steuerlast. Das ist unter dem Lebenseinkommensaspekt nicht folgerichtig. 88 Über die Lebenszeit-Gerechtigkeit hinaus greift die Generationen-Gerechtigkeit. Sie wird u. a. verletzt durch eine übermäßige Staatsverschuldung zu Lasten künftiger Generationen. Das verstößt – wie jedes Handeln zu Lasten anderer – gegen die Ethik. Mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist der Generationen-Ungerechtigkeit aber nicht bei84 S. auch J. Englisch (Fußn. 38), S. 147. 85 Auch M. Jestaedt spricht von den „Wissenschaftskriterien der Konsequenz und Konsistenz“ (in: Das Proprium [Fußn. 10]), S. 271. 86 S. auch Fußn. 107. 87 StuW 2002, 165 ff.; Festschrift für J. Lang, 2010, S. 475 ff. S. jetzt aber § 50 SteuGB-E P. Kirchhof. 88 Dazu J. Lang, DStJG Bd. 24 (2000), 49, 63 ff.; ders., in: Festschrift für M. Rose, 2003, S. 325 ff.; ders., in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Rz. 120; § 8 Rz. 33; § 9 Rz. 44, 503 f. – Aus ökonomischer Sicht M. Rose (Hrsg.), Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, 2002; H.-G. Petersen, Globalisation, Capital Income Taxation and Capital Flight, in: Tax Notes International Vo. 4; s. auch ders., in: Festschrift für R. Peffekoven, 2003, S. 44 ff.
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zukommen. Aber auch ein Staat hat nicht das Recht, etwas zu tun, was künftigen Generationen schadet. Künftige Generationen können Staatsschulden, die die Vorfahren ihnen hinterlassen, nicht ausschlagen; sie müssen sie abarbeiten, ungerechterweise. Die Frage, ob Steuern auch am Äquivalenzprinzip orientiert werden dürfen, ist zu verneinen. 89 Das Äquivalenzprinzip schützt das Existenzminimum nicht, entspricht nicht dem Steuerbegriff (§ 3 I AO), wohl aber dem Begriff der Kausalabgaben (Gebühren, Beiträge). Joachim Langs wissenschaftliches Schaffen war und ist dem Leistungsfähigkeitsprinzip als dem Leitprinzip des Steuerrechts gewidmet. In jüngerer Zeit hat er sich aber für eine Ergänzung des Leistungsfähigkeitsprinzips durch das von Finanzwissenschaftlern präferierte Äquivalenzprinzip ausgesprochen, das er als Nutzenprinzip versteht. Abgeschöpft werden soll der aus staatlichen Leistungen gezogene Nutzen. 90 J. Hey hat inzwischen den „Nutzen des Nutzenprinzips“ für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung genau und umfassend untersucht. 91 Ihr Ergebnis: Im Bereich der direkten Steuern kommt das Nutzenprinzip zum Tragen bei der räumlichen Zuordnung der Besteuerungsrechte auf die Steuerberechtigten. 92 Für die Umsatzsteuer ist das Nutzenprinzip unergiebig. Was die Verteilung der Gesamtsteuerlast auf die Steuerpflichtigen betrifft, so muss es bei der Orientierung am Leistungsfähigkeitsprinzip verbleiben. Es ist daher nicht zu sehen, welches andere grundlegende Prinzip im Steuerrecht an die Stelle des Leistungsfähigkeitsprinzips und den folgerichtigen Ableitungen aus ihm treten könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in seiner Entscheidung zur Pendlerpauschale herausgestellt, dass ein System- oder Prinzipienwechsel auch die Folgerichtigkeit beeinflussen könnte, 93 es hat aber offen gelassen, um welches Alternativsystem es sich handeln könnte. Der Hinweis auf die Möglichkeit eines Systemwechsels, den ein Steuerrechtslaie für möglich halten mag, verunsichert nur. Er verunsichert vor allem die Verfassungsrechtsprechungspositivisten, die meinen, nur das denken zu dürfen und das denken zu müssen, was Verfassungsrichter (auch wenn sie keine Steuerjuristen sind) vorgedacht haben. 89 Schon A. Hensel hatte diese Frage verneint (VJSchrStFR 1930, 448). 90 S. K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Rz. 86 ff.; J. Lang, Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 313 ff. 91 Festschrift für J. Lang, 2010, S. 133 ff. 92 Das betrifft die internationale Zuordnung und Verteilung der Besteuerungsrechte sowie die kommunale Steuerhoheit, insbesondere die Gewerbesteuerzerlegung und den Finanzausgleich (J. Hey, Fußn. 91, S. 133 ff., 165). 93 BVerfGE 120, 210, 234; dazu K.-D. Drüen, Ubg 2009, 23, 26 f.
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Die Juristen haben viel Mühe darauf verwendet, Steuern (für die das Leistungsfähigkeitsprinzip gilt) und Vorzugslasten (Gebühren/Beiträge) begrifflich voneinander abzugrenzen. Wichtiger als die Begrifflichkeit ist aber die Frage: Unter welchen Voraussetzungen ist die Steuer, unter welchen Voraussetzungen eine Vorzugslast gerechtfertigt? Wenn man davon ausgeht, dass nicht beliebig zwischen Steuern und Vorzugslasten gewählt werden kann: Welche Kriterien bestimmen dann die Auswahl? Oder dürfte z. B. anstelle einer Müllabfuhrgebühr ohne Weiteres auch eine (progressive) Müllabfuhrsteuer erhoben werden? Darüber ist bisher wenig nachgedacht worden. Es ist m. E. jedenfalls nicht die angemessenste Lösung, alle Leistungsfähigen für alles zahlen zu lassen. Geht es um Vorteile, die nur einzelnen Gruppen zugute kommen und ihnen auch zugerechnet werden können, so kann es m. E. durchaus sachgerecht sein, nur diese Gruppen zu belasten, statt alle Steuerbürger heranzuziehen. Entstehen durch das Verhalten einzelner Gruppen Kosten, so kann es allein sachgerecht sein, die Kosten von der Gruppe statt von der Allgemeinheit der Steuerzahler tragen zu lassen. P. Kirchhof möchte „bei allen individuell empfangenen Staatsleistungen eine Gebührenfinanzierung vorziehen, die Steuerfinanzierung also auf die nicht individualisierbaren Staatsleistungen . . . beschränken . . .“ 94 Dahin tendiert auch der Soziologe P. Nolte. 95 Schon seit Jahrzehnten ist immer wieder einmal vorgeschlagen oder gefordert worden, dass die Kosten der Polizeieinsätze bei großen Events wie Fußballspielen, Formel 1-Rennen, Popkonzerten statt von der Allgemeinheit der Steuerzahler von den Veranstaltern übernommen werden sollten. Die Polizeieinsätze sind notwendig, weil Fans (Hooligans, Chaoten, Rowdys, Rocker) solche Events immer wieder als Bühne für Gewaltexzesse benutzen. Während im Allgemeinen die Fans gegnerischer Mannschaften aufeinander einprügeln, ist es durchaus nicht ungewöhnlich, dass die Fans sich gemeinsam gegen die Polizei wenden, die Polizei zum gemeinsamen Feindbild wählen. Da Fans (unter ihnen Kriminelle, brutale Schläger, Randalierer) keine brave Bürgerbewegung sind, attackieren und verletzen sie immer wieder auch Polizisten. Warum sollen die Steuerzahler statt der Veranstalter für die Polizeikosten aufkommen? Obwohl sich Psychologen und Soziologen und speziell Gewaltforscher, Fanforscher, Fanbeauftragte mit den Ursachen der Gewaltexzesse befassen, nimmt die Gewalt immer weiter zu. Selbst beim Fußball viert- und fünfklassiger Fußballmannschaften sind Schlägereien keine Seltenheit mehr. Die Kritik an der Polizei durch „Experten“ ist vielfältig: Die Polizei erst provoziere die Gewalt; statt zu deeskalieren, setze sie repressive Mittel ein. Die Fans dürften nicht als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Stadion- und Alkoholverbote seien nicht hilfreich. Frustrierte Fans benötigten ein Ventil. Den Vorschlag, die Polizeikosten von den Veranstaltern statt von den Steuerzahlern tragen zu lassen, lehnen die Sicherheitsbeauftragten des Deutschen 94 P. Kirchhof, Der Verlust der Freiheit, 2004, S. 71. 95 P. Nolte, Generation Reform 2004, S. 188 ff.
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§ 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts Fußballbundes und die Deutsche Fußballliga, auch sog. Fanmanager, ab. Allerdings dürften nicht nur Fußballspiele erfasst werden, sondern auch andere Events, die Polizeieinsätze erforderlich machen. Die Veranstalter – auch hochprofitable Clubs – brauchen sich keine Sorgen zu machen. Die Politik, vielfältig mit dem Sport verbandelt, will keine sachliche Entscheidung, sondern „Brot und Spiele“ bieten, nicht aber die Fans der Spiele verärgern. Diese zahlen zwar – wenn überhaupt – durchweg wenig Steuern; sie sind aber Wähler. Und die deutschen Steuerzahler sind geduldig. 96
Da Gerechtigkeit auf sachgerechten Prinzipien und Regeln basiert werden muss, muss auch der rechtsstaatliche, der Gerechtigkeit verpflichtete Gesetzgeber sich an solche Prinzipien und Regeln halten. Da Prinzipien und Regeln Träger eines Systems sind, muss der Gesetzgeber – mit anderen Worten – ein System errichten und sich daran halten. 97 In der Realität wird anders verfahren. Dass gerechte Verteilung einen sachgerechten Maßstab benötigt, gilt im Bundesstaat auch für den Finanzausgleich zwischen Geber- und Nehmerländern, in der Europäischen Union auch für den Finanzausgleich zwischen Nettozahlerländern und Nettoempfängerländern. 98 5.2 Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips durch Gebote der Rechts- oder Wertungslogik Die Anwendung der Rechts- oder Wertungslogik – bestehend in Verallgemeinerung, Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit – führt zu einem geschlossenen Denk- oder Gedankensystem, das dem Gleichheitssatz entspricht. 99 Auch die Gerechtigkeitsfrage lässt sich rechtswissenschaftlich nicht mit Leidenschaft und rhetorischem Pathos lösen, sondern nur mit rationalen Mitteln. Auch die Steuerpolitik muss sich an die Regeln des Rationalen, an die Regeln der Rechtslogik halten, da sie an den Gleichheitssatz gebunden ist. Es ist etwas nicht schon deshalb gerecht, weil es von einer Parlamentsmehrheit beschlossen worden ist. Das Leistungsfähigkeitsprinzip kann nicht heu96 Ein sehr ausführlicher, sachlicher Beitrag über die Kostenpflicht für Polizeieinsätze aus Anlass privater Veranstaltungen findet sich schon in VerwArch. 1982, 167 ff. 97 Abweichend K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, in: Festschrift für W. Spindler, 2011, S. 29 ff. (der den Wert des Systemdenkens für die Gesetzgebung und die Gesetzesanwendung jedoch durchaus erkennt (s. S. 48 ff.). 98 Dazu F.-U. Willeke, Deutschland – Zahlmeister der EU. Abrechnung mit einer ungerechten Lastenverteilung, 2011. 99 Th. Mayer-Maly stellte schon 1982 fest: Die Aufgabe der Kodifikation „zielt vor allem auf den Nachweis der Folgerichtigkeit, der Widerspruchsfreiheit und damit der Überzeugungskraft einer Rechtsordnung“ ab (in: Rechtstheorie 1982, Beiheft 4, S. 206).
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te diesen und morgen jenen Inhalt haben, erst recht nicht alsbald gar einen gegenteiligen Inhalt. So versteht wohl auch P. Kirchof seine „Gerechtigkeit in der Zeit“ nicht. So wie das Leistungsfähigkeitsprinzip zu hinreichend gewichtigen Gemeinwohlzwecken durchbrochen werden darf, so gilt das auch für die konkretisierenden Gebote der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit. Obwohl die drei Gebote oder Komponenten der Rechts- oder Wertungslogik hier voneinander getrennt werden: Die Verallgemeinerung ist auch ein Akt (besonderer) Folgerichtigkeit. Die Folgerichtigkeit leistet auch einen Beitrag zur Widerspruchsfreiheit. 5.21 Das Gebot der Verallgemeinerung Das ethische Gebot der Verallgemeinerung 100 verlangt, dass Prinzipien (und Regeln) grundsätzlich zu Ende gedacht werden. Die Verallgemeinerung oder Allgemeinheit ist dem Begriff des Prinzips bereits inhärent. Das „allgemeine Prinzip“ ist ein Pleonasmus. Der Gegenwarts(Steuer-)Gesetzgeber denkt Prinzipien allerdings selten zu Ende. Das verletzt grundsätzlich den Gleichheitssatz. 101 Das Gebot der Verallgemeinerung wird grundsätzlich verletzt, wenn nur eine Gruppe von Steuerbürgern (etwa Gewerbetreibende, nicht andere Unternehmer), nur eine einzelne Einkunftsart oder Einkunftsmodalität, eine einzelne Vermögensart, ein einzelnes Wirtschaftsgut, eine einzelne Aufwendungsart erfasst wird. 102 In der Geschichte des Steuerrechts sind durchaus Fortschritte in Verallgemeinerung gemacht worden. Einzelne Ertragsteuern sind durch die (synthetische) Einkommensteuer ersetzt worden, die vielen Spezialakzisen durch die allgemeine Umsatzsteuer. Jedoch hat man aus fiskalischen Gründen neben den allgemeinen Steuern an Realsteuern und etlichen besonderen Verbrauchsteuern festgehalten. Das verallgemeinerte Leistungsfähigkeitsprinzip hätte allen (Fiskalzweck-)Steuern zugrunde gelegt werden müssen. Unbestritten liegt das Leistungsfähigkeitsprinzip aber nur der Einkommensteuer, 103 der 100 Dazu M. G. Singer, Generalization in Ethics, New York 1971 (S. 41: „the generalization principle is involved in every moral judgment“; S. 34: „moral judgments presuppose generalization principle“). 101 Hinweis auch auf P. Holländer, Abriss einer Rechtsphilosophie, 2003: „Gleichheit durch Allgemeinheit“). 102 Zustimmend G. Kirchhof, Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 541. 103 Dazu J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, S. 97 ff.
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Körperschaftsteuer und der Erbschaftsteuer 104 zu Grunde. Die Zweifel, ob die Umsatzsteuer vom Leistungsfähigkeitsprinzip getragen wird, dürften durch J. Englisch ausgeräumt worden sein. 105 Ob eine allgemeine Vermögensteuer in einem kohärent vom Leistungsfähigkeitsprinzip fundierten Steuersystem untergebracht werden kann, ist umstritten. 106 Die Grundsteuer ist eine auf eine Vermögensart beschränkte, an den Grundstücks-Sollertrag anknüpfende Teil-Vermögensteuer. Dass mit dem Grundstück zusammenhängende Verbindlichkeiten nicht abgezogen werden können, widerspricht dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Nachdem der Bundesfinanzhof die Bewertung der Grundstücke mit gänzlich antiquierten Werten beanstandet hat, sucht man nach einer anderen Bewertungsmethode. Ihre Einführung würde aber nichts daran ändern, dass eine Grundsteuer das Gebot der Verallgemeinerung verletzt, solange andere Vermögensarten nicht belastet werden. Der Gesetzgeber wird sich auf Art. 106 VI 1 GG berufen, nach meiner Ansicht zu Unrecht (s. S. 1552 ff.). Solange neben der allgemeinen Vermögensteuer noch eine Grundsteuer (Grundvermögensteuer) erhoben wurde, wurde der Gleichheitssatz zu Lasten der Grundeigentümer verletzt. Nun wird er dadurch verletzt, dass nur ein Teil des Vermögens, das Grundvermögen, sonderbelastet wird. Wer das durch Art. 106 GG rechtfertigen will, hält die Organisationsvorschrift für stärker als die Grundrechte der Verfassung. Die Gewerbesteuer mit ihren Hinzurechnungen lässt sich weder mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip noch mit dem Äquivalenzprinzip rechtfertigen. 107 Die Erfassung nur der Gewerbebetriebe verletzt ebenfalls das Verallgemeinerungsgebot. Als letzte Steuer auf Genussmittel wird noch die Kaffeesteuer erhoben. Abgesehen davon, dass der Kaffeeverbrauch keine besondere Leistungsfähigkeit (neben der bereits umsatzsteuerrechtlich erfassten Leistungsfähigkeit) erkennen lässt: Es müssten verallgemeinernd alle Genussmittel speziell besteuert werden. 108 104 R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 13 Rz. 102. 105 J. Englisch (Fußn. 38), S. 563 f., 583 ff. 106 Ablehnend K. Tipke, Steuerrechtsordnung (Fußn. 30), S. 922 ff.; kritisch J. Lang, in: K. Tipke/J. Lang (Fußn. 104), § 4 Rz. 101 ff.; Bedenken hat auch J. Englisch (Fußn. 38), S. 581. 107 J. Lang (Fußn. 30), § 8 Rz. 36, 37. Auch P. Kirchhof hat in seinen Steuergesetzbuch-Entwurf keine Grundsteuer (s. § 2 Rz. 33–37) und keine Gewerbesteuer (s. Leitgedanken Rz. 64–69) aufgenommen. Hinweis auch auf Chr. Dorenkamp, Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 781 ff.; ferner auf H.-J. Pezzer, Besteuerung der freien Berufe, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 491, 505 ff., 510. 108 Zustimmend J. Englisch (Fußn. 38), S. 611, 628; G. Kirchhof (Fußn. 102), S. 541.
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Rechts- oder Wertungslogik – auch Gleichheitssatz
In den Gesetzen über kommunale Verbrauch- und Aufwandsteuern ist keine „Steueridee“ zu Ende gedacht worden. J. Lang spricht von einem „Konglomerat, dessen Willkür nicht zu rechtfertigen ist“, 109 J. Englisch von einem „fragmentierten Steuerkonglomerat“, das „weder Rationalitätspostulaten noch gleichheitsrechtlichen Anforderungen an Steuergerechtigkeit“ genügt. 110 Kommunalsteuerpolitiker streben mehr und mehr nach „Steuererfindungen“, die an die Zeit der Spezialakzisen erinnern. Die kommunalen Verbrauch- und Aufwandsteuern sind durchweg der Umsatzsteuer gleichartig. Die Stadt Köln möchte eine „Kultursteuer“ für diejenigen, die in Kölner Hotelbetten (daher auch „Bettensteuer“) übernachten, einführen. Nur Auswärtige sollen also die Kölner Kultur durch diese Steuer fördern müssen. 111 Als erste Stadt Deutschlands will Essen eine „Bräunungssteuer“ für Solarien einführen. Die Steuer soll – so heuchelt die überschuldete Stadt – dem Gesundheitsschutz dienen. P. Kirchhof spricht sich für eine Abschaffung der kommunalen Verbrauch- und Aufwandsteuern aus, er will sie und die Gewerbesteuer durch Einkommensteuerzuschlag mit Hebesatzrecht ersetzen. 112 Die vom Bundesministerium der Finanzen herausgegebene Schrift „Unsere Steuern von A–Z“ (Ausgabe 1993) erwähnt auch nur zur Einkommensteuer, dass sie „der finanziellen Leistungsfähigkeit Rechnung tragen“ wolle. Zu allen anderen Steuern wird – mehr oder minder – nur die Geschichte abgehandelt. Das Bundesverfassungsgericht ist in der Frage, welche Steuern Leistungsfähigkeitssteuern sind, wohl auch nicht sicher. Jedenfalls hebt es immer wieder hervor, das Leistungsfähigkeitsprinzip gelte insbesondere im Bereich der Einkommensteuer. 113 Lerke Osterloh merkt dazu zutreffend an: „Dieses Prinzip hat zwar speziell für das Einkommensteuerrecht inzwischen deutliche Konturen erhalten, ist jedoch in seiner generellen Tragweite auch für andere Steuerarten vom BVerfG bisher kaum entfaltet worden.“ 114 109 J. Lang (Fußn. 30), § 8 Rz. 107. 110 J. Englisch, in K. Tipke/J. Lang (Fußn. 104), Rz. 20, s. auch Rz. 14 ff.; s. auch G. Kirchhof (Fußn. 102), S. 541. 111 Dazu DER SPIEGEL 1/2010 („Bettensteuer“); FAZ v. 21. 12. 2009 S. 4 („Kölner Kurtaxe“). 112 Bundessteuergesetzbuch-Entwurf 2011, § 5 sowie Leitgedanken Rz. 61; § 2 Rz. 38–57; Hinweis auch auf R. Seer, Eine Bürgersteuer wäre besser als Sauna- und Sexsteuern, FAZ v. 19. 10. 2011, S. 19. 113 BVerfGE 43, 120; 47, 29; 61, 343 f.; 66, 223; 67, 297; 68, 152 f.; 79, 199; 82, 86. 114 L. Osterloh, Grundgesetz, Komm., hrsg. von M. Sachs, Art. 3 Rz. 134. Hinweis auch auf J. Hey, DStR 2009, 2562 („Während die Garantie der Steuerfreiheit des Existenzminimums oder der Schutz von Ehe und Familie gegenüber dem staatlichen Steuereingriff verfassungsrechtlich gut abgesichert sind, fehlt es zu vielen Fragen des Unternehmensteuerrechts an einer Konkretisierung durch das BVerfG.“). Aber auch die Grund- und
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Jedoch ist nicht damit zu rechnen, dass das Bundesverfassungsgericht demnächst Steuern mit der Begründung aufheben wird, seine Bemessungsgrundlage entspreche nicht dem Leistungsfähigkeitsprinzip. G. Wacke und K. Vogel haben die vom Bundesverfassungsgericht übernommene Theorie begründet, die von Art. 105, 106 GG erfassten Steuern als solche dürften wegen ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung in Art. 105, 106 GG nicht als verfassungswidrig aufgehoben werden. Dass diese Theorie den Vorstellungen der Schöpfer des Grundgesetzes entspreche, trifft nicht zu. Im Übrigen: Alle 1949 übernommenen Steuern stammen aus einer Zeit, in der es entweder noch keine Grundrechte gab oder in der diese nicht verbindlich waren. 115 Welchen Sinn macht es also, sie durch Art. 105, 106 GG zu konservieren und vor einem Messen an den Grundrechten schützen zu lassen? (s. dazu auch S. 1553 ff.). Der ethische Grundsatz der Verallgemeinerung hat eine Parallele im juristischen Grundsatz der Allgemeinheit des Gesetzes. 116 In einer imponierend weit ausholenden, innovativen (Habilitations-)Schrift hat Gregor Kirchhof das in Theorie und Praxis vernachlässigt gewesene Thema wieder belebt und die Bedeutung der Gesetzesallgemeinheit für Gleichheitssatz und Demokratie herausgearbeitet. 117 Wenn man die in Art. 19 I 1 GG herausgestellte Allgemeinheit des Gesetzes nicht auf diese Vorschrift beschränkt, sondern verallgemeinernd als Gleichheitssatz und Demokratie unterstützendes rechtsstaatliches Prinzip auffasst, im Übrigen nicht annimmt, es gehe nur um die Verhinderung von Einzelfallgesetzen, bewegt man sich parallel zum ethischen Prinzip der Verallgemeinerung. Gerechtigkeit und Gleichheit setzen einen verallgemeinernden Maßstab voraus. 118 Fehlt es daran, greift der Gesetzgeber nach politischer Opportunität bald hier, bald dort zu, so fehlt der Gerechtigkeit bereits die Grundlage. Es herrscht Prinzipienund Regellosigkeit, Willkür. Die Verallgemeinerung dient auch der Wissenschaftlichkeit. 119 Und sie entspricht dem Demokratieprinzip.
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Kernfragen der Unternehmensbesteuerung sind verfassungsrechtlich nicht gelöst. J. Englisch (Fußn. 38) stellt zutreffend fest: Art. 105, 106 GG „trifft keine Aussage zur Gerechtigkeitsqualität der dort benannten Steuern . . .“ S. auch K. Tipke, Steuerrechtsordnung I2, S. 300 ff. Dazu z. B. B. Rüthers (Fußn. 15), Rz. 219; K. Röhl/H. Röhl (Fußn. 9), S. 151, 298 ff.; P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 26 f. G. Kirchhof, Allgemeinheit des Gesetzes, 2009. C.-W. Canaris spricht von der „generalisierenden Tendenz der Gerechtigkeit“ (Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 17, 83, 148 f.). So auch G. Kirchhof (Fußn. 102), S. 28 („Verallgemeinerung als Kategorie wissenschaftlichen Denkens“), 31. f.
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G. Kirchhof stellt dazu zutreffend fest: „Das Allgemeinheitspostulat sucht nicht die Demokratie zu lähmen, sondern ihr zu dienen.“ 120 Wird ein Prinzip ohne Rechtfertigungsgrund nicht zu Ende gedacht, so muss sein Anwendungsbereich erweitert werden. Das nicht zuletzt an Abgeordnete gerichtete Verallgemeinerungsgebot wird auch gestützt durch Art. 38 I 2 GG. Danach sind Abgeordnete „Vertreter des ganzen Volkes“, nicht – das Verallgemeinerungsgebot missachtende – Vertreter von Sonder- oder Klientelinteressen. In der politischen Wirklichkeit handeln allerdings nicht wenige Abgeordnete Art. 38 I 2 GG zuwider. Auch die in der Wirklichkeit vorkommende Doppelrolle als Geschäftsführer eines Interessenverbandes und zugleich als Abgeordneter im Nebenberuf ist mit Art. 38 I 2 GG nicht vereinbar. Eine wesentliche Bedeutung sollte das Verallgemeinerungsgebot künftig im Bereich der Steuervergünstigungen erhalten. „In einer Demokratie – so B. Rüthers – wollen Politiker wieder gewählt werden. Es besteht daher eine Neigung von Politikern, bestimmten Gruppen Sondervorteile einzuräumen, wenn sie sich dadurch Vorteile versprechen (Lobbyismus) . . . Daher sind rechtliche . . . Vorkehrungen gegen solche Formen der Privilegierung einzelner Gruppen zu treffen. Die Lösung ist das Gebot der Allgemeinheit der Rechtsquellen . . .“ 121 Da es mehr auf die Abgeordneten einwirkende Interessenverbände gibt als Abgeordnete (die zum Teil selbst Lobbyisten sind), besteht hier ein enormes Problem für die Demokratie. Die Interessenverbände streben nicht verallgemeinernd nach Gleichbelastung oder Gleichbegünstigung für alle in gleicher Lage, sondern nach Privilegien. 122 Auf Betreiben von Parteien und Verbänden gewähren die Abgeordneten z. B. unselbstständigen Sonntags- und Nachtarbeitern ein Steuerprivileg, kümmern sich aber nicht um andere, die noch schwerer zu arbeiten haben. Oder: Sie wollen – angeblich – das Wachstum steuerlich fördern, fördern aber nur eine kleine Unternehmergruppe aus ihrer Klientel. Überhaupt geht es den Parteien und Verbänden i. d. R. nicht um die Beeinflussung volkswirtschaftlicher Globalgrößen, sondern um Gruppenvorteile. Die große Schwierigkeit besteht freilich nicht darin, Steuervergünstigungen als solche zu erkennen, sondern für ihre Abschaffung zu sorgen. 123 Die Frage, wie mit Hilfe der Gerichte Privilegierungen an120 121 122 123
G. Kirchhof (Fußn. 102), S. 291. B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, Rz. 219. Prägnant dazu P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 55 ff., 336. P. Kirchhof hat dazu Vorschläge gemacht (Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 336 [Das Schwert gegen den Interessenten, der dem Gesetzgeber die
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derer abgewehrt werden können, ist bisher nicht befriedigend gelöst. Wo ein Kläger ist, ist nicht immer ein Richter. 124 Dazu S. 1534 ff., 1567 ff. Von Verallgemeinerung kann man auch sprechen, wenn von einzelnen Gesetzesvorschriften – induktiv – auf ein gemeinsames Prinzip geschlossen wird. Dadurch lassen sich Gesetzeslücken prinzipgemäß schließen. 125 Nach dieser Methode sind im Kölner EStG-Entwurf Gesetzeslücken des geltenden Einkommensteuergesetzes geschlossen worden. 126 Auch (gerechtfertigtes) Diskriminieren muss verallgemeinert werden. Würde der Gesetzgeber sich entschließen, Bankmanager-Gehälter nur bis zu einer bestimmten Höhe zum Abzug zuzulassen, so würde – selbst wenn sich die Durchbrechung des Nettoprinzips rechtfertigen ließe – die Einschränkung auf Bankmanager das Verallgemeinerungsgebot verletzen. Warum sollten andere Managergehälter oder die Gehälter von Berufsfußballern oder Tennisprofis nicht erfasst werden? In der Ethik spielt die Verallgemeinerungsfähigkeit eine besondere Rolle. Durch den Fähigkeitstest soll herausgefunden werden, ob das verallgemeinerte, allgemein angewandte Prinzip ethiktauglich oder überhaupt durchführbar ist. 127 M. G. Singer fragt: „What would happen if everyone did that?“ Was würde die Folge sein, wenn alle entsprechend dem Testprinzip handeln würden? Was würde die Folge sein, wenn niemand Steuern zahlen würde oder wenn jeder einen Teil seiner geschuldeten Steuer hinterziehen würde? Wären die Folgen negativ, schädlich für die Allgemeinheit, so wäre das getestete Prinzip nicht verallgemeinerungsfähig und daher untauglich. 128 Das Prinzip wäre auch nicht verwendbar, wenn es nicht gleichmäßig umgesetzt werden könnte. Ein Prinzip, wonach die Einkommensteuer Schwere und Dauer der Arbeit generell steuermildernd berücksichti-
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Feder führt]), von denen ich befürchte, dass sie bei den Mächtigen nichts bewirken. Dazu J. Hey, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2009, § 19 Rz. 78; R. Seer, ebenda § 22 Rz. 127, 128; G. Kirchhof (Fußn. 102), S. 26 f., 180 ff., 190–196, 216 ff., 377 ff., 394, 489 ff., 614 ff. (zur Justitiabilität der Allgemeinheitsforderungen). Dazu auch M. Mössner, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 83, 97 ff. J. Lang u. a., Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005, S. 39 („Normative Unvollständigkeit des Einkommensteuergesetzes“). Dazu M. G. Singer, Generalization in Ethics, New York 1971 (deutsch: Verallgemeinerung in der Ethik), 1975; P. Koller, Rechtstheorie, Beihefte 4, 1982, S. 334 f. Zu M. G. Singer s. D. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik2, 2006, S. 154 ff. Hinweis auch auf R. Wimmer, Universalisierung in der Ethik, 1980; J. Schroth, Universalisierbarkeit moralischer Urteile, 2001; P. Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, 2009, S. 18, 148 f.
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gen müsste, wäre gänzlich unpraktikabel, daher untauglich. Es darf dann aber auch die ausnahmsweise Steuervergünstigung für Sonntags- und Nachtarbeit nicht zugelassen werden (s. auch S. 1536, 1547). 129 5.22 Das Gebot der Folgerichtigkeit Auch in einer wertenden Geisteswissenschaft wie der Rechtswissenschaft muss folgerichtig (konsequent) gewertet werden. Nur folgerichtiges Denken ist systemgerecht. Man spricht auch von Rechts-, Wertungs- oder Konsequenzlogik; sie ist ein Gebot der Rechts- oder Wertungsrationalität. Folgerichtigkeit ist aber auch Ausfluss des Gleichheitssatzes. 130 Das Gebot der Folgerichtigkeit ist keine Erfindung des Bundesverfassungsgerichts. 131 Sein Verdienst ist es aber, den wertungslogischen Begriff der Folgerichtigkeit in die Verfassungsrechtsprechung eingeführt zu haben 132 und kraft seiner Autorität alsbald 129 Gegen diese Privilegierung schon im Jahre 1971 der Verfassungsgerichtspräsident Wolfgang Zeidler, DÖV 1971, 13. – Die Abschaffung ist gegen Gewerkschaften und SPD bis heute nicht gelungen (s. dazu K. Tipke, FR 2006, 949 ff.). Im Wahlkampf 2005 war P. Kirchhof für die Abschaffung, Bundeskanzler G. Schröder agitierte und polemisierte mit allen Mitteln der Niedertracht und der Demagogie für das Privileg und gegen P. Kirchhof. W. Zeidler gehörte auch der SPD an; aber er war auch ein geistig unbestechlicher Jurist. Als Forschungsinstitute u. a. zu dem Ergebnis kamen, dass die Steuerbefreiung der Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit nicht zu rechtfertigen sei, sorgte Finanzminister P. Steinbrück (SPD) dafür, dass die Studie über Steuervergünstigungen vor der Wahl nicht veröffentlicht wurde. 130 So auch R. Mellinghoff: „Das Gebot der Folgerichtigkeit ist eine Rechtsfigur, die aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleitet ist“ (Steuerberater Magazin 2010, S. 17 li.; s. auch ders., Stbg. 2007, 555 re. u.). 131 Hinweis z. B. auf A. Regenbogen/U. Meyer (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2005, S. 222 re.; Ch. Perelman (Fußn. 49), S. 60; I. Tammelo (Fußn. 52), S. 100; Th. Mayer-Maly, Rechtstheorie 1982, Beiheft 4, S. 206 ff.; C.-W. Canaris (Fußn. 118), 12 ff., 18, 22, 43, 45, 47, 97 ff., 100 („wertungsmäßige Folgerichtigkeit“); K. Tipke, DStZ 1975, 407 re. Sp. (Gleichheitssatz verlangt folgerichtige Anwendung der systemtragenden Prinzipien und Wertungen); ders. Steuergerechtigkeit, 1981, S. 26, 43, 56 („Konsequenz“, „wertungsmäßige Folgerichtigkeit“); P. Kirchhof, NJW 1987, 3217. 132 Bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes fordert das Gericht in ständiger Rechtsprechung, dass die einmal getroffene Ausgangsentscheidung „folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit“ umgesetzt wird, es sei denn, es läge für Ausnahmen ein sachlich rechtfertigender Grund vor (BVerfGE v. 30. 9. 1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88 (95) = FR 1998, 1029 m. Anm. Luttermann; v. 6. 3. 2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (126) = FR 2002, 391; v. 4. 12. 2002 – 2 BvR 400/98, 1735/00, BVerfGE 107, 27 (47) = FR 2003, 568; v. 8. 6. 2004 – 2 BvL 5/00,
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verbreitet zu haben, 133 auch durch einige seiner Richter. Unbestritten hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere durch den Rückgriff auf das Folgerichtigkeitsgebot die Rechtsberechenbarkeit und die Kontrollintensität merklich verstärkt. 134 Das missfällt Steuerpolitikern und Gesetzgebern. Sie mögen offenlegen, warum Rechtslogik sie stört. Im Steuerrecht ist es das Leistungsfähigkeitsprinzip, das folgerichtig konkretisiert werden muss. 135 Das setzt voraus, dass der Inhalt des Leistungsfähigkeitsprinzips feststeht. Da das im Grenzbereich des BeBVerfGE 110, 412 (433); v. 21. 6. 2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (180 f.) = FR 2006, 766; v. 7. 11. 2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (31) = FR 2007, 338. – Wie es zu einem vom Leistungsfähigkeitsprinzip abweichenden oder dieses ersetzenden System- oder Grundlagenprinzipwechsel kommen konnte, ist für mich nicht nachvollziehbar (s. oben S. 1256 f. zum Leistungsfähigkeitsprinzip). 133 P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, S. 43 ff.; R. Mellinghoff, in: Festschrift für P. Bareis, 2005, 171, 181; – weitere Literatur: K. Tipke, Das Nettoprinzip – Angriff und Abwehr, dargestellt am Beispiel des Werkstorprinzips, BB 2007, 1525 ff.; ders., Finanzpolit-Jurisprudenz des Hauses Steinbrück, DB 2008, Heft 40, Gastkommentar; Verteidigung des Nettoprinzips. Anm. zum Vorlagebeschluss des VI. BFH-Senats zur Pendlerpauschale, DB 2008, 263 ff.; K. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, 201 ff.; s. auch ders., JZ 2009, 535; J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmensteuerrecht, DStR 2009, 2561; J. Englisch (Fußn. 38), S. 11 ff., 17, 34, 76, 122, 132 ff., 755 f.; G. Kirchhof (Fußn. 102), S. 302 ff., 321 ff., 402 ff., 470 ff., 541 ff; K.-D. Drüen, Zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zwischen Folgerichtigkeit und Systemwechsel, Ubg 2009, 23 ff. (insb. zur Unternehmensbesteuerung); K. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, 201 ff.; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 167 ff. Dass das Bundesfinanzministerium mit dem Folgerichtigkeitsprinzip noch nicht richtig umgehen kann, hat es in seinen Stellungnahmen gegenüber dem Bundesverfassungsgericht in Sachen Pendlerpauschale gezeigt (dazu K. Tipke, BB 2007, 1525 ff.; ders., DB 2008, 263 ff.; s. auch schon ders., DB 2008 Heft 40, Gastkommentar). 134 So auch L. Osterloh: „Eigenständige, markante und folgenreiche Begrenzungsfunktionen des allgemeinen Gleichheitssatzes hat das BVerfG in deutlichem Kontrast zu seiner früher sehr zurückhaltenden Grundposition vor allem in neueren Entscheidungen zum Einkommensteuerrecht . . . entwickelt. Der übergreifende methodische Ansatz hierzu ist ein zunehmend strenger verstandenes Gebot der Folgerichtigkeit . . . Dieses führt zu erhöhten Begründungsanforderungen an Abweichungen von der jeweils gleichheitskonkretisierenden Grundentscheidung für eine bestimmte Steuer.“ (in: M. Sachs [Hrsg.], Grundgesetz-Komm.2, 1999, Art. 3 Rz. 142). J. Hey spricht von einer „durchaus empfindlichen Beschränkung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit“ (DStR 2009, 2563 re.). 135 J. Englisch (Fußn. 38), S. 133, 571, 575 f.; s. auch K.-D. Drüen, Ubg 2009, 23 ff.
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Rechts- oder Wertungslogik – auch Gleichheitssatz
griffs nicht der Fall ist, 136 müssen Richter, die die Folgerichtigkeit der Konkretisierung zu überprüfen haben, sich u. U. zunächst mit dem (Rand-)Inhalt des Leistungsfähigkeitsprinzips befassen. Während das Zu-Ende-Denken eines Prinzips durch Verallgemeinerung sich als horizontale Folgerichtigkeit bezeichnen lässt, handelt es sich bei der Konkretisierung um vertikale Folgerichtigkeit. Im Gebot der (vertikalen) Folgerichtigkeit drückt sich ebenso wie in der Verallgemeinerung Rechtslogik (Gerechtigkeits-, Wertungslogik) aus. Folgerichtige Umsetzung des Leistungsfähigkeitsprinzips sorgt für seine gleichmäßige Anwendung. Folgeunrichtige (folgewidrige) Konkretisierung führt zu Ungleichheit und Ungerechtigkeit, zum Verstoß gegen Art. 3 I GG. Das nimmt auch das Verfassungsgericht an. 137 Während das Leistungsfähigkeitsprinzip und die es konkretisierenden Unterprinzipien und Regeln materialen (Gerechtigkeits-)Charakter haben, ist das vertikale Folgerichtigkeitsgebot ein formales. 138 Eine das Leistungsfähigkeitsprinzip verfehlende, aber formal gleichmäßige Folgerichtigkeit dürfte in der Praxis wohl kaum vorkommen. Wird dem Leistungsfähigkeitsprinzip ein unterschiedlicher Inhalt entnommen, so kann das dazu führen, dass es zu unterschiedlichen Folgerichtigkeitsergebnissen kommt. Das Folgerichtigkeitsgebot gilt – ebenso wie andere rechtslogische Gebote – nicht etwa nur im Steuerrecht, es gilt z. B. auch im Sozialrecht oder im Strafrecht, 139 es scheint aber auch bei Rechtsphilosophen und Rechtstheoretikern noch nicht durchweg angekommen zu sein. 140 Das Folgerichtigkeitsgebot gilt selbstverständlich auch nicht 136 S. oben S. 1255 ff. 137 Nachweise in Fußn. 132. Hinweis auch auf J. Englisch (Fußn. 38), S. 133 f. 138 Formale Logik „interessiert sich nicht für die Richtigkeit normativer Sätze, sondern ausschließlich für die formale Schlüssigkeit, die Folgerichtigkeit zwischen beliebigen normativen Sätzen“. (O. Höffe, Lexikon der Ethik7, 2008, S. 48 re. Sp.). 139 Damit ist für das Steuerrecht kein „dogmatischer Sonderweg“ geschaffen worden – wie U. Kischel annimmt (Gleichheit im Verfassungsstaat, hrsg. von R. Mellinghoff/U. Palm, 2009, S. 175, 183 ff.), sondern das Steuerrecht als Gerechtigkeitsrecht konkretisiert worden. Folgerichtig muss auch in anderen Rechtsbereichen verfahren werden, die nicht gerechtigkeitsfrei sind. Offenbar mangelt es – wen wundert es? – auch dem Sozialrecht an Rechtsrationalität. 140 Bei K. Röhl/H. Röhl (Fußn. 4), S. 443, heißt es: „Zum Systemgedanken gehört das Kohärenzpostulat, nämlich die Forderung nach wertungsmäßiger Folgerichtigkeit und innerer Einheit.“ – Die Begriffe „Kohärenz“ (und „Konsistenz“) haben wir möglichst vermieden, da über ihren Inhalt keine Einigkeit besteht. Unter Kohärenz wird auch „Stimmigkeit“ verstanden, unter „Konsistenz“ auch Widerspruchslosigkeit (zutreffend J. Hey, DStR 2009, 2566 re.).
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nur für die Einkommensteuer, es gilt z. B. auch im Unternehmensteuerrecht. 141 Die Auffassung von U. Kischel, dass das Steuerrecht mit dem Folgerichtigkeitsgebot einen Sonderweg gehe, den es aufgeben sollte, ist nicht zu folgen. Umgekehrt ist es richtig: Alle nicht gerechtigkeitsfreien Rechtsgebiete müssen das im Gleichheitssatz und in der Ethik verankerte Folgerichtigkeitsgebot anwenden. 142 Beispiele für Folgeunrichtigkeit (Inkonsequenz) habe ich an anderer Stelle aufgeführt. 143 Dem Bundesverfassungsgericht ist nicht darin zu folgen, dass das Folgerichtigkeitsprinzip nur im Binnenbereich einer Steuer anwendbar sei. Es gilt steuerübergreifend. 144 Dass das auf das Prinzip gleichmäßiger Besteuerung entsprechend der Leistungsfähigkeit angewendete Folgerichtigkeitsgebot nicht durchweg zu zwingenden Ergebnissen führt, trifft zu. Es können mehrere Ergebnisse vertretbar sein. So lässt sich m. E. durch Folgerichtigkeit nicht zwingend 145 das Ehegattensplitting ableiten, 146 und auch das Familienprinzip des Erbschaftsteuerrechts belässt dem Gesetzgeber Konkretisierungsspielraum. Das Verfahrensrecht muss folgerichtig auf das materielle Steuerrecht abgestimmt werden. P. Kirchhof drückt es so aus: „Das materielle Recht und das Verfahrensrecht bedingen sich wechselseitig . . . Der Gesetzgeber hat bereits bei der Gestaltung der materiellen Norm sicherzustellen, dass diese verfahrensrechtlich durchgesetzt werden kann. Sonst wird das Gebot der Folgerichtigkeit verletzt . . .“ 147 5.23 Das Gebot der Widerspruchsfreiheit Ethik und Rechtswissenschaft stimmen darin überein, dass Gebote der Ethik, d. h. der Theorie der Moral, aber auch Gebote des Gesetz141 So zutreffend J. Hey, DStR 2009, 2561, 2566, 2568 re. Sp. („Eine Differenzierung je nach steuerrechtlicher Submaterie lässt sich nicht begründen. Das Unternehmensteuerrecht ist keine steuerverfassungsrechtsfreie Zone“). A. A. ist U. Kischel (Fußn. 139). S. aber auch P. Brandis, DStJG Bd. 29 (2006), 43 ff. 142 S. auch J. Englisch, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 177. 143 StuW 2007, 201, 206 ff., 209 ff.; JZ 2009, 533, 538 f. 144 Dazu StuW 2007, 207 ff.; G. Kirchhof, DStR 2009, Beihefter zu Heft 19, zu 2. 145 Dazu die unterschiedlichen Meinungen zur Ehegatten- und Familienbesteuerung in FR 2010 Heft 3. 146 Dazu H.-J. Kanzler, Grundfragen der Familienbesteuerung, FamRZ 2004, 70 ff., 79 f. 147 P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch-Reformentwurf von 2011, § 16 Rz. 30.
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Rechts- oder Wertungslogik – auch Gleichheitssatz
gebers sich nicht widersprechen dürfen; sie müssen stimmig (kohärent) sein. 148 Eine sich widersprechende Rechtsordnung verletzt die Forderung nach einheitlichen Rechtsmaßstäben für alle Gesetzesadressaten und damit die Rechtsgleichheit. 149 Daher gehört es – so F. A. v. Hayek – „zum Wesen juristischen Denkens und gerechter Entscheidungen, dass der Jurist sich bemüht, das ganze System widerspruchsfrei zu machen.“ 150 Die Steuergesetze bilden leider keine rationale, widerspruchsfreie, einheitliche Ordnung. Auch das Gebot der Widerspruchsfreiheit hat Bedeutung als Abwehrmittel gegen die „Kompromissanfälligkeit und die punktuellen Verbandsinterventionen“ im Steuerrecht. 151 Das gilt auch für andere Gebote der Rechtslogik. Folgerichtigkeit trägt nicht unwesentlich zur Widerspruchsfreiheit bei. Es ist z. B. wertungswidersprüchlich, p dass es Steuern gibt, die an den Ist-Ertrag anknüpfen, andere, die an den Soll-Ertrag anknüpfen. Mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist nur eine Ist-Größe vereinbar. Aus einem Soll-Ertrag lassen sich keine Steuern zahlen; p dass das Einkommensteuergesetz den Vermögenszuwachs, den ein Erblasser erarbeitet hat, dem Erben als Einkommen im Sinne des Einkommensteuergesetzes zurechnet, die Erbschaftsteuer denselben Wertzuwachs aber als Bereicherung im Sinne des Erbschaftsteuergesetzes erfasst. Die Doppelbelastung ist wertungswidersprüchlich; p dass die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer den privaten Verbrauch belastet, nicht die Gewinnverwendungen von Unterneh148 Dazu R. Wohlgenannt, Die Widerspruchsfreiheit des Aussagenzusammenhangs, in: A. Diemer (Hrsg.), Der Wissenschaftsbegriff, 1970, S. 250 ff., 253 f.; G. Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, 1974, Stichwort „Widerspruchsfreiheit“; Th. Mayer-Maly, Rechtstheorie 1982, Beiheft 4, S. 206; D. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik2, 2007, S. 424 ff. („Kohärenz“); C.-W. Canaris (Fußn. 118), S. 16 f., 26 f., 59, 98 f., 112 ff., 130; H. Coing (Fußn. 15), S. 118, 313; W. Frisch (Proprium, Fußn. 10), 179 f.; P. Kirchhof, StuW 2000, 316 ff. 322 ff.; G. Kirchhof (Fußn. 102), Stichwort „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“; H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, 864 ff.; Hinweis auch auf R. Matteotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, Bern 2007, 547 f. 149 Ähnlich H. Coing (Fußn. 15), S. 313; s. auch P. Kirchhof, StuW 2000, 316, 322 re. Sp. (Verpflichtung zur Widerspruchsfreiheit ergibt sich aus dem „Gebot der Belastungsgleichheit“ und aus dem Rechtsstaatsprinzip; Beispiele S. 323). Weiter gehende Fundierung durch H. Sodan, JZ 1999, 864 ff. 150 F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit Bd. 1, 1980, S. 95. 151 So P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2003, S. 44.
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§ 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts
men für Investitionen (dieses Ergebnis wird durch Vorsteuerabzug und Überwälzung erreicht), während die Grunderwerbsteuer, die Versicherungsteuer und die Feuerschutzsteuer auch die Unternehmen belasten (diese Steuern kennen keinen Vorsteuerabzug); p dass gewisse Versicherungsbeiträge einerseits (einkommen-)steuerlich als Sonderausgaben (§ 10 I Nr. 3 EStG) nicht belastet werden, andererseits aber mit (Versicherung-)Steuer belegt werden; p dass Aufwendungen eines Forstwirts für die Jagd (zur Eindämmung von Wildverbiss) einerseits als Betriebsausgaben von der (Einkommen-)Steuer verschont werden, andererseits aber mit (Jagd-)Steuer belastet werden; p dass Aufwendungen für einen aus Berufsgründen geführten doppelten Haushalt als Betriebsausgaben oder Werbungskosten von der (Einkommen-)Steuer verschont werden, andererseits aber mit (Zweitwohnung-)Steuer belastet werden; p dass der Kaffeeverbrauch einerseits dem ermäßigten Steuersatz der Umsatzsteuer als allgemeiner Verbrauchsteuer unterliegt, andererseits aber mit einer besonderen Verbrauchsteuer (der Kaffeesteuer) belastet wird. 152 Die in den Beispielen genannten Widersprüche entstehen daraus, dass die Einkommensteuer eine Leistungsfähigkeitssteuer ist, die anderen wertungswidersprüchlichen Steuern aber dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht entsprechen, dagegen verstoßen. Wir gehen hier vom Ideal der „Einheit der Steuerrechtsordnung“ aus. Danach ist nicht jede Steuer für sich zu betrachten. 153 Zu einer Steuergesamtordnung passt es aber nicht, wenn Wertungswidersprüche nur im Binnenbereich einer Steuer beanstandet werden dürfen. Da das Bundesverfassungsgericht sogar – von der „Einheit der Rechtsordnung“ ausgehend – rechtsbereichsübergreifend Wertungswidersprüche aufdeckt, 154 ist nicht einzusehen, warum an die Stelle einer einheitlichen Steuerrechtsordnung ein Konglomerat separat zu betrachtender Steuern treten muss. Die Belastung hängt nicht vom Namen der Steuer ab. Auch den Art. 105, 106 GG kann nicht entnommen werden, dass das Grundgesetz eine einheitliche, zusammenhängend geschlossene, (steuerübergreifend) widerspruchsfreie Steuerrechtswertordnung nicht gewollt habe. Wertungswidersprüche können auch zwischen den Wertungen des Zivilrechts und den Wertungen des Steuerrechts entstehen. 155 152 In diesem Sinne auch J. Englisch (Fußn. 38), S. 599, 611, 618. P. Kirchhof schafft in seinem Steuergesetzbuch-Entwurf von 2011 die Kaffeesteuer ab. 153 Dazu auch G. Kirchhof, DStR 2009, Beihefter zu Heft 49. 154 BVerfGE 98, 83, 97 f.; 98, 106, 118 ff., 130 ff.; 108, 169, 181. 155 Über ihre Auflösung W. Schön, StuW 2005, 247, 252 ff.
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Rechts- oder Wertungslogik – auch Gleichheitssatz
5.24 Durchsetzbarkeit der Rechts- oder Wertungslogik mit Hilfe der Verfassung Gerechtigkeit ist – verfassungsrechtlich – zu konkretisieren durch im Gleichheitssatz angelegte intersubjektive Gebote der Ratio, nicht durch subjektives Interesse oder Gefühl. Das Konkretisieren besteht in einem wertungsmäßigen Dedizieren. Es ist kein exaktes Dedizieren, weil es einen gewissen Wertungsspielraum belässt. Da der Gleichheitssatz Verfassungsrang hat und für Verfassungsschutz der Bürger sorgt, muss das m. E. auch für das Leistungsfähigkeitsprinzip als Vergleichsmaßstab gelten, sonst wäre die verfassungsrechtliche Gewährleistung gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht gegeben. Man muss m. E. aber noch einen Schritt weiter gehen: Da die gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit die Beachtung der Gebote der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit verlangt, erfasst der Verfassungsschutz auch diese Gebote. Allerdings dürfen die erwähnten Gebote durchbrochen werden, wenn dafür hinreichend gewichtige Rechtfertigungsgründe vorliegen. 156 Mir geht es nicht um den Systembegriff (den man verschieden deuten mag), sondern um den Gleichheitssatz als Ausfluss der Gerechtigkeit. Wenn das Verfassungsgericht die Steuergerechtigkeit nicht durchsetzt, keine andere Institution wird sie durchsetzen. Die Politik hat Macht. Die Rechtswissenschaft ist ihr gegenüber ohnmächtig, wenn das Verfassungsgericht ihr nicht zur Hilfe kommt. Wer sich um den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sorgt: Es geht lediglich darum, den Steuergesetzgeber an Maßstäbe der Steuergerechtigkeit durch Steuergleichbelastung anzuhalten – durch Gebote der im Gleichheitssatz angelegten Rechtslogik oder Besteuerungsmoral. Diese Restriktion tut in Anbetracht des Zustandes der Steuergesetze not. Anzunehmen, der Gesetzgeber könnte sich aus eigener Einsicht ändern, erscheint mir in Anbetracht der steuerpolitischen Realitäten naiv. Auch von den für die Regierung gutachtenden Staatsrechtslehrern sollten wir keine Argumentationshilfen erwarten.
156 Dazu auch J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 151 f.; J. Hey, Verfassungsrechtliche Maßstäbe der Unternehmensbesteuerung, in: Festschrift für Herzig, 2010, S. 7 (Fußn. 68). A. A. M. Droege, Wieviel Verfassung braucht der Steuerstaat, StuW 2011, 105 ff.; K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, in: Festschrift für W. Spindler, 2011, 35 ff. Drüen erkennt durchaus die negativen Folgen systemfremder Gesetzgebung (a. a. O. S. 48 ff.). Aber ohne Verfassungsschutz ist diese Erkenntnis wenig wert.
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§ 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts
5.3 Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Wertprinzip der Stetigkeit Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist – wie die Grundrechte – ein Wertprinzip der Stetigkeit oder der Dauer, wenn auch kein Wert für immer. Das Leistungsfähigkeitsprinzip hat nicht seit jeher gegolten, und wie lange es gelten wird, ist ungewiss, obwohl ein besseres Grundprinzip gegenwärtig nicht in Sicht ist. In der Ethik werden Stetigkeit, Kontinuität, Beständigkeit, Verlässlichkeit als positive Werte geschätzt. Nach Auffassung von I. Tammelo „enthält die Gerechtigkeitsordnung, wie die Rechtsordnung, statische, dauernde Elemente . . . Dies ist durch gewisse anthropologische, tradierte, universale und stabile Bedürfnisse der Menschen zu erklären.“ 157 Aus der Besteuerung ist das Streben der Steuerbürger nach Planungssicherheit und Rechtskontinuität nur zu bekannt. 158 J. Hey dazu: „Staatliche Autorität wird durch Beständigkeit vermittelt. Hektisch wechselnde Steuergesetzgebung und die Entwertung in der Vergangenheit getroffener Dispositionen führen zu allgemeiner Staatsverdrossenheit. Ständige Gesetzesänderungen sind Ausdruck von Planlosigkeit, von Überforderung und Inkompetenz.“ 159 Zum Schweizer Steuerrecht betont R. Matteotti – unter Berufung auf deutsche Literatur – die Notwendigkeit steuerrechtlicher Stetigkeit. 160 Obwohl das Leistungsfähigkeitsprinzip von allen politischen Parteien verbal als stabiler politischer Wert anerkannt ist, werden die Steuergesetze, die das Leistungsfähigkeitsprinzip umsetzen sollten, ständig geändert, und zwar nicht nur die Lenkungsvorschriften. Es wäre allerdings nicht verwunderlich, wenn konservative, liberale, soziale und sozialistische Parteien dem unbestimmten Leistungsfähigkeitsprinzip – pluralistisch – einen unterschiedlichen inhaltlichen Akzent geben würden, auch unterschiedlich konkretisieren würden. Aber das ist jedenfalls kaum der Grund für ständige Gesetzesänderungen. Bei den meisten Änderungen spielen Gerechtigkeit, Gleichheit und finanzielle Leistungsfähigkeit keine oder kaum eine Rolle. Vielmehr geht es – von Parteien und Interessenverbänden angetrieben – um politisch oder lobbyistisch Opportunes oder um die Befriedigung fiskalischer Bedürfnisse auf partielle oder punktuelle Weise. J. Lang spricht vom „Steueränderungsrausch“. 161 Von 2004 bis 2009 ergingen 150 Änderungsgesetze. Das Einkommensteuergesetz, das 1949 noch aus 53 Pa157 I. Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, 1977, S. 134. 158 Dazu J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002; A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002; zum Thema auch P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 29, 287, 329 f.; G. Kirchhof (Fußn. 102), S. 327 ff. („Kontinuität und Verlässlichkeit“). 159 J. Hey (Fußn. 156), S. 102; s. auch schon S. 69 f. 160 R. Matteotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, Bern 2007, S. 48. 161 K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, Vorwort.
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Rechts- oder Wertungslogik – auch Gleichheitssatz
ragraphen bestand, wurde bis 2009 vom Änderungs-Steuergesetzgeber auf fast 200 Paragraphen aufgebläht – auf Kosten der Prinzipientreue. 162 Das ist nicht nur ein Schlag gegen die Steuergerechtigkeit, die nicht von Jahr zu Jahr oder von Legislaturperiode zu Legislaturperiode einen anderen Inhalt haben kann. Es kann sich auch kein Rechtsbewusstsein und kein Rechtsvertrauen bilden. P. Kirchhof formuliert es so: Das Steuerrecht ist „gegenwärtig ein Recht auf Rädern. Es bewegt sich ständig. Die Richtung ist offen, die Antriebsmittel sind nicht selten gegenläufig. Das Einkommensteuergesetz wird jährlich sechs- bis zwölfmal geändert. Die Änderungen betreffen allerdings meist nur eine Fülle von Details . . . Steuerrechtswissen wird zur Wegwerfware eines immer neuen, aber nicht besseren Rechts.“ 163 Das Parlament braucht nicht nur eine verfassungsrechtliche Schuldenbremse. Es sollte auch seiner Änderungsneigung entgegenwirken: (1) durch konkrete Angabe der Änderungsmotive (war das bisher geltende Gesetz ungerecht, zu kompliziert oder sonst unbefriedigend, und wodurch hilft die Änderung dem ab?) sowie (2) durch Angabe der Interessenverbände, die die Änderung erstrebt haben. Wenn u. a. mit Rücksicht auf die Inflation für Kapitaleinkünfte seit 2009 ein Abgeltungssteuersatz von 25 % legal und legitim ist, war dann vor 2009 der die Inflation negierende höhere Steuersatz illegitim? Dafür spricht alles. Viele Änderungen widersprechen den Geboten der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit. Durch diese Gebote der Rechtslogik fühlen sich Politiker gestört und weisen als Parlamentarier auf ihre demokratische Legitimation hin. Nur, es muss wiederholt werden: Der Gleichheitssatz und die von ihm getragenen Gebote der Rechtslogik sind demokratisch, das Bestreben, im Bündnis mit Interessenverbänden Privilegien für einzelne Gruppen durch162 Das Bundesfinanzministerium hat 2009 auf 174 Seiten die Steuergesetzänderungen seit 1964 zusammengestellt. Während die Auflistung bis 1998 mit 73 Seiten auskommt, nehmen die Änderungen der letzten zehn Jahre fast 80 Seiten ein (Steuertip v. 11. 9. 2009). Hinweis auch auf BTDrucks. 17/2895. Die Bundesregierung nennt dort als Änderungsgründe Sicherung des Steueraufkommens, Setzung von Wachstumsimpulsen (in der Wirtschaftskrise), Herstellung von Steuergerechtigkeit durch Vermeidung von missbräuchlichen Gestaltungen, Anpassungen des nationalen Steuerrechts an das EU-Recht, Anpassung des Steuerrechts an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder eines oberen Bundesgerichts, Steuervereinfachung (S. 2). 163 P. Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, 2009, S. 192 f. S. auch J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 71 ff. („Gesetzgebungsaktionismus und Steuerchaos . . .“); M. Mössner, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 84; J. Englisch, ebenda S. 168.
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§ 21 Über die Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts
zusetzen, die Klientel zu bedienen, ist undemokratisch. Der Gleichheitssatz ist eine Kernmaxime der Demokratie. Jede Gesetzesänderung lässt Know-how der Gesetzesanwender wertlos werden. In der Regel wird neues Know-how verlangt, ständiges Neu- oder Umlernen. So werden Ressourcen verschwendet, das Besteuerungsverfahren erschwert und verteuert.
6. Offene Fragen Damit ist freilich nur der Problemkern der Steuergerechtigkeit (Steuerlastverteilungsgerechtigkeit) durch gleichmäßige Besteuerung entsprechend der Leistungsfähigkeit behandelt. Der Steuerrechtswissenschaft stellen sich durchaus auch andere Aufgaben. 164 Nicht behandelt worden ist z. B. der Komplex der Rechtssicherheit einschließlich der Planungssicherheit. 165 Dass Rechtssicherheit ein Rechtsproblem ist, liegt auf der Hand, aber ist sie nicht auch ein Gerechtigkeitsproblem? 166 Gerechtigkeit erfasst nicht nur Verteilungsgerechtigkeit. Im Steuerrecht spielt auch die Wettbewerbsneutralität eine erhebliche Rolle. Auch insoweit ist die dogmatische Einordnung nicht geklärt. Der Schweizer R. Mateotti stellt die „Steuergerechtigkeitsprinzipien und den Grundsatz der Wettbewerbsneutralität“ nebeneinander 167 und leitet das Gebot der Wettbewerbsneutralität aus der „Wirtschaftsfreiheit“ (Art. 27 I der Schweizer Bundesverfassung) ab. 168 In Deutsch164 Zu den Aufgaben der Steuerrechtswissenschaft s. Bd. I2, 2000, S. 10 ff. 165 Dazu Bd. I2, 2000, S. 118 ff. Zur Planungssicherheit J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002. 166 Schriften über Ethik, über Rechtsphilosophie und Rechtstheorie befassen sich damit erstaunlich wenig. K. Seelmann meint, was das Verhältnis von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit angehe, so bestünden terminologische Schwierigkeiten. Es „lässt sich, je nach dem, wie weit man den Begriff der Gerechtigkeit fasst, als Element dieser Gerechtigkeit oder als Gegengewicht zu ihr auffassen . . . Radbruch sah Rechtssicherheit zu Recht einerseits in einem möglichen Gegensatz zur Gerechtigkeit, insofern . . . Gründe diskutiert werden, warum das positive Recht unter Umständen ohne Rücksicht auf seine Gerechtigkeit gelten solle. Andererseits hat er auch richtig erkannt, dass Anforderungen an das Recht wie inhaltliche Bestimmtheit, Vorausberechenbarkeit, Einheitlichkeit und Kontinuität der Rechtsprechung . . . auch Elemente des Gerechtigkeitsbegriffs sind . . .“ (K. Seelmann, Rechtsphilosophie3, 2004, S. 136). Man wird in der Tat differenzieren müssen. Es geht m. E. aber nicht um ein bloß terminologisches Problem, sondern um ein ethisches und rechtsdogmatisches. 167 R. Mateotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, Bern 2007, S. 225, 247. 168 R. Mateotti (Fußn. 167), S. 222.
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Ungebundenes Denken
land besteht über die verfassungsrechtliche und die dogmatische Verankerung noch keine Einigkeit. 169
7. Rechtswissenschaftliches Denken als rechtslogisches Denken Rechtswissenschaftliches Denken ist Systemdenken, ist rechts- oder wertungslogisches Denken. Der Rechtswissenschaftler muss verallgemeinernd, folgerichtig und widerspruchsfrei denken und vordenken; denn Ziel muss es sein, dass auch juristische Praktiker rechtsoder wertungslogisch denken. Der juristische Erkenntnisfortschritt hängt weitgehend vom Denken in den Bahnen der Rechts- oder Wertungslogik ab, jedenfalls im Steuerrecht. Das Gleiche will wohl auch D. von der Pforten für die Rechtsethik (um die es auch im Steuerrecht als Gerechtigkeitsrecht geht) mit folgendem zusammenfassenden Satz ausdrücken: „Der Rechtsethik kommt Wissenschaftscharakter zu, weil sie wie andere Wissenschaften die Merkmale der Widerspruchsfreiheit, Begriffsklärung, Vollständigkeit und Kohärenz aufweist.“ 170 Das Denken des Rechtswissenschaftlers ist aber nicht an Gesetze gebunden. Für Rechtswissenschaftler gelten nicht Art. 1 III GG, 20 III GG, sondern es gilt Art. 5 III 1 GG; danach sind „Wissenschaft, Forschung und Lehre frei“. Rechtswissenschaftler dürfen auch de lege ferenda denken, auch verfassungskritisch. Das heißt selbstverständlich nicht, dass die Verfassung und die anderen Gesetze für sie nicht gelten. Rechtswissenschaftler dürfen auch Gerichtsurteile kritisieren. Sie sollten nicht nur keine Gesetzespositivisten sein; sie sollten auch Urteile von Gerichten nicht unkritisch hinnehmen, auch die des Bundesverfassungsgerichts und der Europäischen Gerichtshöfe in Luxemburg und Straßburg nicht. Gerichtsentscheidungspositivismus ist nicht angebracht.
169 Dazu auch J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, Stichwort „Wettbewerbsneutralität“. Das Thema „Wissenschaft und Steuergesetzgebung“ ist auf S. 1344 ff. behandelt. Das Thema „Wissenschaft und Steuerverwaltung“ auf S. 1469 ff. 170 D. von der Pforten, Rechtsethik, 2001, S. 530.
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§ 22 Rückblick: Die Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft 1. Die Zeit bis 1933 . . . . . . . . 1277 .. 1.1 Im 19. Jahrhundert: Finanzwissenschaft statt Steuerrechtswissenschaft; Anfänge einer Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . 1277 .. 1.2 Besondere legislatorische Leistungen ohne steuerrechtswissenschaftliche Grundlage . . . . . . . . . . 1281 .. 1.21 V. Miquelsche Preußische Steuerreform von 1890–93 und Erzbergersche Reichssteuerreform von 1919/20 . . . . . . . 1281 .. 1.22 Einführung eines allgemeinen Steuergesetzbuchs: die Reichsabgabenordnung von 1919. . . 1282 .. 1.221 Entstehung . . . . . 1282 .. 1.222 Kritik und Bewährung. . . . . . . . . . 1282 .. 1.3 Forschung während der Weimarer Republik (1919–1933). . . . . . . . . 1287 ..
1.31 Wegbereiter und Hauptschrittmacher der Steuerrechtswissenschaft 1287 .. (1) Albert Hensel . . . 1287 .. (2) Johannes Popitz. . 1288 .. (3) Ottmar Bühler . . . 1289 .. (4) Kurt Ball, Enno Becker, Herbert Dorn, Rolf Grabower, Max Lion, Georg Strutz. . . . . . . . . 1290 .. (5) Großer Anteil von Steuerjuristen jüdischer Herkunft. . . 1291 .. 1.32 Zeitschriften: „Steuer und Wirtschaft“; „Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht“ . . . . . 1293 .. 1.33 Die Situation gegen Ende der Weimarer Republik. . . . . . . 1293 .. 2. Die Zeit von 1933–1945 . . . 1295 .. 3. Die Zeit seit 1945 . . . . . . . 1297 .. 3.1 Die Zeit bis 1970 . . . . . 1297 .. 3.2 Die Zeit seit 1970 . . . . . 1297 .. 4. Entwicklung steuerrechtswissenschaftlicher Denkschulen . . . . . . . . . . . . . . 1302 ..
Literatur A. Pausch, Finanzbeamte als Mitgestalter der Kameral-, Finanz- und Steuerwissenschaften, DStZ A 1976, 181; L. Waldecker, Finanz- und Steuerrecht als juristische Disziplin, FinArch. Bd. 34 (1917), 155; ders., Fragen des steuerrechtlichen Unterrichts an den Universitäten, DStZ 1920/21, 279 ff.; H. Nawiasky, Finanzrecht und Wissenschaft, Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht 1921, 41 ff. = ders., Steuerrechtliche Grundfragen, 1924, S. 7 ff.; K. Ball, Die Entwicklung des Steuerrechtssystems, VerwArch. Bd. 31 (1926), 308; A. Hensel, Welche Funktion hat das Finanz- und Steuerrecht im wissenschaftlichen Unterricht zu erfüllen?, VJSchrStFR 1928, 1. O. Bühler, Neues Beginnen wissenschaftlicher Arbeit am Steuerrecht, StuW 1947, 1; ders., Der Ausbau des steuerwissenschaftlichen Unterrichts an den
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Die Zeit bis 1933 Universitäten, StuW 1947, 417; K. Tipke, Die Situation des Steuerrechts als rechtswissenschaftliche Disziplin, NJW 1967, 1885; ders., Über Steuerwesen im akademischen Unterricht und Studienreform, FR 1968, 4; G. Rose, Steuerberatung und Wissenschaft, StbJb. 1969/70, 31; K. Tipke, Jurisprudenz und Steuerwesen, JbFSt. 1970/71, 102; ders., Steuerrecht an westdeutschen Hochschulen, Bulletin for international fiscal documentation, Vol. XXVII (1973) Nr. 1, S. 10; R. Weber-Fas, Das Elend der Grundlagenforschung im Internationalen Finanzrecht, JZ 1974, 401; J. Lang, Das Steuerrecht als Fach einer rechtswissenschaftlichen Ausbildung, StuW 1976, 76; G. Rose, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Steuerwissenschaften?, DStZ A 1976, 174; P. Kirchhof, Ziele und Inhalte steuerrechtswissenschaftlichen Unterrichts, JA 1979, 255; K. Tipke, Über Bühlers Lehrbücher, StuW 1984, 370; ders., Die Situation des Steuerrechts im Jubiläumsjahr 1988, in: Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865; R. Wendt, Steuerrechtswissenschaft, in: Lexikon des Rechts, Steuerund Finanzrecht, hrsg. von Franz Klein, 1986, S. 418 ff.; J. Lang, Verantwortung der Rechtswissenschaft für das Steuerrecht, StuW 1989, 201; G. Crezelius, Vom Beruf des Juristen für das Steuerrecht, JbFfStR 1990/91, 13; D. Birk, Der Stellenwert des Steuerrechts bei der Juristenausbildung, StuW 1992, 88; E. Reimer/Chr. Waldhoff (Hrsg.), Albert Hensel, Schriften, 2000; R. Hüttemann/E. Reimer/Chr. Waldhoff, Steuerrecht an der Universität Bonn, 2008. A. Pausch, Persönlichkeiten der Steuerkultur (Fachbiographien aus Steuerpolitik, Steuerverwaltung, Steuergerichtsbarkeit, Steuerberatung und Steuerwissenschaft), 1992.
1. Die Zeit bis 1933 1.1 Im 19. Jahrhundert: Finanzwissenschaft statt Steuerrechtswissenschaft; Anfänge einer Steuerrechtswissenschaft Die Steuerrechtswissenschaft ist eine junge Wissenschaft. Sie ist von den rechtswissenschaftlichen Fakultäten deutscher Universitäten lange vernachlässigt worden. Schon 1888 schrieb F. Meisel: „Unsere Zeit steht im Banne des Finanzrechts.“ 1 Keine juristische Disziplin auf den Universitäten genieße aber so wenig Pflege wie die des Finanzrechts. 2 1911 beklagte V. Bredt, dass die verwaltungsrechtliche Ausbildung des Studenten außer Verhältnis stehe zu der großen und noch steigenden Bedeutung des öffentlichen Rechts, was aber vollkommen fehle, sei eine Ausbildung auf dem Gebiete des Steuerrechts. Akademische Literatur gebe es so gut wie gar nicht. Was allein angeboten werde, sei die nationalökonomische Vorlesung über Finanzwissenschaft. 3 1917 bemerkte 1 FinArch. Bd. 5 (1888), 1, 3. 2 FinArch. Bd. 5 (1888), 1, 59 f. 3 J. V. Bredt, Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, 1912, Vorwort S. V.
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§ 22 Rückblick: Die Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft
L. Waldecker, die juristische Theorie stehe „im großen ganzen“ noch immer abseits, sie überlasse fast alles der Finanzwissenschaft. 4 1921 stellte H. Nawiasky fest: Während die Bemühungen um das Verwaltungsrecht zu erfolgreichen Konstruktionen und Systemen geführt hätten, habe das Finanzrecht daran allenfalls einen sehr bescheidenen Anteil genommen, so dass wir – angesichts der Versäumnisse der Hochschulverwaltungen – „nach einer Generation eindringendster verwaltungsrechtswissenschaftlicher Arbeit in Deutschland über kein einziges System des Finanzrechts“ verfügten, obwohl sicher sei, „dass nicht etwa die geringe praktische Bedeutung des Gegenstandes die merkwürdige Interesselosigkeit der deutschen Wissenschaft“ erkläre. 5 Mindestens bis zum Ende des Ersten Weltkrieges konnte man von einer Steuerrechtswissenschaft nicht sprechen. Bis dahin wurden in Deutschland gewisse Grundzüge des allgemeinen Steuerrechts allenfalls im Rahmen des Verwaltungsrechts berücksichtigt. 6 Allerdings schon 1906 erschien als erstes spezielles akademisches Buch über Steuerrecht im deutschsprachigen Raum der „Grundriß des Finanzrechts“ von F. v. Myrbach-Rheinfeld. 7 Es ragte – so J. Popitz 8 – „freilich nur stellenweise über eine sehr sorgfältige deskriptive Behandlung“ hinaus. 1915 begann L. Waldecker als erster Hochschullehrer (Privatdozent) in Deutschland mit Vorlesungen über Steuer4 L. Waldecker, Finanz- und Steuerrecht als juristische Disziplin, FinArch. Bd. 34 (1917), 155, 156; s. auch ders., DStZ 1920/21, 279 ff. 5 H. Nawiasky, Finanzrecht und Wissenschaft, Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht 1921, 41 ff. = ders., Steuerrechtliche Grundfragen, 1926, S. 7. ff. 6 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht3, 1924, Bd. I, S. 315 ff. (Die Finanzgewalt, 67 Seiten); F. Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 1911 (§ 26 Die öffentlichen Abgaben, 13 Seiten, in der 8. Aufl. 1928 § 27, 18 Seiten). – Danach nur noch W. Jellinek, Verwaltungsrecht3, 1931, unveränderter Nachdruck 1966, S. 393 ff. (6 Seiten); H. Peters, Lehrbuch der Verwaltung, 1949, S. 331 ff. (41 Seiten). – Nur ganz selten verfiel ein Universitätslehrer des Rechts vor dem ersten Weltkrieg darauf, sich mit steuerrechtlichen Fragen zu befassen. Eine Ausnahme war L. Enneccerus. Er schrieb Bücher und Abhandlungen über Erbschaftsteuer und Vermögensteuer (Vermögensteuer, Fundirte Einkommensteuer oder Erbschaftsteuer?, 1893) sowie zu steuerpolitischen Fragen (Die Steuer-Reform in Staat und Gemeinde, 1892). 7 Franz v. Myrbach-Rheinfeld, Grundriß des Finanzrechts, Leipzig 1906. 8 J. Popitz, in: Festgabe für G. v. Schanz, 1928, Bd. I, S. 39, 40 Fußn. 1. – L. Waldecker meinte dazu allerdings: „Es ist für uns Reichsdeutsche eigentlich beschämend, dass in unserem österreichischen Nachbarstaat ein 1906 erschienener systematischer Grundriß des Finanzrechts mehrere Nachfolger (Handbuch und Grundriß von Konrad) zeitigen und es jetzt selbst zur zweiten Auflage bringen konnte, ohne dass wir ihm bislang auch nur entfernt etwas Gleichwertiges oder auch nur Gleichartiges zur Seite setzen könnten.“ (FinArch. Bd. 33,2 [1916], 411).
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recht. Er meinte später, er habe damit seinerzeit seine Zukunft als Hochschullehrer aufs Spiel gesetzt. 9 1917 stellte er fest: „Bis ganz vor kurzem aber herrschte tiefstes Dunkel: es fehlte an jeder Gelegenheit, sich rechtstheoretisch im Finanz- und Steuerfach vorzubilden.“ 10 Ähnlich schilderte J. Popitz die Situation: „Das öffentliche Finanzwesen ist in Deutschland bis nach dem Weltkriege fast ausschließlich Gegenstand der Lehre der nationalökonomischen Disziplinen gewesen: es war das Stoffgebiet der Finanzwissenschaft. Nur in den Vorlesungen und Lehrbüchern der Finanzwissenschaft erfuhr der Lernende etwas über den Staatsbedarf und seine Deckung, über Steuern und sonstige Abgaben, nur dort wurden ihm auch die Tatsachen des Finanz- und Steuersystems Deutschlands übermittelt. So großen Umfang die Steuergesetze auch im Reichsgesetzblatt und in den Gesetzessammlungen der Länder einnahmen, so sehr ihr Zustandekommen und ihre Durchführung die politische und wirtschaftliche Welt beschäftigte, – der juristische Theoretiker ging an diesem Teil der Rechtsnormen vorüber, ja man kann sagen, dass die Steuergesetze fast die einzigen Gesetze waren, die er geflissentlich seiner wissenschaftlichen Betrachtungsweise nicht für wert zu halten schien. Längst war den Rechtsgebieten, die den künftigen Richter angehen, dem bürgerlichen Recht, dem Strafrecht und dem Prozessrecht, das öffentliche Recht mit steigender Anziehungskraft zur Seite getreten, seine wissenschaftliche Behandlung war vom Staatsrecht zum Verwaltungsrecht vorgedrungen, hatte an einem allgemeinen Teil gearbeitet, das Polizeirecht insbesondere wurde immer wieder durchforscht; andere Gebiete, wie Wegerecht und Wasserrecht, auch das Kommunalrecht, wurden in Vorlesungen und Abhandlungen dargestellt. Auch die an Umfang wachsenden sozialpolitischen Gesetze wurden wissenschaftlich behandelt; das Arbeitsrecht wurde als rechtswissenschaftliche Sonderdisziplin herausgearbeitet. Die Steuergesetze schienen ihren Rechtsinhalt nur für die Praxis zu haben. Wohl entstand aus der Praxis eine Literatur, die sich mit der Auslegung einzelner Steuergesetze in Kommentaren und Einzelabhandlungen beschäftigte. Die Theorie kümmerte sich so gut wie nicht um diese immer wachsende Paragraphenfülle. Man mag diese Darstellung für übertrieben halten und etwa auf O. Mayer und F. Fleiner verweisen. Nun ist zuzugeben, dass vor allem O. Mayers Spürsinn für begriffliche Ergiebigkeit einzel9 L. Waldecker, Steuerrecht und Rechtsstaat, Berlin, 1928, S. 5: „Als ich im Sommersemester 1915 als Privatdozent an der Berliner Universität Finanzund Steuerrecht . . . als neuen Lehrgegenstand einführte, war das ein Sprung ins Dunkle, bei dem ich angesichts der damaligen Einstellung der Wissenschaft zu unserer Materie meine Zukunft als Hochschullehrer aufs Spiel setzte.“ S. auch ders., FinArch. Bd. 34 (1917), 155, 175, 177. 10 L. Waldecker, FinArch. Bd. 34 (1917), 155, 172; s. auch ders., DStZ 1920/21, 279 ff.
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ner Gebiete des Verwaltungsrechts auch auf bestimmte, ihm juristisch interessant erscheinende Verwaltungsakte zur Ausübung der Finanzgewalt verfallen ist und dass er deren Besonderheit seinem wundervoll entfalteten System einfügte. Aber man braucht nur seine – wohl letzte – Arbeit im Handbuch der Finanzwissenschaft (Bd. I S. 86 ff.) über Finanzwissenschaft und Finanzrecht zur Hand zu nehmen, um festzustellen, dass sein Interesse eben lediglich den Formen gilt, in die der Staat seine Maßnahmen zur zwangsweisen Erfüllung seines Geldbedürfnisses kleidet, der Aufbau der Steuern selbst, der materielle Inhalt der Steuerpflicht scheint auch für ihn rechtliche Behandlung nicht zu verdienen.“ 11 Ähnlich hatte sich 1923 K. Ball geäußert. Er beklagte das Fehlen einer „Theorie des besonderen Steuerrechtssystems“, die sich auch bei O. Mayer und bei F. Fleiner nicht finde, und schrieb: „Wie Otto Mayer das ganze System des öffentlichen Rechts auf dem Verwaltungsakte aufgebaut hat, so bildet auch der Verwaltungsakt, die Veranlagung, für ihn den Ausgangspunkt der Behandlung des Steuerrechts. Bei diesem Ausgangspunkte steht aber das ganze Verfahrensrecht im Vordergrunde, und das materielle Steuerrecht verblasst dagegen vollkommen und wird von Otto Mayer kaum beachtet. Schon aus diesem Grunde kommt der Ausgangspunkt von Otto Mayer für Grundlehren des materiellen Steuerrechts nicht in Betracht.“ 12 – Otto Mayer wirkt bis heute nach. Wer die Ausbildungsund Prüfungspraxis im Verwaltungsrecht beobachtet, kann den Eindruck bekommen, dass die Verfahrens- und Prozessvoraussetzungen und andere Verfahrensfeinheiten wichtiger seien als das ganze materielle Verwaltungsrecht. „Der junge Jurist“ – so Popitz weiter – „verließ, von geringen Ansätzen an einigen wenigen Hochschulen abgesehen, die Universität, ohne in seiner Fakultät irgendetwas über Begriffe wie etwa die des Umsatzes, des Ertrags, des Einkommens, des Vermögens, über das Bewertungsproblem erfahren zu haben, und, wenn er überhaupt etwas davon wusste, welche Steuerquellen Reichs- und Bundesstaaten 11 J. Popitz, in: Festgabe für G. v. Schanz, 1928, Bd. I, S. 39 f. – O. Mayer behandelt im Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. I, 1926, nach einer Einleitung in der Tat nur den Begriff Steuern, Gebühren, Beiträge, den Finanzbefehl (ein dem Polizeibefehl nachgebildeter, heute ungebräuchlicher Begriff), die Finanzstrafe, das Zwangsverfahren, den Rechtsschutz und das Rechnungswesen (gemeint ist das Haushaltswesen). Immerhin scheint O. Mayer gespürt zu haben, dass sich darin das Steuerrecht nicht erschöpft, enthält die Einleitung doch den Satz: „Der Gegenstand, dem sie (sc. die Steuerrechtswissenschaft) dient, hat ja seine selbständige Bedeutung, die nach dem Ausspruche unseres führenden Philosophen groß genug wäre: ohne Recht und Rechtsordnung, meint er, hätte es keinen Wert, dass Menschen auf Erden lebten.“ 12 K. Ball, Einige Grundlehren des materiellen Steuerrechts, Allgemeine Steuer-Rundschau 1923, 457, 460.
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ausschöpften und wieweit die Besteuerungsbefugnis der Gemeinden, Kreise und Provinzen reichte, so verdankte er dieses Wissen den Vorlesungen über Finanzwissenschaft.“ 13 Systematische Darstellungen des Steuerrechts (Lehrbücher) existierten bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in Deutschland nicht. 1.2 Besondere legislatorische Leistungen ohne steuerrechtswissenschaftliche Grundlage 1.21 V. Miquelsche Preußische Steuerreform von 1890–93 und Erzbergersche Reichssteuerreform von 1919/20 Gleichwohl stoßen wir vor allem auf zwei große steuerlegislatorische Leistungen: die mit dem Namen Johannes v. Miquel (1828–1901) verbundene preußische Steuerreform von 1890–1893 14 und die mit dem Namen Matthias Erzberger (1875–1921) verknüpfte Reichssteuerreform von 1919/20. 15 Beide Reformen lassen zwar deutliche finanzwissenschaftliche Einflüsse erkennen. Steuerrechtswissenschaft konnte zu ihnen aber noch nichts beitragen, weil eben das Fach „Steuerrecht“ an den deutschen Universitäten noch nicht existierte. Erwähnung verdienen gleichwohl die Pionierleistungen von Bernhard Fuisting (1841–1908). Er war Mitverfasser der v. Miquelschen Reformgesetze und Kommentator dieser Gesetze. Später Senatspräsident am Preußischen Oberverwaltungsgericht, legte er 1902 seine „Grundzüge der Steuerlehre“ vor. 16 Als Mitarbeiter an der Vorbereitung der v. Miquelschen Reformgesetze und Kommentator dieser Gesetze verdient ferner Georg Strutz (1861–1929) hervorgehoben zu werden. Die Reform von 1919/20 erfuhr 1925 allerdings nicht unerhebliche Nachbesserungen durch die Schlieben-Popitzsche Reform.
13 J. Popitz, a. a. O. (Fußn. 8). 14 Dazu G. Strutz, Die Neuordnung der direkten Staatssteuern in Preußen, 1912; A. Pausch, Johannes v. Miquel. Sein Leben und Werk, Stuttgart 1964, insbes. S. 32 ff.; ders., Johannes v. Miquel – Preußischer Finanzminister von 1890 bis 1901; u. a. Wegbereiter der progressiven Einkommensteuer, StStud 1989, 7; ders., Persönlichkeiten der Steuerkultur, 1992, S. 10 ff. 15 Dazu A. Pausch, Matthias Erzberger. Sein Leben und Werk, 1965, insbes. S. 27 ff.; ders., Matthias Erzberger . . ., StStud 1989, 341; Alex Möller, Reichsfinanzminister Matthias Erzberger und sein Reformwerk, BMWFBlickpunkt Finanzen 7, 1971; A. Pausch, Persönlichkeiten (Fußn. 14), S. 32 ff. 16 Zu Fuisting näher A. Pausch, DStZ A 1976, 181, 183 f.
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1.22 Einführung eines allgemeinen Steuergesetzbuchs: die Reichsabgabenordnung von 1919 1.221 Entstehung Ein weiteres für die Steuerrechtsentwicklung bedeutsames Ereignis war gleich nach dem Ersten Weltkrieg die Verabschiedung eines allgemeinen Steuergesetzbuchs. Obwohl dieses Gesetzbuch nicht nur formelles, sondern auch materielles Recht enthält, erhielt es den Namen Reichsabgabenordnung. Den Entwurf hatte Enno Becker 17 (1869–1940), zuvor Zivil- und Verwaltungsrichter in Oldenburg, 18 in etwa einem halben Jahr (November 1918 bis Sommer 1919) erarbeitet, ohne sich auf einen von der Rechtswissenschaft erarbeiteten allgemeinen Teil des Steuerrechts stützen zu können. 19 So erhielt das Steuerrecht seinen Allgemeinen Teil – nicht aus der Hand der Rechtswissenschaft, sondern von einem Praktiker und letztlich vom Gesetzgeber. Die politische Durchsetzung der Reichsabgabenordnung ist ebenfalls Matthias Erzberger zu verdanken. 20 1.222 Kritik und Bewährung Dass Rechtswissenschaftler in diesem „Vorgriff“ eine „Sünde wider die Wissenschaft“ sahen, nimmt nicht Wunder. Der Hauptkritiker der Reichsabgabenordnung in den zwanziger Jahren war der Staatsrechtslehrer H. Nawiasky. Er äußerte sich seinerzeit zur Reichsabgabenordnung so: 17 Über Enno Becker O. Bühler, Enno Becker zum Gedächtnis, StuW 1948, 1; W. Grund, Im Gedenken an Enno Becker, den Schöpfer der Reichsabgabenordnung, DStZ A 1969, 145; J. Klos, Enno Becker und die Entstehung der Reichsabgabenordnung, StStud 1987, 2; A. und J. Pausch, Der Oldenburger Rechtsgestalter Enno Becker, Schöpfer der Reichsabgabenordnung, Der Zollbeamte in Niedersachsen 1987, Heft 1/2, 17; K. Tipke, Enno Becker, Schöpfer der Reichsabgabenordnung, StuW 1990, 73; M. R. Theisen (Hrsg.), Gedenkschrift zum 50. Todestag von Dr. h.c. Enno Becker 1869–1940, Oldenburg 1990. 18 Dazu Sellmann, Entwicklung und Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Oldenburg, Oldenburg 1957, S. 66 f. 19 Dazu außer der in Fußn. 17 genannten Literatur auch K. Tipke, Reformbedürftiges allgemeines Abgabenrecht, StbJb. 1968/69, 69; ders., Fünfzig Jahre Reichsabgabenordnung, AöR Bd. 94 (1969), 224, 235; Alex Möller, Fünfzig Jahre Reichsabgabenordnung, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung NR. 147/1969, 1249; K. Koch, 50 Jahre Reichsabgabenordnung, DStZ A 1970, 7; H. Cordes, Untersuchungen über Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919, Diss. Köln 1971. – Als der Verf. Anfang der 1960er Jahre in Oldenburg einen Vortrag über Probleme der Abgabenordnung zu halten hatte, wusste keiner der Zuhörer, dass Enno Becker ein Oldenburger war. 20 S. A. Pausch, Matthias Erzberger. Sein Leben und Werk, 1965, S. 42 ff., 53 f.
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Die Zeit bis 1933 „Schon vor dem Krieg hatte die deutsche Steuergesetzgebung infolge des gestiegenen Bedarfes der öffentlichen Finanzwirtschaft eine stattliche Entwicklung in die Breite genommen, die in ein bedenkliches Missverhältnis zu der mangelnden Tiefe der juristisch-technischen Durchbildung des Stoffes geriet. Während und nach dem Krieg verwandelte sich der breite Fluss des positiven Finanzrechtes in ein wütend brandendes Meer, auf dem selbst die Großkampfschiffe des Fiskus mangels irgendeiner übersichtlichen Befahrungskarte jeden sicheren Kurs zu verlieren drohten. Die Reichsfinanzverwaltung, auf die nach der Gestaltung der Verhältnisse der Schwerpunkt des deutschen Finanzwesens übergegangen war, sah sich in dieser katastrophalen Lage genötigt, in aller Eile eine solche, wenigstens die wichtigsten Orientierungspunkte enthaltende Übersichtskarte anfertigen zu lassen, die angesichts des Mangels von mit wissenschaftlicher Sorgfalt durchgeführten Tiefenmessungen den Charakter des Behelfsmäßigen an der Stirn tragen musste. Auf diese Weise kam die Reichsabgabenordnung . . . zustande . . .“ 21
Nawiasky betonte, er wolle keinen Vorwurf erheben gegen „den oder die mir im Übrigen ganz unbekannten Verfasser“. „Denn ich muss anerkennen“, so Nawiasky, „dass sie sich auf einem Gebiet, auf dem ein solides wissenschaftliches Fundament vollkommen fehlte, mit anerkennenswertem Mut daran wagten, eine systematische Regelung der grundlegenden Normen des Steuerrechts zu schaffen, also gewissermaßen einen in Paragraphen gefassten Allgemeinen Teil eines Finanzgesetzbuches zu schreiben. Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas!“ 22 „Ziemlich unklare Systematik“, „wenig fruchtbare Theorie“, „grundlose Eigenbrötelei“, 23 „leichtfertige Übertragung privat-rechtlicher Konstruktionen“ 24 – das sind weitere Stichworte aus der Kritik Nawiaskys, der an anderer Stelle äußerte, die Verfasser seien mit „beinahe fröhlicher Unbefangenheit“ ans Werk gegangen. Die Wissenschaft des öffentlichen Rechts – Nawiasky dachte wohl an das Staats- und Verwaltungsrecht – sei nun vor die Aufgabe gestellt, „aus dem, was in diesem Gesamtwerk enthalten ist, und aus dem, was darin fehlt . . . ein wirklich tragfähiges System des deutschen Finanzrechts von Grund auf zu errichten.“ 25 Ein anderer scharfer Kritiker der Reichsabgabenordnung war L. Waldecker. Er schrieb: „Die Arbeit ist genau so wie das Verfassungswerk von Weimar voller innerer Widersprüche, die erkennen lassen, dass die Tragweite der damaligen Gesetze nicht genügend durchdacht worden ist. In dem Streben, nur überhaupt etwas unter Dach und Fach zu bringen, hat man die widersprechendsten Dinge zusammengekoppelt, ohne zu sehen, dass hier Widersprüche vorlagen, die das Gesamtwerk gefährden mussten.“ 26 21 22 23 24 25 26
H. Nawiasky, Steuerrechtliche Grundfragen, München 1926, S. 8. A. A. O. (Fußn. 21), S. 8. A. A. O. (Fußn. 21), S. 37, 70. A. A. O. (Fußn. 21), S. 16. A. A. O. (Fußn. 21), S. 8 f. L. Waldecker, FinArch. Bd. 42 (1925), 69, 75. – Vereinzelt wurde auch behauptet, die Reichsabgabenordnung verstoße gegen die Verfassung, weil
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Mit ihrer deutlichen Kritik standen Nawiasky und Waldecker allerdings ziemlich allein. Erich Kaufmann, urteilte: „. . . die Reichsabgabenordnung hat das öffentliche Steuerrecht in formaler und technischer Hinsicht bis in seine feinsten Verästelungen durchgearbeitet und durchgebildet.“ 27 „Die Reichsabgabenordnung bedeutet eine Epoche in der Verwaltungsgeschichte und in der politischen Geschichte. Dass sie in rechtstechnischer Hinsicht eine vom Geiste gründlicher Wissenschaftlichkeit erfüllte Meisterleistung ist, die von grundsätzlicher und exemplarischer Bedeutung für die juristische Ausprägung der verwaltungsrechtlichen Institute überhaupt ist, muss bei aller Einsicht in die der ‚bürgerlichen Freiheit‘ drohenden Gefahren dankbar und freudig anerkannt werden.“ 28 A. Hensel beurteilte die Lösungen der Reichsabgabenordnung – von ihm als „Felddienstordnung“ für das Heer der Steuerbeamten bezeichnet 29 – als „durchgängig befriedigend“. Die Unvollkommenheiten lägen vor allem in teilweise unscharfen Einzelformulierungen und in einem gewissen Mangel an einheitlicher Systematik, im Wesentlichen zurückzuführen auf die Überhast der Entwurfsarbeit. 30 W. Jellinek 31 nannte die Reichsabgabenordnung „eine bedeutende Leistung, die mit dem Namen des früheren oldenburgischen Richters Enno Becker verbunden“ sei. K. Ball 32 und O. Bühler 33 sprachen sogar von einem „großen Wurf“. K. Ball urteilte: Da die wissenschaftliche Behandlung des Steuerrechts bis 1918 nicht über eine getrennte Behandlung einzelner Steuergesetze hinausgekommen sei, sei es „eine desto größere Tat“ gewesen, „als der Entwurf der Reichsabgabenordnung mit einem Male diese ganze versäumte wissenschaftliche Arbeit . . . nachholte und einen allgemeinen Teil des Steuerrechts schuf“. 34 Eine freie Kommission von Mitgliedern des Preußischen Oberverwaltungsgerichts und der Berliner Anwaltschaft nahm dahin Stellung,
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diese keine Reichssteuerverwaltung zulasse (A. Düringer, Die Verfassungswidrigkeit der Reichsabgabenordnung, Recht und Wirtschaft 1920; A. A. E. Kaufmann, Die reichseigene Steuerverwaltung – ihre politische Bedeutung und ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen, Recht und Wirtschaft 1919, 211 ff.). Recht und Wirtschaft, 1919, 211, 216. Recht und Wirtschaft, 1919, 211, 217. VVDStRL 3 (1927), 63, 70. StuW 1924, 963, 975; s. auch VVDStRL 3 (1927), 63, 71. W. Jellinek, Verwaltungsrecht3, Berlin 1931, unveränderter Nachdruck 1966, S. 97. K. Ball, VerwArch. Bd. 31 (1926), 308, 310. O. Bühler, Lehrbuch des Steuerrechts, I. Allgemeines Steuerrecht, 1927, S. 83. K. Ball, Die Landesabgabenordnung, VJSchrStFR 1927, 260; s. auch ders., Steuerrecht und Privatrecht, 1924, S. 153 ff, 156; ders., VerwArch. Bd. 31 (1926), 308 ff.
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die Gesetzesvorlage sei nicht nur ein Entwurf, sondern ein Wurf, für welchen die Steuerrechtswissenschaft dem Verfasser Dank schulde. 35 Die systematischen und terminologischen Mängel 36 der Reichsabgabenordnung waren in der Tat nicht so gravierend, dass das Gesetz sich im Ganzen nicht praktisch bewähren konnte. 37 Auch erkannte man allmählich, dass eine hohe Steuerlast – im Interesse der ehrlichen Steuerzahler, im Interesse der Solidarität aller Steuerzahler – nach einer gleichmäßigen, d. h. aber nach einer möglichst effizienten Durchführung der Steuergesetze verlangt. So verstummten allmählich die Stimmen, die – an das laxe Besteuerungsverfahren der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gewöhnt 38 – die Besteuerung nach der Abgabenordnung als „steuerliche Nacktkultur“, 39 „Finanzmilitarismus“, 40 „Versklavung durch einen neuen Polizeistaat“, Förderung des „Staatsdespotismus“ 41 und „bolschewistisches Ausräuberungssystem“ 42 bezeichnet hatten. Jahrhunderte alte Erfahrung lehrt indessen, dass gleichmäßige Besteuerung ohne wirksame Kontrolle nicht zu errei35 StuW 1927, 243. 36 Dazu K. Tipke, Reformbedürftiges allgemeines Abgabenrecht, Kritik der Reichsabgabenordnung, Reformvorschläge, StbJb. 1968/69, 69, 81, 83 ff.; ders., Fünfzig Jahre Reichsabgabenordnung, AöR Bd. 94 (1969), 224, 235 ff. – Enno Becker hat Mängel auch selbst erkannt und freimütig eingeräumt (DJZ 1926, 20, 21 f.). 37 Dazu auch A. Möller, 50 Jahre Reichsabgabenordnung, in: BMF (Hrsg.), Blickpunkt Finanzen Heft 1 (Fünfzig Jahre Reichsabgabenordnung), 1970, S. 13, 18 ff. 38 Dazu F. Meisel, Moral und Technik bei der Veranlagung der preußischen Einkommensteuer, 1911, insbes. S. 8 f., 70 f., 72 f., 87 f.; ders., Wahrheit und Fiskalismus bei der Veranlagung der modernen Einkommensteuer, FinArch. Bd. 31 (1914), 632 ff.; P-Chr. Witt, Der preußische Landrat als Steuerbeamter 1891–1918, in: D. Blasius (Hrsg.), Preußen in der deutschen Geschichte, 1980, S. 293 ff.; K. Tipke, Steuerliche Betriebsprüfung im Rechtsstaat, 1968, S. 7 ff. 39 M. M. Warburg, Bankarchiv Bd. XXVIII (1928/29), 32. 40 Gegen die Abqualifizierung einer möglichst gleichmäßigen Besteuerung als „Finanzmilitarismus“ J. Popitz, in: Festgabe für O. Liebmann, 1920, S. 232, 235 ff. Popitz steigert sich zu der Feststellung: „Wer einen Einblick hat, wie in Deutschland ein großer Prozentsatz des Handels in den Händen von Schiebern und Bönhasen liegt, wie ihr Treiben auch die Kaufmannschaft angesteckt hat, wie die Kreise gewissenlos die Zuverlässigkeit und Unbestechlichkeit des wirtschaftlich schwer bedrängten Beamtentums untergraben, der muss allen guten Glauben an das deutsche Volk, der ihm etwa noch geblieben ist, zusammennehmen, wenn er an eine Besserung, ganz einfach gesagt, an eine gewissenhafte Steuererklärung, das jetzige fundamentum regnorum, glauben soll.“ (S. 240). – Dazu M. Lion, Praktische Steuerfragen, Berlin 1923, S. 27 ff. 41 M. Lion, Der Rechtsanwalt und das Steuerrecht, JW 1921, 1570, 1573. 42 Vgl. L. Waldecker, Steuerrecht oder Fiskalismus?, FinArch. Bd. 42 (1925), 69, 75.
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chen ist. Die Steuern, die alle Bürger in ihrem eigenen Interesse gern und freiwillig entrichten, sind noch nicht erfunden; sie sind wohl auch nicht erfindbar. Die deutsche Abgabenordnung hat auch das japanische und das südamerikanische allgemeine Steuerrecht beeinflusst. Sie ist Vorbild geworden für das brasilianische (allgemeine) Steuergesetzbuch (Codigo Tributario), ein die Verfassung ergänzendes Rahmengesetz. Die „Wissenschaft des öffentlichen Rechts“ hat auch später nicht die von Nawiasky genannte Aufgabe in Angriff genommen, „ein wirklich tragfähiges System des deutschen Finanzrechts . . . zu errichten“. So wie die Verwaltungsrechtswissenschaft bis heute keinen Entwurf eines allgemeinen Verwaltungsrechtsgesetzes erarbeitet hat, hätte sie sich (erst recht nicht) um ein allgemeines Steuerrecht gekümmert, wenn das Steuerrecht sich nicht separiert hätte. Das Steuerrecht löste sich vom Verwaltungsrecht, verselbstständigte sich. 43 Enthielten die Verwaltungsrechtslehrbücher von O. Mayer, 44 F. Fleiner 45 und W. Jellinek 46 noch einen mehr oder weniger kurzen Abschnitt zum Allgemeinen Steuerrecht, so gingen die späteren Lehrbücher dazu über, das Steuerrecht gänzlich auszuklammern. 47 Der Verlust war nicht erheblich. Was die Lehrbücher zum Verwaltungsrecht enthalten hatten, war zu summarisch und pauschal, war zu sehr eingeengt auf Verfahrensrechtliches, als dass es praktisch etwas hätte bewirken können. Das allgemeine Steuerschuldrecht fehlte so gut wie ganz, das besondere Steuerrecht – verständlicherweise – schon ganz und gar. Nawiaskys Einzelkritik an der Reichsabgabenordnung wurde später in fast allen Punkten von H. Bürger gründlich widerlegt. Danach zog sich Nawiasky ebenso wie L. Waldecker aus dem allgemeinen Steuerrecht zurück; für das besondere Steuerrecht fehlte ihnen die Kompetenz.
43 Ausführlich über die Auseinanderentwicklung von Staats- und Verwaltungsrecht einerseits und Steuerrecht andererseits Th. Ritter, Die Auslegung der Steuergesetze in der Rechtsprechung des BFH, Bestandsaufnahme und verfassungsrechtliche Würdigung. Diss. Bayreuth 1987; s. auch schon G. Wacke, StbJb. 1966/67, 75, 82–85. 44 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht3, 1924, Bd. I, §§ 27–32: Die Finanzgewalt (S. 315–382). 45 F. Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts8, 1928, § 27: Die öffentlichen Abgaben (S. 419–438). 46 W. Jellinek, Verwaltungsrecht3, 1931, unveränderter Nachdruck 1966, S. 393–399. 47 Eine Ausnahme bildete kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Kapitel über Steuerrecht das Lehrbuch von H. Peters, Lehrbuch der Verwaltung, 1949, 15. Kapitel (S. 331–373).
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Weimarer Republik
1.3 Forschung während der Weimarer Republik (1919–1933) 1.31 Wegbereiter und Hauptschrittmacher der Steuerrechtswissenschaft (1) Albert Hensel Der Hauptschrittmacher und wirksamste Wegbereiter eines wissenschaftlichen, rechtsstaatlichen Steuerrechts wurde der Staatsrechtslehrer Albert Hensel (1895–1933). Er erkannte, dass sich die wissenschaftliche Bewältigung des Steuerrechts nicht en passant bewältigen ließ und stellte „einen großen Teil seiner Arbeitskraft in den Dienst des Steuerrechts“. 48 Er beschränkte sich nicht auf Kritik an der Abgabenordnung, sondern legte 1924 ein Lehrbuch des Steuerrechts von hohem Rang vor, 49 das er im Vorwort als erste wissenschaftlich-systematische Bearbeitung des deutschen Steuerrechts 50 bezeichnete. Hensel hat auch selbst betont, dass er sein Lehrbuch unter die Leitidee „Rechtsstaat und Steuerrecht“ gestellt habe. 51 Es war allerdings überwiegend die formale Rechtsstaatlichkeit, mit der Hensel sich befasste. In § 3 des Lehrbuchs, überschrieben mit „Das Recht zur Besteuerung“, findet man nichts zur Frage, wodurch die Besteuerung im Allgemeinen und wodurch die einzelnen Steuern gerechtfertigt werden könnten. Bei Hensel kann man etwas finden über „Rechtsfähigkeit“, nicht aber etwas über „Rechtfertigung“. Hensels Tatbestandslehre, die auch heute noch Steuerrechtslehrer beeindruckt, war zunächst noch eine reine (ethisch leere) Formallehre, 52 die von der Rechtfertigung der Steuer eher ablenkt, sie als unjuristisch auszuklammern scheint. Immerhin setzte A. Hensel sich bald auch für die Beachtung des Leistungsfähigkeitsprinzips (Art. 134 WRV) durch den Gesetzgeber ein. 53 Das besondere Steuerrecht ist bei Hensel nur äußerst knapp (auf ca. 40 Seiten mit Tabellenanhang) dargestellt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Hensel leider nur eine kurze Schaffensperiode beschieden war. Nach seiner Emigration starb er 1933 im Alter von nur 38 Jahren an einem Herzleiden. 54 48 VVDStRL 3 (1927), 63, 66. 49 1. Aufl. 1924, 2. Aufl. 1927, 3. Aufl. 1933. 50 Wörtlich heißt es im Vorwort zur 1. Auflage: „Beim Erscheinen dieses Buches lag eine wissenschaftlich-systematische Bearbeitung des deutschen Steuerrechts noch nicht vor. . . . Ich konnte mich nicht für große Teile meines Gebiets auf bereits anerkannte Ergebnisse der Rechtswissenschaft berufen, sondern musste für sie erst die Grundlagen zu schaffen versuchen. Dabei war ein Gesetzesstoff von besonders großer Ausdehnung zu bearbeiten.“ 51 A. Hensel, Steuerrecht2, 1927, Vorwort S. VIII. 52 Dazu K. Tipke, StuW 1993, 105. 53 VJSchrStF 1930, 441, 443 ff. 54 Näher über Leben und Werk von A. Hensel VJSchrStFR 1933, 457 f.; DJZ 1933, 1423 und StuW 1933 I, 1353; A. Pausch, DStZ 1983, 445; ders.,
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Hensels Arbeit wurde von wissenschaftlich begabten Praktikern unterstützt. Man bemühte sich zur Zeit Hensels um die Fixierung des Standorts des Steuerrechts, insbesondere um sein Verhältnis zum Zivilrecht, 55 man arbeitete systematisch 56 und kümmerte sich insbesondere um das allgemeine Steuerschuldrecht. 57 (2) Johannes Popitz Große Verdienste um die Entwicklung des Steuerrechts hat sich Johannes Popitz (1884–1945) erworben. Popitz wurde 1917 in das Reichsschatzamt (später Reichsfinanzministerium) berufen. 1921 wurde er Ministerialdirektor und Leiter der Steuerabteilung, 1925 Staatssekretär. Popitz hat besondere Verdienste um die Steuergesetzgebung. Er hatte schon an der Erzbergerschen Steuerreform von 1919 mitgewirkt und war der führende Kopf der Steuerreform von 1925, als Schlieben-Popitzsche Steuerreform bezeichnet. Popitz war kein Universitätsprofessor, wohl aber in Berlin Honorarprofessor für Öffentliches Recht, insbesondere für Steuerrecht und Finanzwissenschaft. Popitz war auch Fachmann für den Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden. Maßgeblich hat er an einem vorzüglichen Kommentar zum Umsatzsteuergesetz mitgewirkt (zusammen mit Kloß und Grabower). In Popitz vereinigten sich die Vorzüge eines Theoretikers mit einem sehr talentierten Verwaltungsfachmann. Die Vernachlässigung des Steuerrechts durch die Universitäten hat er mehrfach beklagt. Nach 1933 nahm Popitz das Amt des preußischen Finanzministers an, ging aber 1938 in den Widerstand gegen Hitler. Gleich nach dem Attentat auf Hitler am 20. 7. 1944 wurde er verhaftet und wegen „vollkommenen Verrats“ am Führer zum Tode durch den Strang verurteilt. Das Urteil wurde im Frühjahr 1945 vollstreckt. Die junge Bundesrepublik hätte den hervorragenden Steuer- und FinanzStStud 1991, 443; ders., Persönlichkeiten der Steuerkultur, 1992, S. 94 ff.; P. Kirchhof, StuW 1983, 357; E. Reimer/Chr. Waldhoff (Hrsg.), Albert Hensel . . ., 2000. 55 C. A. Emge, Gratisaktien und Steuern. Grundsätzliche Erwägungen über die Beziehung des Zivilrechts zum Steuerrecht, 1923; K. Ball, Steuerrecht und Privatrecht, Theorie des selbständigen Steuerrechtssystems, 1924; A. Liebisch, Steuerrecht und Privatrecht, 1933. 56 K. Ball, Die Entwicklung des Steuerrechtssystems, VerwArch. Bd. 31 (1926), 308 ff.; K. Friedrichs, Das System des Abgabenrechts, VJSchrStFR 1927, 713 ff. 57 G. Lassar, Der Erstattungsanspruch im Verwaltungs- und Finanzrecht, 1921; W. Merck, Steuerschuldrecht, 1926; H. Mirbt, Beiträge zur Lehre vom Steuerschuldverhältnis, FinArch. Bd. 44 (1927), 1–56; K. Arens, Zum Begriff der Haftung im geltenden Steuerrecht, VJSchrStFR 1927, 567–650; H. Bürger, Die Rechtsfigur des Steuerschuldners, VJSchrStFR 1928, 75–172.
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experten, den erfahrenen Verwaltungsfachmann J. Popitz gut gebrauchen können. 58 Zu den Art. 105, 106 GG wäre es dann vielleicht nicht gekommen. (3) Ottmar Bühler Ein weiterer Schrittmacher des Steuerrechts war Ottmar Bühler (1884–1965). 59 Er legte 1927 den Allgemeinen Teil eines steuerrechtlichen Lehrbuchs vor. 60 Wenngleich Bühler auch kein Systematiker vom Range Hensels war, 61 so ist es doch sein Verdienst, sich als erster Hochschullehrer des Rechts näher mit dem (praktisch relevanten) besonderen Steuerrecht befasst zu haben. 62 Sein Interesse galt auch dem Bilanzsteuerrecht 63 und dem Steuerrecht der Gesellschaften. 64 Lange genug hatte die systematische Arbeit am besonderen Steuerrecht auf sich warten lassen. 1924 hatte A. Karger 65 festgestellt: „Noch immer fehlt . . . das Merkmal jeder Wissenschaft: aus der Vielheit der Erscheinungen die Einheit und die Übereinstimmung zu erkennen, die Grundsätze aufzudecken und die Gesetze zu finden, welche die Vielheit der Erscheinungen beherrschen. Vergebens wird man überall die leitenden Ideen des gesamten Steuerrechts suchen.“ Als großen systematischen Wurf wird man Bühlers erst 1938 erschienenes Einzelsteuerrecht 66 allerdings wohl kaum bezeichnen können. 67 O. Veiel rezensierte es 1938 wie folgt:
58 Näher zu J. Popitz K. Tipke, StuW 2006, 291 ff. S. auch unten Fußn. 83. 59 Über Bühlers Leben und Werk A. Spitaler, Prof. Dr. Ottmar Bühler und die deutsche Steuerrechtswissenschaft, StuW 1949, 545 ff.; H. C. Nipperdey, in: Festschrift für Ottmar Bühler, 1954, S. 5 f.; L. Hessdörfer, Ottmar Bühler zum achtzigsten Geburtstag, StuW 1964, 401; ders. Ottmar Bühler zum Gedächtnis, StuW 1965, 449; A. Pausch, 50 Jahre Bühlers Leitideen des Steuerrechts, DStZ A 1977, 203, 219; H. v. Wallis, Zum Andenken an Ottmar Bühler, StuW 1984, 368; K. Tipke, Über Bühlers Lehrbücher, StuW 1984, 370; A. J. Rädler und W. Flume, Ottmar Bühler zum 100. Geburtstag, FR 1984, 573 f.; A. J. Rädler, Ottmar Bühler, Festschrift C. H. Beck-Verlag, 1988, S. 195 ff.; A. Pausch, Persönlichkeiten der Steuerkultur, 1992, S. 125 ff. 60 O. Bühler, Lehrbuch des Steuerrechts, I. Allgemeines Steuerrecht, Berlin 1927. 61 Dazu K. Tipke, Über Bühlers Lehrbücher, StuW 1984, 370. 62 Dazu sein (allerdings erst) 1938 erschienenes Lehrbuch des Steuerrechts, II. Bd., Einzelsteuerrecht (Besonderer Teil des Steuerrechts). 63 O. Bühler, Bilanz und Steuer nach der jüngsten Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und der Aktiennovelle von 1931, 1933. 64 O. Bühler, Steuerrecht der Gesellschaften und Konzerne, 1951. 65 DStZ 1924, 3, 4. 66 S. o. (Fußn. 62). 67 Dazu K. Tipke, Über Bühlers Lehrbücher, StuW 1984, 370 ff., 372.
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§ 22 Rückblick: Die Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft „Was mir an Bühlers Werk auffällt, ist sein Festhalten . . . an dem üblichen Denken in der Richtung, dass man in loser Verbundenheit die gesetzlichen Bestimmungen und die dazugehörige Rechtsprechung darstellt, mit eingestreuten Versuchen, diese Rechtsprechung in Einzelfällen zu beanstanden. . . . Dabei darf man aber doch wohl nicht stehen bleiben; sondern gerade für die Anfänger, die strebenden und forschenden Jungen wird tiefer gegangen werden, wird auf die Grundprobleme zurückgegangen werden müssen, um in wissenschaftlichem Fortschreiten theoretischer Forschung aus der Fülle der mehr als 50 großen und kleinen Steuergesetze die allgemeinen Grundlinien und verbindenden Gedanken herauszuarbeiten, die Bedeutung des einzelnen Gesetzes und seine Stellung im Rahmen des ganzen jetzigen Gesetzgebungswerks darzulegen . . . In dieser Richtung ist das vorliegende Werk, wie ich zu meinem Bedauern sagen muss, nicht so richtungweisend, wie es gerade von diesem Rechtslehrer erhofft wurde.“ 68 – Das Lehrbuch – das will Veiel wohl ausdrücken – sollte vor allem systematische Kraft entfalten, nicht vor allem ein Konglomerat von Informationen liefern, sondern den Wissenszweig repräsentierend – soweit möglich – ein System von gedanklicher Geschlossenheit lehrhaft vermitteln.
(4) Kurt Ball, Enno Becker, Herbert Dorn, Rolf Grabower, Max Lion, Georg Strutz Obwohl nicht Hochschullehrer, haben sich wissenschaftliche Verdienste um das Steuerrecht in der Zeit bis 1933 insbesondere auch erworben: Kurt Ball (1891–1976), vor allem durch systematische Ansätze, 69 Enno Becker (1869–1940) als Schöpfer der Reichsabgabenordnung, als Verfechter der wirtschaftlichen Betrachtungsweise und durch Beiträge zum Einkommensteuerrecht, 70 Herbert Dorn (1887–1957), vor allem im Bereich des Doppelbesteuerungsrechts, 71 Rolf Grabower (1883–1963), vor allem im Bereich des Betriebsprüfungs- und Umsatzsteuerrechts, 72 Max Lion (1883–1951), vor allem im 68 O. Veiel, Zur Frage des Lehrbuchs im Steuerrecht, StuW 1938 I, 1261, 1266, 1268. 69 Dazu A. Pausch, Im Gedenken an Kurt Ball, StuW 1976, 387; ders., Persönlichkeiten (Fußn. 59), S. 76 ff. 70 Dazu die in Fußn. 17 genannte Literatur, außerdem A. Pausch, DStZ 1980, 412; ferner StuW 1960, Heft 1 (mit Beiträgen von L. Hessdörfer, Friedr. Klein, A. Spitaler, K. Friedlaender, R. Grabower, W. Mersmann, G. Schmölders, F. Vangerow, G. Gast, G. Felix und W. Friedrich). 71 Dazu Franz Klein, Zur Erinnerung an Herbert Dorn, StuW, 1987, 97; J. H. Kumpf, Schriften von und über Herbert Dorn, StuW 1987, 100; A. Pausch, Persönlichkeiten (Fußn. 59), S. 104 ff. Herbert Dorn war bis 1948 Präsident des Reichsfinanzhofs. 72 Dazu A. Pausch, Rolf Grabower und die Steuerwissenschaften, StuW 1973, 189; s. auch ders., Oberfinanzpräsident Prof. Dr. Dr. Rolf Grabower zum Gedenken an seinen 100. Geburtstag am 21. 5. 1983, UR 1983, 81; ders., Rolf Grabower, Architekt des Betriebsprüfungsdienstes im Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, StStud 1992, 43 ff.; ders., Persönlichkeiten (Fußn. 59), S. 112 ff.
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Bilanzsteuerrecht, 73 und Georg Strutz (1861–1929), vor allem als Verfasser eines dreibändigen Großkommentars zum Einkommensteuergesetz (1927/1930). 1924 legte Strutz seine „Grundlehren des Steuerrechts“ vor. 74 (5) Großer Anteil von Steuerjuristen jüdischer Herkunft Hervorzuheben ist, dass Wissenschaftler und Praktiker jüdischer Abstammung einen besonders großen Beitrag zur Entwicklung des deutschen Steuerrechts in der Zeit der Weimarer Republik geleistet haben. Während die deutschen Öffentlichrechtler das Staatsrecht (dabei das Finanzrecht weitgehend ausklammernd) und innerhalb des Verwaltungsrechts das Polizeirecht besonders pflegten, fühlten sich insbesondere jüdische Juristen vom Wirtschafts- und Steuerrecht angezogen. Ob deutsche Juristenmentalität die Rechtsfragen um Polizei, Militär und Kirche durchgehend attraktiver fand und findet als den Bereich des Wirtschafts- und Finanzrechts, mag hier dahinstehen. Auffällig ist, dass das öffentliche Schuldrecht als Gegenstand des Staats- und Verwaltungsrechts bis heute vernachlässigt worden ist. Jüdischer Abstammung waren die im Text und in den Fußnoten dieses Abschnittes genannten L. Waldecker, G. Lassar, 75 H. Nawiasky, W. Jellinek, K. Ball, M. M. Warburg, O. Kahn, M. Lion, H. Dorn, A. Hensel, R. Grabower und H. Reinach, ferner F. Stier-Somlo und H. Rheinstrom. Dasselbe gilt vom Reichsfinanzminister (1923, 1928/29) R. Hilferding und den Finanzwissenschaftlern F. K. Mann und F. Neumark. 76, 77 R. Grabower kam ins Konzentrationslager. Die meisten emigrierten, nur wenige kehrten zurück. K. Ball starb 1976 in Tel Aviv, 78 M. Lion 1951 in New York, A. Hensel schon 1933 73 Dazu A. Pausch, Max Lion, Pionier des Bilanzsteuerrechts. Aufstieg und Verfolgung eines deutschen Steuerwissenschaftlers jüdischer Abstammung, StuW 1979, 149, mit Ergänzungen von D. Schneider, StuW 1979, 283, und H. Bathe, StuW 1980, 181; A. Pausch, Max Lion – Wegbereiter des Bilanzsteuerrechts und Brückenbauer vom Steuerrecht zur Betriebswirtschaftslehre, StStud 1991, 3; ders., Persönlichkeiten (Fußn. 59), S. 84 ff. – Lions Bilanzsteuerrecht erschien 1922 in erster, 1923 in zweiter Auflage. 74 Zu G. Strutz der Nachruf in DStZ 1929, 321 f. 75 Über G. Lassar G. Wacke, JZ 1958, 761, und F. Schack, AöR Bd. 83 (1958), 379. 76 Dazu F. Neumark, Zuflucht am Bosporus. Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933–1953, 1980. 77 Weitere Namen finden sich in der Rezension des Buches von H. Göppinger (s. u. Fußn. 84) durch J. H. Kumpf in StVj 1991, 79 ff. 78 Ende der 1960er Jahre suchte K. Ball neugierig das Bundesfinanzministerium in Bonn auf. Er war enttäuscht, dass im Ministerium niemand etwas mit seinem Namen anzufangen wusste – bis auf den steuerhistorisch engagierten A. Pausch, der ihm empfahl, mich in Köln aufzusuchen. In der Steuerrechtsbibliothek der Universität Köln fand er alle seine Veröffentlichungen aus der Weimarer Zeit wohlbehalten vor und nahm an einer Seminardiskussion teil.
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§ 22 Rückblick: Die Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft in Pavia, 79 H. Rheinstrom 1960 in New York. H. Dorn, von 1919–1926 Ministerialbeamter im Reichsfinanzministerium, danach bis 1934 Präsident des Reichsfinanzhofs, wurde 1938 von der Gestapo verhaftet und misshandelt; er emigrierte 1939, wurde 1949 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Delaware. H. Reinach (Begründer und Herausgeber der Zeitschrift „Steuer und Wirtschaft“ von 1922–1934) emigrierte 1939 nach Brasilien und wurde dort zu einem Förderer des brasilianischen Steuerrechts; 80 er starb 1965 in Sao Paulo. R. Hilferding wurde 1941 von Beamten der französischen Vichy-Regierung an die Gestapo in Paris ausgeliefert; er starb im Gestapo-Gefängnis, ob durch Mord oder Selbstmord, ist nicht geklärt. 81 Wer allerdings meint, dass Steuerrechtler in Anbetracht „ihres trockenen Zahlengeschäfts“ in der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus nur aus rassischen Gründen gefährdet sein konnten oder um ihr Leben fürchten mussten, irrt sich. A. Zarden, bis 1933 Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, wurde 1942 verhaftet; er verübte Selbstmord durch einen Sprung aus dem Fenster eines Gestapo-Gebäudes. 82 J. Popitz gehörte einem Widerstandskreis an, wurde nach dem Attentat auf Hitler am 20. 7. 1944 zum Tode verurteilt und im Februar 1945 durch den Strang hingerichtet. 83 Mit der Emigration in den Jahren nach 1933 verloren die deutschen Universitäten ihren Weltrang. Von dem Aderlass, den die deutsche Steuerrechtswissenschaft durch sie erlitten hat, hat sie sich erst ab den 1970er Jahren erholt.
79 Dazu die Nachrufe in VJSchrStFR 1933, 457, StuW 1933 I, 1353, und DJZ 1933, 1423. 80 Über Reinachs Wirken in Brasilien finden sich einige Bemerkungen in der Festschrift für Ruben Gomes de Souza (Hrsg. R. B. Nogueira), Sao Paulo 1974, S. 8–10. 81 Alex Möller, Im Gedenken an Reichsfinanzminister Rudolf Hilferdings, hrsg. vom BMF, Bonn 1971, S. 35. 82 BMF, Arthur Zarden (1885–1944), Staatssekretär im Reichsfinanzministerium. Eine Gedenkausstellung, veranstaltet von der Bundesfinanzakademie, Siegburg 1985, S. 24–26. 83 S. dazu auch A. Pausch, Im Konflikt mit dem Steuerpositivismus. Johannes Popitz zwischen gesetzlichem Unrecht und übergesetzlichem Recht, StuW 1985, 54; ders., Johannes Popitz. Geistiger Vater der deutschen Umsatzsteuer und der organischen Steuerreform von 1925; Mitbegründer der Steuerrechtswissenschaft, StStud 1990, 43, 46 f. Über J. Popitz erschien 2006 eine umfängliche Schrift von R. Voß, Johannes Popitz. Jurist, Politiker, Staatsdenker unter drei Reichen – Mann des Widerstands. Ich habe mehr Verständnis als R. Voß für die anfängliche (in den ersten Jahren nach 1933) Verstrickung von Popitz in den Nationalsozialismus. Der konservative J. Popitz, der wenig Sympathien für die Weimarer Republik hatte, hatte sich in den Nationalsozialisten getäuscht; ihre Praktiken stießen ihn zunehmend ab, so dass er zum Widerständler wurde (s. dazu meine Buchrezension in StuW 2006, 289 ff.). Zu J. Popitz auch schon Hildemarie Dieckmann, Johannes Popitz, Diss. Berlin 1960; L.-A. Bentin, Johannes Popitz und Carl Schmitt, 1972.
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1.32 Zeitschriften: „Steuer und Wirtschaft“; „Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht“ (1) Über die von Heinrich Reinach 1922 begründete Zeitschrift „Steuer und Wirtschaft“ heißt es bei Göppinger: 84 „Die 1922 begründete Zeitschrift ‚Steuer und Wirtschaft‘ war das offiziöse Organ des Reichsfinanzhofs, die angesehenste Steuerzeitschrift Deutschlands, herausgegeben unter Mitwirkung des Präsidenten, eines Senatspräsidenten dieses Gerichts und des Prof. Dr. Albert Hensel, Königsberg, und redigiert von Rechtsanwalt Dr. Heinrich Reinach, München, der jüdischer Abstammung war. Auf Grund des von ‚Reichsrechtsführer‘ Hans Frank Ende 1933/Anfang 1934 ausgeübten Drucks unterließen es die Richter des Reichsfinanzhofs, dem Schriftleiter weitere Manuskripte zuzuleiten, ebenso war auch Staatssekretär Reinhardt, Reichsfinanzministerium, bestrebt, das weitere Erscheinen der Zeitschrift in diesem Verlag zu verhindern. So konnte der Heß-Verlag das März-Heft 1934 nicht mehr herausbringen und musste im selben Monat die Zeitschrift abgeben . . .“ 85
(2) 1927 begründet Max Lion – unter Mitwirkung von Enno Becker, Herbert Dorn, Albert Hensel und Johannes Popitz – die „Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht“. Sie repräsentierte neben der Zeitschrift „Steuer und Wirtschaft“ den Stand der Steuerrechtswissenschaft der damaligen Zeit, konnte aber ebenfalls nur bis 1933 erscheinen. Bemerkenswert ist, dass die Namen von E. Becker, A. Hensel, J. Popitz, H. Dorn, M. Lion u. a. nicht etwa bloß die Titel- oder Deckblätter dieser Zeitschriften als Werbung schmückten, sondern dass sie permanent durch eigene Beiträge versuchten, systematische Schneisen in das Steuerrecht zu schlagen. 1.33 Die Situation gegen Ende der Weimarer Republik 1928 fasste J. Popitz die Situation wie folgt zusammen: „Nach dem Kriege wurde das anders. Auf fast allen Universitäten erschienen plötzlich in Vorlesungsplänen der juristischen Fakultäten Vorlesungen über Steuerrecht, die Rechtswissenschaft schien sich des bisher vernachlässigten Gesetzesstoffs bemächtigen zu wollen, seine Darstellung und systematische Durchdringung als wichtige und fruchtbare Aufgabe zu betrachten. Es trat freilich bald eine gewisse Ernüchterung ein. Der Stoff war doch zu fremd, die Überfülle, die sich zeigte, wirkte 84 H. Göppinger, Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich“2, München 1990, S. 377 f.; dazu die Rezension von J. H. Kumpf, StVj 1991, 79 ff. 85 Zur Geschichte der Zeitschrift „Steuer und Wirtschaft“ ausführlich H. W. Kruse, Fünfzig Jahrgänge Steuer und Wirtschaft – Ein Ausschnitt aus der Geschichte des Steuerrechts, StuW 1973, 273, und F.-W. Henning, Fünfzig Jahrgänge Steuer und Wirtschaft – Probleme des Steuerwesens vor dem realgeschichtlichen Hintergrund, StuW 1973, 288.
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erdrückend. Das war begreiflich. Denn der stete Wechsel der steuerlichen Rechtsnormen bot einen neuen Grund zur Ablehnung . . . Der Hauptgrund, dass die zunächst verheißungsvollen Anfänge versagte, lag schließlich doch wohl in dem Mangel an jeder Tradition für die juristische Behandlung des Stoffes. Ein Neubau gerade in rechtstheoretischer und systematischer Hinsicht setzt eben eine Kraftanstrengung voraus, die abschreckt und Anforderungen stellt, die über das Maß hinausgehen, was für die Behandlung schon durchforschten althergebrachten Rechtsstoffes genügt. Trotzdem haben die wohl Unrecht, die meinen, es sei vergebene Liebesmüh, das Steuerrecht sei eine Modepflanze, die andauernde Pflege nicht verlohne und bald wieder in einem Nebengärtchen des Verwaltungsrechts ihre ausreichende Stätte fände. Schließlich sind nun doch, wenn auch mit reichlicher Verzögerung, Lehrbücher des Steuerrechts auch reiner Wissenschaftler 86 erschienen, die Praktiker, die sich vor dem Kriege lediglich mit dem einen oder anderen Steuergesetz auslegend beschäftigten, haben sich selbst zur theoretischen und systematischen Behandlung hinaufgearbeitet und füllen die Lücken, 87 die die zünftigen Vertreter der Wissenschaft zu schließen sich noch scheuen. Das Material bietet sich seit 1925 in größerer Konstanz dar, die monographische Bearbeitung schreitet fort, eine der Vorkriegszeit in dieser Geschlossenheit unbekannte Rechtsprechung breitet die wissenschaftlichen Probleme aus: die zünftige Wissenschaft kann auf die Dauer nicht zurückbleiben und muss sich wohl oder übel bequemen, das unwillkommene Kind des Rechts als ebenbürtig anzuerkennen. Trotzdem die Entwicklung viel langsamer vorwärts gegangen ist, als es anfangs schien, steht heute das Steuerrecht als selbständige Rechtsdisziplin neben ihren älteren, wohlversorgten Schwestern.“ 88 Die Steuerrechtswissenschaft der Weimarer Zeit nahm noch kaum Notiz von der Verfassung, 89 und umgekehrt ignorierte die Verfas86 J. Popitz nennt in der Fußnote die Lehrbücher von A. Hensel, H. Mirbt, O. Bühler, O. Wittschieben (Österreich) und E. Blumenstein (Schweiz). 87 J. Popitz nennt in der Fußnote Arbeiten von K. Ball, M. Lion, W. Merk und E. Becker. Er hätte vor allem auch eigene Arbeiten anführen können. 88 J. Popitz, in: Festgabe für G. v. Schanz, 1928, Bd. I, S. 49 (40–42). 89 G. Wacke, StbJb. 1966/1967, 75, 82 ff.; E. Benda/K. Kreuzer, DStZ A 1973, 49, 51; D. Birk stellt dazu fest: Die Steuerrechtswissenschaft der Weimarer Zeit habe „sich . . . weitgehend auf die Ausbildung des rechtsstaatlichen Eingriffsrechts“ beschränkt, „während sie in der materiellen, die Verteilungsfrage betreffenden Begriffsbildung weitgehend den finanzwissenschaftlichen Denkkategorien verhaftet“ blieb. Man habe die zentrale Aufgabe der Steuerrechtswissenschaft in der Verwirklichung der Rechtsstaatsidee gesehen, nicht in der Formulierung der Verteilungsgerechtigkeit. Der wissenschaftliche Anspruch der Steuerrechtswissenschaft sei damit sehr
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sungsrechtslehre weitgehend das Steuerrecht. Immerhin hat sich A. Hensel schon für die Beachtung des Leistungsfähigkeitsprinzips (Art. 134 WRV) durch den Gesetzgeber eingesetzt. 90
2. Die Zeit von 1933–1945 Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kamen die steuerrechtswissenschaftlichen Bemühungen fast zum Erliegen. Der Staatssekretär Fritz Reinhardt, ein überzeugter Nationalsozialist, gab den Ton an. 91 Er initiierte die Gesetze, dirigierte die Verwaltung und versuchte, den Reichsfinanzhof zu seinem Gehilfen zu degradieren. 92 dürftig gewesen (D. Birk, Steuerrecht I, Allgemeines Steuerrecht, 1988, § 3 RNrn. 1 u. 2). Zum gleichen Ergebnis kommt Th. Rittler, Die Auslegung der Steuergesetze in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, Diss. Bayreuth 1987, S. 269: „Die Blüte, die das Steuerrecht als wissenschaftliche Disziplin in der Weimarer Zeit erlebte, ging Hand in Hand mit einer zunehmenden Vernachlässigung der verfassungsrechtlichen Bezüge. Selbst die bedeutendste Literatur verzichtet weitgehend darauf, diese auch nur kurz anzusprechen – man betrachte nur Ottmar Bühlers Allgemeines Steuerrecht von 1927 (3) und Enno Beckers Kommentar zur RAO, zuletzt 1930 (4). Eine Ausnahme macht allein Albert Hensel, der freilich der 3. Auflage seines Steuerrechts 1933 schon feststellen musste, dass die Verfassungswirklichkeit insbes. seit 1930 die Rechtsstaatsidee im Deutschen Steuerrecht tiefgreifend verändert, ja sogar ausgehöhlt habe . . .“ – Fairerweise muss man auch sagen, dass die H. M. in dem Weimarer Staat einen bloß formalen, keinen materialen Rechtsstaat sah. 90 A. Hensel, VJSchrStFR 1930, 441, 443 ff. 91 Dazu A. Pausch, Fritz Reinhardt als Mahnung, StB 1987, 349. Signifikant auch Fritz Reinhardts Appelle in DStZ 1937, 1; 1937, 113; 1938, 1093; 1939, 573; 1939, 813; 1941, 1; 1941, 49; 1941, 649 („Unsere gegenwärtige Generation hat das riesengroße Glück, Adolf Hitler zu besitzen. Er ist unser Führer, dem wir blindlings vertrauen können und dem wir blindlings folgen wollen. Der Führer hat sich in seinen Entschlüssen noch niemals geirrt. Seine Entscheidungen sind stets richtig und zum Wohle des Deutschen Volkes gewesen. Das war in der Vergangenheit so, das ist gegenwärtig so, und das wird in Zukunft so sein.“). Markante Beiträge von Fritz Reinhardt: Das nationalsozialistische Steuerprogramm (ZAkDR 1934, 103); Rede anlässlich der Einführung des RFH-Präsidenten L. Mirre v. 13. 4. 1935 (RStBl. 1935, 641); Leitsätze für die Gestaltung und Auslegung der Steuergesetze nach nationalsozialistischer Weltanschauung (DStZ 1935, 569, 599, 625, 653); Innere Maßnahmen der Reichsfinanzverwaltung – § 1 des Steueranpassungsgesetzes – Der Beamte im nationalsozialistischen Staat (DStZ 1936, 1207); Beurteilung von Tatbeständen nach nationalsozialistischer Weltanschauung (DStZ 1936, 1291); Vorträge auf der Salzburger Umschulungstagung, 1941 (Bücherei des Steuerrechts [Hrsg. Fritz Reinhardt], Bd. 5). 92 Dazu ausführlich J. H. Kumpf, Die Finanzgerichtsbarkeit im Dritten Reich, in: B. Diestelkamp/M. Stolleis (Hrsg.), Justizalltag im Dritten Reich, 1988, S. 81, 85 ff.
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§ 22 Rückblick: Die Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft
In § 1 I StAnpG wurde bestimmt, dass Steuergesetze nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen sind. 93 Die jüdischen Steuerrechtler wurden „ausgeschaltet“. Kaum erörtert worden ist bisher das Verhalten deutscher Kollegen gegenüber der psychischen Misshandlung jüdischer Berufsangehöriger. Um ein Ruhmesblatt handelt es sich alles in allem wohl gewiss nicht. 94 Von den Juden, die aus Deutschland vertrieben wurden, wurde eine „Reichsfluchtsteuer“ erhoben. Man würde F. Reinhardt indes nicht gerecht, verschwiege man, dass sein Einsatz für Gleichmäßigkeit der Besteuerung und „Volksgemeinschaft“, seine Ablehnung formaljuristisch-künstlicher Konstruktionen, seine Attacken auf Steuerhinterzieher („Schmarotzer“) wohl auch ethische Wurzeln hatten. 95 Im Vordergrund stand aber: F. Reinhardt war NS-Ideologe und Steuertechniker. In der NS-Zeit gab es auch Kampagnen gegen den steuerberatenden Berufsstand. F. Behrens, Lehrer am Steuerinstitut der Handelshochschule Leipzig, bezeichnete die Steuerberater und Helfer in Steuersachen als „Steuerbetrüger“ und „Helfer im Steuerbetrug“. 96 Immerhin wurde noch vor Kriegsende, nämlich 1942 an der Universität zu Köln – auf Betreiben der Stadt Köln – der erste deutsche Spezial-Lehrstuhl für Steuerrecht eingerichtet. 97 93 Dazu J. H. Kumpf, a. a. O. (Fußn. 92), S. 81, 89 ff. 94 Dazu K. Tipke, Über die Juden-Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs, BB 1993, 1813. 95 Man darf sich die Situation nicht so vorstellen, als sei nur Druck und Zwang ausgeübt worden. Es wurden durchaus auch „ethische“ Saiten angeschlagen (z. B. „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“); dazu auch Th. Maunz, Werden und Beharren im Reichsabgabenrecht, Deutsche Rechtswissenschaft 1940, 330 ff. Wir finden dort auch Überschriften wie „Die ethische statt der wirtschaftlichen Betrachtung“; „Der Kampf gegen den Rechtsmissbrauch“. – Gewissenhafte Erfüllung der Steuerpflichten wurde als Tugend herausgestellt. Die Steuerhinterziehung galt nicht als Kavaliersdelikt, sondern wurde scharf verurteilt (s. etwa K. Bock, Nach den Steuerschurken die Steuerparasiten!, StWa 1935, 59f.). – Zur Finanzgerichtsbarkeit J. H. Kumpf, a. a. O. (Fußn. 92), S. 81 ff. 96 Zitiert nach J. H. Kumpf, Wissenschaftliche Zeitschrift der Handelshochschule Leipzig 1991, 249, 255. 97 Dass dieser Lehrstuhl geschaffen wurde, ist wesentlich dem Engagement der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät zu verdanken. Sie hatte die Bedeutung des Steuerrechts für Wirtschaft und Steuerberatung schon früh erkannt und schon in den zwanziger Jahren Steuerbeamte des höheren Dienstes als Lehrbeauftragte herangezogen. Das führte zu eifersüchtigen Auseinandersetzungen mit Professoren der Rechtswissenschaftlichen Fakultät (dazu „Der Streit der Fakultäten. Aus den Anfängen des Steuerrechts an der Universität Köln; Stier-Somlo contra Schmalenbach“, StuW 1987, 297 f. – F. Stier-Somlo war ein weitblickender Staatsrechtslehrer jüdischer Herkunft, der auch steuerrechtliche Vorlesungen hielt). Erster Kölner Lehrstuhlinhaber wurde O. Bühler (s. Fußn. 59). In seiner Antritts-
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3. Die Zeit seit 1945 3.1 Die Zeit bis 1970 Nach 1945 erholte die Steuerrechtswissenschaft sich zunächst nur schwer. O. Bühler, der 1943 auf den Kölner Lehrstuhl berufen worden war, rief zu einem „neuen Beginnen wissenschaftlicher Arbeit am Steuerrecht“ auf, aber er war zunächst fast allein. Bei den in der Nachkriegszeit tätigen Beamten und Richtern war der Faden zur Steuerrechtswissenschaft der Weimarer Zeit offenbar nahezu abgerissen. Die jüdischen Wissenschaftler kehrten – mit Ausnahme von R. Grabower – nicht zurück. 3.2 Die Zeit seit 1970 1970 stellte J. Isensee fest: „Die deutsche Staatsrechtswissenschaft ist traditionell aus einem gewissen Hochmut heraus abgeneigt, in die Niederungen der Finanzfragen hinabzusteigen.“ 98 Gleichwohl, der Staatsrechtslehrer Gerhard Wacke weckte Klaus Vogels Interesse am Steuerrecht. K. Vogel, der zum Staats- und Steuerrechtslehrer wurde, meinte noch in den 1970er Jahren: Die moderne Übersetzung von „Iudex non calculat“ laute: „Ein anständiger Jurist darf nichts von Bilanzen verstehen.“ 99 Es mag sein, dass viele Juristen, auch Rechtslehrer, sich an der Rechenhaftigkeit des Steuerrechts stoßen, nicht erkennen, dass die Steuerrechtswissenschaft eine Wertungswissenschaft ist, eine „Gerechtigkeitswissenschaft“, wie Klaus Vogel sie später genannt hat. 100 Ab Anfang der 1970er Jahre verbesserte sich die Situation der Steuerrechtswissenschaft allmählich. Wenn es auch vorlesung konstatierte Bühler fast nur Versäumnisse und Nachholbedarf (s. AöR Bd. 72 [1943], 122, 127 f., 156 f.). Die Befassung mit Steuern hat an der Universität Köln offenbar – wie an keinem anderen Platz – Tradition (dazu M. Weber, Die Geschichte der Steuerrechtswissenschaften an der Universität Köln bis 1945, Diss. rer. pol., Köln 1987). Die Universität zu Köln stellte am 3. 2. 1969 an den Wissenschaftsrat den Antrag, die „Steuerwissenschaft“ in das Verzeichnis der zu fördernden Sonderforschungsbereiche aufzunehmen (und Köln zum Standort dieses Sonderforschungsbereiches zu bestimmen). Dieser Antrag wurde unter maßgeblicher Mitwirkung eines Staats- und Steuerrechtslehrers einer anderen nordrhein-westfälischen Universität abgelehnt. Er äußerte, der Sonderforschungsbereich „Steuerwissenschaft“ gehöre an die Universität Bielefeld. Von Bielefelder Steuerrechtswissenschaft hat man aber bis heute (2011) so gut wie nichts gehört. 98 J. Isensee, Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung, 1970, S. 461 f.; s. auch ders., in: Festschrift für H. P. Ipsen, 1977, S. 409, 412. 99 DStZA 1977, 5. 100 JZ 1993, 1123.
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§ 22 Rückblick: Die Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft
weiterhin kaum steuerrechtliche Lehrstühle gab, so begannen doch einige Staats- und Zivilrechtslehrer, sich auch mit Problemen des Steuerrechts zu befassen. Es war wohl vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Staatsrechtslehrer einsehen ließ, dass das Steuerrecht – das sie doch als Teil des Staats- und Verwaltungsrechts ansahen – nicht terra incognita der Staatsrechtslehrer bleiben könne. 1971 übernahm der Verlag Dr. Otto Schmidt KG die „Steuer und Wirtschaft, Zeitschrift für die gesamte Steuerwissenschaft“ nach Köln. In dieser Zeitschrift, die 1922 gegründet worden war und schon in der Weimarer Republik eine wissenschaftliche Rolle gespielt hatte, veröffentlichte der Verfasser 1971 einen grundlegenden Aufsatz mit dem Titel „Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?“ Dieser programmatische Aufsatz führte das Systemdenken in das Steuerrecht ein und zeigte exemplarisch die Systemmängel des Einkommensteuergesetzes auf. 1973 erschien sein „systematischer Grundriss Steuerrecht“, in dem er seine Steuersystemtheorie weiterentwickelte und die Einzelsteuern systematisch abhandelte. Er unterschied zwischen äußeren und innerem System sowie Fiskalzweck-, Sozialzweck- und Vereinfachungsnormen. Der Verfasser war der Ansicht, die Steuerrechtswissenschaft dürfe nicht bei dem in der Abgabenordnung geregelten Allgemeinen Teil und bei der Befassung mit der Gesetzesanwendungsmethode stehen bleiben, sich auch nicht hauptsächlich des Besteuerungsverfahrensrechts annehmen; mindestens ebenso wichtig sei die systematische Durchforschung des Steuergesetzgebungskonglomerats, der zum Teil chaotischen Gesetzgebung. Das besondere Steuerrecht könne nicht vom allgemeinen Verwaltungsrecht her verwissenschaftlicht werden (die das versucht haben, sind gescheitert). In Joachim Lang fand K. Tipke einen jungen Wissenschaftler, der seine Grundauffassungen teilte. So kam es zu einer eher seltenen Symbiose (steuer-)rechtswissenschaftlichen Denkens. Eine weitere Promotorin wurde Brigitte Knobbe-Keuk. Sie war in Bonn für das Zivilrecht und das Steuerrecht habilitiert worden, wandte sich aber hauptsächlich dem Steuerrecht zu. 1977 erschien ihr Lehrbuch „Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht“. Zuvor hatte sie – vor allem in „Steuer und Wirtschaft“ schon einschlägige Beiträge veröffentlicht. Auch B. Knobbe-Keuk hatte den systematisch desolaten Zustand des Steuerrechts erkannt. Auch sie übte Gesetzeskritik, und als Gesellschaftsrechtlerin schuf sie einen Schwerpunkt in der Darstellung des Steuerrechts der Gesellschaften. Auch sie stieß in eine Lücke hinein. Das Gros der Handels- und Gesellschaftsrechtler pflegte sich um die Bezüge zum Steuerrecht nicht zu kümmern. Dasselbe galt von den Familien- und Erbrechtlern; auch sie klammerten steuer1298
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rechtliche Fragen aus. B. Knobbe-Keuk war keine Gesetzespositivistin, die einen beliebigen Gesetzesinhalt gelten ließ. Wie immer im Klartext schrieb sie im Vorwort zur 9. Auflage ihres Lehrbuchs 1993: „Der in reinen Aktionismus verfallene Steuergesetzgeber wird immer blindwütiger, ein Änderungsgesetz jagt und überschlägt das nächste, in der Sache nicht ausgereift, in der Technik nicht akzeptabel . . . nicht in sich schlüssige Konzepte sind gefragt, der Gesetzgeber . . . gefällt sich im Kurieren an Symptomen, im Zustopfen von Schlupflöchern, im Formulieren von Sonderregelungen, Ausnahmeregelungen, Ausnahmen von Ausnahmeregelungen. Er nimmt in Kauf, dass alle mit der täglichen Anwendung dieses Gebietes Befassten, Steuerpflichtige, Berater und Finanzbeamte, zu ersticken drohen und die Autorität der Rechtsordnung weiter untergraben wird.“ (S. V) Auf der anderen Seite legte B. Knobbe-Keuk sich mit den Handelsund Gesellschaftsrechtlern an, die die Steuerrechtler anklagten, das Steuerrecht zur unerwünschten Rechtsquelle gemacht zu haben. Sie beklagte den Rückzug der akademischen Handels- und Gesellschaftsrechtler aus dem Bilanzrecht und bezeichnete sie – die Ankläger – als „Täter“. 101 B. Knobbe-Keuk starb 1995 an Krebs. Nur die erste Halbzeit einer normalen Schaffensperiode konnte sie nutzen. 102 1976 wurde die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft gegründet. Sie ist eine im deutschen Sprachraum wirkende Vereinigung von Steuerrechtswissenschaftlern und wissenschaftlich engagierten oder interessierten Praktikern des Steuerrechts. Zu den wesentlichen Satzungszwecken der Gesellschaft gehören die Förderung der steuerrechtlichen Forschung und die Umsetzung steuerrechtswissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis. Die Gesellschaft will einen Beitrag dazu leisten, den Forschungsrückstand im Steuerrecht, ausgelöst durch mangelhafte Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftsplanung, zu mildern. Auch den Erfahrungsaustausch von Wissenschaft und Praxis will die Gesellschaft fördern. Die Gesellschaft hält im September ihre jährliche Fachtagung ab. Sie erbringt auf hohem Niveau beachtliche wissenschaftliche Leistungen. Die Vorträge und Diskussionen werden in Jahresbänden dokumentiert. Die Beteiligung von Theoretikern und Praktikern hat sich für beide Seiten als fruchtbar erwiesen. Auffällig stark vertreten sind Richter des Bundesfinanzhofs. 1982 wurde die Vereinigung zur wissenschaftlichen Pflege des Umsatzsteuerrechts gegründet; sie hält in mehrjährigen Abständen Fachtagungen ab. 101 B. Knobbe-Keuk, „Das Steuerrecht – eine unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts?“, 1986. 102 Ihr Werk habe ich ausführlich gewürdigt in StuW 1995, 254 ff.
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1981 legte Joachim Lang seine Habilitationsschrift mit dem Titel „Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer“ vor. Sie systematisiert auf der Grundlage des Leistungsfähigkeitsprinzips das Einkommensteuerrecht bis in die Details hinein und ist bis heute aktuell geblieben. Ebenfalls 1981 veröffentlichte der Verfasser seine Schrift „Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis“. K. Vogel hatte das Gerechtigkeitsthema schon 1975 angeregt. 103 Allmählich kam es auch zu weiterem steuerrechtswissenschaftlichem Nachwuchs. Aus dem Zivilrecht kommend tauchten als steuerrechtswissenschaftliche Autoren u. a. auf: J. Schulze-Osterloh, G. Crezelius, J. P. Meincke, R. W. Walz, K.-G. Loritz, aus dem öffentlichen Recht kommend J. Isensee, H. Söhn, B. Grossfeld und die von K. Vogel Habilitierten D. Birk und P. Kirchhof. Diese Autoren legten Aufsätze und Monographien vor, einige wirkten auch an Kommentaren mit. Neue Namen sind inzwischen hinzugekommen, z. B. W. Schön, R. Hüttemann, H. Stadie, R. Seer, J. Hey, J. Englisch, M. Jachmann, A. Leisner-Egensperger: Erfreulicherweise ist die Liste Ende 2012 nicht mehr vollzählig. Weitere Namen in Fußn. 110. Das ist seit 1970 ein erheblicher Fortschritt im Personellen. Und doch sind es relativ wenige im Vergleich dazu, dass mehrere Hundert Staatsrechtslehrer und Strafrechtslehrer weithin auf hoher Abstraktionsebene und sprachlich prätentiös über die Probleme ihres Fachgebietes zu räsonieren und es sich leisten können, auch für die Praxis irrelevante Trockenübungen vorzuführen. Steuerrecht und Sozialrecht sind diejenigen Teile des öffentlichen Rechts, die dem Gros der Staats- und Verwaltungsrechtslehrer weitgehend unbekannt sind. Zu erwähnen ist noch, dass D. Birk ein jährlich erneuertes Lehrbuch „Steuerrecht“ vorlegt, das insbesondere für den studentischen Nachwuchs gedacht ist. Das Lehrbuch Tipke/Lang, das auch Steuerrechtspraktiker erreichen möchte, liegt zurzeit in 21. Auflage vor. Von K. Vogel und Mitarbeitern wird seit langem ein Kommentar zu den Doppelbesteuerungsabkommen präsentiert (jetzt Vogel/Lehner, DBA5, 2008). Das Lehrbuch Tipke/Lang wird ergänzt durch ein Lehrbuch „Internationales Steuerrecht“3, 2010, von H. Schaumburg. Der Kommentar zum Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz von J. P. Meincke präsentiert sich bereits in der 15. Auflage (2009). Die Meinung von Steuergesetzpositivisten, die Befassung mit der Steuergesetzgebung sei Steuerpolitik und gehe die Steuerrechtswissenschaftler nichts an, hat sich nicht durchgesetzt. Im Steuerrecht, und erstaunlicherweise fast nur im Steuerrecht, sind mehrere Gesetzentwürfe auf steuerrechtswissenschaftlicher Grundlage erarbeitet worden (dazu S. 1821). Schon 1985 erarbeitete J. Lang einen Reforment103 K. Vogel, Steuergerechtigkeit und soziale Gestaltung, DStZA 1975, 409.
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wurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, 104 in dem er den Inhalt musterhaft systematisierte und die Fachsprache präzisierte. Systemliebhaber konnten sich an diesem Entwurf delektieren. Aber schon auf dem Münsteraner Symposion zeigte sich das systemfremde Denken des Bundesfinanzministeriums. 105 Im April 1992 erhielt J. Lang vom Finanzministerium den Auftrag „Mustergesetze für die Beratung mittel- und osteuropäischer Staaten durch die deutsche Finanzverwaltung“ auszuarbeiten. Das Finanzministerium sah sich offenbar nicht in der Lage, die Steuergesetzgebungsberatung selbst zu übernehmen. Die vom Finanzministerium herausgegebene Schrift „Unsere Steuern von A–Z“ hätte in der Tat keine hinreichende Basis für die Beratung abgegeben. Das Alphabet kann kein juristisches System ersetzen. Nach einigen Monaten lieferte J. Lang den „Entwurf eines Steuergesetzbuchs“ ab, 106 eine Pionierleistung ohne gleichen. Unter Fachleuten und Journalisten kam seinerzeit die Frage auf, warum denn das deutsche Finanzministerium den Gesetzbuchentwurf nicht für Deutschland nutze. Die Antwort, die damals kolportiert wurde: Der Entwurf sei als Hilfe für die osteuropäischen Länder gedacht; er passe nicht zu der hohen deutschen Steuerrechtskultur. 2001 präsentierte dann Paul Kirchhof (Staats- und Steuerrechtslehrer, Ex-Verfassungsrichter) den Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, den er zusammen mit einer Steuerexpertengruppe erarbeitet hat. Dieser so genannte „Karlsruher Entwurf“ 107 wurde bis Oktober 2003 zu einem „Einkommensteuer-Gesetzbuch-Entwurf“ weiterentwickelt. Inzwischen liegt auch der Entwurf eines Umsatzsteuer-Gesetzbuchs vor sowie der Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches, ein „Wunder an Kürze“ (dazu S. 1822 ff.). Im Sommer 2002 veröffentlichte die „Humanistische Stiftung“ eine Auslobung. Prämiert werden sollten die besten Einkommensteuer-Gesetzentwürfe. Ausgezeichnet wurden die Entwürfe von Joachim Mitschke (Ökonom) und Michael Elicker (Jurist) sowie der „Kölner Entwurf“ (Sprecher J. Lang). Im Herbst 2002 kam noch ein Entwurf des Heidelberger Steuerökonomen Manfred Rose hinzu. Nur zwei Entwürfe erreichten vorübergehend die Politik, der „Kölner Entwurf“ und der Entwurf von Paul Kirchhof. Als P. Kirchhof im 104 Münsteraner Symposion Bd. II, 1985. 105 Münsteraner Symposion Bd. I, 1985, Referat A. Uelner aus Sicht der Gesetzgebungspraxis (S. 175 ff.). G. Juchum, der seinerzeit im Finanzministerium u. a. mit Steuerpolitik beschäftigt war, meint dazu allerdings: „. . . die Position Uelners war übrigens der Rolle geschuldet; im BMF kannten wir ihn als streitbaren Verfechter einer wert- und prinzipienorientierten Steuerpolitik.“ (Festschrift für J. Lang, 2010, S. 392). 106 Dazu K. Tipke, StuW 2000, 309 ff. 107 Zum „Karlsruher Entwurf“ K. Tipke, StuW 2002, 148 ff.
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August 2005 in das sog. „Kompetenzteam“ von Kanzlerkandidatin Angela Merkel berufen wurde, mit der Aussicht, Finanzminister zu werden, schien der Kirchhof-Entwurf Chancen zu bekommen, von der Regierung als Gesetzentwurf eingebracht zu werden. Aber nach Kirchhofs Teilnahme am Bundestagswahlkampf 2005 folgte ein jäher Fall: Die geplante CDU/CSU-FDP-Koalition erreichte keine Mehrheit. Es kam zur Großen Koalition CDU/CSU-SPD mit Angela Merkel als Kanzlerin. Diese ließ P. Kirchhof fallen, und Finanzminister wurde Peer Steinbrück (SPD). Dieser dachte nicht daran, sich auch nur mit einem der vorliegenden Reformentwürfe näher zu befassen. 108 Noch im Herbst 2004 war eine nicht an bestimmte Parteien gebundene „Reformkommission Steuergesetzbuch“ unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft gebildet worden. Leiter der Kommission wurde J. Lang, der 70 Experten als Mitarbeiter um sich sammelte. Bis zur Veröffentlichung eines Steuergesetzbuchentwurfs ist es aber bisher nicht gekommen. Die Finanzminister Steinbrück (SPD) und Schäuble (CDU) zeigten an der Reformarbeit ohnehin kein Interesse. 109
4. Entwicklung steuerrechtswissenschaftlicher Denkschulen Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich steuerrechtswissenschaftliche Denkschulen. Chr. Waldhoff unterscheidet die „FlumeSchule“, die „Tipke-Schule“ und die „Vogel-Schule“. 110 Er ist bemüht, das Besondere der drei von ihm genannten Schulen herauszuarbeiten. Eine größere Arbeit, die das Spezifische dieser drei Denkschulen ausführlich darstellt und vergleicht, existiert bisher nicht. Die Bezeichnungen „Flume-Schule“ und „Vogel-Schule“ sind bisher nicht gebraucht worden. Statt von der „Tipke-Schule“ pflegt von der „Kölner Schule“ gesprochen zu werden. 111
108 Näher dazu im Teil „Steuerreformen“ (S. 1821 ff.). 109 Näher dazu unter S. 1811, 1814 ff. 110 Chr. Waldhoff, in: W. Schön/K. Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, S. 149 ff. „Mit allen Vorbehalten und Differenzierungen“ rechnet er der „Flume-Schule“ zu: B. Knobbe-Keuk, W. Schön, R. Hüttemann, der „Tipke-Schule“ (üblich ist die Bezeichnung „Kölner Schule“) J. Lang, R. Seer, J. Hey, K.-D. Drüen, J. Englisch, der „VogelSchule“ P. Kirchhof, D. Birk, M. Lehner, M. Rodi, R. Prokisch. A. LeisnerEgensperger, Chr. Waldhoff, H. Kube, Chr. Seiler, R. Wernsmann, E. Reimer, R. Ismer, A. Rust. – Einige Zurechnungen erscheinen mir gewagt. Und sind z. B. M. Mössner, G. Crezelius und H. Stadie freischwebend? 111 So z. B. wiederholt in der Festschrift für J. Lang; s. auch R. Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, 2006, S. 241.
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Was W. Flume betrifft: Er hat seine Grundauffassung 1962 in seiner Schrift „Steuerwesen und Rechtsordnung“ dargelegt. 112 Flume sprach vom „Vorrang der allgemeinen Rechtsordnung vor der Besteuerung“. Was verstand er unter der „allgemeinen Rechtsordnung“? Er sprach auch vom „Vorrang des Zivilsrechts vor dem Steuerrecht“. Wie immer der Zivilrechtler W. Flume es gemeint haben mag: Eine solche Rangpriorität ist m. E. zu verneinen. Zivilrecht und Steuerrecht sind einander nebengeordnet, und beide sind der Verfassung untergeordnet. Das schließt nicht aus, dass das Zivilrecht Auswirkungen auf das Steuerrecht haben kann und das Steuerrecht Auswirkungen auf das Zivilrecht. Das gilt z. B. für die Erbschaftsteuer. 113 W. Flume sprach nicht von der Verfassungsrechtsordnung. 114 Es fällt überhaupt auf, dass nicht wenige Zivilrechtler überaus zurückhaltend sind, wenn es um die Anwendung der Grundrechte der Verfassung geht. Flume will wohl nicht so weit gehen wie G. Crezelius, der Steuerrecht zum Annexrecht des Zivilrechts erklärt, ihm einen eigenen Rechtswert, eine eigene Teleologie abgesprochen hat. 115 W. Flume war Steuergesetzespositivist. Er hielt das Steuerrecht für nicht analogiefähig. Weil die Steuertatbestände an sich willkürlich seien, bedürfe es einer „radikalen Positivität“ des Steuerrechts. 116 Zu dem Flumeschen Ansatz passt nicht, dass er die begünstigende Analogie zulassen will. 117 Die These, dass die Steuergesetze an sich willkürlich seien, gar sein müssten, trifft m. E. nicht zu. Willkür-Gesetze, Steuergesetze ohne Sinn und Verstand, darf es im Rechtsstaat als Gerechtigkeitsstaat nicht geben. Als Gesetzespositivist hätte W. Flume die Steuergesetze gar nicht kritisieren dürfen, er hat es gleichwohl
112 Nachdruck 1986. 113 Dazu J. P. Meincke, Erbschaftsteuergesetz, Kommentar15, 2009, Einführung Rz. 11 f. („Erbschaftsteuer und Zivilrecht“). P. Kirchhof erstrebt mit seinem Entwurf eines Steuergesetzbuches ein autonomes Steuerrecht, das nach „steuerjuristischer Betrachtungsweise“ anzuwenden ist (s. § 10 des Entwurfs). 114 Dazu Chr. Waldhoff: „. . . das Verfassungsrecht zu thematisieren . . . erschien 1952, ein Jahr nach Errichtung des Bundesverfassungsgerichts, zumindest für einen aus dem römischen Recht und dem Zivilrecht kommenden Steuerrechtler noch weitgehend fern liegend zu sein“ (Zukunftsfragen [Fußn. 110] S. 149). 115 G. Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, insb. S. 178 ff. 116 W. Flume, StbJb. 1964/65, 55, 68 ff.; 1967/68, 63, 65 ff., 76 ff.; 1985/86, 277, 279 ff., 290 ff. 117 W. Flume, StbJb. 1967/68, 63, 66 ff.
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getan. Aber was ist der positivistische Kritikmaßstab? Dem Positivisten W. Flume hat sich H. W. Kruse angeschlossen. 118 Ich habe Zweifel, ob die von Chr. Waldhoff aufgeführten „Schüler“ wirklich alle noch in den Fußstapfen Flumes weitergehen, sind sie doch als eigenständige, originelle Denker bekannt. K. Vogels Ansatz ist ganz vom Verfassungsrecht her geprägt, sieht man davon ab, dass K. Vogel auch dem Recht zur Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung wesentlich seinen Stempel aufgedrückt hat. Bis zuletzt vertrat K. Vogel die Auffassung, die von Art. 105, 106 GG erfassten Steuern könnten nicht verfassungswidrig, nicht grundrechtswidrig sein. Der Kölner Schule geht es um die Gestaltung des Steuerrechts zu einer formellen und materiellen Gerechtigkeitsordnung, konkretisiert bis hinein in Gesetzdetails unter Aufdeckung der Systembrüche. Die Kölner Schule leitet ihr Steuerrechtsverständnis ethisch und verfassungsrechtlich ab. Was das Verfassungsrecht betrifft, so bestehen (abgesehen vom abweichenden Verständnis der Art. 105, 106 GG) zu K. Vogel kaum Differenzen. Der Gleichheitssatz wird als Magna Charta des Steuerrechts betrachtet; zugleich werden aber auch Prinzipien freiheitsschonender Besteuerung entwickelt. An der (auch) ethischen Unterfütterung sollten auch Staatsrechtslehrer keinen Anstoß nehmen, da die Grundrechte doch ethisch fundiert sind. Die ethischen Prinzipien der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit sind auch im Gleichheitssatz angelegt. Die Kölner Schule pflegt auch die Interdisziplinarität durch Kooperation mit Steuerökonomen. 119 Der Verfasser hat an anderer Stelle 120 abweichend von Chr. Waldhoff eine positivistische (Flume) und eine idealistisch-systematische oder ethisch-systematische Denkschule (insb. K. Vogel, P. Kirchhof, Kölner Schule) unterschieden. Die Kölner Schule präsentiert sich durch das Steuerrechtslehrbuch „Tipke/Lang“, das 2012 in 21. Auflage erschienen ist.
118 Zu H. W. Kruses Wandel vom Protagonisten zum Antagonisten und Opponenten des Leistungsfähigkeitsprinzips J. Lang, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 313 f. 119 Dazu z. B. J. Lang, Besteuerung des Konsums aus gesetzgebungspolitischer Sicht. Versuch eines interdisziplinär juristisch-ökonomischen Lösungsansatzes, in: M. Rose (Hrsg.), Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991, S. 291 ff.; s. auch K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Rz. 110 mit Literaturnachweisen dort in Fußn. 83. 120 Bd. III, 1993, S. 1496.
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Entwicklung steuerrechtswissenschaftlicher Denkschulen
Unverkennbar sind die Einflüsse der Kölner systematischen Schule auf Steuerrechtslehrer in der Schweiz, 121 in Luxemburg, 122 in Spanien 123 und Brasilien. 124 Chr. Waldhoff stellt fest: In der Sache habe der Ansatz der Kölner Schule „die Steuerrechtswissenschaft sehr vorangebracht, im Grunde nach Hensel und Bühler auf eine neue Stufe gehoben“. 125 Was Denkschulen betrifft, so lässt sich allgemein feststellen: Eine wissenschaftliche Denkschule kann nur aus gemeinsamer Überzeugung leben; einen geistigen Ober- oder Zuchtmeister braucht sie nicht. Öffentlichrechtler stoßen im besonderen Steuerrecht nicht selten an ihre Grenzen, zumal im Bereich der Gewinnermittlung und der Umsatzsteuertechnik. Das Steuerrecht braucht auch die Kompetenz derer, die vom Zivilrecht kommen, zumal Gesellschaftsrechtler und Bilanzrechtler. 126 Wie immer man über Denkschulen denkt: Wer in der jungen Steuerrechtswissenschaft tätig werden will, braucht Interesse und Talent für das Fach sowie Kritikfähigkeit als Triebfedern des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts.
121 Dazu R. Mateotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, 2007; M. Reich, Steuerrecht, Zürich u. a. 2009. 122 A. Steichen, Manuel de droit fiscal général, 2006. 123 P. Herrera Molina, Capacidad económica y sistema fiscal, Madrid 1998; dazu Rezesion Th. Ehmke, StuW 199, 89 ff.; G. Alarcon, Sistema fiscal espagnol, Madrid 2005. 124 Übersetzung des Lehrbuchs Tipke/Lang ins Portugiesische durch L. D. Furquim. Vom selben Übersetzer K. Tipke, Moral tributária do estado e des contribuántes, Vol. I, 2012. 125 Zukunftsfragen (Fußn. 110), S. 150. 126 Seit einigen Jahren gibt es in der Universität zu Köln einen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Bilanz- und Steuerrecht (Direktor J. Hennrichs).
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Teil II Der Gesetzgeber als Gestalter der Steuergesetze § 23 Die föderativen Vorgaben des Grundgesetzes für die Steuergesetzgebung 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . 1307 .. 2. Steuern und andere Abgaben . . . . . . . . . . . . . . . . 1308 .. 3. Zum Steuerbegriff . . . . . . . 1311 .. 4. Exkurs: Über Steuergruppierung und Steuertatbestandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . 1316 .. 4.1 Steuergruppierung . . . . 1316 .. 4.2 Steuertatbestandslehre . . . . . . . . . . . . . . 1318 .. 5. Exkurs: Zur Finanzierung durch Kreditaufnahme . . . . 1319 ..
6. Zur Steuergesetzgebungshoheit im Bundesstaat Deutschland . . . . . . . . . . . 1322 .. 6.1 Vorbemerkungen . . . . . 1323 .. 6.2 Steuergesetzgebungshoheit des Bundes . . . . 1325 .. 6.3 Ausschließliche Steuergesetzgebungshoheit der Länder . . . . . . . . . . . . 1327 .. 6.4 Zustimmung des Bundesrates. . . . . . . . . . . . 1331 .. 7. Exkurs: Bemerkungen zur Steuerertragshoheit und zum Finanzausgleich . . . . . . . . 1331 ..
1. Vorbemerkungen Der Gesetzgeber ist der Hauptgestalter der Steuergesetze, auch Missgestalter der Steuerrechtsordnung kann er sein. Er ist auch der mächtigste Gestalter. Die Gesetze binden die Gesetzesanwender, dirigieren sie. Die grundsätzlich an die Gesetze gebundenen Gerichte haben eine Kontrollfunktion, können diese aber nur ausüben, wenn sie von den Bürgern angerufen werden. Wir müssen uns zunächst mit Fragen befassen, die vom Gesetzgeber politisch zu lösen sind, sich nicht steuerwissenschaftlich oder steuerethisch lösen lassen. Allerdings lässt sich stets nach der Effizienz oder Ineffizienz fragen. Was aber die Verteilung des deutschen Gesamtsteueraufkommens auf den Bund (Gesamtstaat) und die einzelnen Länder (Gliedstaaten) betrifft, so muss sie nach möglichst gerechten Maßstäben geschehen, darf nicht willkürlich geregelt werden. In einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland muss die Steuergesetzgebungshoheit (auch die Steuerertragshoheit) zwischen dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten (in Deutschland als Länder bezeichnet) aufgeteilt werden. Sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten kommen als Steuergesetzgeber in Betracht. Sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten benötigen zur Erfüllung ihrer 1307
§ 23 Die föderativen Vorgaben des GG
Aufgaben Finanzmittel, insbesondere Steuern; Entsprechendes gilt für die Gemeinden. 1 Dass bundesstaatliche Steuerrechtsordnungen komplizierter sind als einheitsstaatliche, liegt auf der Hand. Nach Art. 105–108 GG fallen in Deutschland Steuergesetzgebungshoheit, Steuerertragshoheit und Steuerverwaltungshoheit nicht durchweg zusammen. Der Bund kann die Gesetzgebungshoheit auch über Steuern haben, deren Ertrag den Ländern zusteht. Art. 105, 106 GG sind ebenso justiziabel wie andere Vorschriften der Verfassung. 2 Dass Verfassungsjuristen oftmals nicht steuerkompetent sind, ändert daran nichts.
2. Steuern und andere Abgaben Die Art. 105–108 GG erfassen ausdrücklich nur Steuern, nicht andere Abgaben (Gebühren, Beiträge, Sonderabgaben). Da die Art. 105–108 GG den Inhalt des Steuerbegriffs voraussetzen, ist es nicht verwunderlich, dass sich vor allem Arbeiten von Staatsrechtslehrern und staatsrechtliche Dissertationen mit diesem Begriff befasst haben. 3 Steuerberater und Steuerbeamte haben sich indessen in ihrem Berufsleben kaum je mit dem Steuerbegriff auseinanderzusetzen, weil die Steuern, mit denen sie sich zu befassen pflegen, zweifellos die Merkmale des in § 3 AO definierten Steuerbegriffs erfüllen. Zu den hier nicht behandelten Begriffen „Gebühren“, „Beiträge“ (auch als Vorzugslasten oder Kausalabgaben bezeichnet) und „Sonderabgaben“ gibt es neben finanzwissenschaftlichen Arbeiten zahlreiche von Staats- und Verwaltungsrechtslehrern betreute Dissertationen. 4 Man erfährt jedoch relativ wenig, wenn es um die Frage geht, unter welchen Voraussetzungen es angezeigt ist, Steuern zu erheben, unter welchen Voraussetzungen aber Gebühren oder Beiträge angebracht sind. Die Begriffshuberei steht ganz im Vordergrund (s. auch schon oben zum Leistungsfähigkeitsprinzip). 1 Die Behandlung der Frage, welche Vorteile und Nachteile Bundesstaaten gegenüber Einheitsstaaten haben, ist Aufgabe der Staatslehre (dazu Literaturnachweis in Bd. III1, S. 1077, Fußn. 80). 2 K. Vogel, in: Handbuch des Staatsrechts Bd. IV, 1990, § 87 RNrn. 120–128. 3 Nachweise in Bd. III1 (1993), S. 1051 f., s. ferner D. Birk, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, Komm. zur AO/FGO (Loseblatt Lfg. 139), zu § 3 AO; K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, Komm. zur AO/FGO (Loseblatt Lfg. 113), zu § 3 AO Rz. 9 ff.; J. Lang, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 3 Rz. 9. 4 Nachweise in Bd. III1 (1993), S. 1065, 1070 f.; K.-D. Drüen, (Fußn. 3) § 3 AO Tz. 18 ff.; J. Lang, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 3 vor Rz. 21, 23, 24.
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Steuern und andere Abgaben
K. Vogel/Chr. Waldhoff äußern dazu kurz und bündig: „Ist der Vorteil nicht individuell oder sind Kosten nicht individuell ausgelöst worden, darf der Staat nur die Steuer als Finanzierungsinstrument einsetzen . . . Die Regel gilt allerdings nicht umgekehrt. Der Gesetzgeber kann nach seinem Ermessen auch individuelle Vorteile oder individuell verursachte Kosten nach seinem Ermessen statt durch (verfassungsrechtlich zulässige) Gebühren durch Steuern finanzieren“. 5 Ein Ermessensrichtmaß wird dazu nicht angegeben. P. Kirchhof möchte „bei allen individuell empfangenen Staatsleistungen eine Gebührenfinanzierung vorziehen, die Steuerfinanzierung also auf die nicht individualisierbaren Staatsleistungen beschränken . . .“ 6 Dahin tendiert auch der Soziologe P. Nolte. 7 D. Birk meint: Das Äquivalenzprinzip des Gebührenrechts hat „den Vorteil, den Nutzen staatlicher Leistungen dem Einzelnen bewusst zu machen und trägt dazu bei, staatliche Ressourcen zu schonen. Wo also staatliche Leistungen gegenüber Einzelnen abgerechnet werden können und dies auch sozialverträglich erscheint, sollte von staatlicher Seite verstärkt überlegt werden, eine leistungsgerechte Bezahlung zu fordern. Das abgabenrechtliche Instrument ist hierfür allerdings nicht die Steuer, sondern die Gebühr“. 8 M. E. ist es nicht die angemessenste Lösung, alle (Leistungsfähigen) für alle Leistungen der öffentlichen Hand durch Steuern zahlen zu lassen. Die Vorteile allerdings etwa aus der Tätigkeit des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers, der einzelnen Minister und ihrer Stäbe kommen unteilbar (unaufteilbar) allen Bürgern zugute. Geht es aber um Vorteile, die nur Einzelnen – oft sind es Gruppen Einzelner – zugute kommen und ihnen auch zugerechnet werden können, so kann es durchaus sachgerecht sein, nur die betroffene Gruppe äquivalent oder adäquat zu belasten, statt alle Bürger heranzuziehen. Entstehen nur durch das Verhalten einer einzelnen Gruppe Kosten, so kann es durchaus sachgerecht sein, nur diese Gruppe mit einer Gebühr zu belasten statt die Allgemeinheit der Steuerzahler. Zum Beispiel müssen zu größeren Fußball- oder Eishockeyspielen größere Polizeiaufgebote ausrücken, um Schlägereien oder Sachbeschädigungen zu verhindern. Die Kosten der Polizeieinsätze sollten allein von den Veranstaltern (überwälzbar auf die Zuschauer) erhoben werden. 9 5 K. Vogel/Chr. Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts. Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz, 1999, S. 269; Hinweis auf BVerfGE 50, 217, 226. 6 P. Kirchhof, Der sanfte Verlust der Freiheit, 2004, S. 71. 7 P. Nolte, Generation Reform, 2004, S. 188 ff. („Vom Steuerstaat zur Gebührengesellschaft“). 8 D. Birk, Steuerrecht13, 2010, Rz. 32. 9 So auch schon Bd. III1 (1993), S. 1069 f. Ergänzende Ausführungen in Bd. I2 (2000), S. 477 f. mit Nachweisen auf S. 478 Fußn. 19; K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuer-Wirrwarr!?, 2006, S. 103.
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§ 23 Die föderativen Vorgaben des GG
Gebühren statt Steuern sollten jedenfalls erhoben werden, wenn eine Sonderleistung gewährt wird, auf die die Bürger nicht angewiesen sind und die nur ein Teil der Bürger in Anspruch nimmt oder verursacht. Dass es insbesondere beim Massenspektakel Fußball nicht ohne Polizei geht, ist offensichtlich. Oft kommt es zu Schlägereien zwischen den Fans der am Spiel beteiligten Vereine. Es werden aber auch Ordner angegriffen und verletzt. Es werden auf der Fantribüne Feuerwerkskörper, Rauchbomben und Kanonenschläge gezündet, die zu Verletzungen führen, es wird auf Bahnhöfen, in Zügen und auf dem Weg von und zum Stadion (heute Arena) vor allem von alkoholisierten Fans randaliert. Für die kostspieligen Polizeieinsätze alle zahlen zu lassen, ist nicht angemessen. Auch Gebühren und Beiträge werden nicht mehr durchgehend nach dem Äquivalenzprinzip bemessen, sondern mehr und mehr auch (mit-)orientiert an der sich im Einkommen ausdrückenden finanziellen Leistungsfähigkeit oder unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip. Weithin werden z. B. Kindergartenbeiträge nach dem Elterneinkommen gestaffelt. Dadurch wird die Grenze zwischen Steuern und anderen Abgaben verwischt. Staatsrechtslehrer pflegen sich für den „Steuerstaat“ auszusprechen. Darunter verstehen sie einen Staat, der sich wesentlich oder überwiegend durch Steuern finanziert, der die Steuern als Finanzierungs-Regeltypus, andere Finanzierungsarten quantitativ als Ausnahmen ansieht. Das ist weithin, aber eben nicht durchgehend sachangemessen; Ableitungen aus dem Grundgesetz 10 sind nicht zwingend. Demgegenüber gibt es Finanzwissenschaftler, die dem Gebührenstaat durchaus etwas abgewinnen können. 11 Dass Gebühren (und Beiträgen) konkrete Gegenleistungen gegenüberstehen, trägt zu Akzeptanz dieser Abgaben bei. Sie sind weniger für Hinterziehung anfällig als Steuern; sie ermöglichen kein „Trittbrettfahren“. Andererseits nehmen sie auch kei10 Dazu jeweils mit weiteren Nachweisen J. Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: Festschrift für H. P. Ipsen, 1977, S. 409, 420 ff.; K. Vogel, Der Finanz und Steuerstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, II3, § 30; W. Heun, Die Entwicklungen des Steuerstaatskonzepts in theoretischer und tatsächlicher Hinsicht, in: U. Sacksofsky/J. Wieland (Hrsg.), Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat?, 2000, S. 10 ff.; E. Gawel, Vom Steuerstaatsgebot des Grundgesetzes (finanzwissenschaftlich), Der Staat 2000 (39. Bd.), 200–209 ff.; U. Hufeld, Steuerstaat als Staatsform in Europa, in: Festschrift für J. Isensee, 2007, S. 857; Chr. Seiler, Steuerstaat im Binnenmarkt, in: Festschrift für J. Isensee, 2007, S. 875 ff. 11 C. Gramm, Vom Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat, Der Staat 1997 (Bd. 36), 267 ff.; R. Hendler, Gebührenleistungsstaat statt Steuerstaat?, DÖV 1999, 749 ff.; B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, 2000; weitere Nachweise in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 3 vor Rz. 20.
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Steuerbegriff
ne Rücksicht auf die Zahlungsfähigkeit, und Staatsleistungen sind oft schwer oder gar nicht zu bewerten. 12 Schon deshalb wird auch Deutschland nicht zum Gebührenstaat werden. Wer den Steuerstaat durch den Gebührenstaat (auch als Entgeltstaat oder besser als Entgeltsabgabenstaat bezeichnet) ablösen will, mag ein entsprechendes Abgabengesetz ausformulieren. Er wird dann bemerken, wie überaus kompliziert ein solches Gesetz wäre, von Verfassungsproblemen ganz abgesehen. Nicht ausdiskutiert ist die Frage, ob die Gesetzgebungskompetenz sich auch bei Lenkungssteuern aus Art. 105 GG ergibt, oder ob es darauf ankommt, was sachlich gelenkt wird. M. E. kommt es auf die Sachkompetenz an. 13 Den Staatsrechtlehrerdisput um diese Frage sollte der Grundgesetzgeber durch eine klare Regelung beenden.
3. Zum Steuerbegriff Viele ausländische Steuergesetze definieren den Steuerbegriff nicht, sondern setzen seinen Inhalt voraus. Die Begriffe impôt, imposto, impuesto, belasting drücken die auferlegte Belastung aus, der Begriff contribution den Beitrag, den der einzelne Bürger zusammen mit anderen solidarisch zu erbringen (beizusteuern) hat. Das deutsche Wort „Steuer“ hat nichts mit „steuern“ oder „lenken“ zu tun; es hat seinen Ursprung in dem althochdeutschen Wort stiura (mitteldeutsch: stiure); es bedeutet soviel wie Stärkung, Unterstützung, Hilfe. Welche Bezeichnung indessen auch gewählt wird: Die Steuer ist immer eine Pflicht- oder Zwangsabgabe, keine Spende. Philosophen, Moralphilosophen eingeschlossen, äußern sich kaum je zu Grundfragen des Steuerrechts. Der Gegenwartsphilosoph Peter Sloterdijk allerdings hat sich gleich der Vorfrage angenommen: Sollte es Steuern überhaupt geben? Sloterdijk kritisiert zunächst, dass die (direkte) Steuern zahlenden Leistungsträger, etwa ein Drittel der Bevölkerung, durch Zwangsabgaben (Steuern) zugunsten des großen leistungsfernen Restes der Bevölkerung vom Staat als der nehmenden und umverteilenden Hand ausgebeutet würden. Damit die Leistungsträger, die gebende Hand, dem Staat nicht länger als Steuerschuldner (mit Schuldgefühlen) gegenübertreten müssten, sondern als bürgerstolze Geber auftreten können, müssten – so Sloterdijk – die Steuern durch (freiwillige) Spenden ersetzt werden. 14 12 D. Birk, (Fußn. 8) Rz. 32. 13 S. auch schon Bd. III1 (1993), 1060 ff. Dazu weitere Nachweise in K. Tipke/ J. Lang, Steuerrecht21, 2012, § 2 Rz. 3 m. N. (differenzierend). Hinweis auch auf M. Rodi, Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, 105; K. Vogel, Neue Diskussion über die Gesetzgebungszuständigkeit für Lenkungsteuern, in: Festschrift für P. Badura, 2004, S. 589. 14 Wie üblich so löste auch diese Verkündung von P. Sloterdijk (im Juni 2009 im FAZ-Feuilleton veröffentlicht) eine wochenlange Diskussion – auch im
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§ 23 Die föderativen Vorgaben des GG Die Frage, ob die nehmende Schicht gegenüber der (Steuern zahlenden) gebenden Schicht zu dreist auftritt, ist durchaus diskutabel. Der Staat belohnt großzügig auch solche, die von ihren Geschwistern nicht für Wert gehalten werden, unterstützt zu werden. Je größer die Schicht der „Steuernehmer“ wird, desto ungezügelter pflegt diese mit Hilfe linker Parteien zu fordern. Übersteigerte Forderungen erweisen sich auf etwas längere Sicht aber als kontraproduktiv. Das wissen auch ideologiefreie Sozialdemokraten wie P. Steinbrück. 15 Parteien, die sich einseitig für Sozialhilfeempfänger und Rentner (alles Wähler) einsetzen, mögen die nächste Wahl gewinnen. Die Nehmer merken dann aber bald, dass sie auf die Steuerzahler angewiesen sind. Aus einer für ungerecht gehaltenen Lastenverteilung lässt sich allerdings nicht ableiten, dass die Steuern abgeschafft werden sollten. Sie sind zur Finanzierung der öffentlichen Hand unentbehrlich. 16 Besteuerungserfahrung lehrt, dass fast niemand gern Steuern zahlt und dass viele zum „Trittbrettfahren“ neigen. Ohne Zwang würde das Steueraufkommen gering sein und die wenigen Ehrlichen würden zum Gespött werden. 17 Es würden auch nicht alle spenden, die es könnten, und viele würden nicht regelmäßig spenden. Staat und Kommunen sind aber auf regelmäßige Einnahmen angewiesen. Sloterdijk mag nur an die Abschaffung der Einkommensteuer oder der direkten Steuern denken. Die Umsatzsteuer dürfte EU-Deutschland ohnehin nicht abschaffen. Eine Regierung, die die Steuern abschaffen würde, würde sich bald auch selbst abgeschafft haben. Und wie würden wohl Verkehrsbetriebe dastehen, die keine Fahrkarten mehr verlangen, sondern um Spenden bitten würden? Ein Finanzminister Sloterdijk, der seine Ideen umsetzen würde, würde bald den Staatsnotstand ausrufen müssen und sich unsterblich blamieren. Die mit ihm sympathisierenden Tagträumer in den Feuilletonredaktionen würden aufwachen, wenn sie merken würden, dass der Staat ein geordnetes Zusammenleben seiner Bürger ohne Steuern nicht sichern kann. „Taxes are what we pay for civilized society“, so US-Supreme-Court-Justice Holmes. Ohne Steuern ist „kein Staat zu machen“, auch keine Politik. Peter Sloterdijk mag so brillant und faszinierend schreiben, dass er aus dem Feuilleton einer großen Zeitung ein Witzblatt machen kann. Aber als VordenFeuilleton der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Rundschau, im SPIEGEL sowie in vielen anderen Blättern – aus. – Ein Sturm im philosophischen Vakuum! Als Steuerjurist kam in der FAZ nur P. Kirchhof kurz zu Wort. Er rechtfertigte die Steuer als Institution. Sehr realistisch entgegen P. Sloterdijk der frühere Finanzminister Th. Waigel (in diesem Band S. 1365). 15 P. Steinbrück, Unterm Strich5, 2010, S. 253 ff. („Die Grenzen der Transfergesellschaft“). Hinweis auch auf M. Sauga, Wer arbeitet, ist der Dumme, 2007. 16 Dazu schon Bd. I2, 2000, S. 1 und zur Steuerrechtfertigung der Steuer als solcher ebenda S. 228 ff. 17 J. Thiel sieht es so: „Von der Gemeinschaft der stolzen Spender, die nach Sloterdijk die Stelle des zwingenden Steuerstaates ersetzen soll, sind wir weit entfernt. Gaben statt Abgaben? Die meisten Menschen sehen in der Steuer mit Thomas von Aquin eher einen Fall von legalisiertem Raub. Die Neigung, Steuern zu sparen, ist deshalb allgemein verbreitet . . .“ (in: K. Tipke, Hrsg., Steuerberatung im Rechtsstaat, 2010, S. 18).
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Steuerbegriff ker in Staatsfinanzierung sind Luftschlossbauer ungeeignet. Wer P. Sloterdijk nicht ernst nimmt, mag seine Idee für Unfug halten und sich schieflachen. Ein Steuerfachmann, der ihn ernst nimmt, mag ihm zurufen: „O si tacuisses, philosophus mansisses!“ Einen Spendenstaat wird es nicht geben, und auch Sloterdijks Wortmächtigkeit reicht nicht aus, eine „Revolution der gebenden Hand“ oder gar einen „fiskalischen Bürgerkrieg“ auszulösen. Und was sollte aus den Steuerberatern werden, wenn es keine Steuer mehr gäbe (von deren Bemessungsgrundlage Spenden abgezogen werden können)? Die Steuerberater müssten Spendenberater werden mit der Aufgabe, den Bürgern zu raten, möglichst viel zu spenden – eine wahrhaft staatstragende Aufgabe. Wie die Spendenberater-Gebührenordnung aussehen könnte, mag einstweilen offen bleiben. „As for philosophers, they make imaginary laws for imaginary commonwealths, and their discourses are as the stars, which give little light because they are so high“, spottete schon Francis Bacon. 18
Die Abschaffung der Steuern würde der Bundestag natürlich nicht beschließen, und die Verfassung 19 würde sie nach m. M. auch nicht zulassen. § 3 I der deutschen Abgabenordnung definiert die Steuern wie folgt: „Steuern sind Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft; die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein.“
Diese Fassung entspricht inhaltlich weitgehend dem § 1 I RAO 1919. Hinzugefügt worden ist der Satzteil „die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein“. Der Steuerbegriff des § 1 I RAO 1919 ging auf A. Wagner 20 und Otto Mayer 21 sowie auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts 22 und des Preuß. Oberverwaltungsgerichts 23 zurück. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ging zunächst davon aus, dass das Grundgesetz den 1949 vorgefundenen Steuerbegriff des § 1 I RAO rezipiert habe. Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nimmt jedoch an, der Steuerbegriff des Grundgesetzes knüpfe zwar an die „seit Jahrzehnten eingebürgerte Begriffsbestimmung des gemeindeutschen Steuerrechts“ an, reiche aber über „ein Konzentrat einfachgesetzlicher Normen“ hinaus, da er dem 18 F. Bacon, The Advancement of Learning, Reprint, London 1974, Book 2, Sect. 23, 49 (zitiert nach St. Macedo, Liberal Virtues, Oxford 1990, S. 43). 19 Dazu R. Mellinghoff, Stbg. 2005, 1. 20 A. Wagner, Finanzwissenschaft, 1. Teil3, 1883, S. 499. 21 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht2, 1. Bd. 1, 1914, S. 316 („Die Steuer ist eine Geldzahlung, welche dem Untertanen durch die öffentliche Gewalt auferlegt wird schlechthin zur Vermehrung der Staatseinkünfte, aber nach einem allgemeinen Maßstabe.“). 22 RG 17, 245; 22, 281, 291; 42, 358, 359; 52, 29, 31. 23 Preuß. OVG 10, 153, 154; 38, 117, 120; 44, 75, 77.
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„Funktionszusammenhang der bundesstaatlichen Finanzverfassung“ ebenso Rechnung zu tragen habe wie den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Aufgaben moderner Steuergesetzgebung. 24 Das Verfassungsgericht hat damit vor allem Lenkungssteuern miterfassen wollen. (1) Nur Geldleistungen können Steuern sein, nicht Dienst- und Sachleistungen, z. B. nicht Hand- und Spanndienste, nicht der Wehrdienst, der Feuerwehrdienst, auch nicht die Erfüllung von Mitwirkungspflichten zum Zwecke der Sachaufklärung und die Erfüllung von Steuerentrichtungspflichten Dritter für Rechnung von Steuerschuldnern. Die Einschränkung auf Geldleistungen mag Positivisten und Verehrer Otto Mayers befriedigen. Es ist aber nicht zu übersehen, dass besondere unentgeltliche Dienstleistungen zu Gunsten des Gemeinwesens ebenso von Wert sind wie Geldleistungen. § 8 I EStG stellt dem Geld die Güter in Geldeswert gleich – zu Gunsten des Fiskus. Erfüllen Bürger Pflichten gegenüber dem Fiskus, so erbringen sie geldwerte Leistungen für Gemeinwohlzwecke. Daher verlangt es die ausgleichende Gerechtigkeit, dass der Wert solcher Dienstleistungen entweder auf die Steuerschuld angerechnet wird, oder dass alle diejenigen, die keine solchen Dienstleistungen erbringen oder erbringen können, mit einer Ausgleichsabgabe belegt werden. Das geschieht allerdings durchweg 25 nicht. 26 In der Schweiz gibt es den Wehrpflichtersatz, den Feuerwehrpflichtersatz und die Parkplatzersatzabgabe. Wie eine Unternehmensteuer wirken die beträchtlichen Bürokratiekosten (Zeitaufwand, tatsächliche Kosten), die den Unternehmen durch Hilfsarbeiten für den Fiskus – zumal durch Einbehaltung und Abführung von Quellensteuern und durch die Umsatzsteuerabführungspflichten – entstehen. Für die Privatwirtschaft „stellen diese Kosten eine Art Zusatzsteuer dar, zum Teil verursacht durch unnötig komplizierte Gesetze. Daher wäre es mindestens gerechtfertigt, die auf die Unternehmen abgewälzten Bürokratiekosten ohne Rücksicht auf die Qualität der Gesetze auf die Steuer anzurechnen, soweit diese Kosten den Quellenabzug und die Umsatzsteuerabführungspflichten betreffen; denn insoweit werden die Unternehmen nur aus steuertechnischen Gründen für Dritte in deren Eigenschaft als Steuerschuldner oder Steuerträger tätig“. 27 Umgekehrt sieht H. L. A. Hart in Steuern ein Äquivalent für erzwun-
24 BVerfGE 55, 274, 299; 67, 256, 282. – Auch in der Schweiz sind Lenkungsteuern anerkannt (s. M. Reich, (Schweizerisches) Steuerrecht2, Zürich u. a., 2012, S. 15). 25 Ausgleichsabgabe ist allerdings die Feuerwehrabgabe (dazu BVerfGE 9, 291; 13, 167). 26 Dazu H.-J. Simons, Die Kulis der Nation – Frondienste für den Staat, Stbg. 1988, 395; S. Halldorn, Der Unternehmer als Erfüllungsgehilfe des Staates, Einsparpotentiale im internationalen Vergleich, 1997; J. Hey, Steuern verwalten durch Banken, FR 1998, 497, 506 ff.; K. Tipke, in: Festschrift für K. Offerhaus, 1999, S. 819, 828; J. Hey, Mitteilungspflichten oder Quellenabzug . . ., in: Festschrift für H. W. Kruse, 2000, S. 269, 286 ff. m. w. N. 27 S. schon 1. Aufl. Bd. III, S. 1057 mit Nachweisen zu Fußn. 26 ff. (S. 1059); ferner H. Henkel, IFSt-Schrift Nr. 359, 1997.
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Steuerbegriff gene Arbeit. 28 Die Steuer erzwingt aber keine Arbeit. Wer nicht arbeitet und kein Einkommen erzielt, schuldet – das ist freilich moralisch anfechtbar – auch keine Steuer. Wer nicht arbeiten will, soll der auf Kosten der Steuerzahler wenigstens gut essen?
(2) Die Geldleistungen müssen durch hoheitlichen Akt auferlegt sein. Vertragliche oder freiwillige Leistungen (insb. Spenden) sind keine Steuern. Spenden können allerdings den gleichen Zweck erfüllen wie Steuern. (3) Die Geldleistungen müssen der Erzielung von Einnahmen dienen, und zwar von endgültig erzielten Einnahmen. Danach hätten Abgaben, die lediglich der Wirtschaftslenkung oder Sozialgestaltung im weitesten Sinne dienen, keine Steuern sein können. BVerfGE 16, 147, 162; 55, 274, 299 haben in solchen Abgaben aber auch Steuern i. S. der Art. 105–108 GG gesehen. Gegen Kritik hat das Bundesverfassungsgericht ständig entschieden, dass das Steuerrecht ein legitimes Lenkungsinstrument der Wirtschafts- und Sozialpolitik sei. 29 Damit ist zum Nachteil des Steuerrechts eine Weiche gestellt worden, die das Steuerrecht verfremdet und kompliziert. Auch Steuern, die primär dem Umweltschutz dienen, sind damit Steuern i. S. der Art. 105–108 GG. 30 Gegen diese Auffassung haben Rechtslehrer allerdings, insbesondere unter Berufung auf Art. 106 GG, lange Widerstand geleistet: 31 Umwelt-Verbrauchsteuern seien keine Verbrauchsteuern i. S. des Art. 106 I Nr. 2 GG. In der Argumentation steht nicht die ökologische Vernunft im Vordergrund, sondern es geht um Begriffshuberei und formale Fragen. 32 Staatsrechtslehrer verstehen die Steuerbegriffe traditionell – im herkömmlichen Sinne. Tradition soll sogar der in den Grundrechten des Grundgesetzes verkörperten Ethik vorgehen. Dem ist nicht zu folgen. Das Bundesverfassungsgericht hat den Verfassungs-TÜV genannten Hindernisparcours aber abgeräumt (BVerfGE 110, 274 zur Strom- und Mineralölsteuer). Verbrauchsteuern (Art. 106 I Nr. 2 GG) dürfen auch an Produktionsmittel anknüpfen (BVerfGE 110, 274, 295 f.).
28 H. L. A. Hart, Essays in Jurisprudence and Philosophy, Oxford 1983, 203 f. („taxation is the equivalent of forced labour“). 29 Ausführlicher dazu Bd. III1 (1993), S. 1058–1062 m. N. 30 Dazu Bd. II2 (2003), S. 1057 ff. („Zu Sozialzweck- oder LenkungszweckVerbrauchsteuern“), 1082 ff. („Zu den Öko-[Umweltschutz-]Verbrauchsteuern“ („Aufwandsteuern“). 31 Bd. II2, 2003, S. 1088 ff. 32 Hinweis insbesondere auf H.-W. Arndt, Rechtsfragen einer deutschen CO2/Energiesteuer, entwickelt am Beispiel des DIW-Vorschlages, 1995; M. Herdegen/W. Schön, Ökologische Steuerreform, 2000, S. 28 ff.; Chr. Waldhoff, Die Zwecksteuer, StuW 2002, 285 f., jeweils mit weiteren Nachweisen.
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(4) Steuern sind keine Gegenleistung für eine besondere Leistung des öffentlich-rechtlichen Gemeinwesens; sie sind nicht auf individuelle Äquivalenz angelegt. Dadurch unterscheiden Steuern sich von Gebühren und Beiträgen. Da Steuern nicht von einer Gegenleistung abhängig sind, darf sich auch ihre Bemessungsgrundlage nicht an einer Gegenleistung orientieren. Die Idee der Äquivalenzsteuer widerspricht dem Steuerbegriff. 33 Zwecksteuern – das sind Steuern, die für einen bestimmten Zweck vorgesehen sind – durchbrechen das haushaltsrechtliche Prinzip der ungebundenen Gesamtdeckung (Nonaffektation) und müssen besonders gerechtfertigt werden. 34 Steuern sind auch die Ergänzungsabgaben i. S. des Art. 106 I Nr. 6 GG. Sie dürfen ergänzend zur Einkommen- und Körperschaftsteuer erhoben werden. Zurzeit wird der Solidaritätszuschlag erhoben. Die Herabsetzung einer Steuer oder die Aufhebung einer Ergänzungsabgabe durch den Gesetzgeber ist kein Geschenk an die Bürger. Der Staat hat keinen Anspruch auf eine Mindeststeuerquote.
4. Exkurs: Über Steuergruppierung und Steuertatbestandslehre 4.1 Über Steuergruppierung Da es eine Vielzahl von Steuern gibt (s. Bd. II2), liegt es nahe, die Steuern differenzierend zu gruppieren (kategorisieren, klassifizieren, typologisieren). So wird unterschieden zwischen p Besitz- und Verkehrsteuern sowie Zöllen und Verbrauchsteuern (entsprechend der dualistischen Organisation der Finanzverwaltung), p Personensteuern und Sachsteuern (Objektsteuern, Realsteuern), p Ertragsteuern und Substanzsteuern, p direkten und indirekten Steuern, p laufenden und einmaligen Steuern, p Veranlagungs-, Fälligkeits- und Abzugsteuern. Auf ein und dieselbe Steuer können mehrere dieser formalen oder technischen Charakteristika zutreffen.
33 Chr. Waldhoff, Die Zwecksteuer, StuW 2002, 285; BVerfGE 36, 66, 70 f.; 65, 325, 344; 110, 274, 294 (letzteres Strom- und Mineralölsteuer betreffend). Die Zahlung einer Steuer darf nicht mit der Begründung verweigert werden, der Steuerpflichtige billige den Zweck nicht, für den die Steuer verwendet werden solle. 34 Dazu Chr. Waldhoff, Die Zwecksteuer, StuW 2002, 285 ff.; zur Rechtslage in der Schweiz M. Reich, (Schweizerisches) Steuerrecht, 2009, S. 16.
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Exkurs: Steuergruppierung und Steuertatbestandslehre
Es fällt auf, dass die charakterisieren sollenden Merkmale keine inhaltlichen, das innere System 35 betreffenden sind. Erfasst wird so nur die verwirrende Wirklichkeit. Nicht aufgedeckt, eher verdeckt oder zugedeckt wird die innere oder inhaltliche Unordnung – und erst recht das Fehlen einer rechtlichen oder rechtslogischen Ordnung. Was gruppierend aufgelistet wird, erfasst einen Zustand, der sich historisch entwickelt hat, erfasst verschiedene historische Schichten, die durch eine Rechtsreform abgetragen werden müssten: In den Gegenwartsteuergesetzen stecken Steuerideen und Gesetzesreste aus mehreren deutschen Königreichen und Großherzogtümern, aus der Weimarer Republik, aus dem NS-Staat, aus der Besatzungszeit ab 1945 und aus den einzelnen Legislaturperioden der Bundesrepublik Deutschland. Das Gegenwartssteuerrecht besteht aber „nicht aus einem Guss“, es ist Stückwerk aus mehreren Güssen. Bei der Einführung moderner Steuern (Einkommensteuer, Umsatzsteuer) sind die antiquierten Ertrag-, Verkehr- und speziellen Verbrauchsteuern 36 aus Finanzbedarfsgründen und Umverteilungsgründen nicht aufgegeben worden. Da in den letzten Jahrzehnten durch ständige Gesetzesänderungen, insbesondere durch so genannte Jahressteuergesetze, immer neue Jahresringe mit Prinzip- und Regelverletzungen zu den bestehenden Gesetzen hinzugekommen sind, ist das entstanden, was Ferd. Kirchhof einen „bunten Flickenteppich“ nennt. 37 Nur ein Steuergesetzbuch könnte ein Steuerrecht „aus einem systematischen Guss“ schaffen. Aber dafür besteht offenbar keinerlei steuerpolitisches Interesse, auch kein Verständnis, obwohl es dem Rechtsverständnis der Gesetzesadressaten dienen und Kosten sparen würde. Es mag sich nach mehreren misslungenen großen Steuerreformversuchen bei den Steuerpolitikern die Erkenntnis eingestellt haben, dass eine große Steuerreform aus einem Guss, so wie die Prozesse in der parlamentarischen Demokratie ablaufen, nicht zu erreichen ist. Die traditionelle Steuergliederung unterscheidet nicht zwischen Fiskalzweck und Lenkungszwecksteuern. 38 Ob z. B. Verbrauchsteuern Fiskalzweck- oder Sozialzweck-(Lenkungszweck-)Steuern 39 sind, ist unerheblich. Verbrauch ist Verbrauch. So einfach sehen das die bloßen Techniker.
35 Dazu Bd. I2 (2000), S. 67 ff. 36 Die Fiskal-Verbrauchsteuern sind bis auf eine, die Kaffeesteuer, inzwischen aufgehoben worden (s. Bd. II2 [2003], S. 1055 f.). Die Kaffeesteuer verletzt das Verallgemeinerungsprinzip und damit den Gleichheitssatz (s. oben S. 1259). 37 Ferd. Kirchhof, Grundriss des Abgabenrechts, 1991, S. 55 ff. 38 Dazu Bd. I2, 2000 (Stichwortverzeichnisse); diese Unterscheidung macht auch M. Reich, (Schweizerisches) Steuerrecht, 2009, S. 14 ff. 39 Zu dieser Unterscheidung s. Bd. II2, 2003, S. 1055, 1057.
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Auch die formale Tatbestandslehre, die Steuersubjekt, Steuerobjekt (Steuergegenstand), Steuerbemessungsgrundlage und Steuersatz als Merkmale des Steuertatbestands und das Steuerobjekt als wesentliches Charakteristikum einer Steuer ansieht, ist überholt. Für die Frage, ob eine Steuer dem Leistungsfähigkeitsprinzip – als Fundamentaloder Primärprinzip des Steuerrechts – entspricht, kommt es nämlich entscheidend auf die Bemessungsgrundlage als quantifiziertes Steuerobjekt an. 4.2 Steuertatbestandslehre Eine formale Tatbestandslehre, die dem Gesetzgeber weitgehend Entscheidungsspielraum lässt und beliebige Tatbestandselemente zulässt, ist für ein rechtsstaatliches, prinzipien- und regelorientiertes Steuerrecht nicht geeignet. 40 Soweit der Gesetzgeber die Kumulation gleichartiger Steuern vermeiden will, müssen die Steuern auf Grund eines angemessenen Vergleichsmaßstabs verglichen werden. Wiederum: Die formalen Tatbestandselemente eignen sich dafür nicht; es müssten die Belastungswirkungen verglichen werden. Diese Wirkungen aber sind immer die gleichen: Sie schmälern die Möglichkeit zu konsumieren, zu sparen und zu investieren. Der Versuch, jeder Einzelsteuer eine besondere Steuerquelle hinzuzuerfinden, ist gescheitert. Es gibt nur eine Steuerquelle, nämlich das gespeicherte Einkommen; dieses darf zur Zeit des Erwerbs und zur Zeit der Verwendung von Einkommen belastet werden. 41 Ob von zwei Steuern, die die gleiche Quelle anzapfen, die eine Personensteuer, die andere Sach- oder Objektsteuer ist, ist für die Belastungswirkung unerheblich. 42 Weder die formalen und technischen Steuergruppierungen, noch die formale Steuertatbestandslehre tragen etwas zur Rechtfertigung von Steuern bei.
40 Näher dazu K. Tipke, Von der formalen zur materialen Tatbestandslehre, StuW 1993, 105 ff., 112 f.; ders., in: Bd. I2, S. 526 ff., 528 ff. 41 Über das gespeicherte Einkommen als einzige Steuerquelle s. Bd. I2 (2000), S. 97, 248, 326, 500; Bd. II2 (2003), S. 719, 721. D. Birk spricht von zwei Quellen: Einkommen und Vermögen, (Steuerrecht13, 2010, Rz. 138), statt von gespeichertem Einkommen, das sogleich mit seiner Entstehung zu Vermögen wird. 42 Dass die Gewerbesteuer keine Personen-, sondern eine Sach- oder Objektsteuer ist, ändert nichts daran, dass diese Steuer zu einer Sonderbelastung für Gewerbetreibende (nicht verallgemeinernd zu einer Belastung aller Unternehmen) führt, und das Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verletzt (s. H. Montag, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 12 Rz. 1).
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Exkurs: Finanzierung durch Kreditaufnahme
Die Steuertatbestände sind auch insofern technisch angelegt, als sie durchweg die steuerberechtigte Körperschaft nicht erwähnen. Erst recht wird aber nicht klargestellt, dass die steuerberechtigte Körperschaft zwar formaljuristisch über die vereinnahmten Steuern verfügen darf, dass sie besteuerungsmoralisch aber nur treuhänderischer Verwalter der Steuerbürger ist, denen sie über die Verwendung ihres Geldes Rechenschaft schuldet. Die Steuerbürger zahlen ihre Steuern zum Wohl aller Bürger, nicht zur Verschwendung (dazu S. 1713 ff.). Im Allgemeinen ist der Steuerschuldner auch der Steuerträger. Wird die Steuer aber auf andere überwälzt, so fallen Steuerschuldner und Steuerträger auseinander. Das ist insbesondere der Fall bei indirekten Steuern. Die Vorschriften über das Steuerschuldverhältnis nehmen aber keine Notiz vom Steuerträger. Er steht außerhalb des Steuerrechts- und Steuerschuldverhältnisses. Steuerwirtschaftlich liegt aber ein Dreiecksverhältnis vor, das durch eine Reform des allgemeinen Steuerrechts verrechtlicht werden sollte. Dem Steuerträger müsste (auch) die Möglichkeit eröffnet werden, Rechtsschutz zu begehren. 43 Steuermoralisch hat jeder leistungsfähige Bürger gegen die anderen leistungsfähigen Bürger einen Anspruch auf Erfüllung ihrer Steuerschuld. Der steuerverkürzende „Trittbrettfahrer“ handelt gegenüber seinen Mitbürgern unmoralisch, unsolidarisch, es sei denn, dass das Handeln gegen das Gesetz dem Gleichheitssatz dient.
5. Exkurs: Zur Finanzierung durch Kreditaufnahme Es wäre ideal, wenn Bund, Länder und Gemeinden ihren jährlichen Finanzbedarf grundsätzlich durch Steuern und andere Abgaben decken würden – so dass Kreditaufnahme sich erübrigen würde. Das Deutsche Reich war vor dem Ersten Weltkrieg zeitweise schuldenfrei. Der Juliusturm der Zitadelle von Berlin-Spandau wurde allerdings nicht mit Steuereinnahmen, sondern mit Frankreichs Kriegsentschädigung nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 gefüllt. Nachdem es dem Bundesfinanzminister Fritz Schäffer in den 1950er Jahren nochmals gelungen war, Haushaltsüberschüsse zu erzielen, begann schon 1955 das „Schuldenmachen“, und es sieht nicht so aus, als könnte Deutschland sich in absehbarer Zeit von seinen extrem hohen Schulden befreien. Schon zu Beginn der Legislaturperiode 2005–2009 hatten die öffentlichen Haushalte Deutschlands Gesamtschulden von 1,52 Billionen Euro aufgehäuft, 2010 waren es 1,8 Bil43 Nach R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 22 Rz. 125, ist der Steuerträger schon nach geltendem Recht klagebefugt (m. w. N.); a. A. FG Hamburg EFG 1980, 406: Der Steuerträger soll nur zivilrechtlich gegen seinen Vertragspartner vorgehen können.
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lionen, 2012 schon über 2 Billionen Euro. Schon 2005 musste jeder siebte Steuereuro für Zinsen ausgegeben werden. Die jährliche Kreditaufnahme (Neuverschuldung) dient weithin nur der Schuldentilgung und der Erfüllung von Zinsverpflichtungen, nicht den eigentlichen Haushaltsbedürfnissen. Staatsrechtslehrer nennen Deutschland einen Steuerstaat; 44 er ist aber auch ein Schuldenstaat – wie viele andere Staaten auch. Politiker beklagen sich über die Einengung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht. Durch nichts wird die Gestaltungsfreiheit aber mehr eingeengt als durch die enorme Schulden- und Zinslast. Sieht man von besonderen Krisenlagen ab, so werden in parlamentarischen Demokratien „Ausgaben auf Pump“ (Politikerjargon) hauptsächlich dadurch verursacht, dass die Parlamentarier auf Wählerstimmen angewiesen sind. Zum Zwecke der Wählerstimmenmaximierung machen die Politiker Wählern – zumal im Wahlkampf – Versprechungen, die nur mit Krediten finanziert werden können, wenn sie gehalten werden sollen (Politikerjargon: „Es gilt das versprochene Wort“). Steuererhöhungen anzukündigen, ist zumal im Wahlkampf unpopulär, es sei denn, es wird eine Sondersteuer für die Minorität der wirklich Reichen gefordert. Damit lässt sich die Masse der Nichtreichen durchaus erfreuen. Vor allem die nicht in der Verantwortung stehende Opposition pflegt sich durch teure Versprechungen hervorzutun. Wollen die Regierungsparteien die Wahlen nicht verlieren, so müssen sie versuchen, im Versprechenswettbewerb mitzuhalten. F. A. von Hayek spricht von „Stimmenkauf“. 45 Die Wählererwartungen sind mitursächlich für die Schuldenanhäufung, denn die Wähler pflegen Parteien zu bevorzugen, die ihnen viel versprechen und Parteien zu verschmähen, die verantwortungsvoll „Vergünstigungen auf Pump“ ablehnen. Die Politiker sind die Getriebenen der Wähler, der Interessenverbände und der Parteienkonkurrenz. Soweit die Wähler die Verschuldung überhaupt wahrnehmen, unterschätzen sie mehrheitlich ihre nachteiligen Folgen. Man spricht von „Schuldenillusion“. Das Gros der Bürger, Steuerbürger und Sozialbürger, versucht über die finanziellen Möglichkeiten hinauszuleben. Und die Politiker pflegen leider nicht vernünftiger zu sein als die egoistischen Wähler. Rechtfertigen lässt sich unverantwortliche Schuldenmacherei auch nicht durch das Streben nach Machterwerb oder Machterhalt. Die Parlamentarier erhalten ihr Mandat nur für eine Legislaturperiode. Von den kommenden Generationen haben und brauchen sie kein 44 S. oben Fußn. 10. 45 F. A. von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3 (1981), S. 55, 184; dazu K. Tipke, StuW 1983, 5.
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Exkurs: Finanzierung durch Kreditaufnahme
Mandat. Die Schuldenlast, die sie den Kommenden hinterlassen, ist eine Last ohne deren Mandat. Indem die Politiker ohne Mandat der Kommenden gegen deren Interessen und auf deren Kosten handeln, verletzen sie die Generationengerechtigkeit. 46 Allerdings bremste das Grundgesetz durch Art. 115 I 2 GG a. F. schon den Ausgaben- und Verschuldungshang der Politik. Danach durften die Einnahmen aus Krediten „die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen der öffentlichen Hand nicht überschreiten“. Ausnahmen waren zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Diese Vorschrift mit ihren unbestimmten Begriffen hat jedoch nicht verhindert, dass ein Schuldenstaat entstanden ist. Hochverschuldete Staaten können Schulden durch Inflation tilgen, die Inflation durch Geldvermehrung fördern. Das wird auch dem deutschen öffentlichen Schuldenberg von zurzeit 2,08 Billionen Euro zugutekommen, die Sparer allerdings durch eine Art kalter Enteignung schädigen. Die Grünen möchten die Staatsschulden durch eine von reichen Steuerpflichtigen aufzubringende einmalige Vermögensabgabe tilgen. P. Kirchhof hat jedoch überzeugend nachgewiesen, dass die Voraussetzungen für eine einmalige Vermögensabgabe (s. Art. 106 I Nr. 5 GG) nicht vorliegen. 47 Die extrem hohen Schulden haben übrigens nicht die Reichen verursacht, für sie ist die Haushaltspolitik verantwortlich, freilich ohne Sanktionen. Das Gros der deutschen Parlamentarier sah die Unerträglichkeit und Unvernünftigkeit des bestehenden Zustandes ein. Man zeigte sich bereit, den Art. 115 GG zu verschärfen und sich dadurch selbst zu disziplinieren, um nicht zu sagen: sich selbst Fesseln anzulegen. So wurde die Föderalismuskommission (II) beauftragt, einen Vorschlag zu präsentieren. Das ist geschehen. Danach soll der Bund von 2016 an nur noch mit einer Neuverschuldung von 0,35 % des BIP auskommen. Den 16 Bundesländern und den Gemeinden soll es von 2020 an untersagt sein, abgesehen von konjunkturpolitischen Notfällen, zur Finanzierung ihrer Haushalte neue Schulden aufzunehmen. Die Neuregelung findet sich in den Art. 109 III, 109a, 115, 143d GG. Die Kritik an der wortreichen Regelung („Verunstaltung der Verfassung“) hat das Parlament nicht gebremst. 48 46 Dazu auch Ferd. Kirchhof, Wege aus der Staatsverschuldung, in: Festschrift für K. Vogel, 2000, S. 241, 249 f.; St. Möckl, „Auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“, in: Festschrift für J. Isensee, 2007, S. 183 ff., 189 ff. (zum Staatsschuldenrecht); s. auch schon J. Isensee, Schuldenbarriere für Legislative und Exekutive, in: Festschrift für K. H. Friauf, 1996, S. 705 ff. 47 P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, 2012, S. 179 ff. 48 Verfassungsrechtliche Literatur: F. Kirchhof, Wege aus der Staatsverschuldung, in: Festschrift für K. Vogel, 2000, S. 241 ff.; Chr. Waldhoff, Staats-
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So wie es in der Vergangenheit Entschuldigungen für die wachsende Schuldenlast gab (z. B. Ölkrise, Wiedervereinigung, 11. September, Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 ff., Eurokrise), so wird es sie wohl auch in Zukunft geben. Nun ist nicht nur Deutschland ein Schuldenstaat, viele andere Staaten sind noch höher verschuldet. Deutschland ist unter Blinden ein einäugiger König. Die extrem hoch verschuldeten Staaten möchten nun, dass die weniger verschuldeten Länder für ihre Schulden mit einstehen sollen – aus Solidarität. Die Frage, ob Unwürdige überhaupt Solidarität verlangen können, soll möglichst nicht gestellt werden. Schließlich geht es um Europa, um die Rettung des Euro um jeden Preis. Das soll auch Verrat der Politik am eigenen Steuerzahler rechtfertigen. Der Bundespräsident Chr. Wulff hat gefragt: „Wer rettet die Retter?“ Die Retter, das sind die Steuerzahler. Ein Staat, der sich weigert, in seine Verfassung eine Schuldenbremse einzubauen, kann keine Solidarität verlangen. Kein Staat darf vermeidbar auf Kosten der Steuerzahler anderer Länder leben wollen. Kein Euro-Staat kann insbesondere verlangen, dass die Steuerzahler anderer Eurostaaten die Haushaltslücken schließen, die, staatlich geduldet, eigene Groß-Steuerhinterzieher gerissen haben.
6. Zur Steuergesetzgebungshoheit im Bundesstaat Deutschland Literatur Ältere Literatur ist nachgewiesen in Bd. III1 (1993), S. 1051 f., 1074 f., 1083 f., 1101, 1106 f. – Jüngere Literatur (seit 1993): P. Selmer/F. Kirchhof, Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands, VVDStRL Bd. 52 (1993), 10 ff., 75 ff.; P. Selmer, Die gesetzliche Neuordnung der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen, FinArch. Bd. 51 (1994), 331; W. Pommerehne/G. R. Ress (Hrsg.), Finanzverfassung im Spannungsfeld zwischen Zentralstaat und Gliedstaat, 1996; 61. Deutscher Juristentag Bd. II/1: Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden zu harmonisieren, 1996, darin: Gutachten von Ferd. Kirchhof und Referate von O.-E. Geske, G. Milbradt, J. Dieckmann; Chr. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im verschuldung II (zu BVerfG v. 9. 9. 2007), JZ 2008, 200 ff.; G. Kirchhof, Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 569 ff. („Staatsverschuldung“), m. w. N.; Über den Schuldenstaat auch G. Bökenkamp, Das Ende des Wirtschaftswunders, 2010 (Der Autor beschreibt ausführlich die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der Bundesrepublik von 1969–1998. Über Helmut Schmidt, dem in der Gegenwart überschwänglich Gelobten, schreibt er: „In der Frage der Devisenbewirtschaftung lag er falsch, seine Finanzpolitik war ein Desaster, seine Konjunkturpolitik blieb wirkungslos, seine Aussagen zu Inflation und Stabilität waren wechselhaft.“ Schmidt habe es aber verstanden, für die Öffentlichkeit die Illusion vom Weltökonomen zu schaffen.
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Gesetzgebungshoheit im Bundesstaat Deutschland Vergleich Deutschland-Schweiz, 1997; I. Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998; K. Vogel/Chr. Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts (Sonderausgabe des Bonner Kommentars zum Grundgesetz, Loseblatt Lfg. [Vorbemerkungen zu Art. 104a–115 GG], 1999; H. Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, 2004; J. Wieland, Deutschlands Finanzverfassung vor neuen Herausforderungen, in: Festschrift für P. Selmer, 2004; 273; W. Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, 2007, mit Nachweis grundlegender politikwissenschaftlicher, wirtschaftswissenschaftlicher und rechtswissenschaftlicher Literatur auf S. 21 ff.; Chr. Waldhoff und J. Hey, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2007), 216 ff., 277 ff.; Chr. Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Handbuch des Staatsrechts3 Bd. V, hrsg. von J. Isensee und P. Kirchhof, 2007, § 116 (S. 813 ff.).
6.1 Vorbemerkungen Die Gesetzgebungshoheit (Gesetzgebungsbefugnis, Gesetzgebungszuständigkeit) ist Teil der Staatshoheit. Die Steuergesetzgebungshoheit ist in Bd. III1 (1993) auf S. 1086–1106 behandelt worden. Eine Wiederholung dieser Abhandlung an dieser Stelle ist entbehrlich, soweit sich seit der 1. Auflage keine Änderung der Rechtslage ergeben hat. Da Steuern nur durch Gesetz auferlegt werden dürfen, 49 muss der Gesetzgeber zur Deckung des Finanzbedarfs der Gemeinwesen (Bund, Länder, Gemeinden) Steuergesetze beschließen. In einem Bundesstaat kann es den Bundesgesetzgeber und die Landesgesetzgeber geben. Ist das – wie in Deutschland – der Fall, muss entschieden werden, über welche Steuern der Bund und über welche Steuern die Länder als Gliedstaaten die Gesetzgebungsbefugnis haben sollen. Diese Entscheidung trifft Art. 105 GG. Danach liegt die Steuergesetzgebung schwergewichtig beim Bund. Die Erläuterungen der Grundgesetzvorschriften über das Finanzwesen (Art. 104a–115 GG) sind eine Domäne von relativ wenigen Staatsrechtslehrern. So wie das Gros der Zivil-, Straf- und Staatsrechtslehrer das Steuerrecht überhaupt gern meidet, machen die meisten Staatsrechtslehrer auch einen Bogen um die Vorschriften des Grundgesetzes über das Finanzwesen (Art. 104a–115 GG), auch als Finanzverfassung bezeichnet. K. Vogel, der die Finanzverfassung zu einem Schwerpunkt seiner Forschungstätigkeit gemacht hat, zitiert dazu folgende Warnung des Staatsrechtslehrers Günter Dürig: „Wenn Sie nicht müssen, steigen Sie da [soll heißen: in die Vorschriften über das Finanzwesen, d. V.] bitte nicht ein. Das brauchen und verstehen nur wenige Experten“. 50 Die „wenigen Experten“ haben allerdings er49 Dazu Bd. I2 (2000), S. 118 ff. 50 K. Vogel/Chr. Waldhoff, Grundlagen (Fußn. 5), S. V.
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staunlich viel Literatur produziert, insbesondere viel Theorie. Da die Art. 105–108 GG das Verhältnis Staat – Steuerpflichtige allenfalls mittelbar betreffen, gehören sie nicht zum Interessensgebiet der Steuerrechtsanwender, namentlich nicht der Steuerberater. Die Steuerpflichtigen pflegen sich für ihre Gesamtsteuerbelastung zu interessieren, nicht aber für die Frage, ob es sich um Bundes- oder Landessteuern handelt. Für die Staatsrechtslehre ist die Aufteilung der Gesetzgebungshoheit (-befugnis), der Steuerertragshoheit und der Steuerverwaltungshoheit in einem Bundesstaat allerdings ein grundlegendes Problem. Auch in einem Bundesstaat kann der Akzent mehr auf dem unitarischen oder mehr auf dem föderativen Element liegen, mehr auf der Kooperation oder auf der kompetitiven Alternative. Welcher Akzent oder welche Alternative mehr betont wird, hängt wesentlich von der Finanzverfassung ab. Bei der Vorbereitung der Vorschriften des Grundgesetzes über das Finanzwesen mussten auch die Vorstellungen der alliierten Besatzungsmächte berücksichtigt werden. Sie lehnten unitarische Lösungen ab, nahmen es aber schließlich hin, dass die Gesetzgebungsbefugnis ganz überwiegend dem Bund zugeteilt wurde. 51 Für die Ertrags- und Verwaltungshoheit wurden entsprechende Zugeständnisse der Besatzungsmächte nicht gemacht, mit der Folge, dass die Gesetzgebungs- sowie die Ertrags- und Verwaltungshoheit auseinander fallen können. Wird gegen die Regelungen des Art. 105 GG verstoßen, so ist der Steuerpflichtige, der aus einem den Art. 105 GG verletzenden Steuergesetz in Anspruch genommen wird, in seinem Recht auf Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) verletzt. Er kann Klage und Verfassungsbeschwerde erheben. Mit Erfolg kann das allerdings nur geschehen, wenn die Gesetzgebungsbefugnis sich auch nicht aus einer anderen als aus Art. 105 GG ergibt, etwa aus Art. 74 Nr. 11 GG. Eine falsche Gesetzesetikettierung führt nicht zur Verfassungswidrigkeit. Die Bundessteuergesetze werden vom Bundestag, u. U. mit Zustimmung des Bundesrates (s. 6.4) beschlossen. Eine Volksgesetzgebung (wie in der Schweiz) durch Volksbegehren und Volksentscheid sieht das deutsche Grundgesetz nicht vor. Soweit die Länderverfassungen Volksbegehren und Volksentscheid kennen, schließen sie diese für Abgabengesetze ausdrücklich aus. 52 Dabei sollte es bleiben, eine kasuistische Volks-Steuergesetzgebung würde das Steuerchaos vermutlich nur weiter steigern und die Steuergerechtigkeit – prinzipienlos – wohl auch nur noch weiter zerstören – je nach Stimmung. Eine ratio51 Zu Einzelheiten K. Vogel/Chr. Waldhoff, Grundlagen (Fußn. 5), S. 124–138. 52 Dazu ausführlich Chr. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland–Schweiz, 1997, S. 145 ff., 175 ff.
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nale, prinzipien- und regelgebundene Volkssteuergesetzgebung wäre nicht zu erwarten. 6.2 Steuergesetzgebungshoheit des Bundes Dem Bund steht die ausschließliche Gesetzgebung über Zölle und Finanzmonopole zu (Art. 105 I GG). 53 Erst aus der Regelung der konkurrierenden Steuergesetzgebung (Art. 105 II GG) ergibt sich die Dominanz der Bundessteuergesetzgebung. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat (s. Art. 72 I GG). Nach Art. 105 II GG hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebung über die übrigen Steuern (d. h. Steuern, die nicht Zölle i. S. des Art. 105 I GG sind und die nicht nach § 105 IIa GG in die ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis der Länder fallen), wenn ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht (1. Alternative) oder die Voraussetzungen des Art. 72 II GG vorliegen (2. Alternative). Nach wohl herrschender Meinung können „übrige Steuern“ nur solche sein, die von Art. 106 GG erfasst werden. M. E. sind „übrige Steuern“ – unabhängig von Art. 106 GG – alle Steuern, die den Grundrechten entsprechen, insbesondere dem Gleichheitssatz, konkretisiert: der gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Die erwähnte 1. Alternative ist klar: Welche Steuern ganz oder zum Teil dem Bund zustehen, ergibt sich aus Art. 106 I, III GG. Art. 72 II GG (2. Alternative) in der bis 1994 geltenden Fassung machte die Bundeszuständigkeit von einem Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung abhängig (sog. Bedürfnisklausel). 1994 wurde Art. 72 II GG – wenn terminologisch auch nicht gelungen 54 – auf Art. 105 II GG abgestimmt geändert. Die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes ist seither nur gegeben, „wenn und soweit die Herstellung gleichartiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder der Bewahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht (sog. Erforderlichkeitsklausel). Die Verschärfung, die in der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 II GG liegt, wurde im Steuerrecht zunächst nicht zur Kenntnis genommen, zumal die Länder sich indolent verhielten. Das änderte sich erst, nachdem das Bundesverfas53 Dazu näher Bd. III1 (1993), S. 1086 ff. Wegen des Europarechts hat die Vorschrift ihre Bedeutung weitgehend verloren. 54 Dazu R. Seer/K.-D. Drüen, in: W. Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, 2007, zu Art. 105 GG Rz. 4b.
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sungsgericht die Erforderlichkeitsklausel entsprechend ihrem Zweck so interpretiert hatte, dass sich eine Befugniserweiterung zugunsten der Länder abzeichnete. 55 Inzwischen hat eine Diskussion darüber eingesetzt, welche Folgerungen sich aus der – nicht Steuern betreffenden – Verfassungsrechtsprechung ergeben. 56 Die Auseinandersetzung ist allerdings bisher akademisch geblieben. Die Länder sind offenbar an einer Erweiterung ihrer Gesetzgebungsbefugnis uninteressiert, jedenfalls was die größeren Steuern betrifft: die Vermögensteuer (Art. 106 II Nr. 1 GG), die zurzeit allerdings nicht erhoben wird, die Erbschaftsteuer (Art. 106 II Nr. 2 GG), die Grundsteuer und die Gewerbesteuer (Art. 106 VI GG). Auch von Landesvermögensteuern halten die Länder offenbar nichts. Sie befürchten einen ungezügelten Steuerwettbewerb unter den Ländern, Abwanderung der Steuerpflichtigen in die steuergünstigeren Länder, Komplizierung der Gesetze, weitere Aufweichung der bundesstaatlichen Solidargemeinschaft der Länder. Abgesehen davon, dass die Vermögensteuer nicht legitim ist: 57 Wird die BVerfG-Entscheidung BVerfGE 93, 121 beachtet, so ist die Vermögensteuer, zumal in Anbetracht der hohen Verwaltungskosten, nicht einträglich. Kein Bundesland wünscht sich wohl Bundesländer mit und ohne Vermögensteuer, oder Vermögensteuern mit unterschiedlich hohen Steuersätzen. Das würde auch dadurch zu Komplizierungen führen, dass „Vermögensteuerflucht“ in vermögensteuergünstige Bundesländer und Doppelbelastungen des Vermögens unterbunden werden müssten. Das würde eine große Komplizierung bedeuten. Wie selbstverständlich hat der Bund die Erbschaftsteuerreform vorbereitet und Ende 2008 verabschiedet. 58 Die Länder haben sich dagegen nicht gewehrt, auch nicht durch Anrufung des Bundesverfassungsgerichts (s. Art. 93 Nr. 2a GG). So werden Erblasser sich auch künftig nicht veranlasst sehen, in ein erbschaftsteuergünstiges Bundesland abzuwandern. Maßnahmen gegen eine solche Abwanderung
55 BVerfGE 106, 144, 145 f.; 110, 141; 111, 10; 111, 226, 253; 112, 226, 247. Die Entscheidungen betreffen nicht Steuern. 56 J. Hey, in: Festschrift für H. O. Solms, 2005, S. 35, 37 ff.; R. Seer/K.-D. Drüen, in: W. Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, 2007, Art. 105 GG Rz. 7, 8; J. Hey, VVDStRL Bd. 66 (2007), S. 277, 310 ff.; A. Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung des Bundes . . ., Steuerautonomie der Länder ohne Reform?, 2008 (Kölner Diss. 2007); K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 3 Rz. 31 ff. m. w. N. in Fußn. 50. 57 Hinweis auf Bd. II2 (2003, S. 914 ff.). 58 Dies, obwohl nach Auffassung von R. Wernsmann/V. Spernath, FR 2007, 829, 835 ff. („Erbschaftsteuerreform: keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes“), A. Korte (Fußn. 56), S. 69 ff., 217 ff. und D. Murswiek, Steuertip 2010 Nr. 45, 3, der Bund unzuständig war.
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hätten das Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG) verletzen können. 59 Der Gesetzgeber, der Steuern reformieren will, die den Ländern zustehen, wird zu bedenken haben, dass eine bundeseinheitliche Steuergesetzgebung nicht nur unkomplizierter ist als eine Ländersteuergesetzgebung mit unterschiedlichem Inhalt; die einheitliche Bundessteuergesetzgebung ist auch ein Bindemittel deutscher Einheit. Unterschiedliche Ländersteuergesetze sind nur bedingt geeignet, für innerstaatliche Vielfalt und Eigenverantwortlichkeit zu sorgen. Übertriebener Föderalismus passt auch nicht zu den Bestrebungen der Europäischen Union und zur Globalisierung. Am besten wäre es, wenn über die Frage nach mehr Bundeseinheitlichkeit (insbesondere der Lebensverhältnisse 60) oder mehr Selbständigkeit der Länder nicht von Ministerpräsidenten und Landespolitikern entschieden würde, sondern vom Volk. Da das Grundgesetz Volksbegehren und Volksentscheid nicht vorsieht, könnte es auch hilfreich sein, den Volkswillen durch repräsentative Meinungsumfragen einigermaßen zutreffend zu ermitteln. Nach Art. 125a II 1 GG gilt altes Recht fort, auch wenn es Art. 72 II GG nicht entspricht. Selbst wenn Erbschaftsteuerbescheide von Erben künftig dem Bundesverfassungsgericht präsentiert würden, weil sie nicht auf Landesrecht beruhen, dürfte das Gericht sich wohl doch schwer tun, die Erbschaftsteuer den Ländern aufzuzwingen. 6.3 Ausschließliche Steuergesetzgebungshoheit der Länder Die Länder haben die ausschließliche Befugnis zur Gesetzgebung über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, 61 solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind. Sie haben ferner die Befugnis zur Bestimmung des Steuersatzes der Grunderwerbsteuer (Art. 105 IIa GG). Art. 105 IIa GG entspricht im Wesentlichen dem antiquierten Erkenntnisstand der Schöpfer des Grundgesetzes von 1948/49. Ungeachtet der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 105 IIa GG ist festzustellen:
59 Wie hier auch K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 3 Rz. 42 m. w. N. 60 Dazu L. Osterloh, Die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse als offene Frage der Finanzverfassung, in: Gedächtnisschrift für Chr. Trzaskalik, 2005, S. 181 ff. 61 Dazu Chr. Flach, Kommunales Steuererfindungsrecht und Kommunalaufsicht, 1998. Über den Begriff der Verbrauch- und Aufwandsteuern Bd. II2 (2003), S. 1104.
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Art. 105 IIa GG ist insofern verfehlt, als jeder Steuertatbestand einen mindestens implizierten örtlichen Bezug hat. Die traditionell als „örtlich“ angesehenen Verbrauch- und Aufwandsteuern sind nicht örtlicher als die Umsatzsteuer. Für das Leistungsfähigkeitsprinzip, das auch die kommunalen Fiskalsteuern fundieren sollte, ist das Merkmal „örtlich“ unerheblich. Auch die örtlichkeits-begrifflichen Schwierigkeiten sind nicht gelöst. Es lässt sich nur feststellen: Örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern sind solche, die man traditionell dafür gehalten hat und hält. Das Merkmal der Ungleichartigkeit leistet ebenfalls nicht das, was es leisten soll oder sollte. Verfehlt ist es, die formalen technischen Steuertatbestände miteinander zu vergleichen, nicht aber die die Verbraucher/Aufwender treffende Belastungswirkung. Durch das Gleichartigkeitsverbot soll verhindert werden, dass Staat und Gemeinden aus derselben Steuerquelle schöpfen. Es gibt aber nur eine Steuerquelle, nämlich das (gespeicherte) Einkommen. 62 Auch die Verbrauch- und Aufwandsteuern können nur aus dieser Quelle bezahlt werden. Verbrauch und Aufwand sind keine Steuerquellen, sondern Verwendungen von (gespeichertem) Einkommen. Dass an solche Verwendungen angeknüpft werden darf, macht sie nicht zu Steuerquellen. An dieser Realität kommen auch die Erfinder der antiquierten so genannten örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern nicht vorbei. Die Schöpfer des Art. 105 IIa Satz 1 GG dachten das Steuerrecht nicht ganzheitlich, und die Verwaltungsrichter, die mit örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern zu tun haben, sehen „ihre“ Kommunalsteuern auch separat und kommen über Begriffsarbeit nicht hinaus. Die KommunalSteuerpolitiker denken – wie die Kämmerer – einseitig fiskalisch. Sie berufen sich auf Art. 105 IIa Satz 1 GG und die Rechtsprechung dazu. Das Fundament ist traditio, nicht ratio. Gemessen am Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit herrscht im Kommunalsteuerbereich Willkür. 63 Diese Feststellung bezieht sich auf die Fiskalzwecksteuern, nicht auf die Lenkungsteuern 64 – wie auf die Hundesteuer und die Spielautomatensteuer (für die das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht gilt). Die zugunsten der Gemeinden erfundenen Verbrauch- und Aufwandsteuern verletzen nicht nur das Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Sie sind auch der Umsatzsteuer gleichartig. Darin folgen mir gegen das Bundesverfassungsgericht K.-D. Drüen (zu Getränkesteuer, Schankerlaubnissteu-
62 Dazu Bd. I2 (2000), S. 97, 248, 326, 500; Bd. II2 (2003), S. 719, 721. So auch van Vijfeijken („Alle belastingen worden gedragen door mensen. Enkel met inkomen kunnen mensen belastingen betalen“). 63 Näher dazu Bd. II2 (2003), S. 1103 ff., 1127 f. 64 Über diese Unterscheidung Bd. I2 (2000), S. 77 ff.
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er, Vergnügungsteuer, Spielgerätesteuer, Singspielerlaubnissteuer) 65 und P. Kirchhof. 66 Zu Österreich stellen W. Doralt/H. G. Ruppe fest: „Der Begriff der Gleichartigkeit von Abgaben ist diffus, die (reichhaltige) Judikatur dementsprechend kasuistisch, so dass ihr nicht ohne weiteres verlässliche Aussagen zur Beurteilung konkreter Fälle entnommen werden können. . . . Grundtenor der älteren Literatur ist, dass die Gleichartigkeit in erster Linie anhand eines Vergleiches der wesentlichen Bestimmungen der fraglichen Abgaben vorzunehmen ist . . . Die jüngere Judikatur neigt eher einer gesamthaften, inhaltlichen Betrachtung zu . . .“ 67 Die Unsicherheit des Umgangs mit dem Gleichartigkeitsbegriff zeigt sich auch im Schweizer Steuerrecht. M. Beusch führt dazu aus: „Gleichartig ist eine kantonale oder kommunale Steuer . . . bereits dann, wenn sie die wesentlichen Charaktermerkmale der betroffenen eidgenössischen Steuer hinsichtlich Steuerobjekt, (Belastungs-)Ziel, Kreis der Abgabepflichtigen und Struktur aufweist . . .“ 68 Aber was ist das besondere Ziel einer Steuer, was macht ihre Struktur aus? Welches andere Ziel kann eine Steuer haben als die Einnahmeerzielung oder die Lenkung? Die tradierten örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern entbehren jeder Rechtslogik. Sie verletzen die Kriterien der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit, die alle im Gleichheitssatz angelegt sind. 69 Es widerspricht z. B. dem Verallgemeinerungsgebot, an den „örtlichen“ Verzehr von Getränken eine (Getränke-)Steuer zu knüpfen, an den Verzehr von Speisen aber keine Speisensteuer, an das Halten einer Zweitwohnung eine Steuer zu knüpfen, an das Halten anderer Zweitgüter aber keine Steuer. 70 Selbst wenn man es für gerecht hält, über die Umsatzsteuer hinaus eine besondere Steuer auf Vergnügungen zu erheben, so ist es nicht folgerichtig, harmlose Vergnügungen kasuistisch zu belasten, teure Ausschweifungen und luxuriöse Freizeitvergnügen aber nicht – mag dies auch der Tradition entsprechen. 65 K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, Komm. zur AO/FGO (Loseblatt Lfg. Juli 2007); § 3 AO Tz. 74. Kritisch zum Gleichartigkeitsverständnis des Bundesverfassungsgerichts auch K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 3 Rz. 50 f. 66 P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch-Entwurf von 2011, Komm. zu § 2 Rz. 40 (die örtlichen Verbrauchsteuern betreffend). 67 W. Doralt/H. G. Ruppe, Steuerrecht II5, Wien 2006, Rz. 349. 68 Kommentar zum schweizerischen Steuerrecht II/2, Basel u. a. 2004, Art. 3 VerrStG Rz. 4. 69 Dazu oben S. 1251 ff. 70 Das mag die Erhebung einer Gebühr nicht ausschließen.
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Es ist nicht verallgemeinernd-folgerichtig, das „Jagen“ als Freizeitvergnügen zu besteuern, nicht aber das Fischen, Reiten, Fliegen, Golfen, Motorradrennen. Tradition ist kein Rechtfertigungsgrund für ungleichmäßige Besteuerung. Der fiskalischen Phantasie sind – auf Grund des Art. 105 IIa GG, so wie das Bundesverfassungsgericht ihn interpretiert – allerdings keine Grenzen gesetzt. 71, 72 In Anbetracht des Finanzbedarfs nehmen die kasuistisch-willkürlichen Einfälle der Städte zu: Köln, Hamburg und Lübeck möchten eine „Hotelbettensteuer“ für Hotelübernachtungen erheben, Essen eine „Bräunungsteuer“ von Sonnenstudios, Hamburg eine „Blaulichtsteuer“, wenn der Unfallverursacher die Polizei verständigt. Die Hotelbettensteuer enthält einen Wertungswiderspruch zur Umsatzsteuer; einerseits ist die Umsatzsteuer auf Hotelübernachtungen auf 7 % gesenkt worden, andererseits wird eine Hotelübernachtungsteuer [in Köln „amtlich“ als „Kulturförderungsabgabe“ bezeichnet] erhoben. Besteuerungsphantasie ist für Kommunalfiskalisten alles, Rechtslogik bedeutet ihnen nichts. Andere Kommunen stehen schon zur Nachahmung bereit. Die hoch verschuldeten Großstädte brauchen Geld, irgendwie wollen sie dazu kommen. Noch sind sie nicht darauf gekommen, den Verbrauch von Atemluft zu besteuern. Das Ein- und Ausatmen „erfolgt doch örtlich“. Steuerkompetenziell wäre es gerechtfertigt, auch die Entscheidungen über „örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern“ nicht länger den Verwaltungsrichtern, sondern den Finanzrichtern zu übertragen. Seit 2006 haben die Länder die Befugnis, den Steuersatz der Grunderwerbsteuer zu bestimmen (Art. 105 IIa Satz 2 GG). Die Steuerbemessungsgrundlagen bestimmt weiterhin der Bund. Zunächst hat nur Berlin den Steuersatz geändert – durch Erhöhung von 3,5 % der Bemessungsgrundlage auf 4,5 %. Andere Länder werden folgen. Steuerflucht lässt sich mit Grundstücken nicht begehen. Den Gemeinden billigt das Grundgesetz keine Steuergesetzgebungsbefugnisse zu, eben auch nicht für Steuern, deren Erträge ihnen zustehen. Nach Art. 106 VI 2 GG ist den Gemeinden allerdings das Recht
71 In Köln wird von Bordellbetreibern und Prostituierten seit 2004 eine so genannte „Sexsteuer“ erhoben. Das Sexvergnügen wird ohne Zweifel „örtlich“ ausgeübt. Die „Sexsteuer“ soll der Stadt Köln ca. 800.000 Euro im Jahr einbringen. Dazu R. Seer. Eine Bürgersteuer wäre besser als Saunaund Sexsteuern, FAZ v. 19. 10. 2011, S. 19. 72 Dazu kritisch auch K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 8 Rz. 107 („bilden ein Konglomerat, dessen Willkür nicht zu rechtfertigen ist“); J. Englisch, ebenda, § 16 Rz. 20 („Ein derart fragmentiertes Steuerkonglomerat genügt weder Rationalitätspostulaten noch gleichheitsrechtlichen Anforderungen an Steuergerechtigkeit“).
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Exkurs: Steuerertragshoheit und Finanzausgleich
eingeräumt worden, die Hebesätze für die Grundsteuer und die Gewerbesteuer im Rahmen dieser Gesetze festzusetzen. Es ist schon erstaunlich, dass Verfassungsjuristen den eklatant gegen Grundrechte verstoßenden Art. 105 II a Satz 1 GG hingenommen haben, und zwar nicht nur für vorkonstitutionelle, sondern auch für nach Inkrafttreten des Grundgesetzes erfundene örtliche Verbrauchund Aufwandsteuern. Das ist ein grundrechtsfreier Art. 105 IIa GGPositivismus. Es ist aber offenbar sehr schwierig, aus der Sackgasse wieder herauszufinden. 6.4 Zustimmung des Bundesrates Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder Gemeinden ganz oder zum Teil zufließt, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates (Art. 105 III GG). Dadurch sollen die Interessen der Länder gewahrt werden. 73 Das Bundesministerium der Finanzen pflegt Gesetzesvorhaben regelmäßig mit den Steuerreferenten der obersten Finanzbehörden der Länder, darüber hinaus meist auch mit den Leitern der obersten Finanzbehörden der Länder zu erörtern. 74 Auch der Bundesrat ist jedoch im Laufe der Zeit immer stärker parteipolitisiert, für Parteiinteressen instrumentalisiert worden (dazu S. 1391).
7. Exkurs: Bemerkungen zur Steuerertragshoheit und zum Finanzausgleich Die Steuerertragshoheit entscheidet darüber, welcher Anteil am Gesamtsteueraufkommen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden zusteht. Das regelt Art. 106 GG. Darüber hinaus sorgt Art. 107 GG für einen Ausgleich zwischen wirtschaftsstarken und wirtschaftsschwachen Ländern. Das in Art. 106, 107 GG Geregelte ist in Bd. III1 (1993) auf S. 1115–1126 abgehandelt worden. Von einer Wiederholung wird hier abgesehen. 75 Die Verteilung des Gesamtsteueraufkommens auf Bund, Länder und Gemeinden bedarf zur Vermeidung pragmatischen Feilschens und Flickschusterns angemessener Maßstäbe. Da die Länder wegen der 73 BVerfGE 14, 220. 74 A. Uelner, DStR 1977, 119, 121 li. 75 Th. Lenk, Reformbedarf und Reformmöglichkeiten des deutschen Finanzausgleichs. Eine Simulationsstudie, 1992; J. Hidien, Die Verteilung der Umsatzsteuer zwischen Bund und Ländern, 1998. Hinweis auch auf die Darstellung in K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 3 Rz. 57–72.
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§ 23 Die föderativen Vorgaben des GG
Aufteilung in Streit geraten waren (den das Bundesverfassungsgericht schlichten sollte), erließ das Verfassungsgericht 1999 eine grundlegende Entscheidung (BVerfGE 101, 158). 76 Die Vorgaben dieser Entscheidung hat der Gesetzgeber im so genannten Maßstäbegesetz von 2001 und dem Finanzausgleichsgesetz von 2001 umgesetzt. 77 Die eigentliche Reform steht noch aus. Die kontroversen Interessen der Länder mit großer und mit geringer Steuerkraft an einem Ausgleich haben bisher keine für alle Länder befriedigende Lösung gefunden. Die Länder mit großer Finanzkraft (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Hamburg – sog. Geberländer) möchten weniger in den Finanzausgleich einbringen oder ihn ganz abschaffen. (Der Ministerpräsident des Geberlandes Baden-Württemberg, Kretschmann, hält ihn für „bescheuert“.) Sie empfehlen u. a. den Zusammenschluss benachbarter (finanzschwacher) Länder. Die finanzschwachen Länder (Brandenburg, Berlin, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, SachsenAnhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen – sog. Nehmerländer) möchten ihren Ausgleichsstatus halten und weisen Länderfusionen als unzumutbar zurück. 4 Geberländern stehen zur Zeit 12 Nehmerländer gegenüber. Das ist kein gesundes Verhältnis. Das größte Geberland ist Bayern, das größte Nehmerland ist mit großem Abstand Berlin. Welcher Umverteilungsmaßstab auch gewählt wird: Es besteht immer die Gefahr, das die Nehmer es sich auf Kosten der Geber bequem machen, keine Anstrengungen unternehmen, Geberland zu werden. Das ist bei der Umverteilung von Steuerzahlern auf Sozialhilfeempfänger sowie von wirtschaftsstarken auf wirtschaftsschwache EU-Staaten nicht anders. Hilfe kann die Leistungsbereitschaft untergraben. Das Aufkommen der Landessteuern und der Länderanteil am Aufkommen der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer stehen den einzelnen Ländern insoweit zu, als die Steuern von den Finanzbehörden in ihrem Gebiet vereinnahmt werden (Art. 107 I 1 GG: „örtliches Aufkommen“). Für die Erbschaftsteuer ergibt sich daraus: Zuständig für die Festsetzung der Erbschaftsteuer ist das Finanzamt, in dessen Bezirk der Erblasser (Schenker) seinen Wohnsitz hat (§ 35 ErbStG). Dazu bemerkt J. P. Meincke: Es beeinflusst die Zuständigkeitsregelung des § 35 „auch das an die Vereinnahmung der Steuer anknüpfende hochpolitische 78 Problem der Verteilung des Steueraufkommens unter den Ländern (Art. 107 I GG). Da76 Dazu Wissenschaftlicher Beirat beim BMF, Stellungnahme zum Finanzausgleichsurteil des BVerfG v. 11. 11. 1999, BMF-Schriftenreihe Heft 68, 2000. 77 Nachweise mit Daten und Literaturangeben in K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 3 Rz. 64 Fußn. 67 ff. Zum geänderten Art. 107 GG R. Seer/ K.-D. Drüen, in: W. Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz 2007, zu Art. 107 GG. 78 M. E. ist es insbesondere ein Problem gerechter Steuerertragsverteilung.
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Exkurs: Steuerertragshoheit und Finanzausgleich bei zeigt sich ein eigentümliches Phänomen. Obwohl die Steuer als Bereicherungssteuer ihrer Konzeption nach den Zufluss beim Erwerber erfasst, wird die Bearbeitung des Steuerfalls und damit das Steueraufkommen nach § 35 (ErbStG) im Zweifel dem Land zugewiesen, aus dem der Vermögensanfall stammt. Aus der Sicht des § 35 wird die Erbschaftsteuer/Schenkungsteuer damit als eine Steuer auf die Fortgabe und nicht auf den Empfang des Vermögens gedeutet . . . Auch aus der Sicht des Steuerpflichtigen erscheint die Regelung des § 35 . . . wenig sachgerecht“. 79
Obwohl es zutrifft, dass die Erbschaftsteuer als Bereicherungsteuer den Bereicherten treffen sollte, ist es m. E. doch angemessener, dem Wohnsitzland des Erblassers die Erbschaftsteuer zuzusprechen; denn das vererbte Vermögen ist i. d. R. im Wohnsitzstaat des Erblassers erarbeitet oder sonst erwirtschaftet oder erworben worden. 80 Bei Zuordnungs- oder Zerlegungsproblemen (Zuordnung von Einkünften oder Vermögen zu welchem Land?) kann es sich überhaupt empfehlen, die Grundsätze zur Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung zu beachten. Der gegenwärtige Finanzausgleich dämpft das Interesse der wirtschafts- und steuerstarken Länder an der vollen Ausschöpfung ihrer Steueransprüche.
79 J. P. Meincke, Erbschaftsteuergesetz, Komm.16, 2012, § 35 Rz. 1, 2. 80 Dementsprechend wird auch im Erbschaftsteuer-Doppelbesteuerungsrecht verfahren (H. Schaumburg, Internationales Steuerrecht2, 1997, § 16 Rz. 505, 521). In der Schweiz knüpft die Erbschaftsteuer ebenfalls an den Wohnsitz des Erblassers an. Eine Ausnahme gilt für Immobilien; insoweit ist die Belegenheit entscheidend (H. Schaumburg, a. a. O., § 16 Rz. 510).
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§ 24 Das Steuergesetzgebungsverfahren nach dem Grundgesetz 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . 1334 .. 2. Der Verfahrensablauf . . . . . 1335 ..
3. Für wen müssen Steuergesetze verständlich sein? . . . 1337 .. 4. Müssen Steuergesetze begründet werden? . . . . . . . . 1342 ..
1. Vorbemerkungen Das Verfahren der Bundessteuergesetzgebung ist geregelt in den Art. 76–78, 82, 105 III, 113 GG. Ausführliche Erläuterungen dazu finden sich in den Kommentaren zum Grundgesetz. 1 Diese Verfahrensvorschriften bereiten der Gesetzgebung kaum Probleme. Die mit der Vorbereitung der Steuergesetze befassten Beamten des Bundesfinanzministeriums sind mit den erwähnten Verfahrensvorschriften bestens vertraut. Sie orientieren sich auch an der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO), 2 an der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO – BTag), 3 an der Gemeinsamen Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für den Ausschuss nach Art. 77 GG (Vermittlungsausschuss). 4 Die Steuergesetzgebung genügt allerdings weithin nicht den Anforderungen, die P. Kirchhof inhaltlich an sie stellt. 5 Vom Bundesverfassungsgericht beanstandete Verfahrensfehler sind selten. Das Bundesverfassungsgericht musste allerdings klarstellen, dass der Vermittlungsausschuss sich innerhalb des Anrufungsbegehrens halten muss. 6 Hier interessieren vor allem die Realien des Verfahrens. Art. 76 I GG bestimmt, dass die Gesetzesvorlagen (Gesetzesinitiativen) von der Bundesregierung, von Abgeordneten des Bundestages („aus der Mitte des Bundestages“) oder vom Bundesrat ausgehen können. Ganz überwiegend kommen die Steuergesetzentwürfe von der Bun1 Hinweis auch auf Hans Schneider, Gesetzgebung3, 2002, §§ 5, 6. 2 Fassung der Bekanntmachung des Bundesministers des Innern v. 9. 8. 2000, GMBl. S. 526. 3 Fassung der Bekanntmachung v. 30. 5. 2001, BGBl. I, 1203. 4 Fassung der Bekanntmachung v. 16. 5. 1995, BGBl. I, 742. 5 In den Leitgedanken zu seinem Reformentwurf seines Steuergesetzbuches von 2011, Rz. 14, 15 (dazu in diesem Bd. S. 1846 ff., 1859 ff.). 6 BVerfGE 101, 297, 306 f.; 120, 56, 74 f.; BVerfG DVBl. 2010, 308, dazu J. Hey, in: Festschrift für W. Spindler, 2011, S. 97.
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Verfahrensablauf
desregierung. Diese Vorlagen (begründete Regierungsentwürfe) werden von der Steuerabteilung des Bundesministeriums der Finanzen vorbereitet und vom Bundeskabinett beschlossen. 7 Die Steuergesetzgebung wird von den Politikern als wichtiger Sektor der Politik angesehen. 8
2. Der Verfahrensablauf Der Gesetzesinitiative und der Gesetzentwurfsvorbereitung voraus geht der Gesetzimpuls. Er kann von Parteien oder Verbänden, von Abgeordneten, von Regierungserklärungen, vom Bundesfinanzministerium oder von Landesregierungen ausgehen. Mancher Impuls kommt aus den „Zirkeln“ und „Kränzchen“ der Koalitionsfraktionen. Bei H. Gattermann liest sich das so: „Politisch bedeutsame Regierungsvorlagen zur Steuergesetzgebung haben, bevor sie in den Finanzausschuss gelangen, eine Reihe von Stationen im politischen Willensbildungsprozess zu durchlaufen. Dieser beginnt in der Regel mit einer unter Hinzuziehung der führenden Steuerpolitiker getroffenen Vereinbarung der Koalitionsparteien über die Eckwerte 9 . . . Pate stehen dabei oft Wahlprogramme . . . Die Koalitionsvereinbarungen, eingesegnet durch die Gesamtfraktion, werden dann zur Grundlage des von der Bundesregierung zu erarbeitenden Referentenentwurfs, wobei sich die Bundesregierung durchaus die – nicht immer unkritisch gesehene – Freiheit nehmen kann, von ihr als zusätzlich regelungsbedürftig erkannte Materien in den Referentenentwurf aufzunehmen . . .“ 10
Nach § 23 GGO können die Verbände der Wirtschaft gehört werden was regelmäßig (vor dem Beschluss des Kabinetts) geschieht. Beschließt das Kabinett den Entwurf, wird dieser als Regierungsentwurf dem Bundesrat zugeleitet (Art. 76 II 1 GG). Der Bundesrat kann grundsätzlich innerhalb von sechs Wochen zu dem Entwurf Stellung nehmen (Art. 76 II 2 GG). Zu dieser Stellungnahme beschließt die Bundesregierung ihre Gegenäußerung. Danach wird der Regierungsentwurf mit der Stellungnahme des Bundesrates und der Gegenäußerung der Bundesregierung dem Bundestag zugeleitet. Für das Gesetzgebungsverfahren gelten die §§ 77 ff. GO-BTag. Danach sind grundsätzlich drei Lesungen im Plenum vorgesehen. In der ersten Lesung wird der Gesetzentwurf regelmäßig dem Finanzausschuss überwiesen, gelegentlich auch mehreren Ausschüssen unter Feder7 Dazu §§ 42, 43 GGO. 8 Zur Einordnung von Steuerpolitik und Steuergesetzgebung s. S. 1348 f., 1884 f. 9 Inzwischen spricht man von Eckpunkten. 10 StuW 1988, 171 re.; s. auch A. Uelner, in: Festschrift für K. H. Friauf, 1996, S. 227.
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§ 24 Das Steuergesetzgebungsverfahren nach dem Grundgesetz
führung des Finanzausschusses. Der Finanzausschuss kann Verbände und Sachverständige hören. 11 Der Finanzausschuss entwirft nicht selbst Steuergesetze oder gar Steuerreformgesetze, sondern überprüft die ihm vom Plenum überwiesenen, meist in der Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums erarbeiteten Entwürfe. Im Finanzausschuss vertritt die Ministerialbürokratie ihre Entwürfe und steht den Ausschussmitgliedern Rede und Antwort. Dem Finanzausschuss gehören nicht nur Fachleute an; darin wird ein Regulativ gegen „Expertenblindheit“ gesehen. Durch Einzeländerungen eines Konzepts kann der Finanzausschuss, dem es um die politische Sicht geht, durchaus Systembrüche, Gleichheitssatzverletzungen und Komplizierungen auslösen. Die Anhörung von Verbänden und Sachverständigen kann politisch instrumentalisiert werden – und zwar dadurch, dass die Fraktionen durchweg solche Experten aus Verbänden, aus der Praxis und aus der Wissenschaft einladen, mit deren Unterstützung sie meinen rechnen zu können. Viele Ausschussmitglieder suchen offenbar nur die Bestätigung oder Bestärkung der Meinungen, mit denen sie sympathisieren. 12 In Sachen Steuergesetzgebung sind die Beamten der Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums von allen an der Steuergesetzgebung und ihrer Vorbereitung Mitwirkenden die Kompetentesten. Aber sie sind politikabhängig. 13 Sie sind steuerjuristische Politikberater. Ob ihr Rat angenommen wird, bestimmen Politiker. Nach Art. 65 GG bestimmt der Bundeskanzler (die Kanzlerin) die Richtlinien der Politik, auch die der Steuerpolitik. In der Bundesrepublik Deutschland hat es allerdings bisher keinen Bundeskanzler und keine Bundeskanzlerin gegeben, der (die) durch Kompetenz und Engagement in Sachen Steuergesetzgebung aufgefallen wäre. Realiter liegt die Verantwortung für die Steuerpolitik beim Bundesfinanzminister. Die Finanzminister, die seit Bestehen der Bundesrepublik amtiert haben, waren ganz überwiegend keine Juristen. 14 Auch wenn der Verfahrensablauf den Vorschriften des Grundgesetzes entspricht, garantiert das nicht für steuergerechte Gesetze.
11 Über die Arbeit des Finanzausschusses R. Kreile, StuW 1977, 1, 3 ff.; H. Gattermann, StuW 1988, 170 ff.; Hinweis auch auf K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuer-Wirrwarr!?, 2006, S. 83 f. 12 Kritisch auch Hans Schneider, Gesetzgebung3, 2002, Rz. 119. 13 Dazu S. 1379 ff. 14 Dazu S. 1379 ff.
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Für wen müssen Steuergesetze verständlich sein?
3. Für wen müssen Steuergesetze verständlich sein? An Literatur und Rechtsprechung zur Verständlichkeitsfrage mangelt es wirklich nicht. 15 Nur, wer alles Einschlägige gelesen hat, mag ziemlich verwirrt zurückbleiben. Er mag denken: Wer über die Verständlichkeit von Gesetzen nicht verständlich schreiben kann, sollte gar nichts darüber schreiben. Die Diskussion leidet insbesondere darunter, dass oft nicht klar gesagt wird, auf wessen Verständnishorizont es ankommen soll, auf den von Laien oder auf den von Personen, die für die Anwendung von Steuergesetzen ausgebildet worden sind. Adressaten von Steuerverwaltungsakten sind meist Laien. Sie können durch Fachleute vertreten sein oder nicht. Wer verlangt, die steuerbegründenden Gesetzestatbestände müssten so klar und bestimmt, so verständlich sein, dass die Steuerpflichtigen die auf sie entfallende Steuer berechnen könnten, 16 stellt auf das Laienverständnis ab. Wer verlangt, durch das Gesetz müsse sichergestellt werden, dass die Finanzbehörden es verstehen, umsetzen, vollziehen können und dass die Richter es auf seine Rechtmäßigkeit (s. § 40 II FGO) überprüfen können, stellt auf den über dem Laienhorizont liegenden Verständnishorizont von Fachleuten ab. Es muss aber ein einheitlicher Maßstab gelten; es darf nicht bald der Laien-Maßstab angewendet werden, bald der Fachleute-Maßstab. Es kann im Übrigen nur einen einheitlichen Durchschnittsmaßstab geben. Weder bei Laien noch bei Fachleuten kann es auf den unterschiedlichen individuellen Verständnishorizont ankommen. Ohnehin beeinflussen die Schulbildung und das Studium (wenn es kein Steuerfachstudium ist) nicht das Verständnis von Steuergesetzen. Ein Gesetz, das wegen Unverständlichkeit verfassungswidrig ist, kann nur für alle verfassungswidrig sein oder für niemanden, nicht aber für eine Gruppe verfassungswidrig, für eine andere nicht. Auf den Laienhorizont stellt P. Kirchhof ab (wenn ich ihn richtig verstehe). In den Leitgedanken zu seinem Reformentwurf eines Steuergesetzbuches von 2011, Rz. 14, 15, führt er dazu wörtlich aus: „Die steuerliche Gesetzgebungspraxis der Gegenwart gibt Anlass, das rechtsstaatliche Erfordernis des einfachen und verständlichen Gesetzes nachdrücklich in Erinnerung zu rufen. Ein unverständliches Gesetz ist nicht ordnungsgemäß beschlossen (Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG) und nicht ordnungsgemäß zustande gekommen (Art. 78 GG), weil weder die Abgeordneten des Bundestages noch die Mitglieder des Bundesrates ihren Entscheidungsgegenstand verste15 Nachweise dazu in K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Vor Rz. 167 (zur Normenklarheit); Hinweis auch auf O. Sandrock, Verständlichkeit von Eingriffsnormen als Verfassungsgebot, Festschrift für Knut Ipsen, 2000, S. 781 ff.; H.-J. Pezzer, Verstehbarkeit des Gesetzes, StuW 2007, 102 ff. 16 Hinweis auf BVerfGE 49, 343, 362. Das BVerfG hält sich an diesen Satz durchaus selbst nicht durchgehend.
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§ 24 Das Steuergesetzgebungsverfahren nach dem Grundgesetz hen, das Staatsvolk somit nicht im Wissen, deshalb auch nicht im Willen vertreten konnten. Es ist nicht ordnungsgemäß verkündet (Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG), weil im Bundesgesetzblatt nur ein Text, nicht aber ein die Steuerlast rechtfertigender Belastungsgedanke veröffentlicht worden ist. Die Regelung bietet auch keinen hinreichenden Maßstab für die Verwaltung der Einkommensteuer durch die Landesfinanzbehörden (Art. 108 Abs. 2 Satz 1 GG), wenn das Bundesfinanzministerium die gesetzliche Vorschrift nicht in deutscher Sprache, sondern nur durch Rechenhilfen erläutern kann. Die Steuer steht unter Gesetzes-, nicht unter Computervorbehalt. Vor allem aber verlangt das aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot, dass der Betroffene aus dem Gesetz die Rechtslage erkennen und nach ihr sein Verhalten ausrichten kann. Dies gilt im Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung insbesondere für das Steuerrecht, weil der Inhalt einer Steuerschuld weitgehend von der gesetzlichen Entscheidung abhängt, zudem die steuerlichen Erklärungspflichten strafbewehrt sind, der Steuerpflichtige also im Vorhinein nach Art. 103 Abs. 2 GG die an ihn gestellten Anforderungen erkennen können muss. Im Übrigen droht der Rechtsstaat zu scheitern, wenn der Bürger an einer zentralen Bewährungsprobe des Rechts, dem steuerrechtlichen Eingriff, den rechtfertigenden Grund für die Belastung nicht erkennen kann, die Belastungsunterschiede ihm nicht einsichtig sind, das Belastungsmaß im Steuersatz (vgl. § 32a EStG) für ihn unverständlich bleibt. Der Gesetzgeber verweigert insoweit den Dialog mit dem Steuerpflichtigen. Der Steuerpflichtige muss den Eindruck gewinnen, er solle sich dem Gesetz unterwerfen, ohne es verstehen zu können“. 17
Man mag auch den Fall bedenken, dass die Mehrheit der Abgeordneten (Steuerlaien) den aus dem Finanzministerium stammenden Text nicht verstehen, wohl aber Steuerberater und Steuerrichter. P. Kirchhof spricht zunächst von Abgeordneten und Bundesratsmitgliedern, die das Staatsvolk nicht durch ein für sie unverständliches Gesetz in Wissen und Willen vertreten können. Genügt es danach, dass die Abgeordneten das Gesetz verstehen, wenn auch nicht das Staatsvolk? Das ist wohl nicht gemeint. Im zitierten Text ist denn später auch die Rede vom Bürger und vom Steuerpflichtigen. Das Gesetz ist m. E. nicht deshalb unwirksam, weil Bürger mit Migrationshintergrund (die der deutschen Sprache nicht mächtig sind) das Gesetz nicht begreifen. Für das Abstellen auf den Horizont des steuerpflichtigen Bürgers spricht, dass die Abgabenordnung für Laien keine Pflicht anordnet, sich fachlich beraten zu lassen. E. V. Towfligh hingegen ist in einer umfänglichen Untersuchung zu dem Ergebnis gekommen, es komme auf den Juristen-Verständnishorizont an. Der Titel seines Beitrags lautet bezeichnenderweise „Komplexität und Normenklarheit oder: Gesetze sind für Juristen gemacht.“ 18 Das wird man im Steuerrecht nicht wörtlich nehmen dürfen. Zum einen überschreitet der Steuerverständnishorizont vieler Juristen 17 Kursivdruck vom Verfasser veranlasst. 18 Der Staat 2009, 29 ff.
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Für wen müssen Steuergesetze verständlich sein?
nicht den von Laien, und zum anderen sind viele Steuerrechtsanwender keine Juristen; das gilt für Beamte im gehobenen Dienst der Finanzverwaltung und für das Gros der Steuerberater (Towfligh spricht denn auch von Intermediären). 19 Auch E. V. Towfligh leitet seinen Standpunkt aus der Verfassung ab (Art. 20 I, II GG: Deutschland ist danach demokratischer und sozialer Bundesstaat). Diese Ableitung wird nicht jeden überzeugen. Umgekehrt lässt sich aus dem Demokratieprinzip auch ableiten: Das Volk werde durch Abgeordnete repräsentiert; es wolle aber keine Gesetze, die es selbst nicht versteht. „Denn in der Demokratie“ – so die frühere Justizministerin Herta DäublerGmelin – „muss jede Bürgerin und jeder Bürger wenigstens die Möglichkeit haben, Gesetze . . . zu verstehen“. 20 „Was nicht zu verstehen ist“ – so Ex-Verfassungsgerichtspräsident und Ex-Bundespräsident Roman Herzog – „kann weder auf Verständnis hoffen, noch auf Befolgung. Wie soll der Bürger Spielregeln beachten, die zu verstehen selbst der Experte Mühe hat? . . . Besonders eklatant wird das alles im Steuerrecht . . . Im Steuerrecht haben wir einen Zustand der Überregulierung erreicht . . . Wenn es nur noch fachkundigen Beratern gelingt, günstige steuerrechtliche Möglichkeiten auszuschöpfen, dann stellt sich die Gerechtigkeitsfrage . . .“ 21 Ex-Bundespräsident Horst Köhler hat im Fernsehen eingeräumt, die eigene Steuererklärung nicht zu verstehen. 22
Ex-Bundesfinanzminister Hans Eichel hat seinen Gegenstandspunkt seinerzeit pointiert so ausgedrückt: „Wer ein Steuerrecht verlangt, das jeder versteht, ist entweder naiv oder opportunistisch“. 23 In der Tat ist es m. E. nicht möglich, Steuergesetze zu erarbeiten, die jeder Laie begreift. 24 Das Steuerrecht ist aus Gründen der Rechtssicherheit auf eine präzise, rechtssichere Fachsprache angewiesen. Und komplizierte Lebensverhältnisse führen unvermeidbar zu komplizierten Steuergesetzen. Aber auch mit einer unkomplizierten Fach19 Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts und nachmalige Bundespräsident Roman Herzog hat – als Bundespräsident – einmal geäußert, er könne unser „Steuersystem“ nicht mehr verstehen, obwohl er sich als Verfassungsrichter 10 Jahre mit Steuerrecht befasst habe. R. Herzog ließ offen, bis wann er die Steuergesetze noch verstanden habe und ab wann nicht mehr (dazu K. Tipke, DIE ZEIT Nr. 38/1994, S. 34). 20 BB 2000, Heft 2 („Die erste Seite“). 21 NJW 1999, 25, 26. 22 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Medien-Monitoring, Medienspiegel Inland, 25. 6. 2007, S. 10 f. 23 Zitiert nach Stbg. 2001, 194 (Rede auf dem Deutschen Steuerberatertag). 24 In § 42 V GGO heißt es zwar: „Gesetzentwürfe müssen . . . möglichst für jedermann verständlich gefasst sein“; jedes Steuergesetz zeigt aber, dass eine für jedermann verständliche Fassung nicht möglich ist. Daran vermag auch der grundsätzlich einzuschaltende (s. § 42 V GGO) Redaktionsstab der Gesellschaft für deutsche Sprache beim Deutschen Bundestag nichts zu ändern.
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§ 24 Das Steuergesetzgebungsverfahren nach dem Grundgesetz
sprache können Laien nicht umgehen. Sie wissen auch nichts von der juristischen Methodenlehre der Gesetzesanwendung. Auch die Verfasser von fünf Entwürfen des Einkommensteuergesetzes können mit ihrer Fachsprache nicht von jedermann verstanden werden. Das gilt auch für den Karlsruher Entwurf von P. Kirchhof und seinen Steuergesetzbuchentwurf von 2011 (dazu S. 1844 ff.). 25 Das für alle verständliche Steuerrecht ist ein Traum. Das ist auch die Linie, die im „Kölner Entwurf“ eines Einkommensteuergesetzes vertreten wird. Es heißt dort in der Begründung: „Ein Gesetz, das wie das Einkommensteuergesetz komplexe Gegenstände vollständig, bestimmt und klar zu regeln hat, wird die Forderung nach Allgemeinverständlichkeit oder gar Volkstümlichkeit des Gesetzestextes nur bedingt erfüllen können. Das Gesetz sollte in erster Linie den fachlich gebildeten Rechtsanwender möglichst präzise anweisen. Ein Lesebuch für das Volk wird ein Einkommensteuergesetz niemals sein können. Gleichwohl haben die Autoren des Kölner Entwurfs nach der verständlichsten Formulierung für den steuerlich nicht vorgebildeten Steuerpflichtigen gesucht und diese verwendet, wenn dadurch die fachliche Präzision der Vorschrift nicht beeinträchtigt wird. . . .“ 26 Auch die Gründe vieler Gerichtsurteile – Urteile des Verfassungsgerichts eingeschlossen –, sind für Rechtslaien nicht verständlich. Im Übrigen: Auch der Gesetzgeber darf nicht überfordert werden. Auch für ihn muss gelten: Ultra posse nemo tenetur. Oder Impossibilium nulla obligatio. Auch vom Gesetzgeber darf nichts Unmögliches verlangt werden. Wer meint, dass ein Volks-Steuergesetzbuch möglich sei, mag sich an einem entsprechenden Entwurf versuchen. Er wird scheitern. Dass heute auch Fachleute Schwierigkeiten haben, Gesetze zu entschlüsseln, erklärt sich daraus, dass der Stoff immer unprofessioneller zusammengeflickt wird. Was vom Gesetzgeber verlangt werden kann und muss, ist Rechtssystematik und Rechtslogik: Verallgemeinerung (Vermeiden ungerechtfertigter Differenzierung), Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit. Würde der Gesetzgeber sich folgerichtig an Prinzipien und Regeln orientieren, würde es wohl kaum vorkommen, dass selbst Finanzbeamte und Finanzrichter, selbst Steuerberater und Steueranwälte Steuergesetze nicht mehr verstehen. Dass zum Verständnis des Gesetzes Hilfsmittel erforderlich werden können – Gesetzesentstehungs25 Dazu K. Tipke, StuW 2002, 153, 154 f. Zum Thema Umgangs- oder Fachsprache auch K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuer-Wirrwarr!?, 2006, S. 128 f. 26 J. Lang u. a., Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005, S. 50.
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Für wen müssen Steuergesetze verständlich sein?
materialien, Lehrbücher und Kommentare, Rechtsprechung –, versteht sich. Wer meint, dass Gesetzesvorschriften klarer und verständlicher formuliert werden könnten, mag eine entsprechende Formulierung vorschlagen. Vor allem Kommentatoren könnten das tun. Friedrich der Große, der sich – wie Napoleon Bonaparte – auch für Gesetzgebung interessiert hat, soll geäußert haben: „Wenige, aber weise Gesetze, machen ein Volk glücklich; viele verwirren das Volk“. 27 Als ihm der Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuchs für Preußen (Preußisches Allgemeines Landrecht) vorgelegt wurde, soll er angemerkt haben: „Es ist aber sehr dicke, und Gesetze müssen kurz und nicht weitläufig sein“. 28 Gesetze sollen nicht unsystematisch, verwickelt, unübersichtlich sein. Aber was das Verständnis betrifft, so liegt in der Kürze allein nicht stets die Würze. Das kürzeste Gesetz muss nicht das verständlichste sein. Ein ausführliches Gesetz kann verständlicher und weniger streitanfällig sein als ein kurzes. „Einfach“ – so H. Helsper – „heißt nicht, ein Gesetz dürfe nur fünf Paragraphen mit hehren Grundsätzen enthalten, und die Ausfüllung sei Bürgern und Gerichten überlassen. Einfach heißt, dass wir in ein Normengefüge auf jeder Ebene eindringen können und dort einen stimmigen, das heißt als Strategie wie als Spielregel lesbaren Text in einem stimmigen Kontext vorfinden“. 29 Leider gibt es auch Gesetzestexte, die so unklar und verworren sind, dass auch die Finanzbehörden sie nur mit Hilfe eines EDV-Programms umzusetzen vermag. J. Pezzer kritisiert das zutreffend wie folgt: „Auch wenn sich dadurch der praktische Umgang mit einer unverständlichen Norm im Ergebnis recht einfach anlassen mag, weil man die Vorschrift nicht verstehen muss, sondern es ausreicht, sich durch sie mit der Maus ‚hindurchzuklicken‘, so erhebt sich doch die Frage: Wer kontrolliert, ob das Programm tatsächlich dem Gesetz entspricht, wenn das vom Programm ausgeworfene Ergebnis vom Gesetzesadressaten nicht nachgeprüft werden kann? Müsste dann nicht anstelle des Gesetzestextes die jeweilige Software im Gesetzgebungsverfahren beschlossen und im Gesetzblatt veröffentlicht werden? Eine unverständliche und daher aus sich heraus nicht handhabbare Vorschrift wird daher nicht dadurch ‚gerettet‘, dass eine entsprechende Software zur Verfügung steht“. 30 27 Hinweis auf G. B. Volz (Hrsg.), Werke Friedrichs des Großen in deutscher Übersetzung, VIII, 1913, S. 32). 28 Nach F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 1967, S. 330. 29 H. Helsper, Wege für Beweger im Steuerwesen, 2001, S. 22. Hinweis auch auf V. Thurony (Ed.), Tax Law Design and Drafting, International Monetary Fund Vol. 1, S. 73 f. 30 J. Pezzer, StuW 2007, 102 re.
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§ 24 Das Steuergesetzgebungsverfahren nach dem Grundgesetz
4. Müssen Steuergesetze begründet werden? Nach Chr. Waldhoff schuldet der Gesetzgeber nichts als das Gesetz. 31 Diese Meinung überzeugt nicht. Auch wenn das Grundgesetz nicht expressis verbis eine Begründung von Gesetzen anordnet, so kann sie doch rechtsstaatlich und rechtsrational geboten sein oder sich empfehlen. Der Gesetzgeber schuldet im Rechtsstaat mehr als nur eine beliebige Dezision, die schon gerechtfertigt wäre, weil die Mehrheit sich für sie ausgesprochen hat. Auch ein Mehrheitsbeschluss ersetzt keine Gründe. Der gesetzliche Eingriff in Freiheit und Eigentum darf im Rechtsstaat keine Zwangsanordnung beliebigen Inhalts sein, sondern muss ein Akt sein, der rechtfertigungsbedürftig ist. Das demokratische Transparenzgebot verlangt auch eine Offenlegung der Gesetzesentstehung. Durch die Begründung muss dokumentiert werden, dass der Gesetzgeber sich überhaupt rechtfertigende Gedanken gemacht hat. Die Gründe müssen wahr und klar sein. Hinter einer bloßen Dezision kann sich auch ein Wahlgeschenk an die Wählerklientel verbergen oder ein Entgegenkommen gegenüber einem spendenden Interessenverband. Ohnehin wird versucht werden, solche Tatbestände zu vertuschen. Das Fernsehen verrät uns z. B.: „Dieser Wetterbericht wurde ihnen von Karstadt/Quelle Versicherungen präsentiert.“ Dass ein Gesetz von der Tabakindustrie entworfen und durchgesetzt wurde, werden wir aber wohl nie lesen, es sei denn, das Verfassungsgericht würde solche Informationen verlangen. Immerhin verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass Lenkungsnormen hinreichend bestimmt als solche erkennbar sein müssen, nicht unerkennbar in einer Fiskalzwecknorm versteckt werden dürfen. Ist das unklar, ist die Norm Fiskalzwecknorm. Da Verwaltungsakte und Gerichtsurteile im Rechtsstaat grds. begründet werden müssen, muss es umso mehr für Gesetze gelten, weil sie eine viel größere Breitenwirkung haben als Einzelentscheidungen. Art. 190 EG-Vertrag sah denn auch vor, dass Verordnungen und Richtlinien begründet werden müssen; s. jetzt Art. 29b AEUV. Aus der Begründung des Regierungsentwurfs und der Stellungnahme des Finanzausschusses wird sich durchweg wohl auch entnehmen lassen, was den Gesetzgeber (das Parlament) bewogen hat. P. Kirchhof
31 Chr. Waldhoff, in: Festschrift für J. Isensee, 2007, 325 ff.; K. Vogel/Chr. Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, 1999, S. 183; Chr. Waldhoff folgend G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 319 ff. m. w. N.
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Müssen Steuergesetze begründet werden?
allerdings verlangt mehr als die gängige Gesetzgebungspraxis bietet. Was er in den Leitgedanken zu seinem Steuergesetzbuchentwurf von 2011 verlangt (s. dort Rz. 14, 15), lässt sich nur durch eine entsprechende Begründung erfüllen. Im Vergleich mit den anderen Staatsgewalten verlangt der Gesetzgeber von sich zu wenig, und seine richterlichen Kontolleure verlangen von ihm nicht zu viel, sondern ebenfalls zu wenig.
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§ 25 Allgemeines zum Gesetzesinhalt 1. Vom Recht der Rechtswissenschaft, sich mit der Gesetzgebung zu befassen . . 1344 .. 2. Inhaltliche Vorgaben des Grundgesetzes für die (Steuer-)Gesetzgebung . . . . 1345 .. 3. Keine Einschränkung der Grundrechtsanwendung auf Steuern durch Art. 105, 106 GG – Gründe gegen
die herrschende Gegenmeinung . . . . . . . . . . . . . 1353 .. 4. Vorgaben des Rechts der Europäischen Union für die nationale Steuergesetzgebung. . . . . . . . . . . . . . . 1359 .. 5. Exkurs: Über die Geltung von Gesetzen . . . . . . . . . . 1362 ..
1. Vom Recht der Rechtswissenschaft, sich mit der Gesetzgebung zu befassen Wenn Journalisten und Publizisten das Recht, ja die Aufgabe haben, die Gesetzgebung zu kritisieren: Wie könnte man den Juristen dieses Recht versagen wollen? Auch Juristen, insbesondere Rechtswissenschaftler, haben die Aufgabe der Gesetzeskritik. Ihr Kritikmaßstab wird oft ein anderer sein als der von Journalisten. Es gibt allerdings Gesetzespositivisten, die die Rechtswissenschaft auf die Gesetzesanwendung beschränken wollen. Unter ihnen sind gleichwohl solche, die es nicht lassen können, ohne intersubjektive Maßstäbe Gesetze zu kritisieren. Auch wenn man annimmt, dass Gesetzeskritik keine Pflichtaufgabe der Rechtswissenschaft sei, das Recht zur Gesetzeskritik haben Rechtswissenschaftler allemal – auch über die Gesetzeswirksamkeitsprüfung hinaus. Eingangs seines Lehr- und Handbuchs „Gesetzgebung“ zitiert Hans Schneider 1 den Schweizer Öffentlichrechtler Hans Huber mit den Worten: „Die Rechtswissenschaft ist unterentwickelt, die sich auf Dogmatik beschränkt; mit dem Auslassen der Rechtsetzung verfehlt sie ein wesentliches wissenschaftliches Anliegen.“ Das Zitierte stammt aus dem Jahre 1981; seither hat sich einiges gebessert. Dass in der Lehre recht einseitig auf die Gesetzesanwendung abgestellt wird, hängt wohl damit zusammen, dass die große Mehrzahl der praktizierenden Juristen mit der Gesetzesanwendung befasst ist. In der Fachliteratur wird freilich von Wissenschaftlern und Praktikern viel Kritik an der Gesetzgebung geübt – mit und ohne Maßstab. Aber einen Maßstab sollte es schon geben, nicht zuletzt auch für Kritik am Gesetzes1 H. Schneider, Gesetzgebung3, 2002, S. 3.
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Vorgaben des Grundgesetzes
inhalt. Dass die Rechtswissenschaft sich des Themas „Gesetzgebung“ mehr annehmen muss, ergibt sich daraus, dass die Folgen mangelhafter Gesetze wegen ihrer Breitenwirkung viel schwerwiegender sind als die Folgen einer falschen Einzelentscheidung durch falsche Gesetzesanwendung. Die Mängel von Gesetzen lassen sich durch Gesetzesanwendungsmethoden nur recht begrenzt korrigieren. Die Befassung mit Gesetzesinhalten ist m. E. dringlicher als die Befassung mit Gesetzestechniken und Gesetzesformalitäten. Soweit Steuerrechtswissenschaftler Steuergesetzentwürfe verfassen, tun sie mehr als ihre Pflicht. Mit der Steuergesetzgebung befassen sich kritisch auch Steuerökonomen, und zwar nicht nur Finanzwissenschaftler, sondern – wenn auch seltener – Vertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre. 2
2. Inhaltliche Vorgaben des Grundgesetzes für die (Steuer-) Gesetzgebung (1) 1984 wurde in der Universität Münster ein Symposion zum Thema „Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?“ abgehalten. 3 Hatte sich die Divergenz zwischen dem systematischen Denken der großen Mehrheit der wenigen Steuerrechtswissenschaftler einerseits und dem steuerpolitischen Denken der Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums und Mitgliedern des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages andererseits schon auf der 1. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft 1976 in Köln abgezeichnet, 4 so brach der Konflikt 1984 offen aus. G. Juchum, damals in der Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums tätig, berichtet darüber so: „Die politische Praxis im BMF und im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages geriet angesichts der scharfen Kritik von Raupach, Tipke und Lang unter Rechtfertigungsdruck. Uelner, mein Chef im BMF, verteidigte unsere Arbeit unter Hinweis auf den Primat der 2 Dazu U. Schmiel, Rechtskritik als Aufgabe der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, 2005. 3 Raupach/Tipke/Uelner (Hrsg.), Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?, 1985, mit einer Einführung von D. Birk. Äußerer Anlass des Symposions war das 50-jährige Bestehen des Instituts für Steuerrecht der Universität Münster. 4 Zur Steuergesetzgebung in der BR Deutschland äußerten sich damals K. Tipke aus der Sicht der Steuerrechtswissenschaft (StuW 1976, 294 ff.), R. Kreile aus der Sicht des Parlamentariers und Mitgliedes des Finanzausschusses (StuW 1977, 1 ff.), A. Uelner aus der Sicht der Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums (DStR 1977, 119 ff.).
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§ 25 Allgemeines zum Gesetzesinhalt
Politik und den demokratischen Prozess. Die nachmittags anschließende Diskussion führte in eine unversöhnliche Frontstellung zwischen Wissenschaft und Gesetzgebung, die in jeder Anhörung des Finanzausschusses erneut aufbricht (die Position Uelners war übrigens der Rolle geschuldet, im BMF kannten wir ihn als streitbaren Verfechter einer wert- und prinzipienorientierten Steuerpolitik)“. 5 Wörtlich führte A. Uelner aus: „In der Steuerrechtswissenschaft scheint es mir weithin an Verständnis dafür zu fehlen, was ein demokratischer Kompromiss ist – ein Vorgang, der bei uns bezeichnenderweise meistens mit dem Attribut ‚faul‘ belegt wird. . . . Es wäre sicher ein lohnenswertes Unterfangen, den wirklichen Ablauf von steuerlichen Gesetzgebungsverfahren, in denen Interessengegensätze hart aufeinanderstoßen und ausgeglichen werden müssen, zum Gegenstand akademischer Veranstaltungen zu machen. . . .“ 6 An anderer Stelle äußert A. Uelner: „Ich vermag im Kampf um die Mehrheit der Wählerstimmen in einem demokratischen System nichts Verwerfliches zu erkennen“. 7 Vor allem im Kreise professoraler Kritiker der Steuergesetzgebung neigte A. Uelner zu einseitiger Idealisierung des demokratischen Prozesses. Wer etwas über die politische Realität erfahren will, hält sich besser an den Politiker P. Steinbrück. 8 Mir ist kein Staats- und Steuerrechtslehrer bekannt, der die Demokratie und einen fairen Kampf um die Mehrheit der Wählerstimmen abschaffen wollte, wenngleich auch die Methoden, mit denen dieser Kampf tatsächlich geführt wird, zu kritisieren sind. 9 Desorientierung der Wähler, Wahlkampflügen zum Zweck der Wählertäuschung sind keine demokratischen Mittel, sondern sanktionslos bleibende Demokratieentartung. Auf einer Tagung der Deutschen Steuergewerkschaft (1984) versuchte ein Parlamentarischer Staatssekretär des Bundesministeriums der Finanzen, sich Gunst und Gewogenheit der Steuerbeamten dadurch zu erwerben, dass er anmerkte: „Gute Beamte und schlechte Gesetze sind besser als schlechte Beamte und gute Gesetze.“ Die Schmeichelei kam nicht an. Meine Alternative: „Für gute Beamte gute Gesetze“ wurde weitaus besser aufgenommen.
5 6 7 8
G. Juchum, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 391 f. Raupach/Tipke/Uelner, Hrsg., (Fußn. 3), S. 177, 178. Raupach/Tipke/Uelner, Hrsg., (Fußn. 3), S. 176. P. Steinbrück, Unterm Strich5, 2010, insb. S. 35 ff. („Talfahrt der Politik“), 219 ff. („Die Fehler der Politik . . .“), 320 ff. („Parteiendemokratie in Deutschland“), 355 ff. („Eine delikate Beziehung: Politik und Medien“), 406 ff. („Gewicht und Substanz des politischen Personals“). 9 Dazu S. 1366, 1824 ff., 1828, 1896.
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Vorgaben des Grundgesetzes
Der Politikwissenschaftler St. Heichel vertritt die Auffassung: „Finanzpolitik mag man sich rational wünschen. Sie ist es aber nicht und kann es im politischen Geschäft moderner Parteiendemokratien westlicher Prägung auch gar nicht sein. Warum? Finanzpolitik ist in erster Linie genau dies: Politik. . . . Daher wird die Steuerpolitik in allen wichtigen Aspekten auf höchster Ebene bestimmt, im Koalitionsvertrag . . ., zuvor innerparteilich und nicht zuletzt im Kabinett oder in den Arbeitsgremien . . .“ 10 Und so schloss er messerscharf, dass das, was ist, sein darf. Das ist empirische oder positivistische, nicht normative Politikwissenschaft. Das Parlament und die „Nebenregierung der organisierten Interessen“ (v. Hayek) erwähnt St. Heichel nicht, das Grundgesetz und seine auch für die Finanzpolitik und den Steuergesetzgeber verbindliche Werteordnung auch nicht. So wie St. Heichel die Wirklichkeit (wohl zutreffend, wenn auch nicht vollständig) beschreibt, können wir leider nicht davon ausgehen, dass die Steuerpolitiker Steuergerechtigkeit erstreben. St. Heichel beschreibt als Politikwissenschaftler nur das Politische Ist, nicht das rechtliche Soll des Grundgesetzes. Man stelle sich einmal vor, das Bundesverfassungsgericht würde eine Verletzung des Gleichheitssatzes verneinen mit der Begründung, der Gesetzgeber habe alles getan, was „im modernen politischen Geschäft moderner Parteiendemokratien westlicher Prägung“ möglich sei und auch gar nicht anders handeln können. Auch vom demokratischen Gesetzgeber könne nichts Unmögliches verlangt werden. Da er den Gleichheitssatz nicht habe beachten können, habe er diesen auch nicht verletzt. – Die Verfassung lässt sich so nicht aushebeln. Auch O. Lepsius nennt das Steuerrecht „hochpolitisches Recht“. 11 Politik rechtfertigt aber keine Entrechtlichung. (2) Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Demokratie. Sie ist aber auch ein Rechtsstaat. Daher bestimmt das Grundgesetz, dass die Grundrechte des Grundgesetzes die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 III GG) binden. Die rechtsstaatliche Demokratie besteht nicht in einer Diktatur der Mehrheit. Auch die Mehrheit muss die Grundrechte beachten, auch zum Schutze der Minderheit. Herr des Rechts ist im Rechtsstaat nicht die Mehrheit, sondern es sind die vom Bundesverfassungsgericht zu schützenden Grundrechte. Es gibt im Rechts- und Verfassungsstaat keinen Primat der Steuerpolitik vor der Verfassung. Im Herbst 2011 rief Papst Benedikt XVI. in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag den Abgeordneten folgendes in Erinnerung: „Natürlich wird ein Politiker den Erfolg suchen, der ihm überhaupt die Möglichkeit politischer Gestaltung eröffnet. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet.“ 10 FAZ v. 5. 12. 2009, S. 10. 11 JZ 2009, 533.
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§ 25 Allgemeines zum Gesetzesinhalt
Die Parlamentsmehrheit ist nicht Herrscher über die Gesetze, sie darf nicht beliebige Gesetzesinhalte bestimmen. Die Werte der Grundrechte waren lange überpositive; das Grundgesetz hat sie aber positiviert und verbindlich gemacht. Durch die Grundrechte sind dem Pluralismus Grenzen gesetzt. Der Pluralismus kann sich aber bei der Interpretation der Grundrechte einbringen. 12 In der nicht rechtsstaatlich gebändigten, puren Demokratie ist das in der Tat anders: In ihr hat die Mehrheit immer Recht. Sie braucht keine Rechtfertigung, keine Gründe. Die Gesetze können aus Zwangsnormen ohne Gerechtigkeit bestehen, es sei denn, man nähme fiktiv an, dass das, was eine Mehrheit beschließt, immer gerecht sei. Wir werden im Sinne von A. Uelner bemüht sein, die Gesetzgebungsrealität darzustellen, 13 allerdings nicht in dem Sinne, dass wir die Parlamentarier „wegen ihres angeblichen Ringens um Gerechtigkeit“ bewundern und möglichst alles beschönigen. Der Gerechtigkeit dient es nicht, wenn es nur darum geht, eine bestimmte Klientel zu begünstigen oder Interessenverbänden zu Willen zu sein, statt „Vertreter des ganzen Volkes“ (so Art. 38 I 2 GG) zu sein. Der Gerechtigkeit dient es nicht, wenn Steuerprivilegien erweitert statt aufgehoben werden. Steuerpolitiker pflegen flexible Pragmatiker zu sein, Bindungen möglichst abzulehnen, insbesondere Bindungen an Prinzipien und Regeln als lästiges Korsett zu empfinden. Mit dem demokratischen Mandat und der Macht wächst die Einbildung, alles zu wissen. Der fast omnipotente Finanzminister ist in Gefahr, sich für omnikompetent zu halten. Steuerpolitiker pflegen Steuerpolitik als eine Politik wie jede andere zu betrachten und zu praktizieren, schlichtweg als Politik. Das ist nicht richtig und erzeugt Inkonsequenzen und Widersprüche in der Gesetzgebung. Die Orientierung an Prinzipien wird gern als „Prinzipienreiterei“ abgetan. Da im Rechtsstaat Steuern nur auf Grund von Gesetzen erhoben werden dürfen, ist Steuerpolitik gedachte oder geplante Gesetzgebung. Da die Gesetzgebung an die Grundrechte als höchste Grundwerte gebunden ist (ferner an das Europarecht), gilt diese Bindung
12 Deutlich formuliert es Verfassungsrichter R. Mellinghoff: „Mit dieser Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung trifft das Grundgesetz eine klare Entscheidung gegen eine unbeschränkte Parlamentssouveränität. Auch das Parlament ist an die in der Verfassung gesetzte Ordnung gebunden. Das Gesetzgebungsmonopol des Parlaments begründet zugleich den Auftrag, die Rechtsetzungsmacht zur Herstellung und Wahrung verfassungsmäßiger Zustände einzusetzen“ (Festschrift für P. Bareis, 2005, S. 171, 174; s. auch ders., Stbg. 2007, 549, 551). 13 S. 1364 ff.
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Vorgaben des Grundgesetzes
auch für die Steuerpolitik. Da das Hauptgrundrecht für den Bereich der Besteuerung der Gleichheitssatz ist, ist auch die Steuerpolitik an den Gleichheitssatz gebunden. Da der Gleichheitssatz verallgemeinerte, folgerichtige, widerspruchsfreie Gesetze verlangt (s. S. 1251 ff.), muss auch die Steuerpolitik die Gebote der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit beachten. Nur das führt zu Steuergerechtigkeit. Der wiederholte Gebrauch des Begriffs „Steuergerechtigkeit“ bloß als rhetorisches Ornament genügt nicht. Die Verfassung erlaubt es der Steuerpolitik und dem Steuergesetzgeber nicht, im Interesse der Wählerklientel und im Interesse von Interessenverbänden die Steuergesetze als beliebige politische Knetmasse zu behandeln. Der Gesetzgeber muss – wie P. Kirchhof es formuliert – „der Erstinterpret der Verfassung“ 14 sein. Er trägt die Erstverantwortung für die Verfassung. Die Verfassungsfrage muss auch die Steuerpolitik schon bedenken. Das besondere an der Steuerpolitik ist, dass sie zur notwendigen Erreichung von Steuergerechtigkeit Gerechtigkeitspolitik sein muss, dass sie nicht zu vergleichen ist mit Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Bildungspolitik, Verkehrspolitik und anderen Politiken, bei denen es nicht um Verteilungsgerechtigkeit geht. Die Anwendung von Grundrechtsethik ist nicht Politik. Gebote der Rechtslogik 15 anwenden, ist nicht Politik. Das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Demokratie und Gerechtigkeit durch Gleichheit sind keine Gegensätze oder Wertungswidersprüche. Der Gleichheitssatz gehört zur Essenz der Demokratie und mit ihm gehören dazu auch die im Gleichheitssatz angelegten Gebote der Rechts- und Wertungslogik. 16 Rechtswissenschaftliche, d. h. rechts- und wertungslogische Gesetzgebung ist mehr als bloße Kunst. Demokratisch ist auch das möglichst übersichtliche, einsichtige, einfache Gesetz. Nicht demokratisch ist Klientelpolitik, Sonderinteressenpolitik, Privilegienpolitik. Nach dem Grundgesetz haben die demokratisch gewählten Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes“ zu sein (Art. 38 I 2). Wer eine solche Auffassung unter Hinweis auf die abweichende politische Wirklichkeit ablehnt, verdient deshalb noch kein Bundesverdienstkreuz. Das demokratische Prinzip im Sinne von Mehrheitsherrschaft wird durch das Wertesystem der Grundrechte eingeschränkt. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes ist nicht der Staat beliebiger Gesetze, auch wenn sich für sie eine Mehrheit findet.
14 P. Kirchhof, Einkommensteuer-Gesetzbuch, 2003, S. VIII. 15 Dazu oben S. 1251 ff. 16 Dazu oben S. 1251 ff.
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(3) Von der ganz herrschenden Meinung 17 wird das Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit als steuerrechtliches Gerechtigkeitsprinzip angesehen. Abweichend von der Weimarer Reichsverfassung (WRV) ist das Leistungsfähigkeitsprinzip im Grundgesetz aber nicht ausdrücklich verankert worden. Artikel 134 der Weimarer Reichsverfassung sah vor: „Alle Bürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei.“
Diese Vorschrift wies drei Mängel auf: (1) Sie bezog sich nur auf Bürger, nicht auf Unternehmen. (2) Sie erfasste alle öffentlichen Abgaben, nicht nur Steuern. (3) Sie sollte nur nach Maßgabe der Gesetze anwendbar sein; im Rechtsstaat müssen die Gesetze aber nach Maßgabe der Verfassung gelten, nicht umgekehrt. Das Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler schlug 1992 vor, Art. 105 GG durch folgenden Text zu ergänzen: „Bund und Länder haben insbesondere darauf zu achten, dass alle Bürger auf der Grundlage einfacher und praktikabler Gesetze entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu allen öffentlichen Lasten beitragen. Das Existenzminimum ist steuerfrei.“
Dieser Art. 134 WRV erweiternde Vorschlag schleppt Mängel des Art. 134 fort. Er ist vom Verfassungsgeber nicht aufgegriffen worden. Möglichst einfach und praktikabel sollten nicht nur Steuergesetze sein. Ein anderer Ergänzungsvorschlag stammt von dem Zivilrechtler Uwe H. Schneider. Er lautet: „1. Die Besteuerung erfolgt nach dem Prinzip der Gleichmäßigkeit und der individuellen Leistungsfähigkeit. 2. Die direkten Steuern dürfen . . .% des Einkommens nicht übersteigen“. 18
Der Gleichheitssatz und das Leistungsfähigkeitsprinzip dürfen nicht nebeneinander gestellt werden. Die Leistungsfähigkeit ist der steuerrechtliche Maßstab, an dem Gleichheit zu messen ist, sie ist der Vergleichsmaßstab. Uwe H. Schneider berücksichtigt nicht die Lenkungsteuern, für die das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht generell gelten kann. Was soll künftig aus den (noch immer erhobenen) Steuern werden, die dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht entsprechen; das gilt für eine ganze Reihe von Steuern bis hin zu den Kommunalsteuern, auch für die Gewerbesteuer und die Kaffeesteuer. Bisher unterstellt das Bundesverfassungsgericht solche Steuern unter Berufung auf einige Staatsrechtslehrer dem Schutz der Art. 105, 106 GG. S. dazu meine Kritik auf S. 1552 ff. 19 Mit der Aufnahme des Leistungsfähigkeitsprin17 Dazu ausführlich Bd. I2, 2000, S. 479 ff. 18 StuW 1994, 58. 19 Hinweis auch auf StuW 1994, 59 f.
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Vorgaben des Grundgesetzes
zips in das Grundgesetz sollte m. E. gewartet werden, bis ein Steuergesetzbuch beschlossen worden ist, das keine Steuern mehr enthält, die dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht entsprechen. P. Kirchhof hat in den Entwurf seines Steuergesetzbuches von 2011 folgenden § 1 Satz 2 aufgenommen: „Eine Steuer belastet die finanzielle Leistungsfähigkeit des Betroffenen.“ Steuern, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, sind in den Gesetzbuch-Entwurf nicht aufgenommen worden. Dadurch ist der weite Kreis der von Art. 105 GG erfassten Steuern auf wenige reduziert worden. Art. 105 GG enthält eben nicht nur Leistungsfähigkeitssteuern, sondern auch Steuern aus einer Zeit, als das Leistungsfähigkeitsprinzip keine Rolle spielte. Eine Höchstgrenze der Gesamtsteuerbelastung ist schwer zu formulieren. Beschränkt man die Belastungsgrenze auf die direkten Steuern, so weicht der Gesetzgeber in eine Erhöhung der indirekten Steuern aus. P. Kirchhof hat als Verfassungsrichter versucht, aus Art. 14 II 2 GG, nämlich aus dem Wort „zugleich“ einen „Halbteilungsgrundsatz“ abzuleiten. Der II. BVerfG-Senat (dem er seinerzeit angehörte) ist ihm in einer Entscheidung zur Vermögensteuer zunächst gefolgt: Die Vermögensteuerbelastung dürfe zu den übrigen Steuern nur hinzukommen, solange die Gesamtbelastung „in der Nähe der hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand“ verbleibe. 20 Diese Entscheidung hat Zustimmung, aber auch viel Kritik erfahren. 21 Der II. BVerfG-Senat ist inzwischen vom „Halbteilungsgrundsatz“ abgerückt: Aus Art. 14 GG ergebe sich keine allgemeinverbindliche absolute Belastungsobergrenze. 22 Wer meint, dass eine absolute Belastungsobergrenze in das Grundgesetz aufgenommen werden sollte, kann sich mit den damit verbundenen Problemen am besten dadurch vertraut machen, dass er sich mit der Diskussion um den „Halbteilungsgrundsatz“ befasst. 23 P. Kirchhof hat sich nicht beirren lassen. In seinem Bundessteuergesetzbuch-Entwurf von 2011 hat er folgenden § 8 aufgenommen: „Die jährliche Belastung aus Steuern darf die Hälfte des jährlichen Einkommens nicht übersteigen (Obergrenze). Dabei ist die Belastung mit Umsatzsteuer und Verbrauchsteuer mit 20 von Hundert des Einkommens anzusetzen. Die Erbschaft- und Schenkungsteuer bleibt in diesem Belastungsvergleich unberücksichtigt. Übersteigt die individuelle Jahresbelastung die Obergrenze, ist bis zu einer gesetzlichen Korrektur die veranlagte Einkommensteuer entsprechend zu mindern.“
Eine solche Vorschrift würde m. E. in die Verfassung gehören statt in ein einfaches Gesetz. 20 21 22 23
BVerfGE 93, 121, 137 f. Dazu Bd. I2, 2000, S. 439 ff., 449 ff. BVerfGE 115, 97, 114 f. Dazu die Literaturangabe in Bd. I2, 2000, S. 449 ff. mit Fußnoten.
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§ 25 Allgemeines zum Gesetzesinhalt
(4) P. Kirchhof stellt in seinen Leitgedanken zur Steuerreform im Übrigen strenge Anforderungen an die Steuergesetze. Sind sie nicht verständlich, nimmt er an, sie seien nicht ordnungsgemäß beschlossen (Art. 77 I 1 GG), nicht ordnungsgemäß zustande gekommen (Art. 78 GG), nicht ordnungsgemäß verkündet (Art. 82 I 1 GG) worden. Das Steuergesetz müsse den rechtfertigenden Grund der Steuer sowie Belastungsunterschiede einsichtig machen, den Steuersatz verständlich machen. Die Steuerpflichtigen dürften dem Gesetz nicht einfach unterworfen werden, sie müssten es verstehen können. 24 Wenn unverständliche Steuergesetze, die auch die Abgeordneten nicht verstehen, nicht wirksam sind, wie verhält es sich dann mit Steuergesetzen, die die Mehrheit der Abgeordneten gar nicht zur Kenntnis genommen hat, sei es aus Zeitmangel, sei es mangels Interesse? Ob P. Kirchhofs Auffassung über die Folgen der Unverständlichkeit von Steuergesetzen sich durchsetzen wird, ist zweifelhaft. Bisher hat das Bundesverfassungsgericht noch kein Steuergesetz wegen Unverständlichkeit verfassungsrechtlich beanstandet. Zumal wenn es unter den Verfassungsrichtern keinen einzigen Steuerjuristen mehr gibt, wäre es erstaunlich, wenn nicht gar unverständlich, wenn alle Steuerlaien-Verfassungsrichter die Steuergesetze für verständlich halten würden. Auch unsere Steuerstrafrichter geben nicht zu, dass es Steuervorschriften gibt, die sie nicht verstehen. Den Einwand, der Steuerpflichtige habe sich über den Inhalt eines Steuergesetzes geirrt, pflegen sie als Schutzbehauptung abzutun und lieber einen Deal vorzuschlagen (dazu ausführlich S. 1732 ff., 1761 ff.). Auch ohne eine in der Verfassung oder im Gesetz festgelegte Belastungsobergrenze werden politische und soziale Vernunft es auf längere Dauer nicht zu einer exzessiven Steuerbelastung kommen lassen. Selbst wenn Parteien links von der Mitte im Interesse höherer Umverteilung höhere Steuern für Reiche fordern und damit Wahlen gewinnen würden, so würden sie doch bald zu der Erkenntnis kommen, dass überhöhte Steuern für die Wirtschaft, aber auch für die steuernehmende Unterschicht kontraproduktiv sind. Eine Politik, die einseitig die Unterschicht verwöhnt, die Mittel- und Oberschicht aber meint unbedenklich ausbeuten zu können, wird i. d. R. schon nach einer Legislaturperiode scheitern. Auch und gerade der Sozialstaat ist auf die Steuern zahlenden Leistungsträger angewiesen. (5) Auch wenn der Gesetzgeber sich strikt an die Vorschriften des Grundgesetzes über das Gesetzgebungsverfahren hält, so stellt sich allein deswegen noch keine Steuergerechtigkeit ein. In Anbetracht der unten beschriebenen Gesetzgebungsrealien kann nicht einmal 24 P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Reformentwurf von 2011, Leitgedanken, Rz. 14, 15 (dazu meine Stellungnahme in diesem Band S. 1844 f.).
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Keine Einschränkung der Grundrechtsanwendung
eine Vermutung der Gerechtigkeit angenommen werden. Weithin fehlt es schon an einem Bemühen um Steuergerechtigkeit. Steuergerechtigkeit allein durch Verfahren gab es auch schon unter der Weimarer Verfassung nicht. Zwar führte Art. 134 WRV das Leistungsfähigkeitsprinzip als Steuergerechtigkeitsmaßstab ein. Die herrschende Meinung nahm jedoch an, Art. 134 WRV sei für den Gesetzgeber nicht verbindlich. Albert Hensel, der sich für die Beachtung des Leistungsfähigkeitsprinzips einsetzte, wurde entgegengehalten, dass sich Gerechtigkeit von selbst einstelle, wenn der Gesetzgeber die Formalanforderungen an das Gesetzgebungsverfahren beachte. A. Hensel bezeichnete das mit Recht als „abwegig“. 25
3. Keine Einschränkung der Grundrechtsanwendung auf Steuern durch Art. 105, 106 GG – Gründe gegen die herrschende Gegenmeinung Aus Art. 105, 106 GG wird von einigen Staatsrechtslehrern und, ihnen folgend, vom Bundesverfassungsgericht abgeleitet: (1) Der Gesetzgeber dürfe nur solche Steuern erfinden, die von Art. 105, 106 GG erfasst werden. (2) Steuern, die von Art. 105, 106 GG erfasst werden, seien als solche gegen eine Grundrechtskontrolle geschützt; sie seien grundrechtsfest. Diese Thesen wurden zuerst von Gerhard Wacke vertreten. Wörtlich schrieb er: „Wenn das Grundgesetz die bisherigen Steuern . . . auf Bund und Länder nach Gesetzgebung, Ertrag und Verwaltung verteilt und einzeln aufführt, so kann es die Begriffe dieser Steuern nur im Sinne der bisherigen Gesetzgebung verstanden haben. Die Grundlagen unseres bisherigen Steuersystems sind damit zum Verfassungsrecht geworden. Sowohl die Ausprägung der einzelnen Steuern in ihrem wesentlichen Charakter wie überhaupt in ihrem Bestande durch die bisherigen Steuergesetze als auch die gegenwärtige Relation 26 ist, da im Grundgesetz in Bezug genommen, in die Ebene des Verfassungsrechts erhoben worden“. 27 An anderer Stelle formulierte er: Das Grundgesetz „gibt selbst nicht, wie manche andere Verfassungen, Richtlinien vor für eine künftige Steuerpolitik, sondern erhebt viel-
25 VJSchrStFR 1930, 442, 443 ff. Näher zu A. Hensels Standpunkt K. Tipke, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 53 f. 26 Gemeint ist wohl die Aufkommensrelation. 27 G. Wacke, Das Finanzwesen der Bundesrepublik, 1950 (Beiheft 13 zur Deutschen Rechts-Zeitschrift), 62 ff.
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§ 25 Allgemeines zum Gesetzesinhalt
mehr die Grundlagen des bisherigen Steuersystems . . . zum geltenden Verfassungsrecht“. 28 Die Steuern, die von Art. 105 ff GG, insbesondere von Art. 106 GG, erfasst werden, gehen in ihren Grundlagen bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück, zum Teil stammen sie aus der Weimarer Republik, aber auch der NS-Staat ist vertreten. 29 Diese unterschiedlichen, nicht aufeinander abgestimmten Steuern werden isoliert behandelt – statt als „Einheit“ der Steuerrechtsordnung. Wer die Art. 105 ff. GG unbefangen liest, dem mag verborgen bleiben, dass ihm mehrere historische Steuerschichten präsentiert werden. Bei Einführung neuzeitlicher allgemeiner Steuern – wie Einkommensteuer und Umsatzsteuer – beließ man es nicht bei der Verallgemeinerung, sondern man ließ besondere Steuern – wie Ertragsteuern (Realsteuern) und spezielle Fiskal-Verbrauchsteuern neben den neuen allgemeinen Steuern bestehen – aus Finanzbedarfsgründen. So fehlt das geistige Band. Mit der von G. Wacke begründeten, von Schülern übernommenen Auffassung habe ich mich bereits in Bd. I1 (1993) auf S. 1088–1095 auseinandergesetzt, später in einer längeren Sonderabhandlung von 1994. 30 Ich kann mir auch heute noch nicht vorstellen, dass die „Väter des Grundgesetzes, denen wir nicht nur einen formalen, sondern auch einen materialen Rechtsstaat mit der Bindung aller Staatsgewalten an die Grundrechte (Art. 1 III GG) verdanken, für das Steuerrecht eine verfassungskräftige Festschreibung der Steuergesetze aus der Zeit vor 1949 gewollt haben könnten. Die Schöpfer der Art. 105–108 GG waren keine Steuerrechtsexperten, die in der Lage gewesen wären, Steuern darauf zu prüfen, ob sie den Grundrechten entsprechen, insbesondere dem Gleichheitssatz. Es ging ihnen um die 1949 dringliche Verteilung des Gesamtsteueraufkommens auf Bund, Länder und Gemeinden. Als „Vater der Finanzverfassung des Grundgesetzes“ (jetzt Art. 104a–115 GG) wird – wohl zu Recht – Hermann Höpker-Aschoff (1883–1954) angesehen. Er war Jurist. Für relativ kurze Zeit Zivilrichter, ging er 1921 in die Politik. Als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei wurde er alsbald Abgeordneter des preußischen Landtages (bis 1932). Intensive Beschäftigung mit Haushaltsund Finanzangelegenheiten brachten ihm den Ruf eines Experten auf diesem Gebiet ein. Von 1925–1931 war er preußischer Finanzminister. Anders als Johannes Popitz war er aber kein Steuerrechtsexperte. Da H. Höpker-Aschoff die NS-Ideologie ablehnte, verbrachte er die NS-Zeit politisch in der inneren Emigration. Mit der Biographie H. Höpker-Aschoffs hat sich ausführlich F. Spieker beschäftigt: Die Ideen von H. Höpker-Aschoff waren bei weitem nicht so ausgreifend wie die von G. Wacke. Im Gegenteil: Höpker-Aschoff hielt nichts von der Regelung des „Finanzausgleichs“ in der Verfassung. Art. 106 GG sah er als vorläufig, als bloßen Übergang zu einer einfachgesetzlichen Regelung an. Es sollte durch Art. 106 GG nur alsbald klargestellt werden, 28 G. Wacke (Fußn. 27), 64. 29 Dazu R. Voß, Steuern im Dritten Reich, 1995. 30 K. Tipke, Vom Steuerkonglomerat herkömmlicher Steuern zum System gerechter Steuern, BB 1994, 437 ff.
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Keine Einschränkung der Grundrechtsanwendung mit welchen Einnahmen Bund und Länder rechnen konnten. 31 HöpkerAschoff war offenbar weit entfernt von der Idee, in der Verfassung das vorgefundene „Steuersystem“ festschreiben zu wollen. Das ist nichts anderes als eine phantasiereiche Vorstellung.
Mit meiner Auffassung habe ich auch Gefolgschaft gefunden. H.-W. Kruse stellt fest: „Die Väter des Grundgesetzes haben die Steuern nicht erfunden, sondern vorgefunden. Sie haben ihre Aufgabe nur darin gesehen, die Steuerhoheit auf den Zentralstaat und die Gliedstaaten aufzuteilen . . . Die inhaltliche Ausgestaltung der Einzelsteuern wurde nicht einmal am Rande erörtert. Es ging allein um die Gesetzgebungs-, Ertrags- und Verwaltungskompetenzen, um den Zugriff aufs Geld ohne Rücksicht auf Gegenstände, Bemessungsgrundlagen und Wirkung der einzelnen Steuern“. 32 In diesem Sinne auch J. Englisch: „Die Aufzählung von Steuerarten in der finanzverfassungsrechtlichen Zuweisung von Ertragshoheiten orientiert sich ersichtlich an dem vom Verfassungsgeber vorgefundenen, historisch überkommenen ‚Steuerkonglomerat‘. Sie trifft keine Aussage zur Gerechtigkeitsqualität der dort genannten Steuern . . .“ 33 J. Lang formuliert es so: „Der Katalog der Steuerarten in Art. 106 GG bildet lediglich eine historische Bestandsaufnahme von Steuern und beruht nicht auf konkreten Wertentscheidungen des Verfassungsgebers zu einer gerechten Aufteilung der Steuerlasten auf die Steuerpflichtigen. Schon die mangelnde Systematik des Art. 106 GG lässt klar erkennen, dass der Verfassungsgeber nicht über ein für die Steuerschuldner gerechtes oder gar nur zweckmäßiges Steuersystem mit dem Ziel reflektiert hat, eine ethisch rationale und damit zeitlos gültige Steuergrundordnung schaffen zu wollen. Er hatte vielmehr nur die andere Seite, die der Steuergläubiger . . ., im Blickfeld und verteilte unter die Gebietskörperschaften der bundesstaatlichen Ordnung das Aufkommen aus einem historischen Konglomerat real existierender Steuern“. 34
Andere Verfassungen sind in ihren Äußerungen zum Steuerrecht zwar nicht so enthaltsam wie das deutsche Grundgesetz. Es existiert aber auch keine Verfassung, die so vermessen wäre, abschließend vorzuschreiben, welche Steuern erhoben werden dürfen und dazu die Grundlagen für jede einzelne Steuer festzuschreiben. Einen solchen verfassungsrechtlichen Artenschutz verdienen die durch Art. 105 ff. GG erfassten Steuern nun wirklich nicht. G. Wackes Meinung wird heute nicht mehr ohne Einschränkung vertreten. K. Vogel hielt jedoch an der Auffassung fest, der Gesetzgeber
31 F. Spieker, Hermann Höpker-Aschoff – Vater der Finanzverfassung –, 2003 (Heidelberger Diss. iur.), insb. S. 179. 32 H. W. Kruse, StuW 2006, 297. 33 J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel mit Schlussfolgerungen für indirekte Steuern, 2008, S. 573. 34 K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 3 Rz. 3 m. w. N. Hinweis auch auf Chr. Trzaskalik, Gutachten E für den 63. Deutschen Juristentag, 2000, S. 14, 45, 57; D. Birk, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur AO/ FGO (Loseblatt Lfg. 139, § 3 Rz. 173).
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§ 25 Allgemeines zum Gesetzesinhalt
dürfe die von Art. 106 GG erfassten Steuern zwar aufheben, 35 er dürfe aber nicht Steuern schaffen, die sich dem Art. 106 GG nicht einfügen lassen. Solche neuen Steuern seien nur mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit zulässig. Dem Gleichheitssatz gehe Art. 106 GG vor. Es gebe eben Verfassungsvorschriften, denen höheres Gewicht beizumessen sei als dem Gleichheitssatz. 36 Immerhin wollte K. Vogel abweichend von G. Wacke „wesentliche Umgestaltungen“ einer Steuer zulassen. 37 Insoweit weist Chr. Waldhoff zutreffend darauf hin, dass die Positionen sich angenähert hätten. 38 Immerhin, gänzlich neue Steuern, nicht bloß umgestaltete Steuern, waren die Öko-Steuern. 39 Gegen sie ließ sich die Wacke-Vogelsche Auffassung noch in Stellung bringen. So wurden die Öko-Steuern „auf den Prüfstand des Art. 106 GG“ gestellt und dem „ZulassungsTÜV“ dieses Artikels ausgesetzt. So ließ sich geltend machen, Art. 106 GG kenne keine Öko-Steuern (so wenig wie die Verfasser des Grundgesetzes sie kannten), und eine Verbrauchsteuer im herkömmlichen Sinne des Art. 106 GG sei sie auch nicht. 40 Der Art. 106 GG wurde offenbar höher als der Umweltschutzartikel 20a GG gewertet (so wie K. Vogel Art. 106 GG höher wertete als die Ethik des Gleichheitssatzes). Das Bundesverfassungsgericht verhalf dem Anliegen der Öko-Steuer dadurch zum Durchbruch, dass es sich zu einer erweiternden Neudefinition des Verbrauchsteuerbegriffs entschloss. 41 Zu der Auffassung, dass der Gesetzgeber auch Steuern beschließen dürfe, die Art. 106 GG nicht erfasst (dass er allerdings die Ertragszuständigkeit 35 Bis auf die Umsatzsteuer und die Realsteuern. 36 K. Vogel, in: Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 93 ff. 37 Das war wohl eine Anpassung an die Gesetzgebungspraxis. Sie hatte die klassische Umsatzsteuer in eine Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug, die klassische Körperschaftsteuer in eine anzurechnende Körperschaftsteuer umgewandelt. Die danach eingeführte Abgeltungsteuer gestaltete die synthetische Einkommensteuer um. 38 Chr. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, 1996, S. 185. Meine Auffassung kritisiert Chr. Waldhoff als „eine zu wenig an der Verfassung orientierte oder an sie zurückgebundene Idealisierung rationaler Steuersysteme“ (a. a. O. S. 189). Im Sinne dieser Unterscheidung zwischen Verfassungsorientierung einerseits und Idealisierung rationaler Steuersysteme andererseits war auch die Kumulation von Umsatzsteuer und besonderen Fiskal-Verbrauchsteuern auf Grund von Art. 106 GG gedeckt, meine auf Art. 3 GG gestützte abweichende Auffassung aber nicht, da nicht an die Verfassung zurückgebunden – so als ob Art. 3 GG (und die aus ihm folgende Rechtslogik) nicht Teil der Verfassung wäre. 39 Dazu Bd. II2 (2003), S. 1082 ff. 40 Diese Begriffshuberei wurde auch von (als Rechtslehrer gutachtend) H.-W. Arndt (Rechtsfragen einer deutschen CO2/Energiesteuer, 1995) und von M. Herdegen/W. Schön (Ökologische Steuerreform, 2000) betrieben. 41 BVerfGE 110, 274, 296.
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Keine Einschränkung der Grundrechtsanwendung
regeln muss, ist selbstverständlich), hat das Bundesverfassungsgericht sich nicht durchringen können, es hat lieber den Verbrauchsteuerbegriff verbogen. 42 Mit der Auffassung, dass die Steuerbegriffe des Art. 105 f. GG traditionell (nicht verfassungskonform) auszulegen seien, hat BVerfGE 110, 274 für den Verbrauchsteuerbegriff gebrochen. Ein ständig wiederholter Standard-Leitsatz des Bundesverfassungsgerichts lautet: „Im Bereich des Steuerrechts hat der Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstandes und der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum“. 43 Was die Auswahl des Steuergegenstandes betrifft, so hat das Verfassungsgericht den Spielraum niemals begrenzt. Es ist damit insoweit bei Albert Hensel stehen geblieben, dem führenden steuerrechtlichen Kopf in der Weimarer Republik. Hensel hat gelehrt: Der Staat habe „die rechtliche Möglichkeit . . ., jeden Vorgang des Rechts- und Wirtschaftslebens zum Steuertatbestand zu erheben.“ Der Gesetzgeber sei „bei der Aufstellung der Tatbestandsnormen frei“, so seien beliebig viele einzelne Steuertatbestände denkbar. 44 Der Staat der Weimarer Verfassung war nur ein formaler, kein materialer (an Grundrechte gebundener, s. Art. 1 III GG) Rechtsstaat. Um materialer Rechtsstaatlichkeit zu entsprechen, d. h. vor allem: dem Gleichheitssatz zu entsprechen, müsste das Bundesverfassungsgericht so beginnen: „Die Gesamtsteuerlast muss gerecht auf die Bürger verteilt werden. Zum Kern der Steuergerechtigkeit gehört die Beachtung des Gleichheitssatzes. Für die Anwendung des Gleichheitssatzes bedarf es eines Vergleichsmaßstabs. Anerkannter Vergleichsmaßstab ist das Leistungsfähigkeitsprinzip. Der Gegenstand einer Steuer und die entsprechende Bemessungsgrundlage müssen folgerichtig dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechen.“ So verfährt das Bundesverfassungsgericht aber nicht. Erst nachdem es die Auswahl des Steuergegenstandes dem Gesetzgeber freigestellt hat, verlangt es
42 Dazu kritisch J. Englisch, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 16 Rz. 24. 43 BVerfGE 110, 274, 296. 44 A. Hensel, Steuerrecht2, 1927, S. 13, 43. Entsprechend der Lehre Hensels wird noch heute in allen Staaten verfahren, in denen es den Gerichten untersagt ist, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Ob A. Hensel die nach der 2. Auflage seines Lehrbuchs „Steuerrecht von 1927“ in der 3. Auflage von 1933 noch wiederholt hat, konnte ich nicht feststellen, da mir die 3. Auflage nicht zur Verfügung stand. Der in eine andere Richtung weisende Beitrag über verfassungsrechtliche Bindungen an das Leistungsfähigkeitsprinzip stammt aus dem Jahre 1930 (VjSchrStuFR 1930, 441 ff.).
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§ 25 Allgemeines zum Gesetzesinhalt
die folgerichtig konkretisierende Umsetzung entsprechend dem Leistungsfähigkeitsprinzip. 45 Dass der Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstandes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum habe, leitet das Bundesverfassungsgericht nicht ab. Statt der Angabe von Gründen wird der Leitsatz ständig wiederholt. 46 In Fällen, in denen Steuern als solche als verfassungswidrig angegriffen worden waren, hat das Verfassungsgericht es abgelehnt, dem nachzugeben. Es hat unter Bezug auf Art. 106 GG die Vermögensteuer als solche, 47 die Gewerbesteuer als solche, 48 die Zweitwohnungsteuer als solche, 49 die Jagsteuer als solche 50 nicht für verfassungswidrig erklärt. Würde die Kaffeesteuer als verfassungswidrig (gleichheitswidrig) angegriffen werden, weil der Verbrauch von Tee und von anderen Genussmitteln nicht besteuert wird, so würde der Beschwerdeführer damit vor dem Verfassungsgericht wohl auch scheitern, weil die Kaffeesteuer eine Verbrauchsteuer i. S. der Art. 105, 106 I Nr. 2 GG sei und durch diese Vorschrift als solche geschützt werde. Wiederum bliebe der Gleichheitssatz auf der Strecke. Ob zwischen dem verfassungsgerichtlichen Schutz vor Steuern durch Berufung auf Art. 105, 106 GG und der Annahme des Bundesverfassungsgerichts, für die Auswahl des Steuergegenstandes bestehe ein weitreichender Entscheidungsspielraum, ein Zusammenhang besteht, ist nicht klar. Es mag auch sein, dass das Bundesverfassungsgericht über den frühen Albert Hensel (s. S. 1353) nicht hinausgekommen ist. Dass es dem Gesetzgeber erlaubt sein soll, von Art. 105, 106 GG erfasste Steuern jederzeit aufzuheben, das Verfassungsgericht diese Möglichkeit wegen Art. 105, 106 GG aber nicht haben soll (weil Art. 3 I GG nicht angewendet werden dürfe), ist inkonsequent. 51 M. E. darf eine Organisationsnorm (Kompetenznorm) den Gleichheitssatz – die ethische Magna Charta des Steuerrechts – nicht verdrängen. 52 Die den Gleichheitssatz verletzende, unsägliche Gewerbesteuer könnten wir längst los sein, hätte das Verfassungsgericht ein anderes Art. 106 GG-Verständnis. Es stellt die Organisationsvorschriften der Art. 105, 106 GG über den Gleichheitssatz. 45 46 47 48 49 50 51 52
BVerfGE 105, 73, 125; 107, 27, 46 f.; 117, 1, 30. Kritisch dazu unten S. 1564. BVerfGE 93, 121, 134 f. (dazu ablehnend Bd. II2, 2003), S. 918. BVerfGE 26, 1, 8; 46, 224, 237 (dazu ablehnend Bd. II2, 2003), S. 1134; s. auch H. Montag, in: Tipke/Lang, Steuerrecht20, 2010, § 12 Rz. 1. BVerfGE 65, 325, 345 f. BVerfG BStBl. 1989 II, 867 f. Kritisch auch Chr. Trzaskalik, Gutachten E zum 53. Deutschen Juristentag, 2000, S. 19. A. A. wohl Chr. Selmer, FinArch. Bd. 52 (1995); Chr. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland–Schweiz, 1997, S. 184 ff.
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Recht der Europäischen Union
Für den Verfasser war es eine Genugtuung, dass P. Kirchhof nicht daran gedacht hat, seinen Steuergesetzbuch-Entwurf auf Art. 105 f. GG zu stützen. Er hat vielmehr die Steuern, die das Verfassungsgericht aufgrund von Art. 105 f. GG als solche bestätigt hat (Vermögensteuer, Gewerbesteuer, Jagdsteuer) nicht in seinen Entwurf aufgenommen, und keine der von ihm übernommenen Steuern mit den Art. 105 f. GG gerechtfertigt. Er ist zu Recht so verfahren, weil Art. 105 f. GG keine Rechtfertigungsgrundlage abgibt. Es fehlt nun noch der letzte Schritt: die Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung, die auf G. Wacke zurückgeht.
4. Vorgaben des Rechts der Europäischen Union für die nationale Steuergesetzgebung Die (souveräne) Steuergesetzgebungshoheit Deutschlands und anderer EU-Mitgliedstaaten wird eingeschränkt durch das Steuerrecht betreffende Vorschriften der Europäischen Union (sog. Europäisches Steuerrecht). Die Grundlage dafür ist der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft von 1957 (EGV). Er wurde reformiert durch den 1992 in Maastricht unterzeichneten Vertrag über die Europäische Union (EUV) sowie den Vertrag von Amsterdam von 1997. Hinzu gekommen sind der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und der Vertrag von Lissabon von 2007. Letzte Ratifizierung durch den Vertrag von Lissabon von 2009 (EUV, AEUV). 53 Das Gemeinschaftsrecht der Gründungsverträge (als primäres Gemeinschaftsrecht bezeichnet) wird umgesetzt durch Verordnungen und Richtlinien (als sekundäres Gemeinschaftsrecht bezeichnet). Sie werden vom Rat und von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften beschlossen. Die Verordnungen spielen im Zollrecht eine erhebliche Rolle, nicht aber im Steuerrecht. Die Richtlinien haben die Aufgabe, nationale Steuergesetze zu harmonisieren. Für die Harmonisierung der indirekten Steuern enthält Art. 113 AEUV eine spezielle Rechtsgrundlage. Der Rat erlässt danach auf Vorschlag der Kommission einstimmig Vorschriften zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuer, die Verbrauchsteuern und sonstige indirekte Steuern, soweit die Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes notwendig ist. Die Verordnungen gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat – für die Staaten selbst und ihre Bürger. Die Richtlinien sind für die Mitgliedstaaten verbindlich. Sie müssen von diesen in nationales Recht umge53 Ausführliche Darstellung mit Fundstellennachweisen dazu von J. Englisch in K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2012, § 4: Europäisches Steuerrecht.
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§ 25 Allgemeines zum Gesetzesinhalt
setzt werden, allerdings nicht, was die Form und die Mittel betrifft (s. Art. 291 I AEUV). Die 6. Richtlinie zum gemeinsamen Mehrwertsteuersystem regelt detailliert Steuergegenstand und Steuerbemessungsgrundlage sowie den Vorsteuerabzug der Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer), sie wurde durch die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie von 2006 (RL 2006/112/EG) abgelöst. Richtlinien begründen keine Verpflichtungen der Bürger; das geschieht erst durch das nationale, die Richtlinie umsetzende Recht. Die Bürger können sich darauf berufen, dass die Umsetzung der Richtlinie durch nationales Recht der (hinreichend klaren und bestimmten) Richtlinie nicht entspreche, ihren Vorrang nicht genügend beachte. Versäumt der nationale Gesetzgeber die Umsetzung innerhalb angemessener Frist, so haben die Richtlinien unter bestimmten Voraussetzungen unmittelbare Wirkungen zugunsten der Bürger, diese können sich zu ihren Gunsten unmittelbar auf sie berufen. 54 Zum Zwecke der Harmonisierung der besonderen Verbrauchsteuern ist die sog. Systemrichtlinie 2008/118/EG erlassen worden. 55 Die Harmonisierung der direkten Steuern kann auf Art. 115 AEUV gestützt werden. Danach kann der Rat auf Vorschlag der Kommission einstimmig Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten erlassen, die sich unmittelbar auf die Errichtung und das Funktionieren des gemeinsamen Marktes auswirken. Zur Unternehmensbesteuerung sind mehrere Richtlinien ergangen. Die Einkommensteuer ist dadurch betroffen, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) stringent die vier europarechtlichen Grundfreiheiten (freier Warenverkehr, Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs) gegenüber nationalem Recht durchsetzt – zum Zwecke der Gleichbehandlung von Inlands- und EU-Auslandssachverhalten in den nationalen Steuergesetzen. Bejaht der EuGH eine Grundfreiheitsverletzung, so hängt viel davon ab, was er als Rechtfertigung dieser Verletzung anerkennt. Die Kohärenz (Berücksichtigung des Systemzusammenhangs) hat an Bedeutung verloren. Der Mangel an Kohärenz ist nämlich eine Schwäche aller nationalen Steuergesetze. Den Fiskalisten missfällt, dass der EuGH keine Rücksicht auf den Finanzbedarf eines Mitgliedstaates nimmt. Unter den Kritikern des EuGH gibt es solche, die ihm unzulässige Übergriffe in die nationale Steuersouveränität vorwerfen, aber auch 54 Zu den Umsatzsteuer-Richtlinien J. Englisch, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 4 Rz. 66 ff. mit umfassenden Nachweisen. Zu Voraussetzungen und Folgen der unmittelbaren Umsetzung von EG-Richtlinien auch D. Degenhard, IFSt-Schrift Nrn. 348, 349 (1996); U. Haltern, Europarecht, Dogmatik und Kontext2, 2007, S. 337 ff. 55 Näher dazu J. Englisch, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 4 Rz. 66.
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Recht der Europäischen Union
solche, die ihn als Motor einer Harmonisierung der europäischen Steuergesetze sehen. In diesem Band geht es um die Steuerrechtsordnung, um die Frage, inwieweit sie erfüllt ist oder nicht erfüllt ist. Eine Steuerrechtsordnung ist nicht irgendeine Ordnung, sondern eine Rechts- oder Gerechtigkeitsordnung. Wir fragen daher: Inwieweit trägt der EuGH zur Steuergerechtigkeit bei, insbesondere zu gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, die vom Gleichheitssatz gefordert wird. Der EuGH hat sich mit der Auffassung durchgesetzt, dass das Europäische Steuerrecht Vorrang auch vor dem nationalen Verfassungsrecht habe. 56 Das ist akzeptabel, wenn der EuGH europäische Grundrechte (darunter den Gleichheitssatz) anerkennt und durchsetzt. Dann muss er auch prüfen, ob die Verordnungen und Richtlinien der Gemeinschaft dem Gleichheitssatz entsprechen, und er muss das Verhältnis der europäischen Freiheitsrechte zu den europäischen Grundrechten rechtssicher klären. Dass fiskalische Bedürfnisse im Rang nicht den Grundrechten und den Grundfreiheiten vorgehen dürfen, ist richtig. Die Steuerbelastung muss sich am Gleichheitssatz orientieren und kann das auch. 57 Der Gleichheitssatz ist zutreffend die Magna Charta des Steuerrechts genannt worden. 58 Er steht nicht unter dem Vorbehalt fiskalischer Bedürfnisse, die immer bestehen und geltend gemacht werden können. 59 Richtig ist, dass die Beachtung der Grundfreiheiten nicht bereits für gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sorgt. 60 Richtig ist auch, dass der EuGH nicht in der Lage ist, eine kohärente europäische Steuerrechtsordnung zu schaffen. Das kann er so wenig oder noch weniger als ein Verfassungsgericht. Er kann aber im Richtlinienbereich den Gleichheitssatz durchsetzen und ihn bei Anwendung der europäischen Freiheitsrechte berücksichtigen. 61 Mit den Gemeinschaftsgrundrechten im EU-harmonisierten Steuerrecht befasst sich insbesondere J. Englisch. Er erörtert die Bedeutung der Gleichheits- und Freiheitsrechte für die Auslegung und für die 56 57 58 59
Dazu ausführlich U. Haltern (Fußn. 54), S. 442 ff. („Vorrang“). Dazu Bd. I2 (2000), S. 326, 329, 330; Bd. II2 (2003), S. 583. Dazu J. Englisch, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 4 Rz. 49. Abzulehnen ist das „Plädoyer“ des BMF-Beamten W. Mitschke „für eine Nichtanwendung der EuGH-Rechtsprechung im Bereich der direkten Steuern“ – zumal wegen fiskalischer Rücksichtslosigkeit (S. FR 2008, 165 ff.). Dieses Plädoyer hat keine Aussicht auf Erfolg. – Welche Institution soll die Nichtanwendung eigentlich wirksam beschließen können? 60 So auch J. Hey, StuW 2005, 318 ff. („Grundfreiheiten garantieren keine Steuergleichheit“). 61 Wer mehr vom EuGH erwartet – wie wohl D. Birk (FR 2005, 121 ff.) – erwartet zu viel.
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§ 25 Allgemeines zum Gesetzesinhalt
Gültigkeitsprüfung der einschlägigen Richtlinien und der nationalen Umsetzungs- und Vollzugsakte. Er erörtert insbesondere auch das Konkurrenzverhältnis der nationalen zu den Gemeinschaftsgrundrechten und zieht daraus Folgerungen für den Rechtsschutz durch die Gerichte. 62 Für Mängel europäischer Normgebung, die den nationalen Gesetzgeber bindet, kann dieser nicht verantwortlich gemacht werden; er ist für Kritik insoweit nicht der richtige Adressat. Auch Reformvorschläge zur Umsatzsteuer und zu den besonderen Verbrauchsteuern sind an den europäischen Normgeber zu richten. P. Kirchhof stellt in seinem Entwurf eines Steuergesetzbuchs sowohl eine nationale Umsatzsteuer als auch nationale besondere Verbrauchsteuern vor. Er versteht sie auch als Reformvorschläge für den europäischen Rechtsetzer. Sein Ziel ist es, seinen Umsatzsteuerreformvorschlag „als unmittelbar geltendes Recht in der gesamten Europäischen Union zur Anwendung zu bringen“. 63 Das Gleiche soll durch den Entwurf der besonderen Verbrauchsteuern erreicht werden. 64
5. Exkurs: Über die Geltung von Gesetzen Zu unterscheiden ist zwischen juristischer (rechtlicher), tatsächlicher (faktischer) und moralischer (legitimer) Geltung von Gesetzen. Mit dem Inkrafttreten eines Gesetzes beginnt seine juristische Geltung. Zur juristischen Geltung gehört es allerdings auch, dass das Gesetz Mittel bereitstellt, die die Durchsetzung ermöglichen. Erfahrungsgemäß gibt es kein Gesetz, dass ausnahmslos von allen befolgt wird. Je ineffektiver und lückenhafter die gesetzlichen Mittel der Durchsetzung sind oder je lascher von den gesetzlichen Durchsetzungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht wird, desto geringer ist die Durchsetzung. Soweit ein Gesetz tatsächlich (faktisch, wirklich) nicht durchgesetzt wird, gilt das Gesetz tatsächlich nicht: Es fehlt dann an der tatsächlichen, nicht aber an der juristischen Geltung. Erst wenn die Durchsetzungsquote extrem niedrig ist, entfällt auch die – gänzlich ausgehöhlte – juristische Geltung. 65 Das trifft vor allem dann zu, wenn Gesetzesvorschriften auf Massenungehorsam stoßen und der 62 J. Englisch, in: W. Schön/K. Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, S. 39 ff.; J. Englisch, in: K. Tipke/J Lang, Steuerrecht21, 2013, § 4 Rz. 79 ff. 63 Bundessteuergesetzbuch-Reformentwurf von 2011, S. 819. 64 Bundessteuergesetzbuch-Entwurf von 2011, S. 1017 f. S. auch schon S. 36 f. („Europarechtliche Vorgaben“). Kritisch dazu J. Englisch in K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 17 Rz. 19. 65 So auch K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 338.
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Exkurs: Geltung von Gesetzen
Gesetzgeber das hinnimmt. Dass die juristische Geltung schon entfalle, wenn über 50 Prozent der Adressaten das Gesetz nicht befolgt, hat noch kein Gericht entschieden. Die 50 Prozent-Quote ist jedenfalls noch nicht extrem hoch. Es fragt sich, ob jedes Gericht die juristische Nichtgeltung feststellen dürfte. Dagegen spricht, dass es dadurch zu Rechtszersplitterung kommen könnte, etwa wenn Gerichte nicht einig darüber sind, wie (extrem) hoch die Nichtdurchsetzungsquote sein muss. Im Steuerrecht hat es bisher keinen Fall gegeben, in dem ein Gericht die juristische Geltung verneint hat. Zwar wird auch kein Steuergesetz von allen immer befolgt, aber es wird auch kein Steuergesetz nur von einigen Wenigen befolgt. Ein für verfassungswidrig gehaltenes Gesetz gilt so lange, bis es vom Verfassungsgericht aufgehoben wird. Bis dahin gilt die lex iuridica, auch wenn sie keinerlei iustitiae ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in den Fällen der Kapitaleinkünfte und der Spekulationseinkünfte zwar eine hohe, aber keine extrem hohe Nichtanwendungsquote angenommen und folglich nicht die juristische Geltung der einschlägigen Gesetzesvorschriften verneint, sondern eine Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 I GG) wegen Ungleichbelastung angenommen. 66 Die moralische Geltung der Steuergesetze setzt voraus, dass diese der Besteuerungsmoral 67 entsprechen. Soweit sie das nicht tun, bleiben die Gesetze zwar juristisch in Geltung, es leiden aber Gesetzesakzeptanz und Gesetzesgehorsam, wenngleich wegen des Durchsetzungszwanges in großem Umfang Gesetzesvorschriften befolgt werden, die nicht gerechtfertigt oder legitim sind. Etwas Besonderes gilt für Lenkungsvorschriften. Entfällt der Lenkungszweck, den der Gesetzgeber der Vorschrift mit auf den Weg gegeben hat, so verliert die Lenkungsvorschrift ihre Geltung (cessante ratione legis cessat lex ipsa, wussten schon die Römer). Gerichte sind nicht befugt, den weggefallenen Lenkungszweck durch einen anderen nach Gutdünken zu ersetzen. Der verfolgte Lenkungszweck muss geeignet sein, das Lenkungsziel zu erreichen.
66 Näher dazu auf S. 1461. 67 Dazu S. 1393 ff.
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§ 26 Die Gesetzgebungsrealität 1 1. Die Wählerabhängigkeit der Steuerpolitik und der Steuergesetzgebung . . . . . . . . . 1364 .. 2. Die Abhängigkeit der Steuerpolitik und des Steuergesetzgebers von Interessenverbänden und externen Beratern . . . . . . . . . . . . . . . 1367 .. 3. Die Medienabhängigkeit der Steuerpolitik . . . . . . . . . . 1374 .. 4. Das Einwirken der Opposition auf die Steuergesetzgebung. . . . . . . . . . . . . . . 1376 .. 5. Die Rolle des Bundesministers der Finanzen und der Steuerabteilung des Bundesministeriums der Finanzen in der Steuergesetzgebung . 1379 ..
5.1 Der Bundesminister der Finanzen. . . . . . . . . . . 1379 .. 5.2 Die Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums . . . . . . . . . . . . . . 1383 .. 6. Die Marginalisierung des Parlaments; Grenzen des Parlamentarismus . . . . . . . 1388 .. 7. Parteipolitischer Missbrauch des Bundesrates in der Steuergesetzgebung . . . . . . . . . 1391 .. 8. Die Qualität der Steuergesetzgebung – gemessen an den rechtslogischen und besteuerungsmoralischen Kriterien der Steuerrechtswissenschaft. . . . . . . . . . . 1393 ..
Vorbemerkung: Die Ausfu¨hrungen in diesem Paragraphen sollten nicht als Politikerbeschimpfung missverstanden werden. Politik und Politiker sind unentbehrlich. Die Erwartungen, die viele Wa¨hler an Politiker stellen, greifen viel zu hoch: Politiker sollen sich gefa¨lligst fu¨r das Gemeinwohl verzehren, aufopfern, sie sollen vor allem wirtschaftliche und soziale Kompetenz vorweisen. Sie sollen moralisch integer sein und mo¨glichst – Helmut Schmidt nacheifernd – Kant und Popper zitieren ko¨nnen, außerdem vertrauenswu¨rdig erscheinen. Politiker sollen psychisch belastbar sein, sie sollen u¨berma¨ßigen Ehrgeiz und Machtgelu¨ste – wie gute Schauspieler – verbergen ko¨nnen, besonders im Fernsehen. Politiker sollen das Richtige zur richtigen Zeit tun und vor allem zu glauben vorgeben, dass die Wa¨hler unfehlbar seien. Politiker sind nicht zu beneiden.
1. Die Wählerabhängigkeit der Steuerpolitik und der Steuergesetzgebung Steuerpolitik und Steuergesetzgebung sind wählerabhängig. Steuergesetze sind geronnene, manifeste Steuerpolitik. Die Steuerpolitik ist bemüht, die Steuern zahlenden Bürger, aber auch die Empfänger von aus Steuermitteln finanzierten Transferleistungen – sie alle sind Wähler – zu beeindrucken, möglichst nicht zu verstimmen. 1 Auf ältere Literatur ist hingewiesen in Bd. III1, 1993, S. 1441. Hinweis auf S. F. Franke, Steuerpolitik in der Demokratie, 1993.
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Wählerabhängigkeit
Die Wählerabhängigkeit ist Realität. Das Grundgesetz erwähnt sie nicht. Es schreibt in Art. 38 I 2 vor: Die Abgeordneten „sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen 2 unterworfen.“ Was für Unternehmer der Gewinn, für die Medien die Auflage oder die Einschaltquote ist, ist für die Politiker das Wahlergebnis. Daher werden Parteiprogramme und -manifeste, Koalitionsvereinbarungen und Wahlkampfaktionen an der vermeintlichen Wählerwirkung orientiert. Von den Politikern zu verlangen, sie sollten „mutig über den Tellerrand der nächsten Wahl hinwegschauen“, nicht „feige vor den Wählern sein“, den Wählern „die reine Wahrheit sagen“, heißt: die Politiker sollten ohne Rücksicht auf die kraft Fiktion als „unfehlbar“ geltenden Wähler handeln. Als der Jurist Adlai Stevenson zum zweiten Mal für das Amt des Präsidenten der USA kandidierte, versuchte ein Freund ihm Mut zu machen mit der Bemerkung: „Alle intelligenten Wähler werden jedenfalls für dich votieren.“ Stevenson erwiderte: „Mir wäre es lieber, wenn die Mehrheit das täte.“ Diese Einstellung ist verständlich. Ein ungewählter Politiker kann wenig ausrichten. So wenig wie ihre Wähler pflegen die Steuerpolitiker Theoretiker der Steuergerechtigkeit zu sein. Wer theoretisiert, redet im Wahlkampf über die Köpfe hinweg. Für den Wahlkampf eignen sich besonders Demagogen und ruppig-rabiate Polemiker, Agitatoren, die wissen, worauf die Masse der Wähler anspricht. Die vornehme Sachlichkeit von Fachleuten hat keine Chance bei Wählern, die solche Steuern für gerecht halten, die andere zahlen und die eigene Gruppe wenig belasten. Gerechtigkeitsvorstellungen und Eigeninteresse fallen bei den Wählern weithin zusammen. Wähler sind eben – auch in Steuersachen – keine unfehlbare Instanz. Der frühere Finanzminister Theodor Waigel hat dazu einmal sarkastisch ausgeführt: „Ein vollständig gerechtes Steuersystem hätten wir nur dann, wenn jeder das zahlt, was er selbst als gerechten Beitrag für die Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben ansieht. Von dem, was in einem solchen System an Finanzmasse zusammenkommt, könnten wir drei Kilometer Autobahn und 1000 Sozialhilfefälle finanzieren“. 3
2 Dazu K. Vogel: Art. 38 „verpflichtet die Abgeordneten, nach ihrem Gewissen zu entscheiden . . . das heißt: nicht nach Beliebigkeit, nicht nach Bequemlichkeit oder Opportunität, auch nicht nach persönlichem Vorteil oder political correctness, nicht nach Gefühlsaufwall oder Betroffenheit, nicht nach Vorurteilen und nicht nach Machtinteressen. Nur zur Entscheidung nach ihrem Gewissen sind die Abgeordneten legitimiert. . . . Die Entscheidung muss dem Gerechtigkeitsauftrag es Parlaments genügen, sie muss gewissenhaft sein . . . (JZ 1997, 166). – Die Realität ist eine ganz andere. 3 Stbg. 1993, 486, 489.
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§ 26 Die Gesetzgebungsrealität
Oswald Metzger, ein bekannt kritischer und unabhängiger politischer Kopf, sieht auch die Mitverantwortung der Wähler für das Verhalten der Parteien. Seine Meinung lässt sich so zusammenfassen: Die Politik verspricht gegen jede Vernunft Wohltaten, die sie nicht einlösen kann. Doch die Bürger und Wähler sind ihre Komplizen. Sie wollen belogen werden. Sie belohnen die Lüge und bestrafen die Parteien und Politiker, die für notwendige Opfer werben; sie wollen keine unbequemen Wahrheiten hören. Es gibt eine unheilige Allianz Wähler-Politiker. 4 Die gegenwärtig (2011) amtierende Bundeskanzlerin begibt sich sogar in die Umkleidekabine siegreicher Fußballspieler, um der Sympathien der Masse der Fußballbegeisterten willen, letztlich um Wählerstimmen zu fischen. Wer die die Gleichbelastung aushöhlenden Steuervergünstigungen beseitigen will, darf dieses Vorhaben allenfalls abstrakt verkünden, nicht aber konkret betroffene Interessengruppen benennen, deren Vergünstigungen er als ungerechtfertigt ansieht. Der niederländische Steuerrechtsprofessor Arie Rijkers meint: „People prefer privileges“. Sicherlich sei der Steuerzahler-Wähler nicht „impressed by stories about an equalitiy principle or an ability to pay principle. Even if he is well aware that the proposed system in itself is better, he will only sacrifice his former privileged position when it is proved that he will be better off after the tax reform. This goes for any voter . . . Everybody wants to be more equal than the other“. 5 Auch in Deutschland pflegen jedenfalls die Interessenverbände keinen Wert auf Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu legen. Und die privilegierten Wähler fürchten: Wenn die Steuerprivilegien abgeschafft worden seien, werde der Gesetzgeber sich nicht an das Politikerversprechen halten, die Steuern für alle zu senken. Und immer pflegen die Wähler zu fragen: „Was ist drin für mich? Habe ich vom Privileg nicht mehr als von einer allgemeinen Steuersenkung?“ Die Frage: „Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer von Steueränderungen?“ ist auch das Thema, das die Medien hauptsächlich umtreibt. Der Wahlkampf ist ein Wettbewerb von größter Bedeutung für Staat und Gesellschaft. Aber er ist ein Wettbewerb ohne Regeln, ohne die Goldene Regel zumal. Vornehme Sachlichkeit ist unangebracht, wohl aber sind es zündende, emotionsgeladene Schlagwörter, der Appell an Neid und Missgunst. Ja auch grobe Lügen werden nicht sanktioniert. 6
4 O. Metzger, Die verlogene Gesellschaft, 2009. 5 StuW 2005, 327, 329 re. 6 Näher dazu K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuer-Wirrwarr!?, Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006, S. 64–72.
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Abhängigkeit von Interessenverbänden und Beratern
2. Die Abhängigkeit der Steuerpolitik und des Steuergesetzgebers von Interessenverbänden und externen Beratern Der Gesetzgeber ist nicht nur von Rücksichten auf die Wähler abhängig. Er muss auch Rücksicht nehmen auf die organisierten Interessen. Deutschland ist nicht nur ein demokratischer Rechtsstaat; es ist realiter auch ein dicht durchorganisierter Staat der Interessenverbände. Diese Verbände betreiben – im heutigen Sprachgebrauch – Lobbyarbeit oder Lobbying. Dazu gehört die Kunst erfolgreicher Einwirkung auf den Gesetzgeber mit dem Ziel, Sonder- oder Partikularinteressen für bestimmte Gruppen durchzusetzen. Soweit Gesetze von Europarecht abhängig sind, setzt die Lobbytätigkeit schon in Brüssel massiv ein. Dort sollen über 15.000 Lobbyisten aus Regierungen von EU-Staaten, großen Unternehmen und Interessenverbänden tätig sein. 7 Selbst die Zahl von 50.000 Lobbyisten ist bereits genannt worden, aber wohl ziemlich übertrieben. Es ist geplant, die Brüsseler Lobbyisten in einem für jedermann über das Internet zugänglichen Register aufzulisten – mit Angaben darüber, für wen sie tätig sind und wie sie sich finanzieren. Von der Offenlegung der Finanzquellen verspricht sich der zuständige EU-Kommissar, dass die Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit erkennen können, welche Interessen hinter der Lobbytätigkeit stecken. Die Forderung, den EU-Lobbyismus gesetzlich zu kontrollieren, hat wohl keine Chance. 8 In Deutschland gibt es zzt. etwa 14.000 Interessenverbände, insbesondere Wirtschafts- und Berufsverbände. Beim Bundestag sind etwa 1900 Verbände und Unternehmen registriert, 9 die auf die Politik einwirken. Auf jeden Bundestagsabgeordneten kommt ein Mehrfaches an Lobbyisten. „Wie die Motten das Licht, so umschwirren Lobbyisten die Politiker“ (K. Mrusek). Das dichte Lobbyistennetz wirkt nicht zuletzt an Steuergesetzen entscheidend mit – bis hin zur Ausformulierung des Gesetzestextes. Den Parteien sind die Interessenverbände als Mehrheitsbeschaffer bei der Wahl willkommen. Da nur wenige Stimmenprozente über die Regierungsmacht entscheiden können, können mitgliederstarke, einflussreiche Verbände – die ihre Klientel zu Wechselwählern machen können – sich immer wieder durchsetzen. Für ihre Unterstützung erwarten die Interessenverbände Gegenleistungen oder Entgegenkommen, nämlich die Erfüllung ihrer Interessenswünsche.
7 Dazu R. van Schendelen, Machiavelli in Brüssel. The Art of Lobbying in the EU, 2004. 8 Über die „EU-Transparenzinitiative“ http//ec.europa.eu/commissionbarro so/kallas/transparency.de.htm. 9 S. dazu Anlage 2 GO-BTag.
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§ 26 Die Gesetzgebungsrealität
Zwar ist die Mitwirkung der Interessenverbände an der Gesetzgebung im Grundgesetz nicht vorgesehen. Aufgrund von § 47 III GGO werden die Verbände aber schon vor den Abgeordneten mit Entwürfen von Gesetzesvorlagen befasst, so dass die Abgeordneten die bereits „verbandserprobten“ Vorlagen erhalten. Nach § 70 GO-BTag dürfen die beim Bundestagspräsidenten registrierten Verbände zu den öffentlichen Anhörungen der Fachausschüsse zu Gesetzen (wegen Steuergesetzvorlagen: des Finanzausschusses) geladen werden. Ihre Mitwirkung gilt durchaus als förderlich. Auch ein Teil der Abgeordneten wirkt als Lobbyist (sog. „eingebaute Lobby“). Wie hoch dieser Abgeordnetenanteil ist, kann nur geschätzt werden, da die Abgeordneten sich gegenüber ihren Wählern nicht als Lobbyisten dekuvrieren, sondern als Vertreter des Gemeinwohls auszugeben pflegen. 10 In Wirklichkeit sind sie Vertreter von Sonderinteressen verschiedener Art. Lobbyisten werden Parlamentarier, und Parlamentarier, die nicht wiedergewählt werden, werden nicht selten Lobbyisten. Ein Verhaltenskodex für Abgeordnete und eine wirksame Kontrolle ihres Verhaltens sind nicht vorgesehen. Kaum ist ein Gesetzesvorhaben bekannt geworden, werden die „betroffenen“ Lobbyisten aktiv (soweit das Vorhaben nicht schon auf ihre Impulse zurückgeht). Sie schreiben, faxen, versenden E-Mails an den Kanzler (die Kanzlerin), die Fachminister und ihre Staatssekretäre sowie an andere einflussreiche Politiker; sie wenden sich aber auch an Referatsleiter und Referenten im Ministerium; sie dinieren mit Politikern und Beamten der Fachabteilungen und starten u. U. PRKampagnen in den Medien. Sie informieren, alarmieren und aktivieren bei Bedarf ihre Klientel. Abhängig von der Erfolgsaussicht werden mehr oder weniger vornehme Methoden eingesetzt. Persönlicher Dauerkontakt zu Politikern und Fachbeamten dürfte besonders wirksam sein. Gern lassen sich Lobbyisten mit Politikern fotografieren, um der Klientel ihren Einfluss zu vermitteln. Minister werden von Interessenverbänden gern zum Vortrag eingeladen. Lobbyisten werden weit vor Wissenschaftlern mit Bundesverdienstkreuzen behängt; sie sind Teil des Systems. Regierungen vergehen, die Lobbyisten bleiben bestehen. Lobbyisten verfügen durchweg über ein üppiges Spendenkonto; viele haben auch die Mittel, ihren Anliegen finanziell Nachruck zu verleihen. Sie können Parteien und Politiker „bespenden“. Kein Paragraf stört die Verbindung Lobbyist – Abgeordneter. Abgeordnete dürfen zurzeit noch Geld, Schecks, Geschenke in jeder Höhe annehmen. Abgeordnete können zwar tatsächlich bestech10 Nach Art. 38 I 2 sind die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes“. Die Wirklichkeit sieht auch insoweit anders aus (dazu G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 274 ff.).
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Abhängigkeit von Interessenverbänden und Beratern
lich sein; strafrechtlich sind sie aber „unbestechbar“. Über den Inhalt des Strafgesetzbuches entscheiden sie selbst. Wie weit Lobbyisten tatsächlich mit finanziellen Mitteln „das politische Klima“ beeinflussen, die „politische Landschaft pflegen“, bleibt weitgehend im Dunkeln. Dass Lobbyisten die politische Hygiene beeinträchtigen können, ist evident. Bundestagspräsident N. Lammert (CDU) forderte vor der Presse ein Gesetz zur Bekämpfung der Bestechung von Abgeordneten. Die Abgeordneten seien im Kern ihrer Tätigkeit nur ihrem Gewissen unterworfen. Wer dagegen verstoße, sollte bestraft werden. Ein solches Strafgesetz werden die Abgeordneten wohl nie beschließen, sondern auch weiterhin ein an sich strafwürdiges Rechtsgut verletzen. Eine Bundestagsfraktion ging 2011 mit der Idee um, den Bundestagsabgeordneten Nebentätigkeiten zu verbieten, ferner Unternehmen und Interessenverbänden Parteispenden zu verbieten. Alles zu ideal, um wahr zu werden. Es ist freilich unbestritten, dass Lobbyisten in ihrem speziellen Tätigkeitssektor durchweg über ein gediegenes Fachwissen verfügen, den Gesetzgeber auch vor Fehlern bewahren können. Daher kommt es auch vor, dass Ministerialbeamte oder Politiker sich auch ihrerseits an ihnen bekannte Lobbyisten wenden, um von ihnen Informationen und Ratschläge zu erhalten. Nicht wenige schätzen diese Rückkopplung, um zu vermeiden, dass sie in einem späteren Stadium des Gesetzgebungsverfahrens „auflaufen“. Das ändert aber nichts daran, dass Lobbyisten ihr Fachwissen entsprechend ihrem Auftrag interessengeneigt einsetzen, dass sie möglichst ein durch die Interessenbrille selektiertes Fachwissen unterbreiten. Gerichte bestellen Lobbyisten daher nicht als unabhängige Sachverständige. Lobbyisten haben nicht den Auftrag, sind nicht bestrebt, für ein gerechtes und einfacheres Steuerrecht einzutreten. Sie sind – ihre Rhetorik beiseite – nicht darauf aus, im Steuerrecht den Gleichheitssatz durchzusetzen. Dass die Steuergesetze ständig geändert werden, ist nicht unwesentlich (auch) ihr Werk. Lobbyisten pflegen keine Steuertheoretiker oder Steuersystematiker zu sein, die sich verallgemeinernd, folgerichtig und widerspruchsfrei an sachgerechten Maßstäben orientieren und diese erstrebten Steuervergünstigungen zugrunde legen. Systematik und Folgerichtigkeit haben bei ihnen einen Stellenwert nur, soweit diese ihren Zielen entgegen kommen. Durchweg interessiert die Lobby sich nicht dafür, ob eine Gesetzesvorschrift, die ihnen realisationsbedürftig oder erhaltenswert erscheint, in die bestehende Rechtsordnung eingepasst werden kann. Die Klientel der Interessenverbände erwartet von diesen, dass der Verband Privilegien für sie durchsetzt. Für diese Klientel gilt sicher: „People prefer privileges“ (s. S. 1366, 1888). Mindestens soll aber der „Besitzstand“ als „Errungenschaft“ erhalten werden. Daraus erwächst 1369
§ 26 Die Gesetzgebungsrealität
der Verbandsfunktionärsegoismus, der fordert, aber nicht von Pflicht spricht. Lobbyisten benötigen ihre Privilegien als Erfolgsausweis für ihre Klientel. Mit der Parole, dass alle Steuerbürger gleichbehandelt werden sollten, kann der Lobbyist seinen Interessenten nicht imponieren. Auch Verbände, die sich nachdrücklich zur Marktwirtschaft bekennen, mögen nicht zugestehen, dass Steuervergünstigungen die Wettbewerbsneutralität stören können und damit auch die Marktwirtschaft. Es gibt durchaus auch Interessenverbände, die sich abstrakt gegen Steuervergünstigungen aussprechen, die aber Widerstand leisten, wenn Vergünstigungen ihrer Klientel betroffen sind. Hinter fast jedem Privileg, hinter fast jeder Steuervergünstigung steht eine Lobby, und hinter jeder Lobby stehen Wähler. Daher tut die Politik sich so schwer, Steuervergünstigungen abzuschaffen oder einzuschränken. Die Politiker berücksichtigen auch, dass die große Zahl der Drittbetroffenen oft stärker berührt ist als die vom Gesetz unmittelbar Begünstigten. Wird z. B. den Steuerpflichtigen der Abzug von Bewirtungskosten versagt, trifft das besonders die Gastronomie. Die Behandlung der Privatnutzung von Dienstwagen betrifft die Automobilhersteller und ihre Zulieferer einschließlich ihrer Arbeitnehmer. Nach der Erfahrung des Abgeordneten D. Kleinert verstehen Lobbyisten „unter Recht, dass man etwas bekommt, und unter Unrecht, dass man etwas hergeben muss“. 11 Vertreter großer Verbände können eher durch die Zahl der Mitglieder beeindrucken als durch rechtliche Argumente. Gewerkschaften sehen schnell den sozialen Frieden gefährdet („Das ist mit uns nicht zu machen“). Die Wirtschaftslobby sieht schnell den Wirtschaftsstandort Deutschland benachteiligt und verweist gern auf irgendein Ausland, in dem die Bedingungen für die Wirtschaft günstiger seien als in Deutschland. Ein solches Ausland gibt es fast immer, irgendwo. Den Rechtsgedanken kann der Lobbyismus an der Wurzel bedrohen. Jeder nicht zu rechtfertigende Sondervorteil entethisiert, entrechtlicht. Der Lobbyismus kann zusammen mit dem Parteienegoismus die Gemeinwohlorientierung weitgehend auflösen. Eike v. Hippel stellt fest, die „Herrschaft des Volkes“ (Demokratie) sei inzwischen weithin durch eine „Herrschaft der Verbände“ verdrängt worden. Eine solche „Lobbykratie“ verstoße „nicht nur gegen das Demokratieprinzip“, sondern führe „auch zu zahlreichen sachwidrigen Regelungen, die verheerende Auswirkungen haben“. 12 11 In: D. Strempel (Hrsg.), Mehr Recht durch weniger Gesetze?, 1987, S. 55. – Dazu auch H. H. v. Arnim, Das System, 2001, S. 295 ff. („Die Macht organisierter Interessen“), 299 ff. („Der Mythos vom unabhängigen Abgeordneten“). 12 E. v. Hippel, Machtmissbrauch der Lobby als Herausforderung, in: Festschrift für H. H. v. Arnim, 2004, S. 77 f.
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Abhängigkeit von Interessenverbänden und Beratern
Die Summe der partikulären Verbandsinteressen ergibt schon deshalb nicht das Gemeinwohl, weil es zum einen ganz unterschiedlich mächtige Verbände gibt, zum anderen auch unorganisierte Interessen. Die Lobby ist politisch mächtig, rechtlich wäre sie es aber nicht, wenn sie gezwungen würde, sich an die Grundrechte zu halten. Der Ökonom und Nobelpreisträger F. A. v. Hayek hielt den organisierten Gruppenegoismus für die „Hauptbedrohung“, weil er immer im Widerspruch stehe „zu dem wahren allgemeinen Interesse der Mitglieder einer großen Gesellschaft“. 13 Durch sie werde eine Lage geschaffen, „in der die nicht-organisierbaren Interessen den organisierbaren geopfert“, die „Nicht-Organisierten“ ausgebeutet würden. 14 Sie würden zum „Spielball der Gruppeninteressen“. 15 „Was wir heute demokratische Regierung nennen“ – so F. A. v. Hayek weiter –, „dient infolge ihrer Konstruktion nicht der Meinung der Mehrheit, sondern den verschiedenen Interessen eines Konglomerats von pressure groups, deren Unterstützung sich die Regierung durch die Gewährung von Sondervorteilen erkaufen muss . . .“ 16 „Sich die Mehrheitsunterstützung durch einen Schacher mit Sonderinteressen zu kaufen, hat überhaupt nichts mit dem ursprünglichen Ideal der Demokratie zu tun“. 17 F. A. v. Hayek spricht von der „Nebenregierung“ der organisierten Interessen. 18 Die Situation, die F. A. v. Hayek vor ca. 30 Jahren beschrieben hat, hat sich inzwischen weiter verschärft. Wir befinden uns in weitgehender Übereinstimmung mit P. Kirchhof, der dazu ausführt: „So arbeiten mächtige Gruppen daran, diesen Staat in einen Privilegienstaat zu verwandeln. Sie beeinflussen die Parlamente so, dass der Gesetzgeber das Recht nach ihren Wünschen umgestaltet . . . Aus der rechtlichen Grundsatzordnung wird eine überquellende Fülle von Detailregelungen, Besonderheiten, Privilegien und Bevorzugungen . . . Das Problem der Verbände ist nicht ihre Existenz und ihr Wirken, sondern ihre Macht und – notwendige – Einseitigkeit . . . Wenn Staat und Verband miteinander verhandeln, treten Minister und Verbandschef – oder ein Ministerialbeamter und ein Verbandsgeschäftsführer – in einen Dauerdialog ein, in dem man sich wechselseitig schätzt und aufeinander Rücksicht nimmt, sorgfältig abgewogene Ergebnisse früherer Annäherungen aufnimmt, Fachwissen und Interessenwissen ständig vermengt. Aus den
13 F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit Bd. 3, 1981, S. 124 ff., 132. 14 F. A. v. Hayek, (Fußn. 13), S. 133 f. 15 F. A. v. Hayek, (Fußn. 13), S. 138 f. 16 F. A. v. Hayek, (Fußn. 13), S. 178 f. 17 F. A. v. Hayek, (Fußn. 13), S. 184; s. auch S. 55, 188 f., aber auch S. 30 („Schacherdemokratie“), 31, 32. 18 F. A. v. Hayek, (Fußn. 13), S. 195 f.
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§ 26 Die Gesetzgebungsrealität Verhandlungen zwischen Staat und Verband wird eine Zusammenarbeit zwischen Fachressort und Fachreferent. In dieser Logik einer abgehobenen Herrschaft – einer Oligarchie – entwickeln sich Eigengesetzlichkeiten des Einflusses aus wechselseitiger Nähe . . . . . . wenn der Staat seine Tore für ein Eindringen der Interessenverbände öffnet oder die Interessenverbände sich selbst Einlass verschaffen, muss der Verfassungsstaat sich mit der Kraft seiner Verfassung gegen diese Entparlamentarisierung und Entdemokratisierung wehren, die Distanz als Verfassungsbedingung der Freiheit zurückgewinnen . . .“ 19 „Wenn aus der langfristigen Regel ständig veränderte Maßnahmegesetze werden, Privilegien und Vergünstigungen das allgemeine Gesetz verdrängen, gelegentlich der Interessent dem Gesetzgeber die Feder führt, müssen die Unbefangenheit und die allgemeine Gleichheit des Gesetzes gestärkt werden . . . Ein Rat für Gesetzeskultur soll auf die Kodifikation des Rechts – seine Zurücknahme auf systematische, langfristig verbindliche, allgemein verständliche Regeln – hinwirken“. 20
Auch private Wirtschaftsforschungsinstitute können den Interessen von Verbänden dienen. Da erfahrungsgemäß der Wissenschaft eher vertraut wird als Interessenverbänden, bietet sich der Einsatz von privaten Forschungsinstituten für besondere Interessen an. Daher ist stets darauf zu achten, welches Institut in wessen Auftrag ein Gutachten erstattet hat. Die Lobby scheint selbst stärker zu sein als die regierenden Parteien einer großen Koalition. Man kann die Lobby die „Fünfte Gewalt“ nennen. Aber wenn sie stärker ist als die Gesetzgebung als Erste Gewalt, ist etwas faul im Staate. Die unbefriedigende „Rasenmähermethode“ befreit auch eine große Koalition nicht aus den Fesseln der Interessenverbände. Als es 2009 zu einer Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP kam, gelang es der FDP, für Hoteliers den Umsatzsteuersatz von 19 % auf 7 % absenken zu lassen. Darauf erhob sich ein Sturm der Entrüstung; die FDP verlor laut Umfragen rapide an Zustimmung. Nunmehr kündigte die Koalition an, die von der ermäßigten Umsatzsteuer (7 %) erfassten Leistungen sollten wegen der offensichtlichen Inkonsequenzen und Widersprüche generell überprüft werden. Als die Koalitionsparteien aber gewahr wurden, wie viele Unternehmer und Verbraucher mit ihren Lobbyisten von einer sachgerechten Einschränkung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes nachtei19 P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 58, 60, 63. 20 P. Kirchhof (Fußn. 19), S. 336. – Hingegen stellt Hans Schneider die Mitwirkung der Verbände als im Ganzen vorteilhaft dar, zumal für die Ministerialbürokratie. Er meint: „Die Ministerialreferenten wissen im Allgemeinen Spreu und Weizen besser zu sortieren als ein einzelner Abgeordneter, der sich von der Lobby leicht einwickeln lässt.“ (Gesetzgebung3, 2002, § 5 Rz. 103 ff., 105 (S. 72). Es gibt auch „wissenschaftliche“ Bücher über Gesetzgebung, in denen viel von der Verfassung die Rede ist, in denen die Interessenverbände aber gar nicht vorkommen.
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lig betroffen sein würden, wurde erklärt, das Revisionsvorhaben habe keine Dringlichkeit. In Wirklichkeit hielt man es in Anbetracht der Landtagswahlen der kommenden Jahre und der nächsten Bundestagswahl für politisch inopportun. Einige Koalitions-Steuerpolitiker verwiesen auf die Europäische Union. Sie könnte die Kastanien aus dem Feuer holen. Dem Finanzminister der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD gingen die Lobbyisten wohl auf die Nerven. In einer Rede im Januar 2006 äußerte er: „In Anlehnung an die Bürgerrechtler der damaligen DDR müsste ich an dieser Stelle eigentlich die Forderung erheben: Lobbyisten in die Produktion. Ich will aber nur deutlich machen, dass eine zukunftsfähige Haushalts- und Finanzpolitik ein robustes Immunsystem entwickeln muss gegen die Attacken organisierter Einzelinteressen. Ich habe nichts gegen seriösen Lobbyismus als Teil der politischen Entscheidungsfindung, aber maßlose Drohungen und penetrante Scheinheiligkeiten aller Art werden wir beim Namen nennen und immer dann in die Schranken weisen, wenn Einzelinteressen für Gemeinwohlinteressen ausgegeben werden“ (FAZ v. 12. 1. 2006, S. 6). Auch das gruppenegoistische Wirken der Interessenverbände macht es erforderlich, dass besonders im Steuerrecht die Anwendung des Gleichheitssatzes nicht minimalisiert, sondern rechtsrational (dazu S. 1251 ff.) aktiviert wird. Den Interessenverbänden fällt es nicht schwer, irgendwelche „sachlichen“ Gründe anzugeben, die die Durchbrechung der Gleichbelastung rechtfertigen sollen. Politikern fehlen alle Voraussetzungen für einen sachgerechten, rechtsrationalen Umgang mit Steuervergünstigungen. Das zeigt z. B. der verworrene Katalog der ermäßigten Umsatzsteuersätze, der Katalog der „gemeinnützigen Freizeitaktivitäten“ (§ 52 II Nr. 23 AO), usw. Das „rein Politische“ und das „rein Rechtliche“ sind eben nicht deckungsgleich. Politiker, die nichts anderes kennen als „politische Opportunität“, sind ungeeignet für Steuervergünstigungsabbau-Entscheidungen. Sie geraten umgehend in Konflikt mit den Geboten der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Wertungswiderspruchsfreiheit, empfinden diese Gebote als „Zwangsjacke für Politiker“. Die Demokratie lebt von der Transparenz der Entscheidungsfindung der Regierenden. Der Transparenz würde es dienen, wenn jedem Gesetz die Mitteilung hinzugefügt würde, welche Interessenverbände das Gesetz oder bestimmte Gesetzesvorschriften erstrebt, auf das Gesetzgebungsverfahren wie eingewirkt, an der Gesetzesformulierung mitgewirkt haben. Die Information könnte z. B. lauten: „Das Vierte Gesetz zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen wurde gesponsert und mit entworfen von der Deutschen . . .industrie.“ Zu einer solchen Transparenz wird es in Anbetracht der politischen Stärke von Interessenverbände-„Nebenregierung“ und der vielfältigen Vernetzung von Parteien und Verbänden aber wohl nicht kommen. 1373
§ 26 Die Gesetzgebungsrealität
Überhaupt müsste die Tätigkeit der Lobby dringend gesetzlich reguliert und restringiert werden, insbesondere auch die Tätigkeit der Brüsseler Lobby. Aber der Gesetzgeber, der mit der Lobby eng verbandelt ist, wird es nicht tun. Und das Bundesverfassungsgericht hat es bisher nicht getan. Das Verfassungsgericht stärkt die Rechte des Parlaments gegenüber der Regierung. Die Lobby aber, die Regierung und Parlamentarier bedrängt, lässt es gewähren, frei walten. Politiker und Ministerien beschäftigen auch Berater, die nicht Interessenverbänden angehören, das Justizministerium sogar externe Juristen mit speziellem Sachverstand. Wer die Politik beeinflussen möchte, kann sich an „politisch gut vernetzte“ Beratungsgesellschaften wenden; sie stellen Kontakte her (sog. „Türöffner“). Beschwichtigend heißt es dazu: Die Verantwortung bleibe beim Parlament, beim Minister usw. 21 Für mehr Transparenz in der Politik setzt sich der Verein Lobby Control ein. Er befasst sich auch kritisch mit der Einflussnahme von Interessenverbänden auf die Politik. Die Richter werden m. W. noch nicht von Interessenverbänden belästigt; allenfalls wird versucht, sie indirekt über die Medien zu beeinflussen. Die Urteile schreiben die Richter selbst.
3. Die Medienabhängigkeit der Steuerpolitik Die Steuerpolitiker sind auch medienabhängig. Um ihre Botschaft unter die Wähler zu bringen, sind die Steuerpolitiker auf die Medien – auch als „Vierte Gewalt“ bezeichnet – angewiesen. Was von den Medien nicht verbreitet, was in den Medien nicht diskutiert wird, ist nicht in der Welt. 22 Die Meinungen der Massenblätter, ihr Einfluss auf viele, gar auf die Mehrheit der Wähler – unter ihnen überwiegend Steuerlaien – können für Steuerpolitiker wichtiger sein als die Meinungen, die von Steuerexperten in Fachblättern veröffentlicht werden. Die höchste Zahl der Wähler wird von Boulevardblättern erreicht, die allerdings nicht über Steuerfachleute zu verfügen pflegen. 21 Im Zweiten Weltkrieg hieß es sarkastisch: „Kamerad, trag’ du das Maschinengewehr, ich trag’ die Verantwortung.“ 22 Information über die Verstrickungen von Politik und Medien aus der Sicht des Politikers P. Steinbrück, Unterm Strich5, 2010, S. 361 ff., 371 („Klar ist: Politiker brauchen Öffentlichkeit, und diese ist nur über mediale Präsenz zu erreichen. Und Medien brauchen . . . Politiker als Protagonisten für Berichte, Interviews und Sendungen sowie als Informanten. Diese politisch-mediale Symbiose wird allerdings immer bedenkenloser als eine wirtschaftliche Zugewinngemeinschaft organisiert, frei nach dem Motto: Was mir nützt, soll dein Schaden nicht sein.“
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Medienabhängigkeit
Die Steuerthemen werden daher gern emotional und personal angegangen. Der frühere hessische Finanzminister Manfred Kanther hat es pointiert so formuliert: „In der Steuerpolitik können Sie ganz leicht eigentlich nur einen Satz vermitteln, und der lautet: ‚Ich senke Ihre Steuern um 5 %.‘ Danach laufen Sie immer noch Gefahr, die Antwort zu bekommen: ‚Das ist zu wenig; 10 % sind besser!‘ Aber die Botschaft ist zumindest vermittelbar. Wenn die Botschaft in einem komplizierten Feld zwangsläufig auch komplizierter ausfallen muss, dann ist sie mit den nun einmal gängigen Mitteln der Medienwelt, in der wir leben, beinahe nicht mehr übersetzbar“. 23 Die breiten Wählerkreise können nur erreicht werden, wenn auf den Horizont der Durchschnittswähler abgestellt wird. Da die Medien ihre Beiträge gern an Personen festmachen, besonders am Minister, entsteht der Eindruck, dass der Minister gar keine Mitarbeiter habe, über alles informiert sei, alles allein erledige. Dem Minister wird nicht nur alles zugerechnet, sondern auch jeder im Ministerium vorkommende Fehler angelastet. Ministern genügt oft nicht die ministerielle Öffentlichkeitsarbeit, sie lassen sich überdies von erfahrenen Journalisten über medien- und kommunikationswirksames Verhalten beraten, darüber hinaus das Medienecho ihres Wirkens registrieren. Soweit die Presse es vorzieht, statt Informationen Unterhaltung zu bieten, beschäftigt sie sich – als ginge es um Sport – gern mit der Frage: Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer von Steuergesetzesänderungen oder Steuerreformen? Für die Antwort – sie hat Unterhaltungswert – finden sich immer hilfreiche Fachleute. Mit ihrer Hilfe nennen Journalisten dann z. B. als Verlierer: auf Diät Angewiesene, Soldateneltern, Witwen mit Kindern, Sozialrentner mit Kindern, Geschiedene und Getrenntlebende, Väter mit nichtehelichen Kindern, Eheleute im öffentlichen Dienst, Doppelverdiener-Eheleute, usw. Durch Schlagzeilen und kernige Überschriften werden solche Meldungen ins Licht gerückt. Die Frage, was gerecht oder ungerecht ist, spielt keine Rolle. In der Fernseh-Demokratie gibt es mehr Seher als Leser. Das real existierende komplizierte Steuerrecht aber ist nicht so eingängig wie es Unterhaltungssendungen sind. Es ist sperrig-verwirrend, unsystematisch, nicht selten inkonsequent, widersprüchlich und daher anstrengend und schwerlich als Showbusiness gestaltbar. Auch in Talkshows ist es kaum zu vermitteln, schon gar nicht, wenn die fachfremde Talkmasterin schon nach wenigen Sätzen unterbricht, weil sie befürchtet, dass das Fernsehpublikum so wenig versteht wie sie selbst – mit der Folge, dass es zu einer hohen Abschaltquote kommt. Im 23 In: D. Döring/P. Spahn (Hrsg.), Steuerreform als gesellschaftspolitische Aufgabe der neunziger Jahre, 1991, S. 13.
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Fernsehen ist nur der „große Vereinfacher“ (z. B. der Bierdeckel-Steuererklärer), der flotte Sprüche produzierende Oberflächliche zu gebrauchen. Allenfalls ein Steuerquiz könnte eine ausreichende Einschaltquote erreichen. Man könnte Teilnehmer einfache Steuerfragen nach ihrem Rechtsgefühl entscheiden lassen und die Antworten mit der Rechtsrealität vergleichen. Die Interessenverbände machen die Medien gern zu ihren Gehilfen. Sie liefern ihnen interessante Nachrichten und Schlagzeilen, die nur zu oft unkritisch übernommen werden. Auch wenn ein Verband als Urheber einer Nachricht gekennzeichnet wird: Vom entsprechend Aufgemachten bleibt etwas hängen. Es gibt freilich zunehmend auch investigative Journalisten, die die Einwirkung der Interessenverbände auf die Gesetzgebung ans Licht bringen und sich kritisch mit ihr befassen.
4. Das Einwirken der Opposition auf die Steuergesetzgebung Obwohl die Opposition von den Minderheitsparteien gestellt wird, wirkt auch sie nicht unerheblich auf die Gesetzgebung ein. Die Opposition hat die Aufgabe, die Regierungsarbeit kritisch zu begleiten und zu kontrollieren, 24 eventuell auch eine Alternative zur Regierungspolitik vorzustellen. Im Allgemeinen wird der Angriff auf die Regierungspolitik aber der Begründung eines eigenen, angreifbaren Konzepts vorgezogen. Die Opposition möchte durch das Ergebnis der nächsten Wahl die Regierungsmacht erringen oder zurückgewinnen. Dazu empfiehlt es sich nicht, der Regierung „nachzulaufen“. Überparteilicher Konsens von Regierung und Opposition pflegt sich – so sieht es jedenfalls die Opposition – bei Wahlen für die Opposition nicht auszuzahlen. Jede Zustimmung der Opposition zur Regierungspolitik wird als Erfolg der Regierung angesehen. „Wir dürfen als Opposition“ – so hat es R. Scharping (SPD) einmal formuliert – „den Mist der Regierung nicht parfümieren“. 25 Eine andere Stimme: „Wir dürfen uns nicht als Beleuchter der Figuren betätigen, die die Regierung auf die Bühne stellt. Wir müssen unsere Oppositionsfiguren ins Licht rücken.“ So wird Opposition leicht zu einer Einrichtung, die dazu dient, alle Bestrebungen der Regierung möglichst zu vereiteln. 24 Diese Rolle war ursprünglich dem Parlament als solchem zugedacht. Die Grenze verläuft heute (aber) quer durch das Parlament. Die Mehrheitsparteien stützen die Regierungen, kontrollieren sie nicht; das tun nur die Oppositionsparteien. Hierzu H. H. von Arnim, Das System, 2001, S. 304. 25 DIE ZEIT v. 8. 8. 1997, S. 4.
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Einwirken der Opposition
In ihren Mitteln, an die Macht zu gelangen oder an sie zurückzugelangen, pflegt eine starke Opposition nicht wählerisch zu sein, und die Regierung schlägt, zumal in Wahlkampfzeiten, entsprechend zurück. Es wird pointiert oder derb polemisiert, hemmungslos „vom Leder gezogen“. Man diskreditiert, diffamiert, polemisiert, agitiert, verdreht die Tatsachen und verschmäht beim verbalen Schlagabtausch auch grandiose Verdächtigungen und Tiefschläge nicht. Jede Seite behauptet, die einzige, alternativlose Lösung parat zu haben. Die andere Seite ist inkompetent, unaufrichtig, unglaubwürdig, perfide. Gegenseitig wirft man sich Ideologie vor („Deine Ideologie ist eine, meine ist keine“). Die Motive der eigenen Seite sind lauter, die der anderen Seite unlauter. Die eigene Seite blickt vollkommen durch, die andere Seite hat einen beschränkten Horizont. Für Misserfolge ist immer die andere Seite verantwortlich. Gerät eine Regierungspartei nach verlorener Wahl wieder in die Opposition, so pflegt sie sich alsbald wieder von der politischen Linie der Regierungszeit zu verabschieden. Ohne Regierungsverantwortung wird sie wieder zur Catch-all-Partei, alle möglichen Forderungen, Wünsche und Stimmungen aufgreifend, u. U. auch widersprüchliche. Verantwortungslos pflegt sie den Wählern nachzulaufen und es der Regierung zu überlassen, den Wählern die Notwendigkeit unpopulärer Maßnahmen zu erklären. Die Opposition versucht durchweg, das Gemeinsame zu übergehen und die Differenzen herauszustellen. Die Opposition neigt dazu, von der Regierung mehr zu fordern, als diese erfüllen kann. Da die Regierung, nicht die Opposition, die Verantwortung für den Haushalt hat, kann die Opposition ohne Rücksicht auf den Haushalt Steuersenkungen versprechen und die Finanzierung offen lassen oder entsprechende Ausgabenkürzungen verlangen. Verkündet die Regierung Steuersenkungen, fragt die Opposition alsbald nach der Gegenfinanzierung. Welchen Weg der Gegenfinanzierung die Regierung auch gehen will (Vergünstigungen abbauen, Ausgaben verringern, Schulden erhöhen, Mehrwertsteuer erhöhen), die Opposition pflegt es besser zu wissen. Sie gibt sich als Anwalt derjenigen Bürger, die künftig mehr Steuern zahlen sollen. So bleibt der Regierung nur übrig, die Forderungen der Opposition als haushaltswirtschaftlich verantwortungslos (was nicht selten zutrifft), als unseriös, als skandalös hinzustellen; aber es bleibt immer etwas Negatives an ihr hängen. Daher kommt auch die Regierung nicht um Versprechungen herum – oft mit dem Ergebnis steigender Staatsverschuldung. Politikwissenschaftler haben gemeint, die Wahlverlierer hätten den Vorteil, nicht halten zu müssen, was sie vor der Wahl versprochen haben. Die Wahlgewinner hingegen müssten als Regierung ihre Versprechungen erfüllen, vor allem aber konkrete, durchdachte, realisier1377
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bare Maßnahmen ergreifen. Opposition sei die Kunst, so geschickt dagegen zu sein, dass man, zurück in der Regierung, wieder dafür sein könne. Aber häufig werden Wahlversprechen mit luftigen Ausreden auch von der Regierung gebrochen, besonders gern mit dem Hinweis, der „Kassensturz“ habe ergeben, dass die Haushaltslage viel schlechter sei als die abgelöste Regierung sie dargestellt habe. Die neue Regierung, die als Opposition den Abbau von Steuervergünstigungen gefordert hatte, baut sie nach Rückkehr zur Regierungsmacht selbst nicht ab. Geht es um Steuerreformen, muss die Regierung mit Opposition fast um jeden politischen Preis rechnen. Konstruktive Zusammenarbeit ist nicht denkbar. Die Reformvorschläge werden zerredet als familienfeindlich, unternehmerfeindlich, mittelstandsfeindlich, unsozial. Die Reform sei das Werk von Stümpern. Sie werde zu Umverteilung von unten nach oben führen, soziale Schlagseite haben, den Reichen Steuergeschenke bescheren. Gelingt die Reform gleichwohl zum Teil, pflegt die Regierung sich Girlanden zu flechten, die „Reform“ schönzureden, von „Reform des steuerpolitischen Fortschritts“, von „Reformen des Mutes und des Augenmaßes“, von „Reform der steuerpolitischen Verantwortung“ zu sprechen. Die Opposition hingegen redet die Reform platt. Sie nennt sie „Machwerk von Stümpern“, „steuerpolitisches Teufelswerk“, „Reform der Lebenslügen“, „steuerbürokratisches Monster“ o. Ä. So beschert man sich gegenseitig den Stillstand. Von einer Vertretung des ganzen Volkes (die Art. 38 I GG vorsieht) kann keine Rede sein. Dass Politiker auch verständnisvoll, sachlich und sachdienlich miteinander umgehen können, zeigt sich, sobald zwei große Parteien (die sich bisher als Regierungs- und Oppositionspartei gegenüberstanden) auf Grund des Wahlergebnisses plötzlich eine große Koalition bilden müssen. Dann können Fraktionsführer der Koalitionsparteien sogar zu Freunden werden. Auch in der großen Koalition von CDU/CSU und SPD in der Zeit von 2005–2009 ging es überwiegend vorbildlich sachlich zu – mit dem Ergebnis, dass die Reibungsverluste, die durch „Opposition um jeden Preis“ entstehen, ausblieben. Seitdem die SPD wieder in der Opposition ist, rüstet sie verbal zunehmend auf. In der großen Koalition von 2005–2009 sprach auch die SPD sich für die „Rente mit 67“ aus. Zurück in der Opposition revidierte sie ihren Standpunkt mit Rücksicht auf ihre Wählerklientel. Sollte sie u. a. dadurch nach der nächsten Wahl wieder in die Regierung gelangen, würde sie um Gründe für eine baldige Rückkehr zur „Rente mit 67“ wohl nicht verlegen sein. Es gibt auch einige Beispiele dafür, dass die Opposition die Regierung zu Reformen auffordert und eine Begründung beifügt, die sich wie ein Kurzlehrbuch eines systematischen, d. h. prinzipienorientierten Mus1378
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tereinkommensteuerrechts liest (s. oben S. 1803 ff.). Nur, wenn die Oppositionsparteien dann wieder die Regierung stellen, denken sie gar nicht daran, das auszuführen, was sie zuvor als Opposition von der Regierung verlangt haben. Der kategorische Imperativ für die Opposition müsste lauten: Opposition, verlange von der Regierung nichts, was du selbst als Regierung nicht zum Gesetz erheben würdest! Unsere politische Klasse macht allerdings nicht den Eindruck, dass sie sich als Opposition gern an eine solche ethische Regel binden würde. Dass für den Wettbewerb um Wähler im Wahlkampf keinerlei Regeln gelten, auch das verbale Catch-as-catch-can erlaubt ist, ist ein Missstand. Auch politisches Ethos setzt Regeln voraus. Auch das Streben nach Macht, auch die Gier nach Macht darf nicht beliebige Mittel rechtfertigen, schon gar nicht im demokratischen Rechtsstaat. Im demokratischen Rechtsstaat sollte es nicht zugehen wie im Haifischbecken.
5. Die Rolle des Bundesministers der Finanzen und der Steuerabteilung des Bundesministeriums der Finanzen in der Steuergesetzgebung 5.1 Der Bundesminister der Finanzen Der Bundesminister der Finanzen steht im Zentrum der Steuerpolitik. Fast alle Bundessteuergesetze werden in seinem Hause vorbereitet. Der Finanzminister hat ein riesiges Ressort zu verantworten, die Steuerabteilung ist nur eine von neun Abteilungen. Es ist bekannt, dass Finanzminister bereits durch die Sorge für den Haushalt ausgelastet sind und für die Steuergesetzgebung kaum Zeit haben. Karl-Heinz Paqué – er war Finanzminister von Sachsen-Anhalt – berichtet dazu: „Selbst die Damen und Herren Finanzminister in Deutschland – soweit sie nicht von Hause aus ausgewiesene Steuerexperten sind – können das Steuerrecht kaum mehr durchschauen. Der leidgeprüfte Verfasser (Paqué) weiß in dieser Hinsicht, von was er redet. Stehen steuerrechtliche Fragen auf der Tagesordnung des Finanzausschusses im Bundesrat oder der Finanzminister-Konferenz, bereitet das entsprechende Briefing des Ministers in aller Regel deutlich mehr Zeit und Mühe als bei anderen Themen. Die Beamten der Steuerabteilung müssen dann all’ ihre didaktischen Fähigkeiten unter Beweis stellen und dem meist ahnungslosen Minister die verzwickten Zusammenhänge erklären. Oft bleibt dabei der durchschlagende Erfolg aus. . . .“ 26 Ist der Minister Ökonom, etwa Volkswirt, so wird man von ihm 26 In: Festschrift für H. O. Solms, 2006, S. 241.
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nicht erwarten dürfen, dass er die Fachkompetenz für eine Steuerrechtsreform hat. Ist der fast omnipotente Bundesfinanzminister allerdings besonders selbstbewusst, so kann es passieren, dass der Omnipotente sich auch für omnikompetent hält. Der Bundesfinanzminister schwört bei seinem Amtsantritt, er werde „Gerechtigkeit üben gegen jedermann“ (Art. 64 II i. V. mit Art. 56 GG). Für den Finanzminister kann das in erster Linie nur heißen, er werde Gerechtigkeit gegen jeden Steuerpflichtigen üben – durch gerechte Steuergesetzentwürfe. Der Finanzminister ist auch der Hauptverantwortliche dafür, dass die Steuergesetze sich in einem Zustand befinden, der eine gleichmäßige Besteuerung durch die Finanzämter zulässt. Der Finanzminister wird allerdings ebenso wenig wie andere Steuerpolitiker und Abgeordnete dafür zur Verantwortung gezogen, dass die real existierenden Steuergesetze viele Ungerechtigkeiten enthalten und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung schwer behindern. Werden Steuergesetzvorschriften vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben, so wird der Finanzminister, werden auch andere Politiker nicht zur Rechenschaft gezogen, auch wenn der Prozess aussichtslos schien. Nur vor den Wählern müssen Steuerpolitiker sich verantworten. Die Wähler haben aber keine Chance, durch ihre Wahl möglichst gerechte und einfache Steuergesetze zu erreichen. Keine Partei wird sie ihnen bescheren. In der Regel sind die Finanzminister in erster Linie Haushaltsminister. Das lässt sie verständlicherweise leicht zu Fiskalisten werden und alles, was dem Fiskus und damit dem Staat dient, für gerechtfertigt zu halten. Es gibt auch in unserer Zeit noch Finanzminister, die es mit ihrem seligen Kollegen Jean Baptiste Colbert halten, dem Finanzminister Ludwig XIV. Von ihm stammt die Besteuerungsweisheit: „Besteuerung ist die Kunst, die Gans so zu rupfen, dass man möglichst viele Federn unter möglichst wenig Gezische erhält“. 27 Man kann das auch zeitgemäß frei übersetzen mit: Steuerpolitik ist die Kunst, den Bürgern möglichst viel Geld in einer Weise aus der Tasche zu ziehen, dass sie ihre Gesamtbelastung nicht bemerken und als Wähler nicht steuerverdrossen werden.
27 „Il faut plumer la volaille sans trop la faire criier“ (dazu A. Steichen, Manuel de droit fiscal, Droit fiscal général4, 2006, S. 301. Diese „Steuerweisheit ist auch in der englischsprachigen Quotations-Literatur zu finden“: „The art of taxation consists in so plucking the goose as to get most feathers with the least hissing.“
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Obwohl die Besteuerung im Rechtsstaat ein Rechtsvorgang sein sollte, ist Colberts Rat noch immer hilfreich. F. A. v. Hayek hält es für wahrscheinlich, „dass die gesamte Komplexität der Steuerstruktur, die wir errichtet haben, weitgehend das Resultat der Bemühungen ist, die Bürger dazu zu überreden, der Regierung mehr zu geben, als wozu sie bei voller Faktenkenntnis bereit wären“. 28 Nach fiskalischer Auffassung sind viele verschiedene Steuern besser als wenige Steuern; denn zahlreiche Einzelbelastungen vertuschen die Gesamtbelastung des Steuerpflichtigen. Das rechtsstaatliche Gegenmodell präsentiert P. Kirchhof in seinem Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches von 2011 mit nur vier Steuerarten. Ein solches Reformvorhaben wird wohl schwerlich Finanzminister begeistern. Die Umsatzsteuer und andere Verbrauchsteuern werden zwar kritisiert, weil sie zu Lasten der ärmeren Bevölkerung regressiv wirken; 29 sie werden aber für unentbehrlich gehalten, weil sie indirekte oder unmerkliche Steuern sind. Gustave Le Bon hat sich in seiner „Psychologie der Massen“ dazu so geäußert: „Darf z. B. ein Gesetzgeber, der eine neue Steuer auflegen will, die theoretisch gerechteste wählen? Keinesfalls. Die ungerechteste kann praktisch für die Massen die beste sein, wenn sie am unauffälligsten und leichtesten in Erscheinung tritt. Auf diese Weise wird eine noch so hohe indirekte Steuer von der Masse angenommen werden. Wenn sie täglich pfennigweise für Konsumartikel entrichtet wird, stört sie die Gewohnheit nicht und beeinflusst sie wenig. Man lege an ihrer Stelle eine proportionale, auf einmal zu entrichtende Steuer auf die Löhne oder andere Einkommen, mag sie auch theoretisch dreimal weniger hart sein als die andere, so wird sie heftigen Widerspruch erregen. An die Stelle der täglichen Pfennige, die man nicht spürt, tritt nämlich eine verhältnismäßig hohe Geldsumme, die am Zahltag riesig groß erscheint und sehr eindrücklich empfunden wird“. 30
Für viele versteckt, bereichert sich der Staat entgegen dem Leistungsfähigkeitsprinzip 31 durch die „kalte Progression“, auch als „heimliche Steuererhöhung“ bezeichnet. Der Gesetzgeber unterlässt es, persönliche Freibeträge und den Tarif an die Inflation anzupassen, was auch durch eine gesetzliche Indexierung geschehen könnte, d. h. durch die automatische Anpassung der Freibeträge und des Tarifs an die Lebenshaltungskosten 32, wie sie für Bezüge der Abgeordneten vorgesehen ist. 28 F. A. v. Hayek (Fußn. 13), Bd. 3, S. 172. 29 Bd. II2, 2003, S. 1005 f. 30 Gustave Le Bon, Psychologie der Massen (deutsche Übersetzung von Psychologie des Foules), 15. Aufl. 1982, S. 6. 31 Dazu Bd. 12, 2000, S. 512 ff. 32 Dazu Th. Siegel, Kalte Progression, „Mittelstandsbauch“ und Stufentarif, ZSteu 2010, 54, 59 f.
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Über die wahre steuerliche Belastung des Einkommens hinwegtäuschen soll auch der so genannte „Solidaritätszuschlag“. Das Grundgesetz lässt die Erhebung einer „Ergänzungsabgabe“ zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer (dazu gehört auch der Solidaritätszuschlag) zu. Da die progressive Einkommensteuer bereits eine Solidaritätssteuer ist, muss der Solidaritätszuschlag einen vorübergehenden Sonderbedarf decken. Er darf nicht zur Dauereinrichtung werden, die eine niedrigere Einkommensteuer vortäuschen soll. Der sozialstaats-moralisch aufgeladene Begriff „Solidaritätszuschlag“ ist irreführend; er lässt sich übrigens fast beliebig auffüllen. Solidarität ist immer und für vieles gefragt. Da der Solidaritätszuschlag wie die Einkommensteuer auch in den allgemeinen Haushalt einfließt, ist nicht zu kontrollieren, wofür er verwendet, ob er insbesondere für den „Aufbau Ost“ verwendet wird. Die vorgespiegelte Sonder-Solidarität ist eine Mogelpackung. Daher hat das Niedersächsische Finanzgericht 2010 das Bundesverfassungsgericht angerufen. Eine Kammer des II. BVerfG-Senats hat die Vorlage aber aus formalen Gründen (sie überzeugen nicht) als unzulässig verworfen. Es bleibt abzuwarten, ob die Steuerpolitik den Zuschlag bis an den St. Nimmerleinstag fortschleppt – unredlich, besteuerungsunmoralisch. Immerhin gibt es einzelne Politiker, die sich für die baldige Abschaffung des Zuschlags aussprechen, andere fühlen sich aber durch die Entscheidung von drei Verfassungsrichtern ermutigt, eine zeitliche Begrenzung des Zuschlags nicht für notwendig zu halten.
Es gibt allerdings nicht nur mehr oder weniger verkappten, sondern auch offenen, allein mit dem Haushaltsbedarf gerechtfertigten Fiskalismus. Wenn ein Finanzminister einseitig ökonomisch und fiskalisch denkt und nicht zu rechtlichen Skrupeln neigt, so färbt das auch auf Beamte seiner Steuerabteilung ab. Dann werden allein aus fiskalischen Gründen Betriebsausgaben und Werbungskosten in (aufzuhebende) Steuervergünstigungen umgedichtet, wird in das Nettoprinzip eingegriffen, werden insbesondere Verlustabzugsbeschränkungen beschlossen, überhaupt Gegenfinanzierungen, die das Nettoprinzip verletzen. Es werden im Übermaß Steuerumgehungen bekämpft, es wird der Tarif ausgebaucht; es werden zur Verhinderung von Einnahmeausfällen „Nichtanwendungsgesetze“ beschlossen; es wird „Richterschelte“ geübt mit der Begründung, dass beträchtliche Steuerausfälle entstehen würden, es wird das „finanzpolitische Risiko“ der EuGH-Rechtsprechung beklagt. Notorisch ist auch der fiskalische Erfindungsgeist der kommunalen Kämmerer. Kampfhunde bekämpfen sie mit erhöhter Hundesteuer, Spielsucht mit Spielautomatensteuer. Jedoch darf das Steuerwesen des Rechtsstaats kein rechtsfreier Raum sein, kein Spielfeld für fiskalische Steuerpolitik. Nicht das Heil des Fiskus ist das oberste Gesetz (salus fisci suprema lex non 1382
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est) des Rechtsstaats, sondern die Besteuerungsmoral ist es – durch Anwendung der Kriterien der Steuergerechtigkeit auf der Grundlage des Leistungsfähigkeitsprinzips und des dieses konkretisierenden Nettoprinzips. Die Erzielung von Steuermehreinnahmen und die Abwehr von Steuermindereinnahmen sind Ziele, die für sich eine Durchbrechung des Leistungsfähigkeitsprinzips nicht zu rechtfertigen vermögen. 33 Das wird gern verdrängt. Aber die Rechtsstaatsräson verlangt, dass das Fiskalinteresse auf gerechte Weise befriedigt wird. Ein Ethos des Fiskalismus kennt die Besteuerungsmoral nicht. 34
5.2 Die Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums Auch wenn ohne die Beamten der Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums (Abt. IV) Steuergesetze nicht zustande kommen: Diese Beamten sind letztlich weitgehend von der Politik abhängig. Sie arbeiten jedenfalls in der Sphäre und Atmosphäre der Politik. Der Finanzminister und sein parlamentarischer Staatssekretär sind Politiker. Der beamtete Staatssekretär ist politischer Beamter. Ein Leiter der Steuerabteilung kann leicht in die Versuchung geraten, vom Hüter des Steuerrechts zum Apparatschick der Steuerpolitik zu mutieren. Und sind die Beamten, die bei der Gesetzesvorbereitung mitwirken, nicht überhaupt Mitläufer der jeweiligen politischen Mehrheit? A. Uelner, BMF-Steuerabteilungsleiter a. D., berichtete über die Mitwirkung der Steuerabteilung bei der Gesetzgebung: Es „können die Initiativen für Steuergesetze auf sehr unterschiedliche Weise zustande kommen. Die Anstöße können von außen (z. B. vom Bundesverfassungsgericht, vom Bundesfinanzhof, aus der Wirtschaft, aus den Fraktionen des Deutschen Bundestages, aus der öffentlichen Meinung usw.) oder von innen kommen (z. B. aufgrund einer Regierungserklärung, aufgrund von Entscheidungen des Ministers wegen befürchteter Auswirkungen neuerer BFH- oder BVerfG-Rechtsprechung auf das Steueraufkommen usw.). Die Steuerabteilung nimmt derartige Anstöße – oder Weisungen – zu Änderungen der Steuergesetze auf, prüft sie und zieht aus dem Ergebnis ihrer Prüfung Folgerungen. Sie entwickelt auch selbst Konzepte zur Änderung der Steuergesetze – manchmal vergeblich – und formuliert die Entwürfe der Bundesregierung zur Steuergesetzgebung. Darüber hinaus leistet sie auch Formulierungshilfe, wenn Mitglieder des Bundestages initiativ werden wollen, um 33 BVerfGE 6, 55, 80; 60, 82, 89; 116, 164, 182. 34 „Ein ‚finanzpolitisches Risiko‘ bilden“ – so K. Vogel – „weit eher Abgeordnete, die ohne Rücksicht auf verfassungsrechtliche Vorgaben und ohne ausreichende Sachkenntnis unausgereifte Steuergesetze beschließen“ (StuW 2005, 373 Fußn. 2).
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einen Gesetzentwurf aus der Mitte des Bundestages (Art. 76 Abs. 1 GG) einzubringen. Aufgrund langjähriger Übung wird dabei nicht nur Formulierungshilfe geleistet, wenn es darum geht, Vorstellungen von Abgeordneten der Regierungskoalition umzusetzen; auch die jeweilige Opposition bedient sich der Sachkunde der Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums bei der Formulierung von Steuergesetzen, um ihre Vorstellungen zu Gesetzesänderungen zu Papier zu bringen“. 35 Das darf man wohl so verstehen: Die Steuerpolitiker wissen wohl, was sie wollen; sie können es aber nicht gesetzessprachlich formulieren, durchweg wohl auch nicht systematisch einordnen. A. Uelner spricht von den Beamten der Steuerabteilung als „Hilfsarbeitern des Gesetzgebers“. Er nennt die Gesetzgebungsarbeit „politisch-dynamische Gestaltung“ und hebt sie ab von der „an Gesetz und Recht gebundenen vollziehenden Gewalt“. 36 Dass die gesetzgeberische Gestaltung an die Grundrechte, insbesondere an den Gleichheitssatz, gebunden ist (Art. 1 III GG), wird nicht erwähnt. Die Steuerpolitiker jeweils auf diese Grenze bei Bedarf hinzuweisen, ist auch eine Aufgabe der BMF-Steuerabteilung. H.-J. Pezzer drückt es so aus: „Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) führt dem Steuergesetzgeber die Feder, weil es in den Gesetzgebungsorganen nicht genügend steuerrechtlichen Sachverstand gibt. Es ist kaum vorstellbar, dass jemals ein ernst zu nehmender Gesetzentwurf zum Steuerrecht in einer Fraktion des Parlaments geboren wird, ohne dass zuvor Experten des BMF oder eines Landesfinanzministeriums Hand angelegt hätten.“ 37 Die Ministerialbeamten des höheren Dienstes in der Steuerabteilung sind überwiegend Juristen. Ihnen arbeiten allerdings auch spezialisierte Beamte des gehobenen Dienstes zu. Die in das Ministerium aufgestiegenen Beamten haben in ihrer Ausbildung für die Finanzverwaltung gelernt, was der Inhalt der Steuergesetze ist, nicht aber, was der Inhalt der Steuergesetze sein sollte. Viele von ihnen haben wohl auch nicht verinnerlicht, dass Steuerpolitik Steuerrechtspolitik sein muss, dass die Mehrheit des Parlaments nicht nach freiem Belieben, nicht einseitig nach politischer Opportunität legifizieren darf. Ob die Beamten der Steuerabteilung nur Gesetzes-Formulierungsgehilfen aufgrund von Beschlüssen und Weisungen der Steuerpolitiker sind, oder ob sie sich in Grenzen, auch selbst steuerpolitisch entfalten dürfen, oder ob sie zusammen mit der politischen Leitung des Hauses ein Team bilden, dürfte wesentlich vom Minister und seinen Staatssekre35 In: Festschrift für K. H. Friauf, 1996, S. 227. 36 (Fußn. 35), S. 226. 37 DStR 2004, 526.
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tären abhängen. Dass die Arbeit der Beamten auch unter dem Aspekt der politischen Machterhaltung gewertet wird, ist bekannt. Wenn die politische Führung und die Beamten das gleiche Parteibuch haben, erleichtert das oftmals die Zusammenarbeit. Die Finanzminister und ihre Staatssekretäre pflegen keine Steuerrechtstheoretiker, keine Steuerrechtssystematiker zu sein. Aber den Gesetzesprodukten sieht man auch weitgehend nicht an, dass die Ministerialbeamten Systematiker sind (immer vorausgesetzt, dass sie sich als Systematiker überhaupt durchsetzen könnten). Auch in ihren Veröffentlichungen pflegen die Ministerialbeamten sich nicht als Rechtssystematiker oder gar als Verfasser persönlicher Gesetzentwürfe hervorzutun. Als Förderer oder Verteidiger steuersystematischer, prinzipienorientierter Reformen haben sie sich ebenfalls nicht zu erkennen gegeben. Die Beamten der Steuerabteilung sind – anders als viele Beamte in den Finanzämtern – Spezialisten, vollgepfropft mit Spezialwissen – ohne die Breite systematischen Denkens über das Spezialgebiet hinaus. Diesem Nachteil sucht man durch eventuelle Mitwirkung anderer Referate zu begegnen. Spezialisierte Techniker, die aufgrund der Impulse von Parteien und Verbänden arbeiten, geraten leicht in Gefahr, zum Systemverderber zu werden. Die Idee, die nicht harmonisierten Vorschriften über Betriebsausgaben und Werbungskosten zu harmonisieren, ist offenbar noch niemandem gekommen. Wie weit die Steuerabteilung des BMF von Systemdenken oder Prinzipienorientierung entfernt ist, zeigt die Schrift „Unsere Steuern von A–Z“. Das Alphabet ersetzt aber das juristische System nicht. Es ist denn auch nicht anzunehmen, dass Steuerpolitiker die BMF-Steuerabteilung jemals daran gehindert hätten, den langen, ungeordneten Katalog der Einkommensteuer-Befreiungen (§ 3 EStG) sachlich zu ordnen, die §§ 4 und 9 EStG, die §§ 10 und 33 EStG aufeinander abzustimmen, oder Zahlung und Bezug von Unterhalt einheitlichen Regeln zu unterwerfen. Das unkritische, indolente Festhalten am einmal Erlernten, die Beharrungsneigung vieler Ministerialbeamter ist nicht zu übersehen. Als in den 1990er Jahren die Regierungen der ehemaligen Ostblockländer das deutsche Finanzministerium um Rechtshilfe bei der Abfassung „westlicher“ Steuergesetze baten, hatte dieses aus Eigen(em)wohl nichts zu bieten. Jedenfalls wurde der Steuerrechtsprofessor Joachim Lang um Hilfe gebeten. 38 Daraus entstand Langs Entwurf eines Steuergesetzbuches von 1993. 39 Zugunsten der BMF38 Der Auftrag an J. Lang ging auf einen Vorschlag von G. Juchum zurück (s. G. Juchum, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 392). 39 BMF-Schriftenreihe Heft 49 (1993). Dazu J. Lang: „Noch vor 15 Jahren war das internationale Ansehen der deutschen Steuergesetze und der deut-
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Steuerabteilung darf man immerhin annehmen, sie habe erkannt, dass die miserablen deutschen Steuergesetze, dass auch das „Steuerrecht von A–Z“ des Ministeriums sich nicht als Exportartikel eigne. 40 Obwohl Ministerialbeamte von der beschränkten Steuerrechtskompetenz vieler Steuerpolitiker wissen, führen sie offenbar willig und beflissen aus, was die Politiker vorgeben. Seit Jahrzehnten flickt die Ministerialbürokratie nach bestem Wissen in Steuergesetze hinein, was die Politik in Auftrag gibt. Ein systematischer Gesetzentwurf wird nicht erarbeitet, stattdessen viel Stück- und Flickwerk produziert. Offenbar ist den Spezialisten im Ministerium nicht bewusst, dass sie die kaum spezialisierten Steuerbeamten in den Finanzämtern und die Steuerberater mit ihren unsystematischen Machwerken völlig überfordern. Der frühere BMF-Referatsleiter K. Altehoefer, berichtete darüber so: „Mein Perspektivwechsel aus der Leitung verschiedener Referate im Bundesfinanzministerium an die Spitze der Oberfinanzdirektion in Freiburg hat mir bedeutende Erkenntnisse gebracht, die mir bis dahin – ich war nach meiner Finanzamtstätigkeit nahezu 22 Jahre lang in Bonn – in ihren Ausmaßen sogar nicht bewusst waren. Vor allem habe ich erkannt, dass bei der Steuergesetzgebung die Kompliziertheit des Steuerrechts in ihrer konkreten Auswirkung auf die Alltagsarbeit der Steuerbeamten total unterschätzt wird. Die Mitarbeiter in den Finanzämtern sind heute kaum noch in der Lage, das Steuerrecht in seiner Gesamtheit richtig anzuwenden, weil die ausufernde Komplexität und die ständigen Änderungen den Arbeitsaufwand extrem erhöhen. Weiterhin wurde mir deutlich, dass der Sachbearbeiter, gerade der Veranlagungssachbearbeiter, ein weites Spektrum des Steuerrechts zu erfassen hat, während ich als Referatsleiter – wenngleich auch sehr vertieft – nur ein Teilgebiet zu verantworten hatte. Im Übrigen habe ich beim Studium der verklausulierten und verschachtelten Gesetzessprache deutlich den Unterschied zu spüren bekommen, ob man nun die Entwicklung einer Gesetzgebung beratend begleitet hat
schen Finanzverwaltung so hoch, dass viele der ehemals sozialistischen Staaten die BR Deutschland um Hilfe beim Aufbau eines systematischen Steuersystems ersuchten. Allerdings war der Bundesregierung schon damals klar, dass die deutschen Steuergesetze mit ihrer Komplexität nicht mehr exportfähig waren. Somit erteilte sie mir den Auftrag, ein Mustersteuergesetzbuch für die Beratung mittel- und osteuropäischer Staaten zu verfassen, in dem die deutschen Steuergesetze auf ihre wesentlichen Grundstrukturen zurückgeführt werden sollten. Dank westlicher Beratung sind die Steuersysteme der neuen mittel- und osteuropäischen EU-Staaten im europäischen Steuerwettbewerb den westeuropäischen deutlich überlegen. Mittlerweile ist das internationale Ansehen des deutschen Steuerwesens vollkommen zerrüttet . . .“ (StuW 2005, 1). 40 A. Raupach dazu: „Schon fast rührend mutet angesichts des Zustands unseres Steuerrechts die Fürsorge des Bundesfinanzministeriums für andere auf dem Gebiet des Steuerrechts an“ (in: Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 320).
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Bundesminister der Finanzen und Steuerabteilung mit allen ihren Facetten, die eine Rolle gespielt haben, oder ob man als Außenstehender den Gesetzestext erstmals übergestülpt bekommt“. 41
Die „beratende Begleitung der Gesetzesentwicklung“ lässt eine Art „Herrschaftswissen“ entstehen; das ermöglicht es den mit der Gesetzesvorbereitung befassten Ministerialbeamten, unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes mit Kommentierungen herauszukommen, zumal in einer der zahlreichen Fachzeitschriften. Unter Finanzminister P. Steinbrück (2005–2009) erhielt die Steuergesetzgebung eine betont fiskalische Note. Für den Gesetzgeber forderte der Minister einen größeren Entscheidungsspielraum – für eine „finanzpolitische Gestaltung“ des Steuerrechts. Dieser Paradigmenwechsel führte zu einem unbekümmerten Umgang mit Prinzipien und Regeln, insbesondere zu Verletzungen des Verallgemeinerungsgebots und des Folgerichtigkeitsgebots. 42 So wurde das Steuerrecht zur Magd einer als möglichst frei gestaltbar angesehenen Finanzpolitik. 43 Abträglich ist es auch, wenn die Posten des parlamentarischen und des beamteten Staatssekretärs mit Personen besetzt werden, die steuertheoretische Neulinge ohne steuerpraktische Erfahrung sind. Dass im Bundesfinanzministerium die Steuergesetzgebung und die Steuerverwaltung organisatorisch nicht getrennt sind, hat wohl auch zur Verdrängung des Systemgedankens im Steuerrecht beigetragen. 44 So wie die Finanzgerichtsbarkeit statt den Finanzministerien den Justizministerien unterstellt worden ist, so sollte auch überdacht werden, ob die Steuergesetzgebung nicht dem Justizministerium unterstellt werden sollte, um sie dem Dunstkreis des Fiskalismus zu entziehen. Die BMF-Beamten haben die Aufgabe, den Regierungsentwurf zu begründen. Soweit der Finanzausschuss Änderungen oder Ergänzungen des Regierungsentwurfs vorschlägt, liefert die BMF-Steuerabteilung dazu ebenfalls eine Begründung. Für das Gesetz selbst – wie es schließlich verabschiedet wird – schreibt das Grundgesetz keine Begründung vor; es verbietet sie allerdings auch nicht. 45
41 Stbg. 1995, 177. 42 Dazu oben S. 1251 ff. 43 Dazu K. Tipke, DB 2008 Heft 40, Gastkommentar: Finanzpolit-Jurisprudenz des Hauses Steinbrück; J. Mössner, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 83. 44 So schon B. Knobbe-Keuk, BB 1988, 1087 li. 45 Dazu oben S. 1342 ff.
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6. Die Marginalisierung des Parlaments; Grenzen des Parlamentarismus Der Anteil des Parlaments – auch der Parlamentsmehrheit – an dem Gesetzesinhalt ist eher gering. 46 „Das Parlament ist Gesetzgeber, aber nicht Gesetzmacher“, so Hans Schneider. 47 In Anbetracht der Gesetzeshypertrophie ist es ganz ausgeschlossen, dass sich jeder Abgeordnete intensiv mit jedem Gesetz befassen kann, ganz abgesehen davon, dass ihm oft die Kompetenz fehlen wird. 48 Selbst die Mitglieder der Fachausschüsse durchschauen nicht jedes Gesetz. Nicht alle Fachausschussmitglieder sind auch Experten. Die Hauptarbeit liegt bei der Regierung, repräsentiert durch das Fachministerium. Gesteuert wird – auch die Steuergesetzgebung – durch den politischen Willen Einzelner oder kleiner Gruppen. 49 Das Gros der Abgeordneten ist fremdbestimmt, pflegt aus „Abnickern“ zu bestehen. Nach Art. 38 I GG sind die Abgeordneten zwar „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Aber in der Praxis wird die Vorschrift nicht ernst genommen. Die Abgeordneten unterliegen den Zwängen von Koalitionsvereinbarungen und Fraktionsbeschlüssen. Eloquente Staatsrechtslehrer sind – trotz des klaren Wortlauts des Art. 38 I GG – in der Lage, diese Vorschrift so zu deuten, dass sie sich an die Wirklichkeit anpasst. Das ändert aber nichts daran, dass die Mehrheitsentscheidung des Parlaments nur auf der Meinung einiger Weniger beruht, einer kleinen Minderheit jedenfalls. Da es nach Art. 42 II 1 GG auf die Mehrheit der abgegebenen Stimmen anwesender Abgeordneter ankommt, pflegen viele uninteressierte Abgeordnete bei der Schlussabstimmung zu fehlen. No taxation without representation, forderten die Amerikaner im Unabhängigkeitskampf gegen die Engländer. Das Parlament sollte in Steuersachen das Volk vertreten. Die den Regierungsparteien angehörenden Abgeordneten sehen ihre Aufgabe nicht darin, die Regierung zu kontrollieren, sondern sie gegen die Opposition zu unterstützen. Die steuerpolitische Willensbildung vollzieht sich außerhalb des Parlaments. Der Parlamentsvorbehalt der Steuergesetzgebung schützt die 46 H. H. von Arnim spricht von „faktischer Entmündigung der Volksvertreter“ (Das System, 2001, S. 270 ff.). 47 H. Schneider, Gesetzgebung3, 2002, Rz. 131. Kritisch zur wachsenden Entparlamentarisierung P. Kirchhof, Das Parlament als Mitte der Demokratie, Festschrift für P. Badura, 2004, S. 237, insb. S. 247 ff., 257 ff. 48 Zum Tätigkeits- und Anforderungsprofil von Politikern E. Wiesendahl, in: Festschrift für H. H. v. Arnim, 2004, S. 167 ff. 49 Dazu schon H. Oberreuter, Entmachtung des Bundestages durch Vorentscheider auf höchster Ebene?, in: H. Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1989, S. 121 ff.
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Grenzen des Parlamentarismus
Bürger auch nicht vor überzogenen oder unangemessen hohen Steuern. Regierungen und Parlamentarier neigen, angetrieben von der Opposition, dazu, zum Wählerstimmenfang unverantwortlich hohe Zugeständnisse zu beschließen, die hernach durch höhere Steuern oder durch Aufnahme neuer Kredite finanziert werden müssen. Durch die exzessiven Schulden wird auch die „Generationengerechtigkeit“ verletzt. Dagegen wollen die Abgeordneten sich nunmehr mit Hilfe der Verfassung (Art. 109, 109a, 115, 143d GG) schützen. Da ihre Vernunft offenbar nicht ausreicht, der Stimmenfangversuchung zu widerstehen, ist die Verfassungsergänzung ein löblicher Entschluss. In der Ethik ist anerkannt, dass gerechte Lösungen nur gefunden werden können, wenn das Verfahren der Findung fair oder gerecht ist. Man spricht auch von „Verfahrensgerechtigkeit“. Dazu gehört, dass die Gerechtigkeitssucher unparteiisch (unparteilich), nicht selbst betroffen und nicht befangen sind. 50 Für Beamte und Richter ordnet der Gesetzgeber das in den Verfahrensgesetzen auch an, für den Gesetzgeber selbst (das heißt: für die Abgeordneten) aber nicht, obwohl die Tragweite und Breitenwirkung der Gesetze doch viel größer ist als die von Einzelfallentscheidungen. Die Abgeordneten haben für sich entschieden, dass sie von einem Gesetz, an dem sie mitwirken, auch selbst betroffen oder befangen sein dürfen. Ohnehin sind die Abgeordneten i. d. R. im Wortsinn parteiisch, pflegen sie doch einer Partei anzugehören und deren Interessen zu vertreten. 51 M. E. ist aber Folgendes zu beachten: Welche besondere Stellung man Abgeordneten auch zubilligt: Einkommensteuerrechtlich sind sie natürliche Personen i. S. des § 1 EStG. In Monarchien waren das Staatsoberhaupt und hochadelige 50 S. etwa K. Baier, Der Standpunkt der Moral, 1974, S. 190 ff. (Unparteilichkeit besteht danach in Unabhängigkeit, Vorurteilslosigkeit, Leidenschaftslosigkeit, Neutralität, Intersubjektivität); Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, 1977, S. 42 („Die Gerechtigkeit verlangt immer Unparteilichkeit.“), s. auch S. 35, 59, 91, 105, 112; M. Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 59 (Unparteilichkeit ist „eine sittliche Forderung an alle Amtsinhaber, nicht nur an den Beamten und den Richter, sondern auch an den Gesetzgeber); J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 214 (Zur Unparteilichkeit gehört Vorurteilslosigkeit . . ., Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen); R. Wimmer, Universalisierung in der Ethik, 1980, S. 252 f., 235 f; O. Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 41 ff. („Das Prinzip der Unparteilichkeit“), 83 („Die Gerechtigkeit bedeutet jene strengste Forderung nach Unparteilichkeit, bei der alle eigenen, aber von den anderen verschiedenen Vorlieben, Ideale und Wertvorstellungen als Urteilskriterium ausgeschlossen sind“). 51 Anders als die britischen Kollegen schützen die deutschen Abgeordneten sich durch eine hohe Kostenpauschale vor der Versuchung, den Staat (die Steuerzahler) zu betrügen. In Großbritannien sind viele Abgeordnete dieser Versuchung erlegen.
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§ 26 Die Gesetzgebungsrealität
Standesherren oft steuerrechtlich privilegiert. Die Demokratie ist aber idealiter privilegienfeindlich. Sie kennt keine Standesvorrechte. Die Abgeordneten sind nicht die Standesherren der Demokratie. Sie sind keine übernatürlichen Personen, sondern wie andere natürliche Personen entsprechend dem Leistungsfähigkeitsprinzip zu besteuern. Ob die Tätigkeit der Abgeordneten sich von der Tätigkeit anderer Einkommensbezieher unterscheidet, ist unerheblich. Daher gilt: Was Abgeordnete für sich selbst beschließen, das müssen sie auch für andere gelten lassen. Was Abgeordnete für andere beschließen, das müssen sie auch für sich selbst gelten lassen. Beschließen Abgeordnete nur für sich einen Sondervorteil, so verletzt das den Gleichheitssatz. Abgeordnete sind „Vertreter des ganzen Volkes“ (Art. 38 I 2 GG), die dem Gemeinwohl dienen sollen, nicht einem Sonderwohl der Abgeordneten. Mit dieser Auffassung stimmen allerdings die Gründe eines Kammerbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts v. 26. 7. 2010 nicht überein. 52 Im Gesetzgebungsverfahren findet kein Diskurs statt, kein fairer Argumentationsaustausch mit dem Ziel, sich gegenseitig zu überzeugen, einen Konsens zu erreichen. Das gilt vor allem für die Plenardebatte über Gesetze. Die Einstellungen und Standpunkte sind schon vor der Plenarsitzung festgelegt. Im Plenum kommt es nicht auf die Qualität der Argumente an. Die festgelegten Parteien wollen nicht aufeinander hören, nicht voneinander lernen. Dem Fernsehpublikum wird meist nur Spiegelfechterei geboten, es werden „Scheingefechte“ abgeliefert. P. Steinbrück beklagt zu Recht, dass sich politischer Gedankenaustausch – meist handelt es sich um einen Schlagabtausch – vom Parlament in die Talkshows verlagert habe. 53 Von den Idealen der Diskurstheorie und des Rawlsschen „Schleiers der Unwissenheit“ 54 ist die Realität weit entfernt. K. Röhl/H. Röhl geben die Realität zutreffend so wieder: „Menschen handeln im Allgemeinen strategisch mit dem Ziel der Interessendurchsetzung. Konflikte gibt es überall. Die Chancen zur Teilnahme an einem relevanten Diskurs sind minimal. Wahlzettel und Stammtisch sind kein Ersatz. Gleichheit ist nicht gewährleistet. Wer Zugang zu den Medien hat, verfügt über einen Verstärker, mit dem er andere Stimmen übertönen
52 1. Kammer des II. BVerfG-Senats v. 26. 7. 2010 – 2 BvR 2227/08 u. 2 BvR 2228/08. 53 P. Steinbrück, Unterm Strich5, 2010, S. 363 f. 54 Der amerikanische Philosoph John Rawls will denen, die über Gerechtigkeit zu urteilen haben, den „Schleier der Unwissenheit“ („veil of ignorance“) vorhängen (Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S.39; s. auch ders., Gerechtigkeit als Fairneß, 1977, S. 169.
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Missbrauch des Bundesrates
kann. 55 Die Wissensbasis, die einem Diskurs erst Substanz geben könnte, wird von Experten und Organisationen verwaltet und ist in der Regel, wenn überhaupt, nur gegen Bezahlung zugänglich. Das parlamentarische Verfahren ist von der Idee einer deliberativen Politik meilenweit entfernt. Praktische Demokratie ist nur deshalb erträglich, weil es nichts Besseres gibt. Der diskurstheoretische Heiligenschein hilft der Demokratie wenig“. 56 Daraus ergibt sich: Das reale Gesetzgebungsverfahren führt nicht zu einer Steuerrechtsordnung im Sinne einer gerechten Ordnung.
7. Parteipolitischer Missbrauch des Bundesrates in der Steuergesetzgebung Die Möglichkeit, den Bundesrat als parteipolitisches Oppositionsinstrument, als Institution zur Blockade der Regierung zu nutzen, hängt von den Mehrheitsverhältnissen ab. Besteht eine große Regierungskoalition und sind die Oppositionsparteien sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat schwach, so hilft ihnen auch der Bundesrat nicht. Erfahrungsgemäß erstarken aber nach einer Bundestagswahl die Oppositionsparteien bei den folgenden Landtagswahlen. Es stellen die Oppositionsparteien des Bundestages dann mehrheitlich die Landesregierungen, und haben diese die Stimmenmehrheit im Bundesrat, so kann die im Bundestag in der Minderheit befindliche Opposition, das Ziel, Erfolge der Regierung zu verhindern, mit Hilfe des Bundesrates durchsetzen. Eine im Bundesrat starke parteipolitische Opposition kann die Regierung erfolgreich durch ihr Bundesratsveto blockieren. „Die parteipolitische Instrumentalisierung“ – so Hans Herbert v. Arnim – „hat dem Bundesrat eine neue, ihm von den Verfassungsvätern gar nicht zugedachte Rolle zugespielt, die nicht nur den Einfluss der Wähler schwächt . . ., sondern auch die bundespolitische Handlungsfähigkeit erheblich einschränken kann. Eine abweichende parteipolitische Mehrheit im Bundesrat ist leicht versucht, die Regierungsmehrheit im Bundestag mit ihrem Veto zu blockieren und auf diese Weise sozusagen an die Wand fahren zu lassen. Da der Bundesrat in den meisten Jahren in der Hand der Opposition ist . . ., haben die Blockadegefahren erheblich zugenommen. Die ‚Väter des Grundgesetzes‘ hatten im Bundesrat noch ein Widerlager gegen die Partei55 P. Kirchhof hat diese Erfahrung im Bundestagswahlkampf 2005 gemacht. Er wurde „übertönt“. Von einem fairen Austausch von Argumenten konnte keine Rede sein. 56 K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 187. – Unkritische, angepasste Staatsrechtslehrer mögen solche Darstellung der Realität schon als unziemliche Demokratiekritik empfinden.
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§ 26 Die Gesetzgebungsrealität
politik gesehen. Umso perverser ist es, dass die Parteipolitik heute auch den Bundesrat überlagert und dieser zum machtpolitisch motivierten Blockadeinstrument degeneriert . . .“ 57 „Der Föderalismus“ – so P. Kirchhof – „ist in der Verschränkung der Verantwortung, insbesondere durch die Rolle des Bundesrates, nicht mehr in der Lage, sinnvolle und praktische Ergebnisse herbeizuführen. Heute sind die Parteien, die im Bundestag die Mehrheit haben, im Bundesrat meist in der Minderheit. Dadurch ereignet sich eine parteipolitische Konfrontation, die gesetzgeberische Entscheidungen hemmt . . . Aus dem Föderalismusprinzip ist ein parteienstaatliches Prinzip geworden. Das ist Besorgnis erregend“. 58 So ist das Steuerreformvorhaben der sozialliberalen Koalition weitgehend an der starken CDU/CSU-Opposition im Bundesrat gescheitert. Finanzminister Hans Apel zog gegen seinen Opponenten Gerhard Stoltenberg und letztlich gegen den Bundesrat den Kürzeren in wichtigen Streitfragen. Dem Finanzminister Theodor Waigel erging es gegen seinen Opponenten Oskar Lafontaine nicht besser. Lafontaine organisierte – wie früher Stoltenberg – die Ablehnung der Reform oder tragender Teile der Reform im Bundesrat. Der Entwurf eines Steuervergünstigungsabbaugesetzes des Finanzministers Hans Eichel lief sich ebenfalls im Bundesrat fest – an der Mehrheit von CDU/CSU und FDP. 59 Der zähe Stellungskrieg zwischen Regierung und Opposition, das sich lange hinziehende Gefeilsche und Gezerre, das am Ende, wenn nicht in einem unbefriedigenden Kompromiss so in Blockade und Paralyse endet, schadet beträchtlich dem Ansehen der „politischen Klasse“. Appelle an die Parteien, ihre Interessen zu zügeln, haben bisher nicht gefruchtet. Wenn die Opposition nicht darauf beschränkt ist, die Regierung zu kritisieren, sondern die Möglichkeit hat, sie auszubremsen, pflegt sie davon Gebrauch zu machen, im Interesse des Parteiwohls. Mit gesamtstaatlicher Gemeinwohlverantwortung hat das nichts zu tun. Da die Politiker wissen, dass Opposition um jeden Preis, Totalopposition unpopulär ist, pflegen die Vertreter der opponierenden Partei(en) jede Obstruktionspolitik zu leugnen: Die Schuld am Scheitern des Regierungsvorhabens trage die unfähige, unnachgiebige Regierung. Wird nach Art. 77 GG der Vermittlungsausschuss angerufen, so werden Kompromisse gesucht. Aber nur zu oft wird zunächst parteitak57 H. H. v. Arnim, Das System. Die Machenschaften der Macht, 2001, S. 307 f. 58 Handelsblatt v. 21. 9. 2004 (Nr. 183/04), ders., IFSt-Schrift Nr. 362 (1998), S. 21 f. – Dazu auch M. Sachs, Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat – Entwicklungsstand und Reformbedarf, VVDStRL 58 (1999), S. 42 ff. 59 Ausführlicher dazu in diesem Band auf S. 1810.
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Qualität der Steuergesetzgebung
tisch gepokert. Bar jeder Rechtslogik, jeden Systemdenkens werden im Vermittlungsausschuss unbekümmert Verstöße gegen die Gebote der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit (s. S. 1251 ff.) produziert. Es wird zusammengeflickt, was nicht zusammengehört und nicht zusammenpasst; Vorlagen werden verstümmelt und verwässert. Es kommt zu komplizierten Mischlösungen, deren Umsetzung durch Behörden und Gerichte besonders schwierig und aufwendig ist. Zwar ist nicht jeder Kompromiss ein fauler, es ist aber auch nicht jeder Kompromiss rechtlich (rechtslogisch) akzeptabel.
8. Die Qualität der Steuergesetzgebung – gemessen an den rechtslogischen und besteuerungsmoralischen Kriterien der Steuerrechtswissenschaft 1949 äußerte der Kölner Steuerrechtslehrer Armin Spitaler: „Es ist ein übler und ärgerlicher Auswuchs der sonst in vielem so erfreulichen liberalen Denkungsart, dass sie den Gesetzgeber als albern hinstellen will. Wenn wir Gesetze durch die Auslegung wirklich ergründen wollen, so haben wir uns den Gesetzgeber, gleichgültig, welcher politischen Ära er angehört, so vernünftig, besonnen und ethisch hochstehend als nur irgend möglich vorzustellen. Ich gestehe, dass ich immer wieder – heute wie ehedem – oft von der Gedankenfülle und dem Scharfsinn der Gesetze tief beeindruckt bin“. 60 Spitalers Äußerung stammt aus dem Herbst 1949; im Mai jenes Jahres war das Grundgesetz in Kraft getreten. Konrad Adenauer gab im September 1949 seine Regierungserklärung ab. Man könnte versucht sein, A. Spitalers Äußerung aus der Aufbruchstimmung des Jahres 1949 zu erklären. Aber Spitaler äußert sich über „den Gesetzgeber, gleichgültig, welcher politischen Ära dieser angehört“. A. Spitaler liefert keine wissenschaftliche Analyse der Gesetzgebung in dem Sinne, dass er die Gesetzgebung systematisch untersucht, mit allen Komponenten oder Faktoren. Er liefert ein Bekenntnis ab, oder – wie er selbst sagt – ein Geständnis („ich gestehe“). Irgendwelche Maßstäbe für sein Urteil teilt er nicht mit. A. Spitaler ist 1963 verstorben und hat nicht mehr miterlebt, wie ab den 1970er Jahren über die Produkte des Gesetzgebers zunehmend als 60 A. Spitaler, StbJb. 1949, 267, 281. F. A. v. Hayek merkte 1980 an: „Es scheint fast eine Denkgewohnheit des Juristen zu sein, die Tatsache, dass eine gesetzgebende Körperschaft etwas beschlossen hat, als Beweis für die Weisheit dieser Entscheidung anzusehen“ (Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, 1980, S. 99). Die Feststellung gilt nicht für „den Juristen“, schon gar nicht für Steuerjuristen im 21. Jahrhundert.
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§ 26 Die Gesetzgebungsrealität
Steuerchaos, Steuerdschungel, Steuerirrgarten, Steuerwirrwarr, Steuerurwald, Steuersumpf, Perversion der Steuerrechtsordnung o. Ä. gesprochen wurde. Er würde das wohl als „üblen und ärgerlichen Auswuchs“ bezeichnet haben. A. Uelner tat die abqualifizierenden Schlagwörter 1984 als „einprägsame Bildersprache“ ab, „die ihren journalistischen Ursprung nicht verleugnen“ könne. 61 Beeindruckt hat das niemanden. Auch ein Vorsitzender Richter des Bundesfinanzhofs hielt die Bezeichnung „Steuerdschungel“ schon 1981 für eine „maßvolle Umschreibung“. 62 Im Laufe der Zeit vermehrten sich die verbalen Negativa: „unbeherrschbares Monstrum“, „Regelungslabyrinth“, „Steuerschrottberg“, „Lotterie“. Das Steuerchaos ist indessen keine deutsche Spezialität; es existiert auch in anderen parlamentarischen Demokratien. So kann man z. B. auch in der Schweiz vom Steuerdschungel lesen und vom Steuerirrgarten, in dem sich selbst Fachleute nicht mehr zurechtfinden, in den USA von „tax chaos“ und „tax jungle“ sowie vom corruptly complex tax code. Der Begriff „Steuerchaos“ ist übrigens nicht journalistischen Ursprungs. M. Mössner meint, der Verfasser habe diesen Begriff 1971 eingeführt, 63 und stellt fest: „Danach wird dies allgemeine Meinung“. 64 Solche und ähnliche Begriffe sind auch in anderen Demokratien im Umlauf. 65 Auch einzelne Gesetzesabschnitte kann man chaotisch nennen, wenn sie jede sachliche Ordnung vermissen lassen, wie z. B. der Befreiungskatalog des § 3 EStG, das Durcheinander der Verlustverrechnungsbeschränkungen, 66 der die Rechtslogik verletzende Katalog der ermäßigten Umsatzsteuersätze, den rechtslogisch zu ordnen und zu entrümpeln die Verantwortlichen aus Furcht vor den Lobbyisten offenbar nicht wagen. Dass von „Steuerchaos“ u. Ä. in der Wissenschaft gesprochen wird, lässt vermuten, dass es sich nicht bloß um emotionale Schlagworte handelt, die gern auch von der Deutschen Steuergewerkschaft und vom Steuerberaterverband gebraucht werden. Wir finden sie auch bei 61 A. Uelner, in: Raupach/Tipke/Uelner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?, 1985, S. 179. 62 K. Meßmer, BB 1981, Beilage 1 zu Heft 4, S. 3. 63 M. Imboden hat ihn auch schon 1971 für das Schweizer Steuerrecht gebraucht (Grundfragen der eidgenössischen Finanzreform, in: ders., Staat und Recht, Basel u. a. 1971, S. 511). 64 M. Mössner, Prinzipien im Steuerrecht, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 84 f. 65 S. Bd. II2, 2003, S. 575. 66 J. Hey spricht zutreffend vom Chaos geltender Verlustverrechnungsbeschränkungen.
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Qualität der Steuergesetzgebung
Vertretern der Exekutive und sogar bei Steuerpolitikern. 67 Die Parteien werfen sich gegenseitig vor, in ihrer Regierungszeit das Steuerrecht chaotisiert oder verunstaltet zu haben. In Wahrheit haben alle Parteien zum Steuerchaos beigetragen. Chaos meint Unordnung, Verworrenheit, unübersichtliches, uneinsichtiges Durcheinander. Von der Gesetzgebung kann ein Chaos verhindert werden, wenn sie systemtragenden Prinzipien und Regeln folgt und wenn diese rechtslogisch – nämlich verallgemeinernd, folgerichtig und widerspruchsfrei umgesetzt werden. Auch Steueränderungen dürfen nicht beliebig beschlossen werden, sie müssen sich rechtslogisch einpassen. 68 Es kann nicht ständig etwas anderes rechtens sein. J. Braun verlangt von der Gesetzgebung, sie solle „prinzipiengeleitete Rechtsfindung“ sein. 69 Wörtlich formuliert er: „Wenn es überhaupt so etwas wie Recht gibt, das sich von bloßer Machtausübung unterscheidet, besteht die Aufgabe des Gesetzgebers . . . darin, aus Rechtsprinzipien subsumtionsfähige Normen zu gewinnen“. 70 Er beruft sich dazu auf John Rawls, der postuliert: „Die gesetzgeberische Diskussion ist nicht als Interessenkampf vorzustellen, sondern als Versuch, das beste Vorgehen gemäß den Gerechtigkeitsgrundsätzen zu finden“. 71 So etwas kann man sich als Ideal wünschen. Die Realität sieht anders aus. Der Steuergesetzgeber vernachlässigt das System und die es tragen sollenden Prinzipien und Regeln. Unter den Steuerpolitikern und den Gehilfen des Gesetzgebers gibt es sogar System- und Prinzipienverächter. 72 Fast alle verstehen unter Gesetzgebungspragmatik das Legifizieren nach politischer Opportunität und ohne Bindung an Prinzi67 Dazu Bd. II2, 2003, S. 574 ff. mit Nachweisen in Fußn. 12 ff.; K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuer-Wirrwarr!?, 2006, S. 55 ff. m. w. N. – Mehr oder weniger ausführliche Gesetzeskritik üben auch A. Raupach und K. Tipke, in: Raupach/Tipke/Uelner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?, 1985, S. 15 ff. (Raupach), 133 ff. (Tipke); K. Vogel, Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht . . ., DStJG Bd. 12 (1989), S. 123 ff.; Chr. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland–Schweiz, 1997, S. 1 ff. („Krise der Steuergesetzgebung in Deutschland“) m. w. N. Weitere Nachweise zum Steuerchaos-Thema bei M. Mössner, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 85 f. mit Fußnotennachweisen. 68 Dazu oben S. 1272 ff. 69 J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 371 ff. 70 Fußn. 69, S. 373. 71 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 394. 72 So wird die folgende verächtliche Bemerkung des früheren Staatssekretärs im Bundesfinanzministerium Axel Nawrath zitiert: „Manche tragen steuersystematische Prinzipien wie Tätowierungen auf dem Oberarm herum“ (zitiert nach M. Mössner, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 83). Zu Naw-
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pien und Regeln. Sie möchten sich an keinerlei Rechtslogik binden lassen, meinen z. B. das Nettoprinzip erodieren zu dürfen, insbesondere auch nach fiskalischem Gutdünken Verlustverrechnungsbeschränkungen einführen zu können, nach politischer Opportunität oder aus fiskalischen Gründen Steuervergünstigungen ohne rechtlichen Maßstab einführen oder aufheben zu dürfen, die Steuergesetze beliebig ändern zu dürfen. 73 Die rechtsrationalen, rechtslogischen Gebote, die Steuerrechtswissenschaftler als Gerüst des Steuergerechtigkeitsdenkens ansehen, empfinden Steuerpolitiker eher als Störfaktoren. Vor allem das Gebot der Folgerichtigkeit stört die Politik. Einseitiger Fiskalismus führt leicht vom Weg des Rechts ab, hin zu einem: Der fiskalische Zweck heiligt alle gesetzlichen Mittel. Besteuerungswürdig ist alles, was steuerlich ergiebig ist. Steuerpolitik ist Fiskalpolitik, ist eine frei nach politischer Opportunität gestaltbare Politik wie jede andere Politik. Und jenseits des Fiskalismus nehmen Steuerpolitiker an: Gerechtfertigt sind alle Steuervorschriften, die sich zum Stimmenfang eignen – auch durch die Förderung von Sonderinteressen. Fiskalische oder polit-opportunistische Einstellung, Missachtung von rechtsrationaler Besteuerungsmoral führt nicht schon deshalb zu Steuergerechtigkeit, weil die Vorschriften des Grundgesetzes zum Gesetzgebungsverfahren beachtet werden. Das beste Mittel der „Komplexitätsreduktion“ (von der man auch im Finanzministerium spricht), wäre eine Prinzipienorientierung der Gesetzgebung. Aber davon weiß die Steuerpolitik nichts, oder sie will davon nichts wissen. F. A. v. Hayek war der Meinung: „Die Legislative soll Gesetze geben, das heißt, gute Gesetze nach wissenschaftlichen Prinzipien der Jurisprudenz konstruieren“. 74 Aber danach verfährt die (Steuer-)Gesetzgebung nicht. Bei B. Rüthers lesen wir: „Die Rechtsordnung ist geplant als ein tendenziell konsistentes, durchdachtes und widerspruchsfreies Gefüge von gesetzlichen und richterrechtlichen Wertentscheidungen“. 75 Die parlamentarische Gesetzgebung, jedenfalls die Steuergesetzgebung, geht so aber nicht vor. Weder folgt sie „wissenschaftlichen Prinzipien der Jurisprudenz“ noch plant sie konsistente, widerspruchsfreie Gesetze. So bleibt nur festzustellen: Die flüchtigen, unbeständigen Steurath kritisch auch J. Thiel, in: K. Tipke (Hrsg.), Steuerberatung im Rechtsstaat, 2010, S. 12. ff., 18 ff. (zur Gestaltungs-Steuerberatung). 73 Dass Steuergesetze auch technische Mängel haben können, steht auf einem anderen Blatt (zu technischen Mängeln des Einkommensteuergesetzes A. Raupach (Niedergang oder Neuordnung, Fußn. 67), S. 25 ff. 74 F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit Bd. 1, 1980, S. 176 oben. F. A. v. Hayek zitiert dazu Napoléon Bonaparte (S. 175). 75 B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, Rz. 752.
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Qualität der Steuergesetzgebung
ergesetze ruhen nicht auf einem steuerrechtswissenschaftlichen Fundament. 76 Sie entsprechen nicht den Kriterien der Steuerrechtswissenschaft, wie sie in Teil I dargestellt worden sind. Die Steuergesetzgebung der Gegenwart ist ohne Glanz und Größe. Von Gesetzeskultur kann keine Rede sein. Und sie kennt nichts von Dauer. Oberflächlich wird für die Legislaturperiode geplant. Aber die Planung wird beliebig umgestoßen. Soweit der Steuerpolitik oder dem Steuergesetzgeber „Konfusion statt Konzeption“ vorgeworfen wird, 77 ist zu bedenken: Steuerwissenschaftler, die sich für Gesetzgebung interessieren, pflegen zwar eine Konzeption zu haben, aber überwiegend ihre je eigene. Die Folgen: Die Systemlosigkeit, das heißt die Prinzipien- und Regellosigkeit, die Verstöße gegen Prinzipien und Regeln, die Verstöße gegen die Gebote der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit führen zum Verlust an „Rechtlichkeit“, zum Verlust des „Rechtsgedankens“ – wie K. Vogel es genannt hat, 78 zu Verstößen gegen den Gleichheitssatz zumal. Man kann auch von einem Verlust „steuerethischer Substanz“ oder an „Besteuerungsmoral“ sprechen, der die Steuermoral der Bürger negativ beeinflusst. 79 Durch den Verlust der Rechtlichkeit werden Rechtsgesinnung und Rechtsbewusstsein der Bürger abgebaut statt gefördert und gefestigt. „Wer mit dem Steuerrecht nach Belieben verfährt, liefert es dem Lobbyismus hilflos aus“. 80 Gesetze ohne Prinzipien und Regeln erschweren die Übersichtlichkeit und Einsichtigkeit, kurz: das Verständnis. Darunter leidet die Anwendbarkeit, aber auch schon die Lehr- und Lernbarkeit. Durch die Masse des ungeordneten Stoffes und die permanenten Änderungen wird der Stoff unbeherrschbar und zwingt zur Spezialisierung, zumal der Gesetzesflut die Flut der Verwaltungsvorschriften folgt. Die Kompliziertheit und der Problemhaushalt nehmen zu, die Rechts- und Planungssicherheit nimmt ab. Die Bürger und ihre Berater, aber auch die wenig spezialisierten Finanzämter werden überfordert. Da die Veranlagungen wegen der Periodizität der großen Steuern innerhalb bestimmter Zeit abgewickelt werden müssen, wird die Gleichmäßigkeit der Besteuerung und damit die Steuergerechtigkeit verunmöglicht. Soweit die Steuererklärungen überhaupt noch geprüft (nicht bloß „durchgewunken“) werden, führt der Zeitdruck zu einer hohen 76 S. auch schon K. Tipke, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 44 ff. („Steuergesetzgebung ohne Wissenschaft“). 77 So von P. Bareis, Konfusion statt Konzeption – die gegenwärtige Steuerpolitik, in: Festschrift für Manfred Rose, 2003, S. 441 ff. 78 DStJG Bd. 12 (1989), S. 123 ff. 79 Dazu K. Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000, S. 58 ff., 89 ff. 80 M. Schäfers, FAZ v. 7. 5. 2011, S. 11 re.
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Fehlerquote der Veranlagung und zu einer Flut von Einsprüchen. 81 Den Steuerbürgern leuchtet u. a. nicht ein, dass jährlich, wenn nicht in noch kürzerer Zeit, etwas anderes steuergerecht sein soll. 82 Betroffen von den beschriebenen Qualitätsmängeln der Gesetze sind auch die Gesetzeskommentatoren sowie die Steuerrecht Lehrenden und Lernenden. Die großen Kommentare können nicht „aus einem Guss“ sein, da sie von vielen Spezialisten geschrieben werden. 83 Im Vorwort zur 19. Auflage des von Ludwig Schmidt herausgegebenen Einkommensteuerkommentars – das ist ein Kommentar von „nur“ acht Finanzrichtern – wird eine assoziative Beziehung zwischen dem Grimmschen Märchen „von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ und den Kommentatoren hergestellt, die das Fürchten oder Gruseln vor der ständigen Gesetzesänderungsproduktion lernen. Dass Steuerberater eine schwere Last und Verantwortung tragen, hatte der nordrhein-westfälische Finanzminister Hans Wertz vor Steuerberatern schon Ende der 1960er Jahre eingeräumt. Bei den Steuerberatern liegt inzwischen tatsächlich die Hauptverantwortung für die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (s. S. 1448 ff.). Da die Misere der Steuergesetze auch eine Misere der von den Steuergesetzen abhängigen Steuerstrafjustiz zur Folge hat, wird auch diese negativ beeinflusst. An ungerechte Steuergesetze lassen sich keine gerechten Strafen knüpfen. 84 Die durch den Steuerwirrwarr, das Steuerlabyrinth entstehende Ressourcenverschwendung ist enorm. Die Steuerpolitik lehnt es aber ab, die Vereinfachung durch Prinzipien und Regeln zu nutzen. Diese vereinfachende Wirkung hatte schon Immanuel Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ hervorgehoben mit den Worten: „Es ist ein alter Wunsch, der, wer weiß wie spät, vielleicht einmal in Erfüllung gehen wird, dass man doch einmal statt der endlosen Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze ihre Prinzipien aufsuchen möge, denn darin kann allein das Geheimnis bestehen, die Gesetzgebung, wie man sagt, zu simplifizieren“. 85 Nur, dem „alten Wunsch“ der für die Steuergesetze 81 Ausführlicher wird die Belastung der Finanzämter mit ihren Folgen auf S. 1453 ff. behandelt. 82 Über die Folgen der Systemlosigkeit auch K.-D. Drüen, in: Festschrift für W. Spindler, 2011, S. 48 ff. 83 Beispiele: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Komm. zur AO/FGO, Loseblatt, 15 Ordner, 21 400 Seiten, etwa 50 Autoren; Herrmann/Heuer/Raupach, Komm. zum EStG/KStG, Loseblatt, 17 264 Seiten in 10 Ordnern. 84 Dazu K. Tipke, Über Abhängigkeiten des Steuerstrafrechts vom Steuerrecht, in: Festschrift für G. Kohlmann, 2003, S. 555 ff. 85 Kants Werke, Akademie-Textausgabe Bd. III, 1787, S. 239. Ganz im Sinne Kants argumentiert F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, Wien/New York 1996; dort ist auf S. 33 in Fußn. 41 auf die 1. Aufl. meiner „Steuerrechtsordnung“ hingewiesen worden.
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noch immer unerfüllt ist, steht die „Stimmenfang-Steuerpolitik“ im Wege. Sie hat ein so großes Gewicht, dass unsere Parteien auch auf Kant, würde er heute leben, nicht hören würden. Sie nehmen die beschriebenen rechtlichen und tatsächlichen Folgen ihrer Steuerpolitik und Steuergesetzgebung in Kauf. Nicht nur sind viele Polit-Pragmatiker steuerrechtstheoretisch unterbelichtet, sie möchten ihre opportune Politik durch Rechtslogik und Rechtsrationalität nicht einengen lassen. Ausführlicher sind die Vorteile der Prinzipienhaftigkeit und die Nachteile der Prinzipienlosigkeit dargestellt in Bd. 1 (2000) auf S. 88 ff. Im Jahr 2000 äußert sich der Präsident des Bundesverfassungsgerichts H.-J. Papier zum Zustand der Steuergesetzgebung und der Steuergesetze so: „Von den verfassungsrechtlichen (und verfassungspolitischen) Forderungen hat sich die Gesetzgebungspraxis weit entfernt . . . In der Flut von z. T. hektisch zusammengezimmerten Gesetzen, von Ausnahme-, Änderungs- bzw. Artikelgesetzen sind die Steuernischen nicht selten immer zahlreicher geworden. Immer zahlreicher werden aber auch die Reaktionen des Gesetzgebers durch den Erlass weiterer Detailvorschriften . . . Ein Dickicht von steuerermäßigenden Spezialnormen soll Steuerlasten vor dem Unerträglichen bewahren. Die Folge ist ein im Grunde unvollziehbar gewordener Normenüberhang, der die gesetzesausführende Verwaltung gegebenenfalls zwingen kann, bestehende Gesetze und Rechtsverordnungen nur noch zum Teil anzuwenden. Die Verwaltung nimmt dann Zuflucht zu einem ‚pragmatischen Verfassungsverstoß‘, sie muss nicht selten die Verfassungsgrundsätze der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung hinten anstellen. Salopp formuliert: Niemand weiß eigentlich noch, was geltendes Recht ist. Steuerrecht ist als Lotterie bezeichnet worden. Angesichts dieses Befundes, aber auch wegen des Ausmaßes der Grenzbelastung und der Steuerprogression haben sich in den letzten Jahren die Fülle steigender Steuerwiderstände vermehrt. Die Steuerbürger haben in steigendem Maße ein paralegales Widerstandsrecht gegen den Steuerstaat usurpiert. Viele sind zu stillen Kämpfern einer ‚heimlichen Steuerrevolte‘ geworden, denen die derzeitige Besteuerung der Arbeitseinkommen wie ein Joch moderner Zwangsarbeit vorkommt. Die Besteuerung der Bürger ist zunehmend zu einer Besteuerung nach – bewusster oder unbewusster – Teil- und Fehlanwendung geltenden Rechts geworden, vielfach sogar zu einer Besteuerung allein nach Wahl und Bestimmung des Pflichtigen. Unter solchen Umständen werden Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der steuerlichen (Gesamt-)Belastungen, aber auch das Verfassungsgebot, bestehende Steuergesetze gegen jedermann gleichmäßig anzuwenden, nicht mehr hinreichend gewahrt . . .“ 86
Der ehemalige Präsident des Bundesfinanzhofs Wolfgang Spindler beklagt, das Steuerrecht sei so unsystematisch und kompliziert gewor-
86 H.-J. Papier, in: Festschrift für K. Vogel, 2000, S. 117, 120 f.
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§ 26 Die Gesetzgebungsrealität
den, dass auch Fachleute keinen zuverlässigen Überblick mehr haben könnten. 87 Zutreffend stellt H.-J. Papier fest: „Es ist indes derzeit kein Feld der Politik ersichtlich, bei dem eine vergleichbar große Diskrepanz besteht zwischen dem, was – seit Jahren – für richtig und notwendig erkannt ist und dem, was tatsächlich geschieht und in absehbarer Zeit geschehen wird, wie in der deutschen Steuergesetzgebungspolitik. Das wird zwangsläufig vielerorts die Erwartung wecken, dann werde das Bundesverfassungsgericht eingreifen und mit seinen für eine grundlegende Strukturreform wenig geeigneten Möglichkeiten die Rolle eines Ersatzgesetzgebers übernehmen müssen“. 88 Und realistisch fährt er an anderer Stelle fort: „. . . wirkliche Abhilfe und Umkehr sind indes in der deutschen Gesetzgebungspolitik weit und breit nicht ersichtlich“. 89 Es verwundert immer wieder, dass der Bundesfinanzminister oder andere mit der Steuergesetzgebung befassten Politiker und Beamten die zitierte Kritik widerspruchslos hinnehmen. Auch auf K. Vogels Beitrag „Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht . . .“ 90 hat kein Adressat reagiert. Man hält das wohl auch nicht für nötig, man hat doch die Macht. Es bleibt aber auch immer die später noch zu erörternde Frage: Sind die beschriebenen Abläufe für eine Parteien- und Verbändedemokratie nicht normal? Und könne nicht nur das Verfassungsgericht diese Abläufe rechtslogisch restringieren? Wenn nicht das Verfassungsgericht, welche Institution denn dann? Der „Freidenker“ gebliebene, mutige Ministerialbeamte Helmut Helsper sieht es so: Unser Steuerwesen bewegt sich „Schritt für Schritt auf die faktische Geltung des Satzes zu: ‚Die Ehrlichen und Gutwilligen und Wehrlosen sind die Dummen!‘ Der Staat stellt seine Bürger vor die Wahl, ‚ehrbar und töricht oder unehrlich und klug zu sein‘“. 91 Er war allerdings nicht praktisch mit der Vorbereitung von Gesetzen befasst. Auch die Steuerchaos- und Steuerwirrwarr-Kritik 92 hat die für die Steuergesetzgebung Verantwortlichen schon bald nicht mehr auf87 W. Spindler, in: Festschrift für H. D. Solms, 2006, S. 53; auch Stbg. 2006, 1; s. auch ders., Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht 2009/2010, S. 21 ff. 88 H.-J. Papier (Fußn. 86), S. 118. 89 H.-J. Papier (Fußn. 86) S. 121. 90 DStJG Bd. 12 (1989), 123 ff. 91 H. Helsper, Wege für Beweger im Steuerwesen, 2001, S. 90. 92 W. Dann, Steuerchaos in Deutschland, StB 1993, 244; J. Pinne, Steuerchaos und kein Ende, Stbg. 1993, 481; J. Lang, Wege aus dem Steuerchaos, Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 309; H. Helsper, Die Chaotisierung der
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Qualität der Steuergesetzgebung
geregt. Eine Ausnahme ist jedoch zu erwähnen: Auf die Kritik eines Steuerrechtslehrers 93 am „Elend der Steuererklärung“ erwiderte der für die Steuergesetzgebung verantwortliche beamtete Staatssekretär Axel Nawrath: „Das Steuerrecht ist einfacher als der Professor denkt“. 94 Dazu muss man wissen: Der Professor (aus Köln) hat sich bereits seit Jahrzehnten praktisch und wissenschaftlich mit dem Steuerrecht befasst und ist der Alleinverfasser des Entwurfs eines Steuergesetzbuches (s. S. 1830 ff.). Der beamtete Staatssekretär war ein unter Steuerjuristen unbekannter Steuerneuling. Dass die für die Steuerpolitik und die Steuergesetzgebung Verantwortlichen eine Steuerrechtsordnung im hier dargestellten Sinne anstreben, ist nicht zu erkennen. Eher entfernen sie sich weiter von diesem Ziel. Zweifellos wissen sie um ihre Bindung an den Gleichheitssatz als „zentralen Prüfungsmaßstab“ (R. Wernsmann); nur möchten sie ihn durch Berufung auf einen sehr weiten (wie weiten?) Beurteilungsspielraum möglichst minimalisieren und es u. U. auf einen ohnehin für den Staat weitgehend risikolosen 95 Verfassungsprozess ankommen lassen. Unsere Moralphilosophen sind offenbar nicht in der Lage, sich in die deutschen Steuergesetze einzuarbeiten. Daher kann „Steuergerechtigkeit“, „Besteuerungs- und Steuermoral“ für sie auch nicht zum Thema werden.
Steuerrechtsordnung, BB 1996, 2326; Baron/Handschuh (Hrsg.), Wege aus dem Steuerchaos, 1996; M. Jachmann, Wider das Steuerchaos, 1998. 93 J. Lang, DIE ZEIT v. 19. 7. 2007. 94 DIE ZEIT v. 6. 8. 2007 („Das Steuerrecht ist einfacher als der Professor denkt“). 95 Dazu R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 22 Rz. 287 m. w. N.
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Teil III Die Steuerverwaltungsbehörden als Mitgestalter der Steuerrechtslage § 27 Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung – Ideal und Realität 1. Vorbemerkung zur Steuervollzugsterminologie . . . . . 1403 ..
2. Über Ideal und Realität des Steuervollzugs. . . . . . . . . . 1404 ..
Literatur K. Tipke, Gleichmäßigkeit der Steuerrechtsanwendung. Ein Postulat im Interesse der Solidargemeinschaft der Steuerzahler, in: H. Vogelgesang (Hrsg.), Perspektiven der Finanzverwaltung, 1992, S. 95 ff.; R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999; D. Birk, Das Gebot des gleichmäßigen Gesetzesvollzugs und dessen Sanktionierung, StuW 2004, 277 ff.; S. MüllerFranken, Maßvolles Verwalten. Effiziente Verwaltung im System exekutiver Handlungsmaßstäbe am Beispiel des maßvollen Gesetzesvollzugs im Steuerrecht, 2004; G. Kirchhof, Erfüllungspflichten im Lohnsteuerverfahren, 2005; Der Präsident des Bundesrechnungshofes, Probleme beim Vollzug der Steuergesetze, 2006; E. Huber/R. Seer, Steuerverwaltung, im 21. Jahrhundert. Risikomanagement und Compliance, StuW 2007, 355 ff.; H.-J. Pezzer, Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs in der Steuerrechtsordnung, StuW 2007, 101 ff.; W. Widmann (Hrsg.), Steuervollzug im Rechtsstaat, DStJG Bd. 31 (2008), mit Beiträgen von R. Seer, E. Schmidt, K. Schleicher, M. Schmitt, C. Staringer, K.-D. Drüen, M. Loose, R. Rüsken, K. Randt; 37. Berliner Steuergespräch: Kooperationsformen im Besteuerungsverfahren mit Beiträgen insb. von K.-D. Drüen und W. Spindler, FR 2011, 101 ff.; R. Seer, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 108, Aktualisierung April 2011 – Kommentare zur Abgabenordnung, insbesondere zu §§ 85, 88 AO. Reformliteratur ist auf S. 1474 nachgewiesen.
1. Vorbemerkung zur Steuervollzugsterminologie Das Grundgesetz nennt die Verwaltungsbehörden „vollziehende Gewalt“ (Art. 1 III GG). Auch in Länderverfassungen finden wir diesen Begriff. Die „vollziehende Gewalt“ ist Teil der „staatlichen Gewalt“ (Art. 1 I GG). Den Verwaltungsbehörden obliegt die „Ausführung“ oder der „Vollzug“ der Gesetze. In Art. 83 ff. GG wird von „Ausführung“ der Gesetze gesprochen, in Art. 85 III GG von „Vollzug der Weisung“. Art. 108 IV GG verwendet den Begriff „Vollzug der Steuergesetze“, spricht auch von „Verwaltung der Steuern“. Die Abgaben1403
§ 27 Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung
ordnung kennt diesen Begriff nicht. Nach der Abgabenordnung werden aber Verwaltungsakte vollzogen. Ihre Vollziehung kann ausgesetzt werden (§ 361 AO). Das Strafrecht kennt den Begriff „Strafvollzug“ oder „Vollziehung der Strafe“ – vorgenommen im Anschluss an die Festsetzung der Strafe. Der Sprachgebrauch der Steuerjuristen erfasst durch den Begriff „Steuervollzug/Steuervollstreckung“ nicht nur den Vollzug von Verwaltungsakten, sondern vor allem den Vollzug der Steuergesetze durch das Besteuerungsverfahren und die Steuerfestsetzung, meint also die Steuergesetzesausführung. Der Steuervollzug ist Steuerverwaltung. Der Begriff „Gesetzesverwaltung“ ist indessen ungebräuchlich. Man spricht aber auch von „Umsetzung“ des materiellen Rechts. Der Begriff „Steuervollzug“ statt „Steuergesetzesvollzug“ hat sich in der Steuerjuristensprache vor allem im letzten Jahrzehnt mehr und mehr durchgesetzt. Er ist kurz und griffig, was sich besonders bei Wortzusammensetzungen bewährt, wie z. B. „Vollzugsdefizit“, „Vollzugsmängel“, „Vollzugseffizienz“, „Vollzugslücke“, „Vollzugshemmnis“.
2. Über Ideal und Realität des Steuervollzugs Die Steuerverwaltung gestaltet durch Art und Intensität des Steuervollzugs die Steuerrechtslage mit. Erst die Vollzugsrealität bestimmt vor allem durch „allgemeine Verwaltungsvorschriften“ (man könnte auch sagen: „allgemeine Vollziehungs- oder Vollzugsvorschriften“) die wirkliche Rechtslage – jedenfalls so lange die Verwaltungsvorschriften nicht BFH-Urteilen weichen müssen. Dem Verfassungsideal der Besteuerung entspricht ein gesetzmäßiger, gleichmäßiger Steuervollzug. § 85 AO greift diese Ideale auf. Nach dem rechtsstaatlichen Ideal muss der Steuerbeamte Steuerrechtspfleger sein, nicht Fiskalist. 1 Aber wird das Ideal – über das Verbale hinaus – im Steuervollzug auch praktiziert? Da der Steuervollzug Freiheitseingriffe erforderlich macht, bedarf er gesetzlicher Grundlagen. Die Steuerverwaltung muss eine gesetzmäßige sein. Das ist theoretisch unstreitig. Verwaltungsvorschriften müssen gesetzeskonform sein (s. unten S. 1434). Gesetze können Vollzugs1 Dazu R. Seer, Der Finanzbeamte – Fiskalist oder „Steuerrechtspfleger“?, StStud. 1999, 294 ff. In der Geschäftsordnung für die Finanzämter heißt es nunmehr: „Das Finanzamt ist ein dem Gemeinwohl verpflichteter Dienstleister. Die Beschäftigten nehmen ihre Aufgaben höflich und mit Verständnis für die Belange der Bürgerinnen und Bürger wahr und erledigen deren Anliegen sachgerecht und zügig. Sie erteilen verständliche Auskunft und gewähren notwendige Hilfe . . .“.
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Ideal und Realität des Steuervollzugs
lücken enthalten oder Vollzugshemmnisse schaffen. Auch Verwaltungsvorschriften können den gesetzmäßigen Vollzug behindern. Die Notwendigkeit gleichmäßiger Besteuerung ergibt sich aus dem Gleichheitssatz (Art. 3 GG). Konkretisierend lässt sich aus dem Gleichheitssatz ableiten, dass auch für den Steuervollzug oder das Besteuerungsverfahren die Gebote der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit gelten müssen. 2 Ungleichmäßigkeiten können sich insbesondere durch unterschiedliche Vollzugstechniken ergeben, so aus den Effizienzunterschieden des Veranlagungsverfahrens einerseits und des Quellenabzugsverfahrens andererseits. Ein kurzer Rückblick zeigt: Der Gleichheitssatz, die gleichmäßige Ermittlung und Festsetzung der Steuer wurde in § 204 AO 1919/1931 – der Aufgabennorm des § 85 AO 1977 vergleichbar – noch nicht erwähnt. Der Gleichheitssatz der Weimarer Verfassung (Art. 109) wurde für Gesetzgebung und Verwaltung nicht als verbindlich angesehen. Auch praktisch ging es nur darum, den Bedarf der Staatskasse zu decken, nicht um Gleichbelastung der Steuerpflichtigen. § 205 AO 1919/1931 bestimmte: „Das Finanzamt hat die Steuererklärungen (§ 168) zu prüfen. Soweit nötig hat es tunlichst durch schriftliche Aufforderung zu veranlassen, dass Lücken ergänzt und Zweifel beseitigt werden. Trägt das Finanzamt Bedenken gegen die Richtigkeit der Erklärung, so hat es, wenn nötig, 3 Ermittlungen vorzunehmen, es kann den Steuerpflichtigen, falls eine Aufforderung zur schriftlichen Erklärung nicht angezeigt ist oder keinen Erfolg hat, vorladen und ihn zu weiteren Nachweisungen anhalten . . .“
Die Mittel oder Befugnisse, die die Reichsabgabenordnung 1919/1931 den Finanzämtern zur Verfügung stellte, waren ziemlich ineffizient – sie waren lückenhaft oder für die Aufklärung gar hinderlich. Das hatte historische Gründe, nämlich solche, die die Einstellung zur Steuer betrafen. Obwohl der Schöpfer des Entwurfs der Reichsabgabenordnung von 1919, Enno Becker, ein notorischer Apologet gleichmäßiger Besteuerung war, musste er doch Rücksicht nehmen auf den Zeitgeist, der vor dem Ersten Weltkrieg, aber auch noch 1919 und danach bestand. Vor 1919 waren die Einkommensteuererklärungen im Wesentlichen „Selbstbekenntnisse“ oder „Selbsteinschätzungen“. Kontrollen wurden, wenn überhaupt, so nur oberflächlich durchgeführt. Die Betriebsprüfung war weithin unbekannt. 4 So war es nicht verwunderlich, dass nach Inkrafttreten der Reichsabgabenordnung von 1919 2 Dazu oben S. 1251 ff. 3 Der Kursivdruck wurde vom Verfasser veranlasst. – In dem „wenn nötig“ steckt auch die Möglichkeit der Rücksichtnahme auf das Kontrollbedürfnis. 4 Näher dazu Bd. III, 1. Aufl., S. 1198 f. („Lehren aus der Besteuerungsgeschichte“).
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scharfe Kritik gegen sie aufkam. So wurde beklagt: Die Besteuerungsbefugnisse der Abgabenordnung könne man überschreiben mit „Hände hoch, lasst Euch revidieren!“ Man sprach von „Finanzmilitarismus“ und von „unerträglicher steuerlicher Nacktkultur“. 5 Das Grundgesetz von 1949 ordnete durch Art. 1 III GG an: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Damit war auch das Gleichheits-Grundrecht (Art. 3 GG) verbindlich, und zwar verbindlich auch für den Steuergesetzesvollzug. Dementsprechend nahm § 85 AO 1977 in den Auftrag (die Aufgabe) der Finanzverwaltung auch das Gebot der gleichmäßigen Festsetzung und Erhebung der Steuern auf. Schon in den 1950er und 1960er Jahren war die Stoffmasse der Steuergesetze ständig erweitert und auch ständig geändert worden. Aus diesem Grunde klafften Vollzugsauftrag und Vollzugsmöglichkeiten des vorhandenen Personals zunehmend auseinander, stellte sich schon früh die Frage, wie sich die Schere schließen lasse. Im Rechtsstaat sollte die Wirklichkeit an das Recht angepasst werden, nicht das Recht an die Wirklichkeit. Auch Gesetzesvereinfachung und Personalvermehrung wären in Betracht gekommen. Da realistischerweise mit beidem nicht gerechnet werden konnte, dogmatisierte J. Isensee 6 eine Notkompetenz zur verkürzten Durchführung des Normprogramms, ein Recht zu „brauchbarer Illegalität“ herbei. Seine Dogmatik fand aber zu Recht keinen Beifall. 7 Ein Staat, dessen Gesetzgeber die Steuergesetze gegen alle Gebote der Rechtslogik 8 immer weiter kompliziert, das zur Gesetzeseinsetzung benötigte Personal aber eher vermindert als vermehrt, befindet sich nicht in einem Vollzugsnotstand. Dass die Steuerverwaltung weder den Gesetzeszustand noch die Personalnot zu verantworten hat, ist rechtlich unerheblich. Verantwortlich ist der Staat. Unerheblich ist auch, dass Bundesgesetze von Ländern auszuführen sind.
5 Nachweise dazu in K. Tipke, Steuerliche Betriebsprüfung im Rechtsstaat, 1968, S. 9.; s. dort auch S. 27 ff. 6 J. Isensee, Die typisierende Verwaltung. Gesetzesvollzug im Massenverfahren am Beispiel der typisierenden Betrachtungsweise des Steuerrechts, 1976; s. auch schon ders. StuW 1973, 199; s. auch H. W. Arndt, Praktikabilität und Effizienz. Zur Problematik gesetzesvereinfachenden Verwaltungsvollzuges und der „Effektuierung“ subjektiver Rechte, 1983. 7 H. Söhn gibt den Standpunkt J. Isensees ausführlich wieder und lehnt ihn ab, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur AO/FGO, Loseblatt (Lfg. 206, März 2010, § 88 AO Rz. 192). Isensee ablehnend auch S. MüllerFranken, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 117 ff. 8 Dazu oben S. 1251 ff.
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Schon 1982 beschrieb J. Jenetzky eindrucksvoll die „Misere der Steuerverwaltung“. 9 Er sah die Ursachen der Überlastung der Finanzämter in wachsenden Steuerfallzahlen und in der Expansion des Steuerrechtsstoffes. Trotz intensiver Schulung, so J. Jenetzky – und strenger Auslese der Gesetzesanwender – könne der Stoff nur noch partiell beherrscht werden. Die volle Beherrschung gehe über die mentale Kapazität eines Sachbearbeiters im Finanzamt hinaus. In dieser Not sähen sich die Sachbearbeiter gezwungen, den Gesetzesstoff zu verkürzen und den Anwendungsvorgang zu vereinfachen. Sie müssten die Gesetze verbiegen und umbilden, unpraktikable Paragraphen außer Acht lassen, u. U. müssten sie eigenmächtig typisieren und einzelne Steuerpflichtige begünstigen.
Wie die Verwaltungsvorschriften zu den Paragraphen 85, 88 AO zeigen, erwarten die Oberbehörden vor allem, dass die Aufklärungsintensität an der steuerlichen Bedeutung, am steuerlichen Erfolg ausgerichtet wird. An die Stelle gleichmäßiger Besteuerung tritt so das fiskalische oder fiskalistische Prinzip. Die Vernachlässigung der Kontrolle der Zinseinkünfte hatte seine Ursache allerdings im Bankenerlass von 1949, der später durch § 30 aAO legalisiert wurde. Die konservative Regierung erklärte seinerzeit dazu, sie wolle keine „Steuerschnüffelei“, keine „gläsernen Bürger“. Die Minorität der Steuerehrlichen gehörte, was die Zinseinkünfte betraf, zum Kreis der Dummen. Ein höherer Finanzbeamter, der nicht zu den Dummen gehören wollte, verlor seinen Prozess beim Finanzgericht und beim Bundesfinanzhof mit der Begründung: Der Kläger sei gesetzmäßig besteuert worden. Wie andere Bürger besteuert worden seien, gehe ihn nichts an, verletze ihn nicht in seinen Rechten. Gleichheit im Unrecht könne nicht verlangt werden. Mit seiner Verfassungsbeschwerde hatte der Beamte aber Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht entschied: 10 Der Gleichheitssatz verlange für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet würden. In dem von den Grundsätzen der Gleichheit und Gesetzmäßigkeit geprägten Steuerschuldverhältnis entspreche der Pflicht des Steuerschuldners zur gesetzmäßigen Steuerzahlung die Pflicht des Gläubigers zu gesetzmäßiger Steuererhebung. Im Rahmen der gewaltenteilenden Verfassungsordnung regele der Gesetzgeber den Maßstab der gleichen Lastenzuteilung und verpflichte die mit dem Vollzug des Gesetzes beauftragte Finanzverwaltung, die Besteuerungsvorgaben in strikter Legalität umzusetzen und so Belastungsgleichheit zu gewährleisten. Art. 3 Abs. 1 GG verbiete eine Regelung der Steuererklärung, welche die Gleichheit des Belastungserfolgs prinzipiell verfehle. Daraus folge, dass das materielle Steuergesetz in ein normatives Umfeld eingebettet sein müsse, welches die Gleichheit der Steuerbelastung hinsichtlich des tatsächlichen Erfolges prinzipiell gewährleiste. Die steuerliche Lastengleichheit fordere mithin, dass das materielle Steuergesetz die Gewähr einer regelmäßigen Durchsetzbarkeit so weit wie möglich in sich selbst trage. Der Gesetzgeber habe 9 J. Jenetzky, StuW 1982, 273 ff. 10 BVerfGE 84, 239, 268 ff., BStBl. 1991 II, 654, 664 ff.
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§ 27 Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung demgemäß die Besteuerungstatbestände und die ihnen entsprechenden Erhebungsregelungen aufeinander abzustimmen. Führten Erhebungsregelungen dazu, dass ein gleichmäßiger Belastungserfolg prinzipiell verfehlt werde, könne die materielle Rechtsnorm nicht mehr gewährleisten, dass die Steuerpflichtigen nach Maßgabe gleicher Lastenzuteilung belastet würden; sie wäre dann gerade umgekehrt Anknüpfungspunkt für eine gleichheitswidrige Lastenverteilung. Eine Steuerbelastung, die nahezu allein auf der Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen beruhe, weil die Erhebungsregelungen Kontrollen der Steuererklärungen weitgehend ausschließen, treffe nicht mehr alle und verfehle damit die Lastengleichheit. Der Gesetzgeber müsse die Steuerehrlichkeit deshalb durch hinreichende, die steuerliche Belastungsgleichheit gewährleistende Kontrollmöglichkeiten abstützen. Im Veranlagungsverfahren bedürfe das Deklarationsprinzip der Ergänzung durch das Verifikationsprinzip. 11
Damit war die „gleichmäßige Besteuerung“ wieder auf dem Tapet. Es genügt danach nicht, dass das materielle Steuergesetz dem Gleichheitssatz entspricht; auch ein gleichmäßiger Steuervollzug ist erforderlich, wenn gleiche Steuerbelastung erreicht werden soll. Andererseits: Gleichheitsverstöße im materiellen Steuergesetz werden nicht dadurch geheilt, dass ein solches Gesetz gleichmäßig angewendet wird. 12 Das Verfassungsgericht verwendet das Fremdwort „verifizieren“. Das sagt nichts darüber aus, mit welchem Grad von Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit ein Sachverhalt verifiziert werden muss. Das hängt m. E. vom Aufklärungs- oder Kontrollbedürfnis ab. 13 Der Gesetzgeber erkannte seinerzeit das Grundsätzliche, zu Verallgemeinernde am BVerfG-Urteil nicht. Er führte zwar – um dem Verfassungsgericht im entschiedenen Fall zu genügen – eine nicht abgeltende Zinsabschlagsteuer von grundsätzlich 30 Prozent ein, kümmerte sich um andere gesetzliche Vollzugsmängel aber weiterhin nicht. Mit der erzbergischen Reichssteuerreform von 1920 wurde auch ein abgeltender Lohnsteuerabzug von 10 Prozent eingeführt, bei höheren Einnahmen wurden die Abzugsbeträge nach der Lohnhöhe gestaffelt. Im Steuerausschuss der Nationalversammlung war der Lohnabzug damit begründet worden, dass der Staat zu einem frühen Zeitpunkt regelmäßig Steuern vereinnahmen könne. Die Arbeitnehmer könnten leichter wirtschaften, weil sie nicht nach Ablauf des Jahres eine hohe Steuerforderung zu begleichen hätten. Rücklagen für Steuerzwecke würden entbehrlich. Vollstreckungsverfahren würden reduziert, Steu11 Das Verfassungsgericht sah das Hemmnis für den gleichmäßigen Vollzug hauptsächlich im Bankenerlass, später § 30a AO, überschrieben mit „Schutz der Bankkunden“. 12 Hinweis auch auf R. Seer, DStJG Bd. 31 (208), 7 („Reziprozität zwischen Norm und Vollzug“). 13 Hinweis auch auf P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch-Entwurf, 2011, § 16 III 3: „Weitere Ermittlungen bestimmen sich nach dem Aufklärungsbedürfnis.“
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Ideal und Realität des Steuervollzugs
erbetrug werde praktisch ausgeschlossen. Vermieden werde der Umweg, den Steuerpflichtigen zuerst den gesamten Lohn auszubezahlen, um später einen Teil als Steuer zu fordern. 14 Im Vordergrund stand aber immer die Sicherung des Arbeitnehmer-Steueraufkommens und die Entlastung der Steuerverwaltung zu Lasten der Arbeitgeber, nicht die Gleichmäßigkeit der Besteuerung im Verhältnis zu den Veranlagten. Wie schon angesprochen: Das Gebot der Verallgemeinerung verlangt, dass die Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht isoliert am Veranlagungsverfahren oder allein am Quellenabzugsverfahren gemessen wird. Vielmehr muss auch untersucht werden, ob und inwieweit das Veranlagungsverfahren und das Quellenabzugsverfahren unterschiedlich vollzugsintensiv sind und unterschiedliche Belastungserfolge herbeiführen – mit unterschiedlichen Divergenzen zwischen Soll und Ist. 2008 wurden in Deutschland 204 615 Mio. Euro an Einkommensteuer erhoben. Davon wurden aber nur 32 685 Mio. Euro veranlagt. Bedeutend höher waren die Summen, die durch Quellensteuern hereingeholt wurden, nämlich 141 896 Mio. Euro an Lohnsteuer und 13 459 Mio. Euro an Zinsabschlagsteuer. Die veranlagte Einkommensteuer spielt also im Einkommensteuerbereich gegenüber den Quelleneinkommensteuern eine quantitativ mäßige Rolle. Da aber auch die Körperschaftsteuer (Aufkommen 15 868 Mio. Euro), die Gewerbesteuer (Aufkommen 41 037 Mio. Euro), die Erbschaftsteuer (Aufkommen 4771 Mio. Euro) und die Umsatzsteuer (Aufkommen 175 989 Mio. Euro) veranlagt werden, ist es gerechtfertigt, dass in der Abgabenordnung geregelte Veranlagungsverfahren vor dem Quellenabzugsverfahren zu behandeln. Das Veranlagungsverfahren nimmt in der Abgabenordnung breiten Raum ein. Der Quellenabzug ist im Einkommensteuergesetz geregelt.
14 Zitiert nach G. Kirchhof, Die Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, 2005, S. 84 f. m. N.
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§ 28 Zur Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG) 1. Föderalismus und Steuerverwaltung . . . . . . . . . . . . . . 1410 ..
2. Gegenwärtiger Rechtszustand . . . . . . . . . . . . . . 1412 ..
Literatur Nachweise bis 1993 in Bd. III1, 1993, S. 1127. Nachweise ab 1993: J. Bonsels, Einwirkungs- und Mitwirkungsrechte des Bundes bei der Verwaltung der Steuern durch die Länder, 1995; A. Uelner, Die Finanzminister im System der so genannten Gewaltenteilung, in: Festschrift für K. H. Friauf, 1996, S. 217 ff.; R. Seer, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 108, Loseblatt, Aktualisierung April 2011; R. Seer/K.-D. Drüen, in: W. Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, 2007, zu Art. 108 GG; R. Seer, Kooperativ-föderale Steuerverwaltung in Deutschland, in: Festschrift für H. G. Ruppe, 2007, S. 533 ff.; K. Schleicher, Die Kontrolle des Steuervollzugs durch die Rechnungshöfe, DStJG Bd. 31 (2008), 59, 77 ff. (Föderalismusreform, Bundessteuerverwaltung); M. Schmitt, Steuervollzug im föderalen Staat, DStJG Bd. 31 (2008), 99 ff.; R. Seer, in: K. Tipke/J .Lang, Steuerrecht21, 2013, § 2 Rz. 73 ff.
1. Föderalismus und Steuerverwaltung Die Weimarer Reichsverfassung hatte die Durchführung (den Vollzug) der Steuergesetze durch die Art. 83, 84 den Reichsbehörden überlassen. 1 Die Durchsetzung des reichseinheitlichen Steuervollzugs war wesentlich das Verdienst des damaligen Reichsfinanzministers Matthias Erzberger. 2 Auch bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes von 1949 ließ sich der Parlamentarische Rat von der Vorstellung einer einheitlichen Bundesfinanzverwaltung leiten. Dieses Vorhaben ließ sich jedoch gegen den hartnäckigen Widerstand der Besatzungsmächte nicht durchsetzen. 3 So kam es dazu, dass die so genannten Gemeinschaftssteuern (Art. 106 III GG), nämlich Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer, der Auftragsverwaltung der Länder unterworfen wurden, d. h. die Länder verwalten Steuern, die ganz oder zum Teil dem Bund zufließen, im Auftrage des Bundes. 1 Dazu die Literaturangaben in Bd. III1, 1993, S. 1128 Fußn. 133. 2 Literaturangaben dazu in Bd. III1, 1993, S. 1128 Fußn. 134. 3 Dazu H. Höpker-Aschoff, AöR Bd. 45 (1949), 306, 328 ff.; E. Schweigert, Die Finanzverwaltung Deutschlands in der Zeit vom Ende des 2. Weltkriegs bis zu ihrer Neuordnung durch das Grundgesetz, BMF-Schriftenreihe Heft 12, 1970 (Kölner Dissertation).
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Föderalismus und Steuerverwaltung
Diese Lösung wurde in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland heftig kritisiert. 4 Daher hätte man annehmen können, die Bundesrepublik werde nach Erreichen der Souveränität die Gemeinschaftssteuern vom Bund verwalten lassen, zumal es naheliegt, dass bundesgesetzliche Steuern auch von Bundesbehörden vollzogen werden. Nachdem die Ministerpräsidenten und die Finanzminister der Länder fest genug im Sattel saßen, wollten sie ihre Finanzverwaltungsmacht jedoch nicht mehr hergeben, obwohl sie aus den Händen der Besatzungsmächte stammte. Die Kritiker der 1950er Jahre konnten allerdings auch noch nicht wissen, ob und wie sich eine Steuerverwaltung durch die Länder bewähren würde. Seit einigen Jahren ist das Bundesfinanzministerium bestrebt zu erreichen, dass der Vollzug der Gemeinschaftssteuern Bundesbehörden übertragen wird. P. Steinbrück, Bundesfinanzminister von 2005-2009, spricht mit guten Gründen von den „Bremsklötzen des Föderalismus“, 5 mindestens handelt es sich um Reibungsverluste. Ob der Bund sich gegen den Widerstand der Länder wird durchsetzen können, ist allerdings – zumal ohne einen Finanzminister Steinbrück – ungewiss. Ein unnachgiebiger Advokat des Föderalismus ist Michael Schmitt. 6 Er nennt Art. 108 GG die „Magna Charta“ der Finanzverwaltung; 7 er spricht von Art. 108 III GG – anders als die Kritiker der 1950er Jahre – als von „einer Ausgewogenheit des föderalen Systems geleitet“. 8 Nach dem Übergang zur Bundesverwaltung der Gemeinschaftssteuern würde der „Bürger von der Eigenstaatlichkeit der Bundesländer noch weniger als bisher wahrnehmen. Die Existenzberechtigung der Bundesländer würde weiter geschwächt, . . . der Trend zum zentralistischen Staat verstärkt“. 9
4 So z. B. von G. Wacke, Das Finanzwesen der Bundesrepublik, 1950, S. 59 („indiskutable Kompromisslösung“); K. M. Hettlage, FinArch. N. F. Bd. 14 (1953/54), 405, 462 („unglückliche Zwitterlösung“), 464 („Art. 108 GG und seine Durchführungsgesetze über die geteilte Steuerverwaltung sind ein rechter Wechselbalg, ein von Besatzungskobolden unterschobenes hässliches Kind des deutschen Föderalismus. Wir sollten heute, wo wir es endlich können, das Anerkenntnis der Vaterschaft ablehnen.“); K. Bräuer, DÖV 1955, 586 („unglückliche Lösung“, „Zustand der Zerrissenheit“). 5 P. Steinbrück, Unterm Strich5, 2010, S. 305. 6 Er ist Ministerialdirigent im Finanzministerium Baden-Württemberg. 7 DStJG Bd. 31 (2008), 102. 8 DStJG Bd. 31 (2008), 102. 9 DStJG Bd. 31 (2008), 132; s. auch 131, 133. – Die Advokaten des Föderalismus greifen zu Bildern, die – da es um den Vollzug von Bundesgesetzen geht – wie Werbesprüche wirken: dezentrale, bürgernahe Verantwortungskultur, Ideenwettbewerb der Länder um schlanken, effizienten Staat, Mittel gegen die Entfremdung Politik-Bürger, politische Verantwortlichkeit vor Ort; von heimatlichem Bewusstsein getragene Länderdemokratie. – Wie passt das
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§ 28 Zur Steuerverwaltungshoheit
Magna Charta würde ich Organisationsvorschriften des Grundgesetzes (wie die des Art. 108 GG) nicht nennen. Organisationsnormen haben nicht das Gewicht der wertenden Normen des Grundrechtskatalogs. Art. 3 GG, aus dem die Gleichmäßigkeit der Besteuerung abgeleitet wird, ist wiederholt als Magna Charta des Steuerrechts bezeichnet worden, zu Recht. Nach Art. 30 GG ist die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder (nur), soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt. Art. 108 GG kann man (mit Zweidrittelmehrheit) ändern. Geschehen sollte das aber nur, wenn eine Bundesfinanzverwaltung die Aufgabe des § 85 AO besser erfüllen könnte als Länderfinanzverwaltungen es können.
2. Gegenwärtiger Rechtszustand Durch Bundesfinanzbehörden werden verwaltet: Zölle, Finanzmonopole, bundesgesetzliche Verbrauchsteuern einschließlich der Einfuhrumsatzsteuer, Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften (Art. 108 I 1 GG). Die Verwaltung dieser Abgaben liegt herkömmlich in der Hand der Zollverwaltung, die dafür verwaltungstechnisch besonders gerüstet ist. Durch Landesfinanzbehörden werden verwaltet: alle übrigen Steuern (Art. 108 II 1 GG), d. h. die nicht von Art. 108 I GG erfassten Steuern einschließlich der den Gemeinden zufließenden Steuern, vor allem aber die Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer, die Gewerbesteuer, die Umsatzsteuer, die Erbschaft- und Schenkungsteuer, die Verkehrsteuern (obwohl sie bundesgesetzliche Steuern sind). Soweit diese Steuern ganz oder zum Teil dem Bund zufließen (s. § 106 I, III GG), werden die Länder im Auftrag des Bundes tätig. Da die Bundesauftragsverwaltung aber eine Art der Landesverwaltung ist, müssten Organisationsgewalt und Personalhoheit grundsätzlich bei den Ländern liegen. Art. 108 II 2 GG bestimmt jedoch: „Der Aufbau der Landesfinanzbehörden und die einheitliche Ausbildung der Beamten können durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrats geregelt werden“. 10 Nach Art. 108 IV 2 GG können die Länder die Verwaltung der den Gemeinden allein zufließenden Steuern ganz oder zum Teil den Gemeinden übertragen. 11 zu einer Bundesauftragsverwaltung, die für gleichmäßige Besteuerung von Bundesgesetzen sorgen soll? 10 Dazu W. Löwer, Verfassungsrechtsfragen der Steuerauftragsverwaltung, BMF-Schriftenreihe Heft 70, 2001. 11 Das ist geschehen in den Stadtstaaten hinsichtlich der Realsteuerfestsetzung sowie für die kommunalen Verbrauch- und Aufwandsteuern.
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Gegenwärtiger Rechtszustand
Nach Art. 108 III 2 GG gilt Art. 85 III, IV GG für die Bundesauftragsverwaltung mit der Maßgabe, dass an die Stelle der Bundesregierung der Bundesminister der Finanzen tritt. Art. 85 III, IV GG ist danach wie folgt zu lesen: „(3) Die Landesbehörden unterstehen den Weisungen der zuständigen obersten Bundesbehörden. Die Weisungen sind, außer wenn der Bundesminister der Finanzen es für dringlich erachtet, an die obersten Landesbehörden zu richten. Der Vollzug der Weisung ist durch die obersten Landesbehörden sicherzustellen. (4) Die Bundesaufsicht erstreckt sich auf Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Ausführung. Die Bundesregierung kann zu diesem Zwecke Bericht und Vorlage der Akten verlangen und Beauftragte zu allen Behörden entsenden.“
Nicht nur in der Literatur, auch zwischen Bundesfinanzministerium und Landesfinanzministerien war umstritten, ob das Weisungsrecht des Bundes nach Art. 85 III GG sich nur auf Einzelweisungen (Weisungen im Einzelfall) beziehe (so die Länderfinanzministerien) oder auch auf generelle Weisungen (allgemeine Verwaltungsvorschriften). Durch Vereinbarung v. 15. 1. 1970 zwischen den obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder wurde folgendes Übereinkommen getroffen: „Der Bundesminister der Finanzen gibt als ‚Schreiben‘ bezeichnete allgemeine Weisungen nur heraus, wenn die Länder vorher Gelegenheit zur Stellungnahme hatten und die Mehrzahl der Länder keine Einwendungen erhoben hat. Die Länder halten sich an die ‚Schreiben‘ des Bundesministers der Finanzen und tragen Fragen von übergeordneter Bedeutung an den Bundesminister der Finanzen heran. Eigene Weisungen werden die Länder entgegen der Rechtsauffassung des Bundesministers der Finanzen nicht herausgeben“. 12
Gegen die Zulässigkeit allgemeiner Weisungen (allgemeiner Verwaltungsvorschriften) durch den Bundesfinanzminister spricht insbesondere, dass nach Art. 108 VII GG nur die Bundesregierung (u. U. mit Zustimmung des Bundesrats) allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen darf. 13 Zwar ist die Bund-Länder-Vereinbarung vom 15. 1. 1970 auch verfassungskritisch gesehen worden. Das Verfassungsgericht ist aber von keiner Seite bemüht worden. Durch das FöderalismusreformBegleitgesetz von 2006 14 ist dem Bund ein weiteres Recht zugestanden worden, nämlich ein Mitspracherecht im Bereich der Länder-Verwaltungsorganisation. 12 Ausführliche Fassung in DStJG Bd. 31 (2008), 114. – M. Schmitt äußert sich ausführlich zum Verfahren nach der Vereinbarung vom 15. 1. 1970, ferner zu ihrer Rechtsnatur und zu ihrer Bewährung in der Praxis (DStJG Bd. 31 [2008], 114 f.). Hinweis auch auf A. Uelner, in: Festschrift für K. H. Friauf, 1996, 216, 224 ff.; R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 21 Rz. 36. 13 So auch R. Seer, (Fußn. 12), § 21 Rz. 35. 14 Gesetz v. 5. 9. 2006, BStBl. I, 2098.
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§ 28 Zur Steuerverwaltungshoheit
Nach Art. 108 IV 1 GG kann durch Bundesgesetz (mit Zustimmung des Bundesrats) ein Zusammenwirken von Bundes- und Länderfinanzbehörden angeordnet werden. Vor allem soll dadurch die Möglichkeit geschaffen werden, den Vollzug der Steuergesetze zu verbessern oder zu erleichtern. Ausführungsgesetz zu Art. 108 GG ist das Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG). Es regelt insbesondere die Organisation und die sachliche Zuständigkeit (in) der Finanzverwaltung.
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§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften 1. Der Steuervollzugsauftrag der Abgabenordnung von 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . 1415 .. 2. Das Veranlagungsverfahren . 1418 .. 2.1 Vorbemerkung . . . . . . . 1418 .. 2.2 Mitwirkungspflichten Privater . . . . . . . . . . . . 1419 .. 2.21 Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen. . . . . . 1419 .. 2.211 Rechtfertigung der Mitwirkungspflicht . . . . . . . . 1419 .. 2.212 Allgemeines; Steuererklärungspflicht als grundlegende Mitwirkungspflicht . . . . . . . . 1419 .. 2.213 Besondere Mitwirkungspflichten . . . 1421 .. 2.214 Folgen von Mitwirkungspflichtverletzungen . . . . . . . . 1422 .. 2.22 Mitwirkungspflichten anderer (Dritter). . . . . . . . 1423 .. 2.3 Verfahrensrechte und Folgen der Verletzung von Verfahrensvorschriften durch Finanzämter . 1423 .. 2.4 Grenzüberschreitende Sachaufklärung . . . . . . 1425 .. 2.5 Abstützung des Veranlagungsverfahrens durch Außenprüfung, Steuerfahndung, Steueraufsicht und Kontrollmitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . 1426 ..
2.51 Außenprüfung . . . . 1426 .. 2.52 Steuerfahndung . . . 1427 .. 2.53 Nachschau . . . . . . 1429 .. 2.54 Kontrollmitteilungen. . . . . . . . . . . . 1429 .. 3. Quellenabzugsverfahren . . . 1430 .. 4. Steuervollzug auf der Grundlage von allgemeinen Verwaltungsvorschriften . . . . . 1431 .. 4.1 Bedeutung von allgemeinen Verwaltungsvorschriften für den gesetzmäßigen, gleichmäßigen Steuervollzug . . . . . . . . 1431 .. 4.2 Terminologische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . 1433 .. 4.3 Notwendige Gesetzeskonformität . . . . . . . . . 1434 .. 4.4 Bindungen, Bindungswirkungen . . . . . . . . . . 1436 .. 4.5 Zu einzelnen Arten von Verwaltungsvorschriften 1439 .. 4.51 Verwaltungsvorschriften zur Sachverhaltsermittlung . 1440 .. 4.52 Gesetzauslegende Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . 1443 .. 4.53 Ermessensleitende Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . 1444 .. 4.6 Nichtanwendungserlasse. . . . . . . . . . . . . 1445 .. 4.7 Verwaltungsvorschriften und Steuerplanung . . . . 1447 .. 4.8 Konkurrenzen . . . . . . . 1447 .. 5. Großer Steuervollzugsbeitrag der Steuerberater . . . . . . . . 1448 ..
1. Der Steuervollzugsauftrag der Abgabenordnung von 1977 Der Steuervollzugsauftrag der Abgabenordnung von 1977 entspricht den sich aus dem Grundgesetz ergebenden Prinzipien der Gesetz1415
§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften
mäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Er ist in den §§ 85, 88 AO geregelt. § 85 AO überfordert allerdings verbal die Finanzbehörden. Er lautet: „Die Finanzbehörden haben die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben. Insbesondere haben sie sicherzustellen, 1 dass Steuern nicht verkürzt, zu Unrecht erhoben oder Steuererstattungen und Steuervergütungen nicht zu Unrecht gewährt oder versagt werden.“
Mit dem Verlangen der „Sicherstellung“ 2 geht das Gesetz über das den Finanzbehörden Mögliche hinaus. 3 Dass niemand Steuern verkürzt, können Finanzbehörden ebenso wenig sicherstellen, wie Polizei und Justizbehörden sicherstellen können, dass keine strafbaren Handlungen begangen werden. Impossibilium nulla obligatio gilt nicht nur für Bürger, 4 sondern auch für Behörden. Unmögliches lässt sich rechtlich nicht umsetzen. Realistischer formuliert § 114 österr. BAO: „Die Behörden haben darauf zu achten, dass alle Abgabepflichtigen nach den Abgabevorschriften erfasst und gleichmäßig behandelt werden sowie darüber zu wachen, 5 dass Abgabeneinnahmen nicht verkürzt werden.“
In Betracht kämen auch Formulierungen wie: „müssen bestrebt sein“, „haben möglichst zu verhindern“. § 85 AO, der sprachlich bei einer AO-Reform überarbeitet werden sollte, erteilt den Finanzbehörden einen Auftrag, überträgt ihnen eine Aufgabe. Die Mittel oder Befugnisse zur Erfüllung dieses Auftrags regelt die Abgabenordnung im Einzelnen; sie dürfen nicht aus dem Auftrag erschlossen werden. Es ist nicht jedes Mittel zulässig, das sich zur Erfüllung des Auftrags als Aufklärungsmittel eignet und erforderlich ist. Eine andere Auftrags- oder Aufgabennorm ist § 88 AO. Danach haben die Finanzbehörden die steuererheblichen Sachverhalte von Amts wegen zu ermitteln. § 85 AO bezieht sich nur auf die Festsetzung und Erhebung von Steuern. Diesen müssen selbstredend die Sachverhaltsermittlung und die Klärung der Rechtslage vorausgehen. Ausführlicher als § 88 I 1 AO schrieb § 204 I 1 RAO 1919/1931 vor: „Das Finanzamt hat die steuerpflichtigen Fälle zu erforschen und von Amts wegen die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu ermit1 Kursivdruck vom Verfasser veranlasst. 2 Das Sicherstellungsverlangen stammt aus der Notverordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen v. 1. 12. 1930, RGBl. 1930 I, 517, 556. 3 Das Verwaltungsverfahrensgesetz und das Sozialgesetzbuch X enthalten keine solche Vorschrift. 4 Mitwirkungspflichten müssen erfüllbar sein. Hinweis auch auf § 125 II Nr. 2 AO. 5 Kursivdruck vom Verfasser veranlasst.
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Steuervollzugsauftrag der AO 1977
teln, die für die Steuerpflicht und die Bemessung der Steuer wesentlich sind.“ In Erfüllung des Auftrags aus den §§ 85, 88 AO drückt sich die Besteuerungsmoral der Finanzbehörden aus. Sie ist Teil der Staatsmoral und komplettiert die Besteuerungsmoral des Gesetzgebers als andere Komponente der Besteuerungsmoral und der Staatsmoral. 6 Um eine gute Steuermoral der Bürger zu erreichen, muss der Staat mit dem guten Beispiel der Besteuerungsmoral vorangehen. Den Besteuerungsauftrag (§ 85 AO) versucht die Finanzverwaltung zu erfüllen (1) mit Hilfe des Veranlagungsverfahrens – komplettiert durch Kontrollmitteilungen und Anzeigepflichten – sowie (2) mit Hilfe der Quellenabzugsverfahren. Der Gleichheitssatz (Art. 3 GG), steuerrechtlich konkretisiert durch den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, würde verletzt, wenn das Veranlagungsverfahren 7 einerseits und die Quellenabzugsverfahren andererseits zu erheblich unterschiedlicher Kontroll- oder Vollzugseffizienz und damit zu unterschiedlicher Belastung führen würden. 8 Im Anwendungserlass zu § 88 AO wird die Praxis der Finanzämter u. a. so beschrieben, werden die Finanzämter so angeleitet: „. . . Für die Anforderungen, die an die Aufklärungspflicht der Finanzbehörden zu stellen sind, darf die Erwägung eine Rolle spielen, dass die Aufklärung einen nicht mehr vertretbaren Zeitaufwand erfordert. Dabei kann auf das Verhältnis zwischen voraussichtlichem Arbeitsaufwand und steuerlichem Erfolg abgestellt werden. Die Finanzämter dürfen auch berücksichtigen, in welchem Maße sie durch ein zu erwartendes finanzgerichtliches Verfahren belastet werden, sofern sie bei vorhandenen tatsächlichen oder rechtlichen Zweifeln dem Begehren des Steuerpflichtigen nicht entsprechen und zu seinem Nachteil entscheiden. In Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung dient es unter bestimmten Voraussetzungen der Effektivität der Besteuerung und allgemein dem Rechtsfrieden, wenn sich die Beteiligten über die Annahme eines bestimmten Sachverhalts und über eine bestimmte Sachbehandlung einigen können (BFH v. 11. 12. 1984, BStBl. 1985 II, S. 354) . . . Die Aufklärungspflicht der Finanzbehörden wird durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten (§ 90) begrenzt. Die Finanzbehörden sind nicht verpflichtet, alle möglichen Fallgestaltungen zu erforschen. Für den Regelfall kann davon ausgegangen werden, dass die Angaben des Steuerpflichtigen vollständig und richtig sind (BFH v. 17. 4. 1969, BStBl. II, S. 474). Die Finanzbehörde kann den Angaben eines Steuerpflichtigen Glauben schenken, wenn 6 K. Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000, insb. S. 53 ff., 66 ff. 7 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 84, 239, BStBl. 1991 II, 654 bezieht sich ebenso wie das spätere Urteil BVerfGE 110, 94, BStBl. 2005 II, 56 auf alle Veranlagungssteuern, insbesondere auf die Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer, die Gewerbesteuer, die Erbschaftsteuer, die Umsatzsteuer. 8 Dazu unten S. 1467 ff.
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§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften nicht greifbare Umstände vorliegen, die darauf hindeuten, dass seine Angaben falsch oder unvollständig sind (BFH v. 11. 7. 1978, BStBl. 1979 II, S. 57). Sie verletzt ihre Aufklärungspflicht nur, wenn sie Tatsachen oder Beweismittel außer Acht lässt und offenkundigen Zweifelsfragen nicht nachgeht, die sich ihr den Umständen nach ohne weiteres aufdrängen mussten (BFH v. 16. 1. 1964, BStBl. III, S. 149, und v. 13. 11. 1985, BStBl. 1986 II, S. 241).“
Zur Erfüllung ihres Auftrags orientieren sich Finanzbehörden auch an dem Erlass zur „Organisation der Finanzämter und Neuordnung des Besteuerungsverfahrens“ vom 19. 11. 1996, BStBl. I, 1391 (GNOFÄ) und an den ergänzenden Vorschriften zur Finanzamtsgeschäftsordnung vom 3. 1. 2002, BStBl. I, 540 (FAGO). 9 Sieht man von den Sondervorschriften der §§ 158, 159 AO ab, so äußert sich die Abgabenordnung nicht zur Beweiswürdigung, zum Beweismaß und zur objektiven Beweislast. Zur Realität lässt sich feststellen: Wenn die Finanzämter sich an die Verwaltungsvorschriften zu § 88 AO halten, kommt es nicht zu einem Beweismaß der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit. Mit einem solchen Beweismaß wird eine Massenverwaltung überhaupt überfordert.
2. Das Veranlagungsverfahren 2.1 Vorbemerkung Dem Veranlagungsverfahren voraus geht die Erfassung der Personen und Unternehmen, die der Besteuerung unterliegen (s. §§ 134–139 AO). Das eigentliche Veranlagungsverfahren – auch als Besteuerungsverfahren bezeichnet – beginnt mit der Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung oder ihrer Abgabe (§ 149 AO) und endet mit der Steuerfestsetzung (§§ 155 ff. AO). 10 Besondere, das Veranlagungsverfahren ergänzende Verfahren sind die Außenprüfung (§§ 193–207 AO) und die Steuerfahndung (§ 208 AO). Wenn die Finanzbehörden den Sachverhalt auch von Amts wegen zu ermitteln haben (§ 88 I 1 AO), so ist das Veranlagungsverfahren doch wesentlich mitgeprägt von der Mitwirkung der Steuerpflichtigen und anderer Personen. Das ist gerechtfertigt. Dass die Veranlagung ohne Mitwirkung Privater zu vollziehen sei, lässt sich dem Grundgesetz nicht entnehmen, insbesondere nicht dem Art. 108 GG. 11 Ohne diese Mitwirkung würde die Vollzugseffizienz erheblich herabgesetzt, vor 9 Kritisch werden diese Verwaltungsvorschriften auf S. 1440 ff. erörtert. 10 Die Abgabenordnung verwendet den Begriff „Veranlagungsverfahren“ nicht, wohl aber tun es die Einzelsteuergesetze, daran anknüpfend ausnahmsweise auch § 268 AO („zusammen zu einer Steuer veranlagt worden“). 11 K.-D. Drüen, DStJG Bd. 31 (2008), 168 ff.
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Veranlagungsverfahren
allem das Verfahren erheblich kostenaufwändiger werden. Das Veranlagungsverfahren (Besteuerungsverfahren) ist kein Strafverfahren. 12 Jedoch sind im Veranlagungsverfahren Zwangsmittel gegen den Steuerpflichtigen unzulässig, wenn dieser dadurch gezwungen würde, sich selbst einer Steuerstraftat oder einer Steuerordnungswidrigkeit zu bezichtigen. 13 2.2 Mitwirkungspflichten Privater 2.21 Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen 2.211 Rechtfertigung der Mitwirkungspflicht Die Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen ist gerechtfertigt, weil der Steuerpflichtige den Sachverhalt am besten kennt, weil er dem Sachverhalt jedenfalls am nächsten steht. Daher ist seine Mitwirkung das natürliche, naheliegende Beweismittel. R. Seer bezeichnet den Steuerpflichtigen als die „Zentralfigur der Sachaufklärung“. 14 Da das Veranlagungsverfahren kein Strafverfahren ist, ist die Mitwirkung auch zumutbar, mag es auch Steuerpflichtige geben, die die Steuerlast als Strafe empfinden. Die Bürgerpflicht der Mitwirkung trägt wesentlich zur Gleichmäßigkeit der Besteuerung bei. Sie schützt den Steuerpflichtigen im Übrigen davor, zum bloßen Objekt des Verfahrens zu werden. Die Mitwirkung ist nämlich auch ein Recht, ein „Grundrecht auf Verfahrensteilhabe“, 15 in der sich bereits ein Recht auf Gehör verwirklicht. 2.212 Allgemeines; Steuererklärungspflicht als grundlegende Mitwirkungspflicht Nach § 90 I AO haben die Steuerpflichtigen bei der Ermittlung des Sachverhalts mitzuwirken. Insbesondere haben sie die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenzulegen. Was für die Besteuerung erheblich ist, ergibt sich aus den Einzelsteuergesetzen. Bei Personensteuern können auch persönliche Verhältnisse erheblich sein. Die steuerrechtliche Erheblichkeit ist eine Rechtsfrage, keine Sachverhalts- oder Tatsachenfrage. Steuerlaien werden durchweg nicht wissen, was steuerrechtlich erheblich ist. Aber auch Steuerfachleuten wird die Beurteilung der Steuererheblichkeit dadurch erschwert, dass der Gesetzgeber die Gebote der Verall12 Dazu Hinweis auf K.-D. Drüen, DStJG Bd. 31 (2008), 172 f. 13 Dazu näher K. Ranft, Verhältnis zwischen Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren, DStJG Bd. 31 (2008), 263 ff. m. N. 14 R. Seer, DStJG Bd. 31 (2008), 15. 15 R. Seer, DStJG Bd. 31 (2008), 15.
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gemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit 16 immer wieder verletzt. Was von Steuerpflichtigen an Mitwirkung verlangt wird, muss zur Sachaufklärung geeignet, notwendig, erfüllbar, verhältnismäßig und zumutbar sein. Das ist in der Praxis insbesondere erheblich, wenn es um Aufbewahrungs- und Dokumentationspflichten oder um Meldepflichten geht. 17 Auskunftsverlangen sind insbesondere insoweit erfüllbar, als sie den Berufs- oder Lebensbereich des Steuerpflichtigen betreffen. Wer zur Abgabe einer Steuererklärung verpflichtet ist, bestimmen die einzelnen Steuergesetze, nicht die Abgabenordnung. Steuererklärungen sind, wenn es um jährliche Steuern geht, innerhalb einer bestimmten Frist nach Ablauf des Veranlagungsjahres abzugeben (s. § 149 II AO), und zwar auf amtlich vorgeschriebenem Vordruck, soweit nicht eine mündliche Steuererklärung zugelassen ist (§ 150 I 1 AO). Die Steuererklärungsformulare fragen – abweichend von der Mitwirkung nach § 90 I AO – nicht nur nach Tatsachen oder Sachverhalten, sondern überwiegend nach Besteuerungsgrundlagen, d. h. nach Grundlagen, die auch Kenntnisse der einschlägigen Steuergesetze voraussetzen, insbesondere die Kenntnis dessen, was steuerrechtlich erheblich ist. Was eine Gesetzesvorschrift meint, erschließt sich indessen meist nicht allein aus dem Wortlaut einzelner Vorschriften oder Begriffe. Daher gibt die Finanzverwaltung für ihre Behörden Richtlinien und andere Verwaltungsvorschriften heraus. Die Steuerpflichtigen und ihre Berater sind an diese Verwaltungsvorschriften nicht gebunden. Diese sollen lediglich bewirken, dass die Veranlagungsbeamten gleichmäßig verfahren, es soll nicht jeder Veranlagungsbeamte sein individuelles Gesetzesverständnis zu Grunde legen. Tatsächlich geht die Bedeutung und Wirkung der Verwaltungsvorschriften darüber aber hinaus. Nach § 150 II AO sind die Angaben in den Steuererklärungen wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu machen. Das hat der Erklärende, wenn der Vordruck es verlangt, schriftlich zu versichern. Obwohl Steuererklärungen nicht nur tatsächliche, sondern auch rechtliche Angaben verlangen: Nur Angaben über Tatsachen können wahrheitsgemäß sein; Rechtsfragen können nur richtig oder falsch beantwortet werden. Obwohl die Steuererklärungen Rechtskenntnisse voraussetzen, lässt die Abgabenordnung nach dem Verständnis der Verwaltung auch Laien-Steuererklärungen zu, wohl wis16 Dazu in diesem Band S. 1251 ff. 17 Dazu Eckehard Schmidt, DStJG Bd. 31 (2008), 45; C. Staringer, ebenda, S. 143 f.
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Veranlagungsverfahren
send, dass Laien in aller Regel keine rechtlichen Kenntnisse haben können. Die Abgabenordnung untersagt Laien-Steuererklärungen nicht. Im Gegenteil, sie schreibt vor: „Ordnen die Steuergesetze an, dass der Steuerpflichtige die Steuererklärung eigenhändig zu unterschreiben hat, so ist die Unterzeichnung durch einen Bevollmächtigten 18 nur dann zulässig, wenn der Steuerpflichtige infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands oder durch längere Abwesenheit an der Unterschrift gehindert ist. Die eigenhändige Unterschrift kann nachträglich verlangt werden, wenn der Hinderungsgrund weggefallen ist (§ 150 III AO).“ Auf § 150 I 2, VI AO in Verbindung mit der Steuerdaten-Übermittlungsverordnung beruht das Projekt „Elektronische Steuererklärung“ (ELSTER). 19 Die Beteiligung an ELSTER entspricht noch nicht den Erwartungen der Finanzverwaltung. Erkennt ein Steuerpflichtiger nach Abgabe der Steuererklärung, aber vor Ablauf der Festsetzungsfrist, dass eine von ihm oder für ihn abgegebene Steuererklärung unrichtig oder unvollständig ist und dass es dadurch zu einer Verkürzung von Steuern kommen kann oder bereits gekommen ist, so ist er verpflichtet, dies unverzüglich anzuzeigen und die Erklärung richtig zu stellen (§ 153 AO). § 153 AO trifft nicht zu, wenn jemand durch eine unrichtige Steuererklärung bewusst Steuern verkürzen wollte. 2.213 Besondere Mitwirkungspflichten Steuerpflichtige haben auch besondere, die allgemeine Mitwirkungspflicht (§ 90 I AO) konkretisierende Mitwirkungspflichten. Unterscheiden lassen sich Mitwirkungspflichten, die – vorbereitend – der Beweissicherung dienen und Mitwirkungspflichten, die unmittelbar dem Beweis, der Sachverhaltsermittlung (der Sachaufklärung) dienen. Damit die Finanzverwaltung ihre Aufgabe (§§ 85, 88 AO) erfüllen kann, muss sie zuvor die potentiellen Steuerpflichtigen erfassen. Dazu stützen die Finanzämter sich auf besondere Anzeigepflichten. Damit Körperschaften, Vereinigungen, Vermögensmassen, Landwirte, Gewerbetreibende und Freiberufler erfasst werden können, müssen diese den Betrieb beim Finanzamt anmelden (§§ 137, 138 AO). Für bestimmte Gewerbebetriebe gilt eine Sonderregelung (§ 139 AO). Die in den §§ 134, 135 AO vorgesehene Personenstands- und Betriebsaufnahme hat schon seit Jahrzehnten nicht mehr stattgefunden.
18 Bevollmächtigte sind insbesondere die Steuerberater. 19 Dazu R. Seer, DStJG Bd. 31 (2008), 21 ff.; E. Schmidt, DStJG Bd. 31 (2008), 53 ff.; W. Widmann, DStJG Bd. 31 (2008), 91 f.
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Bestimmte Steuerpflichtige müssen zur Beweissicherung Bücher führen oder Aufzeichnungen machen (§§ 140–146 AO) und diese aufbewahren (§§ 147–148 AO). Freiberufler müssen Aufzeichnungen nur für Umsatzsteuerzwecke machen (§ 22 UStG). Für Bezieher so genannter Überschusseinkünfte (s. § 2 II Nr. 2 EStG; darunter fallen insbesondere Vermieter) ist ab 2010 eine Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflicht eingeführt worden, falls die jährlichen Einkünfte 500.000 Euro übersteigen (s. § 147a AO). R. Seer merkt dazu zutreffend an: „Die Schwellengrenze von 500.000 Euro erscheint jedoch willkürlich gegriffen. Eine nach Einkunftsarten unterschiedlich normierte Verifikationssicherung verletzt den Gleichheitssatz . . .“ 20 Nach § 93 AO haben die Steuerpflichtigen eine Auskunftspflicht, die an Formalien gebunden ist. Die Auskunft kann insbesondere erforderlich werden, um z. B. eine lückenhafte oder missverständliche Steuererklärung zu ergänzen oder klarzustellen. Tatsächlich ersuchen die Finanzämter nur sehr selten um Auskunft, weil ihre Belastung, ihr Zeitdeputat zumal, Nachfragen nicht zulässt. Insbesondere die Kommunikation mit Steuerlaien kann schwierig sein und viel Zeit und Geduld erfordern. Die Finanzämter können von Steuerpflichtigen verlangen, dass sie die Richtigkeit behaupteter Tatsachen an Eides statt versichern; das ergibt sich aus § 95 AO. Die formal umständliche Vorschrift steht im Veranlagungsverfahren jedoch weitgehend auf dem Papier. Die Finanzämter können von Steuerpflichtigen auch die Vorlage von Urkunden verlangen, in der Regel aber erst dann, wenn der Steuerpflichtige eine Auskunft nicht erteilt hat, wenn diese unzureichend ist oder wenn Bedenken gegen ihre Richtigkeit bestehen. Auch diese formal überladene Vorschrift spielt in der Veranlagungspraxis kaum eine Rolle. Im Übrigen sieht das Gesetz vor, dass die Steuerpflichtigen die „Einnahme des Augenscheins“ (Ortsbesichtigung, § 98 AO), auch das Betreten von Grundstücken und Räumen (§ 99 AO) dulden müssen. §§ 98, 99 AO werden als Beweismittel aber selten herangezogen. § 100 II AO untersagt es den Finanzämtern, die Vorlage von ihnen unbekannten Wertsachen zu verlangen. Auch das ist papierenes Recht. Gesteigerte Mitwirkungspflichten bestehen bei Auslandssachverhalten (s. S. 1425 ff.). 2.214 Folgen von Mitwirkungspflichtverletzungen Wirkt der Steuerpflichtige nicht entsprechend seinen Möglichkeiten bei der Sachaufklärung mit, so entfällt dadurch noch nicht jede Sach20 R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 21 Rz. 180.
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aufklärungspflicht des Finanzamts. Zwischen Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen und Aufklärungspflicht des Finanzamts besteht aber doch ein Zusammenhang. Je weniger Anhaltspunkte zum Sachverhalt der Steuerpflichtige dem Finanzamt nämlich liefert, desto weniger Anlass hat dieses zu weiterer Sachaufklärung. Überhaupt braucht das Finanzamt eine Mitwirkungspflichtverletzung nicht durch unverhältnismäßige Anstrengungen der Sachaufklärung auszugleichen. Aus dem Verhalten des Steuerpflichtigen – zumal wenn es eindeutig seine Wissenssphäre betrifft – dürfen für ihn negative Schlüsse gezogen werden, oder es dürfen seine Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden (§ 162 II AO). 2.22 Mitwirkungspflichten anderer (Dritter) Auch andere Personen (so genannte Dritte, die weder Steuerpflichtige noch Steuerberechtigte sind), dürfen zur Mitwirkung herangezogen werden (in fremder Steuersache also), allerdings erst in zweiter Linie, nämlich wenn die Sachaufklärung durch den Steuerpflichtigen nicht zum Ziel führt oder keinen Erfolg verspricht (§ 93 I 3 AO). Kaum je werden im Veranlagungsverfahren andere Personen aber tatsächlich herangezogen. Erst recht werden sie nicht vereidigt, was § 94 AO zulässt. Den Eid könnte allerdings nur das Finanzgericht oder das Amtsgericht abnehmen. Das kostet Zeit, die die Finanzämter nicht haben. Im Veranlagungsverfahren können auch Sachverständige gehört werden (§ 96 AO). Aber auch das geschieht selten. 2.3 Verfahrensrechte und Folgen der Verletzung von Verfahrensvorschriften durch Finanzämter Finanzämter können die Zuständigkeitsvorschriften (§§ 16 ff. AO) verletzen, auch die Verfahrensfürsorgepflicht (§ 89 I AO). Sie können auch das Recht auf Gehör (§ 91 AO) übergehen. Nach § 91 I 2, 3 AO sollen die Finanzämter den Steuerpflichtigen Gelegenheit geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Dies gilt insbesondere, wenn von dem in der Steuererklärung angegebenen Sachverhalt zu Ungunsten des Steuerpflichtigen wesentlich abgewichen werden soll. Ausnahmen ergeben sich aus § 91 Abs. 2 AO. Dass die Finanzämter die durch die §§ 93 I 3, 97 II AO vorgegebene Beweismittelreihenfolge nicht einhalten, kommt schon deshalb kaum vor, weil sie aus Zeitmangel ganz selten Auskünfte von Dritten einholen oder von ihnen die Vorlage von Urkunden verlangen. Dass bei Bescheidänderungen die gesetzliche Grundlage nicht präzise angegeben wird, kommt aber vor; dass Verwaltungsakten nicht die erforderliche Begründung (§ 121 AO) beigefügt wird, auch. Nicht selten sind Fehler der Bekanntgabe von Verwaltungsakten; der ausführliche An1423
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wendungserlass zu § 122 AO hat aber Wirkung gezeigt. Auch Mitwirkungsverweigerungsrechte (§§ 101 ff, 393 AO) oder Verjährungsvorschriften (§§ 169 ff. AO) werden gelegentlich übersehen. Darüber hinaus kommen im Zusammenhang mit der Außenprüfung Verfahrensfehler vor. Aus § 127 AO lässt sich der Grundsatz entnehmen: Ergebnisrichtigkeit geht vor Verfahrenskorrektheit. § 127 AO bestimmt nämlich: „Die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 125 AO nichtig ist, kann nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können.“ Für nichtig erklärt werden Verwaltungsakte wegen Verfahrensfehlern selten. Sachliche Unzuständigkeit – sie kann zur Nichtigkeit führen – kommt nicht eben häufig vor. § 46 VwVfG, dem § 127 AO nachgebildet worden ist, hat nach seiner Einführung erhebliche Kritik auf sich gezogen: Die Vorschrift entwerte die Verfahrensrechte, degradiere sie zu Hilfspflichten. H.-U. Erichsen sprach vom „Selbstmordversuch des Verfahrensgesetzes“. 21 Das soll heißen: Ein Verfahrensgesetz, das durch eine besondere Vorschrift zum Ausdruck bringt, dass es sich selbst nicht ernst nimmt, erklärt sich selbst für tot. Indessen will § 127 AO vermeiden, dass ein Verwaltungsakt aufgehoben werden muss, der gleich danach mit dem gleichen Ergebnis wiederholt werden müsste, weil er in der Sache richtig ist, weil der Verfahrensverstoß auf das Ergebnis keinen Einfluss hatte. § 127 AO mag zu einer Vernachlässigung von Verfahrensvorschriften verleiten. Ist aber sicher, dass der Verwaltungsakt trotz des Verfahrensverstoßes richtig ist, kann auch der Steuerpflichtige keinen sachlichen Fehler geltend machen, so soll der Verwaltungsakt nicht angefochten werden können. Nur sein Ergebnis, nicht sein Zustandekommen, soll ihn anfechtbar machen, wenn er nicht nichtig und damit unwirksam ist. Lässt sich allerdings nicht ausschließen, dass der Verfahrensfehler sich doch auf den Inhalt ausgewirkt haben könnte – für Ermessensentscheidungen wird das immer angenommen – ist § 127 AO nicht anwendbar. Schätzungsbescheide sind im Sinne der deutschen Terminologie keine Ermessensentscheidungen, aber auch bei Schätzungen besteht ein Entscheidungsspielraum. Das rechtfertigt es, § 127 AO auch nicht sinngemäß auf Schätzungsbescheide anzuwenden. 22
21 H.-U. Erichsen, DVBl. 1978, 577. 22 So auch R. Seer, in: Tipke/Kruse, Komm. zur AO/FGO, § 162 AO Tz. 9, 78.
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Veranlagungsverfahren
2.4 Grenzüberschreitende Sachaufklärung Steuern auf ausländische Einkünfte können durchaus dem Wohnsitzstaat 23 zustehen (Welteinkommensprinzip 24). Das Gleiche gilt für ausländische Einkünfte von Körperschaften mit Geschäftsleitung oder Sitz im Inland. 25 Ferner erfasst das Erbschaftsteuergesetz auch ausländisches Vermögen des Erblassers oder Schenkers (S. § 2 1 Nr. 1 ErbStG; DBA). 26 Aufklärungsprobleme ergeben sich daraus, dass nach Völkerrecht kein Staat das Recht hat, Sachverhaltsaufklärung in einem anderen Staat (im Ausland) zu betreiben, wenn der andere Staat mit der Aufklärung nicht einverstanden ist. 27 C. Staringer hat es kurz und exakt auf die Formel gebracht: „Der Universalität der Steuerpflicht steht die Territorialität des Steuervollzugs gegenüber“. 28 Etwas ausführlicher umschreibt C. Staringer das Spannungsverhältnis so: „Durch die Anknüpfung des materiellen Steuertatbestandes an globale Größen (z. B. das Welteinkommen) werden auch Sachverhalte in die Steuerpflicht miteinbezogen, bei denen die Steuerbehörde von Vornherein dem Problem ausgesetzt wird, dass ihre auf das Inland beschränkte Vollzugsgewalt den grenzüberschreitend angelegten Sachverhalt nicht erforschen oder kontrollieren kann“. 29 Würde die Territorialität des Steuervollzugs hingenommen, so würde das den Gleichheitssatz verletzen, der auch Vollzugsgleichheit verlangt. Die Tatsache, dass es sich um Auslandssachverhalte handelt, ist kein Rechtfertigungsgrund dafür, insoweit auf Kontrolle zu verzichten. Der deutsche Gesetzgeber hat sich zum einen damit beholfen, dass er bei Auslandsbezug mit erhöhten (erweiternden, gesteigerten) Mitwirkungspflichten operiert, bestehend vor allem in der Beweismittelvorsorge durch Dokumentationspflichten und Beweismittelbeschaffungspflichten (s. § 90 II, III AO) mit besonderen Sanktionen (§ 163 III, IV AO). 30 Zum anderen ist der internationale Informationsaustausch zu23 Rückschluss aus §§ 1 IV; 2a; 34c; 34d; 49 EStG. 24 Dazu H. Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011, S. 123 ff. Hinweis auch auf H. und H. Schaumburg, Grenzüberschreitende Sachaufklärung – Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten, in: Festschrift für M. Streck, 2011, S. 369 ff. 25 H. Schaumburg (Fußn. 24), S. 275; s. auch S. 978 ff. („Grundsätze internationaler Einkünftezuordnung“). 26 Dazu H. Schaumburg (Fußn. 24), S. 297 ff. („Anknüpfungspunkte für die Besteuerung der Erbschaftsteuer/Schenkungsteuer“). 27 Ausführlich dazu H. Schaumburg (Fußn. 24), S. 1086 ff. 28 C. Staringer, DStJG Bd. 31 (2008), 136. 29 Wie C. Staringer auch R. Seer/I. Gabert, StuW 2010, 4. 30 Dazu ausführlich H. Schaumburg (Fußn. 24), S. 1090 ff. mit umfassenden Nachweisen; C. Staringer, Steuervollzug bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, DStJG Bd. 31 (2008), 135, 140 ff.; R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang,
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nehmend weiter ausgebaut worden. Die Rechtfertigung der Intensivierung ist keine andere als die der erhöhten Mitwirkungspflicht. 31 Inzwischen gibt es nicht zu wenig Rechtsgrundlagen für den Informationsaustausch (Auskunftsverkehr), sondern ein komplexes Geflecht unterschiedlicher Rechtsgrundlagen. 32 Zu nennen sind insbesondere die EG-Amtshilfe-Richtlinie von 1977 und das EG-Amtshilfegesetz von 1985, die Auskunftsklauseln der Doppelbesteuerungsabkommen (s. auch Art. 26, 27 OECD-Musterabkommen und die Kommentare zu § 117 AO), die EU-Zinsertragsteuer-Richtlinie (Zinsrichtlinie) von 2003 und die Zinsinformationsverordnung von 2004, in Kraft seit Juli 2005. R. Seer/I. Gabert ordnen das Normengeflecht nach Gemeinschaftsrecht, multilaterale und bilaterale Rechtsquellen (Doppelbesteuerungsabkommen, bilaterale Amts-Rechtshilfeabkommen) sowie unilaterale Rechtsquellen und behandeln Konkurrenzfragen. 33 Ob die für das Geflecht Verantwortlichen sich jemals Gedanken darüber machen, wie die ständig unter Zeitdruck arbeitenden Veranlagungsbeamten in Kürze die Rechtslage ermitteln sollen, fragt sich. 34 2.5 Abstützung des Veranlagungsverfahrens durch Außenprüfung, Steuerfahndung, Steueraufsicht und Kontrollmitteilungen 2.51 Außenprüfung Die weitgehend ineffiziente Veranlagung „am grünen Tisch“ kann durch Außenprüfungen zum Teil ausgeglichen werden. Oft gehen der Außenprüfung „Steuerfestsetzungen unter Vorbehalt der Nachprüfung“ (§ 164 AO) voraus, so dass eine erforderlich werdende Korrektur von Steuerbescheiden nicht auf § 173 AO gestützt werden muss, weil § 164 II AO für die Korrektur zur Verfügung steht, ohne dass „neue Tatsachen“ entdeckt werden müssen. Die Außenprüfung findet i. d. R. in den Räumen des Steuerpflichtigen statt. Der Steuerpflichtige hat – ebenso wie im Veranlagungsverfahren – bei der Außenprüfung mitzuwirken (§ 200 AO). Dem Prüfer sind vor allem Aufzeichnungen, Bücher, Geschäftspapiere und andere Urkunden vorzulegen. Dadurch wird die Effizienz der Kontrolle im Vergleich zum Veranlagungsverfahren erheblich gestärkt; dies auch durch § 147 VI AO (der eine digitale Außenprüfung ermöglicht), durch unmittelbaren Zugriff auf
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Steuerrecht20, 2010, § 21 Rz. 174 f. („Gesteigerte Mitwirkungspflicht bei Auslandssachverhalten“). Dazu Hinweis auf R. Seer/I. Gabert, StuW 2010, 4 (zum internationalen Auskunftsverkehr). So zutreffend R. Seer/I. Gabert, StuW 2010, 22 re. u. StuW 2010, 4 ff., 11 f. Auch die EuGH-Richter dürften die Möglichkeiten der Veranlagungsbeamten überschätzen (s. W. Widmann, DStJG Bd. 31 [2008], 303).
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Veranlagungsverfahren
die im Rechnungswesen der Unternehmen enthaltenen Daten. Mathematische Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Software erleichtern Plausibilitätsprüfungen. Die Prüfung der Belege tritt zu Gunsten von Nachkalkulationen durch Softwareeinsatz zurück. § 193 I AO lässt bei Unternehmen die so genannte anlasslose (keine Begründung des Prüfungsanlasses erfordernde) Prüfung zu. Geht es um andere Einkünfte, so ist die Prüfung nur zulässig, wenn steuererhebliche Verhältnisse der Aufklärung bedürfen (§ 193 II Nr. 2 AO). Die Betriebsprüfungsordnung – eine Verwaltungsvorschrift – teilt die Betriebe in Groß-, Mittel-, Klein- und Kleinstbetriebe ein und bestimmt die unterschiedliche Prüfungsfrequenz. Diese nimmt mit abnehmender Betriebsgröße deutlich ab und ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. Im Jahr 2007 betrug die Prüfungsdichte im deutschen Durchschnitt bei Großbetrieben 4,4 Jahre, bei Mittelbetrieben 12,8 Jahre, bei Kleinbetrieben 25,5 Jahre und bei Kleinstbetrieben nur noch 88,6 Jahre. 35 Die unterschiedliche Prüfungsdichte soll das zu erwartende Mehrergebnis berücksichtigen. Man geht davon aus, dass der Prüfungserfolg mit zunehmender Größe des Unternehmens wächst. Das ist ein fiskalischer Maßstab ohne Rücksicht auf die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Der Bundesfinanzhof hat diesen Maßstab bisher nicht beanstandet. Es geht aber nicht an, dass die Auswahl zur Prüfung von anderen Kriterien als dem Prüfungsbedürfnis abhängt. Da Außenprüfungen ganz überwiegend zu Steuermehrergebnissen führen, können wegen des Länderfinanzausgleichs unerwünschte Mehrergebnisse dadurch vermieden werden, dass die Geberländer die Zahl der Prüfer und dadurch die Prüfungsfrequenz restringieren. § 7 BpO bestimmt, dass bei der Prüfung „auf das Wesentliche abzustellen“ ist. 2.52 Steuerfahndung Die Veranlagungsstellen können bei Verdacht einer Steuerstraftat (§ 385 AO; § 163 I i. V. mit § 160 StPO) die Steuerfahndung einschalten (§ 208 I Nr. 1 AO). Die Steuerfahndung darf in Zusammenhang mit der Erforschung von Straftaten aber auch die Besteuerungsgrundlagen ermitteln (§ 208 I Nr. 2 AO). Die Doppelaufgabe ist der Steuerfahn35 Zitiert nach R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 21 Rz. 235. Zahlenangaben auch in: Präsident des Bundesrechnungshofes, Probleme beim Vollzug der Steuergesetze, 2006, S. 72 f., 75. Zahlenangaben für die Jahre 1970–2000 bei R. Seer, StuW 2003, 50. Weitere Literatur: R. Rüsken, Außenprüfung im Rechtsstaat, DStJG Bd. 31 (2008), 243 ff.; R. Seer, Tax Compliance und Außenprüfung, in: Festschrift für M. Streck, 2011, S. 403 ff.
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§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften
dung übertragen worden, weil Steuerstraftaten die Verletzung von Steuerrecht voraussetzen. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben sind der Steuerfahndung sowohl strafrechtliche als auch steuerrechtliche Ermittlungsbefugnisse übertragen worden (s. § 208 I 2 AO). Die Doppelfunktion (§ 208 I Nrn. 1, 2 AO) mit den jeweils eigenen Befugnissen darf nicht dazu führen, dass die Steuerfahndung zwischen den beiden Verfahrensarten hin- und herspringt, um so den höchstmöglichen Aufklärungseffekt zu erreichen. Vielmehr darf die Fahndung in dem Verfahren, in dem sie ermittelt, nur die Mittel anwenden, die dieses Verfahren zur Verfügung stellt. Immer muss der Steuerpflichtige wissen, in welcher Verfahrensart ermittelt wird. 36 Schließlich ist es Aufgabe der Steuerfahndung, unbekannte Steuerfälle aufzudecken und zu ermitteln (§ 208 I Nr. 3 AO). Voraussetzung dafür ist, dass unter Berücksichtigung allgemeiner Erfahrungen der Finanzbehörden die Möglichkeit oder Vermutung besteht, dass ein Steuertatbestand verwirklicht worden ist. 37 § 208 I Nr. 3 AO berechtigt nicht zu Maßnahmen „ins Blaue hinein“. Sie werden in der Praxis wohl auch kaum vorkommen. Die Zulässigkeit von Rasterfahndungen wird allgemein verneint. Die Frage ist nur: Was sind die Voraussetzungen einer Rasterfahndung? 38 Die Steuerfahndung verfügt bereits als Institution über ein gehöriges Drohpotenzial. Ihre oft robusten Methoden der Durchsuchung, der Beschlagnahme und der Festnahme haben eine besonders abschreckende Wirkung. Diese Mittel und Methoden müssen allerdings nicht zur Gleichmäßigkeit der Besteuerung beitragen, weil die Steuerfahndung eben nur bei einem relativ kleinen Bruchteil der Steuerbürger auftaucht. Eine Durchsuchung bei allen Bürgern würde wahrscheinlich manches zu Tage fördern, wovon die Veranlagungsstellen und selbst die Außenprüfer (die zu Durchsuchungen und Beschlagnahmen nicht berechtigt sind) sich nichts träumen lassen. Steuerstrafverteidiger R. Schwedhelm über die Steuerfahnder: „Die Fahnder sind Steuerbeamte des gehobenen Dienstes, die zumeist aus der Betriebsprüfung kommen. In der Regel geht dem Wechsel keine intensive und ausreichende Schulung im Strafprozessrecht voraus. . . . Mit dem Überwechseln zur Fahndung erhält der ‚neugeborene‘ Fahnder unmittelbar die Aufgabe und Möglichkeit zu beschlagnahmen, Häuser zu durchsuchen, zu verhaften. Der Fahnder lernt durch seine Arbeit eine Vielzahl von Fällen kennen, in denen Steuerbürger Steuern hinterzogen haben. Dieser einseitige Umgang im täglichen Beruf beginnt die strafprozessualen Werte – sofern der Beamte sie 36 Dazu R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 21 Rz. 256. 37 BFH BStBl. 2007 II, 155, 157. 38 Dazu kritisch R. Rüsken, DStJG Bd. 31 (2008), 259 f. („Das überschätzte und illusionäre Verbot der sog. Rasterfahndung“).
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Veranlagungsverfahren überhaupt gelernt hat – zu verschieben. Der Fahnder gewinnt die Neigung, aus dem Erfolg die Rechtmäßigkeit seiner Mittel abzuleiten . . . Die einseitig konzentrierte Berufserfahrung prägt den Fahnder und sein Auftreten. Die Steuer- und Strafverfolger werden im Übrigen in ihren Aktionen weniger durch persönliche, gefühlsmäßige, prestigebetonte oder politische Gründe motiviert, als dies die Beschuldigten häufig annehmen“. 39
Aber immerhin, die Steuerfahndung lässt „mit sich handeln“. Man mag das „Ablasshandel“ oder „Handel mit Gerechtigkeit“ nennen; die Absprachen oder Verständigungen sind aus der Erledigungsnot der Steuerfahndung geboren. 40 2.53 Nachschau Die Nachschau nach § 210 AO dient zoll- und verbrauchsteuerrechtlichen Zwecken. Seit 2002 existiert ein § 27b UStG. Danach darf das Finanzamt ohne vorherige Ankündigung Grundstücke und Räume während der Geschäfts- und Arbeitszeiten betreten, um steuererhebliche Sachverhalte festzustellen. Die Finanzbeamten können Auskunft sowie Einsicht in Bücher, Aufzeichnungen und andere Geschäftsunterlagen verlangen (§ 27b II UStG). Die Vorschrift stieß bei ihrer Einführung auf heftige Kritik. 41 Präziser gefasst müsste die Nachschau aber über das Umsatzsteuerrecht hinaus verallgemeinert werden. 42 § 27b UStG entspricht nicht dem Verallgemeinerungsgebot. 2.54 Kontrollmitteilungen Die Veranlagungsstellen, die Außenprüfer und die Steuerfahnder dürfen Kontrollmitteilungen auswerten. Diese Möglichkeit ist allerdings dadurch eingeschränkt, dass nur § 93a AO und § 194 III AO Kontrollmitteilungen vorsehen. Die Veranlagungsstellen sind auch berechtigt, im Wege der Amtshilfe Kontrollmitteilungen zu versenden, machen davon offenbar aber wenig Gebrauch. Für die Veranlagung von Rentnern erhalten die Finanzämter Rentenbezugsmitteilungen von den Versicherungsträgern (s. § 22a EStG).
39 R. Schwedhelm, in: Festschrift für M. Streck, 2011, S. 568 f. 40 Dazu R. Seer, Konsensuale Paketlösungen im Steuerstrafverfahren, in: Festschrift für G. Kohlmann, 2003, S. 535 ff. 41 Nachweise durch R. Seer, StuW 2003, 51 („plötzlicher Überfall“ nicht rechtsstaatlich; „polizeistaatliche Manier“, „Verletzung der Privatsphäre“), s. auch R. Rüsken, DStJG Bd. 31 (2008), 252 ff. 42 Auch nach R. Seer greift § 27b UStG „noch zu kurz“ . . . Denn das Bedürfnis für eine Nachschau beschränkt sich nicht auf die Umsatzsteuer, sondern bezieht sich ebenso auf die direkten Veranlagungssteuern„ (StuW 2003, 52 li.). Der Gesetzgeber kennt das im Gleichheitssatz angelegte Gebot der Verallgemeinerung nicht.
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§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften
Für die Erbschaftsteuerveranlagung sieht das Erbschaftsteuergesetz eine Anzeigepflicht der Vermögensverwahrer, Vermögensverwalter und Versicherungsunternehmen sowie der Gerichte, der Behörden, der Beamten und Notare vor (§§ 33, 34 ErbStG).
3. Quellenabzugsverfahren Dem Quellenabzugsverfahren unterliegen (1) Einkünfte aus nicht selbstständiger Arbeit (§§ 38 ff. EStG). Was der Arbeitgeber als Steuer einzubehalten und abzuführen hat, wird als Lohnsteuer bezeichnet; sie ist keine selbstständige Steuer, sondern eine Art der Einkommensteuer (s. §§ 38 ff. EStG). Bei jeder Lohnzahlung hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer für Rechnung des Arbeitnehmers – er ist der Steuerschuldner – abzuführen. §§ 40–40b EStG lassen Pauschalierungen zu. Das Verfahren wird mit dem Lohnsteuerjahresausgleich abgeschlossen (§ 42b EStG). Der Arbeitgeber haftet für die Lohnsteuer (§ 42d EStG). Die Arbeitgeber stehen aber nicht Finanzbeamten gleich, sie werden von Lohnsteuer-Außenprüfern kontrolliert. Soweit Lohnsteuerpflichtige nicht nach § 46 II EStG zu veranlagen sind, hat die Lohnsteuer abgeltende Wirkung. 43 Es geht hier indessen nicht um die dogmatischen Probleme des Lohnsteuerrechts, sondern um die später zu prüfende Effizienz des Abzugsverfahrens im Verhältnis zum Veranlagungsverfahren; (2) bestimmte Einkünfte aus Kapitalvermögen (§§ 43–45c EStG). Das gilt grundsätzlich nur, wenn der Schuldner Wohnsitz, Geschäftsleitung oder Sitz im Inland hat (§ 43 I 1, III 1 EStG). Mit der Abgeltungsteuer ist ein Steuersatz von grundsätzlich 25 Prozent eingeführt worden. Auch die Kapitalertragsteuer ist eine Art der Einkommensteuer. Auch die Erfüllung der Pflichten des Schuldners der Kapitalerträge wird durch eine besondere Außenprüfung kontrolliert (§ 193 II Nr. 1 AO; s. auch § 50b EStG); (3) Einkünfte beschränkt Steuerpflichtiger (s. §§ 50a–50d EStG). 44 Detaillierte Übersicht in K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 9 Rz. 903 ff.
43 Zum Lohnsteuerverfahren Chr. Goez, Die Quellenbesteuerung als Erhebungsform der Einkommensteuer, 1993; B. Heuermann, Leistungspflichten im Lohnsteuerverfahren, StuW 1998, 219 ff.; ders., Steuern erheben durch Beleihen?, StuW 1999, 349 ff.; G. Kirchhof, Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, 2005. 44 Dazu H. Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011, S. 210 ff., 218 ff.
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Allgemeine Verwaltungsvorschriften
4. Steuervollzug auf der Grundlage von allgemeinen Verwaltungsvorschriften Literatur Literaturnachweise bis 1993 in Band III1, 1993, S. 1162. Literatur nach 1993: M. Jachmann, Zur Anwendung typisierender Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, StuW 1994, 347 ff.; dies., Die Bindungswirkung normenkonkretisierender Verwaltungsvorschriften, Die Verw. 1995, 17 ff.; A. Leisner, Verwaltungsgesetzgebung durch Erlasse, JZ 2002, 219 ff.; H.-U. Erichsen, Verwaltungsvorschriften als Steuerungsnormen und Rechtsquellen, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 39 ff.; W. G. Leisner, Gesetzmäßigkeit von Verwaltungsvorschriften, StuW 2007, 241 ff.; K.-D. Drüen, Verwaltungsvorschriften, in: Tipke/Kruse, Kommentar zur AO/FGO (Loseblatt Lfg. Okt. 2006), § 4 AO Tz. 80 ff.; J. Lang, Verwaltungsvorschriften, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 5 Rz. 20 ff. Hinweis auch auf R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 107 ff., 123 ff., 488 ff. (s. auch Stichwort „Verwaltungsvorschriften“); J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2001, S. 23 ff., 76 ff., 654 ff., 672 ff., 680 ff.; (s. auch das Stichwort „Verwaltungsvorschriften“); R. Seer, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Lfg. April 2011, Art. 108, Rz. 177–195.
4.1 Bedeutung von allgemeinen Verwaltungsvorschriften für den gesetzmäßigen, gleichmäßigen Steuervollzug Allgemeine Verwaltungsvorschriften sind untergesetzliche, abstraktgenerelle Regelungen, die von einer übergeordneten Behörde der öffentlichen Verwaltung ausgehen und untergeordnete Behörden und ihre Amtsträger binden. Sie regeln die Organisation der Verwaltungsbehörden und/oder die Gesetzesanwendung. Als untergesetzliche Vorschriften müssen Verwaltungsvorschriften, die für die einheitliche Gesetzesanwendung sorgen sollen, sich an die Gesetze halten, dürfen nicht gegen sie verstoßen. Verwaltungsvorschriften dürfen nicht neben die Gesetze treten, sie sind kein zulässiger Gesetzesersatz. Die der Gesetzesanwendung dienenden Verwaltungsvorschriften sollen zur Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung beitragen. Diese wären, zumal im Massenverfahren, ohne allgemeine Verwaltungsvorschriften zur Gesetzesanwendung nicht zu erreichen. Solche Verwaltungsvorschriften entlasten zugleich Finanzbeamte und praktisch auch Steuerberater. Sie nehmen ihnen das Studium der juristischen Anwendungs-Methodenlehre ab. Allerdings lassen Verwaltungsvorschriften in der Regel nicht erkennen, ob und wie sie juristisch-methodisch fundiert sind. Oft sind sie kurz und knapp, apodiktisch, dekretierend abgefasst.
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§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften
Verwaltungsvorschriften pflegen auch die einschlägigen Entscheidungen des Bundesfinanzhofs aufzunehmen und Informationslücken über abseitige, ungeläufige Gesetzesvorschriften zu schließen. So tragen sie zur Beschleunigung des Veranlagungsverfahrens bei. Finanzbeamte, die im Durchschnitt weniger als eine halbe Stunde für eine Veranlagung zur Verfügung haben, können sich kein aufwändiges Rechtsprechungs- und Literaturstudium leisten. Ideal ist das nicht. H.-U. Erichsen drückt es so aus: „Die durch Verwaltungsvorschriften erfolgte Norminterpretation soll den Auslegungsvorgang rationalisieren, vereinheitlichen und entsubjektivieren, um die unterschiedliche Beurteilung gleicher Sachverhalte und damit Selbstwidersprüche der rechtsanwendenden Exekutive auszuschließen. Die Konzentration der Normauslegung an der Verwaltungsspitze bewirkt eine Vereinfachung und Vereinheitlichung des Gesetzesvollzugs und nimmt den einzelnen Sachbearbeitern einen wesentlichen Teil der Arbeit ab“. 45 „Würde man die Konkretisierung durch Anwendung der Steuergesetze . . . dem einzelnen Sachverwalter überlassen, so würde ihn dies nicht nur überfordern, sondern auch die Verwirklichung des der Exekutive durch Art. 3 Abs. 1 GG auferlegten Gebots der Einheitlichkeit der Verwaltung bzw. der Rechtsanwendungsgleichheit gefährden.“ 46 Allgemeine Verwaltungsvorschriften erhöhen die Steuerplanungssicherheit, machen das Gesetzesverständnis der Finanzbehörden berechenbarer. 47 Das setzt freilich voraus, dass die Steuerplaner sich auf allgemeine Verwaltungsvorschriften verlassen können. 48 Allerdings, auch Verwaltungsvorschriften, die den Gesetzesvollzug vereinheitlichen sollen, dienen nicht immer der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung (was sie sollten), sondern sie hemmen und stören sie zuweilen auch, interpretieren in dubio pro fisco, sind einseitig an der Optimierung des Steueraufkommens orientiert. Rechtsprobleme ergeben sich daraus, dass Verwaltungsvorschriften keine Rechtsnormen sind, folglich Steuerpflichtige (und ihre Berater) sowie die Gerichte nicht binden, dass sich aber gleichwohl tatsächlich vor allem Steuerberater so auf allgemeine Verwaltungsvorschriften verlassen, als wären sie Gesetze. Fraglich ist aber, ob in der Zeit der durch die Verfassung formalisierten Rechtsetzung den Verwaltungsvorschriften eine „normative Kraft des Faktischen“ verliehen werden darf. Da das Steuerrecht als Massenfallrecht sich ohne Ver45 H.-U. Erichsen, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 43 m. w. N. 46 H.-U. Erichsen (Fußn. 45), S. 44 m. w. N. – Hinweis auch auf J. Lang, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 5 Rz. 24; P. Kirchhof, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 35 („praktische Bedeutung der Vereinheitlichung des Vollzugs“). 47 Dazu J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 27 ff. 48 Dazu unten S. 1447.
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Allgemeine Verwaltungsvorschriften
waltungsvorschriften indessen schwerlich praktizieren ließe, 49 sind Verwaltungsvorschriften kein deutsches Proprium, sondern eine überall in der Welt verbreitete Erscheinung. H. G. Ruppe merkt zu den Verwaltungsvorschriften (in Österreich als Verwaltungserlässe bezeichnet) an: „Verwaltungsvorschriften, die für eine Mehrzahl von Fällen die Rechtsauffassung der Finanzverwaltung zur Interpretation bestimmter Rechtsvorschriften oder zur steuerrechtlichen Behandlung bestimmter Sachverhaltskonstellationen bekannt geben, somit einer einheitlichen Rechtsanwendung dienen, finden sich wohl in den meisten Steuerrechtsordnungen. Sie besitzen auch in Österreich eine hervorragende praktische Bedeutung, wobei hier die rechtliche Bewältigung dieses Phänomens im Hinblick auf das Schweigen der Rechtsordnung einerseits, die streng verstandene Gesetzesbindung (Legalitätsprinzip, Art. 18 B-VG) andererseits gewisse Schwierigkeiten bereitet“. 50 Die Werturteile über Verwaltungsvorschriften fallen weit auseinander. Die einen halten sie für rechtsstaatlich zweifelhafte Gebilde und sehen in ihnen die Gefahr, dass der Rechtsstaat vom Staat der Verwaltungsvorschriften verdrängt werde. Die Gefahr bestehe vor allem dann, wenn die Verwaltungsvorschriften nicht strikt auf ihre Gesetzeskonformität geprüft würden. Andere halten Verwaltungsvorschriften im Massenfall-Steuerrecht für unentbehrlich und verweisen darauf, dass die Verwaltungsvorschriften eben deshalb überall in der Welt verbreitet seien. Steuerjuristen, die sich als Verwaltungsvorschriften-Nehmer (Beamte) nicht wohl fühlen, auch keine Chance sehen, Verwaltungsvorschriften-Geber zu werden, können in den Richterberuf oder in den freien Beruf wechseln. 4.2 Terminologische Anmerkungen Art. 108 VII GG spricht von „allgemeinen Verwaltungsvorschriften“, ebenso Art. 84 II GG und auch § 176 AO. Durch das Beiwort „allgemeine“ sollen die so genannten den Einzelfall betreffenden Einzelweisungen ausgeschieden werden. Von Einzelweisungen spricht Art. 84 V GG. Da Art. 85 III GG schlicht den Ausdruck „Weisung“ 49 K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 550: „Zumal das Steuer- und das Sozialrecht wären ohne Verwaltungsvorschriften nicht vollzugsfähig . . .“ (Das gilt jedenfalls für die periodischen Steuern, d. V.). Näher dazu J. Hey, Steuerplanungssicherheit (Fußn. 47), S. 24 ff., 25 („Steuerberatung ohne Richtlinien wäre nicht denkbar“). 50 H. G. Ruppe, in: Gedächtnisschrift für Chr. Trzaskalik, 2005, S. 157. – Zu den Regulations der USA W. R. Walz, Verwaltungsanordnungen im Bundessteuerrecht der Vereinigten Staaten, StuW 1982, 381 ff. Das Steuerrecht der USA ist weitgehend durch Regulations erschlossen worden.
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gebraucht, ist umstritten, ob er nicht doch die Einzelweisung meint, nicht die allgemeine Verwaltungsvorschrift. Auch wenn nur von „Verwaltungsvorschriften“ (unter Weglassung des „allgemeinen“) gesprochen wird, sind in der Regel doch die allgemeinen, abstrakt-generellen, eine Vielzahl von Personen oder Unternehmen erfassenden Verwaltungsvorschriften gemeint. Begriffe wie „Verwaltungsanordnung“ oder „Verwaltungsverordnung“ sind in der deutschen steuerrechtlichen Literatur nicht mehr gebräuchlich. Die allgemeinen Verwaltungsvorschriften (auch hier künftig kurz als Verwaltungsvorschriften bezeichnet) der Bundes- und Landesfinanzministerien (-behörden) werden als Erlasse, die Verwaltungsvorschriften der Oberfinanzdirektionen als Verfügungen (auch Allgemeinverfügungen) bezeichnet. Die Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen sind ein deutsches Unikum. Sie beruhen auf einer Bund-Länder-Vereinbarung von 1970 (s. S. 1413) und bilden die Grundlage für eine bundeseinheitliche Umsetzung in Erlasse der obersten Landesfinanzbehörden. Nach herrschender Meinung sind nicht schon die BMFSchreiben, sondern erst die auf sie gegründeten Ländererlasse allgemeine Verwaltungsvorschriften. Während die Erläuterungen zur Abgabenordnung als Anwendungserlass (AEAO) bezeichnet werden, heißen die Anwendungserlasse zum Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Bewertungsgesetz, Gewerbesteuergesetz, Umsatzsteuergesetz Richtlinien (der Bundesregierung auf der Grundlage des Art. 108 VII GG). In Österreich werden die Verwaltungsvorschriften üblicherweise „Verwaltungserlässe“ genannt. H. G. Ruppe erwähnt, dass auch die Bezeichnungen Richtlinien, Durchführungsbestimmungen, Erläuterungen oder dergleichen in Österreich vorkommen. 51 In der Schweiz werden die der Gesetzesanwendung dienenden Verwaltungsvorschriften „Vollziehungsverordnungen“ genannt. 52 4.3 Notwendige Gesetzeskonformität Die Befugnis zum Erlass von Verwaltungsvorschriften bedarf keiner verfassungsrechtlichen oder gesetzlichen Ermächtigung. Sie dürfen auf Grund der Organisations- und Vollzugsgewalt der übergeordneten über die untergeordneten Behörden ergehen. 53 Die Befugnis zu Verwaltungsvorschriften wird auch als „Hausgut der Verwaltung“ bezeichnet. Art. 108 VII GG steht dem nicht entgegen; er weist die Verwaltungsvorschriftenbefugnis nur der Bundesregierung (u. U. mit Zu51 H. G. Ruppe (Fußn. 50), S. 157. 52 M. Reich, Steuerrecht, Zürich u. a., 2009, S. 42. 53 S. auch H.-U. Erichsen (Fußn. 45), S. 48; K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, Kommentar zur AO/FGO (Loseblatt, Lfg. Okt. 2006), § 4 Rz. 81.
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stimmung des Bundesrates) zu, nicht dem Bundesfinanzministerium. 54 Das heißt aber nicht, dass die Verwaltungsvorschriften einen beliebigen Inhalt haben, dass die vorgeordneten Behörden den Inhalt von Verwaltungsvorschriften frei – nach eigenem Gutdünken – gestalten dürften. Steuern dürfen nur auf Grund Gesetzes erhoben werden, nicht auf Grund von Verwaltungsvorschriften. 55 Die Finanzbehörden haben die Steuergesetze so zu vollziehen, wie sie sind. Sie haben sie nicht zu verändern. Sie sind als vollziehende Gewalt an „Gesetz und Recht“ (Recht i. S. von Verfassungsrecht) gebunden (Art. 20 III GG). P. Kirchhof äußert dazu zutreffend: „Allerdings hat sich in weiten Teilen des Steuerrechts eine Verwaltungspraxis entwickelt, die vielfach allein nach Verwaltungsvorschrift ungeachtet des Gesetzes besteuert. Eine derartige Rechtsfindung verfehlt den rechtsstaatlichen Gedanken des Gesetzesvorbehalts . . . Eine bloße Begründung von Steuerlasten aus der Verwaltungsvorschrift . . . rückt das Gesetz von vornherein aus seiner maßstabgebenden Funktion und schwächt das Bewusstsein, dass die Verwaltungsvorschrift stets an Gesetz und Verordnung zu messen und im Übrigen gesetzes- und verordnungskonform anzuwenden ist“. 56 Allerdings, soweit Gerichte Gesetzeslücken ausfüllen dürfen, hat auch die Exekutive das Recht dazu, durch Verwaltungsvorschriften. Besser wäre es aber, wenn das Finanzministerium in solchen Fällen auf Lückenschließung durch den Gesetzgeber hinwirken würde. Im Allgemeinen interessiert sich die Literatur indessen mehr für die Frage, welchen Personenkreis Verwaltungsvorschriften binden, weniger dafür, dass die Verwaltungsvorschriften gesetzesskonform sein müssen. Walter G. Leisner bemängelt zu Recht, dass das Thema „Gesetzeskonformität der Verwaltungsvorschriften in der Literatur vernachlässigt“ werde. Die Bindungsdiskussion lenke von der notwendigen Prüfung der Gesetzeskonformität der Verwaltungsvorschriften ab. W. G. Leisner geht ausführlich auf Gesetzesverstöße steuerlicher Verwaltungsvorschriften ein. 57 Ihm ist durchweg zuzustimmen. Insbesondere Steuerberater vertrauen oft blind auf die Gesetzeskonformität der Verwaltungsvorschriften. Für eine Messung von Verwaltungsvorschriften am Gesetz und für eine selbständige Auslegung des Gesetzes fehlt vielen das juristische Rüstzeug. Steuerberater benutzen im Übri-
54 R. Seer, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Lfg. April 2011, Art. 108 Rz. 179; K.-D. Drüen, (Fußn. 53), § 4 Rz. 81; s. auch schon Bd. III1, 1993, S. 1164. 55 Dazu Bd. I2, 2000, S. 118 ff., 125 ff., 128. 56 P. Kirchhof, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 35. 57 StuW 2007, 241, 242 ff.
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gen verständlicherweise die Verwaltungsvorschriften als Abwehrmittel gegen Haftpflichtansprüche und als Basis für Steuerplanungen. O. Bühler hatte unter Berufung auf die „langjährige Praxis“ die Verwaltungsvorschriften „Ergänzungsrecht“ genannt. 58 P. Kirchhof beanstandet zu Recht diese Wortwahl. 59 Andere Autoren betonen die Hilfsfunktion der Verwaltungsvorschriften für den nicht juristischen Dienst der Steuerverwaltung und die wirtschaftswissenschaftlich, nicht juristisch ausgebildeten Steuerberater. Der Begriff „untergesetzliche Hilfsnorm“ 60 ist von J. Hey aufgegriffen worden; sie verwendet ihn, weil er auch Orientierungshilfe für den planenden Steuerpflichtigen ist. 61 In der Besteuerungswirklichkeit, wie J. Hey sie schildert, 62 sind Verwaltungsvorschriften für viele Gesetzesanwender tatsächlich eine unentbehrliche Hilfe. Rechtlich ändert das nichts an dem, was auch M. Reich (für das Schweizer Recht) feststellt: „Eine Vollzugsverordnung (= Verwaltungsvorschrift, d. V.) konkretisiert eine gesetzliche Regelung durch Detailregeln. Sie auferlegt gegenüber dem zu vollziehenden Erlass (= Gesetz, d. V.) keine neuen Pflichten und schränkt keine Rechte zusätzlich ein; sie führt lediglich die im Gesetz vorgezeichnete Regelung aus“. 63 Jedenfalls sollte es so sein. 4.4 Bindungen, Bindungswirkungen Allgemeine Verwaltungsvorschriften binden die nachgeordneten Behörden, an die sie sich richten. Sie binden aber nicht die Steuerpflichtigen und ihre Berater sowie grundsätzlich auch nicht die Gerichte. Da vorgeordnete Behörden keine Verwaltungsvorschriften beschließen dürfen, die gegen Gesetz und Recht verstoßen, auch die Verwaltung („vollziehende Gewalt“) an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 III GG) ist, haben gesetzwidrige Verwaltungsvorschriften keine Bindungswirkung. 64 Nach K.-D. Drüen kann von den nachgeordneten Verwaltungsbehörden die Befolgung „offensichtlich rechtswidriger“ Verwaltungsvorschriften nicht verlangt werden. 65 O. Bühler, Steuerrecht Bd. I1, S. 41. In: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 36. Verwendet von K. Vogel, in: Festschrift für W. Thieme, 1993, S. 605, 616. J. Hey, Steuerplanungssicherheit (Fußn. 47), S. 23. J. Hey, Steuerplanungssicherheit (Fußn. 47), S. 24 ff. Sie spricht von „gesetzesgleicher Wirkung von Verwaltungsvorschriften als Rechtstatsache“. 63 M. Reich (Fußn. 52), S. 42. 64 BVerwGE 34, 278, 282; 36, 323, 324. 65 K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse (Fußn. 53), § 4 AO Tz. 80 unter Bezug auf J. Hey, DStR 204, 1902. 58 59 60 61 62
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Darf aber der Beamte, der eine allgemeine Verwaltungsvorschrift oder eine Weisung (etwa der OFD) im Einzelfall als „offensichtlich rechtswidrig“ ansieht, diese stillschweigend negieren? Wir meinen, er müsse von seinem Remonstrationsrecht Gebrauch machen. 66 Dass Amtsträger (Bedienstete) verpflichtet sind, Verwaltungsvorschriften zu befolgen, ergibt sich für Beamte aus dem Beamtenrecht (§§ 55, 56 BBG, §§ 37, 38 BRRG), für Angestellte aus dem Dienstvertragsrecht. Die Weigerung, Verwaltungsvorschriften zu befolgen, kann zu disziplinarischen Maßnahmen führen. Auch angewiesene Beamte und Angestellte tragen indessen für die Rechtmäßigkeit ihrer Handlungen die persönliche Verantwortung. Diese Verantwortung können sie auf ihre Vorgesetzten abwälzen und sich selbst von Verantwortung befreien, wenn sie ihr Remonstrationsrecht ausüben (§ 56 BBG, § 36 BeamtStG, § 38 BRRG). 67 Die Remonstration ist nicht davon abhängig, dass die Verwaltungsvorschrift „offensichtlich rechtswidrig“ ist. Es genügen „Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen“. In der Praxis wagt es kaum jemand, die Verwaltungsvorschriften einer vorgesetzten Behörde für rechtswidrig zu halten oder auch nur Bedenken anzumelden. Zu groß ist die Befürchtung, man werde als Querulant abgestempelt, man setze durch die Remonstration seine Karriere aufs Spiel. Nie hat man davon gelesen oder gehört, dass Beamte z. B. Bedenken geäußert hätten gegen den AO-Anwendungserlass, gegen die GNOFÄ, gegen die Betriebsprüfungsordnung. Es geht kein Betriebsprüfer zum Vorsteher und meldet, er halte die Betriebsprüfungsordnung für rechtswidrig. Es geht kein Sachbearbeiter zum Vorsteher, kein Vorsteher zur Oberfinanzdirektion und meldet, er halte den Anwendungserlass zu § 88 AO oder die GNOFÄ für rechtswidrig. J. Rux bemerkt dazu: „Wer remonstriert, muss grundsätzlich mit Nachteilen rechnen. Das galt für den klassischen Fall, den Prozess der ‚Göttinger Sieben‘ gegen den Staatsstreich ihres Fürsten, der die von ihm beschworene Verfassung aus den Angeln hob und die protestierenden Professoren anschließend nicht nur aus dem Amt, sondern auch aus dem Lande jagte. Das gilt auch heute noch, wie einer der wenigen bekannt gewordenen Fälle von Remonstration der Jetztzeit zeigt: Der Beamte des Finanzamts St. Augustin, der die verdeckte Parteienfinanzierung nicht mitmachen wollte und die Prozesse gegen hohe und höchste Diener der Republik ins Rollen brachte, wurde eben nicht als besonders pflichtbewusster Diener dieser Republik geehrt, sondern musste sich in der Privatwirtschaft einen neuen Job
66 Ebenso H.-U. Erichsen (Fußn. 45), S. 50 oben. 67 § 56 BBG und § 38 BRRG sind abgedruckt in der Vorauflage S. 1166 f. sowie einschließlich § 36 BeamtStG bei R. Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 85 AO Tz. 40–42.
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suchen“. 68 Vorgesetzte sollten die Entwicklung von Zivilcourage fördern, nicht ersticken. 69 Da die Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen sich allein aus den Gesetzen ergeben, nicht aus Verwaltungsvorschriften können die Steuerpflichtigen sich gegen die Anwendung gesetzwidriger Verwaltungsvorschriften gerichtlich wehren. Verwaltungsvorschriften stehen unter dem Vorbehalt richterlicher Kontrolle. 70 Die Norminterpretation durch das Gericht geht der durch die Verwaltung vor. Die Gerichte müssen auch Verwaltungsvorschriften nicht hinnehmen, die zwar vertretbar sind, aber nach Auffassung des Gerichts unzutreffend. 71 Verwaltungsvorschriften würden auch die Steuerpflichtigen und ihre Berater sowie die Gerichte binden, wenn sie Rechtsnormen wären, Gesetze oder Rechtsverordnungen. Das sind sie nach ganz herrschender Meinung aber nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sie Bürger und Gerichte binden. 72 Wenn F. Ossenbühl auch Verwaltungsvorschriften als Rechtsnormen oder Rechtssätze bezeichnet, so soll das heißen, dass sie mit ihrer Bindungswirkung gegenüber untergeordneten Behörden nicht außerhalb der Rechtsordnung stehen. Dass Bürger und Gerichte an Verwaltungsvorschriften gebunden wären, soll damit m. E. nicht behauptet werden. 73 Diese Feststellung gilt wohl auch für E. Schmidt-Aßmann, der ebenfalls von Verwaltungsvorschriften als Rechtsnormen spricht. 74 Mit einem Rechtsnormbegriff, der vom herkömmlichen Begriff abweicht, kann man in der Tat einen „Streit um Worte“ 75 entfachen, der kein Streit um die Bindungswirkung ist. Unbestritten haben Verwaltungsvorschriften – je nach Art der Verwaltungsvorschrift – mehr oder weniger ausgeprägte tatsächliche 68 J. Rux, Das Remonstrationsrecht, beamte heute, März 1992, S. 10. 69 Näher dazu R. Seer (Fußn. 67), § 85 AO Tz. 41, 42. 70 J. Hey, Steuerplanungssicherheit (Fußn. 47), S. 670 m. w. N.; K. Röhl/ H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 551; K.-D. Drüen (Fußn. 65), § 4 AO Rz. 82; BVerwGE 107, 338, 340. 71 K.-D. Drüen (Fußn. 65), § 4 AO Rz. 82. 72 P. Kirchhof (Fußn. 46), S. 28 f.; J. Lang, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 5 Rz. 20, 21. 73 F. Ossenbühl, Zur Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften, in: Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverwaltungsgerichts, 1978, S. 433 ff.; s. auch schon ders., Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968. 74 Festschrift für K. Vogel, 2000, S. 491 und 492. 75 K. Röhl/H. Röhl (Fußn. 70), S. 551. – Zur Einordnung von „Erlässen“ in das Rechtsquellensystem in der (unterschiedlichen) Judikatur der österreichischen Höchstgerichte H. G. Ruppe, in: Gedächtnisschrift für Chr. Trzaskalik, 2005, 158 ff.
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Außenwirkungen (eine rechtliche Außenwirkung gibt es in Ermessensfällen). Tatsächlich orientiert sich das Gros der Steuerberater – ohne dazu rechtlich verpflichtet zu sein – an den Verwaltungsvorschriften, insbesondere an den Richtlinien, und vermeidet dadurch Konflikte mit den Finanzbehörden. Viele Steuerberater sehen in den Verwaltungsvorschriften tatsächlich eine Arbeitshilfe bei der Gesetzesanwendung. Auch bei der Steuerplanung vertrauen Steuerberater auf die Verwaltungsvorschriften. Aus den Gesetzen ergibt sich zusammen mit den Verwaltungsvorschriften und der BFH-Rechtsprechung die Rechtslage. 76 Steuerberater halten Verletzungen der Verwaltungsvorschriften durch Finanzbeamte für Amtspflichtverletzungen (§ 839 BGB; Art. 34 GG) und wehren sich mit Erfolg durch Dienstaufsichtsbeschwerden, wenn sie meinen, dass die Nichtbeachtung von Verwaltungsvorschriften ihre Mandanten benachteilige. 77 Obwohl für viele Steuerberater das Wesentliche nicht im Gesetz, sondern in den Verwaltungsvorschriften, insbesondere in den Richtlinien steht: Für die Frage nach der Rechtsnatur von Verwaltungsvorschriften pflegen Steuerberater sich überwiegend kaum zu interessieren. In dem über 2000 Seiten starken Beck’schen Steuerberater-Handbuch findet sich darüber denn auch nichts; das Recht der Verwaltungsvorschriften kommt gar nicht vor. Ideal ist es allerdings nicht, wenn Steuerberater nur Verwaltungsvorschriften nachbeten oder wiederkäuen. 4.5 Zu einzelnen Arten von Verwaltungsvorschriften Vorbemerkung: Die Lehre von den Verwaltungsvorschriften unterscheidet Organisationsvorschriften und Gesetzesanwendungsvorschriften (Gesetzesvollzugsvorschriften). Organisationsvorschriften regeln den Aufbau und die innere Organisation von Behörden, Geschäftsverteilung und Geschäftsgang eingeschlossen. Durch eine unangemessene Geschäftsverteilung kann die Gleichmäßigkeit der Gesetzesanwendung behindert oder gestört werden. Als Gesetzesanwendungsvorschriften lassen sich unterscheiden: Vorschriften zur Sachverhaltsermittlung, Vorschriften zur Konkretisierung und Auslegung von Gesetzen sowie ermessensleitende Vorschriften. Ein Komplex von Verwaltungsvorschriften kann Organisations- und Gesetzesanwendungs-Verwaltungsvorschriften enthalten, auch ein ungeordnetes Gemenge von beidem. 76 Zum Begriff der Rechtslage auch J. Hey, Steuerplanungssicherheit (Fußn. 47), S. 61, 62, 63, 88. – s. auch hier Bd. I2, 2000, S. 201. 77 Zur Dienstaufsichtsbeschwerde (Sachaufsichtsbeschwerde) gegen Verwaltungsvorschriften Tipke/Kruse, AO/FGO (Loseblatt, Lfg. April 2007), Vor § 347 AO Tz. 29.
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4.51 Verwaltungsvorschriften zur Sachverhaltsermittlung Nach § 88 I 2 AO bestimmt die für die Veranlagung zuständige Finanzbehörde Art und Umfang der Ermittlungen, jedoch nicht willkürlich. Sie sind abhängig von den Umständen des Einzelfalles (§ 88 I 3 AO), m. a. W.: Die Ermittlungsbedürftigkeit (des Sachverhalts) richtet sich nach den „Umständen des Einzelfalls“. Dabei muss die Behörde immer den Zweck im Auge haben, nach Maßgabe des Gesetzes für gleichmäßige Besteuerung zu sorgen. 78 Der AO-Anwendungserlass schreibt vor: „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zu beachten. Die Ermittlungshandlungen dürfen danach zu dem angestrebten Erfolg nicht erkennbar außer Verhältnis stehen“ (Nr. 1 Abs. 1 S. 3, 4). „Für die Anforderungen, die an die Aufklärungspflicht der Finanzbehörden zu stellen sind, darf die Erwägung eine Rolle spielen, dass die Aufklärung einen nicht mehr vertretbaren Zeitaufwand erfordert. Dabei kann auf das Verhältnis zwischen voraussichtlichem zeitlichem Arbeitsaufwand und steuerlichem Erfolg abgestellt werden“ (Nr. 1 Abs. 2 S. 2, 3). Im GNOFÄ 1997-Erlass heißt es eingangs: „Bei der Bearbeitung der Steuerfälle muss auf das Wesentliche abgestellt werden. Der Aufwand bei der Bearbeitung eines Falles richtet sich nach dessen steuerlicher Bedeutung“. 79
Laien, die wenig erklären, dürfen danach „durchgewinkt“ werden. Mit möglichst wenig Zeitaufwand soll ein möglichst großer steuerlicher Erfolg erreicht werden. Gleichmäßigkeit der Besteuerung sieht anders aus. 80 Das Verhältnis zwischen voraussichtlichem Arbeitsaufwand und angestrebtem steuerlichen Erfolg hat nichts mit dem Verifikationsgebot des Bundesverfassungsgerichts zu tun, auch nicht mit Aufklärung nach dem Aufklärungsbedürfnis (Ermittlungsbedürfnis). Allerdings trifft es nicht zu, dass die Finanzverwaltung ihre „fiskalistische“ Verhältnismäßigkeit nur selten und vorsichtig anklingen lasse. Die zitierten Stellen aus dem AO-Anwendungserlass liefern ein offenes Bekenntnis ab. Als weitere Verwaltungsvorschriften befassen sich die ergänzenden Bestimmungen zur Finanzamts-Geschäftsordnung (EB-FAGO) mit dem Steuervollzug. 81 Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, aber was in drei verschiedenen Verwaltungsvorschriften gebracht wird, ist unübersichtlich und unabgestimmt. Warum genügt nicht eine wohlgeordnete Verwaltungsvorschrift zum Steuervollzug? Eine nicht einheitlich beantwortete Frage lautet: Darf durch Verwaltungsvorschriften der Steuervollzug (das Besteuerungsverfahren) ver78 Dazu R. Seer, in: Tipke/Kruse (Fußn. 67), § 88 AO (Lfg. Okt. 2008), Tz. 8, 10–12. 79 Der GNOFÄ-Erlass von 1997 ist abgedruckt in R. Seer (Fußn. 67), Lfg. Okt. 2008, § 85 AO Tz. 27. Dazu die Kritik von R. Seer in Tz. 28, 29. 80 Sehr kritisch zur Inverhältnissetzung von Erhebungsaufwand und Erhebungsergebnis W. G. Leisner, StuW 2007, 241, 247 f. 81 Dazu R. Seer (Fußn. 67), § 85 AO Tz. 30.
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einfacht werden, zumal durch Typisierung von Sachverhalten? In der Diskussion geht es vor allem um Bewertungsrichtlinien, AfA-Tabellen, Richt- und Pauschsätze. Sie sollen von der Sachaufklärung entbinden. 82 Der Bundesfinanzhof hat solche Verwaltungsvorschriften mit unterschiedlicher Begründung gebilligt. 83 Die BFH-Rechtsprechung hat in der Literatur die Unterstützung einiger Autoren erfahren. 84 Danach soll den vereinfachenden Typisierungen eine auch im Verhältnis zu den Steuerpflichtigen wirksame Bindung zukommen. Es handle sich durchweg um eine auf Verwaltungserfahrung beruhende Vereinfachung, die im Massenverfahren zur Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs geboten sei. Die Prüfung der Gerichte müsse und dürfe sich daher auf eine Plausibilitätskontrolle beschränken. K.-D. Drüen hat dazu eine detaillierte Kritik geliefert mit dem Ergebnis: Die von der sicher nicht zu leugnenden Macht der faktischen Verhältnisse inspirierten Lösungsversuche leiden allesamt unter dem Fehlen einer gesetzlichen Grundlage. 85 J. Hey bringt das Motiv der BFH-Rechtsprechung klarsichtig wie folgt auf den Punkt: Hinter der Rechtsprechung „steht nicht etwa eine einheitliche oder dogmatisch anspruchsvolle Begründung, sondern die bloße Not beschränkter richterlicher Arbeitskapazität und mangelnder eigener Sachkenntnis, die es nicht erlauben, den behördlichen Erfahrungsschatz 86 in das Reich des Unverbindlichen zu verweisen. Nur
82 J. Hey weist allerdings zutreffend darauf hin, dass sich Sachverhaltsermittlung und Norminterpretation nicht scharf trennen lassen, weil jede Sachverhaltstypisierung und -pauschalierung Interpretationsanteile enthalten (Steuerplanungssicherheit [Fußn. 47 S. 666]). 83 Urteilsnachweise durch K.-D. Drüen (Fußn. 65), Lfg. Okt. 2006, § 4 AO Tz. 87–89. 84 L. Osterloh, Gesetzesbindung und Beurteilungsspielraum, 1992, 470 ff., 504 ff.; K. Vogel, StuW 1991, 254, 260 ff.; M. Jachmann, StuW 1994, 2047 ff.; weitere Nachweise in K.-D. Drüen (Fußn. 65), Lfg. Okt. 2006, § 4 AO Tz. 90 f. 85 K.-D. Drüen (Fußn. 65), § 4 AO Tz. 91; s. auch Tz. 92. Wie Drüen auch schon H. W. Kruse, in: Tipke/Kruse, Kommentar zur AO/FGO, Lfg. April 1997, § 4 AO Tz. 37c; ihm folgend H.-U. Erichsen (Fußn. 65), S. 54. Auch W. G. Leisner, StuW 2007, 241, 248 ff. sieht keine Rechtsgrundlage für typisierende Vereinfachung. 86 Den behördlichen Erfahrungsschatz sollte man allerdings auch nicht leichthin unterstellen oder überschätzen. K.-D. Drüen stellt im Anschluss H. W. Kruse dazu fest: „. . . die einzelnen Pauschsätze sind allesamt nur das Ergebnis bloßen Meinens der Verwaltungsspitze. Sie beruhen auf behördlichen Gusto, sind oftmals auch mit Verbänden und/oder Interessenvertretern ausgehandelt, doch ein besonderer Sachverstand oder ein ausgeprägtes Erfahrungswissen liegt ihnen nicht zugrunde . . .“ (in: Tipke/ Kruse [Fußn. 53], Lfg. Okt. 2006, § 4 AO Tz. 92).
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wenn die Verwaltungsvorschrift zu im Regelfall unzutreffenden Ergebnissen führt, soll eine Abweichung möglich sein“. 87 Für die Gegner der BFH-Rechtsprechung spricht: Der Gesetzgeber darf in Grenzen Gesetze vereinfachen. Aber daraus folgt nicht, dass die Verwaltung es auch darf. Die Verwaltung ist kein Gesetzgeber. Sie darf nur Vereinfachungsvorschriften des Gesetzes konkretisieren oder auslegen. Auch „der Not gehorchend“ darf die Verwaltung nicht nach eigenem Gutdünken vereinfachende Verwaltungsvorschriften schaffen. Sie darf es auch nicht deshalb, weil die Finanzverwaltung eine Massenverwaltung ist, oder weil ohne Vereinfachungen die Gesetze nicht vollziehbar seien. In aller Regel sind die Gesetze vollziehbar, wenn auch mit unverhältnismäßigem Personalaufwand. Da der Vereinfachungszweck keine Verwaltungsvorschriften rechtfertigt, kann Typisierung auch nicht mit Vereinfachung gerechtfertigt werden. Nicht immer wirkt übrigens Typisierung vereinfachend. Ein Gesetz, das wegen Unbestimmtheit verfassungswidrig ist, kann nicht dadurch genügend Bestimmtheit eingehaucht werden, dass das unbestimmte Gesetz durch Verwaltungsvorschrift einfacher gefasst wird. Durch Verwaltungsvorschriften dürfen keine Verfahrenshürden errichtet werden, die die Gleichmäßigkeit der Besteuerung hemmen oder behindern. Auch der AO-Anwendungserlass zu § 88 AO, der GNOFÄ-Erlass von 1997 und die FAGO-Ergänzungsvorschriften müssen auf ihre Verfassungs- und Gesetzeskonformität überprüft werden. Die Finanzverwaltung hat auch selbst Veranlassung, das zu tun. Der Grundsatz, dass der Veranlagungs-Zeitaufwand und der erwartete Belastungserfolg aufeinander abgestimmt werden müssten, verletzt die Gleichmäßigkeit der Besteuerung, die sich nur durch Prüfung entsprechend dem Prüfungsbedürfnis erreichen lässt. Als Köln die Zweitwohnungsteuer eingeführt hatte, ließ die Stadt auch dem Verfasser einen Zweitwohnungsteuerbescheid zukommen, obwohl die Wohnung beruflich genutzt wurde (mit der Folge, dass das Zweitwohnungsteuergesetz nicht zutraf). Die Stadt befand aber: Bei allen Zweitwohnungsinhabern, die das Rentenalter erreicht hätten, müsse typisierend davon ausgegangen werden, dass diese nicht mehr beruflich tätig seien, folglich Zweitwohnungsteuer schuldeten. Wer – wie der Verfasser – auch im Alter noch tätig sei, dessen Arbeit sei als Liebhaberei zu beurteilen. Das Verwaltungsgericht ließ sich davon überzeugen, dass die Stadt Köln nicht befugt sei, sich eine AltersZweitwohnungsteuer zu er-typisieren. Dem Hinweis, dass das Einkommensteuer-Finanzamt natürlich keine Liebhaberei anerkenne, dass die Kölner Einkünfte versteuert werden müssten, wurde mit dem Einwand begegnet, das Verwaltungsgericht entscheide über die Zweitwohnungsteuer, nicht über die Einkommensteuer. Vom Gebot einer wertungswiderspruchsfreien Einheit der
87 J. Hey, Steuerplanungssicherheit (Fußn. 47), S. 668 f.
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Allgemeine Verwaltungsvorschriften Steuerrechtsordnung war dem auf kommunale Steuern spezialisierten und limitierten Verwaltungsgericht offenbar nichts bekannt.
4.52 Gesetzauslegende Verwaltungsvorschriften Gesetzauslegende (norminterpretierende) Verwaltungsvorschriften, namentlich die Richtlinien, geben das Gesetzesverständnis der Finanzverwaltung wieder. Die Steuerpflichtigen (und ihre Berater) und die Gerichte sind an diese (der Gleichmäßigkeit der Besteuerung dienen sollende) Auslegung nicht gebunden. Die Finanzverwaltung hat das Erstauslegungsrecht; das letzte Wort haben aber die Richter. Die Gesetzesauslegung der Verwaltung steht unter dem Vorbehalt, dass Richter es anders auslegen. Eine gesetzwidrige Gleichmäßigkeit darf nicht hingenommen werden. Die Urheber der gesetzauslegenden Verwaltungsvorschriften sollten sich in der juristischen Methodenlehre auskennen (s. S. 1588 ff.), 88 sich vor allem an die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs halten. Durch die Aufnahme der BFH-Urteile insbesondere in die Richtlinien trägt die Verwaltung dazu bei, dass die Urteile, die rechtlich nur die Beteiligten binden (s. § 110 FGO) tatsächlich eine breite Wirkung entfalten. Für die gesetzvollziehende Finanzverwaltung bestehen die gleichen Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsfortbildung wie für die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit. Wer den Gerichten das Recht zubilligt, Lücken des Gesetzes im Wege der Analogie zu schließen, 89 muss dieses Recht auch der Finanzverwaltung zugestehen und Lückenausfüllung auch durch Verwaltungsvorschriften zulassen. Wer ein steuerrechtliches Analogieverbot bejaht, 90 muss dies gleichermaßen für die Rechtsanwendung der Verwaltung und der Gerichte tun. Für die Gerichte sind die einschlägigen auszulegenden Gesetze maßgebend. Wenn die Finanzbehörde sich aber auf eine Verwaltungsvorschrift beruft, sollte das Gericht sie nicht wie ein rechtliches Nullum übergehen, sondern die ausgelegte Verwaltungsvorschrift darauf prüfen, ob sie dem ausgelegten Gesetz entspricht. So wie Gerichte für die Gesetzesauslegung Gerichtsurteile (Präjudizien) und Fachliteratur heranziehen, so sollten sie auch einschlägige Verwaltungsvorschriften berücksichtigen. Nur haben diese nicht von vornherein die Vermutung der Gesetzmäßigkeit für sich; sie haben auch nicht per se ein besonderes Gewicht. Alles, was die Gerichte bei der Auslegung berücksichtigen, sollte an der inhaltlichen Überzeugungskraft gemessen werden. Darin sind die Verwaltungsvorschriften – zumal die apodik88 Leider muss man von Methodenlehren sprechen. 89 Dazu unten S. 1641. 90 Dazu unten S. 1643.
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tischen, kategorischen, begründungslosen oder begründungsknappen Verwaltungsvorschriften – oft schwach, überzeugungsschwach. Verwaltungsvorschriften dürfen Steuerpflichtige abweichend vom Gesetz weder belasten noch begünstigen. Der begünstigte Steuerpflichtige wird i. d. R. das Gericht nicht anrufen. Überhaupt, da nur eine geringe Zahl von Steuerfällen zu Steuerprozessen führt, wird die Rechtswirklichkeit, die wirkliche Rechtslage, weitgehend von den Verwaltungsvorschriften geprägt. Das Gericht darf eine Verwaltungsvorschrift auch dann nicht anwenden, wenn sie für den Steuerpflichtigen günstiger ist als das Gesetz. Erreicht werden muss eine gesetzmäßige Gleichmäßigkeit, nicht irgendeine Gleichmäßigkeit. Die Ungleichbehandlung, die für den im Prozess unterlegenen Steuerpflichtigen gegenüber den anderen Steuerpflichtigen (die nach der Verwaltungsvorschrift behandelt werden) entsteht, kann die Verwaltung bis zur gebotenen Aufhebung der gesetzwidrigen Verwaltungsvorschrift durch eine Billigkeitsmaßnahe nach § 227 AO ausgleichen. Die Gerichtskontrolle ist auch dann nicht eingeschränkt, wenn es um unbestimmte Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum geht. Die Verwaltung mag den Beurteilungsspielraum nutzen. Ob sie ihn richtig genutzt hat, entscheiden – ohne Einschränkungen – die Gerichte. 91 Den Begriff „Konkretisieren“ sollte man nur verwenden, wenn es um Grundprinzipien geht wie das Rechtsstaatsprinzip oder das Leistungsfähigkeitsprinzip. Solche Begriffe müssen folgerichtig konkretisiert, d. h.: mit konkreterem Inhalt gefüllt werden. Eine Rechtsschutzeinschränkung ergibt sich daraus nicht. Auch die Konkretisierung durch die Verwaltung unterliegt der Vollkontrolle der Gerichte. 4.53 Ermessensleitende Verwaltungsvorschriften Ermessensleitende Verwaltungsvorschriften geben den unterstellten Finanzbehörden Ermessensrichtmaße vor. Dadurch wird der Ermessensspielraum eingeengt; er kann nicht frei ausgefüllt werden. Das Richtmaß darf aber nicht dazu führen, dass die Umstände des Einzelfalles nicht berücksichtigt werden können. Ermessen wird i. d. R. gerade eingeräumt, damit die Umstände des Einzelfalles flexibel berücksichtigt werden können. Wenn die Verwaltung einen sachgerechten Ermessensrichtmaßstab bestimmen kann, warum tut es der Gesetzgeber nicht selbst? Über das Ermessen ist übermäßig, unverhältnismäßig viel Papier vollgeschrieben worden. Der praktische Nutzwert ist aber gering. Nicht 91 So auch J. Hey, Steuerplanungssicherheit (Fußn. 47), S. 363–656 mit ausführlicher Begründung; K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse (Fußn. 53), Lfg. Okt. 2006, § 4 AO Tz. 85.
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Allgemeine Verwaltungsvorschriften
nur die §§ 5 AO, 102 FGO, auch die theoretisierende Literatur hilft uns oft wenig weiter, wenn es um die Lösung konkreter Fälle geht. Hier geht es nicht um materielles Steuerrecht, sondern um das Besteuerungsverfahren, den Steuervollzug. Nach § 88 I 2 AO bestimmt die Finanzbehörde Art und Umfang der Ermittlungen. Dürfen wir diese Vorschrift als Ermessensermächtigung deuten und so lesen: „Die Finanzbehörde kann Art und Umfang der Ermittlungen nach ihrem Ermessen bestimmen“? Da es nach § 88 I 3 AO für den Ermittlungsauftrag auf die Umstände des Einzelfalles ankommen soll: Ermessensrichtmaße engen Einzelfall-Berücksichtigung gerade ein. Wir haben uns oben schon kritisch zu den Verwaltungsvorschriften zu §§ 85, 88 AO geäußert und wiederholen das hier. Man könnte die Kritik auch auf die Ermessensdogmatik beziehen. 92 Ob wir die Verwaltungsvorschriften zu §§ 85, 88 AO am Gesetz messen oder ob wir bei § 88 I 2 AO ansetzen und diese Vorschrift als Ermessensvorschrift verstehen, das Ergebnis ist das Gleiche, weil es sich um ein an den Zweck der §§ 85, 88 AO gebundenes Ermessen handelt. 93 Soweit ermessensleitende Vorschriften sich innerhalb des Ermessensspielraums bewegen, bewirken sie wegen der Bindung der Verwaltung an den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) eine Selbstbindung der Verwaltung. Diese Selbstbindung ist allgemein anerkannt. 94 Eine mindestens mittelbare Außenwirkung von Ermessens-Verwaltungsvorschriften ergibt sich daraus, dass nach § 102 FGO der Ermessensgebrauch von den Gerichten nur eingeschränkt nachgeprüft werden darf. 95 4.6 Nichtanwendungserlasse Die Steuerabteilung des Bundesministeriums der Finanzen prüft die Urteile des Bundesfinanzhofs darauf, ob sie – aus der Sicht des Ministeriums – akzeptabel sind. Verneint sie das, so kann sie durch Erlass anordnen, dass das Urteil über den entschiedenen Fall hinaus von den Finanzbehörden nicht angewendet werden soll. Aus der 92 Von einer Ermessensvorschrift geht u. a. R. Seer wohl aus in: Tipke/Kruse, Komm. zur AO/FGO, Lfg. Okt. 2008, § 88 AO Tz. 6, 7 („Verfahrensermessen“), 8 (Bezug auf § 5 AO). 93 Dazu S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 348, 354. Auch er sieht in § 88 I 2, 3 AO eine Ermessensermächtigung; seinen Ableitungen folgen wir aber nicht durchgehend. 94 Statt vieler J. Hey, Steuerplanungssicherheit (Fußn. 47), S. 661; H.-U. Erichsen (Fußn. 45), S. 56; K.-D. Drüen (Fußn. 59), § 4 AO Tz. 93. 95 Auf die Frage, ob nicht auf andere Weise eine unmittelbare Außenwirkung abgeleitet werden kann (dazu J. Hey [Fußn. 47], S. 661 f.), muss in dem Zusammenhang, um den es hier geht, nicht eingegangen werden.
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§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften
Sicht von Bundesfinanzrichtern geschieht das zu oft. Da rechtskräftige Urteile nur die am Verfahren Beteiligten binden, hat das Bundesfinanzministerium die rechtliche Möglichkeit, so genannte Nichtanwendungserlasse zu beschließen. Dass man solche Erlasse im Bundesfinanzhof sehr kritisch zu sehen pflegt, mag auch eine Prestigeangelegenheit sein. Etwas überraschend wirkt daher ein jüngst erschienener Beitrag des Bundesfinanzrichters H. Weber-Grellet. 96 Er billigt den Nichtanwendungserlassen eine „positive Bedeutung“ zu, nennt sie „Element und Teil eines demokratischen Rechtsanwendungsdiskurses“. Mindestens im Akzent weicht er ab von J. Lang 97 und W. Spindler. 98 H. Weber-Grellet’s rechtliche Ableitungen sind unanfechtbar. Auch wenn ein Nichtwendungserlass nur fiskalische Gründe hat, Steuerausfälle verhindern soll, ist er rechtlich nicht unwirksam. Es geht aber nicht eigentlich darum, was das Ministerium rechtlich kann, sondern was es – besteuerungsmoralisch – tun sollte. Auch Richter können irren. Und es gibt wohl keinen Richter am Bundesfinanzhof, der für sich Unfehlbarkeit in Anspruch nähme. Im Steuerrecht geht es durchweg um Wertungen, die auch bei allem Bemühen um Intersubjektivität nicht stets gleich ausfallen. Wie jeder weiß, sind auch Richter nicht immer gleicher Meinung. Doch, wie immer man auslegt, wertet, das pure fiskalische oder fiskalistische Interesse sollte bei der Gesetzesanwendung aus dem Spiel bleiben. Es gibt Finanzminister mit betont fiskalischer Attitüde; sie versuchen, „ihr Haus“ entsprechend zu prägen. Das kann sich auch auf die Praxis der Nichtanwendungserlasse auswirken. Wenn nur auf die fiskalische Pauke gehauen wird, so ist das kein Beitrag zu einem sachlichen (H. WeberGrellet: „demokratischen“) Rechtsanwendungsdiskurs. Ohnehin ist wohl kaum ein Beamter im Finanzministerium Apologet der Habermas’schen Diskurstheorie. Zum Thema Auslegung und Fiskalismus s. S. 1617. Das Finanzministerium muss auch berücksichtigen, dass auf die Dauer der Bundesfinanzhof am längeren Hebel sitzt. Will das Ministerium sich des längeren Hebels bemächtigen, so muss es für ein Nichtanwendungsgesetz sorgen. 99
96 H. Weber-Grellet, Die positive Bedeutung von Nichtanwendungserlassen, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 927 ff. 97 J. Lang, Reaktion der Finanzverwaltung auf missliebige Entscheidungen des Bundesfinanzhofs, StuW 1992, 14 und DRiZ 1992, 365. 98 W. Spindler, Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht, DStR 2007, 1051; s. auch schon Stbg. 2006, 1. Weitere Literaturnachweise in K. Tipke/ J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 5 Fußn. 23–25. 99 Dazu unten S. 1382, 1495.
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Allgemeine Verwaltungsvorschriften
4.7 Verwaltungsvorschriften und Steuerplanung Dürfen steuerplanende Steuerpflichtige sich auf Verwaltungsvorschriften verlassen? Dürfen sie aufgrund von (zumal veröffentlichten) Verwaltungsvorschriften – wie aufgrund von Gesetzen – disponieren und auf den Bestand von Verwaltungsvorschriften vertrauen? Da die Finanzbehörden die Verwaltungsvorschriften anwenden, erhalten diese durch die Steuerbescheide und andere Verwaltungsakte mittelbar doch Außenwirkung. Würde das Finanzamt in einem bestimmten Fall grundlos eine Verwaltungsvorschrift nicht anwenden, so würde es den Gleichheitssatz verletzen, nicht gleichmäßig besteuern. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde hätte in einem solchen Fall Erfolg, ein Gerichtsverfahren vielleicht nicht. Wenn das Finanzamt eine Verwaltungsvorschrift auf alle, die sie angeht, anwenden muss, darf der Steuerplaner darauf vertrauen, dass bei ihm keine Ausnahme gemacht wird. So wie ein Planer ein Gesetz missverstehen kann, so kann er sich allerdings auch über den Inhalt einer Verwaltungsvorschrift irren. Dieses Risiko kann er nur durch eine Zusage ausschalten. Die Verwaltungsvorschriften konstituieren zusammen mit dem Gesetz die Rechtslage, damit auch die Dispositions- und Vertrauensgrundlage. Daraus folgt, dass Verwaltungsvorschriften ebenso wie Gesetze Rücksicht nehmen müssen auf Steuerplanungssicherheit. 100 4.8 Konkurrenzen Erlässt die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften (s. Art. 108 VII GG), so gehen diese den Verwaltungsvorschriften der Länderinstanzen vor (Art. 31 GG entsprechend). Soweit Ländererlasse sich auf „Schreiben“ des Bundesfinanzministers (s. S. 1413) stützen, entsteht kein Bund-LänderKonflikt. Weichen Verwaltungsvorschriften von Landesfinanzbehörden, die Bundesgesetze betreffen, voneinander ab, sollte der Bundesfinanzminister um eine Koordination bemüht sein, die in einem BMF„Schreiben“ niedergelegt werden könnte. In Landessteuerangelegenheiten dürfen die Länder theoretisch voneinander abweichen. Zur Wahrung einheitlicher Lebensverhältnisse (Art. 105 II GG i. V. m. Art. 72 II 3 GG) sollten die Länder sich möglichst abstimmen. Verwaltungsvorschriften von obersten Landesfinanzbehörden gehen Verwaltungsvorschriften der Oberfinanzdirektionen des Landes und 100 Dazu die ausführliche Arbeit von J. Hey, Steuerplanungssicherheit (Fußn. 47).
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§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften
Amtsverfügungen vor. Verfügungen der Oberfinanzdirektion gehen Amtsverfügungen vor. Weichen Verwaltungsvorschriften mehrerer Oberfinanzdirektionen eines Landes voneinander ab, sollte die oberste Finanzbehörde des Landes für eine Einheitsregelung sorgen. Abweichende Verfügungen von Oberfinanzdirektionen verschiedener Länder sollten durch länderübergreifende Gremien 101 bereinigt werden. Beamte der Finanzämter, die Verwaltungsvorschriften an sich als nützliche Hilfe ansehen, klagen über die Flut der Verwaltungsvorschriften, die über sie hereinbrechen und die aus Zeitmangel nicht alle gelesen und befolgt werden könnten. Weniger würde mehr sein. Je fleißiger die vorgesetzten Behörden Verwaltungsvorschriften produzieren, desto größer wird der Abstimmungsbedarf. 102
5. Großer Steuervollzugsbeitrag der Steuerberater Nach § 88 AO ermittelt die Finanzbehörde den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen. Das entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. Soweit Steuerlaien Steuererklärungen abgeben, bestimmen sie weitgehend den Sachverhalt, obwohl sie nicht wissen, was steuerrechtlich erheblich ist. Hat der Steuerpflichtige einen Steuerberater 103 bestellt, so ersetzt dieser weithin das Finanzamt. § 88 AO, so zutreffend R. Seer, trifft nur „einen kleinen Teil der Wahrheit. In Wirklichkeit ermitteln Unternehmer und Steuerberater den Sachverhalt und liefern ihn den Finanzbehörden in Erfüllung ihrer Mitwirkungspflichten“. 104 „Ohne die ‚selbstregulierende‘ Einbindung der steuerberatenden Berufe in die Buchführungs-, Bilanzierungs- und Steuererklärungsarbeit wäre der Steuerstaat längst zusammengebrochen. Die nur über knappe Verwaltungsressourcen verfügende Finanzverwaltung stünde ohne die in mühsamer Kleinarbeit vorfilternde Aufbereitung der Besteuerungsgrundlagen durch die Steuerkanzlei auf verlorenem Posten! Unter Berücksichtigung seiner rechtlichen Stellung ist der Steuerberater 101 Th. Schöck, StuW 1977, 22 ff. 102 J. Pezzer schlägt vor, den obersten Landesbehörden und den Oberfinanzdirektionen die Befugnis, allgemeine Verwaltungsvorschriften zu erlassen, zu nehmen, diese Befugnis allein dem Bundesfinanzministerium vorzubehalten – ohne verpflichtende Abstimmung mit den Ländern (StuW 2007, 108 re.). – Das würden die Länder m. E. nicht zulassen. 103 Steuerberater sind hier pars pro toto als Angehörige der steuerberatenden Berufe zu verstehen. 104 R. Seer, in: K. Tipke (Hrsg.), Steuerberatung und Rechtsstaat. Symposium für Jürgen Pelka, 2010, S. 37.
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Steuervollzugsbeitrag der Steuerberater
in Wirklichkeit nicht Gegner, sondern Partner der Finanzverwaltung“. 105 Die Steuerberater verdienen i. d. R. besonderes Vertrauen. Steuerberater sind an die Gesetze gebundene Steuerrechtsberater. § 2 I der Berufsordnung der Steuerberater bestimmt: „Der Steuerberater ist ein unabhängiges Organ der Steuerrechtspflege.“ Damit schließt sich die Steuerberater-Berufsordnung an den für Rechtsanwälte geltenden § 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung an. 106 Die Bezeichnung „Steuerrechtsanwalt“ statt „Steuerberater“ wäre auch nicht falsch. Der Begriff „unabhängiges Organ“ drückt aus, dass der Steuerberater – wie der Rechtsanwalt – nicht abhängig ist von seinen Mandanten sowie von Behörden und Gerichten, dass er nur durch das Recht fremdbestimmt ist, dass er dem Recht zu dienen hat, nicht zuletzt dadurch, dass er das Recht für seine Mandanten durchsetzt, damit diese nicht mehr Steuern zahlen müssen als sie nach Gesetz und Recht schulden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Steuerberatung ein Teil der Rechtsberatung. „Die Berufsaufgaben“ – so das Verfassungsgericht – „der Steuerbevollmächtigten [heute Steuerberater] dienen der Rechtspflege, einem wichtigen Gemeinschaftsgut. Das Leitbild des Gesetzgebers ist der Steuerbevollmächtigte, der als Mittler zwischen den Steuerpflichtigen und den Finanzbehörden dafür eintritt, dass Steuern gerecht erhoben werden. Der Steuerbevollmächtigte nimmt die Interessen seiner Klienten wahr und hat zugleich eine Vertrauensstellung gegenüber den Finanzbehörden und -gerichten“. 107 Organe der Rechtspflege sind auch die (Finanz-)Behörden und -gerichte. Ihnen gegenüber sind die Steuerberater gleichberechtigte Organe der Rechtspflege. Der Begriff „Organ der Rechtspflege“ hat keinen obrigkeitlichen Akzent. Der Steuerberater darf und soll die Rechte seiner Mandanten selbstbewusst, nachdrücklich und unerschrocken wahrnehmen. Die gleichberechtigten Organe der Rechtspflege (Finanzbehörden, Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit, Steuerberater) haben einander zu respektieren, insbesondere sachlich zu begegnen.
105 R. Seer (Fußn. 104), S. 36. G. Felix hatte schon 1982 geschrieben: „Ohne die Steuerberatung wäre in Deutschland die Steuererhebung längst zusammen gebrochen.“ Die Steuerberater nannte er „die fremdbezahlten Lastesel des Fiskus“ (belasting beschouingen 1982, 231). 106 Der zitierte § 2 I ist von der Satzungsversammlung der Steuerberaterkammer aufgrund der Ermächtigung der §§ 86 II Nr. 2, III; 86a StBerG beschlossen worden. 107 BVerfGE 21, 173, 179 f.; 54, 301, 315 f.; 59, 302, 317.
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§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften
Die Steuerberater schließen mit ihren Mandanten einen zivilrechtlichen Beratervertrag ab, in dem die Rechte und Pflichten der Vertragspartner festgelegt werden. 108 Im Rahmen des Beratungsvertrages hat der Steuerberater die Rechte des Steuerpflichtigen wahrzunehmen und seine Pflichten zu erfüllen. Damit der Berater zu einer zutreffenden rechtlichen Würdigung kommen kann, muss sein Mandant ihn zutreffend informieren. Der Steuerberater muss sich nach zwei Seiten vertraglich absichern. Zum einen muss klar sein, ob es sich um eine umfassende oder punktuelle, um eine retrospektive oder prospektive Beratung geht: Fast immer erwarten die Mandanten eine Beratung, die zu möglichst niedrigen Steuern führt. Die Zivilgerichte, die über Schadensersatzansprüche aus dem Beratungsvertrag zu entscheiden haben, halten die erwähnte Erwartung für gerechtfertigt, wenn und soweit sie die Grenzen des Legalen nicht überschreiten. Die Zivilgerichte, die keine Erfahrungen mit den Kalamitäten 109 der Steuerberatung haben, verlangen viel, manchmal zu viel. Der Steuerberater soll nicht nur den Wirrwarr der Steuergesetze, sondern auch einschlägige Verwaltungsvorschriften 110 und BFH-Urteile kennen müssen, sie sollen auch trotz der ständigen Gesetzesänderei durch Weiterbildung immer auf dem Laufenden sein müssen. Sie sollen für Zwecke der Steuerplanung auch werdende oder geplante Gesetze beachten müssen. Sie sollen auch ungefragt über Steuersparmöglichkeiten informieren müssen, im Zweifel auch Auskünfte einholen müssen. Selbstredend soll der Steuerberater die Steuerbescheide überprüfen und eventuell zu Rechtsbehelfen raten oder von ihnen abraten müssen. Freilich ist die Rechtsprechung, wen wundert es, nicht einheitlich. Die „scharfen“ Richter verlangen von Steuerberatern so viel, dass diese sich ständig mit steuerrechtlicher Lektüre befassen müssten – mit der Folge, dass für die eigentliche Mandantenbetreuung keine Zeit bliebe, wollte der Einzelberater nicht auf seine Nachtruhe verzichten. Der Einzelberater und der Veranlagungsbeamte befinden sich in einer nicht unähnlichen Lage, nur dass es für Steuerberater keine dem § 32 AO vergleichbare Vorschrift gibt. In Grenzen kann der Steuerbera-
108 Dazu G. Koslowski, Steuerberatungsvertrag, in: Beck’sches SteuerberaterHandbuch 2010/2011, S. 1999 ff. 109 Dazu schon Bd. III1, 1993, S. 1428 ff.; K. Tipke, Steuerberatung auf unsicherem Fundament, in: Festschrift für H. Schaumburg, 2009, S. 183 ff.; K. Tipke (Hrsg.), Steuerberatung und Rechtsstaat, 2010 (Symposium für J. Pelka) mit Beiträgen von J. Thiel, R. Seer, J. Lang, F. Salditt, J. Pelka. 110 Obwohl Steuerpflichtige und ihre Berater an Verwaltungsvorschriften nicht gebunden sind. M. E. kann man nur erwarten, dass der Steuerberater die Richtlinien zu Gunsten seines Mandanten beachtet.
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Steuervollzugsbeitrag der Steuerberater
tungsvertrag schützen; dem Haftungsausschluss sind aber Grenzen gesetzt (s. § 67a StBerG). 111 Viele Steuerberater bemühen sich, dem Berufsrisiko durch Spezialisierung zu begegnen. Das hat allerdings den Nachteil, dass der Berater leicht die großen Zusammenhänge nicht mehr sieht, Lücken, Inkonsequenzen und Widersprüche, die in den Gesetzen angelegt sind, übersieht. Mit der Spezialisierung pflegt sich das Blickfeld einzuengen. Der Spezialist ist jemand, der von wenig viel weiß. Zum anderen: Steuerberater dürfen zur Steuervermeidung, nicht aber zur Steuerhinterziehung, überhaupt nicht zu Steuerstraftaten und -ordnungswidrigkeiten raten. Verständnislose Richter und Staatsanwälte können Steuerberater vorschnell strafrechtlich oder bußgeldrechtlich verstricken. 112 Die Strafsachenstellen der Finanzämter allerdings, zumal wenn sie mit den Schwierigkeiten der Steuergesetzanwendung vertraut sind, pflegen Verständnis für die DilemmaSituation der Steuerberater zu zeigen. Lässt sich aber klar eine Mittäterschaft oder eine Beteiligung des Beraters an einer Steuerstraftat seines Mandanten nachweisen, so haftet der Steuerberater nach § 71 AO auch für die verkürzten Steuern und ihre Verzinsung. Strafbare Handlungen gehören im Übrigen zu den Berufspflichtverletzungen des Steuerberaters, die berufsgerichtlich geahndet werden können (s. § 89 StBerG); in besonders schweren Fällen kann sogar die Ausschließung aus dem Beruf beschlossen werden (s. § 90 I Nr. 4 StBerG). Diese Umstände führen dazu, dass im Bereich der Veranlagungssteuern die Steuerberater einen großen Beitrag zu einem gesetzmäßigen, gleichmäßigen Steuervollzug leisten und dadurch Vollzugsdefizite verhindern. 113 Somit lässt sich feststellen: Von der Steuerberatung profitiert nicht nur der beratene Steuerpflichtige, sondern auch der Staat, und zwar nicht nur durch die Entlastung der Finanzverwaltung, sondern auch dadurch, dass die Steuerberater-Mitwirkung bei der Steuererklärung dieser eine besondere Qualität verleiht. Sie rechtfertigt einen besonderen Vertrauensvorschuss, erspart finanzamtlichen Kontrollauf111 Dazu auch J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 94 ff. 112 Dazu F. Salditt, Die Beratung des unwilligen Steuerpflichtigen, in: K. Tipke (Hrsg.), Steuerberatung und Rechtsstaat, 2010, S. 71 ff. Hinweis auch auf Bd. III1, 1993, S. 1428 ff. 113 Der Wert der Gestaltungsberatung wird allerdings unterschiedlich beurteilt; s. dazu K. Tipke (Hrsg.), Steuerberatung im Rechtsstaat, 2010, S. 18 ff. (J. Thiel verneint den gesellschaftlichen Nutzen), andererseits S. 113 f. (J. Pelka). M. E. sind Gestaltungsmöglichkeiten dem Gesetzgeber anzulasten; s. auch K. Tipke, in: Festschrift für H. Schaumburg, 2009, S. 196 ff.
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§ 29 Überblick über die geltenden Steuerverfahrensvorschriften
wand. „Die Vitalfunktion der Angehörigen der steuerberatenden Berufe trägt wesentlich dazu bei, dass trotz der bekannten personellen Schwierigkeiten der Verwaltung ein geordnetes Veranlagungsverfahren gewährleistet bleibt“. 114 Schon wegen der Mitwirkung der Steuerberater wird die Veranlagungsbesteuerung nicht implodieren. Da Steuerlaien in der Regel nicht in der Lage sind, richtige Steuererklärungen abzugeben, 115 müsste ein kluger, nicht einseitig fiskalischer Gesetzgeber Steuerlaien dazu bewegen, sich fachmännisch beraten zu lassen. „Dieser Erkenntnis hat der Gesetzgeber sich bisher aber leider verschlossen und zum 1. 1. 2006 sogar den Sonderausgabenabzug für Steuerberatungskosten kurzerhand abgeschafft. Diese Maßnahme führt nicht nur zu künstlichen Abgrenzungen. Sie setzt überdies auch noch einen kontraproduktiven, negativen Anreiz, sich nicht beraten zu lassen. Genau das Gegenteil wäre verfahrensrechtlich geboten. Da dem Staat durch eine von den Steuerberatern im Auftrag des Steuerpflichtigen vorbereitete Veranlagung erhebliche Kosten erspart werden, sollte der durchschnittliche Aufwand für eine Steuererklärung nicht lediglich als Sonderausgabe von der Bemessungsgrundlage, sondern bis zu einem Höchstbetrag vorrangig sogar von der Steuerschuld abgezogen werden können. Damit würde der Staat zumindest einen Teil der auf den Bürger im Wege des Outsourcing verlagerten Veranlagungskosten übernehmen“. 116 Die kurzsichtige, vermeintlich fiskalisch günstige Lösung wurde im Hause des ehemaligen Finanzministers P. Steinbrück von diesem und seinem Staatssekretär A. Nawrath besonders gepflegt. 117 Steuerlaien müssen m. E. verpflichtet werden, sich steuerlich beraten zu lassen.
114 J. Thiel, in: K. Tipke, Hrsg. (Fußn. 104), S. 16 unter Hinweis auf R. Seer, DStJG Bd. 31 (2008), 34. 115 Die Gesetzessprache ist notwendigerweise eine Fachsprache. Das gilt auch für das Steuerrecht. Wer Steuergesetze verspricht, die jeder Laie verstehen könne, verspricht m. E. Unmögliches. Das heißt aber nicht, dass das Steuerrecht so kompliziert sein müsste, wie es ist. Optimale Steuervereinfachung würde aber zwangsläufig die Gerechtigkeit über Gebühr aufopfern. 116 So R. Seer, in: K. Tipke, Hrsg. [Fußn. 104], S. 39; s. auch schon ders., DStJG Bd. 31 (2008), 35. 117 Zu A. Nawrath s. J. Thiel (Fußn. 104), S. 13; M. Mössner, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 83 f.; K.-D. Drüen, in: Festschrift für W. Spindler, 2011, S. 50.
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§ 30 Die Steuervollzugsrealität und ihre Folgen 1. Mängel des Steuervollzugs . 1453 .. 1.1 Mängel des Veranlagungsverfahrens . . . . . . 1453 .. 1.11 Im Gesetz angelegte Mängel (legislative Mängel) . . . . 1453 .. 1.12 In Maßnahmen der Verwaltung angelegte Mängel (administrative Mängel). . . . . . . . . . . 1455 .. 1.121 Verantwortung der Steuerverwaltung für den gesetzmäßigen, gleichmäßigen Steuervollzug . . . . . . . . 1455 ..
2. 3. 4. 5.
1.13 Insbesondere: Über die Verwaltungsvorschriften zu den §§ 85, 88 AO und zur Betriebsprüfungsordnung . . . 1456 .. Kontrolle entsprechend dem Kontrollbedürfnis . . . . . . . 1460 .. Folgen fehlender oder mangelhafter Kontrolle . . . . . . . 1461 .. Mängel des Quellenabzugsverfahrens . . . . . . . . . . . . 1465 .. Effizienzunterschiede zwischen Veranlagungs- und Quellenabzugsverfahren – Abbauvorschläge . . . . . . . . 1467 ..
1. Mängel des Steuervollzugs Literatur K. Tipke, Über Deklarieren und Verifizieren, in: Festschrift für K. Offerhaus, 1991, S. 819 ff.; ders., Steuerliche Gleichbelastung durch einkunfts- und vermögensdifferente Bemessungsgrundlagenermittlung und Sachverhaltsverifizierung, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 215 ff.; J. Hey, Mitteilungspflichten oder Quellenabzug – Maßnahmen zur Sicherung von Steueransprüchen, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 269 ff.; J. Pelka, Vollzugsdefizite im Steuerrecht aus der Sicht des Steuerberaters, StuW 2005, 378 ff.
1.1 Mängel des Veranlagungsverfahrens 1.11 Im Gesetz angelegte Mängel (legislative Mängel) Mängel des Veranlagungsverfahrens führen dazu, dass die Besteuerungswirklichkeit vom Besteuerungsideal gesetzmäßiger und gleichmäßiger Besteuerung abweicht. Die Gründe für die Abweichung können durch Gesetzesmängel verursacht sein, durch verfahrensgesetzliche Mängel. J. Hey schrieb dazu 2001: „So viel Beachtung der Rechtsetzungsgleichheit . . . geschenkt worden ist . . ., so wenig erforscht sind die Implikationen der Rechtsanwendungsgleichheit. Hieran hat letztlich auch die wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Zinsbesteuerung nichts geändert. Zwar herrscht bemerkenswerte 1453
§ 30 Die Steuervollzugsrealität und ihre Folgen
Einigkeit über die Bedeutung der Rechtsanwendungsgleichheit. Ihr Stellenwert ist nicht zuletzt . . . von Rolf Eckhoff verfassungsrechtlich abgesichert. 1 Was dies aber konkret für die Ausgestaltung der Steuergesetze heißt, liegt weiterhin weitgehend im Dunkeln“. 2 In der Tat, nachdem das Zinsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1991 ergangen war, führte der Gesetzgeber eine nicht abgeltende Quellensteuer auf Kapitaleinkünfte von grds. 30 Prozent ein. Weitere Konsequenzen zog er nicht. Selbst § 30a AO, an dessen Vorgänger, dem Bankenerlass, das Verfassungsgericht hauptsächlich Anstoß genommen hatte, ließ der Gesetzgeber stehen. § 30a AO ist bis heute nicht aufgehoben worden. Weitgehend steht er ohnehin nur noch auf dem Papier; gleichwohl irritiert er. Der Gesetzgeber hat nach 1991 die zur Verallgemeinerung herausfordernden Thesen des Verfassungsgerichts – ihre Anwendungsnotwendigkeit auch auf andere Einkunftsarten – nicht erkannt, oder er hat nicht erkennen wollen, dass materielles Recht auf effiziente Vollzugsnormen angewiesen ist, dass es allein mit Strafdrohungen nicht getan ist. H. W. Kruse führt in seinem Lehrbuch zum Allgemeinen Steuerrecht von 1991 eine Reihe von Vollzugsmängeln (ohne nach legislativen und administrativen Mängeln zu unterscheiden) auf: „Die Finanzbehörden kümmern sich praktisch überhaupt nicht um Schwarzarbeit. Die Arbeit am Feierabend und an Wochenenden interessiert sie nicht, die Nebentätigkeit von Frührentnern und Arbeitslosen ist für sie kein Problem, den schwunghaften Handel auf allerorts veranstalteten Flohmärkten und Straßenfesten nehmen sie nicht zur Kenntnis, und die Putzfrauen in den privaten Haushalten halten sie für Heinzelmännchen. Dazu kommen Verwaltungsvorschriften, die in einem erheblichen Umfang vom Gesetz nicht gedeckte Steuererleichterungen insbesondere für Arbeitnehmer gewähren, und schließlich besteht § 30a AO zum Schutz der um die Schwarzgelder ihrer Kunden besorgten Banken. Alle diese Probleme werden von Zeit zu Zeit diskutiert. Doch immer ist alles beim alten geblieben. Albert Hensel hatte verlangt, dass sein Nachbar ebenso schwer wie er selbst von der Steuerlast betroffen werde, wie er. Daraus ist nichts geworden“. 3
Der Gesetzgeber war lange mehr um die Höhe des Steueraufkommens besorgt als um die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Aber nachdem 2004 das vom Verfasser erstrittene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur gleichmäßigen Besteuerung der Spekulationseinkünfte ergangen war, 4 blieb nicht mehr alles beim Alten. Es trat ein Bewusstseinswandel ein. Ein Mangel besteht allerdings nach wie vor darin, dass die §§ 134, 135 AO „zur Erfassung von Personen und Unternehmen, die der Besteuerung unterliegen“, eine Personenstands- und Be1 2 3 4
R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999. J. Hey, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 269. H. W. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Allgemeiner Teil, 1991, S. 321. BVerfGE 110, 94, BStBl. 2005 II, 56, anknüpfend an das Zinsurteil.
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Mängel des Steuervollzugs
triebsaufnahme zwar vorsieht; eine solche Maßnahme aber seit Jahrzehnten nicht angeordnet worden ist. Wer von der Finanzverwaltung nicht erfasst ist, ist steuerrechtlich ein Nullum, bleibt unbehelligt und unbelastet. 1.12 In Maßnahmen der Verwaltung angelegte Mängel (administrative Mängel) 1.121 Verantwortung der Steuerverwaltung für den gesetzmäßigen, gleichmäßigen Steuervollzug Die Steuerverwaltung ist verantwortlich für den gesetzmäßigen, gleichmäßigen Vollzug der Steuergesetze (s. auch schon oben § 29 unter 1. „Der Steuervollzugsauftrag . . .“). Auch die Steuerverwaltung, nicht nur der Steuergesetzgeber repräsentiert den Staat. Dass man der Steuerverwaltung die Vollzugsmängel der Gesetzgebung und die dürftige Personalausstattung nicht anlasten kann, ist rechtlich unerheblich. Die Steuerverwaltung ist insbesondere verantwortlich für die Verwaltungsvorschriften zu §§ 85, 88 AO sowie für andere Verwaltungsvorschriften, insbesondere Richtlinien. Sie ist verantwortlich für einen Einsatz des Personals, der die Gleichmäßigkeit der Besteuerung verletzt, weil es ihr bei der Personalverteilung lediglich darauf ankommt, ohne Rücksicht auf Gleichbelastung ein möglichst hohes Steueraufkommen zu erzielen; dies auch durch die Außenprüfung. Überhaupt kann es nicht darauf ankommen, ob Vollzugsmängel durch Verwaltungsvorschriften oder durch falschen Personaleinsatz oder durch fehlendes Personal verursacht werden. 5 Auch wenn die Finanzbehörden nicht können, was sie sollen, weil sie durch die Gesetzgebung fremdbestimmt sind, nämlich (1) durch qualitativ mangelhafte, unnötig komplizierte 6 Gesetze, die laufend geändert werden, (2) durch Personalmängel vor allem in den Finanzämtern 7 –, so ändert das nichts daran, dass für die Mängel der Staat verantwortlich ist, unbeschadet der Frage, welche Staatsgewalt die Mängel verursacht. Verallgemeinernd kann es keine Rolle spielen, welche Staatsgewalt einen allgemeinen Vollzugsmangel auslöst. 5 J. Hey drückt es so aus: „Im Übrigen kann es nicht darauf ankommen, ob die Vorschriften fehlen oder die Beamten“ (Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 27 f.). 6 Statt einfacher (insbesondere verallgemeinernder, folgerichtiger, widerspruchsfreier) Steuergesetze, werden einfach Steuergesetze gemacht, die vielerlei Interessen genügen sollen. 7 R. Mellinghoff spricht zutreffend von der Ohnmacht der Finanzverwaltung (Stbg. 2007, 549, 550).
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§ 30 Die Steuervollzugsrealität und ihre Folgen
In der Vollzugswirklichkeit der Finanzämter werden viele Steuererklärungen, die eigentlich kontrolliert werden müssten, nicht kontrolliert. Die ungeschriebene oberste Realmaxime des Steuervollzugs lautet: „Die Veranlagungen periodischer Steuern müssen innerhalb eines Jahres durchgeführt sein, so oder so“. 8 Soweit höhere Verwaltungsbeamte (die keine Karriereopportunisten sind) bei ihrem Minister vorstellig geworden sind, haben sie nichts erreicht. Prognosen, die Finanzverwaltung werde bald zusammenbrechen, haben sich nicht bewahrheitet. Das ist leicht zu erklären: Der weitaus größte Teil der Einkommensteuer wird durch Quellenabzug generiert. An der Besteuerung der Unternehmen wirken gesetzes- und richtlinientreue Steuerberater mit. Die besonderen Verkehr- und Verbrauchsteuern werden ohne Mitwirkung der Belasteten generiert. 1.13 Insbesondere: Über die Verwaltungsvorschriften zu den §§ 85, 88 AO und zur Betriebsprüfungsordnung Diese Verwaltungsvorschriften sind schon oben (S. 1440 ff.) erörtert worden. Es ist erstaunlich, dass die allgemeinen Weisungen über den Verwaltungsvollzug auf drei verschiedene Verwaltungsvorschriften verteilt worden sind, den Anwendungserlass zu § 88 AO, den Erlass zur Neuordnung des Besteuerungsverfahrens in der Fassung von 1997 (GNOFÄ) und die Ergänzungen zur Finanzamts-Geschäftsordnung (FAGO). 9 Auch die Begrifflichkeit ist nicht aufeinander abgestimmt: „steuerliche Bedeutung“, „steuerlicher Erfolg“, „steuerliches Gewicht“ – das meint wohl dasselbe. R. Seer deutet das Anliegen der zitierten Vorschriften m. E. zutreffend so: „Innerhalb der jährlichen Veranlagungsperiode soll mit dem vorhandenen Personal ein möglichst großer Teil der gesetzlich geschuldeten Steuern hereingeholt werden“. 10 Von Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist keine Rede. Die Vollzugs-Verwaltungsvorschriften sind fiskalisch ausgerichtet, sie verletzen den Gleichheitssatz durch Ungleichmäßigkeit der Besteuerung. Wo nicht viel zu holen ist, verzichtet man gleich ganz. Wie passt die Feststellung „Für den Regelfall kann davon ausgegangen werden, dass die Angaben des Steuerpflichtigen in der Steuererklärung vollständig und richtig sind (AEAO zu 8 „Es ist nicht so wichtig, dass die Veranlagungen richtig sind, als dass sie vielmehr alsbald erfolgen“, äußerte schon Ende der 1950er Jahre ein Finanzamtsvorsteher. Er hatte – ebenso wie sein Oberfinanzpräsident – schon früh verinnerlicht, worauf es der Politik und den Finanzministerien ankam. 9 Dazu näher R. Seer, in: Tipke/Kruse, Komm. zur AO/FGO, Lfg. 117, § 85 Tz. 27 ff. (zur GNOFÄ), 30 ff. (zur EB-FAGO); s. auch Präsident des Bundesrechnungshofes, Probleme beim Vollzug der Steuergesetze, 2006, S. 24. 10 R. Seer (Fußn. 9), § 85 AO Tz. 28.
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Mängel des Steuervollzugs
§ 88, Nr. 2 S. 3)“ zur Wirklichkeit der Laien-Steuererklärungen, wie passt diese Feststellung zu der Auffassung des Bundesfinanzhofs, dass die Prüfungsbedürftigkeit bei Unternehmen unwiderlegbar zu vermuten sei? Gilt der „In der Regel“-Satz für Unternehmen nicht, obwohl diese in der Regel von Steuerberatern betreut werden? Die Betriebsprüfungsordnung macht die Prüfungsfrequenz einseitig von der Betriebsgröße abhängig. Auch das verletzt den Gleichheitssatz. Diese Meinung wird allgemein vertreten. So auch von R. Seer: „Die Verwendung fester Einkunftsklassen zur Unterscheidung der Prüfungsdichte widerspricht jedoch dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit (abgeleitet aus Art. 3 I GG)“. 11 J. Hey formuliert es so: „Umfassende Kontrolle und Abgleichung der Deklaration mit den Deklarationspflichten erlaubt letztlich nur die Außenprüfung. Indes, gerade hier wird das Auseinanderklaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders deutlich. Denn für die große Masse der Klein- und Kleinstbetriebe ist das Risiko, einer Betriebsprüfung unterzogen zu werden, eher theoretischer Natur. Die Differenzierung des Betriebsprüfungsturnus nach der Betriebsgröße mag ökonomisch betrachtet im Verhältnis zu den zu erwartenden Mehrergebnissen Sinn machen, ist aber bezogen auf die Rechtsanwendungsgleichheit kein sachgerechter Differenzierungsgrund, auch kein Gebot maßvollen Gesetzesvollzugs. Verstöße gegen die Rechtsanwendungsgleichheit lassen sich nicht mit den absoluten Zahlen eines etwaigen Mehrergebnisses messen, sondern lediglich im Verhältnis zur tatsächlich geschuldeten Steuer. Dieses Verhältnis hat aber mit der Betriebsgröße nichts zu tun . . . Die Orientierung der Betriebsprüfungsordnung an der Betriebsgröße ist damit nicht nur nicht geeignet, Verstöße gegen die Rechtsanwendungsgleichheit möglichst effizient aufzudecken, sondern erzeugt ihrerseits Ungleichheit, weil sie die Auswahl der zu prüfenden Unternehmen nicht nach sachgerechten Kriterien vornimmt . . .“ 12 Auch E. Schmidt räumt ein: „Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass die Steuererklärungen ‚kleiner‘ Steuerpflichtiger grundsätzlich richtiger sind als die der ‚großen‘“. 13 Was die Sachgerechtigkeit des Prüfungsauswahlmaßstabs betrifft, so hat auch der Bundesfinanzhof einen Erkenntnis-Nachholbedarf. Was H. W. Kruse’s Putzhilfen-Beispiel betrifft: Finanzbeamte dürften Wohnungen betreten, um Putzhilfenfälle aufzuklären. Sie haben das jedoch nie getan, zum einen wohl aus Respekt vor der Privatsphäre, 11 R. Seer (Fußn. 9), § 85 AO Tz. 32. S. auch schon R. Seer, FR 1997, 553, 562; ders. StuW 2003, 50. 12 J. Hey, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 269, 273 f. – Auch der Bundesrechnungshof rügt die recht unterschiedliche Methode der Auswahl von Betrieben für die Außenprüfung (Fußn. 9, S. 72 ff.). 13 DStJG Bd. 31 (2008), 43.
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zum anderen wohl, weil es um wenig geht. Als der Verfasser Anfang 2000 die Lohnsteuer für den Arbeitslohn seiner Putzhilfe anmeldete, fragte er das Finanzamt, wie es denn bei anderen feststelle, ob diese Putzfrauen beschäftigten, und was sie unternähmen, wenn jemand mitteile, dass er nun keine Putzhilfe mehr beschäftige, kam die Antwort: „Gem. § 38 EStG i. V. mit Abschn. 104 ff. LStR unterliegt grundsätzlich jeder von einem inländischen Arbeitgeber gezahlte Arbeitslohn der Lohnsteuer, mithin auch der einer Putzfrau/Putzhilfe gezahlte. Dabei unterscheiden sich die Ermittlungen dieser Art von Einkünften nicht von denen bei Einkünften aus anderen Quellen. Welche Möglichkeiten die Finanzbehörde hat, hierüber Feststellungen zu treffen, dürfte Ihnen als Autor eines Verfahrensrecht-Kommentars hinlänglich bekannt sein. Das gilt gleichermaßen für den Fall, dass jemand mitteilt, keine Putzfrau mehr zu beschäftigen. Ich hoffe, Ihnen mit diesen Ausführungen gedient zu haben“. 14
Auch an diesem Beispiel kann man lernen: Ohne Kontrolle entscheiden sich sehr viele mehr und mehr für das Trittbrettfahren statt für das Zahlen von Abgaben. Auch der Philosoph P. Sloterdijk (s. S. 1311 ff.) könnte daraus lernen. Es gibt keinen besseren Zeugen für die Vollzugswirklichkeit der Steuerverwaltung als den unabhängigen Bundesrechnungshof. Nachdem der Rechnungshof bereits 1993 festgestellt hatte, dass die Steuerverwaltung zunehmend Schwierigkeiten habe, ihren gesetzlichen Steuervollzugsauftrag ordnungsmäßig zu erfüllen, legte er 2006 erneut einen Bericht über die Lage der Steuerverwaltung vor, und zwar nach einer bundesweiten Prüfung. Die Ergebnisse und Verbesserungsempfehlungen sind in einer 200seitigen Schrift niedergelegt. 15 In der Berichtzusammenfassung wird festgestellt, „dass ein Großteil der Steuererklärungen von den Finanzämtern nicht mehr ordnungs14 Seinerzeit wurde angenommen, dass in drei Millionen Privathaushalten Putzhilfen beschäftigt seien. Aber nur ca. 40.000 Putzhilfen waren den Finanzämtern gemeldet worden. Inzwischen sind Putzhilfen bei der Minijobzentrale anzumelden. Die Erfassung hängt aber allein von der Meldebereitschaft des Arbeitgebers (des Haushaltsvorstands) ab. Es wird angenommen, dass nur ca. zehn Prozent der Putzhilfen bei der Minijobzentrale angemeldet sind, dass also 90 Prozent der Putzhilfen „schwarz“ arbeiten. Das hat eben dazu geführt, dass die Umlage für die gemeldeten Putzfrauen ab 1. 1. 2011 erhöht wurde, weil die Einnahmen gesunken sind, die Ausgaben (insbesondere für Arbeitgeberversicherung) aber gestiegen. Für einen gesetzestreuen Putzfrauen-Arbeitgeber müsste es ein Leichtes sein, einen Prozess vor dem Bundesverfassungsgericht zu gewinnen – auf der Grundlage von BVerfGE 84, 239, BStBl. 1991 II, 654; BVerfGE 110, 94, BStBl. 2005 II, 56. – Dazu auch S. 1362 über die Geltung von Gesetzen. 15 Der Präsident des Bundesrechnungshofes, Probleme beim Vollzug der Steuergesetze, 2006.
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mäßig geprüft werden könne. Die Steuererklärungen würden häufig nur noch im Schnellverfahren bearbeitet. Hauptursächlich für diese angespannte Arbeitslage in den Veranlagungsstellen seien im Wesentlichen die folgenden Schwierigkeiten, die in ihrer Gesamtheit kaum zu bewältigen seien. Bei der Bearbeitung der Steuererklärungen sei in den vergangenen Jahren in erster Linie darauf geachtet worden, dass die quantitativen Ziele erreicht werden. Die qualitativen Maßstäbe – insbesondere die zutreffende Steuerfestsetzung – seien dadurch in den Hintergrund gedrängt worden. 16 Einem Bearbeiter blieben für die Erledigung eines Steuerfalles im Arbeitnehmerbereich im Durchschnitt weniger als 20 Minuten. 17 Nach Ansicht des Bundesrechnungshofes ist es den Bearbeitern in den Finanzämtern nicht mehr möglich, sich einen Überblick über die geltende Rechtslage in den jeweiligen Veranlagungsjahren zu verschaffen. Als Folge der umfangreichen und schwer verständlichen Steuergesetze würden die Veranlagungsstellen mit einer Flut von Verwaltungsanweisungen und Gerichtsurteilen überhäuft. Die Veranlagungssachbearbeiter wie auch die Steuerberater seien nicht mehr in der Lage, die Steuernormen und die Fülle der hierzu herausgegebenen Anwendungshilfen in gebührendem Maße nachzuvollziehen. Als weitere Folge müssten sich die Steuerpflichtigen und die Bearbeiter in den Finanzämtern mit einer Vielzahl steuerlicher Erklärungsvordrucke beschäftigen, die teilweise sehr kompliziert gestaltet seien. In Übereinstimmung mit den Rechnungshöfen mehrerer Länder bemängelt der Bundesrechnungshof, dass insbesondere unter dem Druck zeitgerechter Mengenbewältigung die Steuern unvollständig und ungleich festgesetzt würden. Der Rechnungshof ist der Auffassung, dass der gesetzmäßige und gleichmäßige Vollzug der Steuergesetze nicht mehr gewährleistet sei. 18 Wie sehr die periodengerechte Abwicklung der Veranlagungen im Vordergrund steht, ergibt sich auch daraus, dass der Rechnungshof Finanzämter festgestellt hat, in denen „grüne Wochen“ oder „Durchwinktage“ veranstaltet werden. 19
16 Das ist allerdings schon seit Jahrzehnten so, keine Erscheinung erst der vergangenen Jahre. 17 Das ist sehr wenig, wenn man bedenkt, dass der „Steuerfall“ die wirtschaftlichen Vorgänge eines ganzen Jahres erfasst – und man bedenkt, dass das Landgericht Mannheim Monate braucht, um einen Vergewaltigungsfall zu erledigen. 18 Der Präsident des Bundesrechnungshofes (Fußn. 15), S. 13 f. – Hinweis auch auf K. Schleicher, DStJG Bd. 31 (2008), 59, 72 ff. 19 Der Präsident des Bundesrechnungshofes (Fußn. 15), S. 43.
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2. Kontrolle entsprechend dem Kontrollbedürfnis 1992 trug der Verfasser in einem Referat vor Finanzbeamten die Auffassung vor, die Steuerpflichtigen sollten entsprechend dem unterschiedlichen Kontrollbedürfnis kontrolliert werden. 20 Statt von Kontrollbedürfnis lässt sich auch von Prüfungsbedürfnis oder von Aufklärungsbedürfnis (§ 193 II Nr. 2 AO: „der Aufklärung bedürfen“) sprechen. Wie die Erfahrung lehrt, sind Steuerpflichtige unterschiedlich gesetzestreu und dementsprechend unterschiedlich kontrollbedürftig. Viele Steuerpflichtige sind durchaus auch ohne Kontrolle, Zwang und Strafdrohung bereit, die vom Gesetz auferlegte Steuer zu entrichten. Andere sind steuerlich mehr oder minder unzuverlässig oder nachlässig; nicht wenige sind auch bereit, als „Trittbrettfahrer“ einen Teil der geschuldeten Steuern zu verkürzen. Das sind ungleiche, ungleich kontrollbedürftige Fälle; sie dürfen, ja müssen ungleich intensiv kontrolliert werden. 21 Inzwischen hat auch das Prinzip „Kontrolle entsprechend dem Kontrollbedürfnis“ in der Literatur weitgehend Zustimmung gefunden. 22 In den Verwaltungsvorschriften zu §§ 85, 88 AO schlägt sich allerdings von einem Prinzip „Kontrolle entsprechend dem Kontrollbedürfnis“ (noch) nichts nieder. Diese Vorschriften müssten revidiert werden. In einigen Ländern wird zwar schon das „Risikomanagement“ erprobt (Kontrolle entsprechend dem Steuerausfallrisiko oder dem Risiko der Abweichung vom Gesetz). 23 Jedoch ist noch nicht erkennbar, welchen Standpunkt das Bundesfinanzministerium schließlich einnehmen wird. Man mag einwenden, den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts von 1991 (Zinsurteil) und von 2004 (Spekulationseinkünfteurteil) sei über ein Prinzip „Kontrolle entsprechend dem Kontrollbedürfnis“ nichts zu entnehmen. Aber eine Ablehnung dieses Prinzips ergibt sich aus den Urteilen auch nicht. Kontrollbedürfnis ist aber ein sachgerechter Maßstab für die Intensität oder Dichte der Kontrolle. Kontrolle über das Bedürfnis hinaus ist Kontrollübermaß, Kontrolle, die 20 In: H. Vogelgesang (Hrsg.), Perspektiven der Finanzverwaltung, 1992, S. 95, 97 ff.; s. auch Bd. III1, 1993, S. 1209 f., 1213, 1220, 1226. 21 § 205 II RAO 1931 lautete: „Trägt das Finanzamt Bedenken gegen die Richtigkeit der Erklärung, so hat es, wenn nötig, Ermittlungen vorzunehmen.“ 22 Hinweis z. B. auf R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 509 ff.; J. Hey, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 274 („Prüfungsbedürftigkeit“); R. Seer, StuW 2003, 48 re.; ders., DStJG Bd. 31 (2008), 19, 29 ff., 35; E. Schmidt, DStJG Bd. 31 (2008), 40 f.; K.-D. Drüen, in: Zukunftsfragen, S. 13; § 16 III 3 Bundessteuergesetzbuch-Entwurf von P. Kirchhof, 2011. 23 Dazu S. 1474 ff.
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Folgen mangelhafter Kontrolle
hinter dem Kontrollbedürfnis zurückbleibt oder trotz Kontrollbedürfnisses ganz unterbleibt, ist Kontrolluntermaß. Kontrollübermaß ist auch Ressourcenverschwendung; sie ist gerade bei Personalknappheit nicht angebracht. Zulässig und geboten sind aber ergänzend auch Zufallskontrollen. Niemand – auch der nicht kontrollbedürftig Scheinende – darf sicher sein, dass er niemals kontrolliert wird. Das Prinzip „Kontrolle entsprechend dem Kontrollbedürfnis“ geht zum einen sparsam mit dem Personal um und genügt andererseits dem Gleichheitssatz, der gleichmäßigen Besteuerung entsprechend dem Maßstab des Kontrollbedürfnisses. Das Kontrollbedürfnis darf allerdings nicht nach Belieben oder Gutdünken bejaht oder verneint werden. „Kontrollbedürfnis“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der aufgrund von sachgerechten Kriterien ausgefüllt werden muss.
3. Folgen fehlender oder mangelhafter Kontrolle Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 24 sind steuerrechtliche Normen, die ein strukturelles Vollzugsdefizit auslösen, verfassungswidrig. Führe – so das Gericht – eine Erhebungsregelung dazu, dass ein gleichmäßiger Belastungserfolg prinzipiell verfehlt werde, könne die materielle Steuernorm (z. B. des Einkommensteuergesetzes) die Gleichheit der Lastenzuteilung nicht gewährleisten. Eine Steuerbelastung, die nahezu allein auf der Erklärungsbereitschaft der Steuerpflichtigen beruhe, treffe nicht mehr alle. 25 Das ist – so muss man ergänzen – deshalb so, weil eben nicht alle (freiwillig) erklärungsbereit sind. Das Zinsurteil hatte festgestellt, dass jedenfalls die Hälfte der Kapitalerträge nicht erklärt worden sei, zurückzuführen auf das strukturelle Vollzugshindernis des Bankenerlasses von 1979 (später § 30a AO). Nach dem Urteil von 2004 26 darf kein Widerspruch zwischen dem Befehl des materiellen Rechts und der nicht auf Durchsetzung des Rechts angelegten Erhebungsregel vorliegen. Das Bundesverfassungsgericht spricht vom „strukturellen“ oder vom „strukturell bedingten Vollzugsdefizit“ . . ., auch vom „strukturellen Vollzugshindernis“. Dadurch sollen wohl Vollzugsmängel, die ihre Ursache nur in der Person des Gesetzesanwenders haben, ausgeschieden werden; sie sollen nicht zur Verfassungswidrigkeit führen. Der Begriff „Struktur“ stammt ursprünglich aus dem Bauwesen (struere = bauen; structura = Bau, Bauart, Mauerwerk). Er ist aber – durchweg bildlich – in die Wissenschaftssprache übernommen worden. Das Handbuch der philosophischen Begriffe bemerkt dazu: „Das Wort ‚Struktur‘ gehört zu den ebenso häufig wie vage und vieldeutig verwendeten Ausdrücken unserer Wissenschafts- und Bildungssprache. Nicht selten ist sein 24 S. Fußn. 25, 26. 25 BVerfGE 84, 239, 273. 26 BVerfGE 110, 94, 113.
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§ 30 Die Steuervollzugsrealität und ihre Folgen Gebrauch allerdings ohne terminologischen Anspruch harmlos und metaphorisch . . . ‚Struktur‘ ist durch allerlei häufig nur lose zusammenhängende ‚Strukturalismus‘ genannte Schulen und Richtungen der Anthropologie, Soziologie, Linguistik, Literaturwissenschaft u. a. zum Modewort geworden“. 27 Die Wissenschaft sollte möglichst exakte und präzise, nicht mehrdeutige Begriffe verwenden (auch wenn sie, wie der Strukturbegriff, einen wissenschaftlichen Eindruck machen). Wer ohne den Begriff „strukturell“ o. Ä. nicht auszukommen meint, sollte den Inhalt erklären, den er mit dem Begriff verbindet.
Die beiden Vollzugsmängel-Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind von Steuerrechtlern dogmatisch und methodisch kaum kritisiert worden. Das Ergebnis entsprach dem Rechtsgefühl mehr als die Maxime „keine Gleichheit im Unrecht“. 28 Das Bundesverfassungsgericht musste zwei Argumente aus dem Weg räumen: (1) Der Kläger sei nicht in seinen Rechten verletzt; (2) Gleichheit im Unrecht dürfe es nicht geben. Diese beiden Positionen sind dadurch umschifft worden, dass das Gericht von den Vollzugsmängeln auf die Verfassungswidrigkeit der materiellen Normen schloss. Wird eine Steuer auf eine verfassungswidrige Norm gestützt, so sind die Betroffenen in ihren Rechten verletzt. Das Verfassungsgericht wollte nicht Gleichheit im Unrecht, sondern Gleichheit im Recht herstellen. Man mag einmal überlegen, wie ungleich sich der Steuervollzug entwickelt hätte, wäre das Bundesverfassungsgericht 1991 der „keine Gleichheit im Unrecht“-Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs 29 gefolgt? Eine interessante Kritik stammt von Andreas Funke. 30 Er übersieht nicht die tatsächliche Ungleichbehandlung, erwägt allerdings auch, ob es nicht denkbar sei, dass die Steuerpflichtigen sich trotz der Vollzugsmängel gesetzestreu verhalten. A. Funke stößt sich vor allem an der Schlussfolgerung, die materielle Norm sei verfassungswidrig; sie sei es doch in Wirklichkeit nicht. Er will die Problematik dadurch lösen, dass er den Gleichheitssatz (auch) leistungsrechtlich (nicht bloß abwehrrechtlich) versteht. Das hätte dazu führen müssen, dass § 30a AO hätte als verfassungswidrig aufgehoben werden müssen, nicht aber die materielle Norm. Die Ursachen für die Ungleichbelastung waren in der Tat in Vollzugsmängeln angelegt, nicht in der materiellen Norm. Die Besteuerung von Kapitaleinkünften und von Spekulationseinkünften entspricht gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Die Annah27 Handbuch philosophischer Begriffe, hrsg. von H. Krings u. a., Studienausgabe Bd. 5 (1974), Stichwort „Struktur“. 28 Grundsätzliche Kritik findet man bei S. Meyer, Strukturelle Vollzugsdefizite als Gleichheitsverstoß, DÖV 2005, 551 ff.; s. auch Chr. Seiler, JZ 2004, 481 ff. 29 BFH BStBl. 1989 II, 836 ff. 30 A. Funke, Gleichbehandlungsgrundsatz und Verwaltungsverfahren, AöR Bd. 132 (2007), 168 ff.
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Folgen mangelhafter Kontrolle
me, die materielle Norm sei verfassungswidrig, stört – aus der Sicht auf die anderen Einkommensarten – die Gleichmäßigkeit der Besteuerung, dient ihr aber nicht. Geht es nicht nur um ein Vollzugshindernis wie § 30a AO, sondern um die Notwendigkeit, Vollzugslücken zu schließen, so müsste das Verfassungsgericht vom Gesetzgeber (m. E. eventuell auch von der Steuerverwaltung) eine Leistung verlangen, nämlich die Schließung der Vollzugslücke. Entgegen A. Funke widerspricht es allerdings der Erfahrung, dass alle oder fast alle Steuerpflichtigen Vollzugslücken nicht ausnutzen, sondern dem materiellen Recht trotz der Vollzugsmängel treu bleiben. Die beiden vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fälle – aber nicht nur sie – beweisen das Gegenteil. Ein Gesetzgeber, der Kontrollbedürftige nicht kontrolliert, der verführt, nämlich zu Steuerverkürzung. Welchen rechtlichen Weg zur Erreichung der Gleichbelastung, der Gleichheit im Recht, man auch geht, Probleme ergeben sich immer aus der Vergangenheitsbewältigung, der Bewältigung der „Altfälle“ – bis zurück zur Festsetzungsverjährung. Ohne die Mitwirkung der Banken wäre die rückwirkende Einkünfteerfassung nicht möglich gewesen. Wegen ihrer Tafelgeschäfte wären aber auch die Banken überfordert gewesen. Überhaupt wäre m. E. nicht vertretbar gewesen, den Bankenerlass oder § 30a AO rückwirkend aufzuheben. Es war doch der Staat, der zugunsten der Bezieher von Kapitaleinkünften eine „unheile Welt“ geschaffen hatte. Das kam auch Unternehmern und Arbeitnehmern (die sparen) zugute. Im Falle der Spekulationseinkünfte könnte man der Nichtigerklärung der materiellen Norm wegen Verfassungswidrigkeit deutlich den falschen Weg sehen – nämlich wegen Verstoßes gegen die Gleichmäßigkeit der Besteuerung im Verhältnis zu den anderen Einkunftsarten. Die steuerrechtliche Vergangenheitsbewältigung bleibt immer schwierig. Der Einsatz der Steuerfahndung oder die Drohung mit ihr haben nur die begrenzte Wirkung der Schaffung von Sündenböcken. 31 Der Gesetzgeber, der durch Vollzugsmängel verführt, hat allen Anlass zur Steueramnestie durch Verzicht auf Strafe.
31 „Das Mittel der strafrechtlichen Verfolgung ist ziemlich ungeeignet, ein strukturelles Vollzugsdefizit auf der Ebene des exekutivischen Normvollzugs auszugleichen und die erforderliche Belastungsgleichheit herzustellen . . . Was im steuerrechtlichen Massenverfahren durch ein normativstrukturelles Vollzugsdefizit an Belastungsungleichheit bewirkt wird, kann nicht mit dem auf die Ahndung nach Maßgabe individueller Vorwerfbarkeit und Schuld ausgerichteten Strafrecht ausgeglichen werden . . . Hat der Gesetzgeber auf der Ebene des materiellen Steuerrechts ein strukturelles Vollzugsdefizit geschaffen, erscheint es paradox, diesen auf der Ebene des Strafrechts unter Einsatz strafprozessualer Mittel beheben zu wollen (Papier, Stbg. 1999, 56).
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J. Hey möchte die Verfassungswidrigkeit nicht auf Gesetzesmängel beschränken. Sie führt dazu aus: „Dennoch endet das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit nicht am strukturellen, vom Gesetzgeber durch ausdrückliche Beschränkungen der Befugnisse der Finanzverwaltung erst verursachten Vollzugsdefizit. Es erstreckt sich auch auf die rein tatsächlichen Vollzugsdefizite. Insbesondere darf der Gesetzgeber seine Augen nicht vor den Kapazitätsgrenzen der Finanzverwaltung verschließen, wenn er für einzelne Einkunftsarten spezielle Verfahren der Sicherstellung des Steueranspruchs vorsieht. Die Existenz des Lohnsteuerabzugsverfahrens macht fehlende Rechtsanwendungsgleichheit nicht nur zu einem Problem der Gleichbehandlung zwischen steuerehrlichen und steuerunehrlichen Bürgern, sondern zugleich zu einer der Begleiterscheinungen des Einkunftsartendualismus. Im Übrigen kann es nicht darauf ankommen, ob die Vorschriften fehlen oder die Beamten. Strukturell sind auch solche Kontrolldefizite, die auf einer dauerhaften Unterbesetzung der Finanzbehörden beruhen. Deshalb muss auch über die Existenz ‚strukturell gegenläufiger Erhebungsregeln‘ hinaus hinterfragt werden, was der Staat zur Sicherung seines Steueranspruchs und der Rechtsanwendungsgleichheit unternimmt und welche Möglichkeiten ihm hierbei – gerade im Hinblick auf begrenzte Verwaltungskapazitäten – zur Verfügung stehen. 32 In der Tat, ob der Gesetzgeber nicht dafür sorgt, dass fehlende gesetzliche Vollzugsvorschriften ergänzt werden, oder ob er fehlendes Personal nicht ergänzt, ist unter dem Aspekt der sich dadurch mangels Verallgemeinerung einstellenden Vollzugsungleichheit unerheblich. 33 M. E. muss man aber noch einen Schritt weiter gehen. Nicht nur der Gesetzgeber, auch die Verwaltung kann für dem Staat zuzurechnende Vollzugsmängel verantwortlich sein. Auch die „vollziehende Gewalt“ – so nennt das Grundgesetz die Verwaltung – ist Staatsgewalt. Vor allem durch Verwaltungsvorschriften kann die Verwaltung Vollzugsungleichheiten, Verstöße gegen Art. 3 GG, bewirken. Auch die Beschränkung auf die Staatsgewalt „Gesetzgeber“ verletzt das Verallgemeinerungsgebot. Nach diesem Gebot müssen alle Staatsgewalten erfasst werden. Wenn von zwei Steuerpflichtigen, die gleich prüfungsbedürftig sind, nur der eine immer wieder geprüft wird, der andere nicht, so lässt sich das nicht allein mit der unterschiedlichen Betriebsgröße rechtfertigen. Die Betriebsprüfungsordnung mit ihrem von der Betriebsgrößenklasse abhängigen Prüfungsturnus ist wegen Verstoßes gegen 32 J. Hey, in: Festschrift (Fußn. 22), S. 272 f. 33 S. auch schon K. Tipke, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 228 f. („Einkunftsartenabhängiger Personaleinsatz als Strukturmangel“).
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den Gleichheitssatz verfassungswidrig. 34 Das berechtigt den Benachteiligten zur Klage. Ein allgemeines Vollzugsdefizit kann sich auch daraus ergeben, dass aufgrund von Verwaltungsvorschriften Personal so eingesetzt wird, dass es zu einem gleichmäßigen Vollzug nicht kommen kann. Ein verfassungswidriger Verstoß gegen den Gleichheitssatz ist aber nicht anzunehmen, wenn einzelnen Sachbearbeitern oder Außenprüfern persönliche Gesetzesanwendungsfehler unterlaufen. Die vielen falschen Steuerbescheide, die von Finanzbeamten erlassen werden, machen die fehlangewendete Gesetzesvorschrift nicht verfassungswidrig, sondern im Einzelfall schlicht gesetzeswidrig.
4. Mängel des Quellenabzugsverfahrens Auch das Quellenabzugsverfahren ist kompliziert. Das ergibt sich bereits aus der Lektüre der umfänglichen Gesetzestexte, mehr noch aus den einschlägigen Kommentaren. Auch das Quellenabzugsverfahren kann durchaus zu Anwendungsfehlern führen. Wird die Steuerentrichtung nicht dem Steuerschuldner, sondern einem Dritten auferlegt, wird dieser in das Steuerrechtsverhältnis einbezogen; er muss die Steuer einbehalten und abführen und für die fremde Steuerschuld haften (§§ 43d, 44 V; 50a V 5 EStG). Das macht das Quellenabzugsverfahren besonders effizient. Die „Fremddeklaration“ steigert wesentlich die Vollzugswirksamkeit. 35 Der quellenabzugsverpflichtete Dritte ist schlechter gestellt als der Beamte der Finanzverwaltung. Für ihn gilt keine Haftungsbeschränkung (s. § 32 AO). Er kann sich nicht auf Personalmangel berufen, darf nicht zwischen kleinen und großen Steuerpflichtigen unterscheiden und dementsprechend unterschiedlich verifizieren; er darf nicht – wie Verwaltungsbeamte – Steuererklärungen „durchwinken“. Die Verwaltungsvorschriften zu den §§ 85, 88 AO gelten für ihn nicht. Für die Steuerverwaltung hat das Quellenabzugsverfahren den Vorteil, dass die Zahl der zu Kontrollierenden erheblich unter der Zahl der Steuerschuldner liegt. Das wirkt entlastend für die Sonder-Außenprüfung. Der Lohnsteuerabzug kann allerdings das Problem der Schwarzarbeit nicht lösen. Soweit Steuerschuldner, die dem Quellenabzug unterliegen, veranlagt werden (s. § 46 EStG), befinden sie sich in der gleichen Lage wie sonst Veranlagte. 34 So auch R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 21 Rz. 234. S. auch schon oben S. 1446. 35 J. Hey, Festschrift (Fußn. 22), S. 278.
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Quellenabzugspflichtige müssen verschuldensunabhängig haften. Das ist m. E. nicht gerechtfertigt. Der Staat macht die Quellenabzugspflichtigen zu seinen Zwangserfüllungsgehilfen. Von ihnen kann er nicht mehr verlangen als von seinen Beamten. Die Rechtfertigung der schuldlosen Haftung klingt wie: „Der Unternehmer hätte sich die Haftung für seine Arbeitnehmer sparen können, wenn er nicht Unternehmer geworden oder keine Arbeitnehmer beschäftigt hätte.“ Die Steuer der Arbeitnehmer ist aber nicht seine Steuer, sondern eigentlich die Privatangelegenheit der Arbeitnehmer. Es ist der Staat, der die Unternehmer zu seinen Zwangserfüllungsgehilfen gemacht hat und sie so in die Verlegenheit bringt, die Steuerschuld der Arbeitnehmer zu gefährden. Die Anwendung des komplizierten Steuerrechts ist eben auch für Unternehmer und ihre Gehilfen risikoträchtig, mehr noch als für Finanzbeamte. J. Hey stellt dazu zutreffend fest: „. . . die verschuldensunabhängige Haftung überschreitet auch das für die Sicherung des Steueranspruchs erforderliche und dem unbeteiligten Dritten zumutbare Maß . . . Der Bogen ist jedoch überspannt. Eine Garantiehaftung für fremde Schuld im Dienste des Fiskus stellt nicht erfüllbare Nachforschungspflichten an den unbeteiligten Dritten, höhere als an die Beamten des Fiskus selbst. Sorgfalt bei der Entrichtung ließe sich bereits durch eine Verschuldenshaftung erreichen“. 36 Müsste man den Arbeitgebern nicht verallgemeinernd-folgerichtig zugestehen, was die Finanzverwaltung ihren Beamten durch Verwaltungsvorschriften einräumt? Wegen der Effizienz des Quellenabzugs könnte man auf die Idee kommen, ihn auszuweiten auf andere Einkunftsarten. Wie J. Hey aber schon überzeugend dargelegt hat, eignet der Quellenabzug sich nur für ganz bestimmte Einkunftsarten. 37 In der Schweiz und in Frankreich werden Arbeitnehmer nicht dem Quellenabzug unterworfen, sondern ebenso veranlagt wie andere Steuerpflichtige. Die Arbeitgeber haben den Arbeitnehmern aber eine Lohnbescheinigung auszustellen, die diese dem Finanzamt mit der Steuererklärung einzureichen haben. Das Ausfallrisiko ist daher nicht höher als beim Quellenabzug; jedenfalls nicht, wenn die Lohnbescheinigungen kontrolliert werden.
36 J. Hey, Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 286 f. 37 J. Hey, Festschrift für H. W. Kruse (Fußn. 36), S. 284 f.
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Effizienzunterschiede
5. Effizienzunterschiede zwischen Veranlagungs- und Quellenabzugsverfahren – Abbauvorschläge In der Literatur pflegen sich Steuereffizienzuntersuchungen entweder auf das Veranlagungsverfahren oder auf das Lohnsteuerabzugsverfahren oder andere Quellenabzugsverfahren zu beschränken. 38 Die Separierung und Isolierung ist nicht gerechtfertigt. Veranlagte und dem Quellenabzug Unterworfene sind – verallgemeinert – natürliche Personen. Die Quellenabzugsteuern sind Arten der Einkommensteuer. Die unterschiedlichen Besteuerungstechniken dürfen nicht zu im Ergebnis wesentlich unterschiedlichen Steuerlasten führen. 39 Wer die Vollzugseffizienz und andere Vorteile etwa des Lohnsteuerabzugsrechts preist, darf nicht übersehen, dass das, was für Arbeitnehmer gilt, – verallgemeinert – für alle leistungsfähigen Bürger gelten muss. 40 Das Gebot der Verallgemeinerung 41 erlaubt keine unterschiedlichen Wertungsmaßstäbe für Arbeitnehmer und andere leistungsfähige Bürger. Der Weg in die gleiche Effizienz sollte m. E. nicht darin bestehen, die Quellenabzugsverfahren abzuschaffen, sondern darin, die Vollzugslücken des Veranlagungsverfahrens zu schließen, nicht im Interesse der Staatskasse, sondern um Gleichmäßigkeit der Steuerbelastung zu erreichen. Auf S. 1461 ff. habe ich dargestellt, welche Vollzugslücken seit 2005 geschlossen worden und welche noch zu schließen sind. Diese Lücken können nicht bestehen bleiben, weil das Veranlagungs38 So beschränkt sich die Schrift von S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, auf das Veranlagungsverfahren; der Verfasser behandelt kritischdogmatisch die Veranlagung nach der Abgabenordnung, nicht den Quellenabzug. K.-D. Drüen geht in seinem Vortrag über die Inanspruchnahme Dritter für den Steuervollzug (DStJG Bd. 31 [2008], 67 ff.) nicht auf Effizienz der Quellenabzugsverfahren ein, schon gar nicht auf die Effizienz im Vergleich zur Effizienz des Veranlagungsverfahrens. G. Kirchhof nennt die Entscheidung für den Quellenabzug „rechtsstaatlich“ und gibt dazu folgende Begründung: „Durch den Steuerabzug beim Arbeitgeber wurde aber insbesondere eine effiziente und zeitnahe Besteuerung sicher gestellt. Dies dient der Allgemeinheit und der Gleichheit der Besteuerung, der verfassungsrechtlichen Forderung nach einem allgemeinen und möglichst unausweichlichen Steuerrecht.“ (Die Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, 2005, S. 90). 39 Ich gehe nicht auf die Rechtfertigung materiell-rechtlicher Unterschiede ein. – Dazu H. Schaumburg, Das Nettoprinzip im Internationalen Steuerrecht, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 1099 ff. 40 Hinweis auch auf J. Hey: „Die Existenz des Lohnsteuerabzugsverfahrens macht fehlende Rechtsanwendungsgleichheit nicht nur zu einem Problem der Gleichbehandlung zwischen steuerehrlichen und steuerunehrlichen Bürgern, sondern zugleich zu einer der Begleiterscheinungen des Einkommensarten-Dualismus“ (in: Festschrift für H. W. Kruse [Fußn. 36], 272. 41 Dazu G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2003.
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§ 30 Die Steuervollzugsrealität und ihre Folgen
verfahren ein Massenverfahren ist und der Gesamtvollzug in etwa einem Jahr erledigt werden muss; auch Personalmangel ist kein Rechtfertigungsgrund. Das Lohnsteuerabzugsverfahren und das Kapitalertragsteuerverfahren sind auch an Fristen gebundene Massenverfahren. Arbeitgeber und Banken können sich nicht auf Personalmangel berufen, der Staat sollte es auch nicht können. Die gerechte Steuer sollte möglichst unausweichlich sein für alle, nicht nur für Arbeitnehmer, Bezieher von Kapitalerträgen und Rentner. Allerdings ist die Unausweichlichkeit im Unternehmenssteuerbereich nicht ganz zu erreichen, auch nicht durch Außenprüfungen. Es gibt nicht den „wahren“ oder „richtigen“ Gewinn, nicht den Gewinn an sich. Zwar ist die Übertreibung des Vorsichtsprinzips mit dem Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht vereinbar. Es muss aber jeder Gewinnermittlung, die sich nicht auf eine Einnahmen-/Ausgaben-Rechnung stützt, unvermeidlich mit Unsicherheiten verbunden sein. Diese können nicht durchweg zu Lasten der Unternehmer gehen. Was als Gewinn zu Grunde gelegt wird, muss hinreichend sicher feststellbar sein. Der steuerliche Gewinn ist nicht der denkbar höchste, sondern der hinreichend sichere. 42 Daran wird auch die so genannte E-Bilanz nichts ändern. Bilanztransparenz fördert die Vollzugseffizienz. Weil bei der Unternehmensgewinnermittlung Beurteilungsspielräume verbleiben, wäre es gerechtfertigt, zum Ausgleich einen Arbeitnehmer-Freibetrag einzuführen, aber keinen den Realitäten nicht angemessenen, überhöhten Werbungskostenfreibetrag. Die Haftung der Arbeitgeber sollte verschuldensabhängig sein. Von Arbeitgebern kann man nicht mehr verlangen als von Finanzbeamten. Die Unausweichlichkeit der Steuer hat den Vorteil, dass niemand zur Steuerhinterziehung verführt wird. Vollzugslücken, die der Staat belässt, laden zur Verführung ein. Wegen der Folgen solcher Lücken sollte man den Verführer „Gesetzgeber“ mehr kritisieren als die Verführten. 43 Dadurch, dass gegen Steuerflucht über Jahrzehnte nichts oder nichts Wirksames unternommen wurde, wurde zur Steuerflucht verführt. Die Vollzugslücke hätte längst geschlossen werden können. Von den Vertragspartnern der Doppelbesteuerungsabkommen hätte verlangt werden müssen, dem Wohnsitzstaat die Daten der Kapitalerträge (anonym oder nicht) zu überlassen, statt sich gegenüber dem Wohnsitzstaat auf das Bankgeheimnis zu berufen. Auch in den internationalen Beziehungen darf es keine leges imperfectae geben.
42 Dazu Bd. II2, 2003, S. 687 („Zur Gewinnermittlung“). 43 Als Soldat musste man seinen Spind abschließen. Wer es unterließ, wurde wegen Verführung zum Kameradendiebstahl gemaßregelt. Die Verführung zur Tat wurde so schlimm gewertet wie die Tat selbst.
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§ 31 Ideen zu einer Steuervollzugsreform 1. Bundessteuerverwaltung statt Landessteuerverwaltungen?. . . . . . . . . . . . . . . . . 1469 .. 2. Ideen zur Reform des Steuervollzugs. . . . . . . . . . . . . 1474 .. 2.1 Das Reformkonzept von Roman Seer . . . . . . . . . 1475 .. 2.2 Stellungnahme zu Roman Seers Konzept . . . . 1479 ..
2.3 Insbesondere: Zur Reformbedürftigkeit des AO-Besteuerungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . 1482 .. 2.4 Nachtrag: Kurze Bemerkungen zum Steuergesetzbuch-Entwurf von P. Kirchhof . . . . . . . . . 1489 ..
1. Bundessteuerverwaltung statt Landessteuerverwaltungen? Steuergesetzgebung und Steuervollzug gehören zusammen, müssen aufeinander abgestimmt sein. Materielle Gesetze sind nicht mehr wert als ihr Vollzug. Es ist nicht folgerichtig, wenn Gesetze, die – wie die Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer, die Umsatzsteuer – für das ganze Bundesgebiet gelten, von 16 verschiedenen Ländern vollzogen werden. Ein solcher Multivollzug muss erfahrungsgemäß zu ungleichmäßiger Besteuerung führen. Der einheitliche, gleichmäßige Vollzug von Bundesgesetzen sollte daher nicht Sache von 16 Ländern sein. Im Übrigen: Da die Bundessteuergesetze ganz überwiegend im Bundesfinanzministerium entworfen werden, liegt es auch aus diesem Grunde nahe, dem Bundesministerium die Leitung des Vollzugs zu überlassen. Im Anschluss an die Reichsfinanzverwaltung der Weimarer Republik hatten die „Väter des Grundgesetzes“, voran der Haushaltsexperte H. Höpker-Aschoff, auch eine Bundesfinanzverwaltung geplant. Dieser Plan wurde aber von den westlichen Besatzungsmächten durchkreuzt. Erstaunlicherweise wurde zwar eine dominierende Bundessteuergesetzgebung zugelassen, auch ein Bundes-Steuervollzugsgesetz in Form der Abgabenordnung (s. Art. 108 V GG); aber der Vollzug selbst sollte nach dem Veto der Alliierten Militärs Landesfinanzbehörden vorbehalten bleiben. Das hatte schwerwiegende Folgen für die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Um diese Folgen zu unterlaufen, kam es am 15. 1. 1970 zu einer Bund-Länder-Vereinbarung, im Ergebnis zu einem umständlichen Verfahren bei der Abstimmung und Einigung über Verwaltungsvorschriften und über Steuererklärungsformulare u. Ä. A. Uelner (Leiter der BMF-Steuerabteilung a. D.) stellte dazu fest: „Die aufgrund der Bund-Länder-Vereinbarung vom 15. 1. 1970 notwendige Zusammenarbeit zwischen dem Bund (sprich: der Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums) und den Ländern (sprich: 1469
§ 31 Ideen zu einer Steuervollzugsreform
den Steuerabteilungen der einzelnen Landesfinanzministerien) ist – vor allem für die Steuerabteilung des Bundesministeriums – außerordentlich arbeits- und zeitaufwändig“. 1 Das liegt auf der Hand. Die Arbeit einer Steuerabteilung ist einfacher als die Arbeit von 17 Steuerabteilungen, die zu einheitlichen Beschlüssen kommen müssen. Das souveräne, wiedervereinigte Deutschland könnte ohne weiteres die Bundessteuerverwaltung installieren. Nachdem sich seit Jahrzehnten die Länder-Ministerpräsidenten, Länder-Finanzminister (-Senatoren) und ihre Steuerabteilungen eingerichtet haben, sind sie indessen nicht mehr bereit, ihre Steuervollzugsmacht abzugeben. Die Machtfrage wurde inzwischen wieder aktuell, weil das Bundesfinanzministerium seit einigen Jahren danach strebt, dass die Gemeinschaftssteuern (Einkommen-, Körperschaft-, Umsatzsteuer, s. Art. 106 III GG) der Verwaltung des Bundes unterstellt werden. Diese Lösung ist nicht einfach durchzusetzen, weil dazu das Grundgesetz geändert werden müsste, mit Zweidrittelmehrheit. Das ist gegen den Widerstand der Länder allein mit Argumenten nicht zu erreichen. Das Bundesfinanzministerium argumentiert: Die föderale Aufspaltung in 16 Länderfinanzverwaltungen führe zu Unterschieden im Vollzug. Die Aufsichts- und Weisungsbefugnisse des Bundes könnten das nur begrenzt verhindern. Der Personaleinsatz, die technische Ausstattung, die Außenprüfungsfrequenz und die Prüfungsschwerpunkte der Länder wichen voneinander ab. Der Partikularismus der Ländersteuerverwaltungen führe zu Effizienzdefiziten. Es bestehe jedenfalls die Gefahr, dass die Länder mangels eigenen Interesses aus Gründen des Finanzausgleichs den Gesetzesvollzug vernachlässigten. Das Finanzausgleichssystem verzerre das Steueraufkommensinteresse der Länder. Richtlinien, Handbücher, Verwaltungsregeln müssten personalaufwändig in rd. 50 Bund-Länder-Gremien abgestimmt werden, um die Kooperation Bund-Länder zu verbessern und eine bundeseinheitliche Verwaltungsstrategie zu erreichen. Eine Bundesverwaltungskompetenz werde die länderunterschiedlichen Defizite, auch die ungleiche Informationstechnik weitgehend beseitigen. Eine flexible, konsequente Verhandlungsführung auf europäischer Ebene würde dadurch auch erleichtert. 2 Der Bundesrechnungshof (als Bundesbeauftragter für die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung) unterstützt das Anliegen des Bundesfinanzministeriums. 3 1 Festschrift für K. H. Friauf, 1996, S. 225. 2 Vollständiger Abdruck der Gründe des Bundesfinanzministeriums in: Der Präsident des Bundesrechnungshofes, Problem des Vollzugs der Steuergesetze, 2006, S. 123 f. 3 Der Präsident des Bundesrechnungshofs, Probleme beim Vollzug der Steuergesetze, 2006, S. 182 f. Dazu auch K. Schleicher, DStJG Bd. 31 (2008), 61, 63 ff.
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Bundessteuerverwaltung
In mehreren Bundesländern haben maßgebliche Ministerialbeamte sich deutlich im Sinne ihres die Bundesverwaltung ablehnenden Finanzministers geäußert, freilich gewisse Zugeständnisse gemacht. Besonders entschieden hat sich gegen die Bundesfinanzverwaltung der Gemeinschaftssteuern der Ministerialdirigent im baden-württembergischen Finanzministerium Michael Schmitt geäußert. Er ist überzeugter Föderalist und plädiert nachdrücklich für den föderalen Steuervollzug. 4 Nach seiner Meinung erübrigt Art. 108 IV GG eine Grundgesetzänderung. Das Nebeneinander von Bundes- und Landesverwaltung in den Finanzämtern produziere mehr Bürokratie und nehme Bürgern und Unternehmen den einen Ansprechpartner. M. Schmitt beruft sich auch auf das Subsidiaritätsprinzip und bestreitet eine Ungleichmäßigkeit der Außenprüfung. Er lobt den Wettbewerb von Ländern bei der Entwicklung von Vollzugstechniken. Auch K.-D. Drüen ist der Meinung: Die Entwicklung der letzten Jahre belege, dass Vereinheitlichung und Kooperation auch unterhalb der Einführung einer Bundesfinanzverwaltung und ohne Änderung des Grundgesetzes möglich seien, nämlich aufgrund des 1969 eingefügten Art. 108 IV GG. Danach könne durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrats der Vollzug der Steuergesetze verbessert oder erleichtert werden. Ohne den Wettbewerb der Landesfinanzverwaltungen um den besten risikoorientierten Steuervollzug und länderübergreifende Vereinheitlichung wäre der bisherige Vollzugsfortschritt nicht erreicht worden. 5 Stellungnahme: Es ist sachangemessen, dass für den Vollzug von Bundesgesetzen der Bund, für den Vollzug von Landesgesetzen das Land zuständig ist. Fallen die Gesetzgebungskompetenz und die Vollzugskompetenz auseinander, so kommt es mindestens zu Reibungsverlusten. Für die Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung aufgrund von Bundessteuergesetzen wäre der Bund berufen. Bundesgesetze können von 16 Ländern nicht gleichmäßig angewendet werden. Dass die Besatzungsmächte seinerzeit etwas anderes wollten, hatte keine vollzugssachlichen Gründe. Dass die Länder-Ministerpräsidenten und ihre Finanzminister sowie ihre Bürokratie die Steuervollzugsmacht aus Macht- und Prestigegründen behalten möchten, ist verständlich, aber kein sachlicher Grund, eine Änderung des Art. 108 GG zu verhindern. Sachlich geht es um die Frage: Ist die Bundesfinanzverwaltung oder sind 16 Länderfinanzverwaltungen besser in der Lage, für einen bundeseinheitlichen gesetzmäßigen und gleichmäßigen Vollzug zu sorgen? Mir ist keine Veröffentlichung bekannt, die in der Zeit der 4 DStJG Bd. 31 (2008), 99, 131 ff. 5 K.-D. Drüen, in: W. Schön/K. Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, S. 29 ff.
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Weimarer Republik (1919–1933) gefordert hätte, die Reichsfinanzverwaltung für Reichssteuern zu Gunsten von zahlreichen Länder-Finanzverwaltungen abzuschaffen, weil die Summe der Länderfinanzverwaltungen in der Lage sei, die Reichssteuergesetze effizienter zu verwalten als das Reich. Um es zu wiederholen: In einem Rechtsstaat kann es nicht darum gehen, ein möglichst hohes Steueraufkommen ohne Rücksicht auf den Gleichheitssatz, die Gleichmäßigkeit der Besteuerung, zu generieren. Art. 108 GG sollte man nicht überhöhen; er ist eine Organisationsvorschrift, keine wertende Vorschrift, wie die Grundrechte es sind. Die Finanzverwaltung ist so zu organisieren, dass sie effizient für eine gesetzmäßige, gleichmäßige Besteuerung sorgen kann. Erfüllt die in Art. 108 GG vorgesehene Organisation das Ziel eines (für Bundessteuern) bundeseinheitlichen, gleichmäßigen Steuervollzugs nur unvollkommen, so besteht Anlass, das zu ändern. Dass Art. 108 GG einen gleichmäßigen Vollzug der Bundesgesetze will, ergibt sich aus dieser Vorschrift selbst. Art. 108 I GG will eine bundeseinheitliche Ausbildung der Steuerbeamten, und Art. 108 VII GG sieht allgemeine Verwaltungsvorschriften des Bundes vor. Dass eine Bundesfinanzverwaltung, die nicht in Kooperation mit 16 Länderfinanzverwaltungen arbeiten muss, unbürokratischer arbeiten könnte, als eine länderabhängige Bundesfinanzverwaltung, ist in Anbetracht der Notwendigkeit von ca. 50 Koordinationsgremien evident. Was die behauptete größere Bürgernähe der Landesfinanzverwaltung betrifft: Die mir bekannten Steuerpflichtigen wissen mit wenigen Ausnahmen gar nicht, ob die Finanzämter Bundes- oder Landesbehörden sind, oder sie halten das für unerheblich. Ihr Geld werden sie beim Finanzamt ohnehin los. Den einen Ansprechpartner für alle Steuern gibt es schon heute nicht. Der Vollzug der Landessteuern (Erbschaftsteuer, Kraftfahrzeugsteuer, Landesverkehrsteuern) ist jetzt schon räumlich von der Verwaltung der Gemeinschaftssteuern getrennt. Auch das ständig sich ändernde und erweiternde Finanzverwaltungsgesetz sowie die Vorschläge der Föderalismuskommission demonstrieren hinreichend die Schwerfälligkeit der föderalen Finanzverwaltung. Dächten die Steuervollzugsföderalisten folgerichtig, so müssten sie für die Länder nicht nur die Vollzugshoheit behalten wollen, sondern auch die Gesetzgebungshoheit für die Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer und die Umsatzsteuer für sich verlangen. Dass es Geberländer gibt, die die Betriebsprüfungshandhabung entsprechend den Auswirkungen auf den Finanzausgleich oder für Zwecke der Wirtschaftsförderung steuern, ist erfahrungsgemäß keine bloße Behauptung. 6 Dass die Prüfungsdichte von Land zu Land verschieden ist, ist statistisch belegt. 6 Dazu W. Widmann, DStJG Bd. 31 (2008), 158, 302 f.
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Bundessteuerverwaltung
Richtig ist, dass sich einige Länder wettbewerbend um eine Verbesserung des Vollzugs (zumal durch Risikomanagement und E-Government) bemüht haben und bemühen, ohne (s. Fiskus), aber auch nicht immer mit Erfolg. Wettbewerb um den besseren Vollzug ist aber etwas anderes als gleichmäßiger Vollzug, den das Grundgesetz verlangt. Dass die Umsetzung von Beamten aus den Ländern in das Bundesfinanzministerium in Berlin Unbequemlichkeiten, gar Unzuträglichkeiten für Beamte mit sich bringen könnte, auch kostenaufwändig sein würde, soll nicht übersehen werden. So dürfte es wohl noch über Jahre bei der Behelfslösung des Art. 108 IV GG bleiben. Dabei ist noch immer nicht geklärt, was Art. 108 IV GG überhaupt zulässt. Es wird von Grundgesetzkommentatoren auch die Ansicht vertreten, Art. 108 IV GG lasse nur Modifikationen in Teilbereichen, nur punktuelle Durchbrechungen zu. 7 Das Bundesfinanzministerium macht für eine einheitliche Bundesfinanzverwaltung auch geltend, sie ermögliche eine einheitliche „Verwaltungsstrategie“, gemeint ist wohl eine Steuervollzugsstrategie. Strategie ist der Plan, mit bestimmten Mitteln ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wer ein bestimmtes Ziel erreichen will, sollte es auch angeben, im Interesse der Transparenz. Die Aufgabe der Finanzverwaltung ergibt sich aus dem Grundgesetz, konkretisiert durch § 85 AO. Eine besondere Strategie – was immer man darunter versteht – ist unnötig. Mehr Personal als die Länder bisher eingesetzt haben, würde der Bund wohl auch nicht einsetzen mit der Folge, dass die Arbeitssituation in den Veranlagungsstellen sich nicht verbessern würde. Die Fehlerfrequenz in den Steuerbescheiden und die Einspruchsfrequenz würde auch nicht abnehmen. Sollte es wider Erwarten doch zu einer Organisationsreform durch Änderung des Art. 108 GG und zu einer Bundesfinanzverwaltung für die Gemeinschaftssteuern kommen, so wäre es gleichwohl durchaus nicht sicher, dass der Bundesfinanzminister (wer es auch sei) und seine Gehilfen an einer Vollzugsreform im Sinne von Risikomanagement interessiert wären; dies jedenfalls wohl dann nicht, wenn sich herausstellen sollte, dass der „steuerliche Erfolg“ nachlassen würde.
7 Nachweise dazu von J. Englisch, in: Zukunftsfragen (Fußn. 5), S. 30 Fußn. 218, 219.
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2. Ideen zur Reform des Steuervollzugs Literatur R. Eckhoff, Vom konfrontativen zum kooperativen Steuerstaat, StuW 1996, 107 ff.; R. Seer, Besteuerungsverfahren: Rechtsvergleich USA – Deutschland, 2002; R. Seer, Reform des Veranlagungsverfahrens, StuW 2003, 40 ff.; S. Ahrens, Der Vollzug von Steuergesetzen durch den niederländischen Belastingdienst im Vergleich zur deutschen Finanzverwaltung, 2005 (Bochumer Diss., 2003); R. Seer, Reform der Steuerveranlagung, StbJb. 2004/05, 53 ff.; Der Präsident des Bundesrechnungshofes, Probleme beim Vollzug der Steuergesetze, 2006; R. Seer, Selbstveranlagung, Risikomanagement sowie andere Maßnahmen gegen Vollzugsdefizite im Steuerrecht, in: J. Brandt (Hrsg.), Mitverantwortung von Bürger und Staat für ein gerechtes Steuerrecht, Deutscher Finanzgerichtstag 2007, S. 99 ff.; E. Huber/R. Seer, Steuerverwaltung im 21. Jahrhundert: Risikomanagement und Compliance, StuW 2007, 355 ff.; R. Seer, Der Vollzug von Steuergesetzen unter den Bedingungen einer Massenverwaltung, DStJG Bd. 31 (2008), S. 7 ff.; Eckehard Schmidt, Moderne Steuerungssysteme im Steuervollzug, DStJG Bd. 31 (2008), S. 37 ff.; K.-D. Drüen, Die Zukunft des Steuerverfahrens, in: W. Schön/K. Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, S. 1 ff.; S. Haunhorst, Risikomanagement in der Finanzverwaltung – ein Fall für die Finanzgerichte, DStR 2010, 2105 ff.; A. Pestke, Zur Rolle des Steuerberaters im Risikomanagement der Steuerverwaltung, Stbg. 2011, 1 ff.; Berliner Steuergespräch: Kooperationsformen im Besteuerungsverfahren – mit Beiträgen von K.-D. Drüen, G. Meussen, R. Risse, C.-J. Hermenau, W. Spindler, FR 2011, 101 ff.; Streck/Mack/Schwedhelm, Tax Compliance, 2011.
Vorbemerkung Wer gegenwärtig über Steuervollzugsreform mitreden will, muss sich an etliche Anglizismen gewöhnen: Tax Compliance, Risikomanagement, E-Government. Die Diskussion erhält einen wissenschaftlichen Anstrich, wenn man die Anglizismen mit Begriffen wie System, Philosophie oder Kultur verbindet, z. B. Compliance-System, Compliance-Philosophie, Compliance-Kultur. Nach § 87 I AO ist die Amtssprache deutsch. Aber ist das nach Ansicht der Reformer noch zeitgemäß? Die Reformer sprechen denglisch, auch wenn es um nationales Steurrecht geht. Ist z. B. „Compliance“ nicht ein Zauberwort, mit dem man den ganzen Steuervollzug umkrempeln kann, ohne die Abgabenordnung anrühren zu müssen? Hat, wer die Herrschaft über die Begriffe hat, nicht auch schon die Herrschaft über eine extralegale Reform? Alle reden von Compliance, Vertreter der Finanzverwaltung, Wortführer unter den Steuerberatern; große Unternehmen richten Compliance-Abteilungen ein. Aber wollen alle das Gleiche erreichen? Die Finanzverwaltung hat zu wenig Kontrollpersonal und will versuchen, möglichst viele 1474
Ideen zur Reform
Steuerpflichtige dahin zu bringen, dass sie freiwillig wollen, was sie sollen, auch ohne umfassende Kontrolle. Steuerpflichtige, die sich zu Compliance bekennen, Unternehmen, die sich eine Compliance-Abteilung zulegen, hoffen, damit schon demonstriert zu haben, dass sie kein Risiko für die Finanzverwaltung darstellen. Es gibt aber Steuerberater, die wollen sich nicht „einlullen“ lassen. Sie lehnen es ab, den „Mehrzweckbegriff“ einseitig als fiskalzweckdienlich zu verstehen. Sie wollen der Finanzverwaltung die Arbeit nicht erleichtern, sondern ihr weiterhin rechtlich „Steine in den Weg legen“. 8 Aber das Ausnutzen aller Mängel des Gesetzes versteht die Finanzverwaltung wohl nicht als Compliance, und in der Tat, Compliance kann nicht die vielen Mängel der materiellen und formellen Steuergesetze beheben, kein Ersatz sein für Steuerreform. Wenn der Gesetzgeber nicht für bessere Gesetze sorgt, soll man sich dann sagen: Wir wollen wenigstens freiwillig dafür sorgen, dass die schlechten Gesetze voll ausgeschöpft werden? Schon 1965 nahm ein Richter des Bundesfinanzhofs zu einem Urteil seines Gerichts wie folgt Stellung: „. . . Wie in der Bibel der Glaube an den HERRN zur Treue im Gebet und zum Handeln des Christen führt und wiederum die Treue des HERRN zu uns erbittet und empfängt, so besteht – mutatis mutandis – auch zwischen den Steuerpflichtigen und der Steuerbehörde ein gegenseitiges Treuverhältnis der Sorgfaltspflicht“. 9 War das nicht schon eine Art Tax Compliance-Bekenntnis, wenn auch noch sakral unterfüttert, noch nicht säkularisiert? 2.1 Das Reformkonzept von Roman Seer Wer sich gegenwärtig mit der Dogmatik und mit Reformfragen des Steuervollzugs befasst, stößt alsbald auf den Namen des Vordenkers Roman Seer. 10 Er selbst hat sich nicht unwesentlich vom US-amerikanischen Besteuerungsverfahren inspirieren lassen – bis hin zum Vokabular, das allerdings weltweit verbreitet ist. 11 Auch der Steuervollzug des niederländischen Belastingdienstes hat ihn beeindruckt. 12 R. Seer hat mit seinem Konzept nicht nur die Steuerrechtswissenschaft beeinflusst, sondern auch führende Kräfte in der deut8 Streck/Mack/Schwedhelm, Tax Compliance, 2011, S. 8. 9 StuW 1965 Nr. 12, 120. 10 Nicht unerwähnt bleiben soll allerdings auch R. Eckhoff mit seinem Beitrag Vom konfrontativen zum kooperativen Steuerstaat, StuW 1996, 107 ff. 11 Dazu R. Seer, Besteuerungsverfahren: Rechtsvergleich USA – Deutschland, 2002. 12 Dazu die Folgerungen von S. Ahrens aus dem niederländischen Steuervollzug für die deutsche Finanzverwaltung (s. S. Ahrens, Der Vollzug von Steuergesetzen durch den niederländischen Belastingdienst, im Vergleich zur deutschen Finanzverwaltung, 2005, S. 329 ff.). In den Niederlanden, in
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schen Finanzverwaltung 13 und nicht zuletzt den Bundesrechnungshof. 14 R. Seers Reformvorschläge befinden sich zurzeit nicht nur in der Diskussion, die von Akademikern und Praktikern geführt wird; sie haben auch schon das Stadium der Erprobung durch Finanzverwaltungsbehörden in Bayern und Nordrhein-Westfalen erreicht. R. Seers Reformkonzept wird hier komprimiert wiedergegeben. 15 R. Seer geht von folgenden Zwängen der Vollzugsrealität aus: Das (deutsche) Besteuerungsverfahren ist ein Massenverfahren mit jährlich ca. 35 Millionen Veranlagungen pro Jahr. 16 Das andere Fixum ist das Personalpotenzial, deren Größenordnung die Finanzbehörden nicht selbst bestimmen können. 17 In die Klage von Finanzbehörden und insbesondere auch der Deutschen Steuergewerkschaft, dass die Ursache für die „Misere der Finanzverwaltung“ hauptsächlich im Personalmangel zu suchen sei, stimmt R. Seer nicht ein. Er meint, das Personal der Finanzämter sei nicht risikogerichtet-optimal eingesetzt. Vor allem das Abhaken von Steuererklärungen sei nicht sinnvoll. R. Seer verspricht sich Personalentlastung insbesondere von der Einführung der Selbstveranlagung (wie sie für die Umsatzsteuer bereits besteht). Auf dem Wege in die faktische Selbstveranlagung seien wir schon. Es fehle nur noch an der gesetzlichen Grundlage. Die Steuerpflichtigen müssten die von ihnen selbst zu berechnende Steuer anmelden und zahlen. Werde in der Steueranmeldung von Verwaltungsvorschriften und von der Rechtsprechung abgewichen, so müsse das dem Finanzamt offenbart werden. Die Steueranmeldungen seien unter „Vorbehalt der Nachprü-
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denen auch Finanzpersonalnot herrscht, versucht man es zurzeit mit „Horizontaal toezicht“, erläutert von G. Meussen, FR 2011, 114 ff. Hinweis insbesondere auf E. Schmidt, Moderne Steuerungssysteme im Steuervollzug, DStJG Bd. 31 (2008), S. 37 ff.; W. Widmann, Resümee, DStJG Bd. 31 (2008), 295 ff. Der Präsident des Bundesrechnungshofes, Probleme beim Vollzug der Steuergesetze, 2006; K. Schleicher, Die Kontrolle des Steuervollzugs durch die Rechnungshöfe, DStJG Bd. 31 (2008), S. 59 ff. Man kann das Konzept in aller Ausführlichkeit nachlesen in R. Seer, Reform des Veranlagungsverfahrens, StuW 2003, 40 ff.; s. auch StbJb. 2004/05, 53 ff.; R. Seer, Deutscher Finanzgerichtstag 2007, S. 99 ff.; E. Huber/R. Seer, Steuerverwaltung im 21. Jahrhundert: Risikomanagement und Compliance, StuW 2007, 355 ff.; R. Seer, Der Vollzug der Steuergesetze . . ., DStJG Bd. 31 (2008), S. 7 ff. E. Schmidt gibt die Zahl der jährlich zu veranlagenden Fälle für Deutschland mit 28 Mio. Einkommensteuerfällen, 5,5 Mio. Umsatzsteuerfällen (ohne Voranmeldungen) und 1 Mio. Körperschaftsteuerfällen an. Zur Personalausstattung der Finanzverwaltung K. Schleicher, DStJG Bd. 31 (2008), S. 61 f. Danach soll das Personal der Finanzämter seit dem Jahr 2000 um rund 10 % reduziert worden sein.
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Ideen zur Reform
fung“ zu stellen. Steuerlaien müssten verpflichtet werden, sich von einem Steuerberater unterstützen zu lassen, oder sie müssten das Recht erhalten, die Steuerberatungskosten von der Steuerschuld abzuziehen. Darin liege ein Anreiz, sich zum Steuerberater zu begeben – auch ohne Konsultationspflicht. Das Fachpersonal könne künftig überwiegend im qualitativen „Risikomanagement“ oder für verbesserte Serviceleistungen eingesetzt werden. Was R. Seer „Risikomanagement“ nennt, soll der Überprüfung (Kontrolle, Verifizierung) dienen und so organisiert werden: Eine bundesländerübergreifende Vernetzung soll für ungehinderten bundesweiten Datenaustausch zwischen den Länderfinanzverwaltungen sorgen. Das anfallende Datenmaterial soll dann unter einer bundeseinheitlichen Steuernummer (s. jetzt schon § 139a ff. AO) verwertet werden können. Die Mitteilungspflichten, Kontrollmitteilungen eingeschlossen, sollen erweitert, strukturelle Vollzugsbarrieren (wie § 30a AO) sollen abgeschafft werden. Eine computergesteuerte (nachträgliche) Kontrolle der Selbstveranlagungen soll auf drei Ebenen ansetzen: (a) Die Steueranmeldungen sollen zunächst auf Rechenfehler und Unschlüssigkeiten überprüft sowie mit vorliegendem Datenmaterial abgeglichen werden. Zeigen sich dadurch Fehlerquellen oder Fehler, so sollen sie manuell überprüft werden. (b) Die verbleibenden Steuerfälle sollen nach Risikowahrscheinlichkeit für eine manuelle Prüfung ausgewählt werden. Ein Computerprogramm soll einen Risikofaktor errechnen, der schwergewichtig aus abstrakten Faktoren (z. B. Art und Zusammensetzung der Einkünfte, Branche, Existenzgründungseigenschaft, Steuerberater-Mitwirkung und einer individuellen Steuervita) bestehen. Die Vita soll das gesamte Vorverhalten des Steuerpflichtigen dokumentieren. Die „steuerliche Bedeutung“ soll ebenfalls in den Risikofaktor eingehen, ihn jedoch nicht dominieren. (c) Unabhängig davon soll das Computerprogramm bestimmte, besonders fehlergeneigte Prüffelder und zufallsgesteuerte Stichproben für eine manuelle Kontrolle auswählen. (d) Die Außenprüfung soll als unverzichtbar nicht nur bestehen bleiben, sie soll auch personell verstärkt werden. Jedoch soll die Prüfungsauswahl nicht mehr einseitig nach Betriebsgrößen ausgewählt werden, sondern ebenfalls nach Risikowahrscheinlichkeit entsprechend dem Risikofaktor. Neben die Außenprüfung soll die Nachschau durch bewegliche Stäbe treten. Diese sollen innerhalb eines örtlichen Bezirks Kontrollen an Ort und Stelle vornehmen können, z. B. zur Aufdeckung von Schwarzarbeit und von OR-Geschäften. (e) Das Verfahren soll weitmöglichst durch „E-Government“ unterstützt werden: elektronische Steueranmeldungen, elektronische Bi-
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§ 31 Ideen zu einer Steuervollzugsreform
lanz, digitale Außenprüfung. Von diesem Vorhaben hat der Gesetzgeber schon einiges auf den Weg gebracht. 18 (f) Das beschriebene Risikomanagement soll durch eine ComplianceStrategie unterfüttert werden. Nicht nur sollen die Steuerpflichtigen dazu gebracht werden, dass sie mitwirkungsbereit sind, ihnen gegenüber sollen die Finanzbeamten auch für Serviceleistungen bereitstehen, so für Auskünfte in Call-Centern, 19 Internetinformationen, Steuerberechnungsprogamme u. Ä. Das durch Mitteilungen Dritter gewonnene Informationsmaterial soll als Serviceelement den Steuerpflichtigen zur Erleichterung der Selbstveranlagung zur Verfügung gestellt werden, auch durch Vorausfüllung der Steueranmeldungsformulare. Der konfrontative Steuerstaat soll durch einen kooperativen 20 ersetzt werden. Das Image der Finanzämter soll sich wandeln – vom Bürgerschreck zum fairen Garanten gesetzmäßiger und gleichmäßiger Besteuerung im Interesse der gesetzestreuen Steuerbürger. Der Compliance-Resistente soll allerdings mit fühlbaren Sanktionen rechnen müssen. (g) Die Mitwirkung eines Steuerberaters bei der Steueranmeldung soll auch durch Minderung des Risikoindikators berücksichtigt werden. Die Serviceleistung „Auskunft“ und die kooperative Verständigung sollen gesetzlich geregelt werden. (h) Die Festsetzungsverjährungsfristen sollen deutlich verkürzt werden. (i) Das Steuerstrafrecht soll zu Gunsten von Zuschlägen entpönalisiert werden. (j) R. Seer setzt sich für die Transparenz des Risikomanagements ein. Die Risikokriterien sollen nach seiner Vorstellung nicht zur „Geheimwissenschaft der Finanzverwaltung“ gehören. Er denkt an eine Erarbeitung der Risikokriterien zusammen mit der Steuerberaterschaft. Die Finanzverwaltung soll als Kehrseite von Compliance den Bürgern „mit offenem Visier“ entgegentreten. 21
18 Weitere Fundstellennachweise zur elektronischen Übermittlung von Bilanzen und GuV-Rechnungen R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 21 Rz. 183. 19 In einer Reihe von Ländern sind bereits sog. Finanzamts-Hotlines (ServiceTelefone) eingerichtet worden. Sie stehen für Auskünfte zur Verfügung. 20 So schon R. Eckhoff, Vom konfrontativen zum kooperativen Steuerstaat, StuW 1996, 107 ff. 21 R. Seer, Deutscher Finanzgerichtstag 2007, S. 109.
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2.2 Stellungnahme zu Roman Seers Konzept Nach § 87 I ist die Amtssprache deutsch. Viele Steuerbürger dürfte es aber doch verwundern, würden die Amtsträger (s. § 7 AO) künftig in Anglizismen mit ihnen reden wie Risikomanagement, Compliance, kooperativer Vollzug, E-Government, Imagepflege, Callcenter-Service. (a) Das Risikomanagement soll nichts anderes bewirken, als Überprüfung entsprechend dem Prüfungsbedürfnis (Kontrollbedürfnis). Dieses Bedürfnis wächst mit dem Steuerausfallrisiko, neutral: mit dem Risiko der Abweichung vom Gesetz. Die Schwierigkeit besteht darin, sachgerechte Risikokriterien zu bestimmen. Da die Risikoträger Menschen sind, kann es nicht ausbleiben, dass ein Restrisiko in Kauf genommen werden muss, dass gewährtes Vertrauen enttäuscht wird. Die Computertechnik kann hilfreich sein; es fehlt zurzeit aber noch an länderübergreifender Vernetzung der Finanzbehörden und an Kontrollmitteilungen. Auch bei Computereinsatz muss es bei der Herrschaft des Gesetzes bleiben, darf die Technik das Gesetz nicht verdrängen. Die Gesetze sind keine Subnormen der Technik. Einige Gesetzesvorschriften werden geändert werden müssen, für die Verwaltungsvorschriften zu den §§ 85, 88 AO gilt das ohnehin. Was die Steuervita (schon jetzt wird von „Steuersündenregister“ gesprochen) und die Zuordnung zu einer bestimmten Risikoklasse betrifft, werden voraussichtlich nicht wenige Steuerpflichtige Einsicht nehmen wollen in ihre Steuervita und genau wissen wollen, welche Kriterien bei ihnen zur Risikoklassenzuordnung geführt haben. Wird die Einsicht abgelehnt, so werden zahlreiche Steuerpflichtige die Gerichte beschäftigen. Das könnte auf der Grundlage der Informationsfreiheitsgesetze der Länder geschehen. Die Gerichte werden dann darüber befinden müssen, welche Kriterien risikoerheblich sind, welche nicht. Bis die Gerichte alle Fragen geklärt haben, dürfte ein Jahrzehnt vergehen. Zunächst wird sich die Frage stellen, ob die Finanzämter die Vita und die Kriterien der Risikoklassenzuordnung dem Gericht werden vorlegen müssen (s. dazu §§ 78, 86 FGO). Was in den USA und in den Niederlanden möglicherweise widerstandslos abläuft, mag hier „bei offenem Visier“ zu Sand im Getriebe der Finanzämter werden. Zu Prozessen würde es sicher auch kommen, wenn die Finanzämter in die Vita der Steuerpflichtigen auch eine „Beurteilung“ der Steuerberater aufnehmen würden (etwa so: Steuerberater B nutzt jede Möglichkeit, dem Finanzamt Schwierigkeiten zu machen. Er nutzt Gesetzeslücken, legt oft Einspruch ein, ist uneinsichtig und das Gegenteil eines Compliance-Typs). (c) Bei der Selbstveranlagung geht es nicht nur um den Sachverhalt, auf den die §§ 88 I, 90 I, 92, 93 I AO sich beziehen, sondern auch um Rechtsfragen. § 150 AO verlangt denn auch nicht die Erklärung des 1479
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Sachverhalts (d. h. von Tatsachen), sondern von Angaben, die das Erklärungsformular vorsieht und die der Steuerpflichtige wahrheitsgemäß zu machen hat. Das Steuererklärungsformular verlangt Steuerrechtskenntnisse. Sie können nicht wahr oder unwahr sein, sondern nur richtig oder falsch. § 153 AO spricht denn auch von der „unrichtigen Steuererklärung“. Im Prozessrecht gilt grundsätzlich: „Da mihi factum, dabo tibi ius.“ Der Richter sagt dem Kläger: „Gib mir den Sachverhalt, dann gebe ich dir das Recht.“ Von diesem Grundsatz hat sich insbesondere das Bundesverfassungsgericht zu seiner Bequemlichkeit weit entfernt. Aber auch der sich selbst Veranlagende soll dem Finanzamt auch das Recht liefern, factum et ius. Rechtslaien, die eigene Rechtskenntnisse haben müssen, sind ein Widerspruch in sich. Daher wäre es folgerichtig, dass der Gesetzgeber für Steuerlaien eine Konsultationspflicht anordnet. Dass dadurch Wähler verärgert werden könnten, rechtfertigt es nicht, eine solche Vorschrift zu unterlassen. Sie würde in besonderem Maße für den Fall gebraucht, dass es zu einer Selbstveranlagung der Einkommensteuer und anderer Steuern kommen würde. Der Abzug der Steuerberatungskosten von der Steuerschuld kann die Laienpflicht, sich beraten zu lassen, nicht ersetzen. Würde keine Informationspflicht eingeführt, so müssten die Finanzämter den Laien Hilfe bei der Steuererklärung leisten. P. Kirchhof ordnet eine Pflicht der Steuerlaien, sich beraten zu lassen, in seinem Steuergesetzbuchentwurf von 2011 nicht an. In seinem Entwurf kommt die Steuerberatung gar nicht vor. Sollte P. Kirchhof annehmen, sein Entwurf sei so einfach und verständlich (dazu S. 6 f.), dass jeder Steuerlaie seine Steuer selbst berechnen könne (was § 15 des Entwurfs verlangt), so vermöchte ich mich dem nicht anzuschließen. Auch P. Kirchhofs Entwurf ist selbstverständlich in einer Fachsprache abgefasst, nicht in der Umgangssprache. Selbstveranlagung ist eine teilweise Entstaatlichung der Besteuerung – zur Entlastung der Steuerbehörden. Die Steuerlast beruht aber nicht auf einer Selbstverpflichtung der Steuerbürger; sie ist eine vom Staat auferlegte Last. Daher ist die Selbstveranlagung keine Selbstverständlichkeit. (d) Roman Seer ist Realist, wie folgende Stellungnahme zeigt: „Die Implementierung eines umfassenden Risikomanagements im Bereich der Einnahmen/Erlöse in die Steuerverwaltung bedeutet eine tiefgreifende Umstellung von Bewusstsein, Grundausrichtung und Selbstverständnis sowohl beim Steuerbürger als auch bei der Verwaltung. Sie kann nur funktionieren, wenn sie über die Verwaltung hinaus ethisch auch von Politik und Gesellschaft mitgetragen wird, wenn sich also insgesamt das Bewusstsein verbreitet, dass steuerliche Non-Compliance verwerflich ist. Dies kann nur gelingen, wenn es keine Anlässe 1480
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für die große Menge der Steuerbürger gibt, an der Fairness des Steuersystems, seiner Umsetzung und der Steuerverwendung zu zweifeln“. 22 In der Tat, so lange Compliance-Strategen für Rattenfänger oder für Wölfe im Schafspelz gehalten werden, ist ihr Ziel nicht erreicht. Aber selbst wenn solches Misstrauen überwunden wäre: Es gibt Compliance-widrige Umstände, auf die die Veranlagungsbeamten und Außenprüfer keinen Einfluss haben: schwer verständliche oder unverständliche, unnötig komplizierte Steuergesetze, Steuerverschwendungen, wie sie die Rechnungshöfe und der Bund der Steuerzahler immer wieder aufdecken. Zurzeit treibt viele Steuerzahler nicht nur die Sorge um sog. soziale Verschwendung um, sie sind insbesondere darüber verdrossen, dass mit ihrem Steuergeld leichtfertig umgegangen werde, insbesondere um den Euro zu retten, um den Rettungsschirm zu Gunsten von hoch verschuldeten Ländern zu erweitern. Sie sind verdrossen darüber, dass sie die Lastenträger des „Zahlmeisters Deutschland“ spielen sollen; sie sind besorgt darüber, dass aus der Europäischen Union mehr und mehr eine Transfer-Union wird – mit den deutschen Steuerzahlern als Hauptlastesel. „Deutschland wird ausverkauft“, titelte „Der Steuerzahler“ – zu Lasten der deutschen Steuerzahler. 23 Der Bundesrechnungshof will mehr als das existierende Bundeszentralamt für Steuern, er setzt sich für die Vernetzung aller Datenbanken innerhalb und außerhalb der Finanzverwaltung ein, damit z. B. die Daten der Handelsregister, der Einwohnermeldeämter, der Kfz-Behörden, der Grundbuchämter, der Schuldnerverzeichnisse, etc. abgerufen werden können. Diese Daten sollen so verknüpft werden, dass sie als Entscheidungsgrundlagen benutzt werden können. Dazu dient das Data-Mining. Es sucht „systematisch einen Weg durch die Daten, um die verborgenen Erkenntnisse und Zusammenhänge aufzudecken“. 24 „Moderne Verwaltungssteuerung und E-Government – haben wir nun das gelobte Land vor uns oder müssen wir uns – bald 25 Jahre nach Orwells 1984 – doch eher vor Big Brother fürchten?“ 25 So fragt E. Schmidt. Für Data-Mining, das wirklich gesetzmäßiger, gleichmäßiger Besteuerung dient, wäre m. E. nichts einzuwenden, wenn diese Besteuerung nicht der Umsetzung von Wirrwarr-Gesetzen und auch der Steuerverschwendung dienen würde. Der „gläserne Bürger“ passt nicht zu undurchsichtigen Steuergesetzen. 22 StuW 2007, 371 re. 23 Der Steuerzahler 01/11, S. 13. 24 Der Präsident des Bundesrechnungshofes, Probleme im Vollzug der Steuergesetze, 2006, S. 172 f. 25 DStJG Bd. 31 (2008), S. 37.
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M. E. ist bisher auch zu wenig darüber nachgedacht worden, wie die fremdwortgeschwängerten Reformideen durchgesetzt und in Verwaltungsvorschriften umgesetzt werden können. § 88 I 2 AO müsste m. E. anders gefasst werden, und die Verwaltungsvorschriften zu §§ 85, 88 AO müssten erneuert werden. Eine klare, geordnete Regelung der Rechte und Pflichten der Finanzbehörden und der Steuerpflichtigen wäre m. E. weiterhin erforderlich. Sie wäre rechtssicherer als eine do ut des-Praxis „Finanzamtsservice für Compliance“. Bei einigen Vollzugsreformern habe ich den Eindruck, sie seien so benebelt, dass bei ihnen die Grenzen zwischen der lex ferenda und der lex lata verschwimmen, indem sie etwa aus einer einzelnen Vorschrift eine Maxime ableiten und entgegenstehende Vorschriften negieren. Gesetze sind nur so viel wert wie ihr Vollzug. Aber umgekehrt gilt auch: Ungerechte materielle Steuergesetze werden durch effizienten Vollzug nicht zu gerechten Gesetzen. Den materiellen Steuergesetzen fehlt es weithin an einem sachgerechten Maßstab, der gleichmäßig – d. h. verallgemeinernd, folgerichtig und widerspruchsfrei – umzusetzen ist. Mangelhafte materielle Gesetze ohne Rücksicht auf ihre Mängel effizient umzusetzen, ist nicht nur rechtsstaatswidrig; es ist auch zynisch. Leider fehlt es führenden Steuerpolitikern offenbar an Unrechtsbewusstsein. Den Steuervollzug auf Effizienz hin zu reformieren, die besonders reformbedürftigen materiellen Gesetze aber in ihrem mangelhaften Zustand zu belassen, heißt: das Pferd am Schwanz aufzäumen. 2.3 Insbesondere: Zur Reformbedürftigkeit des AO-Besteuerungsverfahrens Nichts spricht dafür, dass man im Bundesfinanzministerium AO-reformfreudig ist. Man neigt dazu, a-, b-, c-Paragraphen einzufügen (s. §§ 20a, 30a, 31a, 31b, 67a, 87a, 88a, 93a, 93b, 139a, b, c, d, 147a, 178a). Oder es werden neue Absätze oder Sätze in das Gesetz eingefügt (z. B. § 89 II–V; § 90 II, III), systematisch nicht immer an der richtigen Stelle. Diese Flickerei sollte nicht fortgesetzt werden. Die Vorschriften über das Verfahren sind insgesamt reform- oder revisionsbedürftig. Eine Reform der Abgabenordnung in toto wird die Steuerpolitik wohl erst recht nicht schultern wollen oder können, obwohl auch eine solche Reform gerechtfertigt wäre. Die Abgabenordnung von 1977 ist ein mixtum compositum aus der E. Beckerschen Abgabenordnung von 1919 mit vielen Änderungen, dem Verwaltungsverfahrensgesetz von 1976 und der Betriebsprüfungsordnung. Hinzugekommen sind Erkenntnisse aus den 1960er und 1970er Jahren. Die Abgabenordnung 1482
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1977 ist weder inhaltlich noch terminologisch aus einem Guss. Den Nachkriegsgesetzgeber pflegt das nicht zu stören. Dogmatik, Systematik, Begriffszucht sind seine Stärke nicht. Die vielen mitwirkenden Köche verderben eher den Brei. Dass auch Verfahrensreformen nicht mehr einfach zu haben sind, zeigt die Entstehung des Verwaltungsverfahrensgesetzes. 26 Über Verfahrensrecht können Politiker sich schneller einigen als Verfahrensjuristen. Geht man von einer das Besteuerungsverfahren betreffenden AO-Teilreform oder -revision aus, so müssten hauptsächlich der Dritte Teil („Allgemeine Verfahrensvorschriften“) und der Vierte Teil („Durchsetzung der Besteuerung“) reformiert oder revidiert werden. Die Reform- oder Revisionsarbeit sollte damit beginnen, dass der Gesetzesstoff besser geordnet wird. Über die Frage, wie das zu geschehen habe, würde man sich wohl einigen können, auch wenn nicht nur eine Lösung denkbar ist. 27 Die Abgabenordnung 1977 gliedert den Dritten Teil („Allgemeine Verfahrensvorschriften“) in zwei Abschnitte: Erster Abschnitt: Verfahrensgrundsätze Zweiter Abschnitt: Mitwirkungspflichten
Der Erste Abschnitt („Verfahrensgrundsätze“) enthält zwei Unterabschnitte, nämlich 1. Beteiligung am Verfahren (die Regelung der Beteiligung am Verfahren gehört m. E. nicht zu den Verfahrensgrundsätzen), 2. Ausschließung und Ablehnung von Amtsträgern 3. Besteuerungsgrundsätze, Beweismittel
Da es um das Besteuerungsverfahren geht, gehört an den Anfang m. E. die Aufgabe des Besteuerungsverfahrens (der Auftrag der Finanzbehörden). Der Unterabschnitt „Besteuerungsgrundsätze“ enthält nur ei26 Es begann mit der Erarbeitung von Grundsätzen im Jahre 1957. 1960 konstituierte sich ein Bund-Länder-Ausschuss. 1964 wurde ein Musterentwurf vorgelegt. Dieser wurde in der Fachwelt lebhaft diskutiert. Erst 1966 wurde eine überarbeitete Fassung des Referentenentwurfs vorgelegt. 1973 wurde der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum zweiten Mal in den Bundestag eingebracht. Die Ausschussberatungen dauerten bis Ende 1975. 1976 wurde das Gesetz vom Bundestag verabschiedet. Der Bundesrat rief den Vermittlungsausschuss an. So dauert die Prozedur von der Erarbeitung von Grundsätzen im Jahre 1957 bis zur Gesetzesverabschiedung im Jahre 1976 fast 20 Jahre. Genaue Darstellung der Gesetzgebungsprozedur in: H.-U. Erichsen/W. Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht5, 1981, S. 307 ff. 27 Dazu schon K. Tipke, Die Abgabenordnung 1977 aus der Sicht der Steuerrechtswissenschaft, Steuerkongress-Report 1976, 121 ff.; s. auch ders., Neukodifikation des Allgemeinen Steuerrechts in der Abgabenordnung 1977, JZ 1976, 703 ff.
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nen Paragraphen, der mit „Besteuerungsgrundsätze“ überschrieben ist, nämlich § 85 AO. Dieser müsste mit „Aufgabe des Besteuerungsverfahrens“ oder „Besteuerungsauftrag der Finanzbehörden“ überschrieben werden. Auch § 88a AO ist eine Aufgabennorm. Besteuerungsgrundsätze enthalten der § 88 AO („Untersuchungsgrundsatz“) und der § 90 AO („Mitwirkungspflicht der Beteiligten“). § 88 AO erfasst nur die Sachverhaltsermittlung, es geht aber auch um die Rechtslage, um den rechtserheblichen Sachverhalt. Bei der Regelung des Verfahrensbeginns (§ 86 AO), der Amtssprache (§ 87 AO) und der Anhörung Beteiligter (§ 91 AO) handelt es sich um schlichte Verfahrensvorschriften, jedenfalls nicht um Besteuerungsgrundsätze. Allenfalls bei § 91 AO mag man anderer Ansicht sein können. An den Besteuerungsauftrag und die Besteuerungsgrundsätze könnten sich allgemeine Verfahrensvorschriften anschließen (jetzt §§ 78–81, 82–84, 86, 87, 91 AO). 28 § 89 AO gehört nur dann in einen Abschnitt über das Verfahren, wenn es um Informationen über das Verfahren geht, nicht aber gehört die Regelung von Zusagen (verbindlichen Auskünften) über materielles Recht hierher (s. auch §§ 204 ff. AO). Die Zusage muss allgemein in einem Abschnitt „Pflichten der Finanzbehörden“ geregelt werden, nicht nur als Zusage aufgrund einer Außenprüfung. „Verbindliche Zusage“ (so die Überschrift von § 204 AO) ist ein Pleonasmus. Die Verbindlichkeit ist dem Begriff der Zusage immanent. Warum unterscheidet die Abgabenordnung terminologisch zwischen Zusage (§§ 204 ff. AO) und verbindlicher Auskunft (§ 89 II, III AO)? „Es fehlt der AO weiterhin an einem Gesamtkonzept, das die §§ 89, 178a, 204–207 und die sog. tatsächliche Verständigung in einen abgestimmten Abschnitt der kooperativen Handlungsformen einbindet“. 29 § 92 AO regelt die Beweismittel nicht abschließend. § 92 II AO zählt nur die klassischen Beweismittel auf („insbesondere“). Dieser Aufzählung könnten die Amtshilfe und die im Gesetz vorgesehenen Mitteilungen (Anzeigen) Dritter hinzugefügt werden. 30 Die Finanzbehörden dürfen sich überhaupt aller Beweismittel bedienen, die für den Beweis geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind (s. auch § 92 I AO). Die Einschränkung auf das pflichtgemäße Ermessen (ein Pleonasmus) sollte gestrichen werden. Die detaillierte Regelung der Beweismittel (§§ 92–100 AO) macht das Verfahren umständlich und ineffektiv. Besonders wichtig ist, dass § 93 I 3 AO und § 97 II AO abgeschafft werden. Die §§ 98 (Einnahme des Augenscheins) und 99 28 Eine Neuordnung dieser Vorschriften wäre erforderlich. 29 R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 21 Rz. 16. 30 Z. B. solche nach § 29 EStDV; §§ 33 und 34 ErbStG i. V. m. §§ 1–11 ErbStDV; §§ 18, 19 GrEStG; § 12 FeuerschutzStG; § 5 KraftStDV.
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AO („Betreten von Grundstücken und Räumen“) sollten zu einer Vorschrift zusammengefasst werden, die eine wirksame Nachschau zulässt. 31 Den geltenden Unterabschnitt über die Beweismittel könnte man bildhaft auch überschreiben mit „Viel Geschrei und wenig Wolle“. Ein Veranlagungssachbearbeiter, der für eine Veranlagung im Durchschnitt weniger Zeit hat als eine halbe Stunde, kann es sich gar nicht erlauben, sich z. B. mit dem Eid (§ 94 AO) und der Eidesstattlichen Versicherung (§ 95 AO) aufzuhalten. Warum steht die eidliche Vernehmung Dritter (§ 94 AO) wohl vor der Eidesstattlichen Versicherung Steuerpflichtiger (§ 95 AO)? Zum Schweizer Steuerrecht heißt es in Art. 123 des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (DBG) von 1990: „Die Veranlagungsbehörden stellen zusammen mit dem Steuerpflichtigen die für eine vollständige und richtige Besteuerung maßgebenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse fest. Sie können insbesondere Sachverständige beiziehen, Augenscheine durchführen und Geschäftsbücher und Belege an Ort und Stelle einsehen.“
Der erste Satz drückt eingängig („zusammen mit“) die Kooperationsmaxime aus. Ergänzend zu Art. 123 II DBG wird in Art. 126 DBG vorgeschrieben: „Der Steuerpflichtige muss alles tun, um eine vollständige und richtige Veranlagung zu ermöglichen. Er muss auf Verlangen der Veranlagungsbehörde insbesondere mündlich oder schriftlich Auskunft erteilen, Geschäftsbücher, Belege und weitere Bescheinigungen sowie Urkunden über den Geschäftsverkehr vorlegen.“
Im Besteuerungsverfahren der Abgabenordnung ist kein Akteneinsichtsrecht des Steuerpflichtigen vorgesehen. Art. 112 DBG Schweiz trifft folgende Regelung: „Steuerpflichtige sind berechtigt, in die von ihnen eingereichten oder von ihnen unterzeichneten Akten Einsicht zu nehmen. Die übrigen Akten stehen dem Steuerpflichtigen zur Einsicht offen, sofern die Ermittlung des Sachverhaltes abgeschlossen ist und soweit nicht öffentliche oder private Interessen entgegenstehen.“
Sollte Deutschland das Risikomanagement mit Steuervita einführen, so sollte der Gesetzgeber die Frage, ob die Steuerpflichtigen ihre Steuervita einsehen dürfen, nicht den Gerichten überlassen. Der Einwand, dass eine Verweigerung der Einsicht in die Vita das Recht auf Gehör verletze, wird ohnehin kommen.
31 Das gestelzt-hoheitliche „Einnahme des Augenscheins“ (es stand schon in der Zivilprozessordnung von 1877) sollte aus der Sprache des Verfahrensrechts verschwinden. Ohnehin kann Augenschein trügen. Und was der den Augenschein einnehmende Beamte sieht, ist nicht immer eine Augenweide.
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Der Sachaufklärung soll auch der Unterabschnitt „Rechts- und Amtshilfe“ (§§ 111–117 AO) dienen. In der deutschen Praxis spielt die innerstaatliche Amtshilfe eine geringe Rolle. Der Unterabschnitt ist zwar überschrieben mit „Rechts- und Amtshilfe“; aber in den Paragraphen-Überschriften und im Text kommt der Begriff „Rechtshilfe“ nicht vor. Insgesamt fällt auf, dass der Schweizer Gesetzgeber weit weniger wortreich formuliert als die Abgabenordnung, die sich weithin an das Verwaltungsverfahrensgesetz anlehnt. In Art. 112 DBG Schweiz wird bestimmt: „Die Behörden des Bundes, der Kantone, Bezirke, Kreise und Gemeinden erteilen den mit dem Vollzug dieses Gesetzes betrauten Behörden auf Ersuchen alle erforderlichen Auskünfte . . . Die gleiche Pflicht zur Amtshilfe haben Organe von Körperschaften und Anstalten, soweit sie Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen. Von der Auskunfts- und Mitteilungspflicht ausgenommen sind die Organe der schweizerischen Post und der öffentlichen Kreditinstitute für Tatsachen, die einer besonderen, gesetzlich auferlegten Geheimhaltung unterstehen.“
In der Abgabenordnung fehlt eine allgemeine (nicht punktuelle, s. §§ 93a, 194 III AO) Regelung der Kontroll- und anderen Mitteilungspflichten Dritter. Dass das Schweizer Steuervollzugsrecht perfekt sei, soll nicht behauptet werden. Es sollte nur gezeigt werden, dass man mit möglichst klaren verallgemeinernden Regeln weiter kommt als mit wortreichen speziellen Regelungen, die trotz ihres Wortreichtums Vollzugslücken lassen. Den Urhebern der Abgabenordnung 1977 war das Verallgemeinerungsgebot offenbar unbekannt. In der deutschen Abgabenordnung muss § 30a AO endlich gestrichen werden. Nach § 80 AO kann ein Beteiligter sich durch einen (sachverständigen) Bevollmächtigten vertreten lassen, er muss es aber nicht, auch als Steuerlaie nicht. Das, was mindestens „Grauzone“ genannt werden muss, muss durch eine klare Regelung abgelöst werden. Fiskaldogmatiker mögen annehmen, dass Steuerpflichtige Abweichungen ihrer Steuererklärung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung offenlegen müssten, weil das dem Erwartungshorizont der Finanzämter entspreche. Das mag sein. Aber das Gesetz muss das klar regeln. An dogmatische Erfindungen, die sich im Gesetz nirgends ausdrücken, dürfen keine Strafen geknüpft werden. 32 Der Gesetzgeber muss eben vor den Wählern die Courage zu einer klaren Regelung finden. Dass Steuerlaien keine Gesetzestexte, keine Rechtsprechungssammlungen und keine Sammlungen von Verwaltungsvorschriften besitzen, ist 32 Dazu K. Tipke, Die Abhängigkeit des Steuerstrafrechts vom Steuerrecht, in: Festschrift für G. Kohlmann, 2003, S. 555 ff.
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den für die Gesetzgebung Verantwortlichen bekannt. Und von Steuerberatern kann man nicht mehr verlangen als von Steuerlaien; sonst hätten wir mit zweierlei Recht zu tun, ein Recht für nicht beratene und ein Recht für beratene Steuerpflichtige darf es nicht geben. Steuerberater haben die Steuerpflichten der Steuerpflichtigen zu erfüllen, nicht mehr und nicht weniger. Ein Gesetzgeber, der erreichen will, dass alle Steuerpflichtigen die Rechtsprechung und die Richtlinien der Steuerverwaltung beachten müssen, muss sich zur Einführung einer Konsultationspflicht entschließen. Klare Regelungen für Steuerpflichtige sind ein Akt der Besteuerungsmoral. Im konkreten Besteuerungsverfahren geht es zunächst darum, dass möglichst alle Steuerpflichtigen erfasst werden. Die steuerrechtlichen Verhältnisse von Unbekannten können nicht ermittelt werden. Dass wirklich alle Steuerpflichtigen ihre Meldepflichten erfüllen und Steuererklärungen abgeben, kann nicht angenommen werden. Die Erfassungslücke muss durch eine Volkszählung geschlossen werden. Da im Steuererklärungsverfahren Steuerlaien nicht für die richtige rechtliche Zuordnung verantwortlich gemacht werden können, muss § 150 AO geändert werden. In Anlehnung an den zitierten Art. 123 DBG Schweiz könnte die Kooperationsmaxime so ausgedrückt werden: „Die Finanzbehörden stellen im Zusammenwirken mit den Steuerpflichtigen die steuererheblichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse fest.“
Dass die Finanzbeamten den Steuerpflichtigen gegenüber freundlich aufzutreten haben, mag die Finanzamts-Geschäftsordnung erwähnen; in das Gesetz gehört eine solche Bestimmung nicht. Das Schweizer Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer verwendet den Begriff „Gesetzesvollzug“. M. E. sollte man den Begriff „Besteuerungsverfahren“ nicht durch „Steuervollzug“ (vollständig: „Steuergesetzesvollzug“) ersetzen. Man mag einmal versuchen, den Begriff „Steuervollzug“ in den §§ 85, 88 AO unterzubringen. Auch wenn der Steuerpflichtige eine Art Partner bei der Ermittlung der Sach- und Rechtslage ist, als „Kunde“ 33 sollte man ihn nicht bezeichnen. Die Abgabenordnung 1977 gibt zum Recht des Beweises – abgesehen von den Beweismitteln – nur wenig her. Die Spezialbeweisregeln der §§ 158, 159, 161 AO sind fehlplaziert. Der Beweis geht der Steuerfestsetzung (§ 155 AO) voraus, folgt ihr nicht nach. Da das Gros der Steuerberater keine verfahrensjuristische Ausbildung erfahren hat, sollte das Beweisrecht in der Abgabenordnung ausführ33 Der Begriff „Kunde“ ist allerdings vielseitig verwendbar. Früher bezeichneten sich Gauner und Landstreicher gegenseitig als Kunden. Wiederholungsstraftäter werden noch heute als „gute Kunden“ der Polizei bezeichnet.
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licher geregelt werden. So sollten die Gründe genannt werden, unter denen Beweisanträge der Steuerpflichtigen abgelehnt werden dürfen. Im Übrigen sollten Beweisverbote und Beweisverwertungsverbote eine möglichst klare Regelung in der Abgabenordnung erfahren. Das schafft mehr Rechtssicherheit als Ableitungen aus dem Grundgesetz und Anlehnungen an die Strafprozessordnung. Die Tatsache, dass die Finanzverwaltung eine „Massenverwaltung“ ist, von der man einen jährlichen „Gesamtvollzug“ erwartet, ist kein Grund, das Beweismaß (Gewissheitsmaß, Überzeugungsgrad) in der Abgabenordnung nicht klar zu regeln. Das gilt insbesondere für die Abweichungen von der 100 %-Gewissheitsregel. Von einer Massenverwaltung wird man allerdings nicht erwarten können, dass sie alle Sachverhalte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen muss. Das würde die Verwaltung überfordern und nur zu einem Auseinanderfallen von Recht und Rechtswirklichkeit führen. Einen „Vollzugssicherungsauftrag“ enthält die Abgabenordnung nicht. Würde man ihn festschreiben, so würde das den Staat mindestens ermahnen, das Personal bereitzustellen, das zu gleichmäßiger Besteuerung erforderlich ist. 34 § 160 AO (sog. Schmiergeld-Paragraph) sollte abgeschafft werden. Um zu ermitteln, ob ein Steuerpflichtiger etwas an einen anderen ausgegeben hat, reichen die Beweisvorschriften aus. § 160 AO wird dafür nicht benötigt. Er ist für die Ermittlung der Steuerschuld des die Ausgabe Behauptenden überflüssig. Ergeben Beweisvorschriften die Nichtabzugsfähigkeit, so lässt sich auf Grund des § 160 AO kein anderes Ergebnis erreichen. Aber er gibt auch keinen Grund ab für Abstriche auf Grund der Einkommensverhältnisse des Zahlungsempfängers. Gegen die Einführung eines Haftungstatbestandes würden ebenfalls erhebliche Bedenken bestehen. Im Übrigen: Auch schon durch das Abzugsverbot des § 4 V Nr. 10 EStG ist § 160 AO weitgehend entbehrlich geworden. Nur Österreich und Luxemburg haben die deutsche § 160 AO-Lösung übernommen (bekommen). Aus anderen Ländern ist sie mir nicht bekannt. 35
34 Ich wende nichts ein gegen unterschiedliche Beweismaße, orientiert etwa am Grad der Mitwirkung (Kooperation), sondern es geht mir um eine klare gesetzliche Beweismaßregelung im Interesse der Rechtssicherheit. Je niedriger die Latte des Beweismaßes (der Sachverhaltsgewissheit) gelegt wird, desto weniger Raum bleibt für eine Beweislastentscheidung. Auch eine Beweislastregel sollte möglichst in das Gesetz aufgenommen werden. 35 Ausführliche Begründung dazu von K. Tipke, § 160 AO – nochmals systematisch überdacht, in: Gedächtnisschrift für Chr. Trzaskalik, 2005, S. 121 ff. Mindestens im Ergebnis ist Chr. Trzaskalik zuzustimmen.
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Bei Einführung einer Verpflichtung, Vertragspartner zu benennen, könnte an die Verletzung dieser Pflicht ein Ordnungsgeld geknüpft werden. Der Dritte Abschnitt (§§ 155 ff.) ist überschrieben mit „Festsetzungsverfahren“. Um ein Verfahren handelt es sich aber nicht. Die Steuerfestsetzung steht am Ende des die Sach- und Rechtslage betreffenden Ermittlungsverfahrens. Mit Einführung des Selbstveranlagungsverfahrens sollte zur früheren Erreichung der Rechtssicherheit die Festsetzungsverjährungsfrist verkürzt werden. Geregelt werden sollte schließlich, unter welchen Voraussetzungen Steuerpflichtige und Finanzamt sich über Sach- und Rechtsfragen verständigen 36 dürfen. § 78 Nr. 3 AO, abgeschrieben aus dem Verwaltungsverfahrensgesetz, erwähnt nur den Begriff „öffentlich-rechtlicher Vertrag“. Das reicht nicht hin. Ein reformiertes oder revidiertes Besteuerungsverfahren müsste deutlich anders aussehen als die geltenden Vorschriften. Revisionbedürftig sind auch Vorschriften über die Außenprüfung und die Steuerfahndung. Die Nachschauvorschrift des § 27b UStG müsste erweitert werden, dürfte nicht auf die Umsatzsteuer beschränkt werden, der Verstoß gegen das Verallgemeinerungsgebot lässt sich nicht rechtfertigen. Die Finanzverwaltung sollte schon jetzt darangehen, die Verwaltungsvorschriften zu §§ 85, 88 AO zu revidieren, ebenso die Betriebsprüfungsordnung. Es wäre nützlich, wenn die Vorsteher der Finanzämter jährlich ohne Schönfärberei über die Vollzugslage in ihren Finanzämtern an das Bundesfinanzministerium und das Landesfinanzministerium berichten würden. Aber daran sind aus naheliegenden Gründen wahrscheinlich weder die Ministerien noch die Finanzamtsvorsteher interessiert. 2.4 Nachtrag: Kurze Bemerkungen zum Steuergesetzbuch-Entwurf von P. Kirchhof Der (geltende) Text der Besteuerungsverfahrensvorschriften ließe sich sicher kürzen. Etliche Vorschriften laufen praktisch leer, werden von den Finanzämtern nicht angewendet. P. Kirchhof, dessen Passion für kurze, für übersichtliche Gesetze bekannt ist, fasst die Ermittlung des steuererheblichen Sachverhalts in einer einzigen Vorschrift, in § 16 seines Steuergesetzbuchentwurfs wie folgt zusammen: 36 Zur tatsächlichen Verständigung R. Seer (Fußn. 29), § 21 Rz. 20–24.
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§ 31 Ideen zu einer Steuervollzugsreform (1) Die Finanzbehörde ermittelt die steuererheblichen Tatsachen. Der Steuerpflichtige wirkt an seinem Besteuerungsverfahren mit. Er hat die steuererheblichen Tatsachen vollständig und wahr mitzuteilen und die ihm bekannten Beweismittel zu benennen. Die Behörde kann zur Ermittlung alle für die Sachaufklärung geeigneten, erforderlichen und angemessenen Auskünfte einholen, Sachverständige zuziehen, Urkunden und Akten nutzen und Augenschein einnehmen. (2) Ist die Finanzbehörde auf eine weitere Mitwirkung des Steuerpflichtigen angewiesen, hat der Steuerpflichtige das ihm Zumutbare zur Sachverhaltsaufklärung beizutragen. (3) Die Finanzbehörde legt der Besteuerung die Angaben in der Steuererklärung zugrunde, soweit sie schlüssig und glaubhaft sind. Zusätzlich führt sie regelmäßige Kontrollen im Einzelfall durch. Weitere Ermittlungen bestimmen sich nach dem Aufklärungsbedürfnis.
Die Finanzbehörde veranlagt den Steuerpflichtigen nicht. Der Steuerpflichtige hat die Steuer selbst zu berechnen (anzumelden). Diese Anmeldung wirkt wie ein Steuerbescheid (§ 15 des Entwurfs). Nach § 24 Abs. 2 des Entwurfs darf die Steueranmeldung überprüft, der Steuerbescheid entsprechend dem Überprüfungsergebnis berichtigt werden. In P. Kirchhofs Gesetzbuch-Entwurf vermisst man eine Regelung der Außenprüfung, der Steuerfahndung und der Steueraufsicht. Dass der Gesetzgeber diese Institutionen abschaffen würde, kann sich wohl niemand vorstellen, auch P. Kirchhof nicht. Zunächst stößt man auf § 24 Abs. 1 Nr. 4 seines Entwurfs. Danach darf die Finanzbehörde den Steuerbescheid nach einer Außenprüfung u. U. korrigieren. Also muss es doch wenigstens eine Außenprüfung geben. Erst durch die Anlage zum Allgemeinen Teil (S. 354) wird man aufgeklärt: Die Bestimmungen über die Außenprüfung, die Steuerfahndung und die Steueraufsicht sollen nach P. Kirchhofs Vorstellung in ein einheitliches Verwaltungsverfahrensgesetz eingestellt werden. Das würde zwar den Text des Bundessteuergesetzbuches entlasten, hätte m. E. sachlich aber keinen Vorzug. Die Idee dürfte sich daher auch nicht durchsetzen. P. Kirchhofs Entwurf kennt auch keine Steuerberatung. Sie kommt im Gesetz und im Stichwortverzeichnis nicht vor, obwohl eine Besteuerung ohne Steuerberatung weithin nicht auskommt. Eine zuverlässige Selbstveranlagung (die P. Kirchhof einführen möchte, s. § 15 des Entwurfs) ist ohne Mitwirkung der Steuerberater nicht möglich. Laien werden auch die Fachsprache des Kirchhof-Entwurfs nicht durchgehend verstehen; der Entwurf enthält nicht wenige auslegungsbedürftige Begriffe. Das Kirchhofsche Muster einer EinkommensteuerAnmeldung mit wenigen nackten Zahlen (eine Reminizenz an die Merzsche Bierdeckel-Erklärung) ist m. E. wenig geeignet zu kontrollieren, ob die Angaben schlüssig und glaubhaft sind (s. dazu § 16 III 1 des Entwurfs).
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Teil IV Steuerrechtsschutz der Steuerbürger § 32 Steuerrechtsschutz durch Finanzgerichtsbarkeit 1. Das Verhältnis der Finanzgerichtsbarkeit zur Steuerverwaltung und zur Steuergesetzgebung. . . . . . . . . . . 1492 .. 2. Der finanzgerichtliche Rechtszug unter dem Rechtsschutzaspekt . . . . . . 1496 .. 3. Die besondere Rechtsstellung der Finanzrichter . . . . 1497 .. 4. Steuerrechtsschutz durch Verfahren . . . . . . . . . . . . . 1501 .. 5. Über formelle Stolpersteine im Steuerprozess . . . . . . . . 1504 .. 5.1 Scheitern an Klageformalien. . . . . . . . . . . . . . . 1504 .. 5.2 Scheitern an fehlendem Rechtsschutzbedürfnis. . 1505 .. 5.3 Scheitern an übertriebenem Unterschriftsformalismus. . . . . . . . . . . . . 1505 .. 5.4 Scheitern an Klageinhaltsformalismus . . . . . 1512 .. 5.5 Scheitern an Revisionszugangshürden des Bundesfinanzhofs. . . . . . . . 1513 .. 6. Insbesondere: Scheitern an Ausschlussfristen und abgelehnter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . 1518 .. 6.1 Ausschlussfristen . . . . . 1518 .. 6.2 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. . . . . . . . 1519 .. 6.21 Verfassungsrechtliche Notwendigkeit der Wiedereinsetzungsmöglichkeit . . . . . . . . . . 1519 .. 6.22 Gegen übermäßige Fristenstrenge . . . 1519 .. 6.23 Der überanstrengte Verschuldensbegriff . . . . . . . . . . 1521 ..
6.24 Exemplarische Verschuldens-/ Nichtverschuldensfälle . . . . . . . 1524 .. 6.241 Urlaub und Reisen . . . . . . . . 1524 .. 6.242 Verspätete Weiterleitung unzuständiger an zuständige Behörde . . . . . . . 1525 .. 6.243 Verzögerungen im Postverkehr . . . . . 1527 .. 6.244 Rechtsirrtum . . . . 1527 .. 6.25 Vertreterverschulden . . . . . . . . . . 1529 .. 6.3 Überlegungen de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . 1530 .. 7. Rechtsschutzlücke infolge zu engen Verständnisses der Rechtsverletzung . . . . . . . . 1531 .. 7.1 Selbstbetroffenheit durch Rechtsverletzung . . . . . 1531 .. 7.2 Der Rechtsstaat verlangt: Rechtsschutz gegen Privilegien Dritter . . . . . . . 1534 .. 7.21 Einführung in die Problematik . . . . 1534 .. 7.22 Exemplifizierung durch zwei Anschauungsbeispiele . . . . . . . . 1536 .. 7.221 Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit . . . . . . . . 1536 .. 7.2211 Angeführte Rechtfertigungsgründe . . . . . . . 1536 .. 7.2212 Stellungnahme. . 1539 .. 7.222 Steuerfreiheit der AbgeordnetenKostenpauschale 1543 ..
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§ 32 Steuerrechtsschutz durch Finanzgerichtsbarkeit 7.23
Literatur
Sonntags-/Nachtarbeiter und Abgeordnete privilegiert . . . . . . . . . . 1. 547
7.3
Ergänzende steuerethische Auffassungen . . . . . . . . 1 . 547
K. Tipke, Finanzgerichtsunordnung, StuW 1993, 213 ff.; Chr. Trzaskalik (Hrsg.), Der Rechtsschutz in Steuersachen mit Beiträgen von P. Kirchhof, R. v. Groll, J. Stolterfoht, H. W. Kruse, Th. Pfeiffer, K. Buciek, M. Streck, DStJG Bd. 18 (1995); J. Masing, Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997; R. Seer, Defizite im finanzgerichtlichen Rechtsschutz, StuW 2001, 3 ff.; ders., Rechtsmittel und Rechtsschutz nach der FGO-Reform, StuW 2003, 193 ff.; K. Tipke, Zwischen materiellem Steuerrecht und Steuerverfahrensrecht. Für ein geordnetes Verfahren zur Durchsetzung des materiellen Rechts – Gegen rechtsverweigernden, pedantischen Verfahrensformalismus, StuW 2004, 3 ff.; H.-J. Pezzer, Finanzgerichtsbarkeit im gewaltengeteilten Verfassungsstaat, DStR 2004, 525 ff.; H. Prütting, Formenstrenge und prozessuale Billigkeit – einst und jetzt, in: Festgabe für M. Vollkommer, 2006, S. 283 ff.; H.-J. Pezzer, Gleichmäßiger Gesetzesvollzug im Steuerrecht, StuW 2007, 101 ff.; M. Streck/A. Mack/H.-W. Kamps, Der Steuerstreit3, 2012.
1. Das Verhältnis der Finanzgerichtsbarkeit zur Steuerverwaltung und zur Steuergesetzgebung Zur Steuerrechtsordnung eines Rechtsstaates gehört unverzichtbar ein effizienter Steuerrechtsschutz. Dieser wird durch Art. 19 IV GG gewährleistet. Danach steht jedem, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen. Konkreter: Wer durch ein Tun, Dulden oder Unterlassen einer Finanzbehörde in seinen Rechten verletzt wird, kann durch Klage das zuständige Gericht der Finanzgerichtsbarkeit anrufen (s. insb. §§ 33, 40, 41, 64 FGO). Mehrere Gerichtsinstanzen verlangt Art. 19 IV GG nicht. 1 Zur Ausführung des Art. 19 IV GG ist (insbesondere) für „Abgabenangelegenheiten“ (s. § 33 FGO) 1965 die Finanzgerichtsordnung beschlossen worden. Der Wechsel in der Terminologie zwischen „Finanz“, „Abgabe“, „Steuer“ verwirrt. Die Finanzgerichtsordnung hat es nur mit Steuern zu tun, nicht mit anderen Abgaben und auch nicht mit anderen Finanzangelegenheiten. Daher hieße die Finanzgerichtsordnung besser Steuergerichtsordnung, das Finanzamt besser Steueramt. Die Steuerpflichtigen werden durch Steuerbescheid (nicht Abgaben- oder Finanzbescheid) veranlagt. Die Finanzgerichtsbarkeit ist eine besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 1 FGO). Sie ist ein Zweig der rechtsprechenden Gewalt, zu der noch andere Gerichtsbarkeiten gehören. Die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit kontrollieren zum einen die Anwendung der Steuergesetze durch die Finanzbehör1 BVerfGE 49, 329, 340; 107, 395, 403.
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den, zum anderen auch den Gesetzgeber auf die Verfassungsmäßigkeit der in einem Steuerprozess erheblichen Gesetzesvorschriften, u. U. durch Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (Art. 100 GG). Für Streitigkeiten über kommunale Steuern sind (mit Ausnahmen) nicht die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit, sondern die Gerichte der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig. Das ist aus der Sicht der fachlichen Kompetenz nicht angemessen. Die kommunalen Steuergesetze sind Teil der eine Einheit bilden sollenden Steuerrechtsordnung. 2 Unter diesem Aspekt ist der auf Kommunalsteuern beschränkte Horizont der Verwaltungsgerichte zu eng. 3 Die kommunalen Steuern würden besser auch von den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit kontrolliert. Ebenso ist zu bemängeln, dass für Steuerstrafsachen die Gerichte der Strafgerichtsbarkeit zuständig sind (s. § 33 III FGO). Zwar ist das Steuerstrafrecht Teil des Strafrechts, nicht des Steuerrechts. Das Steuerstrafrecht ist mit dem Steuerrecht aber eng verbunden, genauer: Es ist steuerrechtsabhängig. Das Steuerrecht enthält viele Ungerechtigkeiten. An solche Ungerechtigkeiten können aber keine gerechten Strafen geknüpft werden. Steuerstrafrichter dürfen sich nicht mit dem „Gesetz ist Gesetz“ von Steuerfahndern begnügen, sie müssen auch eine Vorstellung von Besteuerungsmoral haben, soweit diese in den Grundrechten fundiert ist. Bisher hat jedoch noch kein Steuerstrafgericht das Bundesverfassungsgericht wegen Verfassungswidrigkeit von materiellen Steuerrechtsvorschriften angerufen. 4 Auch darin darf man wohl einen Mangel an Kompetenz sehen. 5 Es ist nicht beabsichtigt, in diesem Paragraphen den Inhalt der Finanzgerichtsordnung darzustellen. Dazu gibt es Kommentare und Lehrbücher. 6 Hier geht es um die kritische Erörterung von ausgewählten Grundfragen des Steuerrechtsschutzes. Der Kläger muss den Prozess durch seine Klage initiieren. Ohne Klage wird auch kein Finanzrichter tätig. Zum Zwecke eines umfassenden Rechtsschutzes stellt die Finanzgerichtsordnung folgende Klagearten zur Verfügung: Anfechtungsklage, Verpflichtungsklage, sonstige Leis2 Hinweis auf Bd. I2, 2000, S. 94 ff. 3 Kritisch zu den kommunalen Verbrauch- und Aufwandsteuern Bd. II2, 2003, S. 1103–1128; in diesem Bd. III2, 2012, S. 1328. 4 Näher dazu K. Tipke, Über Abhängigkeiten des Steuerstrafrechts vom Steuerrecht, in: Festschrift für G. Kohlmann, 2003, S. 555 ff. 5 Dazu signifikant der in der Gedächtnisschrift für Chr. Trzaskalik, 2005, S. 5 f., mitgeteilte Fall, entschieden von der Strafkammer eines Landgerichts; s. auch in diesem Bd. (III2, 2012), S. 1761 Fußn. 158. 6 Eine kritische Übersicht über den ganzen Stoff geben R. Seer, in: K. Tipke/ J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 22 und M. Streck/A. Mack/H.-W. Kamps, Der Steuerstreit3, 2012.
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tungsklage, Feststellungsklage (§§ 40, 41 FGO). In der Praxis steht die Anfechtungsklage – zur Abwehr von Maßnahmen der Eingriffsverwaltung – ganz im Vordergrund. Der Rechtsschutz beschränkt sich auf den Streitgegenstand. Der Rechtsschutz wird komplettiert durch die Aussetzung der Vollziehung (§ 69 FGO) und die einstweilige Anordnung (§ 114 FGO), auch als Einrichtungen des vorläufigen Rechtsschutzes bezeichnet. 7 Richter werden nicht von Richtern ausgewählt (obwohl es richterliche Einflussnahmen gibt), sondern von Politikern, die Richterwahlausschüssen angehören. Das befriedigt dann nicht, wenn der reale Maßstab für die Auswahl nicht die berufliche Kompetenz und die persönliche Integrität ist, sondern parteipolitische Aspekte im Vordergrund stehen. Über Steuern ist nicht parteipolitisch zu entscheiden. Ein Daueranlass für Reibungen zwischen Bundesfinanzhof und Bundesfinanzministerium bzw. Parlament sind die so genannten Nichtanwendungserlasse und Nichtanwendungsgesetze. Da die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs nur die Prozessbeteiligten binden, nicht die Allgemeinheit der Steuerbürger, hat das Finanzministerium die Möglichkeit, die allgemeine Anwendung des Urteils zu unterbinden und das Urteil nur zwischen den Beteiligten gelten zu lassen. Die Nichtanwendung wird jedoch in der Regel nicht angeordnet. Im Allgemeinen wenden die Finanzämter die im Bundessteuerblatt veröffentlichten BFH-Entscheidungen an. Die Frage ist, was das Bundesfinanzministerium dazu motiviert, die Nichtanwendung eines BFH-Urteils anzuordnen? In einer Stellungnahme des Ministeriums heißt es dazu: „Hat der Bundesfinanzhof eine Gerichtsentscheidung zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, prüfen die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder, ob das BFH-Urteil bzw. der BFH-Beschluss von den Finanzämtern im Interesse der Rechtssicherheit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung über den entschiedenen Einzelfall hinaus angewandt werden kann“. 8 Die Fachöffentlichkeit misstraut den Angaben des Ministeriums über den Prüfungsmaßstab. Sie vermutet, dass oft nur fiskalische Gründe eine Rolle spielen. Was zutrifft, muss am Einzelfall ermittelt werden. Ob auch das Prestige der Richterschaft diese empfindlich reagieren lässt, mag dahinstehen. 9
7 Dazu K. J. Wagner, Über effektiven vorläufigen Rechtsschutz im finanzgerichtlichen Verfahren, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 735 ff.; R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, § 22 Rz. 210 ff. m. w. N. 8 Kursivdruck nicht im Original. 9 Näher dazu J. Lang, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, § 5 Rz. 27–30 m. w. N.; H.-J. Pezzer, Finanzgerichtsbarkeit im gewaltengeteilten Verfassungsstaat, DStR 2004, 525 ff. S. auch schon in diesem Band S. 1445 ff.
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In Einzelfällen kommt es auch zu „Nichtanwendungsgesetzen“. Durch Änderung des angewendeten Gesetzes entzieht der Gesetzgeber dem BFH-Urteil den Boden. Zwar ist das Finanzministerium nicht der Gesetzgeber, es „führt dem Steuergesetzgeber aber weitgehend die Feder, weil es in den Gesetzgebungsorganen nicht genügend steuerrechtlichen Sachverstand gibt . . .“ 10 Der Bundesfinanzhof hat im Rahmen der Gewaltenteilung einen (durch § 115 II FGO) eingeschränkten Rechtsschutzauftrag. Grundsätzlich sollen im Rahmen der Gewaltenteilung die Gerichte die Verwaltung und Gesetzgebung kontrollieren, nicht umgekehrt Verwaltung und Gesetzgeber die Gerichte. Das müssen Finanzverwaltung und Gesetzgebung grundsätzlich respektieren. Eine Verantwortung für das Recht hat allerdings auch die Finanzverwaltung (Argument aus Art. 20 III GG). Es ist nicht zu bezweifeln, dass auch BFH-Richter nicht unfehlbar sind; auch sie können sich rechtlich irren. Nur sollte das Finanzministerium nicht jede Meinungsdivergenz darüber, was das „richtige Recht“ ist, zum Anlass nehmen, BFH-Entscheidungen auszuhebeln, es sollte sich schon um offenkundig schwerwiegende Fehler handeln. Solche Fehler werden der noblesse de robe wohl kaum unterlaufen. Im Übrigen: Es geht dem Bundesfinanzministerium nicht um das Recht, p wenn seine Motive in Wirklichkeit fiskalischer Natur sind. Salus fisci suprema lex ist kein Rechtsgrundsatz. Steuern müssen auf gerechte Weise erhoben werden; p wenn die Intervention nicht dazu dient, systemtragenden, sachgerechten Prinzipien und Regeln zum Durchbruch zu verhelfen, sondern wenn sie zur Folge hat, dass das Rechtssystem weiter demontiert wird, die Berufung auf Art. 20 III GG nur vorgeschützt wird. Nichtanwendungsgesetze können verfassungswidrig sein, insbesondere den Gleichheitssatz verletzen. So wie der Gesetzgeber auf Veranlassung des Finanzministeriums gern zu Gegenfinanzierungsmaßnahmen greift (die verfassungsrechtlich nicht selten nicht haltbar sind), müssen auch seine Nichtanwendungsgesetze sich den Verdacht der Verfassungswidrigkeit gefallen lassen und dementsprechend sorgfältig überprüft werden. Auf sich widersprechende BFH-Urteile darf das Finanzministerium aus Gründen der Rechtssicherheit reagieren. Widersprüchliches kann nicht rechtssicher befolgt werden. 10 So H.-J. Pezzer, DStR 2004, 526, der hinzufügt: „Aufgrund der . . . fachlichen Dominanz im Gesetzgebungsverfahren ist es für die Finanzverwaltung nicht sonderlich schwierig, in einem der vielen Änderungsgesetze eine Vorschrift unterzubringen, die punktuell auf eine missliebige Entscheidung des BFH reagiert.“
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2. Der finanzgerichtliche Rechtszug unter dem Rechtsschutzaspekt Abweichend von allen anderen – nämlich dreistufigen – Gerichtsbarkeiten ist die Finanzgerichtsbarkeit zweistufig gestaltet worden. Einen überzeugenden Rechtfertigungsgrund gibt es für diese Ausnahme nicht. Steuerbürger sind nicht weniger rechtsschutzbedürftig als andere Bürger. In den Jahren vor Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung von 1965 – der Verfasser war damals Bundesvorsitzender der Finanzrichtervereinigung – hielt die Finanzrichterschaft es für selbstverständlich, dass die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit nicht anders aufgebaut werden dürften und würden wie die Gerichte der anderen Gerichtsbarkeiten. Den Ländern war eine zweistufige Landesfinanzgerichtsbarkeit aber zu teuer. Sie machten auch geltend: Der Bundesfinanzhof benötige eine gewisse Fallbreite (Materialbreite), neben den Grundsatzfällen könne er Einzelfälle am Rande mitentscheiden. Hinter dem Vorschlag, am status quo festzuhalten, steckte aber auch ein Interesse der höheren Finanzverwaltung. Sie hatte bisher bei der BFH-RichterAuswahl dominiert, weil der Sprung vom Finanzgericht als unterem Landesgericht zum Bundesfinanzhof als oberstem Bundesgericht zu groß war. Finanzausschuss und Rechtsausschuss des Bundestages sprachen sich jedoch für die Dreistufigkeit aus, dem folgte das Plenum des Bundestages (s. BT-Drucks. IV/3523, zu § 2; Stenogr. Bericht 9610). Der Bundesrat rief jedoch den Vermittlungsausschuss an. Dieser machte den Vorschlag, es bei der Zweistufigkeit zu belassen, die Finanzgerichte der Länder aber als obere Landesgerichte mit Senatsverfassung zu installieren (BT-Drucks. IV/3755). Diesen Vorschlag nahmen Bundestag und Bundesrat an. Damit war erreicht, dass Richter am Finanzgericht – die nun den Richtern am Oberlandesgericht, am Landesarbeitsgericht und am Oberverwaltungsgericht gleichstanden – ohne weiteres den „Sprung“ zum Richter am Bundesfinanzhof machen konnten, so dass diese nicht mehr überwiegend aus hohen Finanzverwaltungsbeamten ohne richterliche Erfahrung rekrutiert werden mussten. 11 Das hatte den Vorwurf der „Kassenjustiz“ ausgelöst. Mehrere Richter eines FG-Senats (3 Berufsrichter, 2 ehrenamtliche Richter) kontrollieren sich gegenseitig; das verstärkt die Ausgewogenheit. 1992 wurde jedoch der „Einzelrichter“ eingeführt. Unter bestimmten Voraussetzungen kann seither anstelle des Senats ein Einzelrichter judizieren. Dazu kam, dass im Jahre 2000 die Streitwert11 Näher dazu K. Tipke/Kruse, Komm. Zur AO/FGO (Loseblatt), Einf. FGO (Lfg. 106, März 2005), Tz. 13 ff; Brandis, in: Tipke/Kruse a. a. O., § 2 FGO Tz. 1 ff.
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revision abgeschafft wurde, die in der Revisionsinstanz ein Stück Individualrechtsschutz konserviert hatte. Beide Maßnahmen zusammen schränken den Rechtsschutz merklich ein. Das hat dazu geführt, dass in großem Umfang Nichtzulassungsbeschwerden eingelegt werden, etwa doppelt so viele wie Revisionen. R. Seer spricht daher vom Bundesfinanzhof als einem Beschwerdegericht (statt Revisionsgericht). 12 Die jetzige Rechtslage wirkt sich in der Tat im Ergebnis dahin aus, dass in sehr vielen Fällen der Rechtsschutz einstufig ist. 13 Das frühere Argument der Finanzverwaltung, der Dreistufigkeit bedürfe es nicht, weil der Bundesfinanzhof über Grundsatzsachen hinaus eine gewisse, auch Einzelfälle erfassende Entscheidungsbreite brauche, war im Jahr 2000 wohl vergessen (s. allerdings § 115 II Nr. 2 2. Alt. FGO). M. E. sollte die Streitwertrevision gleichwohl nicht wieder eingeführt werden; den Rechtsschutz vom Streitwert abhängig zu machen, bedeutet: ungleicher Rechtsschutz. Der Revisionsinstanz sollte das Grundsätzliche einschließlich Rechtsfortbildung sowie die Verfahrenskontrolle über die erste Instanz vorbehalten werden. Ohnehin lässt § 115 II Nr. 2 2. Alt. FGO zu, dass der BFH sich eines Einzelfalls annimmt, wenn es auf ein Fehlurteil, auf offensichtliche Fehler des Finanzgerichts stößt (der Gesetzeswortlaut gibt das allerdings schwerlich her). Hinzugekommen ist auch die Nicht-Anhörungsrüge (§ 133a FGO). Das spricht nicht gegen eine dreistufige Finanzgerichtsbarkeit, nur wird sie schon wegen der Finanznot der Länder in absehbarer Zeit nicht kommen.
3. Die besondere Rechtsstellung der Finanzrichter Wie alle Richter, so sind auch die Finanzrichter (genau: Steuerrichter) – anders als Verwaltungsbeamte – sachlich und persönlich unabhängig (s. Art. 97 GG). 14 § 1 FGO schreibt konkretisierend vor: „Die Fi12 R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 22 Rz. 230; ders., StuW 2003, 200. 13 Hinweis auch auf die Kritik von R. Seer, StuW 2001, 3 ff.; ders., StuW 2003, 193, 204 (in den meisten Fällen Verkümmerung des Instanzenzugs zur Einstufigkeit, spürbare Minderung der Rechtsschutzqualität durch Abschaffung der Streitwertrevision); s. auch schon die Kritik von A. Raupach, DStJG Bd. 21 (1998), 208. S. andererseits H.-P. Schmieszek, Die Finanzgerichtsordnung – Reformen und Reformvorschläge, in: Festschrift für K. Offerhaus, 1999, S. 773, 783 ff. 14 Dazu E. Schilken, Die Sicherung der Unabhängigkeit der Dritten Gewalt, 2006. Nachweis der weiteren umfänglichen Literatur dazu in den Kommentaren zur Finanzgerichtsordnung, zu § 1.
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nanzgerichtsbarkeit wird durch unabhängige, von den Verwaltungsbehörden getrennte, besondere Verwaltungsgerichte ausgeübt.“ Dadurch soll die Neutralität der Richter geschützt werden. 15 Wenn es um die Rechtsprechung geht, darf niemand dem (sachlich unabhängigen) Richter Weisungen erteilen oder sonst auf ihn einwirken. Seine eigene Meinung ist unabhängig von der des Gerichtspräsidenten oder des Vorsitzenden Richters maßgeblich. Allerdings kann das Urteil eines anpassungsfähigen, karrierebewussten Richters dadurch beeinflusst werden, dass seine Leistung vom Vorsitzenden Richter und vom Gerichtspräsidenten beurteilt wird. So gibt es Präsidenten und Vorsitzende, die eine wissenschaftlich-gründliche Arbeitsweise nicht schätzen, einen pragmatisch-zügigen Arbeitsstil bevorzugen, auch arbeitsaufwändige Vorlagen an das Verfassungsgericht nicht positiv würdigen. In steuertip 45/2009, S. 3, hat der Verfasser sich mit dem Charakter des Finanzrichters Dr. Michael Balke befasst. Er ist ein unerschrockener, idealistischer Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, er nimmt die Verfassung ernst und leidet unter ihrer Unerfülltheit. Unterwürfigkeit ist ihm ein Gräuel. Die Kooperation mit Kollegen, mit Vorsitzenden Richtern, Gerichtspräsidenten und Justizministerialbeamten erleichtert sein Charakter nicht. Wenn der gegen Versuchungen der Opportunität gefeite Richteridealist Michael Balke bequem im allgemeinen Meinungsstrom mitgeschwommen wäre, wären seine Karrierechancen nicht so schlecht wie sie wohl realiter sind.
Auch Richter sind nicht frei von den Einflüssen ihrer Herkunft und Erziehung, ihres Lebensmilieus, ihrer weltanschaulichen, politischen, religiösen Einstellung. Sich davon als Richter zu emanzipieren, kann man nicht befehlen. So ist denn nicht auszuschließen, dass die erwähnten Einflüsse sich als Vor-Urteile auswirken, zumal wenn es um Wert-Urteile geht. Peter Fischer hat als Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof dazu ausgeführt: „Der Richter . . . muss andererseits um die Neutralisierung der eigenen subjektiven Befindlichkeit bemüht sein: durch Toleranz, Selbstkritik, Selbstdisziplin und Selbstkontrolle im Bewusstsein der Beeinflussbarkeit, durch Besinnung auf die ethischen Grundlagen des Richterberufs und dadurch, dass er sich selbst unter Ideologieverdacht stellt. Und der Richter muss sich klar werden, dass er dem sicherlich berechtigten Legitimationsdruck der öffentlichen Meinung durch sorgfältige Argumentation begegnen muss. Er muss versuchen, seine Entscheidung so weit wie möglich verständlich und akzeptanzfähig zu machen“. 16
15 Das war in der NS-Diktatur selbstredend anders. Der Reichsfinanzhof hatte als „Gehilfe der Reichsfinanzverwaltung“ zu agieren (dazu H. Rüping, Justiz und Verwaltung im Führerstaat, in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte Bd. 3 [2001/02], S. 42–57). 16 P. Fischer, StuW 1992, 134.
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Die innere Unabhängigkeit eines Richters der Finanzgerichtsbarkeit ist heute nicht mehr deshalb anzuzweifeln, weil der Richter seine Karriere beim Finanzamt begonnen hat. 17 Es gibt dafür keine verallgemeinerungsfähigen Indizien mehr. Auch Juristen pflegen sich bei einem Berufswechsel schnell an die neuen Berufspflichten und -erwartungen anzupassen. 18 Deutlich zu erkennen ist das, wenn Finanzbeamte in den Beruf des Steuerberaters oder Rechtsanwalts wechseln. Etatistische oder anwendungspositivistische Einstellungen lassen sich bei Richtern aller Gerichtsbarkeiten finden. Sie sind nicht spezifisch für Finanzrichter. In der Finanzgerichtsbarkeit sind die Gesetzespositivisten schon seit längerem auf dem Rückzug – nach einer längeren positivistischen Tradition. Die reinen Positivisten halten sich unbeschadet des Inhalts an den Wortlaut des Gesetzes. 19 Sie scheuen die Auseinandersetzung mit den ethisch fundierten, den Gesetzgeber bindenden (Art. 1 III GG) Grundrechten, 20 können so keinen Steuergerechtigkeitsbeitrag leisten. Die Zahl der Konstitutionalisten (die sich an der Verfassung orientieren) und der Ethiker, die über die Verfassung hinausdenken, nimmt nach meinem Eindruck unter den Richtern der Finanzgerichtsbarkeit zu. 21 Richter dürfen nicht in eigener Sache oder in der Sache naher Verwandter entscheiden. Sie dürfen nicht in einer Sache entscheiden, in der sie befangen sind (s. § 51 FGO i. V. m. §§ 41, 42 ZPO). Richter, die sich bestechen lassen, machen sich strafbar (s. §§ 331, 332 StGB). Über einen korrupten Finanzrichter habe ich allerdings nie etwas gelesen oder gehört. Zur Rechtsstellung der Richter kontrastiert auffällig die der Abgeordneten. Das mag zum Teil damit zusammen hängen, dass die Abgeordneten die Gesetze beschließen, nicht die Richter. Abgeordnete brauchen keine besondere Vorbildung in Sachen Gesetzgebung, obwohl die Entscheidung über allgemeine Gesetze doch von größerer Tragweite ist als die richterliche Gesetzesanwendung in Einzelfällen. Die „demokratische Legitimation“ durch die Wahl erzeugt keine Kompetenz. Von Abgeordneten erwartet man freilich nicht, dass sie selbst Gesetze erdenken und ausformulieren. „Das Bundesfinanzministerium führt dem Steuergesetzgeber . . . weitgehend die Feder, weil es in 17 So noch H. W. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Allgemeiner Teil, 1991, S. 389. 18 In diesem Sinne auch P. Fischer, StuW 1992, 128 (profiskalische Einstellung der Finanzgerichte empirisch nicht zu belegen). 19 Näher dazu Bd. I2; 2000, S. 264 ff.; J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 367 („Der blinde Fleck des Positivismus“). 20 Dazu Bd. I2, 2000, S. 267. 21 S. aber noch Bd. I2, 2000, S. 269, ferner J. Braun (Fußn. 19), S. 358 („Habituelle Verankerung des Positivismus in Ausbildung und Praxis“).
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den Gesetzgebungsorganen nicht genügend steuerrechtlichen Sachverstand gibt. Es ist kaum vorstellbar, dass jemals ein ernst zu nehmender Gesetzentwurf zum Steuerrecht in einer Fraktion des Parlaments geboren wird, ohne dass zuvor Experten des BMF oder eines Landesfinanzministeriums Hand angelegt hätten“. 22 Doch werden in den politischen Parteien und Fraktionen durchaus Steuerideen geboren, die dann vom Ministerium für einen Gesetzentwurf ausformuliert werden sollen. Nur zu oft fallen solche Ideen völlig aus dem Rechtssystem der Steuergesetze heraus. Nicht zu vergessen: Auch die in der Verfassung nicht erwähnten Interessenverbände leisten ihren Beitrag zur Steuergesetzgebung. Paul Kirchhof spricht vom „Interessenten, der dem Gesetzgeber die Feder führt“. 23 In den Interessenverbänden findet sich durchaus Kompetenz, wenngleich interessierte, parteiische Kompetenz. In Gesetzen wird nicht angegeben, welche Interessenten an ihnen mitgewirkt haben. Wir lesen auch nicht: „Dieses Gesetz wurde gesponsert von dem . . . verband.“ Die Abgeordneten gehören Parteien an, sind in des Wortes eigentlicher Bedeutung parteiisch, was Richter partout nicht sein dürfen. Abgeordnete dürfen auch Gesetze beschließen, die ihre eigene Sache betreffen, etwa die Höhe ihrer Kostenpauschale. Die Abgeordneten können beschließen, dass korrupte Beamte und Richter bestraft werden sollten, korrupte Abgeordnete aber nicht. Strafbar ist nach geltendem Recht nur der Stimmenkauf. Die Abgeordneten können beschließen, dass die Steuerhinterziehung strafbar ist, die Steuerverschwendung aber nicht. In Art. 38 I 2 GG heißt es zwar: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Abgesehen davon, dass das Gewissen nicht dazu befähigt, Gesetze „zu geben“: Die Verfassungswirklichkeit weicht von Art. 38 I 2 GG wesentlich ab. Das Gros der Abgeordneten fühlt sich der Partei verpflichtet (die sie zur Wahl aufgestellt hat) und der Fraktion. Oft bestehen Bindungen an Interessenverbände; nicht wenige Abgeordnete sind Lobbyisten. Nichts hindert sie daran. A. Raupach stellt fest: „In der Praxis versagt . . . weitgehend die parlamentarische Kontrolle der Steuergewalt“. 24 Die Finanzrichterschaft ist überwiegend daran interessiert, mit Steuerwissenschaftlern über Grundsatzfragen des Steuerrechts und der Steuerrechtsanwendung zu diskutieren, den Meinungsaustausch zu pflegen. 25 Viele Richter pflegen den Dialog mit der Wissenschaft – auch in der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft. Dass sich das für die mit der Steuergesetzgebung befasste Ministerialbürokratie 22 23 24 25
H.-J. Pezzer, DStR 2004, 526. P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 336. A. Raupach, DStJG Bd. 21 (1998), 210. S. auch Symposium v. 20. 3. 2007, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39.
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Steuerrechtsschutz durch Verfahren
nicht ohne weiteres feststellen lässt, mag damit zusammen hängen, dass diese stark in die Politik eingebunden ist. Die Verbundenheit der Richter mit der Wissenschaft zeigt sich auch darin, dass zur Urteilsbegründung oft wissenschaftliche Literatur 26 herangezogen wird. Die Urteile, die zur Begründung auf eine Kette von Präjudizien verweisen und die Auseinandersetzung mit der Kritik verweigern, haben erkennbar abgenommen. Anders als Wissenschaftler stehen Richter unter Entscheidungszwang. Sie müssen einen eindeutigen Tenor liefern. Der Tenor darf nicht lauten: „Die Klage ist kaum zulässig“ oder „Die Klage ist kaum begründet“. In der juristischen Fachliteratur kommt das einschränkende (Entscheidungsschwäche verratende?) „kaum“ aber recht oft vor, z. B.: „§ 3 . . . lässt sich kaum noch als verfassungsmäßig rechtfertigen.“ Richter sollten Urteile, an denen sie selbst mitgewirkt haben, nicht rezensieren. Schon gar nicht sollten sie in der Rezension Gründe nachschieben, die in die Urteilsbegründung gehört hätten.
4. Steuerrechtsschutz durch Verfahren Die Rechtsschutzgarantie wird als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, als „Schlussstein im Gewölbe des Rechtsstaats“, als „formelles Hauptgrundrecht“ oder „Verfahrensgrundrecht“ gefeiert. Durch die Rechtsschutzgarantie soll „die Selbstherrlichkeit der Behörden im Verhalten gegenüber dem Bürger beseitigt“ werden. 27 Die Vorschriften einer Gerichtsverfahrensordnung wie der Finanzgerichtsordnung müssen dem Zweck des Verfahrens entsprechen. Sie müssen für die Aufklärung des Sachverhalts geeignet und erforderlich sein. Sie dürfen nichts Unverhältnismäßiges verlangen. Ob Bürger eine Gerichtsentscheidung innerlich akzeptieren, hängt nicht nur vom Ausgang des Prozesses ab, sondern auch von der Fairness der Prozessführung. Bloß formale Gründe überzeugen eher selten. Die Entscheidungsgründe können für die Befriedung des Bürgers ebenso wichtig sein wie die Entscheidung selbst, der Tenor. Das Bundesverfassungsgericht, „maßgeblicher Interpret und Hüter der Verfassung“, 28 hat aufgrund der Art. 19 IV GG und Art. 103 I GG stän26 Sie kann auch von Richtern stammen. Wissenschaft ist nicht an die Institution „Universität“ gebunden. Auch die Themen der jährlichen Finanzgerichtstage legen Zeugnis ab von der wissenschaftlichen Einstellung der Richter. 27 BVerfGE 10, 264, 267 f. 28 Hinweis auf BVerfGE 40, 88, 93.
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dig entschieden: „Der Zugang zu den Gerichten und den Vorinstanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert werden“. 29 Das gilt nicht nur für den ersten Zugang zum Gericht (hier: Finanzgericht), sondern auch für die Wahrnehmung der Instanzen, die die anzuwendende Prozessordnung (hier: die Finanzgerichtsordnung) vorsieht. 30 Den Anstoß zu einem Gerichtsverfahren gibt der Bürger durch seine Klage („Wo kein Kläger, da ist kein Richter!“) oder einen anderen Rechtsbehelf. Die Anregung oder Empfehlung dazu pflegen die Bevollmächtigten (§ 62 FGO) zu geben. Die nicht juristisch vorgebildeten Steuerberater pflegen dabei zögerlicher zu sein als Rechtsanwälte. „Viele Steuerberater“ – so der Rechtsanwalt M. Streck – „betrachten die steuerliche Auseinandersetzung . . . als etwas ‚Krankhaftes‘. Stolz hört man Berater sagen, in der eigenen Praxis gäbe es kaum Einsprüche und Klagen“. 31 „Kein Streit“ – so M. Streck weiter – „sollte aus dem persönlichen Interesse des Beraters (soll wohl heißen: aus dessen Honorarinteresse, d. V.) begonnen werden. Nur das Interesse des Mandanten ist für den Start in den Streit entscheidend. Der Berater darf aber auch keinen Streit aus Inkompetenz vermeiden. Wer von einer Nichtzulassungsbeschwerde abrät, weil er sie letztlich nicht führen kann, verletzt seine Berufspflichten . . . Der Steuerstreit kann notwendig sein, um das Bestehen oder Nichtbestehen von Haftpflichtansprüchen zu klären. Eine Vielzahl von Streitverfahren . . . ist aus strafrechtlichen Verteidigungsüberlegungen erforderlich, regelmäßig sogar zwingend geboten . . .“ 32 Durchweg interessieren Steuerbürger sich für die Chancen eines ihnen empfohlenen Steuerprozesses. Nach M. Streck gibt es „weder eine 100 %-ige Erfolgssicherheit noch eine 100 %-ige Misserfolgsgarantie“. 33 Die Prozessneigung (oder Abneigung) hängt in der Tat von der Mentalität und von der Prozessrechtskompetenz und der Prozessgewandtheit ab. Der Prozessausgang lässt sich in der Tat durchweg nicht annähernd sicher voraussagen. Das gilt auch für Verfassungsprozesse. Nicht alle Richter folgen den Geboten der Rechtslogik, die ohnehin Wertungslogik ist, keine mathematische oder sonst exakte Logik (dazu S. 1251 ff.). Das rechtsstaatliche Grundgebot, materielle Gerechtigkeit zu realisieren, bezieht das Verfassungsgericht nicht allein auf den Einzelfall, 29 BVerfGE 37, 93, 96; 40, 237, 256; 41, 323, 326 ff.; 42, 128, 130; 52, 203, 207; 60, 253, 268 f.; 88, 118, 124. 30 BVerfGE 40, 275; 41, 23, 26; 44, 302, 305 f.; 49, 257. 31 Stbg. 1996, Editorial zu Heft 4. 32 Stbg. 1996, Editorial zu Heft 4. 33 Fußn. 32.
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„sondern auch auf den Wirkungszusammenhang der Rechtsordnung und ihres Vollzugs insgesamt“. Rechtssicherheit durch Verfahren herbeizuführen bezeichnet das Verfassungsgericht als „selbst eine Forderung materieller Gerechtigkeit“. 34 Wirklich klar ist diese Aussage nicht. Das Verlangen des Gesetzes oder des Gerichts nach der Einhaltung von Formen und Fristen und anderen formalen Voraussetzungen sind grundsätzlich als gerechtfertigt anzusehen. Durch solche Vorschriften soll die Rechtssicherheit und ein ordnungsmäßiger Gang des Verfahrens gewährleistet werden. 35 Als zulässig, da notwendig wird es auch angesehen, dem Bürger solche Versäumnisse und Unterlassungen gegenüber Formen und Fristen zuzurechnen, die er bei Anlegen sachgerechter Maßstäbe zu vertreten hat. Die Frage ist danach: Was sind sachgerechte Maßstäbe? Was erschwert das Erreichen materieller Gerechtigkeit in nicht erträglicher, unverhältnismäßiger Weise? Den Stein der Weisen dürfte das Verfassungsgericht noch nicht durchgehend gefunden haben. Es legt den Akzent m. E. etwas zu einseitig auf die Rechtssicherheit. Im Bereich der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat er den Behörden und Gerichten aber die notwendigen Grenzen gezogen (s. näher S. 1518 ff.). Über Bedeutung und Wert des Verfahrensrechts gehen auch die Meinungen von Juristen auseinander. Manche Richter sehen in Formen und Fristen ein Erziehungsmittel und sind für gehörige Sanktionen bei Verstößen. Das trifft vor allem verfahrensrechtlich wenig Versierte, nicht selten auch Steuerberater. Zu bedenken ist: Das Verfahren hat keinen formalistischen Selbstzweck, es ist nicht als formaljuristisches Geschicklichkeitsturnier gedacht, durch das möglichst viele Beteiligte aus dem Rennen geworfen werden sollen. Die Bürger sollen gerade möglichst nicht um ihr sachliches Recht gebracht werden. Rechtsstaatliche Mängel des materiellen Rechts kann auch ein faires Verfahren nicht ausgleichen. Ungerechtes materielles Recht kann durch ein faires Verfahren nicht in gerechtes Recht umgestaltet werden, insbesondere nicht durch Auslegung. Die Gerichte können allerdings das Bundesverfassungsgericht einschalten (Art. 100 GG). 36
34 Hinweis auf BVerfGE 60, 253, 268 f. 35 BVerfGE 10, 264; 40, 237; 44, 302; 88, 118. 36 Näher dazu K. Tipke, StuW 2004, 3 ff. – Dazu auch G. Bierbauer/W. Gottwald/B. Birnbreier (Hrsg.), Verfahrensgerechtigkeit, 1995.
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5. Über formelle Stolpersteine im Steuerprozess 5.1 Scheitern an Klageformalien Unter den Richtern, nicht selten auch in einem richterlichen Spruchkörper, gibt es unterschiedliche Einstellungen über Zweck und Rang des Prozessrechts. Im Extremen reichen sie von „Du sollst das Prozessrecht mit seinen Formalien heiligen“ über die Erkenntnis, dass das Prozessrecht dem materiellen Recht zu dienen habe – bis hin zur Geringschätzung des Prozessrechts. Nicht zuletzt die Vorschriften über das Gerichtsverfahren müssen so gedeutet werden, dass dem Kläger möglichst Rechtsschutz gewährt, der Rechtsschutz aber nicht aus formalen, sachlich nicht gebotenen Gründen versagt wird. Wie die Praxis lehrt, kann der Kläger daran scheitern, dass er nach Meinung der Gerichte die Klageform nicht wahrt (§ 64 I FGO), dass die Klage den notwendigen Inhalt nicht hat (§ 65 FGO), dass die Klage nicht – in der vorgeschriebenen Form und mit dem verlangten Inhalt – innerhalb der gesetzlichen Frist (§ 47 FGO) bei der richtigen Stelle eingereicht und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) nicht gewährt wird. Auch Gerichte begründen ihre Formen- und Fristenstrenge gern mit der Berufung auf die Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden, balancieren Rechtssicherheit und Rechtsrichtigkeit, für die der Rechtsschutz sorgen soll, aber zu oft nicht richtig aus, weil sie dem Verfahrensgrundrecht des Art. 19 IV GG zu wenig Gewicht beimessen. Wer klagt, will gerade nicht vorzeitigen Rechtsfrieden, sondern Rechtsschutz. Die Berufung auf die Rechtssicherheit, die möglichst innerhalb Monatsfrist eintreten soll, überzeugt ohnehin schwerlich, wenn infolge langwieriger (sich jahrelang hinziehender) Gerichtsverfahren die Rechtssicherheit um Jahre hinausgeschoben wird. Im Übrigen sollten Gerichte für Steuerpflichtige und Behörden nicht Regeln aufstellen, die sie für sich selbst nicht beachten. Sind Rechtsprechung und Literatur über die Sachentscheidungsvoraussetzungen, insbesondere über Form- und Fristanforderungen, nicht einig, so heißt das: Es befindet sich ein Teil der Gerichte und/ oder der Autoren im Rechtsirrtum. Diesen Irrtum darf man nicht die Kläger ausbaden lassen. Mindestens ist bei Bedarf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Besonders im Prozessrecht werden auch banale Meinungen gern als „Theorien“ überhöht. Den Klägern helfen solche Wissenschaftlichkeit oder wissenschaftlich Anspruchsvolles ausdrücken sollende Bezeichnungen nicht weiter. Stets sollte bedacht werden: Auch Richter machen Verfahrensfehler – aus der Sicht des Bundesfinanzhofs und des Bundesverfassungsgerichts. Das gilt aber für Richter aller Gerichte. 1504
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5.2 Scheitern an fehlendem Rechtsschutzbedürfnis Die Finanzgerichtsordnung macht die Zulässigkeit der Klage von einer Reihe von Sachurteilsvoraussetzungen abhängig, Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit über die Sache selbst entschieden werden darf. Die wohl wichtigste ist die unten (S. 1505 ff.) erörterte Klagebefugnis (§ 40 II FGO). Obwohl im Gesetz nicht geregelt, wird die Zulässigkeit der Klage – in allen Prozessarten – davon abhängig gemacht, dass ein Rechtsschutzbedürfnis besteht. Das Rechtsschutzbedürfnis wird verneint, wenn die Inanspruchnahme des beschrittenen Rechtsschutzweges vermeidbar war, wenn die gewählte Verfahrensart unnötig aufwendig ist, wenn die gewählte Verfahrensart ineffektiv ist, wenn das Klageziel auf dem gewählten prozessualen Weg unmöglich erreicht werden kann, wenn das Rechtsschutzbegehren ohne Nutzen für den Kläger ist, wenn die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes unnötig ist. Da das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis im Gesetz nicht geregelt ist und es den Justizgewährungsanspruch einschränkt, ist es verfassungsrechtlich problematisch. 37 § 76 II FGO lässt sich durch Verneinung des Rechtsschutzbedürfnisses nicht aushebeln. Der Bundesfinanzhof verneint das Rechtsschutzbedürfnis grundsätzlich für aus verfassungsrechtlichen Gründen erhobene Klagen, wenn die Finanzbehörde den Steuerbescheid noch vor Klageerhebung nach § 165 I Nr. 2, 3 AO für vorläufig erklärt hat. 38 5.3 Scheitern an übertriebenem Unterschriftsformalismus Nach § 64 I FGO ist die Klage grundsätzlich schriftlich zu erheben. Schriftlich heißt für den Unbefangenen: nicht mündlich oder fernmündlich. Die Rechtsprechung verlangt aber auch: Es muss ein (handschriftliches oder maschinenschriftliches) Original eingereicht werden, handschriftlich unterschrieben mit bestimmten Anforderungen an die Unterschrift. Das wird damit begründet, dass es erforderlich sei, der Klageschrift die Person des Klägers oder seines Vertreters hinreichend zuverlässig zu entnehmen und ausschließen zu können, dass es sich bei dem eingereichten Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handle, der dem Gericht möglicherweise ohne Wissen und Willen zugeleitet worden sei. Das Gerichtsverfahren soll – ehrliche Richter sagen es – auch nicht durch Rückfragen und Zusatzerklärungen erschwert, sondern bürokratisch-bequem abgewickelt werden. 37 Dazu V. Stein, Die Sachentscheidungsvoraussetzung des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses im Verwaltungsprozess, 2000. 38 Dazu mit Recht kritisch R. Seer, StuW 2001, 3, 16; ders., in: K. Tipke/ J. Lang, Steuerrecht20, § 22 Rz. 152.
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Der Kläger konnte – jedenfalls bis 1999 – auch daran scheitern, dass von ihm ein bestimmtes Unterschriftsgebilde verlangt wurde. Bezeichnend sind die Gründe des Hessischen Finanzgerichts aus dem Jahre 1997: „Eine Unterschrift setzt . . . ein aus Buchstaben einer üblichen Schrift bestehendes Gebilde voraus, das nicht lesbar zu sein braucht. Erforderlich, aber auch genügend, ist das Vorliegen eines die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnenden individuellen Schriftzuges, der einmalig ist, entsprechende charakteristische Merkmale aufweist und sich als Unterschrift eines Namens darstellt und die Nachahmung durch einen Dritten jedenfalls erschwert . . . Außerdem fordert die in Rechtsprechung und Literatur vorherrschende Auffassung, dass mindestens einzelne Buchstaben erkennbar sind, weil es sonst an dem Merkmal einer Schrift überhaupt fehlt (Gräber/v. Groll, FGO, 3. Aufl. § 64 Rnr. 20). In der neueren Rechtsprechung wird es verschiedentlich als nicht erforderlich angesehen, dass der Name voll ausgeschrieben und lesbar ist. Es soll ausreichen, wenn der individuell ausgestaltete Namenszug die Absicht erkennen lässt, eine volle Unterschrift zu leisten (BGH NJW 1992, 243; BFH BStBl. 1993, 720). Undeutlichkeiten, Verschleifungen und ‚Verstümmelungen‘ sollen unschädlich sein (BFH/NV 1989, 505; 1995, 222). Auch nach dieser Rechtsprechung reicht indes wie nach allgemeiner Auffassung ein Gebilde, das sich objektiv als bewusste und gewollte Abkürzung des Namens (Handzeichen oder Paraphe) darstellt, nicht aus . . . Im Streitfall stellt sich der Schriftzug unter der Klageschrift bei objektiver Betrachtung als eine Folge aus nur zwei Buchstaben dar, wobei der zweite Buchstabe – nämlich das länglich-ovale Gebilde – deutlich als ein kleines ‚l‘ einer üblichen Schreibschrift erkennbar ist. Da es sich hierbei nur um das ‚l‘ aus dem Namen ‚A‘ und damit um den zweiten Buchstaben dieses Namens handeln kann, kann das Gesamtgebilde nur als Namensabkürzung gedeutet werden. Der Eindruck einer bewussten und gewollten Namensabkürzung wird nachhaltig durch das rechts entfernt befindliche kommaähnliche Zeichen verstärkt, das sich den Umständen nach als flüchtig gesetzter Punkt darstellt, wie er bei einer bloßen Namensabkürzung durchaus gebräuchlich ist. Schließlich verdeutlicht auch die anhand der dem Senat vorliegenden Akten nachvollziehbare bemerkenswerte Entwicklung der Unterschrift des Klägers über die Jahre hin, dass diese zuletzt zu einer äußerst flüchtigen Ausbildung nur noch der beiden Anfangsbuchstaben verkümmert ist, während sie sich unter dem von den Klägern unterzeichneten Treuhandvertrag eindeutig und selbst unter der Steuererklärung 1986 in etwa noch als – wenn auch nicht lesbare – Unterzeichnung mit dem vollen Namen darstellt bzw. zumindest eine dahingehende Absicht erkennen lässt“. 39
Man muss den hessischen Richtern einräumen, dass sie nicht Zeit und nicht Mühe gescheut haben, den Unterschriftenduktus des Klägers zu beschreiben und – durch Vergleichen der Unterschriften in den Akten – in Ansätzen auch zu analysieren. Sie haben allerdings 39 Hess. FG v. 24. 8. 1995 – K 51112/91, EFG 1997, 247 (248). – Geht es um die Unterschrift, verfallen Gerichte nicht selten in einen Stil, der an die Kanzleisprache des 19. Jahrhunderts erinnert. Es wird nicht unterschrieben, sondern die Unterschrift wird „vollzogen“, oder es wird „unterfertigt“; man spricht vom „vollzogenen Namenszug“.
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nicht erwähnt, dass die Wissenschaft vom Schriftcharakter – das ist die Gesamtheit der Formelemente, durch die eine Schrift ihren spezifischen Ausdruck erhält – zwischen runden, gebrochenen und Bastardschriften unterscheidet. Das Finanzgericht jedenfalls hat den nicht korrekt Unterschreibenden nicht als Urheber der eingereichten Klage „überführen“ können. Es hätte sicher imponiert, wenn dazu auch die einschlägige Literatur über die Aufdeckung von Unterschriftsfälschungen, etwa mit Hilfe der Methode der graphometrischen Unterschriftsvergleichung, ausgewertet worden wäre. 40 Difficile est, satiram non scribere. Aber Satire und Ironie beiseite: Die Unterschriften-Rechtsprechung hat sich allmählich gelockert. So hat der X. Senat des Bundesfinanzhofs 1999 – das zitierte Urteil des Hessischen Finanzgerichts aufhebend – entschieden, es reiche aus, wenn der Unterschriftszug so gestaltet sei, dass er die Identität des Urhebers verbürge; sei dies der Fall, könne „an die Ausführung, angesichts der Variationsbreite, die selbst Unterschriften ein und derselben Person aufweisen, ein großzügiger Maßstab angelegt werden . . . Das in Frage stehende handschriftliche Gebilde“ weise „mehrere unverwechselbare Striche und Schleifen auf, die zwar nur zwei leserliche Buchstaben, aber bei der gebotenen großzügigen Betrachtungsweise die Tendenz zu einem vollen Namenszug erkennen lassen.“ „Das punktähnliche Schlusszeichen“ – so heißt es weiter – „spricht nicht dagegen, weil bisweilen auch eindeutig unvollständige Unterschriften mit einem Schlusspunkt versehen werden“. 41 Jedenfalls der X. Senat wollte damit wohl das Zählen leserlicher Buchstaben erübrigen. In mehreren Entscheidungen ist es als ausreichend („unschädlich“) angesehen worden, dass die Originalunterschrift auf Anlagen zur Klageschrift oder auf der Vollmacht zu finden war. Nach § 64 I FGO ist die Klage schriftlich zu erheben. Von einer zumal handschriftlichen Unterschrift sagt die Vorschrift nichts. In § 357 I 2 AO heißt es ausdrücklich: „Es genügt, wenn aus dem Schriftstück hervorgeht, wer den Einspruch eingelegt hat.“ Obwohl auch § 90 SGG für Klagen die Schriftform vorsieht, verlangen Rechtsprechung und 40 Die Kriminaltechnik kennt die Handschriftenuntersuchung, auch die Untersuchung der Echtheit der Unterschrift durch den Handschriften-Erkennungsdienst. Dazu z. B. Michel/Conrad, Möglichkeiten einer Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Unterschriftsfälschungen, Arch. f. Krim(inologie) Bd. 149, S. 31 ff.; Michel, Die Verstellung der eigenen Handschrift, Arch. f. Krim. Bd. 154, S. 43 ff., 65 ff.; Hecker, Die Unterschrift in ihrer Bedeutung für die Schriftenexpertise, Arch. f. Krim. Bd. 155, S. 110 ff.; Conrad, Empirische Untersuchung über die Urteilsgüte verschiedener Gruppen von Laien und Sachverständigen bei der Untersuchung authentischer und gefälschter Unterschriften, Arch. f. Krim. Bd. 156, S. 169 ff. 41 BFH v. 23. 7. 1999 – X R 113/96, BStBl. II 1999, 668 (669).
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Literatur keine Unterschrift. Das wird aus § 92 SGG entnommen, wonach die Klageschrift lediglich unterzeichnet sein soll. Die Gerichte – die der Sozialgerichtsbarkeit ausgenommen – haben zur Unterschriften-Rechtfertigung einen Ansatz gewählt, der der Wirklichkeit nicht entspricht – mit der Folge, dass sie sich unnötigerweise formalistisch, rigoristisch und pedantisch verrannt haben. Mit allen Argumenten zur Rechtfertigung einer bestimmten Unterschrift (auch Theorien genannt) hat sich in einer Monographie M. Vollkommer 42 befasst. Er hat Gerichtsurteile registriert, die einen kleinlichen, pedantischen Unterschriftsformalismus pflegen; er hat Ungereimtheiten und Inkonsequenzen nachgewiesen und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Rechtfertigungsversuche und ihre Folgen – gemessen an der Erfahrung – übermäßig und überspannt seien. Er hat Belege für das gebracht, was er „juristische Fallstricke“, „Stolpern über Zwirnsfäden“, „Schwabenstreiche juristischer Spitzfindigkeit“, „formalistisches Geschicklichkeitsturnier“, „pedantische Abschmetterfreude“ und „Sieg des Formalismus über die Gerechtigkeit“ nennt. Das Unterlassen oder Vergessen der Unterschrift erklärt sich in aller Regel aus Hektik, Arbeitsüberlastung, Überarbeitung, Unkonzentriertheit. Auf per Briefpost übersandten Klagen und anderen Schriftstücken pflegt die Unterschrift auch nicht zu fehlen, sondern nur dem von der Rechtsprechung erfundenen Schriftzug-Formalismus nicht immer zu entsprechen. Das wiederum dürfte damit zusammenhängen, dass keine Bank, kein Notar, kein Finanzamt für die Steuererklärung, kein Gericht für die Unterschrift unter Urteilen und Beschlüssen bestimmte Formelemente verlangt. Wer etwas vom Gericht will, lässt sich in aller Regel aus dem Kopfbogen (Briefkopf), aus Namensstempel, Faksimilestempel, beigefügten Unterlagen oder einer Vollmacht entnehmen. Wer wirklich der Urheber einer Klage oder eines Schriftsatzes ist, lässt sich nicht mit Hilfe einer Unterschrift vom Richter feststellen, sondern nur mit kriminaltechnischen Methoden. 43 Es ist nämlich nicht schwer, Namen anderer Personen zu imitieren, ohne dass es bemerkt wird. Die Behauptung, das Gericht solle davor bewahrt werden, dass es aufgrund eines ohne oder gegen den Willen des Verfassers zur Post gegebenen Klage- oder sonstigen Schriftsatzentwurfs tätig werde, ist auf ein theoretisches Kathederbeispiel fixiert, scheint sich an einem Phantom zu orientieren. Nie hat man gehört oder gelesen, dass Finanzämter aufgrund von Einspruchsentwürfen 42 M. Vollkommer, Formenstrenge und prozessuale Billigkeit, dargestellt am Beispiel der prozessualen Schriftform, 1973; dazu die Rezension von H. Prütting, Formenstrenge und prozessuale Billigkeit – einst und jetzt, in: Festgabe für Max Vollkommer, 2006, S. 283 ff. 43 Dazu oben Fußn. 40.
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und dass Sozialgerichte aufgrund von Klageentwürfen tätig geworden seien und entschieden hätten. Und sollte es denn doch einmal passiert sein, so wäre der dadurch entstandene Zeitaufwand jedenfalls viel geringer gewesen als die Zeit, die viele Gerichte mit der Prüfung der Unterschrift, des Unterschriftsduktus und der Begründung der Unterschriftsmängel verbracht haben. Im Übrigen können auch bereits unterschriebene Klagen gegen den Willen des Verfassers zur Post gelangen. Nach aller Erfahrung spricht eine starke Vermutung dafür, dass Klagen, die das Gericht erreichen, nicht bloße Entwürfe sind. Die Befürchtung, es könnte sich um Entwürfe handeln, betrifft eine gänzlich fern liegende abstrakte Möglichkeit. Wird ohne oder gegen den Willen des Verfassers ein Entwurf abgeschickt oder überbracht, so kann man davon ausgehen, dass der Betroffene sich bald beim Gericht melden wird, um Kosten zu sparen. Die langjährige Kritik an der Unterschrifts-Rechtsprechung im Tipke/ Kruse hat über Jahrzehnte wenig gefruchtet. Ein Beschluss des X. BFH-Senats aus dem Jahre 1996 schien zunächst eine Wende einzuleiten. Der Senat entschied: „Die Frage, ob daran festgehalten werden kann, dass ein bestimmter Schriftsatz, der mit einer Abkürzung (Paraphe, Namenszeichen) unterschrieben ist, dem Erfordernis der Schriftlichkeit nicht genügt, hat grundsätzliche Bedeutung“. 44 Aber die Paraphe genügt dem Bundesfinanzhof auch heute noch nicht. 45 Nur das Zählen lesbarer Buchstaben hat aufgehört. Von jeher hat die Rechtsprechung indessen auch das fernmündlich aufgegebene Telegramm als Schriftform angesehen, obwohl es keine Unterschrift enthält. Inzwischen hat die Rechtsprechung weitere Zugeständnisse an den technischen Fortschritt gemacht. Danach genügt auch die Übermittlung durch Fernschreiber und durch Telefax (Telebrief, Telekopie), wenn die Kopiervorlage ordnungsmäßig unterschrieben ist, das Gericht also kein Originalschriftstück mit Originalunterschrift erhält. Auch Klagen durch Bildschirmtext-Mitteilungen (Btx) sind zugelassen worden. 46 Der Gemeinsame Senat der oberen Bundesgerichte hat im Jahre 2000 entschieden, dass bestimmende Schriftsätze auch durch Computerfax mit eingescannter Unterschrift, d. h. ohne Originalunterschrift, wirksam seien, da es unwahrscheinlich sei, dass ein anderer als der bezeichnete Absender den Schriftsatz unterzeichnet habe. 47 Anders als beim Telefax besitzt der Absender des Computerfax keine handschriftliche Kopiervorlage der Unterschrift. Wird eine eingescannte Unterschrift als Datei via ISDN-Anschluss bzw. PC44 BFH, BStBl. II 1996, 140; einlenkend immerhin BFH, BStBl. II 1999, 565. 45 BFH/NV 2002, 1604. 46 BFH, BStBl. II 1991, 463; BFH/NV 2001, 321; s. auch R. Seer, in: Tipke/ Kruse, § 120 FGO Tz. 48 ff. 47 GmSOGB; s. auch Weigel, DStR 2002, 1841.
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Modem an das Gericht geschickt, besteht kein Unterschied zum Faksimile, das bisher nicht als ausreichend angesehen worden ist. Insgesamt besteht nach wie vor viel Rechtsunsicherheit. Als Befund lässt sich immer noch feststellen, dass noch nie Fälle bekannt geworden sind, in denen die Unterschrift wirklich den ihr von der Rechtsprechung zugedachten Zweck erfüllen musste. Nur wegen eines leerläufigen Zwecks hat man aber in einer Fülle von Fällen den Rechtsschutz am Unterschriftsformalismus scheitern lassen. Statt das Unterschriftserfordernis aufzugeben, hält der Bundesfinanzhof an ihm fest; der VII. Senat verfestigt sogar die dualistische Behandlung der hergebrachten, unterschriftsbedürftigen Briefübermittlung einerseits und der elektronischen, eine eigenhändige Unterschrift technisch nicht ermöglichenden Übermittlung. 48 Das Unterschriftserfordernis kann aber nicht von technischen Möglichkeiten abhängig gemacht werden. Entweder ist es verzichtbar, dann müsste unabhängig von der Übermittlungstechnik darauf verzichtet werden, oder sie ist nicht verzichtbar, dann dürften Übermittlungstechniken, die keine Übermittlung der Originalunterschrift zulassen, nicht erlaubt werden. Mit der letzteren Lösung würde die Justiz aber in Kauf nehmen, dem technischen Fortschritt für ihren Bereich, und zwar ohne sachlichen oder gar zwingenden Grund, in den Rücken zu fallen. Also müsste man konsequenterweise auch für den Steuerprozess eine Lösung wie die nach § 357 I 2 AO genügen lassen; § 64 I FGO untersagt das nicht; oder es müsste die Unterschrift vom Gesetzgeber nur durch Sollvorschrift angeordnet werden. Der jetzige Zustand ist schon deshalb beklagenswert, weil – wie die Erfahrung lehrt – die Unterschrift in Wirklichkeit prozessual belanglos, bedeutungslos ist. Aber viele Richter können sich Juristen nur als Formalisten vorstellen. Dass der Formalismus sich in Inkonsequenzen oder Widersprüchlichkeiten verwickelt, stört sie nicht. Der Unterschriftsformalismus kann auch dann zur Rechtsschutzverweigerung führen, wenn die Vollmacht eines Vertreters vom Bevollmächtigenden nicht eigenhändig unterschrieben worden ist. Der Konflikt zwischen herkömmlicher Methode und moderner Kommunikationstechnik besteht auch hier. Der Vorsitzende oder der Berichterstatter kann immerhin anordnen, die schriftliche Vollmacht innerhalb einer Frist nachzuholen (§ 62 VI 2 FGO). M. Loose meint dazu: „Im Hinblick auf die derzeit noch widersprüchliche Rechtsprechung des BFH und die unterschiedliche Handhabung der FG kann einem Pro48 BFH/NV 2002, 1597f. Dazu auch P. Brandis, StuW 2003, 349, 351 ff. Auch der Bundesgerichtshof ist sozusagen in seine formalistische Ausgangsstellung zurückgekehrt (s. mit Nachweisen H. Prütting, in: Festgabe für Max Vollkommer, 2006, S. 283, 287 f.). Auch § 130 Nr. 6 ZPO hat die Richter nicht beeindruckt.
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zessbevollmächtigten bis zu einer endgültigen Klärung zur Vermeidung von Streitigkeiten nur geraten werden, die Originalurkunde einzureichen, wenn das Gericht ihn zur Vorlage der Vollmacht auffordert“. 49 § 62 VI 4 FGO verzichtet seit dem 1. 1. 2001 gegenüber einem bestimmten Bevollmächtigtenkreis überhaupt darauf, die Vollmacht von Amts wegen nachzuprüfen. Zutreffend äußert R. Seer dazu: „Die Unterscheidungen der Rechtsprechung sind kaum mehr nachvollziehbar, bergen für den Rechtsschutzsuchenden überflüssige ‚Verfahrensfallen‘, stehen im Widerspruch zur Zulassung bestimmender Schriftsätze durch Computerfax . . . und tragen den Möglichkeiten moderner Kommunikationstechniken unzureichend Rechnung“. 50 R. von Groll, als Formalist bekannt, äußert zur Kontroverse um die Unterschrift: Es könne in Anbetracht der gegenwärtigen Praxis „jedem, der sich – mit welchem Begehren auch immer – an das Gericht wendet, nur dringend empfohlen werden, seine Schriftsätze mit vollem Namen zu unterschreiben und, wenn er sich moderner Kommunikationsmittel bedient, den Originalschriftsatz per Post hinterherzuschicken“. 51 Nur wäre der technische Fortschritt damit aufgehoben; es könnte, statt dieser Empfehlung zu folgen, besser gleich eine Originalschrift per Post auf den Weg gebracht werden. Der alte Hang, alles möglichst (unnötig) kompliziert zu gestalten, macht sich nicht nur im materiellen, sondern eben auch im Verfahrensrecht bemerkbar. Man wird den Eindruck nicht los, die schrecklichen Komplizierer möchten sich künstlich wichtig machen. Sie hängen jedenfalls trotzig an ihren alten Zöpfen. Solange die Unterschrift als Ausfluss der Schriftform notwendig ist, sollte, wenn sie fehlt oder nicht genügt, grundsätzlich § 65 II FGO angewendet werden. In Anbetracht der Unsicherheit der Rechtslage müsste m. E. bei Bedarf ohne weiteres Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Ich stimme überein mit dem BFH-Senatzsvorsitzenden H.-J. Pezzer, der wie folgt formuliert: „Ein weiteres Problemfeld, auf dem die Gerichte in die Gefahr geraten können, ihre Aufgabe zu verfehlen und den gleichmäßigen Gesetzesvollzug zu verhindern statt ihn zu gewährleisten, ist das Prozessrecht. Soweit es Zugangsschranken für die Anrufung der Gerichte errichtet, sind diese vor dem Hintergrund der Rechtsschutzgarantie des Art. 19. Abs. 4 GG nur mit Augenmaß zu handhaben. Im Zweifelsfall darf der Rechtsschutz nicht ausgehebelt werden. Werden prozessrechtliche Voraussetzungen für den Zugang zum Gericht sachwidrig überspannt und das Prozessrecht damit als eine Art Abwimmlungstechnik zweckentfremdet, so wird der Steuerpflichtige, der an der49 M. Loose, in: Tipke/Kruse, § 62 FGO (Lfg. Febr. 2011) Tz. 58. 50 R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 22 Rz. 139 m. w. N. 51 R. v. Groll, in: Gräber5, § 64 FGO Tz. 17.
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§ 32 Steuerrechtsschutz durch Finanzgerichtsbarkeit artigen formalen Stolperdrähten hängen bleibt, sachwidrig daran gehindert, vor Gericht für sich die Rechtmäßigkeit und damit auch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung einzufordern. Beispiele dafür gibt es genug, etwa den Fall, dass ein FG einen aufgrund eines Wirbelsäulenbruchs gestellten Antrag auf Terminverlegung mit der Begründung ablehnt, es sei nicht deutlich genug dargelegt, warum die im Krankenhaus befindliche Beteiligte nicht vor Gericht erscheinen könne. Oder wenn ein Steuerpflichtiger innerhalb der für die Konkretisierung des Klagebegehrens gesetzten Ausschlussfrist seine Steuererklärung eingereicht hat, das FG aber gleichwohl die Klage als unzulässig abweist, weil das Klageziel (immer noch) nicht erkennbar sei“. 52
5.4 Scheitern an Klageinhaltsformalismus Nach § 65 I FGO muss die Klage u. a. „den Gegenstand des Klagebegehrens“ enthalten. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen, müssen also nicht angegeben werden. Allerdings muss nach § 40 II FGO der Kläger die Rechtsverletzung, wegen welcher er klagt, geltend machen. Unter „geltend machen“ versteht die Rechtsprechung ein „substantiiertes, schlüssiges Darlegen“, m. a. W. eine Begründung – mit Belegen durch Tatsachen zumal. Damit befindet sie sich im Konflikt mit der Sollvorschrift des § 65 I 3 FGO. § 65 I 1 FGO verlangt allerdings die Bezeichnung des „Gegenstands des Klagebegehrens“. 53 Man sollte meinen, dass auch Rechtslaien in der Lage sein müssten, aufgrund der vorgeschriebenen Prozessfürsorge des Gerichts (§ 76 II FGO) den „Gegenstand des Klagebegehrens“ richtig zu bezeichnen. An dieser Mussvorschrift sind aber viele Kläger, auch viele Steuerberater als Bevollmächtigte gescheitert. Mehr noch: Auch unter den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit gibt es über den Begriffsinhalt keinen Konsens. Eine auffällige Divergenz besteht zwischen Finanzgerichten und Bundesfinanzhof. Zahlreiche Urteile der Finanzgerichte sind vom Bundesfinanzhof aufgehoben worden. Der Bundesfinanzhof hat die Anforderungen im Laufe der Zeit gelockert. Zur Konkretisierung kann nun sogar ein bestimmter Klageantrag ausreichen. 54 Dem ist zuzustimmen. In praxi gibt es nicht nur das Rechtsschutzgebot, sondern auch den durch das geltende Recht nicht gedeckten Selbstschutz der Gerichte vor undurchdachten, schlecht oder gar nicht aufbereiteten Klagen, bestehend in übermäßiger „Förmelei“ des Gerichts, auch wohl zu 52 StuW 2007, 109 f. 53 § 65 I 1 FGO hat 1993 den Begriff „Streitgegenstand“ aufgegeben, um das Klagebegehren nicht vom Meinungsstreit über die „richtige“ Streitgegenstandstheorie abhängig zu machen. 54 Nachweise durch P. Brandis, in: Tipke/Kruse (Lfg. Dez. 2009), § 65 FGO Tz. 16.
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dem Zweck, sich mit verwickelten, arbeitsaufwändigen, schlecht vorbereiteten Klagen in der Sache möglichst nicht befassen zu müssen. So verständlich das wäre, es entspräche nicht dem Gesetz. Das Verfahren vor den Finanzgerichten, ein Laienprozess, braucht nicht den abgehobenen Prozessrechtstheoretiker als Richter, der die Bürger mit Hilfe seiner „Theorien“ auflaufen lässt, sondern den am Prozessrechtsgrundrecht des Art. 19 IV GG orientierten Prozessfürsorger. 55 Das Klagebegehren muss nur bezeichnet, es muss nicht begründet werden. Der Kläger muss darlegen, was er begehrt. Indem er das tut, bezeichnet er den „Gegenstand seines Klagebegehrens“. Um sein Klagebegehren auszudrücken, braucht der Kläger kein Experte für Prozesstheorien zu sein; er muss nur in seinen Worten darlegen, was er erreichen möchte, was das Gericht ihm zusprechen soll. Drückt er das in einem bestimmten Antrag aus, so präzisiert er sein Klagebegehren und tut damit schon mehr als er muss. Wer vom Kläger mehr verlangt, verlangt eine Begründung, die § 65 I 3 FGO aber eben nur als Sollvorschrift vorsieht. Das Gericht kann sich allerdings mit einer anderen Vorschrift aus dem Flickwerk der FGO 56 weiterhelfen, nämlich mit § 79b FGO. Danach können dem Kläger auch Fristen gesetzt werden; sie führen, wenn sie ergebnislos verstreichen, aber nicht zur Unzulässigkeit der Klage, denn in § 79b FGO geht es um die Klagebegründung, um ihre Begründetheit. Im Sozialgerichtsprozess tut man sich mit Form und Inhalt der Klage offenbar leichter als im Steuerprozess. 57 5.5 Scheitern an Revisionszugangshürden des Bundesfinanzhofs Mit diesem Thema hat sich Tipke/Kruse-Mitautor R. Seer in seinem Beitrag „Rechtsmittel und Rechtsschutz nach der FGO-Reform“ 58 zu §§ 115 ff. FGO befasst. Da darauf verwiesen werden kann, genügen hier einige zusammenfassende Bemerkungen:
55 Fairerweise ist hier anzumerken, dass es durchaus nicht nur das Bestreben von Richtern gibt, durch strenge Handhabung von Formalien um die Entscheidung in der Sache herumzukommen. J. Schmidt-Troje und Heide Schaumburg werben indirekt geradezu für das Beschreiten des Finanzrechtsweges, indem sie über die günstigen Erfolgsaussichten der Steuerpflichtigen berichten: Mehr als ein Drittel der Klagen vor den FG führte zum Erfolg oder Teilerfolg für die klagenden Steuerpflichtigen (J. SchmidtTroje/H. Schaumburg, Stbg. 2003, 154 ff.). 56 Dazu K. Tipke, Finanzgerichtsunordnung, StuW 1993, 213 ff. 57 S. oben S. 1504 ff. 58 R. Seer, Rechtsmittel und Rechtsschutz nach der FGO-Reform, StuW 2003, 193 ff.
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Auch der Zugang zur Revisionsinstanz darf nicht auf unzumutbare, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigende Weise erschwert werden, 59 weder vom Gesetzgeber noch von Gerichten. „Gerade der Richter (das Gericht) muss den Justizgewährleistungsanspruch einschließlich der Justizgrundrechte beachten. Verfahrensvorschriften sind, soweit die Auslegungsmöglichkeiten reichen, in einem Sinne auszulegen, dass ein Widerspruch mit den Grundsätzen der Rechtsmittelklarheit und -sicherheit vermieden wird. Sieht die Prozessordnung die Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsmittels vor, darf das Rechtsmittelgericht diese Möglichkeit nicht dadurch unterlaufen, dass es den Umfang der Prüfung in einer Weise beschränkt, dass die bestehende Rechtsschutzmöglichkeit um ihren wesentlichen Sinn gebracht wird“. 60 „Deshalb darf das Rechtsmittelgericht auch keine prozessualen ‚Stolperdrähte‘ ziehen, keine ‚Zulässigkeitsfallen‘ und keine unverhältnismäßigen Anforderungen z. B. an die Darlegung der Gründe für die Zulassung eines Rechtsmittels . . . stellen“. 61 Auch das Revisionsverfahren hat es mit Formen und Fristen zu tun, auch mit dem Unterschriftenproblem 62 und der traditionell streng gehandhabten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. 63 Da diese Problematik noch ausführlich erörtert werden wird, kann es damit hier sein Bewenden haben. Die Haupthürde besteht im Recht der Nichtzulassungsbeschwerde und im Revisionsrecht in den Begründungsanforderungen. Zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde müssen die Zulassungsvoraussetzungen des § 115 II FGO dargelegt werden (§ 116 III 3 FGO). Ob aber eine Sache „grundsätzliche Bedeutung“ hat, ob die „Fortbildung des Rechts“ oder „die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung“ eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert, ist nur schwer sicher zu konkretisieren. Offenbar sind viele Anwälte und Steuerberater auch mit der Aufgabe überfordert, dem Bundesfinanzhof eine auf die Darlegung der Zulassungsgründe beschränkte, klar strukturierte Begründung auf hohem Niveau zu liefern. Dass im Jahre 2000 nicht weniger als 46,6 % der Nichtzulassungsbeschwerden als unzulässig verworfen wurden, spricht für eine solche Überforderung. Die Überforderung dürfte auch auf zu hohen Anforderungen beruhen. 59 Hinweis auch auf BVerfGE 49, 329 (341); 74, 228 (234); BVerfGE 78, 88 (100; 88, 118, 124). 60 R. Seer, in: Tipke/Kruse, Vor § 115 FGO (Lfg. 114) Tz. 1 ff. unter Hinweis auf Gerichtsentscheidungen. S. auch schon ders., StuW 2001, 3 (10); ders., StuW 2003, 193 (194). 61 R. Seer, in: Tipke/Kruse, Vor § 115 FGO (Lfg. 114) Tz. 3 a. E. 62 R. Seer, in: Tipke/Kruse, § 116 FGO (Lfg. 102) Tz. 26 f.; ders., in: Tipke/ Kruse, § 120 FGO (Lfg. 105) Tz. 44–52. 63 R. Seer, in: Tipke/Kruse, § 118 FGO (Lfg. 105) Tz. 97; ders., in: Tipke/Kruse, § 120 FGO Tz. 43, 79 f.
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Die (Nicht-)Zulassungspraxis – so R. Seer – vermittle Außenstehenden leider den Eindruck einer „Rechtsschutzverweigerungsinstanz“. 64 Das Recht der Nichtzulassungsbeschwerde sei zu einem „StolperdrahtRecht“ verkommen. 65 „Es verwundert nicht“ – so R. Seer an anderer Stelle 66 –, „dass die Hälfte der Beschwerden bereits an den Zulässigkeitshürden scheitert“. Ein interessantes Experiment bestünde darin, BFH-Richter für einige Wochen die Rolle der Prozessvertreter einnehmen zu lassen. Sie sähen sich dann Steuerpflichtigen ausgesetzt, die erst in der dritten oder gar vierten Woche nach Zustellung des finanzgerichtlichen Urteils zu ihnen kommen, um dagegen Rechtsmittel einzulegen. Umringt von Aktenbergen anderer, ganz unterschiedlicher, ebenfalls drängender Vorgänge müssten sie eine filigrane Exegese über die grundsätzliche Bedeutung oder Divergenz innerhalb kürzester Zeit 67 fallnah fertigen und akribisch den Verfahrensfehler darlegen. „Ich brauche“ – so R. Seer – „kein Prophet zu sein, um die Prognose zu wagen, dass auch nicht wenige aus den Reihen der BFHRichter scheitern würden . . . Die veränderte Fassung der Zulassungsgründe in § 115 II FGO n. F. bietet dem BFH nunmehr Gelegenheit, seine überzogenen Anforderungen an das Begründungsniveau zu mäßigen“. 68 Auch die Begründung der Revision selbst (§ 120 II, III FGO) kann besondere Schwierigkeiten bereiten. Wer nicht ständig mit Revisionsverfahren zu tun hat, sich auch nicht gründlich in das Revisionsbegründungsrecht einliest, 69 muss mit seinem Scheitern an den Begründungsvoraussetzungen rechnen. Aber auch das Einlesen hilft nicht immer. Damit nicht der Eindruck entsteht, dass „die“ Richter, dass alle Richter formalistische Prozesshürdenbauer seien, erscheint es mir angezeigt, einschlägige Ausführungen des Vorsitzenden Richters am BFH Heinz-Jürgen Pezzer wörtlich in Kursivdruck wiederzugeben: 70 „Auch in der Rechtsprechung des BFH zum Revisionsrecht ist zum Teil eine fragwürdige Handhabung von Verfahrensvorschriften zu beobachten, die zu einer bedenklichen Deformation des Rechtsschutzes führt. Dies gilt insbeson64 S. auch R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang17, § 22 Rz. 230. 65 R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang17, § 22 Rz. 254; ders., in: Tipke/Kruse, § 116 FGO (Lfg. 102) Tz. 3 („Die Rechtsprechung entnimmt § 116 III 3 weiterhin sehr hohe Anforderungen an die Begründung der NZB, die auch bei äußerster Sorgfalt den Ausgang der NZB nicht selten als kaum mehr kalkulierbar erscheinen lassen.“), 29; ders., StuW 2001, 10 ff.; ders., StuW 2003, 193 (203, 204). 66 R. Seer, StuW 2001, 11 re. Sp. 67 § 116 III FGO n. F. hat inzwischen für eine angemessene Frist gesorgt. 68 R. Seer, StuW 2001, 11 re. Sp. 69 Dazu R. Seer, in: Tipke/Kruse, § 120 FGO (Lfg. 105) Tz. 65–129. 70 StuW 2007, 110 f.
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§ 32 Steuerrechtsschutz durch Finanzgerichtsbarkeit dere für die Überspannung von verfahrensrechtlichen Darlegungsanforderungen für den Zugang zum BFH. Bekanntlich schreibt § 120 Abs. 3 FGO vor, dass die Revisionsbegründung neben den Revisionsanträgen auch die Revisionsgründe angeben muss, d. h. die bestimmte Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt, und bei Verfahrensfehlern die Tatsachen, die den Mangel ergeben. Und § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO schreibt vor, dass in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde die Zulassungsgründe dargelegt werden müssen. Insbesondere das auf den ersten Blick recht unscheinbar klingende Wörtchen ‚darlegen‘ hat im Laufe der Zeit eine ungeahnte Eigendynamik entwickelt. Es gibt heute eine hohe Schule der Darlegungskunst, die sich zu einem ausgeprägten ‚Stolperdraht-Recht‘ verselbständigt hat. Auch ausgewiesene Experten aus den steuerberatenden Berufen schaffen es oft nicht, die Darlegungsanforderungen zu erfüllen. Dies ist der wesentliche Grund dafür, dass ein recht großer Teil der Nichtzulassungsbeschwerden – in 2006 war es immerhin ein Anteil von einem Drittel – als unzulässig verworfen wird. Diese rigorose Handhabung der Darlegungsanforderungen führt zu der Frage, welchem Zweck die gesetzlich normierte Darlegungspflicht eigentlich dient. Die Antwort ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte: Die in der FGO geregelten Darlegungsanforderungen entsprechen dem Vorbild des § 554 Abs. 3 ZPO. Diese Vorschrift ist gleichsam die Mutter aller Darlegungspflichten. Der dort geregelte Begründungszwang für die Revision im Zivilprozess wurde seinerzeit (durch die ZPO-Novelle 1905) eingeführt, um einem beim Reichsgericht aufgetretenen prozessualen Missstand zu begegnen. Der Anlass bestand darin, dass viele Anwälte beim Reichsgericht ohne jede Begründung Revisionen einlegten und diese häufig erst kurz vor dem Termin zurücknahmen, wenn der Senat des Reichsgerichts sich schon in den Fall eingearbeitet hatte. Durch das Begründungserfordernis sollte die Vorarbeit der Richter erleichtert werden. Im Gesetzgebungsverfahren ging man indes davon aus, dass die durch den Begründungszwang erreichbare Erleichterung nicht sehr erheblich sei, weil der Revisionsrichter unter allen Umständen die Akten durchsehen müsse. Immerhin könne die Bestimmung auf eine sorgfältigere Bearbeitung der Revision durch den Vertreter der Partei hinwirken und dadurch zu einer gewissen Erleichterung für den zur Entscheidung berufenen Senat bei der Prüfung der Revision führen. In der Handhabung der Vorschrift könne man aber möglichst weitherzig verfahren, damit ein allzu großer Formalismus und Härten vermieden würden. Zweck der verfahrensrechtlichen Darlegungsanforderungen ist es also, den Prozessstoff aufzubereiten und damit die Prüfung durch das Revisionsgericht zu erleichtern, nicht hingegen, die revisionsgerichtliche Nachprüfung zu unterbinden. Die Begründungspflicht sollte lediglich verhindern, dass Revisionen ohne jegliche Begründung oder mit bloß floskelhafter Begründung eingelegt werden, sie sollte aber gerade keine sachlich nicht gebotenen Formalerfordernisse aufstellen. Daraus folgt: Immer dann, wenn aus der Revisionsoder Beschwerdebegründung erkennbar ist, worum es dem Steuerpflichtigen geht, dann muss der BFH sich mit der Sache befassen, d. h. im Revisionsverfahren das FG-Urteil auf Rechtsfehler überprüfen und im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde prüfen, ob der geltend gemachte Grund für die Zulassung der Revision tatsächlich gegeben ist. Nur ein solches Verständnis der prozessualen Zugangsschranken entspricht auch den Wertungen des Art. 19 Abs. 4 GG.
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Formelle Stolpersteine im Steuerprozess Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat indes in der Vergangenheit einen anderen Verlauf genommen. Schon das Reichsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1915, und auch in der Folgezeit, einer strengen Handhabung der Begründungsanforderungen das Wort geredet, weil die entsprechenden Vorschriften das Reichsgericht entlasten sollten. Dabei lässt sich, wie die oben dargestellte ursprüngliche Gesetzesbegründung erweist, ein so weitreichender pauschaler Entlastungszweck dem Gesetz mitnichten entnehmen. Auch der BFH hat später immer wieder den Entlastungszweck der Begründungsanforderungen hervorgehoben und seine Rechtsprechung dazu im Laufe der Zeit in einer langen Kette aufeinander Bezug nehmender Entscheidungen allmählich immer mehr verschärft. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob es eine Rechtsgrundlage für das Bemühen der Gerichte gibt, sich selbst durch die zweckwidrig verschärfte Handhabung von Verfahrensvorschriften zum Nachteil der Prozessbeteiligten zu entlasten? Gemessen an den Wertungen des Art. 19 Abs. 4 GG ist diese Frage zu verneinen. Zur Entlastung der Gerichte ist, wenn sie denn tatsächlich notwendig ist, allein der Gesetzgeber berufen. 71 Insgesamt dürfte daher die Zeit reif dafür sein, den Trend zur Überspannung der Darlegungsanforderungen vor Gericht umzukehren. Aus dem verfassungsrechtlichen Gebot, wirksamen Rechtsschutz zu gewähren (Art. 19 Abs. 4 GG), ergibt sich nämlich eine Pflicht der Fachgerichte, Darlegungsanforderungen, von denen die Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes abhängt, nicht sachwidrig zu überspitzen. Dem Richter ist es aufgrund des Rechtsstaatsprinzips verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Schranken den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen. Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die dem Bürger den Zugang zum Gericht eröffnet. Es ist grundsätzlich Aufgabe des Gerichts, soweit möglich gem. § 76 Abs. 2 FGO auf sachdienliche Ausführungen hinzuwirken und eine Entscheidung in der Sache zu treffen, nicht aber, den Zugang zur Revisionsinstanz zu unterbinden. Manche Senate des BFH haben, was die Darlegungsforderungen in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde anbelangt, den Trend bereits umgekehrt. Dadurch kommt es aber – wie die Statistiken zeigen – nicht häufiger zur Zulassung der Revision, sondern viele Nichtzulassungsbeschwerden werden 71 „Anderen Berufsgruppen würde man solche Anstrengungen zur Selbstentlastung kaum nachsehen. Man stelle sich etwa einen Notarzt vor, der einen Patienten nur dann zu untersuchen bereit ist, wenn dieser nicht nur sagt, wo es ihm weh tut, sondern wenn er die Art der Erkrankung mit der zutreffenden medizinischen Terminologie und unter exakter Angabe der Fundstelle im klinischen Wörterbuch ‚darlegt‘. Diese Verantwortung hat der Gesetzgeber in der Vergangenheit gerade für die Finanzgerichtsbarkeit immer wieder wahrgenommen, wie das VGFGEntlG, das BFHEntlG und die wiederholten Änderungen der FGO zeigen. Angesichts der dargestellten jahrzehntealten Krankengeschichte des Verfahrensrechts erfordert dieser Umdenkprozess allerdings Zeit und Geduld. Generationen von jungen Richtern sind von älteren erfahrenen Kollegen dahin erzogen worden, dass sich richterliche Professionalität besonders im virtuosen Einsatz verfahrensrechtlicher Rechtsschutzhindernisse erweist.“ (H.-J. Pezzer, StuW 2007, 111 Fußn. 70–72).
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§ 32 Steuerrechtsschutz durch Finanzgerichtsbarkeit nun nicht mehr als unzulässig verworfen, sondern als unbegründet zurückgewiesen. Für die Betroffenen bedeutet dies einen wesentlichen Unterschied: Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde wegen unzureichender Darlegung als unzulässig verworfen, so entsteht der Eindruck, die Revision wäre möglicherweise zugelassen worden, wenn sich der Prozessbevollmächtigte mit der Darlegung mehr Mühe gegeben hätte. In aller Regel ist dieser Eindruck allerdings falsch, weil ein Grund für die Zulassung der Revision ohnehin nicht vorlag. Durch die Verwerfung der Beschwerde als unzulässig treibt das Gericht einen Keil zwischen den Steuerpflichtigen und seinen Bevollmächtigten und löst womöglich in nicht wenigen Fällen Regressforderungen aus. Eine solche gerichtliche Entscheidungspraxis ist verfehlt, wenn für das Gericht erkennbar ist, dass in der Sache tatsächlich kein Grund für die Zulassung der Revision besteht. Dann sollte man das auch so in der Entscheidung sagen und damit das tun, was die richterliche Aufgabe ist: wenn irgend möglich, eine Antwort in der Sache zu geben.“. 72
Besser als H.-J. Pezzer, Vorsitzender Richter eines BFH-Senats, kann man es nicht ausdrücken. Zuviel Hoffnung sollte man sich allerdings nicht machen. Wer die Macht hat, sich von Arbeit zu entlasten, pflegt davon Gebrauch zu machen. Das gilt eben auch für viele Richter. Es gilt leider auch oder erst recht für die Verfassungsrichter (s. S. 1513, 1556 ff.). Die Verfahrensaufsicht über untergeordnete Gerichte auszuüben scheint einfacher zu sein als sich selbst eines prohibitiven Entlastungs- und Bequemlichkeitsformalismus zu enthalten.
6. Insbesondere: Scheitern an Ausschlussfristen und abgelehnter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 6.1 Ausschlussfristen In Steuergesetzen und Nebengesetzen sowie in der Finanzgerichtsordnung gibt es zahlreiche Ausschlussfristen. Sie können das materielle oder das formelle Recht betreffen. Diese Fristen sind nicht nur dann versäumt, wenn vor Fristablauf gar kein Antrag gestellt worden ist, sondern auch wenn die Antragsform bis zum Fristablauf nicht gewahrt wird. Regelmäßig muss ein amtlich vorgeschriebenes Formular verwendet und unterschrieben werden, und es muss dieses Formular innerhalb der Frist der zuständigen Behörde zugehen. Ausschlussfristen des formellen Rechts betreffen z. B. den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 II, III AO; § 56 II, III FGO), den Einspruch (§ 355 AO), die Klage (§ 47 FGO), den Antrag auf mündliche Verhandlung (§ 90a II FGO), die Nichtzulassungsbeschwerde (§ 116 II, III FGO), die Revision (§ 120 I FGO) und ihre 72 H.-J. Pezzer, StuW 2007, 110 f.
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Ausschlussfristen, Ablehnung der Wiedereinsetzung
Begründung (§ 120 II FGO) sowie die Anhörungsrüge (§ 133a II FGO) und die Erinnerung (§ 149 II FGO). Fristen schränken die Rechte des Bürgers ein und sind daher rechtfertigungsbedürftig. Sie sind gerechtfertigt, wenn sie geeignet und erforderlich sind, den ordnungsmäßigen Gang des Verfahrens zu gewährleisten, oder wenn sie aus Gründen der Rechtssicherheit für Bestandskraft sorgen sollen und wenn sie angemessen lang sind. Diese Voraussetzungen liegen regelmäßig vor. Wird eine Ausschlussfrist versäumt, kommt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht. 6.2 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 6.21 Verfassungsrechtliche Notwendigkeit der Wiedereinsetzungsmöglichkeit Die Wiedereinsetzung in unverschuldet versäumte gesetzliche Fristen ist zum Zwecke der Rechtsschutzgewährleistung (Art. 19 IV GG) und der Gewährleistung rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) ein grundlegendes Erfordernis eines rechtsstaatlichen Verfahrens; sie ist kein „Gnadenakt“. Rechtsschutz und Recht auf Gehör greifen nicht mehr, wenn der Rechtsschutz und das Recht auf Gehör vor Gericht schon durch (versäumte) Fristen im Verwaltungs- oder Besteuerungsverfahren oder im Gerichtsverfahren abgeschnitten werden. Allerdings kommt auch ein rechtsstaatliches Verfahren im Interesse der Rechtssicherheit (die auch in der Rechtsstaatlichkeit angelegt ist) nicht ohne gesetzliche Fristen aus. Da auch die Rechtsrichtigkeit, die durch Rechtsschutz und rechtliches Gehör gewährleistet werden soll, nicht vernachlässigt werden darf, muss eine Balance zwischen Rechtssicherheit und Rechtsrichtigkeit gefunden werden. Einerseits müssen sachlich gerechtfertigte gesetzliche Fristen beachtet werden; andererseits darf die Rechtsrichtigkeit nicht schon dann geopfert werden, wenn eine gesetzliche Frist unverschuldet versäumt worden ist. Daher muss bei unverschuldeter Fristversäumung grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Es ist also nicht nur zulässig, sondern verfassungsrechtlich geboten, für die Fälle unverschuldeter Fristversäumung Wiedereinsetzung zuzulassen. 6.22 Gegen übermäßige Fristenstrenge Der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regelnde § 110 AO (ebenso § 56 FGO) gehört zu den besonders oft angewendeten Vorschriften der Abgabenordnung (der Finanzgerichtsordnung). Das hängt damit zusammen, dass Behörden und Gerichte insbesondere bei der Verschuldensprüfung außerordentliche Strenge walten lassen. Diese Strenge entspricht der Tradition deutscher Behörden und Ge1519
§ 32 Steuerrechtsschutz durch Finanzgerichtsbarkeit
richte, und zwar durchaus nicht nur der Finanzbehörden und der Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit. Etwa 90 % der Wiedereinsetzungsanträge haben keinen Erfolg. Das spricht indiziell gegen eine angemessene Ausbalanciertheit von Rechtssicherheit und Rechtsrichtigkeit. Gibt ein Finanzgericht entgegen dem Standpunkt des Finanzamts gelegentlich einem Wiedereinsetzungsantrag statt, entschließt das Finanzamt sich nicht selten zur Anrufung des Bundesfinanzhofs statt zur endlichen Befassung mit der Sache, m. a. W. zur Prüfung, was rechtsrichtig ist. 73 Das Rechtsgefühl der Bürger wird dadurch auch deshalb strapaziert, weil das Gesetz ihnen i. d. R. nur eine Monatsfrist zur Verfügung stellt, während der Staat Nachteile nur erleidet, wenn seine Behörden Rechtsmittelfristen oder die Verjährungsfrist versäumen. Obwohl gesetzliche Ausschlussfristen nicht den Zweck haben, überlastete Behörden und Gerichte von der Befassung mit der Sache zu entlasten, kann personelle Überbelastung faktisch zu einer solchen Entlastungsmaßnahme verführen. Zu bedenken ist indessen immer, dass die Ablehnung der Wiedereinsetzung dazu führen kann, dass Geldansprüche oder verfahrensrechtliche Rechte verloren gehen. Was in der Sache auf dem Spiel steht, wird aber leider nur zu oft obrigkeitlich, wird gern formaljuristisch-nüchtern verdrängt. Auch wenn Bürger einen Antrag auf eine Leistung stellen, etwa auf eine Investitionszulage, messen die Finanzbehörden Formen und Fristen große Bedeutung bei. Sie prüfen nicht selten spät, aber i. d. R. akribisch, ob das vorgeschriebene Formular korrekt ausgefüllt, ordnungsmäßig unterschrieben und so innerhalb der gesetzlichen Frist eingereicht worden ist. Leichthin wird der Bürger so zu oft um seinen Anspruch gebracht. Förmlichkeit geht zu oft vor Rechtsrichtigkeit. Beispiel: Eine GmbH beantragte am 22. 9. 1993 Investitionszulage. Das Anschreiben (Begleitschreiben), nicht aber das amtliche Antragsformular unterschrieb ein einzelvertretungsberechtigter Geschäftsführer. Dem Anschreiben beigefügt wurden das ausgefüllte Antragsformular, eine Aufstellung der angeschafften Geräte sowie Ablichtungen der Rechnungen. Im unterschriebenen Begleitschreiben wurde auf das Antragsformular und die beigefügten Antragsunterlagen hingewiesen. Das Finanzamt wies den Antrag nach mehr als einem halben Jahr, nämlich am 8. 4. 1994 zurück, da das amtliche Formular nicht unterzeichnet worden war. Am 31. 5. 1994 wurde die Unterschrift auf dem Formular nachgeholt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Nunmehr lehnte das Finanzamt den Antrag mit der Begründung ab, die angeschafften Geräte seien nichtselbständige Gebäudebestandteile. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das FG Berlin entschied am 17. 12. 1998, es reiche nicht aus, wenn nur das Anschreiben, nicht aber das amtliche Antragsformular unterschrieben werde. Die angeschafften Gegenstände seien im Übrigen 73 S. z. B. den Fall BFH BStBl. II 2001, 158, aufgehoben durch Beschl. der 3. Kammer des I. Senats des BVerfG BStBl. II 2002, 835. § 56 V FGO war in diesem Fall nicht anzuwenden.
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Ausschlussfristen, Ablehnung der Wiedereinsetzung nicht in der Betriebstätte verblieben. Auf die Revision entschied der III. BFHSenat am 13. 12. 2001, also mehr als 8 Jahre nach der Antragstellung: Ein Antrag auf Investitionszulage könne ausnahmsweise auch ohne eigenhändige Unterschrift auf dem Antragsformular wirksam gestellt werden, wenn sich aus den dem Antrag beigefügten Unterlagen eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Äußerungswillen des Anspruchsberechtigten ergebe. Die Unterschrift lasse sich „eindeutig aus der körperlichen Vorlage des die Unterschrift tragenden Begleitschreibens entnehmen.“ Der im Begleitschreiben „vollzogene eigenhändige Namenszug“ lasse erkennen, „dass die Einreichung des Antrags durch einen unbefugten Dritten gänzlich unwahrscheinlich“ sei. Zur Klärung der Sachfrage wurde der Fall an das Finanzgericht zurückverwiesen. 74
Damit hatte die Vernunft nach mehr als 8 Jahren über sinnlose Förmelei gesiegt. Ohnehin kann durch einen Namenszug nicht sichergestellt werden, dass der Unterschreibende der Berechtigte ist; Unterschriften können auch imitiert werden. Vor allem aber: Was soll ein Bürger, dem man vorwirft, er habe den Antrag erst kurz nach Ablauf der Monatsfrist korrekt unterschrieben, denken, wenn er erlebt, dass Behörden und Gerichte 8 Jahre benötigen um klarzustellen, ob die Unterschrift zu akzeptieren sei oder nicht. Nicht der Bürger, sondern eher Behörden und Gerichte haben hier den ordnungsmäßigen Gang des Verfahrens gestört. In Fällen, in denen die Zulässigkeit eines Antrags zweifelhaft ist, die Sache selbst aber zweifellos keinen Erfolg haben kann, bietet es sich an zu entscheiden: „Es kann dahingestellt bleiben, ob der Antrag rechtzeitig ordnungsmäßig unterschrieben worden ist, er ist jedenfalls in der Sache unbegründet“. 75 Eine solche Entscheidung überzeugt besser, sorgt besser für Rechtsfrieden als Unterschriftenformalismus, der nur den Verdacht auslöst, es gehe um die Errichtung formaler Barrieren zur Abwehr von Arbeit mit der Prüfung des sachlichen Anspruchs. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt mäßigenden Einfluss auf die übermäßig strenge Praxis von Behörden und Fachgerichten ausgeübt und überspannte Entscheidungen, die einseitig zu Lasten der Bürger die Rechtssicherheit betonen und die Rechtsrichtigkeit leichthin aufopfern, nicht zugelassen. 76 6.23 Der überanstrengte Verschuldensbegriff Die Wiedereinsetzung hängt davon ab, dass der Betroffene „ohne Verschulden verhindert“ war, eine gesetzliche Frist einzuhalten (§ 110 I AO; § 56 I FGO). 74 BFH BStBl. II 2002, 159. 75 Wie hier Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 358 AO Tz. 42–45. 76 Nachweise in StuW 2004, 11 Fußn. 39.
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§ 32 Steuerrechtsschutz durch Finanzgerichtsbarkeit
„Verschulden“ ist ein Wertungsbegriff, den jeder nach seinem Rechtsgefühl auszufüllen pflegt. Die Rechtsprechung der Fachgerichte – nicht nur der Steuergerichte – nimmt übereinstimmend an, dass Verschulden – Vorsatz und Fahrlässigkeit umfassend – vorliege, wenn der Bürger oder sein Bevollmächtigter die gebotene und nach den Umständen zumutbare Sorgfalt außer Acht lasse, d. h. diejenige Sorgfalt, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Bürger geboten und zumutbar sei. Wie Gerichtsurteile zeigen, lässt sich auch mit einer solchen Formel unterschiedlich streng umgehen. Etliche Urteile des Bundesfinanzhofs verlangen „äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt“. 77 Überhaupt gehen verschiedene Beamte und Richter verschieden streng mit den Begriffen „geboten“ und „zumutbar“ um. Es beginnt bei der Extremansicht, dass jemand, der eine gesetzliche Frist versäumt, grundsätzlich schuldhaft handele, dass Tatbestandsmäßigkeit und Schuld also grundsätzlich zusammenfallen, es sei denn, es läge höhere Gewalt vor. Solche Grundeinstellung findet man auch bei gewissen Polizisten und Staatsanwälten. Der Einfluss des Subjektiven lässt sich nur mit verfassungsrechtlichen Maßstäben zurückdrängen. Will man die Realisierung „richtigen materiellen Rechts“ nicht übermäßig oft verfehlen, so darf das – wie das Verfassungsgericht wiederholt entschieden hat – nicht durch „überspannte“ Fristenpedanterie vereitelt werden. Auch zur Beurteilung des Verschuldens bringt das Verfassungsgericht maßstäblich immer wieder Art. 19 IV und 103 I GG ins Spiel. Die Anforderungen an die Wiedereinsetzung sind daher im Lichte des Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes und des Rechts auf Gehör zu verstehen. Obwohl Behörden und Gerichte an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind, haben sie die traditionellen Gleise äußerster Fristenstrenge noch nicht durchgehend verlassen. Nicht wenige Entscheidungen erwecken noch immer den Eindruck, das Schicksal des deutschen Rechtsstaates hänge in erster Linie von der peniblen, pedantischen Einhaltung gesetzlicher Fristen ab. Doch wäre das eine Fehlevaluation. Einerseits muss verhindert werden, dass durch verantwortungsloses, pflichtvergessenes, gegenüber Staatsbürgerpflichten geringschätziges, gleichgültiges oder gar verächtliches Verhalten der ordnungsmäßige Gang der Behördenarbeit beeinträchtigt wird. Andererseits kann es nicht im Sinne des Rechtsstaats liegen, Bürger, die als Laien die Rechtsbehelfsbelehrung missverstehen, oder Bürger, die die Frist in-
77 In jüngerer Zeit noch BFH BStBl. II 1991, 826 (828 a. E.), BFH/NV 1996, 193; BFH/NV 1999, 499; BFH/NV 2001, 1010; FG BW EFG 1998, 703.
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Ausschlussfristen, Ablehnung der Wiedereinsetzung
folge Zerstreutheit, Vergesslichkeit, Abgelenktheit, Unkonzentriertheit versäumen, um ihr sachliches Recht zu bringen. 78 Es soll dem Verschuldensbegriff entsprechen, dass schuldhaft handelt, wer in gesetzlichen Fristsachen nicht die gleiche Sorgfalt anwendet wie in seinen eigenen Angelegenheiten, Berufs- oder Privatangelegenheiten. Indessen agiert kein Mensch in seinem Berufs- oder Privatleben permanent mit äußerster Sorgfalt. Jeder ist einmal abgespannt, unkonzentriert, unpässlich, abgelenkt, zerstreut. Er kann daher etwas versäumen, verkennen, verlieren, verlegen. 79 Auch bei der Berufsausübung bleibt es nicht aus, dass Flüchtigkeitsfehler und Irrtümer unterlaufen. Man darf nicht um gesetzlicher Fristen willen von Menschen Roboterhaftes verlangen. Niemand ist in der Lage, alles, was in seinem Leben und um ihn herum passiert und was ihn emotionalisiert, auszublenden und sich nur auf Fristen und andere Formalien zu konzentrieren. Was aber jedem passieren kann, sollte niemandem zum Vorwurf gemacht werden, als Mangel an gebotener und zumutbarer Sorgfalt angekreidet werden. Nur „Splitterrichter“ verdrängen das. Da selbst bürokratisch geschulte Beamte und Richter Verfahrensfehler machen (wie einschlägige Urteile zeigen), 80 sollten sie von Angehörigen nichtbürokratischer Berufe nicht mehr verlangen als von sich selbst. Dass Bürger, die keine Berufsbürokraten sind, bürokratischen Angelegenheiten nicht so viel Gewicht beizumessen pflegen wie Beamte und Richter, ist verständlich. Daher ordnet § 89 I AO eine Verfahrensfürsorgepflicht an. Laien können in der Behördensprache abgefasste Texte missverstehen, ohne dass sie deswegen einen Vorwurf verdienen. Die Auffassung, dass Laien-Steuerpflichtige sich an einen Steuerberater zu wenden hätten, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Laien können sich vertreten lassen, müssen es aber nicht (s. § 80 I AO). Nicht nur das Besteuerungsverfahren, auch der Prozess vor dem Finanzgericht ist nach geltendem Recht ein Laien-Verfahren. Weder Finanzbehörden noch Finanzgerichte noch Strafgerichte sind daher berechtigt, Steuerpflichtigen vorzuwerfen, sie hätten es unterlassen, sich von einem Bevollmächtigten vertreten zu lassen.
78 Erst recht begründen Fehler, die üblicherweise vorkommen und mit denen immer gerechnet werden muss, keine grobe Fahrlässigkeit. 79 Vergessen, Irrtümer und bloße Nachlässigkeiten geschehen auch nicht grob fahrlässig. 80 Sonst bräuchte es die Revision, die Gerichtsbeschwerde und die Gegenvorstellung (§ 155 FGO i. V. mit § 321a ZPO n. F.) nicht zu geben. Legen Finanzämter Nichtzulassungsbeschwerde oder Revision ein, so unterlaufen auch ihnen formelle Fehler. Die Finanzämter legen gegenüber den Steuerpflichtigen oft einen Verschuldensmaßstab zugrunde, den sie nicht selten selbst nicht einhalten.
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In Österreich werden befriedigende Ergebnisse dadurch erreicht, dass § 308 I 2 öBAO die Wiedereinsetzung nicht an einem „minderen Grad des Verschuldens“ scheitern lässt. Art. 133 III DBG Schweiz macht die so genannte „Fristenwiederherstellung“ davon abhängig, dass „erhebliche Gründe“ den Steuerpflichtigen an der rechtzeitigen Einreichung verhinderten. M. Zweifel widmet im Kommentar zum schweizerischen Steuerrecht 81 der „Fristenwiederherstellung“ Erläuterungen von kaum mehr als einer Seite, woraus wohl geschlossen werden kann, dass mit Fristen nicht so pedantisch umgegangen wird wie in Deutschland. Durch bloße Aufgabe der tradierten Grundeinstellung ließe sich in Deutschland das Gleiche erreichen wie in Österreich und der Schweiz. Man müsste nur aufhören, in der Fristwahrung und Fristkontrolle sowie in der Beachtung anderer Formalien die Dominante des Juristischen zu sehen, so dass die richtige Behandlung der Sache grundsätzlich hinter formaler Pedanterie zurückzutreten habe. Trifft die Behörde ein Mitverschulden, ohne welches es nicht zur Fristversäumung gekommen wäre, ist Wiedereinsetzung zu gewähren, so wenn die unzuständige Behörde eine Schrift nicht oder erst schuldhaft-verzögert weiterleitet 82 oder wenn sie Formalien, etwa einen Unterschriftsmangel, nicht alsbald beanstandet. 6.24 Exemplarische Verschuldens-/Nichtverschuldensfälle 6.241 Urlaub und Reisen Nach der älteren steuerlichen Rechtsprechung handelten Steuerpflichtige schuldhaft, wenn sie keinen Vertreter bestellten oder dafür sorgten, dass Zustellungen sie erreichten; das sollte insbesondere für Gewerbetreibende gelten. Der Untertanen-Bürger sollte auch im Urlaub und auf Reisen stets für die Behörden parat sein, ständig an die Bürokratie, insbesondere an die mögliche Versäumung von Ausschlussfristen denken müssen. Gemessen an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war diese Einstellung überspannt. Schon 1969 hatte das Verfassungsgericht entschieden: „Wer eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend – z. B. . . . während einer dreiwöchigen Urlaubsreise – nicht benutzt, braucht für die Zeit seiner Abwesenheit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen. Der Staatsbürger muss damit rechnen können, dass er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalten wird, falls ihm während dieser Zeit eine Strafverfügung durch Niederlegung bei der Post zugestellt wird und er aus Unkenntnis dieser Ersatzzustellung die Einspruchsfrist 81 M. Zweifel, Kommentar zum Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer, Basel u. a. 1999, Art. 133 DBG Rz. 17–23. 82 BVerfG BStBl. II 2002, 835.
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Ausschlussfristen, Ablehnung der Wiedereinsetzung versäumt. Das gilt freilich nicht, wenn ihm anderes Verschulden zur Last gelegt werden kann, wenn er also z. B. die Abholung nach dem Urlaub vernachlässigt oder sich einer erwarteten Zustellung entziehen wollte“. 83
Wer sich während des Urlaubs nicht um behördliche Fristsachen – es muss sich nicht um Strafsachen, kann sich auch um Steuersachen handeln – kümmert, verletzt grundsätzlich keine Sorgfaltspflichten. Nach Möglichkeit sollte vermieden werden, mit dem Bürger darüber zu rechten, wie lange er ohne Rücksicht auf die Behörden Urlaub machen darf und welche Vorkehrungen er bei einem überdurchschnittlich langen Urlaub treffen muss, m. E. auch dann keine, wenn mit dem Zugang von Fristsachen zu rechnen war. Der Bürger sollte ungestört seinen Urlaub machen dürfen, nicht gezwungen sein, den Urlaub abzubrechen oder im Urlaub Einsprüche oder Anträge zu formulieren. Mit der Berufung auf die Rechtssicherheit lässt sich der „Eingriff in den Urlaub“ nicht rechtfertigen, zumal Behörden und Gerichte oft viel längere Erledigungsfristen benötigen als die Frist eines Urlaubs. Steuerpflichtige, die Geschäftsreisen unternehmen, sind heutzutage durch Handy oder E-Mail ständig zu erreichen. Da die Geschäftsreise, anders als häufig der Urlaub, nicht der Entspannung oder Erholung dient, sind Urlaub und Geschäftsreise m. E. nicht ohne weiteres vergleichbar. Besonders wenn die Abwesenheit von der Wohnung zur Regel wird, muss der Geschäftsreisende m. E. dafür sorgen, dass Behördenpost ihn oder einen Vertreter erreicht. 6.242 Verspätete Weiterleitung unzuständiger an zuständige Behörde Grundsätzlich sollte der Steuerpflichtige nach älterer Rechtsprechung das Risiko tragen, wenn er einen Antrag oder Rechtsbehelf bei einer unzuständigen Behörde anbrachte und diese das Schriftstück nicht rechtzeitig an die zuständige Behörde weiterleitete oder weiterleiten konnte. Auch diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht in folgendem Fall nicht gebilligt: Gegen A war am 23. 3. 1995 ein Haftungsbescheid ergangen. Der mit der Sache befasste Bevollmächtigte diktierte und unterschrieb den Einspruch, überließ die Adressierung und Absendung aber der Kanzleikraft. Diese adressierte den Einspruch nicht an das Finanzamt, das den Haftungsbescheid erlassen hatte (FA H), sondern an das Finanzamt für Strafsachen und Steuerfahndung (FA St), das Ermittlungen zur Höhe der Steuer und des Haftungsbetrages angestellt hatte und allein im Computer der Kanzlei gespeichert war. Der Bevollmächtigte unterschrieb den Einspruch, übersah aber die unzutreffende Adressierung. Das FA St. nahm den Einspruch – angeblich in der Annahme, es handle sich um eine Information – zu den Akten, statt ihn zu lesen und an 83 BVerfGE 25, 158.
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§ 32 Steuerrechtsschutz durch Finanzgerichtsbarkeit das zuständige FA H weiterzuleiten. So ging der Einspruch nicht rechtzeitig beim FA H ein. Dieses lehnte eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Das Finanzgericht gab der Wiedereinsetzung statt, wurde aber vom Bundesfinanzhof (VII. Senat) durch Urteil v. 19. 12. 2000 mit einer vierseitigen Begründung (im BStBl. II) aufgehoben: Der BFH sah in dem Übersehen der falschen Adressierung durch den Bevollmächtigten, das er als Nichtberücksichtigung der Rechtsbehelfsbelehrung deutete, ein schuldhaftes Verhalten, nämlich eine „subjektiv vorwerfbare Außerachtlassung der zumutbaren Sorgfalt“: Das für die Verspätung ursächliche Verschulden des Bevollmächtigten entfalle nicht dadurch, dass das FA St den Einspruch zu den Akten genommen und nicht weitergeleitet habe. Eine versäumte Weiterleitung sei nur dann erheblich, wenn ein Schriftstück ohne Verschulden falsch adressiert werde. Dem FA St sei auch nicht zuzumuten gewesen, Nachforschungen darüber anzustellen, welches FA zuständig war. Die Fehlleistung des Bevollmächtigten habe nicht zum Übergang der Verantwortung auf das FA St geführt; sein Verschulden sei nicht unbeachtlich geworden. Ein Verschulden der unzuständigen Empfangsbehörde könne nur ausnahmsweise, z. B. bei willkürlichem, offenkundig nachlässigem Fehlverhalten dazu führen, die Verantwortlichkeit des Absenders entfallen zu lassen. Der Tipke/Kruse-Kritik, dass die Verschuldensprüfung des BFH zu streng sei, hielt der Senat entgegen, dass jedes Verschulden, auch leichte Fahrlässigkeit, zur Ablehnung der Wiedereinsetzung führen müsse. Mit dieser, gegenüber dem Verhalten des FA St sehr nachsichtigen Begründung war dem A der Rechtsschutz genommen. 84 Eine Kammer des 1. BVerfG-Senats entschied jedoch am 2. 9. 2002 auf Verfassungsbeschwerde: Die BFH-Entscheidung verletzte das Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 IV GG). Sie verwarf die nachsichtige Beurteilung des Verhaltens des FA St. Da im Original des Einspruchsschreibens sowohl der Haftungsbescheid als auch die erlassende Behörde bezeichnet worden seien, habe das FA St das Einspruchsschreiben leicht als Irrläufer erkennen können, statt eine bloße Information anzunehmen. Das FA St habe grob nachlässig gehandelt. Die Unaufmerksamkeit des Bevollmächtigten hätte nicht zur Fristversäumung führen können, wenn das FA St pflichtgemäß gehandelt hätte. 85
In der Tat ist eine Behörde verpflichtet, einen erkennbaren Nachteil vom Bürger abzuwenden. Erkennt sie vor Ablauf der Frist z. B., dass ein Antrag nicht ordnungsgemäß unterschrieben worden ist, so muss sie den Antragsteller vor Ablauf der Frist veranlassen, die ordnungsmäßige Unterschrift nachzuholen. Im Übrigen hätte das FA H das Verhalten des Bevollmächtigten – es war ein Verhalten, das immer wieder vorkommt und jedem passieren kann – besser nicht als schuldhaft abqualifiziert. Es hätte besser auch davon absehen sollen, das Finanzgerichtsurteil anzufechten. Da es das nicht tat, konnte erst ca. 7 1/2 Jahre nach Ergehen des Haftungsbescheids v. 23. 3. 1995 geklärt werden, dass über die Sache zu entscheiden ist. Das hätte auch schon mehr als 7 Jahre früher geschehen können.
84 BFH BStBl. II 2001, 158. 85 BVerfG BStBl. II 2002, 835.
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6.243 Verzögerungen im Postverkehr Gesetzliche Fristen dürfen voll ausgenutzt werden. Wiedereinsetzung ist auch zu gewähren, wenn der Bürger einen Brief rechtzeitig aufgegeben hat, die Frist aber dadurch versäumt worden ist, dass bei der Post Verzögerungen eingetreten sind. Was sich in der Sphäre der Behörde oder in der Sphäre der Post ereignet, kann dem Bürger nicht als Verschulden zugerechnet werden. Im Zweifel obliegt es dem Bürger, sich über die Postlaufzeiten zu informieren. Auf im Postamt ausgehängte Regellaufzeiten darf der Bürger sich verlassen. Schlechte Witterungsverhältnisse oder vorübergehende besonders starke Beanspruchung der Post gehen diese an, nicht den Bürger. Wenn eine Behörde der Postlaufzeit und ihren Auswirkungen tatsächlich hohe „rechtsstaatliche Bedeutung“ beimisst und meint, der Laufzeit-Frage nachgehen zu müssen, damit dem Bürger nicht unzulässigerweise etwas gewährt werde, mag sie eine Auskunft der Post einholen. Der dadurch entstehende Arbeits- und Zeitaufwand kann unter Umständen aber höher sein als der Aufwand der Beschäftigung mit der Sache. 6.244 Rechtsirrtum Die Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung pflegt zwischen Irrtümern über Verfahrensrecht und Irrtümern über materielles Recht zu unterscheiden und bei Irrtümern über materielles Recht die Wiedereinsetzung grundsätzlich abzulehnen. Der Verfahrensrechtsirrtum wird als entschuldigend angesehen, wenn in Rechtsprechung und Literatur Unklarheit über das einzuschlagende Verfahren besteht, wenn die Verfahrensgesetzlage unübersichtlich ist, wenn sie unsicher ist und der Betroffene es aufgrund vertretbarer verfahrensrechtlicher Erwägungen unterlässt, sein Recht innerhalb der Frist geltend zu machen. Irrtümer über materielles Recht sollen deshalb nicht zur Wiedereinsetzung führen können, weil solche Irrtümer die Steuerpflichtigen nicht daran hinderten, die Frist zu wahren, so dass es auf ein Verschulden nicht einmal ankomme. Diese Rechtsprechung geht zurück bis auf die Anfänge des Reichfinanzhofs und ist vom Bundesfinanzhof unkritisch übernommen worden. In einigen Urteilen wird allerdings das Verschulden ausnahmsweise geprüft und verneint, nämlich bei in hohem Maße unklarer Rechtslage. Diese Durchbrechung der angenommenen Regel spricht gegen die Regel selbst. Aus § 110 I AO lässt sich nicht ableiten, dass Irrtümer über formelles und über materielles Recht unter dem Aspekt des zu Unrecht mechanisch verstandenen Hindernisbegriffs unterschiedlich zu behandeln sind. Beide Arten des Irrtums können Steuerpflichtige daran hindern, die Frist 1527
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einzuhalten; sie können die Einhaltung der Frist „verhindern“, um im Wortlaut des Gesetzes zu bleiben. Anders ausgedrückt: Der Rechtsirrtum kann den Steuerpflichtigen dazu veranlassen, innerhalb der Frist keinen Antrag zu stellen oder keinen Rechtsbehelf einzulegen. Der Irrtum über materielles Recht ist nicht grundsätzlich als schuldhaft anzusehen. Die große, unübersichtliche Vorschriftenmenge der Steuergesetze kann von keinem einzelnen mehr überblickt werden, auch nicht von Steuerfachleuten. Die schlechte Qualität der Steuergesetze, die unsystematische Normenanordnung und die permanenten Gesetzesänderungen führen immer wieder zu Irrtümern über die Gesetzeslage (was sich auch in häufig divergierender Rechtsprechung niederschlägt), auch zu Irrtümern darüber, was bis wann und ab wann gilt. Daher ist auch ein hoher Anteil der Steuerbescheide falsch. Da Verwaltungsvorschriften sich an die Finanzbehörden richten, müssen weder die Steuerpflichtigen noch ihre Berater sie kennen. Da der Gesetzgeber an dem miserablen Zustand der Steuergesetze nichts ändern will oder kann, ist eine Rechtsprechung, die Irrtümer über materielles Recht grundsätzlich als schuldhaft behandelt, unrealistisch. Wer sich Gedanken macht, aufgrund einer vertretbaren Rechtsansicht verfährt, handelt nicht schuldhaft. Dass Steuerpflichtige im Gesetzblatt veröffentlichte Gesetze und Verordnungen kennen, ist eine Fiktion, keine Realität. Der auch von Steuerbeamten, Steuerrichtern und Steuerberatern unisono beklagte miserable Zustand gerade der materiellen Steuergesetze darf nicht verdrängt werden, wenn es um Irrtümer der Steuerpflichtigen und ihrer Berater geht. Leider ist es so, dass die Finanzbehörden, Steuergerichte und Strafgerichte wenig Verständnis zeigen für Rechtsirrtümer von Steuerpflichtigen und ihrer Berater. Auch die über Haftpflichtfälle entscheidenden Zivilgerichte nehmen zu wenig Rücksicht auf Rechtsirrtümer von Steuerberatern; die über Amtspflichtverletzungen 86 entscheidenden Zivilgerichte haben auch kaum Verständnis für irrende Steuerbeamte. Dass Laien schuldhaft handeln, wenn sie sich nicht bei Steuerberatern informieren, ergibt sich nicht aus dem Gesetz. Laien können sich beraten lassen, sie müssen es aber nicht. Irrtümer über überkompliziertes, unübersichtliches, undurchsichtiges Recht müssen dem Gesetzgeber angelastet werden, nicht den Gesetzadressaten. Empfehlen könnte sich die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts, wenn Behörden und Fachgerichte die Wiedereinsetzung wegen verständlichen Rechtsirrtums versagen. Der realistische Umgang mit Rechtsirrtümern ist auch deshalb tragbar, weil Wiedereinsetzung nach einem Jahr seit dem Ende der versäum-
86 Dazu Laws/Stahlschmidt, Amtshaftung, StB 2003, 180 ff.
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ten Frist grundsätzlich nicht mehr beantragt werden kann (§ 110 III AO). 6.25 Vertreterverschulden „In der Steuerberatung wird der Berater von Fristen getrieben und geplagt. Sie bestimmen seine Arbeit; sie sitzen ihm im Nacken . . . In der Fristenlast zeigt sich eine gravierende Waffenungleichheit . . . Das Finanzamt verursacht und setzt Fristen; dem Finanzamt werden keine Fristen gesetzt . . .“ 87 Allerdings stehen die Veranlagungsstellen auch unter Fristendruck. Sie sollen die Veranlagung von Jahressteuern auch in Jahresperioden bewältigen. An die Sorgfaltspflicht von Vertretern (Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern, Rechtsanwälten usw.) werden besonders hohe Anforderungen gestellt, obwohl auch sie nicht überfordert werden dürfen. Die Rechtsprechung verlangt von Personen, die die Rechtsberatung berufsmäßig ausüben, eine ordnungsmäßige Büroorganisation. Sie unterscheidet zwischen nicht entschuldbaren Organisationsmängeln und dem bevollmächtigten Vertreter nicht zuzurechnenden Büroversehen. Die zum Teil überspannte, vor das Verfassungsgericht gehörende Rechtsprechung versucht, auch die Vertreter (Bevollmächtigten) zu äußerster Fristenkontrolle zu erziehen. Der Bürobetrieb soll so organisiert werden müssen, dass Fristversäumnisse ausgeschlossen sind. 88 Organisation, Überwachung, Belehrung, Anleitung, Kontrolle der Bürokräfte und Vorsorge für den Fall, dass der Vertreter oder Bürokräfte ausfallen, sind die Stichworte. Die Fristenakribie, die die Rechtsprechung verlangt, ist zum Teil in einer Weise zur freischwebenden Marotte geworden, dass man meinen könnte, nicht die sachliche Tätigkeit stehe im Zentrum der Berufsarbeit von Steuerberatern und Rechtsanwälten, sondern die Fristwahrung – so als sei sie ein konstituierendes Element der Rechtsberatung und des Rechtsstaates. Aus dem rechtsberatenden Beruf wird so der fristenwahrende Beruf. Den Juristen wird, wenn es um die Fristwahrung geht, zu viel, den Bürokräften zu wenig zugetraut. Dabei sind Fristberechnung und Fristkontrolle nicht Gegenstand der akademischen Ausbildung, und Zerstreutheit ist bei Akademikern wohl eher anzutreffen als beim Büropersonal. 89
87 M. Streck, Stbg. 2000, 501. 88 BFH/NV 1999, 512 (513). 89 Immerhin hat der BFH entschieden: Das Heraussuchen und Eingeben der Faxnummer des Gerichts sei eine Hilfstätigkeit, die der Rechtsanwalt dem geschulten Kanzleipersonal überlassen dürfe (BFH StRK FGO § 56 R. 189); das FG hatte das anders beurteilt.
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Versäumen Finanzämter die Frist für die Nichtzulassungsbeschwerde (§ 116 II, III FGO) oder die Revisionsfrist (§ 120 I FGO), so springt der Bundesfinanzhof mit ihnen nicht weniger pedantisch um als die Finanzämter und Gerichte mit den Steuerpflichtigen und ihren Beratern. Dabei muss immer wieder betont werden, dass übermäßige Formen- und Fristenstrenge keine Erfindung der Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit ist, sondern Tradition auch in den anderen Gerichtsbarkeiten hat, die Sozialgerichtsbarkeit ausgenommen. Nur ist das kein Rechtfertigungsgrund. Das Zivilprozessrecht ist nicht das Mutterrecht des Verwaltungs- und Besteuerungsverfahrens, auch nicht des Steuerprozessrechts, und die Zivilprozesspraxis muss auch nicht zum Vorbild genommen werden. Die Vorstellung, dass ein guter Jurist auch Formalist sei, ist überholt. Ein Richter, der sich durch exzessiven Zulässigkeitsformalismus die Beschäftigung mit der Sache selbst ersparen will, ist unter rechtsstaatlichem Aspekt (Art. 19 IV GG) ein schlechter Jurist. 6.3 Überlegungen de lege ferenda Die Bedeutung des Verfahrensrechts darf nicht daran gemessen werden, wie viele Bürger am Verfahrensrecht scheitern, ihr materielles Recht, ihr Recht in der Sache, evtl. aufopfern müssen. Das Verfahrensrecht muss dazu dienen, möglichst allen Bürgern zu ihrem Recht in der Sache zu verhelfen oder ihnen zu erklären, dass ein solches Recht nicht bestehe. Das Verfahrensrecht ist kein Sieb, um die Verfahrenslaien und ihr Begehren von den Verfahrensexperten und ihren Begehren zu sondern. So wie nach § 127 AO die Verletzung von Vorschriften über das Verfahren durch das Finanzamt unerheblich ist, wenn in der Sache eine richtige Entscheidung getroffen worden ist, so muss bei Verletzung von Verfahrensvorschriften durch den Bürger möglichst gewährleistet werden, dass dieser in der Sache richtig beschieden wird. Das entspricht auch dem Geist des Art. 19 IV GG und sollte insbesondere für das Laienverfahren gelten. De lege ferenda sollte daher vom Gesetz angeordnet werden, dass Anträge und Rechtsbehelfe, die von Formen und Ausschlussfristen abhängen, von der Behörde innerhalb eines Monats nach Fristablauf auf die Einhaltung von Form und Frist sowie andere Sachentscheidungsvoraussetzungen zu prüfen sind. Stellt die Behörde (das Gericht) Mängel fest, so sollte sie gehalten sein, den Bürger auf die Mängel hinzuweisen und ihm zu empfehlen, die Mängel innerhalb einer angemessenen Frist zu beseitigen. Bei fristgemäßer Mängelbeseitigung dürfte der Bürger sein Recht in der Sache nicht verlieren. Auf diese Weise könnte z. B. verhindert wer1530
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den, dass der Bürger an der Übermittlungstechnik, an vergessener Unterschrift, an Postlaufzeiten, an der Behördenunzuständigkeit oder an läppischen Versehen scheitert. Was den Fristenlauf betrifft, so könnte auch angeordnet werden, dass es bei Übermittlung durch die Post auf die Absendung statt auf den Zugang ankommt. Einzelregelungen dieser Art gibt es schon in § 364b AO und in §§ 65 II, 76 III und 79b FGO. Nur ist dem Bürger mit diesen Vorschriften nicht gedient, wenn er etwa einen Antrag auf Investitionshilfe o. Ä. nicht form- oder fristgerecht stellt. Fände stets eine Vorprüfung darauf statt, ob Form und Frist eingehalten worden sind, und würde evtl. eine „Reparaturmöglichkeit“ eingeräumt, so würde die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einen Teil ihrer Bedeutung verlieren.
7. Rechtsschutzlücke infolge zu engen Verständnisses der Rechtsverletzung 7.1 Selbstbetroffenheit durch Rechtsverletzung Nach § 40 II FGO setzt die Gewährung von Rechtsschutz voraus, dass der Kläger geltend macht, durch die Behörde „in seinen Rechten verletzt“ worden zu sein. So genannte Popularklagen zur Wahrnehmung der Rechte Dritter im eigenen Namen oder des Allgemeininteresses sind unzulässig. Der Kläger kann insbesondere nicht geltend machen, dass irgendein anderer in seinen (dessen) Rechten verletzt sei. Nur dem Selbstbetroffenen wird Rechtsschutz gewährt. Die Finanzgerichtsbarkeit hat einen Rechtsschutzauftrag, nicht den Auftrag, die objektive Rechtsordnung zu gewährleisten. Es muss sich um eine Rechtsverletzung handeln, nicht bloß um die Verletzung wirtschaftlicher Interessen. Daher – so die Praxis – wird der Schuldner indirekter Steuern durch eine zu hohe Steuerfestsetzung auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn er die Steuer erfolgreich auf seine Kunden als Steuerträger überwälzt hat. Der Steuerträger soll hingegen, obwohl er der Belastete ist, nicht klagebefugt sein. Befriedigend ist diese Lösung nicht, zwingend m. E. auch nicht. Der Steuerschuldner kann durch eine zu hohe Verbrauchsteuerschuld in der Tat dadurch in seinen Rechten verletzt werden, dass er infolge nachteiliger ungleichmäßiger Behandlung einen Wettbewerbsnachteil erleidet. Wird eine verfassungswidrige oder eine vom Verbrauchsteuerschuldner nicht oder in der festgesetzten Höhe nicht geschuldete Verbrauchsteuer auf den Kunden überwälzt, so dass dieser zum Steuerträger wird, so ist m. E. (auch) der Steuerträger in seinen Rechten verletzt, wenn das Gesetz die Überwälzung ausdrücklich oder still1531
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schweigend zulässt, wie es im Umsatzsteuerrecht und im Recht der besonderen Verbrauchsteuern der Fall ist. Da der Steuerträger allerdings keinen Verwaltungsakt erhält, kann er keine Anfechtungsklage erheben. In Betracht kommt aber die (andere) Leistungsklage auf Unterlassung, vor allem die vorbeugende Klage, rechts- oder verfassungswidrige Verwaltungsakte gegen den Steuerschuldner zu unterlassen, da die Folgen wegen der vom Gesetz zugelassenen Überwälzung den Steuerträger treffen. Dadurch, dass der Staat sich des Unternehmers als Steuerschuldner und als Medium für die Steuerüberwälzung bedient, schafft er indirekt doch Rechtsverhältnisse zu den Steuerträgern. Durch die Mediatisierung, dadurch, dass der Staat sich der Unternehmer als Gehilfen bedient, ist er nicht aus der Rechtsverantwortung gegenüber den Steuerträgern entlassen. Die Steuerträger werden nicht nur wirtschaftlich belastet, sie sind durch die vom Gesetz vorgesehene Überwälzung auch rechtlich betroffen. Dass sie keinen Verwaltungsakt erhalten, ändert daran nichts. Den Steuerträgern wird mittelbar vom Gesetz eine Last auferlegt. Den Steuerträgern die Klagebefugnis einzuräumen, ist auch deshalb gerechtfertigt, weil die Steuerschuldner infolge der Überwälzungsmöglichkeit – auch durch rechtswidrige Bescheide – oft keine wirtschaftlichen Nachteile erleiden, folglich an der Rechtswahrnehmung nicht interessiert sind. 90 Im Lohnsteuerrecht war man schon länger auf dem richtigen Weg. Man nimmt an, dass auch der Arbeitnehmer in seinen Rechten verletzt sei, wenn das Finanzamt den Arbeitgeber auffordere, von diesem Arbeitnehmer Lohnsteuer einzubehalten, dass der Arbeitnehmer auch die Lohnsteueranmeldung oder das Anerkenntnis (§ 42d IV Nr. 2 EStG) des Arbeitgebers anfechten dürfe, dass der Arbeitnehmer sich auch gegen den an den Arbeitgeber gerichteten Lohnsteuerhaftungsbescheid wenden dürfe. Klagen werden auch mit der Begründung abgewiesen, nicht jeder Verstoß gegen objektives Recht bewirke eine Rechtsverletzung der Bürger. Verletzt werden müsse ein Gesetz oder eine Gesetzesvorschrift, das (die) den Individualschutz des Bürgers bezwecke. Verlangt wird eine Schutznorm, die ein subjektives Recht verleiht. So ist es wohl richtig, dass z. B. die Vorschriften des Steuerberatungsgesetzes, die die Zulassung zum Steuerberaterberuf von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängig machen, nicht die bereits zugelassenen Steuerberater vor rechtswidrig zugelassener Konkurrenz schützen wollen. Aber viele andere Fälle sind nicht so eindeutig. Z. B. ist nach § 65 Nr. 3 AO der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb nur dann ein steuerfreier Zweckbetrieb (s. §§ 64, 65 AO), wenn er zu nicht begünstigten Betrieben derselben oder ähnlicher Art nicht in größerem Umfang in Wett90 Dass auch der Steuerträger klagebefugt sein kann, nimmt auch R. Seer an (in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 22 Rz. 125 m. w. N.).
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bewerb tritt. Die Steuerrechtsordnung kennt auch andere Vorschriften, die für eine wettbewerbsneutrale Besteuerung im Unternehmensbereich sorgen wollen (s. etwa § 4 KStG; §§ 2 III; 5 II Nr. 2 UStG). Wenn diese Vorschriften nicht Konkurrenten vor Wettbewerbsbenachteiligung schützen wollen, wen oder was wollen sie dann schützen? Wenn § 5 II Nr. 2 UStG die Verletzung „schutzwürdiger Interessen der Wirtschaft“ verhindern will, so meint er doch die Verletzung schutzwürdiger Interessen der als Konkurrenten in der Wirtschaft Tätigen. Die „Wirtschaft“ ist ein abstrakter Begriff; konkret gemeint, weil konkret betroffen, sind die wirtschaftenden Unternehmer. Man kann auch sagen, eine Norm, die viele oder alle Betroffenen schützt, schützt auch jeden einzelnen Betroffenen und gewährt diesem Individualschutz. Auch durch gesetzwidrige Gewährung von Steuervergünstigungen oder Steuererlassen an Unternehmer kann in die Wettbewerbsfreiheit eingegriffen, können Wettbewerbsnachteile ausgelöst werden. Durch solche Eingriffe können die Betroffenen sich durch die so genannte Konkurrentenklage wehren. 91 Diese Auffassung hat sich aber noch nicht durchgesetzt. Die prohibitiven Begründungen: Die Rechtsverletzung sei eine nur mittelbare. Oder: Es liege keine Rechtsverletzung vor, sondern ein nur wirtschaftliches oder ideelles Interesse. Oder: Die Rechtsverletzung betreffe kein Individualrecht, die verletzte Norm sei nur im Allgemeininteresse erlassen worden. Im so genannten Butterfahrtenfall ist die Klage eines Unternehmers wegen der Abfertigungspraxis bei Butterfahrten als unzulässig abgewiesen worden, 92 m. E. zu Unrecht. § 24 I ZG und Art. 3 des 14. Zolländerungsgesetzes (BGBl. 1973 I, 933) ermächtigen zu Eingangsabgabenfreiheit für Waren des nichtkommerziellen Verkehrs, „soweit dadurch schutzwürdige Interessen der inländischen Wirtschaft nicht verletzt werden“. Auch hier gilt: Die schutzwürdigen Interessen der Wirtschaft, das sind die schutzwürdigen Interessen der einzelnen wirtschaftenden Unternehmer. J. Englisch nimmt zutreffend für echte Zweifelsfälle eine Vermutung zugunsten der Wettbewerbserheblichkeit der drittschützenden Norm an. 93
91 Dazu B. Knobbe-Keuk, BB 1982, 385 ff.; zum Verwaltungsrecht W. Frenz, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz in Konkurrentensituationen, 1999; J. Englisch, Die negative Konkurrentenklage im Unternehmenssteuerrecht, StuW 2008, 43 ff. 92 BFH BStBl. 1985, II, 12, FG Hamburg ZfZ 1982, 152 aufhebend. Zum BFHUrteil kritische Anmerkungen von J. Martens, StRK-Anm. FGO § 40 R. 103. Restriktiv auch BFH BStBl. 1988 II, 67. 93 StuW, 2008, 48 li. o.
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7.2 Der Rechtsstaat verlangt: Rechtsschutz gegen Privilegien Dritter 7.21 Einführung in die Problematik Lange galt als einhellige Meinung, der Kläger sei nicht in seinen Rechten verletzt, wenn es ihm darum gehe, dass andere (zumal finanziell) schlechter gestellt würden. Eine Klage, die das zum Ziel habe, sei eine Neidklage. 94 Der Begriff „Neid“ wird weithin negativ gebraucht. 95 M. Desens fasst die von ihm zitierten Meinungen so zusammen: „Neid setzt ein Vergleichen mit einem anderen voraus und zielt darauf ab, den anderen schlechter zu stellen. Gerade in dem Ziel, dem anderen etwas zu nehmen, liegt die Verwerflichkeit des Neides“. 96 Kann man aber ohne weiteres „Neid“ als Motiv annehmen, wenn jemand sich durch das Gericht dagegen wehrt, dass er gegenüber anderen ungleich behandelt wird? Lässt sich tatsächlich jede Verletzung des Gerechtigkeitsempfindens als „Neid“ abtun und den, der für sich Gerechtigkeit will, als „Neider“ abqualifizieren und zum Schweigen bringen? Im Allgemeinen wird der diskriminierte Steuerpflichtige sich auf die Verletzung des Gleichheitssatzes berufen. Über die Frage, ob der Gleichheitssatz verletzt ist, hat letztlich das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden, entweder auf Verfassungsbeschwerde (§ 90 BVerfGG) oder auf Gerichtsvorlage (Art. 100 GG). Es fehlt unserem Rechtsstaat gewiss nicht an Rechtswegen und Rechtsinstanzen. Der Rechtsstaat bleibt aber insuffizient, enthält eine beträchtliche Rechtsschutzlücke, wenn seine Gerichte das Wichtigste, was es in einem Rechtsstaat zu verwirklichen gilt, nicht durchsetzen: Gerechtigkeit, Gleichbehandlung – weil gelten soll: keine Gleichheit im Unrecht! Vom Steuerrechtsstaat muss man vor allem erwarten, dass Finanzgerichte und Bundesverfassungsgericht in der Lage sind, eine gleichmäßige Besteuerung durchzusetzen. Obwohl das FG Baden-Württemberg 97 und der Bundesfinanzhof 98 nicht den geringsten Zweifel daran hatten, dass die Besteuerung der Zinsen seinerzeit sehr ungleichmäßig durchgeführt wurde, sahen sie keinen Weg, die Gleichmäßigkeit der Zinsbesteuerung durchzusetzen. Wer entsprechend dem Gesetz ehrlich seine Steuern bezahlt, soll danach nicht dadurch in seinen Rechten verletzt werden, dass andere die Steuern verkürzen. Wer richtig besteuert wird, kann sich danach nicht darüber beschweren, dass ande94 Dazu ausführlich M. Desens, Neid als Grundrechtsausübungsmotiv, AöR Bd. 133 (2008), 404 ff. Zur neueren Entwicklung von Rechtsprechung und Literatur R. Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (Loseblatt Lfg. 123), § 40 FGO Rz. 83 ff. 95 M. Desens (Fußn. 94), S. 408 f. 96 M. Desens (Fußn. 94), S. 409. 97 EFG 1986, 451. 98 BStBl. 1989 II, 836.
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re nicht richtig besteuert werden. Die richtige Besteuerung anderer soll Sache der Finanzbehörden sein und die ehrlichen Steuerpflichtigen und die Gerichte nichts angehen. 99 So war das Bundesverfassungsgericht auch in Sachen ungleichmäßiger Bewertung der Vermögensarten verfahren. 100 Der Wertpapierbesitzer, der sich darüber beschwerte, dass Grundstücke mit einem irreal niedrigen Einheitswert bewertet wurden, wurde nicht erhört, obwohl unbestritten ist, dass es zu evidenten Lastenungleichheiten führt, wenn Grundstücke mit einem irreal niedrigen Einheitswert bewertet werden, andere Wirtschaftsgüter aber mit dem Verkehrswert oder Ertragswert. Dass so keine rechtsstaatlich akzeptablen Lösungen zustande kommen, der Rechtsstaat vielmehr allmählich zum Gespött wird, ist mit Händen zu greifen. Gewiss, ein Staat ist kein Rechtsstaat, wenn er seine Macht missbraucht. Ein Staat ist aber auch kein Rechtsstaat, wenn er nicht für gleiches Recht sorgt oder seine Macht nicht zur gleichmäßigen Durchsetzung des Rechts einsetzt, das Recht durch Nichtgebrauch missbraucht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Zinssteuerurteil 101 über die frühere Rechtsprechung hinweggesetzt und in der Verletzung des „Gebots der gleichmäßigen Belastung aller Steuerpflichtigen“ eine Rechtsverletzung der Steuerehrlichen gesehen. Es hat dadurch nicht Gleichheit im Unrecht herbeigeführt, sondern die Rechtsgrundlagen, die die Ungleichbehandlung auslösten, für verfassungswidrig erklärt. Man könnte freilich darüber streiten, welche Rechtsvorschriften das sind. Verfassungsbeschwerden sind davon abhängig, dass der Beschwerdeführer geltend macht, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein (§ 90 BVerfGG). Vorlagen nach Art. 100 GG sind zulässig, wenn ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es für die Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Ein von Th. Puhl 102 erwähnter, erdachter Fall zeigt überdeutlich, wie wenig die bisherige Rechtsprechung befriedigen kann: Das Finanzamt zieht nur Frauen, nicht aber Männer zur Einkommensteuer heran. Wollte man einer klagenden Frau hier wirklich entgegenhalten, sie sei nicht in ihren Rechten verletzt, da richtig veranlagt; die privile99 In diesem Sinne auch die Stellungnahme des Bundesministeriums der Finanzen gegenüber dem Bundesverfassungsgericht (s. BStBl. 1991, II 661), ähnlich die Stellungnahme Bayerns (s. BStBl. 1991, II, 661, re. Sp.). 100 S. BVerfGE 23, 242, 252 ff.; 41, 269, 284 ff.; 65, 160; 74, 182; BStBl. 1986 II, 782. 101 BVerfGE 84, 239, 268 ff.; später auch Spekulationseinkünfteentscheidung BVerfGE 110, 94, 112 ff. 102 DStR 1991, 1141.
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gierte Behandlung der Männer gehe sie nichts an, sie sei nur neidisch auf das Privileg der Männer? Das Schweizerische Bundesgericht umgeht die Formel „keine Gleichheit im Unrecht“ nicht, sondern nimmt folgenden Standpunkt ein: „Der Beschwerdeführer fordert . . ., er sei ebenso wie die Eigentümer, die ihre Wohnung selbst bewohnen, abweichend vom Gesetz zu behandeln (so genannte Gleichbehandlung im Unrecht), indem sein steuerbares Einkommen entsprechend reduziert . . . wird . . .“ „. . .Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung geht der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in der Regel der Rücksicht auf die gleichmäßige Rechtsanwendung vor. Der Umstand, dass das Gesetz in anderen Fällen, nicht oder nicht richtig angewendet worden ist, gibt dem Bürger grundsätzlich keinen Anspruch darauf, ebenfalls abweichend vom Gesetz behandelt zu werden. Das gilt jedoch nur, wenn lediglich in einem einzigen oder einigen wenigen Fällen eine abweichende Behandlung dargetan ist. Wenn dagegen die Behörden die Aufgabe der in anderen Fällen geübten, gesetzwidrigen Praxis ablehnen, kann der Bürger verlangen, dass die gesetzwidrige Begünstigung, die dem Dritten zuteil wird, auch ihm gewährt wird.“ (Es folgen Rechtsprechungsnachweise). 103
Ein Individualinteresse bejaht R. Seer – ebenso wie andere 104 – u. U. auch, wenn Dritte steuergesetzlich privilegiert werden. Der Kläger soll dann nicht darlegen müssen, dass die Privilegierung auch auf seine Person zu erstrecken sei. Es soll ausreichen, wenn er sich in einer für die Besteuerung vergleichbaren Position wie die steuerlich Privilegierten befindet, z. B. wenn der Kläger wie die Privilegierten einkommensteuerpflichtig ist und es um Erwerbsaufwendungen geht. 105 Wir kommen auf die Problematik im Zusammenhang mit dem Rechtsschutz des Bundesverfassungsgerichts ausführlicher zurück. 7.22 Exemplifizierung durch zwei Anschauungsbeispiele 7.221 Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit 7.2211 Angeführte Rechtfertigungsgründe Die Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags- und Nachtarbeit (§ 3b EStG) geht zurück auf eine KriegsVO des Reichsfinanzministers vom
103 ASA Bd. 59 (1990/91), 733, 737. Dazu F. Zuppinger, Neue Zürcher Zeitung v. 13. 7. 1991 (Fernausgabe Nr. 159), S. 27. 104 K. Tipke, FR 2006, 949, 955 ff.; M. Balke, Stbg. 2007, I 1; s. auch bereits M. Sachs, in: Festschrift für K. H. Friauf, 1996, 309, 327; Hinweis auch auf J. Englisch, NJW 2009, 894. 105 R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 22 Rz. 127 unter Hinweis auf die Bochumer Diss. von B. Schenkel, Einkünfte und Besteuerung der deutschen Abgeordneten, 2009. A. A. BFH BStBl. 2008, 928.
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7. 11. 1940. 106 Bezweckt wurde die Mobilisierung zusätzlicher Arbeitskraft über die (damals) 60-Stunden-Woche hinaus. Nach dem Krieg änderten sich die Verhältnisse gänzlich. Aus dem Mangel an Arbeitskräften wurde ein Mangel an Arbeit; die Arbeitslosigkeit wuchs. Gleichwohl wurde an § 3b EStG (Vorläufer § 34a EStG) festgehalten – wenngleich mit Änderungen, die für unser Thema durchweg keine Rolle spielen. Als auch Profi-Fußballer (Einkommensmillionäre) § 3b EStG für sich nutzen wollten, wurde die Vorschrift ab 2004 dadurch eingeschränkt, dass sie nur für Stundenlöhne bis 50 Euro gilt (absoluter Höchstbetrag). Da § 3b EStG nur eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern erfasst, durchbricht er durch die Steuerbefreiung nicht nur das Leistungsfähigkeitsprinzip, sondern auch das im Gleichheitssatz angelegte Prinzip, dass an alle Einkommensarten die gleichen Rechtsfolgen zu knüpfen sind (Prinzip der synthetischen Einkommensteuer oder Einheitseinkommensteuer). 107 Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird so interpretiert, dass der Grad der Erwerbsanstrengung (des „Arbeitsleides“), eingeschlossen die Dauer der Arbeit und die Zeit, zu der gearbeitet wird, unerheblich ist. 108 Der Grund: Weder lassen sich Kriterien finden, an denen die unterschiedliche Erwerbsanstrengung gemessen werden könnte, 109 noch lässt sich insb. bei Unternehmern einigermaßen zuverlässig feststellen, wann und wie lange sie gearbeitet haben. Herauszufinden, was § 3b EStG in der Zeit der Arbeitslosigkeit noch rechtfertigen soll, ist nicht einfach. Aus der BT-Drucks. 7/419, 16 ergibt sich, dass es „aus wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen 106 Ausführlich zur Entwicklung während des Krieges H. Helsper, ZSteu 2005, 478 f. 107 Dazu P. Kirchhof, StuW 2006, 9 re. („Die Einkommensteuer als Einheitssteuer“). Dass das BVerfG, Beschl. v. 21. 6. 2006 – 2 BvL 2/99, FR 2006, 766 die Schedulenbesteuerung allgemein zugelassen habe, sehe ich nicht; der Beschluss macht Einbrüche in die synthetische Einkommensteuer von besonderen Rechtfertigungsgründen abhängig. Je geringer die Ansprüche sind, die an die Rechtfertigung gestellt werden, je mehr das BVerfG grundsätzlich jede Rechtfertigungsbehauptung des Gesetzgebers akzeptiert, desto stärker wird allerdings das Prinzip der synthetischen Einkommensbesteuerung erschüttert, das Einkommensteuergesetz dadurch kompliziert. 108 P. Kirchhof, Stbg. 1997, 193 (195 re.): „Die erste vom Einkommensteuergesetzgeber getroffene Grundentscheidung zielt auf die Gleichheit der Einkommensquellen ungeachtet der individuellen Anstrengung für den Erwerb. . . . Ob der Pfarrer seine Predigt am Sonntag hält, der Tankstellenunternehmer sein Benzin am Feiertag verkauft oder der Anwalt seinen Schriftsatz zur Nachtzeit diktiert, ist für die Besteuerung schlechthin unerheblich . . .“ 109 Dazu Bd. II2, 2003, S. 634 ff. („Irrelevanz von Arbeitsleid und Arbeitszeit“). – Nicht wenige Sozialbürger leiden unter jeder Arbeit, wie leicht sie auch immer sein mag. Freiheit besteht für sie in Freizeit.
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Gründen“ für zweckmäßig gehalten wurde, die Steuerbefreiung der Zuschläge beizubehalten. Darauf berief sich der BFH 110 noch 1987 für das Streitjahr 1977, als es keines Leistungsanreizes mehr bedurfte, der ursprüngliche Zweck längst weggefallen war. Die Rechtsprechung hatte sich allerdings schon vorher bemüht, dem Gesetzgeber zur Hilfe zu kommen mit dem Argument, § 3b EStG wolle die „besonderen Erschwernisse und Belastungen“ der Sonntags- und Nachtarbeit finanziell ausgleichen. 111 Eine Kammer des BVerfG konkretisierte das durch die Diagnose: „Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit stört den biologischen und kulturellen Lebensrhythmus des Arbeitnehmers. Die Lohnzuschläge haben die Funktion, dem Arbeitnehmer hierfür einen Ausgleich und eine Erleichterung zu verschaffen. Diese Wirkung wird durch die Steuerbefreiung der Zuschläge unterstützt. Anders als Arbeitnehmer sind Selbstständige in der Einteilung ihrer Arbeitszeit typischerweise frei. Auch die Überprüfung, in welchem Umfang tatsächlich Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit geleistet wird, stößt bei Selbstständigen in der Regel auf Schwierigkeiten“. 112 In dem bereits erwähnten Urteil von 1987 lehnte der BFH 113 es ab, den Fall eines selbständigen Seelotsen dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen: Die unterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmern und Freiberuflern sei nicht willkürlich und verletze nicht den Gleichheitssatz. Die Verfassungsbeschwerde des Seelotsen wurde nicht zur Entscheidung angenommen. 114 1999 scheiterte die Nichtzulassungsbeschwerde eines freiberuflich tätigen Arztes. Sie wurde verworfen, weil der Arzt nicht dargestellt hatte, dass die von ihm angenommene Ungleichbehandlung voraussichtlich durch seine Einbeziehung in den § 3b EStG beseitigt werden würde, dass es für ihn zu einer weniger belastenden Steuerfestsetzung kommen werde. 115 Versuche, § 3b EStG zu streichen, hat es wiederholt gegeben. So hat der Deutsche Bundestag in der 5. Wahlperiode die Befreiung nach § 3b EStG in die Subventionsabbauliste aufgenommen, weil sie eine steuersystematisch kaum zu rechtfertigende und einseitige Begünstigung bestimmter Gruppen sei; er hat sie in der 6. Wahlperiode als eine Steuerbefreiung charakterisiert, die sich steuersystematisch schwer rechtfertigen lasse und außerdem eine einseitige Begünstigung für eine bestimmte Personengruppe darstelle. In der 7. Wahlperiode wurden nochmals steuersystematische Bedenken geäußert. 116 Gelungen ist die Streichung der Befreiung nie. Zu stark ist die Lobby. 110 111 112 113 114 115 116
BFH, BStBl. II 1987, 625 (627). BFH, BStBl. II 1985, 57 (58). BVerfG v. 2. 5. 1978; HFR 1978, 383. BFH, BStBl. II 1987, 725 (727). BVerfG, Beschl. v. 8. 3. 1988, DStR Beihefter zu Heft 17. BFH, BFH/NV 2000, 343. Nachweise bei P. Kirchhof, Stbg. 1997, 196.
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Der Bundesrat sprach sich 1988 gegen die Abschaffung der Befreiung aus: Es müsse „berücksichtigt werden, dass Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit der Arbeitnehmer sowohl im öffentlichen Bereich (z. B. Gesundheits-, Sozial- und Verkehrsbereich) als auch im privaten Bereich (z. B. in Druckereibetrieben) nicht nur unvermeidbar“ sei, „sondern dass an dieser Arbeit auch ein Allgemeininteresse“ bestehe. 117 Verstärkt müsse in die Abwägung einbezogen werden, dass es Ziel der Regierung sei, „die Lohnnebenkosten tendenziell zu senken, um die Attraktivität des Industriestandortes BR Deutschland zu erhalten und zu festigen.“ Daher sei es gerechtfertigt, es bei der Steuerfreiheit zu belassen, soweit die Zuschläge für Arbeit zu „besonders ungünstigen Zeiten sowie zur Aufrechterhaltung produktionsbedingter Schichtabläufe an Sonntagen gezahlt“ würden. 118 Aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber darauf § 3b EStG nicht aufgehoben hat, darf man wohl schließen, dass er sich die Begründung des Bundesrats zu eigen gemacht hat. Jedenfalls heißt es im 20. Subventionsbericht der Bundesregierung: „Die Steuerbefreiung berücksichtigt, dass Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit sowohl im öffentlichen Interesse als auch im privaten Bereich nicht nur unvermeidbar ist, sondern dass an dieser Arbeit auch ein Allgemeininteresse besteht“. 119 7.2212 Stellungnahme Der Gleichheitssatz verlangt nach Verallgemeinerung (Generalisierung, s. S. 1259 f., Konsequenz). 120 Die Rechtfertigung des BFH und des Bundesverfassungsgerichts lautet verallgemeinert, als Prinzip zu Ende gedacht: Jeder Berufstätige, der unter erschwerten, besonders belastenden Bedingungen arbeitet, darf eine Steuerermäßigung beanspruchen. Das müsste folgerichtig auch für Landwirte, Gewerbetreibende, Freiberufler und Politiker gelten. 121 Viele Landwirte, Freibe117 BR-Drucks. 100/88, S. 245 f. 118 BR-Drucks. 100/1/88, S. 4 f. 119 Beiheft zum 20. Subventionsbericht der Bundesregierung, Erläuterungen zu den Finanzhilfen und Steuervergünstigungen, S. 92. 120 Der Begriff Verallgemeinerung oder Generalisierung bezieht sich hier nicht auf die Typisierung des Sachverhaltes, sondern auf die Generalisierung des Gesetzes auf der Grundlage seines Zweckes. Zur Verallgemeinerung M. G. Singer, Generalization in Ethics, An Essay in the Logic of Ethics, New York 1971; zum „Gebot der Folgerichtigkeit“ P. Kirchhof, StuW 2006, 14; s. dazu ferner in diesem Band S. 1251 ff. 121 P. Kirchhof, Der Weg zu einem neuen Steuerrecht, 2005, S. 146/147: „besondere Arbeitserschwernisse . . . betreffen auch andere Berufe, insb. den Landwirt, die Gastronomie, den Pfarrer, Arzt und Künstler sowie Freiberufler und Spitzenbeamte, die in der Nacht und an Sonntagen arbeiten. Der Befreiungstatbestand widerspricht deshalb dem Gebot steuerlicher Gleichbelastung aller Einkommen.“
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rufler oder Politiker arbeiten nicht nur auch an Sonntagen und nachts, sie arbeiten in der Regel auch weit länger als Arbeitnehmer mit dem Arbeitszeitideal von Gewerkschaften. Gleichwohl pflegen sie nicht über die vom Bundesverfassungsgericht diagnostizierten Lebensrhythmusstörungen zu klagen. Durch Feiertage innerhalb der Woche wird der Rhythmus übrigens gerade durch Nichtarbeit gestört. Es gibt überdies Alltagsarbeiten, die erheblich beschwerlicher und belastender sein können als Sonntags- und Nachtarbeit, z. B. Arbeit am Hochofen, im Schlachthof, im Fäkalienbereich, die nicht selten erzwungene Arbeit von Prostituierten. § 68 österr. EStG ist in dieser Hinsicht konsequenter als § 3b EStG. Er begünstigt auch Schmutz-, Erschwernis- und Gefahrenzulagen (in Deutschland gilt noch das Bergmanns-Prämiengesetz, das Bergmannsprämien begünstigt). Durchaus nicht alle Selbstständigen können ihre Arbeit so einteilen, dass sie ohne Sonntags- und Nachtarbeit auskommen. Man denke z. B. an Landwirte, Ärzte, Apotheker, Hebammen, Gastronomen, Seelotsen. Abgesehen davon, dass Steuervergünstigungen kein geeignetes Mittel sind, die Nachteile besonders belastender Arbeit auszugleichen. Ungesunde Arbeit wird durch eine Steuervergünstigung nicht gesünder. Im Übrigen: Nicht wenige Arbeitnehmer verbringen ihre Sonntage auf eine Weise, die am „blauen Montag“ zu Arbeits-Rhythmusstörungen führen. Sonntagsarbeit wäre der Gesundheit dieser Gruppe zuträglicher. Die vom Bundesverfassungsgericht angesprochene „kulturelle“ Lebensrhythmusstörung zielt wohl auf die vor allem von den Kirchen geforderte Sonntagsruhe. Durch Steuervergünstigungen stimulierte Sonntagsarbeit wirkt der Sonntagsruhe aber gerade entgegen. Ob eine Arbeit besonders schwer oder belastend ist, ist übrigens unabhängig von der Einkommenshöhe zu beurteilen. Es ist auch nicht folgerichtig, die Steuervergünstigung für Sonntagsund Nachtarbeit an einen besonderen Zuschlag zu knüpfen, da die Schwere der Arbeit nicht zuschlagsabhängig ist. Der Zuschlagsempfänger wird doppelt begünstigt, durch den Zuschlag und die Steuerbefreiung. Verallgemeinert man den Rechtfertigungsgrund: Bei Nicht-Arbeitnehmern stößt die Überprüfung, in welchem Umfang tatsächlich Sonntags- oder Nachtarbeit geleistet wird, in der Regel auf Schwierigkeiten; so ergibt sich der prinzipielle Satz: Erfüllen sowohl die Gruppe A als auch die Gruppe B den Tatbestand einer Steuervergünstigung, so darf die Gruppe B von der Vergünstigung ausgeschlossen werden, wenn sich bei ihr Ermittlungsschwierigkeiten ergeben. Gruppe A wird begünstigt, weil sich bei ihr keine Ermittlungsschwierigkeiten einstellen. Unterschiedliche Ermittlungsschwierigkeiten rechtfertigen jedoch keine unterschiedliche Steuerbelastung. Auch die Gruppe, bei der ausreichende Ermittlungen möglich sind, darf dann nicht begünstigt (oder sonderbelastet) werden. 1540
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Die abstrakte Berufung auf „wirtschaftspolitische Gründe“ kann als Rechtfertigungsgrund nicht akzeptiert werden, weil sie zu weit und unbestimmt ist. § 34c Abs. 5 EStG und § 50 Abs. 7 EStG ermächtigen die Finanzbehörde allerdings zum Erlass von Steuern, wenn es aus „volkswirtschaftlichen Gründen zweckmäßig ist“. Die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Formel wird jedoch mit Recht angezweifelt. 122 Das Bundesverfassungsgericht ist, wenn zur Rechtfertigung lediglich Schlagworte angeführt werden, zu großzügig und kommt dem Gesetzgeber gelegentlich auch mit Konkretisierungsversuchen zur Hilfe. Es fehlt eine wissenschaftliche Arbeit, die einmal alle SchlagwortRechtfertigungen, die sich in BT- und BR-Drucksachen sowie in Urteilsgründen finden, zusammenstellt. Der Gesetzgeber braucht nur noch wenig Phantasie, um – gestützt auf Verfassungsgerichtsentscheidungen – erwünschte Begründungen zu finden. Welches Lenkungsziel der Gesetzgeber auch wirklich verfolgt: Gründe sind zu leicht zur Hand. 123 Ein beliebtes Schlagwort sind auch „arbeitsmarktpolitische Gründe“. Sie können die Steuerbefreiung von Sonntags- und Nachtarbeitszuschlägen nicht sowohl bei Mangel an Arbeitskräften als auch bei hoher Arbeitslosigkeit rechtfertigen. „Ein Steueranreiz zur Mehrarbeit ist in Wirtschaftsphasen nicht erforderlich, in denen es um die Verteilung der Arbeit auf möglichst viele Schultern geht“. 124 Tatsächlich fehlt es nicht an Arbeitskräften, die bereit sind, auch an Sonntagen und nachts zu arbeiten. Die Wirtschaft würde also nicht leiden, wenn es § 3b EStG nicht gäbe. Wäre es aber anders, so wäre es konsequent, § 3b EStG auch auf Samstagsarbeit auszudehnen. Das wird der Finanzminister jedoch wegen des Steuerausfalls nicht wollen. Vom Volumen her ist § 3b EStG bereits jetzt eine der größten Einkommensteuervergünstigungen. Der Steuerverzicht beträgt ca. 1740 Mio. Euro (so der 20. Subventionsbericht). Andere Länder kommen denn auch ohne 122 J. Isensee, Festschrift Flume II, 1978, S. 129 (131); H.-J. Papier, DStJG 12 (1989), 61 (68); Holthaus, IStR 2006, 120; Nieland, in: Lademann, EStG, § 50 Rz. 150. Aufgrund von § 50 Abs. 7 EStG sind der FIFA die Steuern auf einen Gewinn von 800 Mio. Euro und auf einen Umsatz von 2 Mrd. Euro erlassen worden (dazu Anzinger, FR 2006, 857). 123 Auch der Gesetzgeber weiß inzwischen, dass sich fast jede Schedule arbeitsmarkt- oder wirtschaftspolitisch, insb. standortpolitisch rechtfertigen lässt. Der Gesetzgeber kann jedenfalls berechtigte Hoffnung haben, das Bundesverfassungsgericht – es setzt sich aus Juristen zusammen, nicht aus Ökonomen – werde die Politik mit dem „weiten Diagnose- und Prognosespielraum des Gesetzgebers“ absegnen. So wird jede Politik zum Rechtfertigungsgrund, während doch die Politik selbst gerechtfertigt werden müsste. Nur zu oft beruht die Berufung insb. auf Wirtschaftspolitik i. w. S. auf bloß angemaßtem Wissen von Politikern oder Forderungen von Interessenverbänden. 124 P. Kirchhof, Stbg. 1997, 195.
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einen § 3b EStG aus, ohne dass ihre Wirtschaft Schaden leidet, z. B. Belgien, Frankreich, die Niederlande, die Schweiz, die Türkei und viele mehr. Verallgemeinert man die § 3b-Rechtfertigungsgründe des Bundesrates, so ergibt sich: Wer im öffentlichen oder privaten Bereich unvermeidbare (unverzichtbare) Arbeit leistet, arbeitet im Allgemeininteresse und verdient daher eine Steuerermäßigung. Der Gesetzgeber denkt aber nicht daran, einen solch allgemeinen Satz zum Rechtssatz zu erheben. So leisten denn sehr viele Berufstätige unverzichtbare Arbeit im Allgemeininteresse, erhalten aber keine Steuervergünstigung, etwa die im Versorgungsbereich Tätigen. Auch der Hinweis, die Steuerfreiheit der Sonntags- und Nachtarbeit bewirke eine Senkung der Lohnnebenkosten, hält dem Gebot der Verallgemeinerung nicht stand. Überhaupt: Da Steuervergünstigungen die Gebote der Verallgemeinerung und der Folgerichtigkeit beachten müssen, dürfen sie nicht beliebig eng oder weit gefasst werden. Die verallgemeinernde Rechtfertigung der Vergünstigung bestimmt die zu erfassende Gruppe. Die nicht umsetzbaren Verallgemeinerungen ergeben: Der punktuelle § 3b EStG privilegiert eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern ohne ausreichende Rechtfertigung. § 3b EStG ist nicht verallgemeinernd-folgerichtig, daher „nicht gleichheitsgerecht ausgestaltet“. Daher führen sechs Expertenentwürfe des Einkommensteuergesetzes die Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags- und Nachtarbeit auch nicht weiter. 125 Dass die Streichung des Privilegs überzeugend begründet wird, interessiert die Verteidiger der Vergünstigung indessen überhaupt nicht. Die Verteidiger sind die Bezieher der Zuschläge und die Unternehmer, die Nachtarbeit ausführen lassen. Sie werden nicht nur von den Gewerkschaften 126 unterstützt, sondern herkömmlich auch von der SPD, die die Mehrzahl der Privilegierten ihrer Wählerklientel zurechnet und Stimmenfangpolitik betreibt. In der Regel verfolgen Arbeitnehmer und Arbeitgeber unterschiedliche Interessen. Im Falle dieser Vergünstigung bilden die mitbegünstigten Unternehmer, die sonst höhere Zuschläge zahlen müssten, aber zusammen mit den Privilegier125 Nachweise in K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?, 2006, S. 149. 126 W. Zeidler nahm schon 1971 (in einem Festvortrag zur Eröffnung der 16. Tagung der Deutschen Richterakademie zum Thema „Richter und Verfassung“) an, dass die Befreiung (damals § 34a EStG) nicht auf sachlichen Gründen beruhe, sondern darauf, dass die Politiker Ärger mit den Gewerkschaften scheuten (Zeidler, DÖV 1971, 6 [13]). Die Gewerkschaften gehen mit dem Steuerrecht nur zu oft so um, als handele es sich um Tarifvertragsverhandlungen, als sei im Steuerrecht alles machbar.
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ten und ihrer Lobby eine „unheilige Allianz“. Da Presseunternehmen erheblich betroffen sind, handelt es sich um eine besonders starke Allianz. Die Unternehmer vernebeln, dass es ihre Sache wäre, Sonntags- und Nachtarbeit angemessen zu vergüten. An der Verletzung des Gleichheitssatzes haben Lobbyisten und auf Wählerstimmenfang ausgehende Parteien sich indessen noch nie gestoßen. Statt eine sachliche Rechtfertigungsprüfung vorzunehmen, wird an Emotionen appelliert. Kaum hatte die CDU/CSU im Juli 2005 verkündet, sie wolle das Privileg in Etappen auslaufen lassen, damit Gelegenheit für eine Tarifanpassung bestehe, brachten SPD und Grüne wieder barmende Nachtschwestern und übernächtigte Busfahrer ins Spiel und klagten Union und FDP der „sozialen Kälte“ an. Ohne ein Eingreifen der Gerichte wird das Nachtarbeitsprivileg in Deutschland wohl „ewig leben“. Da die Gleichbelastung sich nicht dadurch herstellen lässt, dass der § 3b EStG verallgemeinernd auf alle besonders belastenden Arbeiten ausgedehnt wird, kann § 3b EStG zur Herstellung der Gleichbelastung nur (jedenfalls in einem Etappenübergang) aufgehoben werden. 7.222 Steuerfreiheit der Abgeordneten-Kostenpauschale Da vor dem Einkommensteuergesetz alle natürlichen Personen gleich sind, sind auch Abgeordnete und Nichtabgeordnete gleich zu belasten. Im Einkommensteuerrecht gilt für alle Einkunftsarten das Nettoprinzip, d. h. von den Erwerbseinnahmen dürfen die Erwerbsausgaben (Betriebsausgaben/Werbungskosten) abgezogen werden. Die allgemeinen Regeln ergeben sich aus den §§ 4 Abs. 4; 9; 9a EStG. Unternehmer müssen ihre Betriebsausgaben grundsätzlich durch Buchführung oder Aufzeichnungen ermitteln. Arbeitnehmer, die über den Pauschbetrag hinausgehende Werbungskosten geltend machen, müssen diese nachweisen (§ 9a Abs. 1 EStG). Bei Unternehmern sind die Betriebsausgabenverhältnisse in Anbetracht von Art und Größe des Betriebes so unterschiedlich, dass sie nicht typisierbar (pauschalierbar) sind. Für Werbungskosten-Einkunftsarten sieht § 9a EStG jedoch – typisierend – Werbungskosten-Pauschbeträge zwischen 102 und 920 Euro pro Jahr vor. Die Abgeordneten haben für sich Ausnahme- oder Sonderregeln beschlossen. Neben der Entschädigung, die die Abgeordneten (dieser Beitrag bezieht sich nur auf die Bundestagsabgeordneten) auf Grund des Art. 48 Abs. 3 GG und des § 12 AbgG beziehen, erhalten alle Abgeordneten eine Aufwandsentschädigung. Sie besteht u. a. (aber nicht nur, s. § 12 Abs. 3, Abs. 4 AbgG 127) aus einer Kostenpauschale 127 Volle Auflistung durch R. Stalbold. Die steuerfreie Kostenpauschale der Abgeordneten, 2004, S. 21 ff. s. auch M. Balke, ZSteu 2006, 435 li. o.
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von zurzeit 43 068 Euro pro Jahr. Während die Pauschalen für Nichtabgeordnete (§ 9a EStG) Sockelpauschalen sind, die von den erfassten Steuerpflichtigen in der Regel erreicht werden, die auf Nachweis aber auch überschritten werden können. Die Kostenpauschale für Abgeordnete ist – ebenso wie andere Aufwandsentschädigungen – steuerfrei (§ 3 Nr. 12 EStG). Soweit die durch das Mandat veranlassten Aufwendungen die Kostenpauschale überschreiten, dürfen sie nicht als Werbungskosten abgezogen werden. Da die Abgeordneten (als Gesetzgeber) ihre Kostenpauschale selbst festsetzen, ist nicht gewährleistet, dass der steuerfreien Kostenpauschale tatsächlich mandatsveranlasste Kosten in Höhe der Pauschale gegenüber stehen. Soweit das nicht der Fall wäre, erhielten Abgeordnete, anders als Nichtabgeordnete, im Ergebnis ein zusätzliches steuerfreies Einkommen. Insoweit hätten sie sich selbst privilegiert. Welche Kosten die Pauschale für Abgeordnete abdecken soll, ergibt sich aus § 12 Abs. 2 AbgG, nämlich insb. Kosten eines Wahlkreisbüros außerhalb Berlins, Mehraufwendungen in Berlin (insb. für eine Zweitwohnung in Berlin), Aufwendungen für mit dem Mandat zusammenhängende Inlandsreisen und sonstige mandatsbezogene Kosten wie Aufwendungen für Repräsentation, für Einladungen, für Wahlkreisbetreuung. Die Abgeordneten-Kostenpauschale wird jährlich an die Entwicklung der Lebenshaltungsausgaben, m. a. W. an die Inflation angepasst (§ 12 Abs. 2 Satz 2 AbgG), anders als die Pauschalen für „normale“ Steuerpflichtige. Die Kritik rügt, dass die Abgeordneten sich eine zu hohe Pauschale zugesprochen hätten. Ihre mandatsbezogenen Aufwendungen seien so unterschiedlich hoch, dass sie nicht typisierbar seien. Es gebe Abgeordnete mit und ohne Wahlkreisbüro, mit und ohne Zweitwohnung in Berlin, Abgeordnete mit ganz unterschiedlich hohen Aufwendungen für Reisen, Wahlkreisbetreuung und Repräsentation. Daher verletze die Steuerbefreiung einer (nicht nachzuweisenden) Einheitspauschale den Gleichheitssatz. 128 Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Joachim Poss (seit 30 Jahren Mdb, Berufs-MdB) rechtfertigt die Sonderregeln für Abgeordnete so: Abgeordnete seien keine normalen Steuerpflichtigen. Daher gebe es gute Gründe für ein Sonderrecht. Andere Abgeordnete machen geltend: Der Nachweis der durch das Mandat verursach128 Ausführliche Darstellung der Kritik durch R. Stalbold, Die steuerfreie Kostenpauschale der Abgeordneten, 2004, insb. S. 48 ff., 81 ff., 181 ff. S. auch H.-U. Jörges, Diät-Kur für Volksvertreter, Stern 16/2006, S. 56; A. P. Schütz, In welcher Tarifgruppe sind Sie, Herr Abgeordneter?, Stern 33/2006, S. 48, 50. – E. M. Wenz hält die Diätenhöhe für unbedenklich. Die Kostenpauschale nennt er aber „Rechtsbruch im Verfassungsrang“, in Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Heft 3/1992, 53 ff.
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ten Kosten führe zu einer „unzumutbaren Zettelwirtschaft“. Der durch die Belegführung entstehende Zeitverlust gehe für die politische Arbeit verloren. Im Übrigen seien Abgeordnete „immer im Dienst“; sie hätten kaum ein Privatleben. Wenn die Bürger qualifizierte Abgeordnete wünschten, müssten sie auch bereit sein, diese angemessen auszustatten. Müsste der mandatsveranlasste Aufwand nachgewiesen werden, so würde zu Lasten der Abgeordneten nur noch das Nachgewiesene von der Staatskasse (vom Steuerzahler) ersetzt werden, nicht mehr eine höhere Pauschale. 129 Dazu in Kürze: In vielen Monarchien waren das Staatsoberhaupt und die sog. (hochadeligen) „Standesherren“ von Steuern befreit. Die Demokratie kennt keine solchen Standesvorrechte, 130 sie ist grundsätzlich privilegienfeindlich. 131 Die Abgeordneten sind „Vertreter des Volkes“, nicht „Standesherren der Demokratie“. Dementsprechend erfasst das Einkommensteuergesetz alle „natürlichen Personen“. Soweit die Abgeordneten Gesetze in eigener Sache beschließen, müssen sie besonders penibel darauf achten, dass sie für sich – abweichend von den für Nichtabgeordnete geltenden Regeln – keine Sonderregeln schaffen, übrigens auch nicht für Parlamentsjournalisten. Die das Nettoprinzip betreffenden Vorschriften des Einkommensteuergesetzes für Abgeordnete weichen wie folgt von den Vorschriften für Nichtabgeordnete ab: Die Kostenpauschale beschränkt sich nicht auf einen Sockelbetrag (den fast alle Abgeordneten erreichen), sondern ist Einheitspauschale für alle Abgeordneten ohne Rücksicht auf deren unterschiedlich hohe Aufwendungen. Dass Abgeordnete sich vor Gericht noch nie über eine zu geringe Pauschale beschwert haben, indiziert, dass die Pauschale auch für Abgeordnete mit hohen Mandatsaufwendungen ausreichend ist, während sie bei Abgeordneten mit niedrigen Aufwendungen zu Lasten der Steuerzahler mit den Realitäten nicht übereinstimmen dürfte. Der BGH hat in Unterhaltssachen denn auch von Abgeordneten verlangt, die tatsächlichen mandatsveranlassten Kosten darzulegen. 132 Die Abgeordneten haben sich auch dadurch privilegiert, dass ihre Pauschale jährlich an die steigenden Lebenshaltungskosten angepasst wird, während das für die Pauschalen von Nichtabgeordneten nicht gilt. Dass Abgeordnete meinen, Aufzeichnungs- und Nachweispflichten seien ihnen nicht zuzumuten, zeugt von einem Vorrechtsbewusstsein. Abgeordnete haben aber steuerrechtlich keine Vorrechte, sondern die gleichen Rechte und Pflichten wie andere Steuerpflichtige auch. Sie beschließen seit Jahrzehnten unnötig komplizierte, zum Teil kaum 129 130 131 132
Nachweis von Abgeordneten – Einlassungen in ZSteu 2006, 435 ff. Dazu Bd. I2, 2000, S. 285 ff. BVerfGE 40, 296 (317). BGH v. 7. 5. 1986, FamRZ 1986, 780.
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verständliche oder missverständliche Steuergesetze mit einer Vielzahl von Pflichten. Die allgemeinen Regeln müssen schon deshalb für sie selbst auch gelten, damit sie spüren, was sie anderen Bürgern zumuten. Das heißt nicht, dass die mit einem Abgeordnetenmandat verbundenen besonderen Lasten nicht berücksichtigt werden dürften. Nichtabgeordnete müssen keinen Wahlkreis betreuen, benötigen kein Wahlkreisbüro und überwiegend auch keine Zweitwohnung. Sie müssen sich auch nicht so verhalten, dass sie wiedergewählt werden. Das rechtfertigt aber keine Einheitspauschale. Abgeordnete können sich – mandatsveranlasst – auf vielfältige Weise engagieren; sie können ihre Pflichten auch stark vernachlässigen, ohne dass dafür irgendwelche Sanktionen vorgesehen sind. Was immer ein Abgeordneter indessen tatsächlich aufwendet, die Kostenpauschale ist für alle Abgeordneten gleich. 133 Eine Einheitspauschale für alle lässt sich bei sehr unterschiedlich hohen Aufwendungen aber nicht rechtfertigen. Nicht nur die Kostenpauschale, auch die Abgeordnetenentschädigung (Diäten) ist für solche Abgeordneten unangemessen, die nicht nur als Abgeordnete dem Gemeinwohl dienen, sondern zugleich ihrem Beruf weiter nachgehen oder schlimmer: die als Lobbyisten Sonderinteressen vertreten und nur auch oder gar nur nebenbei Abgeordnete sind. Für solche Abgeordneten sind die vom Steuerzahler aufzubringenden Diäten und die volle Kostenpauschale schon aus diesem Grunde unangemessen. Angemessen sind sie nur für Abgeordnete, für die – wie § 44a Abs. 1 AbgG es ausdrückt – „die Ausübung des Mandats im Mittelpunkt steht“. Es geht hier nicht darum, ob die These, Abgeordnete seien im Stande, zugleich das Gemeinwohl wahrzunehmen und Sonderinteressen zu vertreten, realistisch ist oder nicht. Obwohl die Abgrenzung der Berufssphäre von der Privatsphäre im Einkommensteuerrecht oft schwierig ist: Bei Abgeordneten ist sie besonders schwierig: § 12 Nr. 1 S. 2 EStG lässt sog. Repräsentationsaufwendungen nicht zum Abzug zu. Aber der Abgeordnete, der populär werden will, muss repräsentieren, er darf sich nicht verstecken. Zur „Pflege seines Mandats“ muss er an allen möglichen Veranstaltungen und Festen teilnehmen. Er muss präsent sein, auf sich aufmerksam machen, politische Beziehungen aufbauen, jedenfalls etwas für seine Wiederwahl tun (auch wenn sich daraus kein Kompetenzgewinn ergeben sollte). Daher sollte das Bedürfnis für eine selektive Typisierung (Pauschalierung) der Repräsentationskosten nicht vorschnell verneint werden. Teilpauschalierungen, die den tatsächlichen Aufwand besser erfassen als eine Totalpauschale, sind zulässig. Aufwendungen für ein Wahlkreisbüro und für eine Berliner Wohnung könn133 Nur wegen Fehlens in Sitzungen wird die Pauschale gekürzt (§ 14 AbgG). Dazu H. H. Klein, Status des Abgeordneten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. III, 2005, § 51 Rz. 23.
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ten aus der Pauschale ausgeschieden werden; sie lassen sich leicht nachweisen. Da der Verfasser keine Abgeordneten-Erfahrungen hat, sieht er von einem Vorschlag zur Höhe der verbleibenden Sockelpauschale ab, äußert sich auch nicht zur Höhe einer Teilpauschale für Repräsentationskosten. Bei einer angemessenen Pauschale könnte man auch daran denken, höhere Aufwendungen auf Nachweis zum Abzug zuzulassen (entsprechend § 9a Abs. 1 EStG). 7.23 Sonntags-/Nachtarbeiter und Abgeordnete privilegiert Wenn feststeht, dass Gruppen von Steuerpflichtigen privilegiert (soll heißen: ungerechtfertigt begünstigt) werden, sollte es für den Gesetzgeber eines Rechtsstaates eine Selbstverständlichkeit sein, dass er die Privilegien aufhebt, ohne dass deswegen Gerichte bemüht werden müssen. Die Erfahrung lehrt indessen, dass das keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist – abgesehen davon, dass sich auch über die Frage, ob ein Privileg vorliegt, trefflich streiten lässt. Würde allen, die Sonntags-/Nachtarbeit leisten durch Erweiterung des § 3b EStG eine Steuervergünstigung zugestanden, so würde das nur ein Teilschritt sein, weil es Tätigkeiten gibt, die noch beschwerlicher sind als Sonntags- oder Nachtarbeit. Alle Berufstätigen – was ihre Erwerbsaufwendungen betrifft – so zu behandeln wie Abgeordnete, wäre nicht der richtige Weg aus der Ungleichbehandlung. Vielmehr müssen die Abgeordneten den Regeln unterworfen werden, die für Nichtabgeordnete gelten, soweit nicht Sonderverhältnisse etwas Besonderes rechtfertigen. Das heißt: Es müssten Einkommensteuerpflichtige mit Erwerbsaufwendungen zur Wiederherstellung der Gleichbelastung als Kläger verlangen, dass den Sonntags-/Nachtarbeitern bzw. den Abgeordneten ihre Privilegien genommen werden. Die Frage, ob es überhaupt zulässig ist, die Schlechterstellung Dritter zu verlangen, haben wir oben (s. 7.2.1) schon einleitend, wenn auch nicht abschließend erörtert. Da nur das Bundesverfassungsgericht einen Gleichheitssatzverstoß bejahen kann, muss dieses Gericht die Entscheidungserheblichkeit einer Gerichtsvorlage oder – bei Verfassungsbeschwerden – die Rechtsverletzung des Beschwerdeführers bejahen, wenn es darum geht, dass Dritten ein Privileg genommen werden soll. Wir brechen hier ab und verweisen dazu auf die Ausführungen zum Verfassungsprozess (s. S. 1551 ff.). 7.3 Ergänzende steuerethische Auffassungen „Ein jedes Glied des gemeinen Wesens hat gegen jedes andere Zwangsrechte“, war schon die Position von I. Kant. 134 „Jeder Bürger“ 134 Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VIII, 1968, S. 291.
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– so A. Hensel – „könne mit Recht sagen“: „Ich verlange, dass mein Nachbar ebenso schwer von der Steuerlast betroffen wird wie ich selbst“. 135 J. R. Lucas 136 vertritt den gleichen Standpunkt: „. . . but we are all disadvantaged if someone disowns his burden“ (S. 235); „justice is, rather, a coalition of all for each . . . a deeper analysis shows that the rational meta-strategy is to pay on condition that others do too. Contributive justice therefore requires that each contributor is assured that others are also contributing their share . . .“ (S. 236); „every individual should subordinate some of his own interests to the common policy, and must be able to count on everyone else’s doing the same . . . we need to remember that each man may be sacrificing some cherished interest . . ., but only if it is an essential part of a common strategy in which he can be sure that others as well as he are playing their part“ (S. 237); „we recognize that each man is entitled to be assured that his sacrifice is necessary, and that he is not being called upon to bear a disproportionate burden by reason of others not bearing their share“ (S. 239); „. . . so we have as a canon of contributive justice the strong principle of universalisability . . . Contributive justice requires that there should be some sort of equality in shouldering the burden, so that each man can be sure that others are doing their share . . .“ (S. 240) Die Staatsrechtslehrer Herber Krüger und M. Kriele haben sich im gleichen Sinne geäußert. Herbert Krüger formuliert es so: „Jeder Staat erweist sich . . . als ein zum mindesten stillschweigendes Einverständnis darüber, dass die Staatsgesinnung des Individuums nicht eine für sich bestehende ist, sondern auf Gegenseitigkeit beruht. Hierin liegt der eigentliche Sinn des Bundes oder der Genossenschaft, wenn man die Staatlichkeit bündisch oder genossenschaftlich versteht. Die Frage liegt nahe, ob es auch hier nicht wieder der Sinn der Staatlichkeit sei, das Vertrauen auf die Gegenseitigkeit dadurch zu erhalten, dass das entsprechende Verhalten des anderen notfalls durch staatliche Intervention herbeigeführt wird. In der Tat ist der Staat weithin die zwangsweise Gewährleistung der Gegenseitigkeit unter den Mitbürgern.“ Als Beispiel nennt H. Krüger den „Verfassungssatz der Gleichheit vor den öffentlichen Lasten“. 137 Und M. Kriele ist der Ansicht: Die Befolgung einer Norm ist nur dann zumutbar, „wenn man die Gewissheit hat, dass jeder andere die Norm gleichfalls befolgt“, „z. B. seine Steuern bezahlt“. 138 Danach hat in der rechtsstaatlichen, dem Gleichheitssatz unterworfenen Gemeinschaft der Steuerpflichtigen jeder gegen jeden einen 135 136 137 138
VJSchrStFR 1923, 62. J. R. Lucas, On Justice, Oxford 1980, S. 231 ff. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 209. M. Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 37, 48; s. auch S. 47.
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moralischen Anspruch auf Erfüllung seiner gesetzlichen Steuerpflicht. Jeder Steuerpflichtige darf sich sagen: „Was der Staat von mir verlangt, das muss er – gleiche Verhältnisse vorausgesetzt – auch von anderen verlangen.“ Die Steuerpflicht ist eine Pflicht nicht nur gegenüber dem Staat, sondern moralisch auch gegenüber den anderen Bürgern, insbesondere gegenüber den anderen Steuerpflichtigen. Es ist zwar richtig, dass das Steuerschuldverhältnis rechtlich ein Verhältnis zwischen dem Steuerschuldner und dem Gemeinwesen als Steuerberechtigtem ist. Die Gleichmäßigkeit der Steuerbelastung liegt aber im rechtlichen Interesse auch aller einzelnen Steuerpflichtigen (zumal der steuerehrlichen) als Angehörigen einer Solidar- und Lastengemeinschaft; sie betrifft moralisch folglich das Verhältnis der (durch das Steuergeheimnis isolierten) Steuerpflichtigen zueinander, betrifft den Anspruch aller auf Gleichbehandlung. Den Anspruch eines jeden gegen jeden auf Erfüllung der gesetzlichen Steuerpflicht durchzusetzen, ist Aufgabe des die Gemeinschaft der Bürger repräsentierenden Staates. Setzen der Gesetzgeber oder die Finanzbehörden den Anspruch nicht durch, so sollte jeder Steuerpflichtige das Recht haben, die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit anzurufen, um seinen Anspruch, sein Recht gegen die anderen Steuerpflichtigen durchzusetzen. Das ist vor allem deshalb richtig, weil der Staat, der eine Gruppe privilegiert, die anderen Steuerpflichtigen diskriminiert. „. . . we are all disadvantaged if someone disowns his burden“, wie J. R. Lucas 139 sagt. Schon John Stuart Mill erkannte: „If anyone bears less than his fair share of burthen, some other person must suffer more than his share, and the alleviation to the one is not, on the average, so great a good to him, as the increased pressure on the other is an evil“. 140 In der Tat, immer muss der Steuerausfall, den diejenigen auslösen, die die gesetzliche Steuer nicht zahlen, von anderen Steuerzahlern durch höhere Steuern aufgebracht werden. Lassen die Gerichte den Rechtsschutz gegen Privilegien Dritter nicht zu, so bleiben sie hinter den steuerethischen Anforderungen zurück. Die Ungleichbelastung verletzt den nachteilig ungleich Belasteten in seinem Recht auf Gleichbelastung. Was hilft es, dass die Demokratie privilegienfeindlich ist, wenn die Bürger gegenüber den Privilegien aber rechtlich wehrlos sind!
139 A. a. O. (Fußn. 136). 140 J. St. Mill, Principles of political economy with some of their applications to social philosophy, Peoples Ed., London 1868, 5. Buch, 2. Kap. § 3 (S. 484).
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§ 33 Rechtsschutz durch Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Über die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der rechtsstaatlichen Demokratie – Verfassungsanwendung ist keine Steuerpolitik . . . . 1551 .. 2. Formale Rechtsschutzhürden des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . 1556 .. 2.1 Hürden im Verfahren der konkreten Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . 1556 .. 2.2 Hürden im Verfahren der Verfassungsbeschwerde 1561 .. 3. Präventivmittel restriktiver Verfassungsrechtsprechung in der Sache . . . . . . . . . . . 1562 ..
4. Entscheidungsmöglichkeiten in der Sache . . . . . . . . . . . 1566 .. 5. Insbesondere: Zum Verfassungsrechtsschutz gegen Privilegien Dritter . . . . . . . . . 1567 .. 6. Über Reputation und Wirksamkeit des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . 1574 .. 6.1 Über die Reputation des Gerichts . . . . . . . . . . . 1574 .. 6.2 Über Wirken und Wirksamkeit des Gerichts im Steuerrecht . . . . . . . . . 1576 ..
Literatur K. Tipke, Steuerlegislative unter Verfassungsdruck, StuW 1993, 8 ff.; K. Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Festschrift für M. Kriele, 1997, S. 411 ff.; B. Guggenberger/Th. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, 1998; M. Rodi, Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsauftrag des Steuergesetzgebers, in: Festschrift für K. Vogel, 2000, S. 187 ff.; R. Lamprecht, Karlsruher Lotterie, NJW 2000, 3543 ff.; B. Guggenberger/Th. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, Das Verfassungsgericht im Widerstreit, 2000; R. Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz – Rechtsfolgen und Rechtsschutz, 2000; B. Sangmeister, Das Bundesverfassungsgericht und das Verfassungsprozessrecht, dargestellt am Beispiel seiner Beschlüsse zur Familienbesteuerung v. 10. 11. 1998, StuW 2001, 168 ff.; W. Brohm, Die Funktion des Bundesverfassungsgerichts – Oligarchie oder Demokratie, NJW 2001, 1 ff.; W. Reiß, Vor dem Gesetz, in: Gedächtnisschrift für J. G. Helm, 2001; K. Vogel, Die Steuergewalt und ihre Grenzen, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 527 ff.; M. Jestädt, Verfassungsgerichtspositivismus, Hommage an J. Isensee, 2002, 183 ff.; A. Funke, Gleichbehandlungsgrundsatz und Verwaltungsverfahren, AöR Bd. 132 (2007), 168 ff.; M. Desens, Neid als Grundrechtsausübungsmotiv, AöR Bd. 133 (2008), 404 ff.; R. Mellinghoff, Verfassungsgebundenheit des Steuergesetzgebers, in: Festschrift für P. Bareis, 2005, S. 171 ff.; U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht. Gefahren eines dogmatischen Sonderwegs, in: R. Mellinghoff/Palm, Gleichheit im Verfassungsstaat, Symposion aus Anlass des 65. Geburtstags von Paul Kirchhof, 2009, S. 175 ff.; R. Wernsmann, Zunehmende Europäisierung und Konstitutionalisierung als Herausforderungen an den Steuergesetzgeber, in: W. Schön/E. Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, S. 161 ff.; K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Gesetzgeber, JZ 2009, 533 ff.; M. Balke, Effektiver Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Steuergesetze, in: Festschrift für
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Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit J. Lang, 2010, S. 965 ff.; M. Droege, Wie viel Verfassung braucht der Steuerstaat?, StuW 2011, 105 ff.
1. Über die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der rechtsstaatlichen Demokratie – Verfassungsanwendung ist keine Steuerpolitik Art. 1 III GG bestimmt klar: „Die nachfolgenden Grundrechte binden die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes Recht“. Art. 20 III GG hebt überdies hervor: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden.“ Zu ihr gehören auch die Grundrechte. 1 Danach kann ein einzelner Verfassungsbeschwerdeführer mit Hilfe des Verfassungsgerichts gegen die Parlamentsmehrheit Recht bekommen. Das war zur Zeit der Weimarer Verfassung anders. Die „Väter des Grundgesetzes“ haben aus dem Versagen der Weimarer Verfassung gelernt; diese Verfassung hatte den Übergang der Macht an die Nationalsozialisten nicht zu verhindern vermocht. 2 Unter der Weimarer Verfassung war umstritten, ob Richter Gesetze auf ihre Verfassungskonformität kontrollieren dürften, etwa am Gleichheitssatz messen dürften. Die Grundrechte wurden allgemein als unverbindliche Programmsätze angesehen. Und so haben weder das Reichsgericht noch der Reichsfinanzhof jemals ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit nicht angewendet. Die Richter agierten eben nicht als „Hüter der Verfassung“. Eine dem Art. 100 GG entsprechende Vorschrift gab es nicht, eine Verfassungsbeschwerde war nicht vorgesehen. 3 Parlamentarier neigen, neigten insbesondere unter der Weimarer Verfassung zu der Annahme, die Parlamentsmehrheit habe immer Recht; die Verfassungskontrolle durch Gerichte sei überflüssig. Diese Erfahrung musste in der Weimarer Republik auch schon Albert Hensel machen, der führende Kopf der Steuerrechtswissenschaft in der damaligen Zeit. Er setzte sich für die Anwendung des damals als unverbindlich angesehenen Art. 107 WRV (Gleichheitssatz) und Art. 134 WRV (Leistungsfähigkeitsprinzip) ein. Ihm wurde entgegen gehalten: „Was der Gesetzgeber in dem von der Verfassung für richtig gehaltenen Verfahren produziert, genügt allen billigerweise zu stellenden Anforderungen an Gerechtigkeit. Das wertende Grundrecht spricht also nur das aus, was schon 1 Dazu näher R. Mellinghoff, Verfassungsgebundenheit des Steuergesetzgebers, in: Festschrift für P. Bareis, 2005, S. 174 ff. 2 Was passiert wäre, wenn zwischen 1919 und 1933 das Grundgesetz gegolten hätte, ein Verfassungsgericht „Hüter der Verfassung“ gewesen wäre, ist eine spannende Frage. Auch eine Verfassung kann wohl, was immer ihr Inhalt ist, überrannt werden, wenn das Gros der Bevölkerung ihren Geist nicht teilt. 3 Dazu auch W. Reiß, in: Gedächtnisschrift für J. G. Helm, 2001, S. 793.
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§ 33 Rechtsschutz durch Verfassungsgerichtsbarkeit ohnedies durch den Akt der Gesetzgebung materiell verwirklicht wird . . . Das demokratische Gesetzgebungsverfahren sorgt, ohne dass es weiterer Besinnungen oder gar Zweifel bedürfe, einfach durch die formellen Schranken und Sicherungen des Gesetzgebungsverfahrens dafür, dass jedes Steuergesetz den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen der Verfassung (Allgemeinheit der Besteuerung, Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit) ohne Weiteres entspricht“. 4
Albert Hensel erwiderte: „Wäre eine solche extrem idealistische Würdigung der demokratischen Gesetzgebung als Verfassungsprinzip wirklich anzusehen, so erübrigte sich freilich eine selbstständige rechtswissenschaftliche Untersuchung über das materielle Gebot steuerlicher Gerechtigkeit, das Art. 134 enthält. Will man es als immanentes Verfassungsprinzip gelten lassen, dass der durch das Werk von Weimar eingesetzte Volksgesetzgeber ebenso wenig unrecht tun kann wie der absolute König (The King can do no wrong), so wird derjenige, welcher trotzdem an der Unfehlbarkeit zu zweifeln wagt, gut daran tun, diese Kritik auf die Verfassungsteile zu beschränken, die sich mit dem Gesetzgebungsverfahren befassen“. 5
Obwohl A. Hensel in seiner kurzen Schaffenszeit (er starb im Alter von 38 Jahren) nicht dazu gekommen ist, ein detailliertes System des Steuerrechts zu entwickeln: Die „Väter des Grundgesetzes“ hätten ihn 1948/49 bei der Beratung der Art. 105, 106 GG dringend benötigt. Der Haushaltsspezialist H. Höpker-Aschoff konnte ihn nicht ersetzen. Es ist eben ein Unterschied, ob man bestrebt ist, den Haushalt mit effektiven steuertechnischen Mitteln irgendwie zu finanzieren, oder ob das auf gerechte Weise geschehen soll. Man sollte annehmen, die Meinungsverschiedenheiten über das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik oder Gesetzgebung sei durch Art. 1 III; 20 III 6 GG eindeutig entschieden worden. In Wirklichkeit gibt es aber erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Vor allem: „. . . hart im Raume stoßen sich die Dinge, wenn es um die Umsetzung im konkreten Fall geht. Eingriff in den politischen Gestaltungsspielraum der Parlamente rufen die einen, zu großzügige Kontrolle der Verfassungsgerichte die anderen“. 7 In der Tat helfen unbestimmte Phrasen nicht weiter. Finanzminister W. Schäuble wird mit den Worten zitiert: „Wer Gesetze machen will, soll sich gefälligst bemühen, Abgeordneter im Bundestag zu werden“ (FAZ v. 18. 11. 2011). In dieser Bemerkung steckt die Behauptung, die Verfassungsrichter maßten sich Gesetzgebung an und gängelten die Gesetzespolitik. 4 So fasst A. Hensel selbst den Gegenstandpunkt zusammen (VJSchrStFR 4 [1930], 443 f., abgedruckt auch in: E. Reimer/Chr. Waldhoff [Hrsg.], Albert Hensel, 2000, S. 246 f.). 5 A. Hensel (Fußn. 4), S. 444 und ff., abgedruckt auch in: E. Reimer/Chr. Waldhoff (Hrsg.), Albert Hensel (Fußn. 4), S. 247 ff. 6 Dazu B. Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003. 7 K. Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Festschrift für M. Kriele, 1997, S. 415.
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Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit
E.-W. Böckenförde hat schon vor längerer Zeit davor gewarnt, dass sich unser Land in einen „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“ verwandeln könne. 8 E.-W. Böckenförde war selbst Verfassungsrichter. Vielleicht missfiel ihm der iudical activism seines Richterkollegen Paul Kirchhof. Soziologen und Politologen, aber auch einige Rechtswissenschaftler schlagen ebenfalls in diese Kerbe. Sie warnen vor Über-Konstitutionalisierung. In Zeitungen stößt man sogar auf drastische Wortwahl wie „Die Fratze des Justizstaates“. 9 Der Öffentlichrechtler O. Lepsius hält die Steuergesetze für „hochpolitisches Recht“. 10 Aber mit dieser Zuordnung zum politischen Ist lässt sich das rechtliche Soll des Art. 1 III GG nicht aushebeln. Lepsius nimmt offenbar nicht wahr, dass das Folgerichtigkeitsgebot in der Ethik auch des Gleichheitssatzes angelegt ist. J. Lang erwidert auf O. Lepsius in dieser Deutlichkeit: Die Auffassung von O. Lepsius „verrät nicht nur steuerrechtliche, sondern auch rechtsstaatliche Inkompetenz, indem O. Lepsius einem Rechtsgebiet die rechtsstaatliche Basis entziehen möchte, auf dem der Bürger dem Staat täglich begegnet“. 11 Anderen behagt nicht, dass wenige Richter die Parlamentsmehrheit aushebeln können und sprechen von „Oligarchie in der Demokratie“. 12 Wer das Parlament durch die Richterschaft ausgehebelt sieht, sollte nicht übersehen, dass es auch eine „hochpolitische“ Oligarchie gibt. Es sind auch in der parlamentarischen Demokratie nur wenige, die die Steuerpolitik bestimmen und den Parlamentariern vorgeben, wie sie abstimmen, was sie „abnicken“ sollen. Durch Koalitionsvereinbarungen, durch Herbeiführung von Fraktionsbeschlüssen, durch Ver8 Der Staat 1990, 1, 25. 9 Nachweise in JZ 2009, 533. – Wann kommt „die Fratze des Rechtsstaats“? 10 JZ 2009, 266 ff. Er stößt sich daran, dass das Bundesverfassungsgericht in Sachen „Pendlerpauschale“ das Gebot der Folgerichtigkeit in seiner Begründung verwendet hat. 11 K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 67. 12 W. Brohm, NJW 2001, 1 ff. – Die Richteroligarchie ist gewollt. P. Kirchhof erklärt sie so: „Jeder Mensch hat gegenüber der dominierenden Staatsgewalt eigene Rechte, die kein Parlament und keine Regierung ihm nehmen kann. Er kann diese Rechte durch Klage bei Gericht und letztlich durch Verfassungsbeschwerde beim Verfassungsgericht durchsetzen. In der rechtsprechenden Gewalt steht eine eigene Staatsgewalt bereit, die das Recht des Einzelnen gegen die Parlamentsmehrheit und gegen den Willen der Regierung wahrt, ihm also Waffengleichheit im Kampf mit der Staatsgewalt gewährt. Demokratie gibt deshalb nicht der Mehrheit die Herrschaft über die Minderheit, sondern schützt zunächst die Grundrechte des einzelnen Menschen und weist der Mehrheit in einer von diesen Grundrechten bestimmten Verfassungsordnung einen begrenzten Entscheidungsraum zu.“ (Das Gesetz Hydra, 2006, S. 90). Zur Rechtfertigung, den Mehrheitsgrundsatz zumal im Interesse der Gerechtigkeit einzuschränken, J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 259 ff.
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einbarungen mit der Lobby werden die Parlamentarier fremdbestimmt. Ohnehin sind sie nicht in der Lage, sich mit allen Gesetzentwürfen zu beschäftigen. Sie stimmen über vieles ab, womit sie sich nie befasst, was sie nie verstanden haben. Die Kritiker der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zum Steuerrecht sollten zur Kenntnis nehmen: Das Proprium des Steuerrechts besteht darin, dass es Gerechtigkeitsrecht ist, die Steuerrechtswissenschaft folglich Gerechtigkeitswissenschaft sein muss, nicht „hochpolitische“ Wissenschaft. Die Gesamtsteuerlast muss gerecht auf die einzelnen Steuerbürger verteilt werden. Das ist ein Gebot der Ethik und ein Gebot des ethisch fundierten Gleichheitssatzes (Art. 3 GG); s. auch S. 1251 ff. Das Grundgesetz geht nicht davon aus, dass Steuergerechtigkeit sich durch das Gesetzgebungsverfahren des Grundgesetzes von selbst einstelle. Vielmehr müssen die Gerichte dafür sorgen, dass Steuerpolitik Gerechtigkeitspolitik sein muss. Die vielen Interessenverbände tun das nicht. Da Steuern nur aufgrund Gesetzes festgesetzt und erhoben werden dürfen, lassen sich die Ziele der Steuerpolitik auch nur durch Gesetze erreichen. So lange das Ziel noch nicht erreicht ist, handelt es sich um geplante oder gedachte Gesetzgebung. Da die Gesetzgebung die Grundrechte beachten muss (Art. 1 III GG), im Steuerrecht insbesondere den Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) umsetzen muss, muss Steuerpolitik auf Gleichgerechtigkeit durch Gleichbelastung aus sein. Der Steuergesetzgeber hat die Erstverantwortung für die Verfassungsmäßigkeit seiner Gesetze. Wird er ihr nicht gerecht, so geht die Verantwortung für die Verfassung, insbesondere für die Grundrechte, auf die Richter über. Da der Gleichheitssatz die Magna Charta des Steuerrechts ist, gibt es keinen Grund, gerade in diesem Bereich die Kontrollintensität zu lockern, etwa durch prohibitive Standards, Formeln oder Floskeln. Die Anwendung des Gleichheitssatzes und der aus ihm folgenden Gebote der Rechtslogik (Verallgemeinerung, Folgerichtigkeit, Widerspruchsfreiheit) ist Rechtsanwendung, nicht Rechtspolitik oder angewandte Gesetzgebung. Damit ist die Juridifizierung der Steuerpolitik vorgegeben. Der Gleichheitssatz als die Magna Charta des Steuerrechts, darf insbesondere im Steuerrecht nicht demontiert werden; vielmehr muss sich das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Gleichheitssatzes im Steuerrecht verstehen. Überhaupt befinden sich Demokratieprinzip und Gerechtigkeit durch Gleichheit (Art. 3 I GG) nicht im Konflikt; sie enthalten keine Wertungswidersprüche. Der Gleichheitssatz gehört zur Essenz der Demokratie, und mit dem Gleichheitssatz gilt das ebenso für die aus ihm folgenden Gebote der Rechtslogik, nämlich die Gebote der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit. Steuerpolitiker mögen die Gebote der Rechtslogik als Einengung, als Störfaktoren, gar als Zwangsjacke für opportune Politik empfinden, 1554
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rechtlich trifft das nicht zu, und demokratisch sind Verstöße gegen den Gleichheitssatz auch nicht. Da die Steuerpolitik ständig gegen die Gebote der Verallgemeinerung, 13 der Folgerichtigkeit 14 und der Widerspruchsfreiheit im Interesse der dominierenden Stimmenfangpolitik verstoßen hat, hat sich das so genannte Steuerchaos eingestellt. Da Rechts- oder Wertungslogik keine exakte Logik ist, kann durchaus Spielraum bleiben für unterschiedliche, aber vertretbare konkretisierende Wertungen. Dieses Zugeständnis an den Pluralismus ist aber etwas anderes, als in Urteilen immer wieder vorzufindende pauschale Eingangsfeststellungen es sind – wie „Im Steuerrecht hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum.“ Ohnehin findet man Gerechtigkeit nicht durch Gestaltung nach Interesse, Gefühl oder politischer Opportunität. Demokratisch ist das möglichst übersichtliche, einsichtige, verständliche Gesetz, das alle gleich behandelt. Nicht demokratisch ist Klientelpolitik, Sonderinteressenpolitik, Privilegienpolitik. Sie dient nicht dem „ganzen Volk“ (s. Art. 38 I 2 GG), verletzt das Verallgemeinerungsgebot und die Folgerichtigkeit. Steuerrechtskollegen aus bekannten Demokratien (in denen kein Verfassungsgericht geschaffen worden ist) sagen uns: In der Demokratie ist das Steuerchaos keine pathologische Erscheinung, keine Rechtsperversion, sondern Normalität, weil das Wirken von Parteien und Interessenverbänden zur Stimmenfangpolitik mit allen seinen Begleiterscheinungen führe. M. E. ist eine rechtsstaatliche Demokratie mit grundrechtlicher Werteordnung vorzuziehen. Aber es sollte keine Wertordnung sein, die auf dem Papier steht. Daher ist die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht entbehrlich. Die Gefahr, dass die Steuerrechtsprechung des Verfassungsgerichts in Steuerpolitik oder in Steuergesetzgebung abgleitet, besteht nicht wirklich. Eher gleitet der reale Gesetzgeber in undemokratische Gleichheitssatzverletzungen ab. Dass das Verfassungsgericht in Wirklichkeit dem Gesetzgeber eher zu viel als zu wenig Spielraum belässt, wird auch daraus ersichtlich, dass das Steuerchaos uns trotz jahrzehntelanger Verfassungsrechtsprechung erhalten geblieben ist. 13 Dazu G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009. 14 Gegen die Anwendung des Folgerichtigkeitsgebots im Steuerrecht wendet sich der Öffentlichrechtler U. Kischel (in Gleichheit im Verfassungsstaat, hrsg. von R. Mellinghoff/U. Palm, 2009, S. 175 ff.). Dagegen argumentiert m. E. überzeugend J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 174, 177, 180 Fußn. 79. – Das Gebot der Folgerichtigkeit führt nicht auf einen steuerrechtlichen Sonderweg, es muss verallgemeinert werden – über das Steuerrecht hinaus, weil es in der Ethik und im Gleichheitssatz angelegt ist. Auch den Standpunkt von M. Droege, StuW 2011, 105 ff. teile ich nicht.
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Verfassungsrichter sind so wenig unfehlbar wie der Papst. Die Richter nehmen das für sich auch nicht in Anspruch. Da die freie Meinungsäußerung selbstredend auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht gilt, ist es erstaunlich, wie wenig Steuerpolitiker und Beamte, die mit der Vorbereitung von Steuergesetzentwürfen befasst sind, ihre vom Verfassungsgericht abweichende verfassungsrechtliche Meinung verteidigen, falls sie eine solche hatten. Der Standpunkt der Bundesregierung in Sachen „Pendlerpauschale“ ist allerdings bekannt. Die Argumente waren m. E. dürftig. Reiner Fiskalismus ist verfassungsrechtlich nicht zu verteidigen. Auch können Äußerungen wie „Wir dachten, der Standpunkt des Finanzgerichts geht zu weit“ oder „Wir dachten, wir befänden uns noch innerhalb des weiten hochpolitischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers“ die verfassungsrechtliche Diskussion nicht voranbringen. Gleichwohl könnte es die verfassungsrechtliche Diskussion in Steuerrechtsfragen bereichern, wenn sich an ihr nicht nur einige Richter, insbesondere Verfassungsrichter, und einige Rechtsprofessoren beteiligen würden, sondern auch verfassungskompetente Politiker und Beamte.
2. Formale Rechtsschutzhürden des Bundesverfassungsgerichts Vorbemerkung: Zur Erreichung des Rechtsschutzes durch das Bundesverfassungsgericht müssen hohe formale Hürden überwunden werden. Zum Teil sind es gesetzliche Hürden, zum Teil sind die Hürden auch von den Richtern errichtet worden, die ihre Arbeitskraft insbesondere Fällen von Gewicht vorbehalten möchten. Eine Kontrolle des Verfassungsgerichtsverfahrens durch eine andere Instanz gibt es nicht. Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten mit je acht Richtern (§ 2 BVerfGG). Die Senate berufen für die Dauer des Geschäftsjahres Kammern mit je drei Richtern (§ 15a I BVerfGG). Rechtsschutz können die (Steuer-)Bürger entweder durch Vorlage eines Fachgerichts an das Bundesverfassungsgericht (sog. konkrete Normenkontrolle, Art. 100 I GG; §§ 13 Nr. 11; 80 ff. BVerfGG) oder – grundsätzlich nach Erschöpfung des Rechtswegs – durch Verfassungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4a GG; §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) erreichen. 2.1 Hürden im Verfahren der konkreten Normenkontrolle 15 Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so hat es das Verfahren aus15 Näher dazu W. Heun, Richtervorlagen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR Bd. 122 (1997), 610 ff.; N. Herrmann, Entstehung,
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zusetzen und, wenn es sich um die Verletzung des Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. W. Heun stellt dazu fest: „Die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 I GG ist . . . ein Herzstück der grundgesetzlichen Ausformung der Verfassungsstaatlichkeit. Zugleich ist sie neben der Verfassungsbeschwerde das Paradebeispiel für die zunehmende Tendenz des Bundesverfassungsgerichts, den Zugang zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung im Sinne einer Konzentration auf wesentliche Verfassungsfragen gezielt zu steuern“. 16 Die Pflicht, die Entscheidung des Verfassungsgerichts einzuholen, besteht für jedes Gericht, auch für das Gericht erster Instanz. Das Verfassungsgericht hängt also vom Fachgericht ab, soweit nicht Verfassungsbeschwerde eingelegt wird. Die Vorlage an das Verfassungsgericht ist wegen der von diesem Gericht verlangten Formalien sehr arbeitsaufwändig, und nicht alle Richter sind geneigt, sich mit Vorlagen an das Bundesverfassungsgericht aufzuhalten. Es gibt auch noch den Typus des Richters, der gesetzespositivistisch und verfahrensformalistisch eingestellt ist und übergeht, dass die Grundrechte überpositive Wertungen enthalten, die das Grundgesetz positiviert hat. Im Übrigen: Über die Frage, was für verfassungswidrig zu halten ist, lässt sich sehr oft streiten, zumal, wenn es um den Gleichheitssatz geht (s. dazu unten S. 1562 ff., 1576 ff.). Manche Richter haben überdies den Eindruck, die überlasteten Verfassungsrichter seien froh, wenn die Fachrichter im Zweifel die Verfassungswidrigkeit verneinen würden. Nicht jeder Verfassungsrichter lädt in Vorträgen vor Fachrichtern diese ermutigend dazu ein, von Art. 100 GG Gebrauch zu machen. Die Zulässigkeit der Fachgerichtsvorlage wird von der zuständigen Kammer des Verfassungsgerichts geprüft. Durch einstimmigen Beschluss kann die Kammer die Unzulässigkeit der Fachgerichtsvorlage des Finanzgerichts feststellen. Die Entscheidung bleibt allerdings dem Senat vorbehalten, wenn die Vorlage vom Bundesfinanzhof als oberstem Bundesgericht stammt (§ 81a Satz 2 BVerfGG). Die Gerichtsvorlage wird als zulässig nur angesehen, wenn das vorlegende Gericht darlegt, dass nach seiner Ansicht von der für verfassungswidrig gehaltenen Norm der Ausgang des Rechtsstreits abhängt. Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit wird freilich grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts als maßgeblich angesehen, es sei denn, diese sei offensichtlich unhaltbar.
Legitimation und Zukunft der konkreten Normenkontrolle im modernen Verfassungsstaat, 2001 (Verfassungsgeschichtliche Untersuchung unter Berücksichtigung auch der französischen Entwicklung). 16 AöR Bd. 122 (1997), 610.
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Auch die Tatsachenwürdigung des vorlegenden Gerichts sowie deren Gesetzesauslegung wird in der Regel hingenommen. Die Verfassungsrichter verlangen aber mehr als die Behauptung der Entscheidungserheblichkeit: Der Vorlagebeschluss muss aus sich selbst heraus, ohne dass ein Studium der Akten durch Verfassungsrichter erforderlich ist, verständlich sein sowie den Sachverhalt und die Rechtslage erschöpfend darlegen. Mehr noch: Das vorlegende Gericht muss seine eigene Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit herausarbeiten und sich dazu eingehend mit Rechtsprechung, Literatur und den einschlägigen Gesetzesmotiven auseinandersetzen. Will das vorlegende Gericht von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweichen, so hat es seinen abweichenden Maßstab in Auseinandersetzung mit dem Verfassungsgericht zu begründen. 17 E. Klein, Verfassungsrichter a. D., nennt im einschlägigen Lehrbuch die Anforderung an die Vorlagebegründung „verschiedentlich überzogen“, „in der Sache zum Teil übersteigert und zum Teil nicht immer konsequent eingehalten“, „überanstrengt“. Wörtlich schreibt er: „Die vom Bundesverfassungsgericht häufig betonte Notwendigkeit einer Entlastung darf nicht gesetzlich nicht vorgesehene Hürden errichten. Es ist auch zu fragen, ob die Möglichkeit des Dialogs mit dem vorlegenden Gericht über eventuell notwendige Nachbesserung der Vorlage immer ausreichend genutzt wird.“ „Die Zulässigkeit der Richtervorlage ist zum Vabanque-Spiel geworden.“ 18 „Jeder Grundsatz“ – so Klein weiter – „ist mit zahlreichen Ausnahmen durchsetzt, die kaum mehr überschaubar sind und die die Klarheit . . . verschwimmen lassen.“ Die Vorlage wird weitgehend zum „prozessualen Roulette“. 19 W. Heun stellte 1997 eine „zunehmende Verschärfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen bis hin zu überzogener Abwehr zulässiger Vorlagen durch das Gericht“ fest. 20 Nach R. Seer sind die Zulässigkeitshürden im Richteralltag kaum zu überwinden, sie schrecken „Finanzrichter davon ab, Richtervorlagen zu formulieren, zumal angesichts des mit der Vorlage verbundenen immensen Arbeitsaufwandes damit eine (karrieregefährdende) Verschlechterung der Erledigungsstatistik in Kauf genommen werden muss. Hinzu kommt der Imageverlust, der in den Augen der Richterkollegen bei einem Scheitern in dem ‚prozessualen Roulette‘ (‚Lotteriespiel‘) eintreten kann. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten 17 Nachweise dazu durch R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 22 Rz. 282. 18 E. Benda/H. Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozessrechts, 1991, Rz. 796 a. E., 3. Aufl., 2012, Rz. 858. 19 E. Benda/H. Klein (Fußn. 18), Rz. 741, 796 a. E., 822, 3. Aufl., 2012, Rz. 885. 20 W. Heun, AöR Bd. 122 (1997), 613 – unten.
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zusätzlichen Anforderungen finden jedoch weder in § 80 II BVerfGG noch (und erst recht nicht) in Art. 100 I GG eine Erwähnung. Deshalb sollte das Bundesverfassungsgericht seine überzogenen Zulässigkeitsanforderungen mäßigen und die (überflüssigen) prozessualen Stolperdrähte entfernen“. 21 Dazu ist das Gericht aber wohl zu überlastet. Die geforderte Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann auch deshalb Schwierigkeiten bereiten, weil diese Rechtsprechung nicht immer kontinuierlich-konsequent und widerspruchsfrei verläuft. Wenn ein Finanzgericht eine sehr ausführliche Begründung seiner Vorlage präsentiert (vielleicht eine zu ausführliche), ist es nicht fair, wenn eine Kammer des Verfassungsgerichts die Vorlage kurz angebunden abtut. Es ist gesagt worden, es gebe nicht nur die Angst des Torwarts vor dem Elfmeter, sondern auch die Angst der Fachgerichte vor den unkalkulierbaren Zulässigkeitsanforderungen der Verfassungsrichter. Es hat Fälle gegeben, in denen Verfassungsrichter geradezu schulmeisterlich Fachgerichte belehrt und zurecht gewiesen haben. Das ist auch deshalb erstaunlich, weil auch Fachrichter an Formalien gewöhnt sind und weil drei von acht Richtern eines Senats Fachrichter an einem Obersten Bundesgericht waren. Zu Überheblichkeit und Herablassung gegenüber den Fachgerichten besteht schon deshalb keine Veranlassung, weil Fachrichter in ihrem Fachbereich dem Gros der Verfassungsrichter überlegen zu sein pflegen. Auch Grundrechtsfragen lassen sich nicht ohne gediegene Kenntnisse des betroffenen Fachgebiets lösen. Da kein Verfassungsrichter allkompetent ist, nicht selten nur Klischeevorstellungen über ein ihm fernliegendes Fachgebiet hat, bietet es sich an, von Fachrichtern zu lernen. Die strikte Bindung der Vorlagerichter an die Verfassungsrechtsprechung fördert nur den Verfassungsrechtsprechungs-Positivismus, das Karlsruhe locuta, causa finita. 22 Vor allem Staatsrechtslehrer sollten sich nicht in Verfassungsrechtsprechungs-Positivismus erschöpfen, auch nicht in der unkritischen Darstellung des Verfassungsprozesses. Die Kritik der Rechtswissenschaftler ist die einzige Verfahrenskontrolle über das Verfassungsgericht. 23 Wenn das Bundesverfassungsgericht wegen Überlastung Hilfe braucht, so sollte das Gericht sich diese Hilfe durch den Gesetzgeber 21 R. Seer, Steuerrecht20, 2010, § 22 Rz. 282. 22 M. Rodi ist auch der Ansicht, die Steuerrechtswissenschaft jedenfalls müsse „jetzt den Fehler eines reinen ‚Verfassungsgerichtspositivismus‘ vermeiden und darauf achten, gegenüber Verfassungsgericht und Gesetzgeber Vordenkerin zu bleiben“ (in: Festschrift für K. Vogel, 2000, S. 205). 23 Kritisch zu überhöhten Zulässigkeitshürden auch K.-D. Drüen, FR 1999, 289, 292; K. Tipke, FR 1999, 532 ff.; ders., StuW 2004, 3, 20 f.; J. Hey, FR 2004, 876, 877 f.; F. Schorkopf, AöR Bd. 130 (2005), 465, 492.
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holen, sie sich aber nicht selbstherrlich in Form erfundener Formalien beschaffen. Mit dem Überlastungsargument muss das Gericht so lange vorsichtig umgehen, als Verfassungsrichter bekanntlich laufend Vorträge halten, Aufsätze und Bücher schreiben, und zwar nicht nur solche fachlichen Inhalts, sondern auch Bücher über „Gott und die Welt“. Philosophen und Moralisten auf den Verfassungsrichterstühlen sollten willkommen sein, in erster Linie sollten sie aber Richter sein, nicht Missionare zur Verbreitung ihrer eigenen Weltbilder. Da Fachgerichtsvorlagen die Verfassungsrichter im Allgemeinen mehr zu beeindrucken pflegen als Verfassungsbeschwerden, empfiehlt sich der Versuch, möglichst das Fachgericht zur Vorlage an das Verfassungsgericht zu bewegen. Ohnehin hält das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde nur für zulässig, wenn der Verfassungsverstoß bereits vor dem Fachgericht geltend gemacht worden ist. Die Frequenz der Vorlagen durch Fachgerichte hängt auch davon ab, wie das Bundesverfassungsgericht damit umgeht, ermutigend oder entmutigend. Bis gegen Ende der 1980er Jahre erlebte der Bundesfinanzhof immer wieder Enttäuschungen. Das führte über viele Jahre zum weitgehenden Verzicht auf Vorlagen. 24 Das änderte sich, als P. Kirchhof Verfassungsrichter in Steuersachen geworden war. In den letzten zehn Jahren hat der Bundesfinanzhof inzwischen mehr als 20 Richtervorlagen gemäß Art. 100 GG beschlossen. 25 Nichts ist m. E. zu halten von der Empfehlung, ein Fachsenat solle dem Bundesverfassungsgericht nicht mit mehr als höchstens zwei Vorlagen pro Jahr kommen. Ob Steuergesetze viele oder wenige Verfassungswidrigkeiten enthalten, hängt allein vom Gesetzgeber ab. Nur im Urteil von Gesetzespositivisten sind Richter, die sich für Vorlagen an das Verfassungsgericht einsetzen, randständige Querulanten. Ob eine Richtervorlage angenommen wird, darf nicht von der Vorlagenfrequenz abhängig gemacht werden, sondern nur von der Qualität und der Überzeugungskraft der Vorlagebegründung. Stellen Finanzbehörden Verfassungswidrigkeiten fest, so können sie – anders als die Gerichte – das Verfassungsgericht nicht anrufen. Beamte haben aber das Recht zur Remonstration. Von ihr kann mit dem Ziel Gebrauch gemacht werden, ein abstraktes Normenkontrollverfahren einzuleiten (s. Art. 93 I Nr. 22 GG). Allerdings, welcher Beamte remonstriert schon? (s. schon S. 1437 f.). 24 Wenn positivistische Richter, die insbesondere aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit und ihres Geschlechts in das Verfassungsgericht gelangt sind, aber partout keine Verfassungswidrigkeiten entdecken können, so sind sie mit ihrer Machtfülle nicht nur fehl am Platz, sie bewirken, dass von den Fachgerichten keine Vorlagen mehr kommen. 25 So berichtet BFH-Präsident W. Spindler, in: Festschrift für H. Schaumburg, 2009, S. 170.
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2.2 Hürden im Verfahren der Verfassungsbeschwerde Jedermann kann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 IV; 33; 38; 101; 103; 104 GG enthaltenen Rechte verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde erheben (§ 90 I BVerfGG). Eine Verfassungsbeschwerde kann allerdings grundsätzlich erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden (§ 90 II BVerfGG). Es genügt freilich nicht die bloße Behauptung der Rechtsverletzung; die Beschwerde muss auch begründet werden, und zwar dadurch, dass das für verletzt gehaltene Recht sowie die Handlung oder Unterlassung der öffentlichen Gewalt bezeichnet werden, durch die die Verletzung entstanden ist (s. § 91 BVerfGG). Dazu der Rechtsphilosoph J. Braun: Das Verfassungsgericht verlangt „vom Antragsteller einer Verfassungsbeschwerde, dass er sich ausführlich mit der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichts auseinandersetzt und darlegt, dass danach auch in seinem Fall eine Grundrechtsverletzung anzunehmen ist. Auf diese Weise wird der Beschwerdeführer im Widerspruch zu der Regel iura novit curia angehalten, den ihm günstigeren Rechtssatz aus den zahllosen Judikaten des Bundesverfassungsgerichts selbst abzuleiten. Wenn er dieser Puzzlearbeit nicht nachkommt, wird sein Antrag als unzulässig abgewiesen“. 26 Die Verfassungsbeschwerde ist fristgebunden (s. § 93 BVerfGG). Für die Verfassungsbeschwerde gilt eine Besonderheit: Sie muss angenommen werden (§ 93a BVerfGG), und zwar durch die zuständige Kammer. Angenommen zur Entscheidung ist die Beschwerde insbesondere, soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt (Art. 93a II BVerfGG). Über die Annahme zur Entscheidung oder ihre Ablehnung wird ohne mündliche Verhandlung entschieden. Der für die Ablehnung erforderliche einstimmige Beschluss bedarf keiner Begründung. Die Ablehnungsentscheidung ist unanfechtbar (§ 93d BVerfGG). Im Jahre 2008 wurden 6245 Verfassungsbeschwerden erhoben, davon 161 gegen Entscheidungen der Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit. Nur über 15 Verfassungsbeschwerden entschied einer der beiden Senate mit acht Richtern. Nur 1,9 % der Verfassungsbeschwerden hatten Erfolg. Die übrigen scheiterten ganz überwiegend schon im Annahmeverfahren der Kammer, nicht zuletzt an Formalien. 27
26 J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 361. 27 Zu weiteren Einzelheiten R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 22 Rz. 271–280.
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3. Präventivmittel restriktiver Verfassungsrechtsprechung in der Sache Soweit das Bundesverfassungsgericht mit „Steuerrecht“ befasst ist, liegt das Schwergewicht der Kontrolle steuerrechtlicher Rechtsakte beim Gleichheitssatz. Das Verfassungsgericht lässt dem Gesetzgeber allerdings trotz des Gleichheitssatzes oder wegen seines Gleichheitssatzverständnisses einen großen, wenn auch nicht uneingeschränkten Gestaltungsspielraum (Beurteilungs-, Wertungs-, Freiheitsspielraum). Die Rechtsprechung dazu lässt sich bis in die Anfänge der Gerichtstätigkeit zurückverfolgen. Dass es in den verwendeten Leitsätzen, Klischees oder Stereotypen auch Überschneidungen, Widersprüche und Inkonsequenzen gibt, ist nicht verwunderlich, haben daran doch verschiedene Richtergenerationen in zwei Senaten mitgewirkt. (1) Die von Art. 105, 106 GG erfassten Steuern sind als solche vor dem Gleichheitssatz tabu. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können daher die Gewerbesteuer, die Vermögensteuer, die Kaffeesteuer, die Zweitwohnungsteuer, die Jagdsteuer nicht als solche den Gleichheitssatz verletzen. 28 Darüber hinaus wird aber auch das Ganze irrationale Konglomerat der „örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern“ (Art. 105 IIa GG) geschützt. Verf.: Diese Idee des Schutzes vor der Verfassung statt des Verfassungsschutzes stammt von G. Wacke und K. Vogel (keineswegs von A. Hensel); sie ist vom Verfassungsgericht übernommen worden. Der Verfassungsschutz muss aber den Grundrechten entnommen werden, nicht der Aufzählung z. T. antiquierter Steuern durch die Organisationsvorschriften der Art. 105, 106 GG. 29 (2) Der Gesetzgeber ist – so das Verfassungsgericht – an den Grundsatz der Steuergerechtigkeit gebunden, der sich aus dem Gleichheitssatz ergibt. 30 Verf.: Da der Gleichheitssatz sich aus der Gerechtigkeit ergibt (nicht umgekehrt), formuliert man besser: Der Gesetzgeber ist an den Gleichheitssatz gebunden, der aus dem Grundsatz der Gerechtigkeit folgt, eine Komponente der Gerechtigkeit darstellt. (3) Der Gesetzgeber hat ein Steuerfindungsrecht. Er darf eine bestimmte Steuerquelle erschließen, braucht andere Steuerquellen aber nicht anzuzapfen, wenn er dafür finanzpolitische, volkswirtschaftli28 Nachweise in Bd. I2, 2000, S. 298. 29 P. Kirchhof hat keine der erwähnten Steuern in seinen Entwurf eines Steuergesetzbuches von 2011 aufgenommen. Spricht das nicht gegen das Art. 105, 106 GG-Verständnis des Bundesverfassungsgerichts? 30 Urteilsnachweise dazu in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Komm., Bearbeiter: A. Burghart, Loseblatt Lfg. Aug. 2008, Art. 3 Rz. 496.
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che, sozialpolitische, steuertechnische oder sonst sachliche (sachgerechte) Gründe hat, so dass das Willkürverbot nicht verletzt wird, so das Verfassungsgericht. 31 Verf.: Eine Steuerquelle ausschöpfen, andere Quellen aber nicht, kann die Gebote der Verallgemeinerung und der Folgerichtigkeit verletzen. Das Willkürverbot sollte ganz aufgegeben werden. Es entwertet die Steuergerechtigkeit fast vollkommen. Die Durchbrechung des Gleichheitssatzes wird nicht durch beliebige Arten von Politik gerechtfertigt (erst recht nicht durch fiskalpolitische Zwecke, s. auch BVerfGE 116, 182; 122, 233). Vielmehr bedarf es zur Durchbrechungsrechtfertigung legitimer Gemeinwohlgründe, die die Steuergerechtigkeit aufzuwiegen vermögen. 32 (4) Der Gesetzgeber darf nach seinem Ermessen entscheiden, welche Elemente der zu ordnenden Lebensverhältnisse er als maßgeblich ansieht, sie im Recht gleich oder verschieden zu behandeln. Der Gesetzgeber darf selbst diejenigen Sachverhalte auswählen, die er als gleich ansehen will. Dieser Standardsatz des Verfassungsgerichts geht zurück auf BVerfGE 13, 202; 21, 27. 33 Verf.: Danach bestimmt nicht der Gleichheitssatz, sondern der Gesetzgeber selbst, was Inhalt des Gleichheitssatzes sein soll. Die Anwendung des Gleichheitssatzes verlangt nach einem zu konkretisierenden Maßstab, nicht aber nach einer Vielzahl von Maßstäben, die nach Ermessen ausgewählt werden dürfen. Was das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber hier zugesteht, macht Art. 1 III GG weitgehend leerläufig. (5) Die Steuergestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Erschließung von Steuerquellen endet erst dort, wo die gleiche oder ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsdenken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die Gleich- oder Ungleichbehandlung entfällt. 34 Verf.: Die „am Gerechtigkeitsdenken orientierte Betrachtungsweise“ ist eine leere Floskel. Auf welche Art von Logik wird das „also“ gegründet? (6) Bei der Auswahl der Tatbestände, die der Gesetzgeber regeln will, bleibt ihm ein weiter Spielraum. (Diese Behauptung geht zurück bis BVerfGE 18, 124; 19, 125; 21, 26). Für die Besteuerung des zu erfas31 Leibholz/Rinck (Fußn. 30), Art. 3 Rz. 516, 517. 32 Dazu näher J. Englisch, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 196, 197 (BVerfG ist „wankelmütig“), 199 ff. Gegen das Willkürverbotverständnis auch J. Hennrichs, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 244. 33 Nachweise in Leibholz/Rinck (Fußn. 30), Art. 3 Rz. 507. 34 Nachweise in Leibholz/Rinck (Fußn. 30), Art. 3 Rz. 517.
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senden Personenkreises hat er einen weiten Gestaltungsbereich (geht zurück auf BVerfGE 27, 10). Er darf einzelne Berufsgruppen erfassen, muss andere aber nicht erfassen, wenn das auf sachgerechten Erwägungen beruht (geht zurück auf BVerfGE 26, 8 f.). 35 Verf.: Auf diese Weise wurde die Erfassung nur der Gewerbetreibenden und die Nichterfassung anderer Unternehmer durch die Gewerbesteuer gerechtfertigt, abgesehen von einem Hinweis auf Art. 106 VI GG: M. E. liegt ein Verstoß gegen die Gebote der Verallgemeinerung und der Folgerichtigkeit vor. (7) Nur die Einhaltung der äußersten Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit („Willkürverbot“) ist vom Bundesverfassungsgericht zu prüfen, nicht aber, ob der Gesetzgeber im Einzelfall jeweils die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung gefunden hat (geht zurück bis BVerfGE 1, 52; 4, 18; 26, 310). 36 Verf.: Wichtiger scheinen mir die Fälle zu sein, in denen der Gesetzgeber – und das ist doch die Regel – keinerlei Gerechtigkeitserwägungen anstellt, wohl aber einseitig fiskalische oder politische Erwägungen aller Art. Man achte auf die Reihenfolge: zweckmäßig, vernünftig, gerecht. Zweckmäßigkeit geht in der Steuerpolitik nur zu oft vor Gerechtigkeit; im Steuerrecht sollte es aber umgekehrt sein. Was ist nicht alles „vernünftig“? (s. auch zu (9)). (8) Der Gesetzgeber hat bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitgehenden Entscheidungsspielraum (s. schon BVerfGE 23, 256). 37 Verf.: M. E. müssen Steuergegenstand und Steuerbemessungsgrundlage so ausgewählt werden, dass sie dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechen. Das Leistungsfähigkeitsprinzip muss Steuergegenstand und Steuerbemessungsgrundlage bestimmen (nicht umgekehrt). 38 (9) Der Gesetzgeber ist unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes nicht gehalten, in allen Fällen einer Erlaubnis zum Betrieb eines Gewerbes eine Erlaubnissteuer zu erheben oder durchgängig davon abzusehen. Dass gerade die Schankerlaubnis mit einer besonderen Steuer belegt wurde, war (ist) durch „vernünftige, aus der Natur der Sache sich ergebende Gründe“ gerechtfertigt (BVerfGE 13, 203 f.). Verf.: Auf diese Weise wurde die traditionelle Schankerlaubnisteuer als alleinige Erlaubnissteuer als „vernünftig“ gerechtfertigt. Der Ver-
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Nachweise in Leibholz/Rinck (Fußn. 30), Art. 3 Rz. 66, 842. Weitere Nachweise in Leibholz/Rinck (Fußn. 30), Art. 3 Rz. 517. Nachweise in Leibholz/Rinck (Fußn. 30), Art. 3 Rz. 518. So verfährt richtig P. Kirchhof in seinem Entwurf eines Steuergesetzbuches von 2011.
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stoß dieser Entscheidung gegen das Verallgemeinerungsgebot ist offensichtlich. 39 Waffenhändler werden nicht belastet. (10) „Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen, so das Verfassungsgericht“. 40 Verf.: Dieser neuere Standard bewirkt, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch unberechenbarer, unprognostizierbarer wird, als sie aufgrund der vorangehenden Floskeln ohnehin schon ist. Vage Floskeln sind Wasser auf die Mühlen derer, die meinen, dass die Rechtswissenschaft ihren Namen nicht verdiene. Nicht zuletzt auf den gänzlichen Mangel an Prognostizierbarkeit von Verfassungsgerichtsentscheidungen können sie sich berufen. Allerdings: Je mehr Versatzstücke die Richter im Laufe der Jahrzehnte geschaffen haben, desto leichter wird es, eine Floskel zu finden, die dem für richtig gehaltenem Ergebnis entspricht. Wenn die Richter wissen, welches Ergebnis sie wollen, können sie unter den erwähnten Standards wohl immer etwas finden, was das für richtig gehaltene Ergebnis bestätigt, aber auch das Gegenteil. In Band I1, 1993, auf S. 645–649 hat der Verfasser bereits am Beispiel von Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts gezeigt, wie beliebig einsetzbar, wie austauschbar Gründe, insbesondere Standards, sein können. Der Austausch kann aber dazu führen, dass dem gewünschten Ergebnis der Boden entzogen wird. 41 Nach wie vor will mir nicht einleuchten, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Steuergegenstände und ihre Bemessungsgrundlage frei auswählbar sein sollen, der Steuergegenstand dem Leistungsfähigkeitsprinzip vorgelagert wird. Erst nach der freien Auswahl des Steuergegenstandes – abwechselnd auch als Ausgangstatbestand, Grundentscheidung, Steuerquelle bezeichnet – soll dieser folgerichtig umgesetzt (konkretisiert) werden. Ausgangs- oder 39 Kritisch dazu auch Chr. Trzaskalik, Gutachten E zum 63. Deutschen Juristentag, 2000, S. 14, 45. 40 Ständige Rechtsprechung, zuletzt BVerfGE 110, 274, 291; 112, 164, 174; 116, 164, 180; 122, 210, 230. 41 Ausführlich in StuW 1971, 9 ff. K. Vogel greift diese Vorführung auf mit den Worten: „Um diese Lücke deutlich zu machen, hat Klaus Tipke Begründungen und Ergebnisse zweier Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, von denen eine einen Gleichheitsverstoß bejahte, die andere ihn verneinte, miteinander vertauscht; die Entscheidungsgründe blieben so plausibel – oder so wenig plausibel – wie zuvor. Für den Steuergesetzgeber ergab sich daraus ein weiter Gestaltungsspielraum“ (in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, hrsg. von P. Badura und H. Dreier, 2001, 2. Band, S. 541 f.
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Grundentscheidung muss aber das Leistungsfähigkeitsprinzip als wertendes Prinzip sein. Wenn sich im Steuergegenstand keine gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ausdrückt, wie kann es dann durch Folgerichtigkeit zu einer solchen Besteuerung kommen. In der Entscheidung zur Pendlerpauschale 42 werden vom Bundesverfassungsgericht „zwei eng miteinander verbundene Leitlinien“ als Grenzen für den Gesetzgeber genannt, nämlich „das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und das Gebot der Folgerichtigkeit“. Das materiale Leistungsfähigkeitsprinzip und das formale Folgerichtigkeitsprinzip sind aber nicht vergleichbar. Das Leistungsfähigkeitsprinzip muss in folgerichtiger Weise in die Bemessungsgrundlage umgesetzt werden, nicht jedoch geht es um die folgerichtige Umsetzung des Steuergegenstandes. Dem Bundesverfassungsgericht hat verständlicherweise von jeher viel an der Kontinuität seiner Rechtsprechung gelegen – im Interesse der Rechtssicherheit. Das kommt auch in den mehr oder weniger langen Präjudizienketten in den Entscheidungsgründen zum Ausdruck. So mag es dem Gericht schwer fallen, die „Logik“ seiner Gerechtigkeitsdogmatik umzubauen. An der Wirklichkeit geht es vorbei, wenn man den Gesetzgeber generell Steuergerechtigkeitsstreben unterstellt. Steuerrechtswissenschaft und Steuerrechtslogik würden am besten vorankommen, wenn das Bundesverfassungsgericht nach dem Gebot der Folgerichtigkeit auch die Gebote der Verallgemeinerung und der Widerspruchsfreiheit entfalten würde, auch im Recht der Steuervergünstigungen. Der Steuervergünstigungsbeliebigkeit des Gesetzgebers ist das Verfassungsgericht bisher nicht wirksam entgegengetreten.
4. Entscheidungsmöglichkeiten in der Sache Ist durch Fachgerichtsvorlage oder durch Verfassungsbeschwerde eine Entscheidung in der Sache erreicht, so hat der Senat verschiedene Möglichkeiten: (1) Wird ein Grundgesetzverstoß festgestellt, so wird das verfassungswidrige Gesetz rückwirkend für nichtig erklärt (§§ 79; 95 III BVerfGG). Tatsächlich bilden solche Entscheidungen aber die Ausnahme. (2) An die Stelle der Nichtigkeitserklärung tritt nämlich die Unvereinbarkeitserklärung dann, wenn der Verfassungsverstoß vom Gesetzgeber auf mehrererlei Weise beseitigt werden kann. In solchen Fällen bleibt die Art der verfassungsmäßigen Regelung dem Gesetzgeber vor42 Dazu Verf., JZ 2009, 533.
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Verfassungsrechtsschutz gegen Privilegien Dritter
behalten (in §§ 31 II, 79 I BVerfGG wird die Unvereinbarkeitserklärung vorausgesetzt). Eine solche Erklärung kommt auch in Betracht, wenn eine entlastende Fiskalzwecknorm zu niedrig bemessen war (s. BVerfGE 87, 153 zum Grundfreibetrag 43). Würde der zu niedrige Grundfreibetrag für nichtig erklärt statt vom Gesetzgeber aufgestockt, so würde das Unrecht noch vergrößert. Gewisse Vorgaben als Orientierungshilfe können für den Gesetzgeber in Grenzen hilfreich sein. (3) Von der Rückwirkung der Nichtigkeits- oder Unvereinbarkeitserklärung ist das Bundesverfassungsgericht gerade in Steuersachen in einer Reihe von Entscheidungen abgewichen, indem es den Gesetzgeber mit einer Übergangsfrist nur für die Zukunft verpflichtet hat, die Verfassungsmäßigkeit herzustellen. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz sieht diese Möglichkeit nicht vor. Das Verfassungsgericht beruft sich auf die Notwendigkeit einer periodischen Haushaltsplanung (s. Art. 110 II GG) als Gemeinwohlbelang. Diese Begründung der pro-futuro-Rechtsprechung überzeugt nicht und ist nachhaltig auf überzeugende Kritik gestoßen. 44 Anders als das Bundesverfassungsgericht verfährt der Europäische Gerichtshof. Er nimmt keine Haushaltsrücksichten. 45
5. Insbesondere: Zum Verfassungsrechtsschutz gegen Privilegien Dritter Allgemein anerkannt ist, dass jeder Bürger ein subjektiv-öffentliches Recht auf Gleichbehandlung hat, auf Gleichbelastung zumal. Gleichbehandlung kann dadurch erreicht werden, dass der benachteiligte Steuerpflichtige besser gestellt oder dass privilegierte Dritte schlechter gestellt werden. Allgemein wird angenommen, dass ein Kläger vor Gericht nicht die Schlechterstellung Dritter verlangen könne, weil das eben eine Neidklage sei – ein Begriff, den das Gesetz nicht kennt. Ist das Privileg, die Vergünstigung, der Vorteil, den Dritte erhalten, gesetzwidrig oder gleichheitswidrig, so kann nach herrschender Mei43 Dazu K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 9 Rz. 81, 82. 44 M. Balke, BB 1995, 762; R. Seer, NJW 1996, 285, 289 ff.; M. Schwenke, DStR 1999, 404, 407 f.; K.-D. Drüen, FR 1999, 289, 290 f.; B. Sangmeister, StuW 2001, 168, 176 ff.; G. Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, Bochumer Diss., 2003, S. 29 ff. Diese Schrift ist vom Verfasser in StuW 2004, 187 ff. ausführlich rezensiert worden m. w. N. Aktuell M. Balke, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 968 ff. Hinweis auch auf Chr. Moes, Die Anwendung der befristeten Fortgeltung verfassungswidriger Steuergesetze, StuW 2008, 27 ff. (mit abweichender Sondermeinung). 45 Dazu M. Balke, in: Festschrift für J. Lang (Fußn. 44), S. 968 f.
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nung der Kläger den Dritten nicht gleichgestellt werden, weil das auf eine unzulässige „Gleichheit im Unrecht“ hinaus laufen würde. 46 Ende der 1980er Jahre stellte ein höherer Finanzbeamter (Leiter einer Strafsachenstelle) das Rechtsgefühl der Richter noch einmal auf eine harte Probe. Die Steuern auf Zinseinkünfte wurden damals mit Duldung der Finanzbehörden in großem Umfang hinterzogen. Der Finanzbeamte meinte, sich Steuerhinterziehung nicht leisten zu können, sich daher dem Gros der Steuerhinterzieher nicht anschließen zu dürfen. Nicht jeder hinterzog die Steuern auf Zinsen komplett, aber nur wenige gaben die Zinseinkünfte voll an. Bei aller Untätigkeit und Gleichgültigkeit in Sachen Steuervollzug muss aber damit gerechnet werden, dass der Staat sich nicht entblödet, gegen einzelne Beamte, die zufällig auffallen, ein Strafverfahren und ein Disziplinarverfahren zu eröffnen. Finanzgericht und Bundesfinanzhof gingen weiterhin nach dem alten Muster vor: „Keine Gleichheit im Unrecht“. Chr. Seiler wiederholt diesen Standpunkt in seiner Kritik der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen von 1991 47 und 2004 48 wie folgt: Es „lautet die Frage, ob sich beim Vollzug der rechtswidrig Benachteiligte gegen die Ungleichbehandlung wehren kann, d. h., ob er verlangen kann, dass er entweder selbst verschont wird oder dass jedenfalls auch die bislang verschonten Dritten belastet werden. Die Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG), die Differenzierung von objektivem und subjektivem Recht sowie die Unterscheidung der einzelnen Rechtsbeziehungen zwingen dazu, die Frage zu verneinen. Dem ungleich belasteten Steuerpflichtigen gegenüber ist die Norm rechtmäßig vollzogen worden. Die Gesetzesbindung verbietet der Behörde, ihn zu entpflichten. Die rechtswidrige Rechtsanwendung der Norm beschränkt sich auf die Rechtsverhältnisse zwischen dem Staat und dem verschonten Dritten. Diese Rechtswidrigkeit könnte vom Belasteten nur geltend gemacht werden, wenn die verletzte Norm ihm gegenüber eine besondere subjektive Schutzrichtung hätte . . . Der Gleichheitssatz vermittelt jedoch nach allgemeiner Meinung kein derartiges subjektives Recht. Die Begünstigung Dritter entgegen dem Normprogramm hat keine Schutzwirkung gegenüber programmgemäß behandelten Normadressaten“. 49 „Der steuerehrliche Bürger wird folglich zwar rechtswidrig benachteiligt, muss das aber nach allgemeinen Grundsätzen ohne jede Verteidigungsmöglichkeit hinnehmen. Auf der Grundlage dessen wäre die Frage nach einem tatsächlichen Vollzugsdefi46 Über längere Zeit wurden Steuerpflichtige mit Kapitalvermögen, die dadurch benachteiligt waren, dass Grundvermögen deutlich niedriger bewertet wurde, abgewiesen mit der Begründung, sie könnten als Kapitalvermögensinhaber nicht besser gestellt werden und die Bewertung des Grundvermögens Dritter sei Sache des Staates. Nachweise dazu auch bei M. Desens, AöR Bd. 133 (2008), S. 417, 419). Eine vorübergehende Wende im Ergebnis brachte BVerfGE 93, 121, 130 f. 47 BVerfGE 84, 239 (Zinsurteil). 48 BVerfGE 110, 94 (Spekulationseinkünfteurteil). 49 Chr. Seiler, JZ 2004, 482 re., 483 li. o.
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Verfassungsrechtsschutz gegen Privilegien Dritter zit nicht entscheidungserheblich für das Verfahren vor dem Bundesfinanzhof, die von ihm angestrebte konkrete Normenkontrolle deswegen unzulässig, weil der Nichtvollzug gegenüber Dritten dem Kläger keinesfalls ein subjektives Recht vermitteln könnte, seine Klage also in jedem Fall unzulässig wäre“. 50
Der Verfasser hat seinerzeit auch angenommen, das Bundesverfassungsgericht werde in der Bahn bleiben, die Chr. Seiler beschreibt. Das Bundesverfassungsgericht (Berichterstatter P. Kirchhof) ist aber auf die von Chr. Seiler dargestellten Grundsätze nicht eingegangen, es hat nach Chr. Seiler die Bahnen der öffentlich-rechtlichen Wissenschaft verlassen. 51 Je kleiner die Zahl der Steuerehrlichen in einer bestimmten Einkunftsart ist, desto weniger befriedigt der von Chr. Seiler vorgetragene Rechtsstandpunkt das Gerechtigkeitsgefühl der „dummen Ehrlichen“. Nach Art. 1 III GG ist die Gesetzgebung an das Gleichheitsgrundrecht gebunden, nach Art. 20 III GG an die verfassungsmäßige Ordnung, dagegen verstößt sie, wenn sie – dickfällig – der vollziehenden Gewalt – hier: der Finanzverwaltung – nicht die gesetzlichen Vorschriften zur Verfügung stellt, die diese für eine gleichmäßige Gesetzesanwendung benötigt. Nach Art. 20 III GG ist die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden. Was für ein Recht ist das aber, das die Ehrlichen belastet, und die Unehrlichen gewähren lässt? Offenbar stimmt irgendetwas nicht an der schematischen Anwendung des Grundsatzes „keine Gleichheit im Unrecht“. Chr. Seiler spricht von „allgemeinen Grundsätzen“. Jedoch sind es Grundsätze, die von den Massenverwaltungsproblemen des Steuerrechts und des Sozialrechts wenn überhaupt, so nur am Rande Kenntnis nehmen. Die Vertreter des Allgemeinen – oft halten sie das Allgemeine für das Höhere – sollten lernen, dass das Allgemeine aus dem Besonderen lebt. Berücksichtigen die „allgemeinen Grundsätze“ das Besondere nicht, so sind sie nicht wirklich allgemein, da sie nicht verallgemeinern. U. Kischel sieht die Gefahr, dass das Steuerrecht auch in der Anwendung des Folgerichtigkeitsgebots einen Sonderweg geht. 52 Das Gebot der Folgerichtigkeit ist kein Bruch mit den Erkenntnissen der öffentlichrechtlichen Wissenschaft. Es ist ein aus der Ethik und aus dem Gleichheitssatz folgendes Gebot, das allgemein auch im öffentlichen Recht anzuwenden ist, jedenfalls soweit es um wertendes Recht geht. Eine allgemeine Wissenschaft vom öffentlichen Recht muss verallgemeinernd auch das Steuerrecht und das Sozialrecht erfassen, darf nicht Teile des öffentlichen Rechts dogmatisch ausklammern. Ethik geht vor Dogmatik. Das Bundesverfassungsgericht (durch das viele 50 Chr. Seiler, JZ 2004, 483. 51 Chr. Seiler, JZ 2004, 483 li. 52 U. Kischel, in: R. Mellinghoff/U. Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, insbesondere S. 175, 178, 183 ff., 192.
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Öffentlichrechtler erst von Steuerrechtsproblemen Kenntnis erhalten) hat keine Möglichkeit, sich dem Steuerrecht zu entziehen. 53 Das Bundesverfassungsgericht wollte 1991 die Gleichmäßigkeit der Zinsbesteuerung durch „Gleichheit im Recht“ wiederherstellen. Dazu ging es zwei Einwendungen aus dem Weg: (1) Der Beschwerdeführer dürfe nicht so gestellt werden wie die Hinterzieher der Steuern auf Zinsen. (2) Das Begehren des Beschwerdeführers sei unzulässig, da er keine materielle Besserstellung für sich erreichen wolle oder könne. Daher beschritt das Gericht (P. Kirchhof) folgenden Weg: Wegen struktureller Vollzugsmängel, insbesondere wegen des Vorläufers zu § 30a AO, wurde auch die materielle Gesetzesgrundlage im Einkommensteuergesetz für unvereinbar mit der Verfassung erklärt und dem Gesetzgeber aufgegeben, für die Zukunft die Vollzugsgleichheit herzustellen. Könne ein materielles Steuergesetz nicht gleichmäßig durchgesetzt werden, so wirke sich das als Verfassungsmangel auch auf das materielle Recht aus. M. Desens äußert dazu: „Insgesamt war die Vorgehensweise . . . äußerst trickreich und lässt sich mit dem Ziel erklären (nicht rechtfertigen), die aus der Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes folgenden Zulässigkeitsprobleme überwinden zu wollen“. 54 In der Tat, P. Kirchhof mangelt es nicht an juristischer Phantasie; so hat er im Interesse der Realisierung des Gleichheitssatzes einen juristischen Weg beschritten, den andere nicht gefunden hätten (mögen sie jetzt auch von Kniffen oder Kunstgriffen sprechen). P. Kirchhof hat sich an seinem Rechtsgewissen, an seinem Rechtsgefühl orientiert, nicht an traditionellen Grundsätzen, nach denen ehrliche Steuerpflichtige hätten im Stich gelassen werden müssen. Man sollte einmal versuchen, sich vorzustellen, was die Folgen gewesen wären, wenn das Bundesverfassungsgericht auch die Verfassungsbeschwerde – ganz im Einklang mit den Fachgerichten abgewiesen hätte. Wer hätte es dann der Minorität oder dem Rest der bisher ehrlichen Steuerpflichtigen noch verdenken können, wenn sie sich ebenfalls – ohne Entdeckungsrisiko – der steuerhinterziehenden Mehrheit zugesellt hätten. Nur Beamte und Richter hätten dann vielleicht weiterhin gezahlt, um auf jeden Fall einer Strafe und einer Disziplinierung zu entgehen. Auch den Steuerlaien unter den Öffentlichrechtlern hätte bei Vorhandensein eines Mindestmaßes von Judiz oder Gerechtigkeitsgefühl ein solches Ergebnis doch nicht gefallen können. M. E. helfen Begriffe wie „Neid“ und „Neidklage“ nicht weiter, wenn es um die Herstellung von Gleichheit und Gerechtigkeit geht. Motivforschung sollte ohnehin entbehrlich sein. Art. 3 GG wird doch auch 53 U. Kischels Auffassung ablehnend auch J. Englisch, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 180 Fußn. 79. 54 M. Desens, AöR Bd. 133 (2008), 420.
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nicht als „Neidgrundrecht“ bezeichnet. 55 Das soll nicht heißen, dass es nicht auch außerhalb des Weges des Bundesverfassungsgerichts eine andere befriedigende Lösung gegeben hätte. Da A. Funke wenig von der Idee hält, dass Vollzugsmängel des Verfahrensrechts das materielle Recht infizieren und verfassungswidrig werden lassen können, sucht er nach einem anderen Weg, indem er den Gleichheitssatz nicht nur als Abwehrrecht sieht, sondern auch als ein Recht auf Leistung, dem eine Verpflichtung des Staates entspricht. 56 Da sich aus dem Grundgesetz, konkretisiert durch § 85 AO, ergibt, dass die Finanzbehörden den Auftrag haben, die Steuern gesetzmäßig und gleichmäßig festzusetzen, muss der Gesetzgeber verpflichtet sein, für Verfahrensvorschriften zu sorgen, die die Erfüllung des erwähnten Auftrages ermöglichen und ungleichmäßige Besteuerung verhindern. Es läge danach nahe, eine Klage gegen die Bundesrepublik (ihren Gesetzgeber) auf Leistung zuzulassen, bestehend in der Beseitigung von Vollzugshindernissen (wie § 30a AO) und von Vollzugslücken. Aber eine solche Klage sieht jedenfalls die Finanzgerichtsordnung nicht vor. Verklagt werden können danach nur Verwaltungsbehörden (Vollzugsbehörden), die Gesetze umsetzen (s. § 63 FGO). Der Steuerpflichtige müsste also im Rechtsbehelfsverfahren gegen seinen Steuerbescheid geltend machen, dass Steuerverfahrensrecht sei objektiv nicht so ausgestaltet, dass es eine gleichmäßige Besteuerung ermögliche. Subjektiv-rechtlich müsste der Steuerpflichtige die vollzugshemmenden Vorschriften oder fehlende Vorschriften (die den Vollzug verunmöglichen) benennen. Es müsste sich um Vorschriften handeln, die gerade ihn, den (ehrlichen) Steuerpflichtigen benachteiligen. 57 Doch taucht ein anderes Problem wieder auf: Nach der nicht überholten BVerfG-Rechtsprechung ist der Kläger/Beschwerdeführer nur dann in seinen Rechten verletzt, wenn er für sich eine materielle Besserstellung erreichen kann und will, nicht aber, wenn die Herstellung der Gleichbelastung nur möglich ist durch die Schlechterstellung 55 Bei M. Desens (Fußn. 54), 407 f., 421, 422, 423 finden wir, gestützt auf einschlägige Literatur, den Begriff „verwerflicher Neid“, abzuheben von „gerechtem Unwillen“, von „bloßer Unzufriedenheit über das Ergebnis ungerechter Institutionen oder ungerechten Verhaltens anderer“. 56 A. Funke, AöR Bd. 132 (2007), 203 ff. („Art. 3 Abs. 1 GG als Leistungsrecht“), 206 („Insgesamt spricht nichts dagegen, Art. 3 Abs. 1 GG objektivrechtliche Wirkungen zu entnehmen, aus denen Maßgaben für die Ausgestaltung des Verfahrensrechts folgen können“), 207 m. N., 208. 57 A. Funke tut sich m. E. zu schwer mit dem Nachweis der Benachteiligung ehrlicher Steuerpflichtiger gegenüber Steuerpflichtigen, die Vollzugslücken ausnutzen. Die Erfahrung lehrt: Es kann davon ausgegangen werden, dass Vollzugslücken steuersparend genutzt werden – je länger sie bestehen, desto mehr.
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privilegierter Dritter. Darum geht es aber in der Regel. Der Kläger/Beschwerdeführer will Gleichstellung im Recht durch Schlechterstellung Dritter. Man hat gemeint, dass Bundesverfassungsgericht habe das Verlangen auf Besserstellung oder wenigstens auf eine Chance zur Besserstellung aufgegeben. 58 Das trifft jedoch nicht (mehr) zu, wie der Kammerbeschluss zur Abgeordneten-Kostenpauschale zeigt. 59 Die nur auf die materielle Besserstellung des Klägers/Beschwerdeführers abstellende Rechtsprechung – sie pflegt sich auf Präjudizien statt auf Argumente zu stützen – überzeugt indessen nicht. Sie verführt Kläger nur dazu, für sich eine ungerechtfertigte steuerliche Besserstellung zu beantragen, statt zur Herstellung von Gleichheit im Recht (nicht im Unrecht) die Schlechterstellung bisher Privilegierter zu verlangen. Wenn jemand, der bisher ungleich belastet wurde, künftig gleichbelastet wird, so ist das rechtlich eine Besserstellung. Auch der Gleichheitssatz als Magna Charta des Steuerrechts (Bd. I, S. 290) ist nicht mehr wert als seine Durchsetzungsmöglichkeit. Soweit die Gerichte diese Möglichkeit versperren, entwerten sie den Gleichheitssatz, den Schutz vor Ungleichheit erheblich und reißen eine große Rechtsschutzlücke auf. 60 58 S. etwa R. Stalbold, Die steuerfreie Kostenpauschale der Abgeordneten, 2004, S. 223 ff. 59 Beschluss v. 26. 7. 2010, DStRE 2010, 1058; unter Bezug auf BVerfGE 121, 108, 115 f. m. w. N.; ebenso BFH BStBl. 2008 II, 928, 930 ff. 60 Dazu näher K. Tipke, FR 2006, 957 unter Bezug auf M. Sachs, in: Festschrift für K. H. Friauf, 1996, 309, 312 ff.; s. auch schon ders., DÖV 1984, 411, 418 f. (mit anderem Ansatz); in dieser Linie auch R. Seer, der dazu ausführt: „Ein besonderes Individualinteresse liegt aber auch in der Verletzung des Grundrechts des Art. 3 GG durch eine normative steuerliche Privilegierung Dritter. Entgegen BFH BStBl. 2008, 928, 930 ff. (zum Abgeordneten-Privileg einer steuerfreien Kostenpauschale nach § 3 Nr. 12 EStG) muss der Kläger nicht darlegen, dass die Privilegierung auch auf seine Person zu erstrecken ist. Vielmehr reicht es aus, wenn er sich in einer für die Besteuerung vergleichbaren konkreten Lage wie die steuerlich privilegierte Person befindet. Dazu muss der Kläger im Abgeordneten-Fall keineswegs selbst Abgeordneter sein. Vielmehr reicht es aus, dass er einkommensteuerpflichtig ist und Erwerbsaufwendungen zu tragen hat. Dadurch unterscheidet er sich hinreichend vom quivis ex populo (Sozialhilfeempfänger und andere nicht Steuerpflichtige können die Begünstigung der Abgeordneten nicht rügen!). Um die Verletzung seines Grundrechts auf Gleichbehandlung abwehren zu können, kann er sich gegen die Steuerfestsetzung des privilegierten Dritten wehren“ (in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 22 Rz. 127). Von R. Seer weiche ich insofern ab, als nach meiner Meinung der Kläger nicht den Steuerbescheid eines privilegierten Dritten anfechten muss, sondern seinen eigenen Steuerbescheid anfechten kann mit der Begründung er werde durch die einen anderen privilegierende Norm benachteiligt in seinem Recht auf Gleichbelastung. Diese Norm ist auch im Verfahren des Klägers gegen seinen eigenen Bescheid entscheidungserheblich.
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Der erwähnte Kammerbeschluss überzeugt nicht. Er nimmt u. a. die Verfassungsbeschwerde eines Finanzrichters, der sich durch die Abgeordnetenpauschale für diskriminiert hielt, mangels Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung an, zum einen, weil der Kläger eine Besserstellung nicht erreichen konnte, vor allem aber auch deshalb, weil das Verfassungsgericht Abgeordnete und Richter nicht als vergleichbare Einkommensteuerbürger ansah. Wörtlich führt der Kammerbeschluss dazu aus: „Die – gegebenenfalls – bestehende steuerliche Begünstigung der Abgeordneten ist aufgrund der auch verfassungsrechtlich geschützten besonderen Stellung des Abgeordnetenmandats dem Grunde nach sachlich gerechtfertigt . . . Abgeordnete schulden in Abgrenzung zu Arbeitnehmern rechtens keine Dienste, sondern nehmen in Freiheit ihr Mandat wahr . . . Der Abgeordnete entscheidet grundsätzlich frei und in ausschließlicher Verantwortlichkeit gegenüber dem Wähler über die Art und Weise der Wahrnehmung seines Mandats . . .; dies betrifft auch die Frage, welche Kosten er dabei auf sich nimmt. Die pauschale Erstattung dieser Aufwendungen soll Abgrenzungsschwierigkeiten vermeiden . . .“ 61 Das ist – einkommensteuerrechtlich – eine erstaunliche Begründung. Die Steuerprivilegien von Adel und Geistlichkeit sind mit der Einführung des Prinzips der Allgemeinheit der Besteuerung längst weggefallen. Die Demokratie ist privilegienfeindlich. Vor dem Einkommensteuergesetz – es erfasst natürliche Personen – stellt Abgeordnete und andere Bürger gleich. Abgeordnete sind einkommensteuerrechtlich nicht über- oder unnatürliche, sondern natürliche Personen. Was das Verfassungsgericht als Besonderheiten der Mandatsausübung anführt, ist einkommensteuerrechtlich unter dem Aspekt gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit unerheblich; es atmet den Geist der Schedulenbesteuerung. Jeder Beruf, jede Einkunftserzielung hat einkommensteuerrechtlich unerhebliche Besonderheiten. Ob Steuerbürger mehr oder weniger frei verantwortlich über berufs- oder mandatsbezogene Aufwendungen entscheiden können, ändert nichts daran, dass allgemein das Nettoprinzip gilt, für Abgeordnete ebenso wie für Nichtabgeordnete. Eine Besonderheit des Abgeordnetenmandats besteht darin, dass Abgeordnete als Gesetzgeber auch über ihre eigenen Angelegenheiten entscheiden dürfen. Dieses Privileg führt leicht in die Versuchung der Selbstbedienung, zumal wenn das Verfassungsgericht das mit der „besonderen Stellung der Abgeordneten“ rechtfertigt. Die Selbsteinschätzung von Abgeordneten kommt in folgender Äußerung eines Abgeordneten zum Ausdruck: „Ich bin der Meinung, wir sind frei gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestages, und wir haben niemanden Rechenschaft darüber abzulegen, was wir tun mit unserem 61 BVerfG 26. 7. 2010, DStRE 2010, 1058.
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Mandat, schon gar nicht der zweiten und dritten Gewalt“. 62 In Großbritannien wurde vor einigen Jahren ein Abgeordneten-Spesenskandal aufgedeckt. Abgeordnete hatten falsch abgerechnet, insbesondere über Zweitwohnungen in London, andere hatten Missbrauch mit Mitarbeiterpauschalen getrieben, usw. Die hohe deutsche Pauschale schützt in der Tat vor Missbrauch und vor Steuerhinterziehung. Solche Pauschalen wünschen sich alle Bürger. Abgeordnete sollten für sich keine komfortableren Regeln beschließen als die für alle Bürger geltenden. Sonst entsteht der Verdacht, dass die Abgeordneten ihre Gesetzgebungsmacht zur Selbstprivilegierung nutzen. Die Abgeordnetenpauschale ist nicht realitätsgerecht. Zum Teil sind die Aufwendungen nicht typisierbar, weil sie bei den Abgeordneten, wenn überhaupt, so in recht unterschiedlicher Höhe anfallen. 63 Eine weitere große Lücke: Gegen die vielen ungerechtfertigten Steuervergünstigungen (Steuerprivilegien) schneidet die BesserstellungsRechtsprechung die dringend notwendige Verfassungskontrolle weitgehend ab. Auch der Besteuerungsmoral wird die Rechtsprechung, die materielle Besserstellung verlangt, nicht gerecht. Was hilft es, dass die ideale Demokratie privilegienfeindlich ist, wenn die real existierende Demokratie aber Privilegien schafft statt abschafft und den Bürgern keine rechtliche Handhabe gewährt wird, sich gegen Privilegien zu wehren?
6. Über Reputation und Wirkung des Bundesverfassungsgerichts 6.1 Über die Reputation des Gerichts Die Richter des Bundesverfassungsgerichts stehen bei der großen Mehrheit der Bevölkerung in hohem Ansehen. Dadurch heben sie sich ab von dem schlechten Ruf der Politiker, und zwar der Politiker aller Parteien, auch als „politische Klasse“ oder „politische Kaste“ bezeichnet. Um den Wählern zu imponieren, sind die Politiker durchweg nicht nur streitbar, sie agieren nur zu oft unsachlich, schmähen den Gegner, diffamieren ihn, setzen ihn herab. Die nicht beabsichtigte Folge ist in Wirklichkeit Parteien- und Politikverdrossenheit. Die Verdrossenheit wird gefördert, wenn es – zumal im Wahlkampf – in der Politik zugeht wie in einem Haifischbecken. Die Bundesverfassungsrichter sind im Urteil der Bevölkerung hingegen intellektuell redlich, seriös und sachlich. Sie sind unabhängig von Interessenverbänden. 62 „Arroganz der Macht“, FR 2008, 691. 63 S. auch schon R. Stalbold, Die steuerfreie Kostenpauschale der Abgeordneten, 2004, 166 f.; Th. Drysch, Die steuerfreie Kostenpauschale für Abgeordnete – ein verfassungswidriges Privileg, DStR 2008, 1217 ff.; J. Englisch, Steuerprivileg für Bundestagsabgeordnete, NJW 2009, 894 ff.
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Anders als der politische Prozess mit verbalem „Hauen und Stechen“ gilt der Gerichtsprozess im Allgemeinen als fair. Die Autorität der Verfassungsrichter gründet auch darauf, dass ihre Entscheidungen Rechtssprüche, keine Machtsprüche sind, unbeeinflusst sind von Parteilichkeit und politischer Opportunität. Das Fernsehen präsentiert die „Karlsruher Rotroben“ vor allem dann, wenn sie die Politiker als die Repräsentanten des Staates in die Schranken der Grundrechte verwiesen haben. Skandale und Affären, wie sie in der Politik vorkommen, produzieren die Richter nicht. Die Mehrheit der Verfassungsrichter kommt aus der Rechtswissenschaft oder hat Bezüge zur Rechtswissenschaft. Nicht wenige Rechtswissenschaftler sehen in den Verfassungsrichtern ihre natürlichen Verbündeten. Die Rechtswissenschaftler teilen mit den hohen Richtern das Rechtswissen, sind aber auf deren Durchsetzungsmacht angewiesen. Auch Verfassungsrichter sind indessen nicht vorurteilslos; als Menschen können sie es nicht sein. Auch Verfassungsrichter sind nicht frei von Einflüssen und Prägungen der Erziehung, des Milieus, der Lebensumstände und -erfahrungen. Sie sind nicht frei von religiösen oder weltanschaulichen Einwirkungen. So kommt es zu unterschiedlichen Einstellungen und Denkungsarten, die in richterliche Entscheidungsberatungen mit eingebracht werden. Die Verfassungsrichter werden von Politikern gewählt. Diese achten vor allem auf die „Ausgewogenheit“ der gesellschaftspolitischen Ansichten der Richter, auf die „Ausgewogenheit“ der von der Richterbank vertretenen Ideologien. Das ist deshalb so wichtig, weil sich die verschiedenen Einstellungen gerade bei der Konkretisierung der Grundrechte auswirken. Es liegt doch nahe, dass Richter ihre eigenen Wertvorstellungen in die Werteordnung der Grundrechte einzubringen versuchen. 64 Es gibt farblose, introvertierte Richter, aber auch solche, die mit ihrer Gesinnung nicht hinter dem Berg halten. Das Gros der Verfassungsrichter wirkt in der Stille. Nur wenige machen als Richter meinungsstark und selbstgewiss in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam. 65 64 In den USA müssen Richterkandidaten für den Supreme Court es sich gefallen lassen, von Politikern des Kongresses nach ihren gesellschaftspolitischen Ansichten befragt zu werden. Man möchte wissen, was man von dem Kandidaten als Richter zu erwarten hat. Er kann einer bestimmten oder keiner Partei angehören, er kann einer bestimmten Religionsgemeinschaft angehören, aber auch Agnostiker oder Atheist sein. Das möchte man durch Befragen klären. 65 Das gilt m. E. z. B. für P. Kirchhof und U. Di Fabio, die (auch als Richter) nicht nur Fachartikel und Fachbücher schrieben, sondern auch über Gott und die Welt.
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Man kann sich die Auswirkungen der verschiedenen Einstellungen und Einflüsse gut vorstellen, wenn es z. B. um Schwangerschaftsabbruch, Homoehe, Schulgebet in einer religiös-gemischten Klasse, um das Kruzifix im Klassenzimmer, um das Kopftuchtragen und andere muslimische Traditionen oder um das Schächten (Tierquälerei oder Ausfluss von Religionsfreiheit?) oder um die Präimplantationsdiagnostik geht. Auch das Steuerrecht ist weitgehend von Wertungen bestimmt; selbst religiöse Einflüsse können eine Rolle spielen. Im katholischen Glauben verwurzelte Eheleute mit Kindern pflegen sich für die Hausfrauenehe mit Einkommenssplitting einzusetzen. Unverheiratete, kinderlose Akademikerinnen pflegen die Individualbesteuerung zu bevorzugen. Ideologisch beeinflusst sind auch die Gestaltungen des Einkommensteuer- und des Erbschaftsteuertarifs sowie die Einstellung zur Vermögensteuer. 6.2 Über Wirken und Wirkung des Gerichts im Steuerrecht (1) Man könnte daran denken, differenzierend verschiedene zeitliche Wirkungsphasen des Bundesverfassungsgerichts darzustellen, etwa die weitgehend ineffektive Phase vor P. Kirchhof, die aktive P. Kirchhof-Phase und die Nachphase nach P. Kirchhof. Es muss aber nicht wiederholt werden, was darüber schon geschrieben worden ist. 66 Gute Verfassungsrichter müssen zweierlei beherrschen: das Verfassungsrecht und das Rechtsgebiet (Fachgebiet), auf das das Verfassungsrecht anzuwenden ist. Richter, die nur das Verfassungsrecht oder nur das Steuerrecht beherrschen, neigen erfahrungsgemäß zu einem möglichst restriktiven Umgang mit der Grundrechtsanwendung in dem betroffenen Fachgebiet. Inkompetenz macht ängstlich, vorsichtig. „Nicht in die Fachkompetenz fallender Fall: Am besten ablehnen!“ Die Verfassungsrichter werden gewählt. Ihre Wähler, Politiker, kümmern sich m. E. zu einseitig um das Weltbild, um die gesellschaftspolitische Positionierung der Richterkandidaten, sorgen sich zu wenig darum, dass die 16 Richter durch ihre Kompetenz das Recht in toto abdecken sollen. Da es vor allem Staatsrechtslehrer sind, die das Verfassungsrecht auslegen, insbesondere die Grundrechte konkretisieren, werden sie als „geborene“ Verfassungsrichter angesehen. In Deutschland werden aber zwei Rechtsgebiete des öffentlichen Rechts in der Lehre vernachlässigt, die als Gerechtigkeitsrecht im Verfassungsrecht 66 Ich verweise dazu insbesondere auf K. Vogel, Die Steuergewalt und ihre Grenzen, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Bd., 2001, S. 527 ff. Hinweis auch auf Bd. III1 StRO 1993, S. 1484 ff.
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eine besondere Rolle spielen: das Steuerrecht und das Sozialrecht. Nur wenige Staatsrechtslehrer sind in diesen beiden Rechtsgebieten kompetent. Umgekehrt gilt auch: Ein Kandidat, der wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei, wegen seines Geschlechts und wegen steuerlicher Berufserfahrung gewählt wird, wird kein guter, sondern erfahrungsgemäß ein übermäßig restriktiv agierender Verfassungsrichter, wenn er sich als Gesetzespositivist nichts anderes vorstellen kann als den geltenden Gesetzesinhalt und die dazu ergehenden Verwaltungsvorschriften. Ein Verfassungsrichter muss sich noch etwas anderes vorstellen können als den Inhalt der einfachen Gesetze; er muss noch etwas anderes denken können, als das, was der Gesetzgeber gedacht hat. Viele Verfassungsrichter sind Rechtswissenschaftler oder sie stehen als Honorarprofessoren, Lehrbeauftragte oder Fachschriftsteller der professionellen Rechtswissenschaft nahe und bringen die nötige kritische Grundeinstellung gegenüber dem geltenden Gesetzesrecht mit. Fachkompetenz ersetzt das allerdings nicht. Tatsache ist: Es gibt viel mehr Steuerjuristen mit guten verfassungsrechtlichen Kenntnissen als Verfassungsjuristen mit guten steuerrechtlichen Kenntnissen. Charles E. Hughes (1862–1948) hat eine Feststellung getroffen, die man als banal empfinden mag, zutreffend ist sie gleichwohl: „We are under the Constitution, but the Constitution is what the judges say it is.“ In der Tat, das Recht der unbestimmten, wertausfüllungsbedürftigen Grundrechte ist besonders weitgehend Richterrecht. Es ist Recht, das von Richtern unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Einstellung und unterschiedlicher Kompetenz stammt. Wenn wir mit Kollegen aus Ländern mit demokratisch-rechtsstaatlicher Verfassung, aber ohne Verfassungsgericht über den Zustand der materiellen Steuergesetze diskutieren, pflegen wir übereinstimmend festzustellen, dass die Steuergesetze aller Demokratien etwa gleich chaotisch, weithin rechts- oder wertungsunlogisch sind, unabhängig davon, ob ein Verfassungsgericht das Steuerrecht kontrolliert oder nicht. Wir haben als Rechtswissenschaftler in Deutschland nicht aufgehört, das Steuerrecht weiterhin als chaotisch zu bezeichnen, obwohl wir ein Verfassungsgericht haben. Wir haben keineswegs den Zustand einer Entchaotisierung erreicht, im Gegenteil: Die Entrechtlichung nimmt immer noch zu. 67 Ausländische Kollegen, die ohne Verfassungsgericht tätig sind, sagen uns: Für die pluralistische Demokratie mit Parteien und vielen Interessenverbänden ist das existie-
67 K. Vogel hat schon 1988 den „Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht“ beschrieben und darin eine Herausforderung an das Verfassungsrecht gesehen (DStJG Bd. 12 [1989], S. 123 ff.).
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rende Steuerchaos nichts Krankhaftes; es ist das Normale. Ein Fortschritt in Steuergerechtigkeit lässt sich nicht feststellen. 68 (2) Von J. Lang stammt die Feststellung: „Das Bundesverfassungsgericht leistet unverzichtbare Beiträge zur Durchsetzung der systemtragenden Prinzipien eines rechtsstaatlichen Steuerrechts“. 69 Es ist m. E. aber noch weit davon entfernt, seine Aufgabe voll erfüllt zu haben. Die Feststellung, das deutsche Bundesverfassungsgericht sei in der Verfassungskontrolle der Steuergesetze das effizienteste in der Welt, mag gleichwohl zutreffen. Aber es kann auch heißen: Die anderen Verfassungsgerichte sind noch ineffizienter. Beginnen wir mit den Barrieren, die eine effiziente Anwendung des Gleichheitssatzes verhindern. Zu diesen Barrieren ist schon auf S. 1562 ff. Stellung genommen worden. Einige Ergänzungen sind jedoch angebracht. Zunächst möchte ich auf die Folgen eingehen, die sich aus der These ergeben, die in Art. 105, 106 GG aufgeführten Steuern und ihre Bemessungsgrundlage dürften nicht am Gleichheitssatz gemessen werden (s. S. 1553 ff.). Die Vertreter dieser These sehen die Steuerrechtsordnung nicht als Einheit an, sondern als Nebeneinander separater Steuern, die aus verschiedenen Steuerperioden stammen. Bei dieser Betrachtungsweise fehlt das geistige Band. Die einzelnen Steuern sind selbständige Teile eines Steuerpluriversums. Die Rechts- oder Wertungslogik darf danach nur im Binnenbereich einer Steuer angewendet werden. Es ist jedoch z. B. wertungsinkonsequent oder wertungswidersprüchlich p dass gewisse Versicherungsbeiträge einerseits einkommensteuerrechtlich als Sonderausgaben (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 EStG) nicht belastet werden, andererseits aber mit Versicherungsteuer belegt werden, p dass Aufwendungen eines Forstwirts für die Jagd (zur Eindämmung von Wildverbiss) einerseits als Betriebsausgaben von der Einkommensteuer verschont werden, andererseits aber mit Jagdsteuer belastet werden, p dass der Kaffeeverbrauch einerseits dem ermäßigten Umsatzsteuersatz unterliegt, andererseits aber mit der Kaffeesteuer als besonderer Verbrauchsteuer unterworfen wird. 70 Die Konflikte entstehen daraus, dass Art. 105, 106 GG neben Leistungsfähigkeitssteuern antiquierte Steuern erfasst, die dem Leistungsfähigkeitsprinzip zu keiner Zeit entsprochen haben. Das Verfassungsgericht verdeckt das dadurch, dass es sich bis heute zwar allgemein auf das Leistungsfähigkeitsprin68 Dazu F. Vanistendael, Is fiscal justice progressing?, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 101 ff. 69 In: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Rz. 67. 70 Siehe schon in diesem Band S. 1260, ferner Verfasser JZ 2009, 538 f.
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zip beruft, aber immer wieder hinzufügt, insbesondere gelte für das Einkommensteuerrecht das Prinzip der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit. In Wirklichkeit hat das Verfassungsgericht andere als die Einkommensteuer nie auf ihre Vereinbarkeit mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip geprüft. Das ist auch nicht nötig, wenn man annimmt, dass die Art. 105, 106 GG die darin enthaltenen Steuern ohne weiteres für verfassungswidrig halte. Einerseits dürfen die Gebote der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit danach nur im Binnenraum einer Steuer geprüft werden; andererseits geht das Verfassungsgericht von der „Einheit der Rechtsordnung“ aus und wendet das Gebot der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit rechtsbereichsübergreifend sogar auf das Steuerrecht und außensteuerliches Recht an. 71 M. E. lässt sich den Art. 105, 106 GG nicht entnehmen, dass das Grundgesetz eine einheitliche, zusammenhängendgeschlossene, steuerübergreifend folgerichtige und widerspruchsfreie Steuerrechtsordnung nicht wolle, überhaupt die Messung einzelner Steuern und ihrer Bemessungsgrundlagen am Gleichheitssatz nicht zulasse. Dass m. E. verfehlte Verständnis der Art. 105, 106 GG schlägt sich auch in einem verfehlten Begründungsduktus der BVerfG-Entscheidungen nieder. 72 Die Begründung beginnt mit dem Gleichheitssatz. Es folgt dann aber nicht die Feststellung, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip im Steuerrecht der für die Anwendung des Gleichheitssatzes benötigte Vergleichsmaßstab ist, sondern die notorische Behauptung, dass der Gesetzgeber bei der Auswahl von Steuergegenständen grundsätzlich frei sei, also insoweit nicht an das Leistungsfähigkeitsprinzip gebunden. Damit wird nicht das Leistungsfähigkeitsprinzip, sondern der Steuergegenstand zur Ausgangsbasis, zur Grundlage für Konkretisierungen gemacht. Da der freien Bestimmung des Steuergegenstandes kein wertendes Prinzip zu entnehmen ist, wie soll aus ihm eine konkretisierende Wirkung abgeleitet werden, etwa aus dem Steuergegenstand „Grundbesitz“ oder „Grundstück“? So wird verhindert, dass eine Steuer wegen eines Steuergegenstandes, der keinen Bezug zum Leistungsfähigkeitsprinzip hat, als verfassungswidrig ausgehebelt wird. Wie kann aber das Leistungsfähigkeitsprinzip folgerichtig umgesetzt werden, wenn der freigewählte Steuergegenstand mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip nichts zu tun hat? Aber das Leistungsfähigkeitsprinzip wird doch noch erwähnt, nämlich in dem Satz, dass sich „aus zwei miteinander verbundenen Leitlinien“ Grenzen für den Steuergesetzgeber ergäben, nämlich dem „Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen 71 BVerfGE 98, 83, 97 f.; 98, 106, 118 ff., 130 ff.; 108, 169, 181. 72 Z. B. in dem Begründungsaufbau des Urteils zur Pendlerpauschale, BVerfGE 122, 210 ff.
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Leistungsfähigkeit“ und dem „Gebot der Folgerichtigkeit“. 73 Überhaupt, warum werden hier das materiale Leistungsfähigkeitsprinzip und das formale Folgerichtigkeitsprinzip miteinander verbunden, wenn doch nach der Vorstellung des Gerichts nicht das Leistungsfähigkeitsprinzip, sondern der Steuergegenstand folgerichtig umzusetzen ist, wie immer man sich das außerhalb des Einkommensteuergesetzes vorstellen mag. M. E. sollte das Verfassungsgericht die „Logik“ seiner Steuergerechtigkeitsvorstellungen mit ihren verschiedenen Versatzstücken noch einmal überdenken, eventuell einen Umbau vornehmen. 74 Wie pflegen hohe Richter mit solcher Kritik umzugehen: Sie übergehen sie und verlängern die Präjudizienkette um eine weitere Entscheidung. Kann man sich vorstellen, dass die Vordenker eines Steuergesetzbuches, namentlich P. Kirchhof und J. Lang, auf die Idee hätten kommen können, die Art. 105, 106 GG zum Fundament ihres Entwurfs zu machen. Dann ist es aber unverständlich, dass Staatsrechtslehrer diese Vorschriften immer noch als das verfassungsrechtliche non plus ultra ansehen. 75 (4) H. W. Kruse konnte 1981 zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zutreffend feststellen: Bei der Erschließung von Steuerquellen hat der Gesetzgeber „eine weitgehende Gestaltungsfreiheit. Entschließt sich der Gesetzgeber, eine bestimmte Steuerquelle zu erschließen, eine andere Steuerquelle dagegen nicht auszuschöpfen, so ist der allgemeine Gleichheitssatz nicht verletzt, wenn finanzpolitische, volkswirtschaftliche, sozialpolitische oder steuertechnische Erwägungen die verschiedene Behandlung motivieren . . . Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers endet erst dort, wo die gleiche oder ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, also kein einleuchtender Grund mehr für die Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung besteht. Nur die Einhaltung dieser äußersten Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit . . . ist vom Bundesverfassungsgericht nachzuprüfen . . .“ 76
Die zitierten Standards werden bei Bedarf noch heute herangezogen. Auf S. 1562 ff. habe ich sie um weitere restriktive Formeln ergänzt und meine Kritik hinzugefügt. Eine Wiederholung an dieser Stelle erübrigt sich. Pointiert lässt sich zusammenfassen: Trotz des in Art. 3 73 BVerfGE 122, 210. 74 P. Kirchhofs Ableitung eines Halbteilungsgrundsatzes (dazu Bd. I2, S. 450) hat mir insofern imponiert, weil sie endlich einmal über die einzelne Steuer hinausgriff, um zu der Steuergesamtbelastung zu finden, zu der Belastung aus allen einzelnen Steuern. 75 Die unbelegte Irrlehre hat wirklich Wurzeln geschlagen. 76 H. W. Kruse, DStJG Bd. 5 (1982), 72. H. W. Kruses zutreffende Wiedergabe ist m. E. nicht als seine Kritik zu verstehen, sondern als Genugtuung eines Autors, der zum Gesetzespositivisten mutiert war (s. dazu J. Lang, in: Festschrift H. W. Kruse, 2001, S. 313 f.).
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GG verankerten Gleichheitssatzes darf der Gesetzgeber im Steuerrecht grundsätzlich alles beschließen, was Politikern und Interessenverbänden einfällt; sie dürfen es aber auch lassen. Was unter Gleichheit zu verstehen ist, darf der Gesetzgeber grundsätzlich selbst bestimmen. Die Durchbrechung von noch nicht demontierten Prinzipien lässt sich durch politische Bestrebungen aller Art rechtfertigen. Klare, orientierungssichere Verhaltensbotschaften des Verfassungsgerichts für den Gesetzgeber fehlen weithin. 1974 leugnete das Bundesverfassungsgericht noch, dass das Einkommensteuergesetz ein objektives Nettoprinzip kenne. 77 Diese Meinung hat es längst aufgegeben. Aber noch immer erkennt es den Verfassungsrang des objektiven Nettoprinzips als folgerichtig konkretisierten Leistungsfähigkeitsprinzips nicht an. Dieser Rang ist aber ebenso begründet wie beim Folgerichtigkeitsgebot. 78 Im Bereich der Einkommensteuer haben die Verfassungsrichter große Anstrengungen unternommen, gestützt auf Art. 6 GG Ehe und Familie in der Steuergesetzgebung zu ihrem Recht kommen zu lassen. 79 Am Anfang dieser Rechtsprechung stand die Entscheidung, die die progressionsverschärfende Zusammenrechnung von Ehegatteneinkünften für verfassungswidrig erklärte. 80 Der Ausbau der Rechtsprechung zur Besteuerung von Ehe und Familie hatte schon vor der Amtszeit von P. Kirchhof eingesetzt. 81 P. Kirchhof nahm sich auch weiterer Fragen der Besteuerung von Ehe und Familie an, 82 ferner des Schutzes des Existenzminimums. 83 Weiterhin hat das Bundesverfassungsgericht schließlich für die steuerliche Gleichbelastung von Pensionen und Renten gesorgt. 84 77 Dazu K. Tipke, StuW 1974, 84. 78 Dazu J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 167 ff. Zum Verfassungsrang des objektiven Nettoprinzips auch J. Hennrichs, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 237, 247 ff., 254; s. auch G. Kirchhof, ebenda, S. 563, 585. 79 Dazu ausführlich Bd. I2, S. 365 ff. (Gleichheitssatz und Ehegattenbesteuerung), S. 393 ff. (Gleichheitssatz und Besteuerung der Familie mit Kindern). 80 BVerfGE 6, 55. 81 Dazu H.-J. Pezzer, Verfassungsrechtliche Perspektiven der Familienbesteuerung, in: Festschrift für W. Zeidler, 1987, Bd. 1, S. 757 ff. 82 Dazu Bd. I2, S. 367 (Bundesverfassungsgericht: Steuerliche Benachteiligung von Ehegatten verfassungswidrig), 368 ff. (Bundesverfassungsgericht: Ehegattensplitting als verfassungsmäßige Lösung), 370 f. (Bundesverfassungsgericht: Ehegattenverträge auch mit steuerlicher Wirkung grundsätzlich zulässig), 393 ff. (Gleichheitssatz und Besteuerung von Ehe und Familie). 83 Dazu Bd. I2, 2000, S. 420 ff. 84 Dazu Bd. II2, 2003, S. 744 ff.
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Hervorzuheben ist auch die Entscheidung des I. BVerfG-Senats zur Erbschaft- und Schenkungsteuer von 2006. 85 Sie verlangt vom Gesetzgeber eine „realitätsgerechte Wertrelation“ der unterschiedlichen Vermögensarten herzustellen, außerdem eine strenge Zweistufenprüfung: Auf der ersten Stufe soll das Bewertungsgleichmaß hergestellt werden, auf einer nachrangigen zweiten Stufe durch möglichst zielgenaue, normenklare Lenkungstatbestände zur Verwirklichung außersteuerlicher Lenkungsziele wieder eingeschränkt oder aufgehoben werden. 86 Offenbar kann es nicht gelingen, die verschiedenen Arten von Vermögen gleich sicher zu bewerten. Die Frage, die sich für alle Steuern stellt: Ist es verfassungsrechtlich zulässig, die Bemessungsgrundlage durch Lenkungsnormen so auszuhöhlen, dass nur noch eine Minorität steuerbelastet wird, während die Majorität verschont wird. Von Allgemeinheit der Besteuerung kann dann jedenfalls nicht mehr gesprochen werden. So kräftig das Bundesverfassungsgericht die Besteuerung von Ehe und Familie beeinflusst, ja dirigiert hat, 87 so auffällig spärlich hat es sich der Unternehmensbesteuerung angenommen, obwohl die Grundund Kernprobleme des Unternehmenssteuerrechts Gerechtigkeitsfragen betreffen. Darüber haben sich Steuerrechtswissenschaftler gerade in den letzten Jahren zunehmend beklagt. 2009 widersprach J. Hey „einer Abschwächung der verfassungsrechtlichen Kontrolle für den Bereich des Unternehmensteuerrechts“. 88 Dabei liegt auf der Hand: „Fragen des Unternehmens- und Bilanzsteuerrechts sind verfassungsrechtlich nicht weniger wichtig als Fragen der Familienbesteuerung, des Existenzminimums oder der Erbschaft- und Schenkungsteuer“. 89 Auch das Unternehmenssteuerrecht ist „kein verfassungsfreier Raum“. 90 Das Unternehmenssteuerrecht ist kein Sonderrecht, für das ein besonders weiter, ein nahezu unbeschränkter „Gestaltungsspielraum“ des Gesetzgebers angenommen werden muss. Für das Unternehmenssteuerrecht darf keine herabgesetzte Kontrollintensität gelten, und bei seiner Anwendung muss auch das Folgerichtigkeitsgebot und das objek85 BVerfGE 117, 1 f., 37 ff., 69 f. 86 Näher dazu R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 15 Rz. 5, 151 ff. Besonders kritisch dazu J. Lang, Das verfassungsrechtliche Scheitern der Erbschaft- und Schenkungsteuer, StuW 2008, 189 ff.; R. Seer, Die Erbschaft- und Schenkungsteuer im System der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, GmbHR 2009, 225 ff. 87 Dazu kritisch B. Sangmeister, Das Bundesverfassungsgericht und das Verfassungsprozessrecht, dargestellt am Beispiel der Beschlüsse zur Familienbesteuerung v. 10. 11. 1998, StuW 2001, 168 ff. 88 J. Hey, DStR 2009, 2561 ff. 89 J. Hennrichs, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 245 ff., 254. 90 J. Hey, DStR 2009, 2561, 2568; K.-D. Drüen, DStR 2010, 513, 520.
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tive Nettoprinzip beachtet werden. 91 „Eine Differenzierung (von Regeln) je nach steuerrechtlicher Submaterie lässt sich nicht begründen“. 92 Ist der Eindruck falsch, dass mit abnehmender richterlicher Kompetenz der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers wächst? 93 Das Steuerrecht wird durch zahlreiche Privilegien durchsetzt. Sie verletzen – da ungerechtfertigt – zwar den Gleichheitssatz, Nichtprivilegierte sollen aber die Abschaffung von Privilegien zu Lasten der Privilegierten nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nicht durchsetzen können, da in seinen Rechten nur verletzt sei, wer für sich eine materielle Besserstellung verlange (dazu kritisch S. 1534 ff., 1567 ff.). Die Demokratie ist idealiter zwar privilegienfeindlich. Das Ideal lässt sich aber mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts, des Hüters auch des Gleichheitssatzes, bisher grundsätzlich nicht umsetzen. Die vielen politisch motivierten Ausnahmen vom Gleichheitssatz machen das Steuerrecht realiter zu einem „hochpolitischen“ „Rechts“-Gebiet; in ihm gehen die Prinzipien, Regeln und Gebote der Steuergerechtigkeit praktisch unter. Ist es schon schwierig vorauszusagen, wie ein Fachgericht entscheiden wird, so sind Prognosen, die die Rechtsprechung des Bundesver91 So zutreffend J. Hey, DStR 2009, 2561, 2562 ff., 2566 ff. („Uneingeschränkte Geltung des Folgerichtigkeitsgebots auch im Unternehmensteuerrecht“); K.-D. Drüen, DStR 2010, 520; J. Hennrichs, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 253 f.; J. Schulze-Osterloh, ebenda, S. 255, 261 f. 92 J. Hey, DStR 2009, 5268. Hinweis auch auf K.-D. Drüen, DStR 2010, 520 („Eine flexible Maßstabsbestimmung nach Maßgabe des Einzelfalls wird dem nicht gerecht“). 93 Die zitierten Beiträge beschäftigen sich kritisch vor allem mit dem Kammerbeschluss v. 12. 5. 2009, BVerfGE 123, 111, der auf eine BFH-Vorlage zur Jubiläumsrückstellung ergangen ist. Man mag denken, es sei schlechter Stil, eine gut begründete BFH-Vorlage durch Kammerbeschluss zu erledigen, statt durch den achtköpfigen Senat. Aber vielleicht wollte man auch Rücksicht nehmen auf die Senatskollegen, die mit Rückstellungen wohl nichts anzufangen gewusst hätten. Aber mit einem solchen Motiv müssten dann wohl alle Unternehmensteuersachen von der Kammer erledigt werden. Mancher Steuerexperte war verwundert darüber, wie souverän der I. BVerfG-Senat mit einer Verfassungsbeschwerde umging, die die Verfassungswidrigkeit von Umgliederungsverlusten beim Körperschaftsteuerminderungspotenzial geltend machte. Der I. BVerfG-Senat hatte aber die schriftliche Stellungnahme eines Professors für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre eingeholt und folgte diesem im Ergebnis und weitgehend auch in der Begründung – und gab dem Beschwerdeführer Recht. Das Beispiel (dazu § 27a BVerfGG) sollte Schule machen. Was hätte die 1. Kammer des II. Senats wohl mit einer solchen Verfassungsbeschwerde gemacht? Wenn es demnächst keine Steuerjuristen beim Verfassungsgericht mehr geben wird, wird das Gericht wohl noch öfter Stellungnahmen von Experten einholen müssen.
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fassungsgerichts betreffen, so gut wie unmöglich. Das liegt zum einen in der Natur der Grundrechte. Es hängt aber auch damit zusammen, dass das Bundesverfassungsgericht, insbesondere im Bereich des Gleichheitssatzes, mit einer ganzen Reihe mehr oder weniger unbestimmter Leitstandards arbeitet. Je nachdem welche Formeln es im zu entscheidenden Fall heranzieht, kann es unterschiedliche Ergebnisse erreichen, jeweils aber auch das Gegenteil. Wie soll man da prognostizieren können? Die Unsicherheit drückt sich auch in Gesetzeskritiken aus, in denen es z. B. heißt: „Der Gesetzgeber bewegt sich am Rande der Verfassungswidrigkeit oder die XY-Vorschriften sind kaum noch verfassungsmäßig“. Der Urteilsspruch „Die Klage ist kaum begründet“ ist allerdings nicht zulässig. Der Rechtsphilosoph J. Braun dazu: „Die praxisbezogene Wissenschaft fragt in dieser Situation . . . danach, wie das zuständige Gericht vermutlich entscheiden würde. In einer Art Kaffeesatzleserei werden obiter dicta und selbst Äußerungen einzelner Richter außerhalb des Verfahrens daraufhin abgetastet, mit welchen höchstrichterlichen Erleuchtungen demnächst zu rechnen ist. Diese ‚prophecies of what the courts will do in fact‘ 94 werden allein für Rechtswissenschaft erklärt, alles andere gilt als weltfremde Spekulation“. 95 Man kann natürlich, auch wenn es um eine Verfassungsgerichtsentscheidung geht, fragen: Bei welchem Senat des Verfassungsgerichts ist das Verfahren anhängig? Was ist über die Einstellung des Berichterstatters bekannt? J. Braun nennt das „Kaffeesatzleserei“. Wissenschaft kann man es auch nach meinem Wissenschaftsverständnis nicht nennen. 96 Die Situation ließe sich in Grenzen nur verbessern, wenn das Bundesverfassungsgericht sich an die Gebote der Rechts- oder Wertungslogik halten würde. In der Entscheidung zur Pendlerpauschale hat es durch die Anwendung des Folgerichtigkeitsgebots Hoffnungen geweckt. Es hat sie inzwischen aber gehörig wieder gedämpft, die Rechtslogik wieder dem weiten Gestaltungsspielraum zum Opfer gebracht. Schon oben habe ich gefragt, ob möglicherweise die Weite des Gestaltungsspielraums von der richterlichen Kompetenz im Einzelfall abhänge. Der weite oder ganz weite Gestaltungsspielraum erlaubt es den Parteien und Interessenverbänden, die Steuergesetze bar jeder Gleichbelastung und bar jeder Rechtslogik möglichst wähler- oder klientelwirksam zu fassen. Verfehltes Bemühen um die Wählergunst kann allerdings auch kontraproduktiv enden. Das hat jedenfalls die
94 Diese Feststellung stammt von Oliver Wendell Holms Jr., Harvard Law Review 457 (1897). 95 Johann Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 402 f. 96 Oliver Wendell Holms Jr. mag das anders gesehen haben. Von ihm stammt auch die Belehrung: „This is a court of law, not a court of justice.“
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FDP erlebt. Ob ein Gericht den ermäßigten Umsatzsteuersatz für Hoteliers „aus politischen Gründen“ gerechtfertigt hätte, mag dahinstehen. J. Hennrichs stellt zutreffend fest: „An der Entwicklung einer Steuerrechtsordnung mitzuwirken, ist eine gemeinsame Aufgabe von Gesetzgebung, Wissenschaft und Bundesverfassungsgericht. 97 Von der Gesetzgebung ist nach aller Erfahrung seit den 1950er Jahren keine Besserung zu erhoffen. Steuerpolitik besteht eben nicht wirklich in Steuergerechtigkeitssuche“. 98 Steuerpolitik und Steuergesetzgebung wollen Wählerwirksam sein, gehen auf Stimmenfang aus. Das ist in Anbetracht der Wählerabhängigkeit der Politiker gut verständlich. Wähler versucht man vor allem zu gewinnen durch das Versprechen, Steuern zu senken, durch das Versprechen von Steuervergünstigungen für die eigene Klientel und das Versprechen (insbesondere der Sozialbürger-Parteien), die Reichen höher zu belasten. Je nach Finanzminister kann die Steuerpolitik auch einen deutlichen fiskalischen Akzent erhalten. Wäre das Bundesverfassungsgericht der Verbündete der Steuerrechtswissenschaft, so wäre das ideal. Nur sollte man von der Wissenschaft nicht erwarten, dass sie kritiklos die herkömmlichen Standards, Floskeln und Stereotypen des Verfassungsgerichts übernimmt. An die Stelle des Gesetzespositivismus darf kein Verfassungsrechtsprechungs-Positivismus treten. Für die Rechtswissenschaft darf nicht gelten: Karlsruhe locuta, causa finita! 99 Wenn das Verfassungsgericht die Gebote der Rechts- oder Wertungslogik, angelegt im Gleichheitssatz, umsetzen würde, so wäre das m. E. nicht iudicial activism, sondern dutyful iudicial performing.
97 In: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 253 unten. 98 Gerechtigkeitsgestaltung ist m. E. kein passender Ausdruck. 99 Dazu auch M. Rodi, in: Festschrift für K. Vogel, 2000, S. 203.
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§ 34 Appendix: Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung 1. Einführung. . . . . . . . . . . . 1588 .. 2. Rechtsanwendung durch Sachverhaltssubsumtion oder -zuordnung . . . . . . . . 1591 .. 3. Auslegung und Auslegungsmethoden. . . . . . . . . . . . . 1595 .. 3.1 Methodologische Strömungen des 19./20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . 1595 .. 3.2 Ziel der Auslegung; Auslegungsmethoden . . . . . 1597 .. 3.3 Zu den einzelnen Auslegungsmethoden (-kriterien) . . . . . . . . . . . . . . 1604 .. 3.31 Vorbemerkung . . . 1604 .. 3.32 Zur grammatischen Methode . . 1606 .. 3.33 Zur formal-systematischen Methode . . . . . . . . . . . 1612 .. 3.34 Zur historischen Methode . . . . . . . 1613 .. 3.35 Zur teleologischen Methode . . . . . . . 1614 .. 3.351 Telosermittlung . . 1614 ..
3.352 Der Zweck im Steuerrecht . . . . . 1616 .. 3.36 Der Rückgriff auf den Wortlaut als „ultima ratio“ . . . 1622 .. 3.4 Zur Frage der Reihenund Rangfolge der Auslegungsmethoden . . . . . 1623 .. 3.5 Grenze der Auslegung . . 1624 .. 3.6 Zur Methode der Praxis der Gerichte . . . . . . . . 1625 .. 3.7 Berufung auf Präjudizien und Literaturäußerungen. . . . . . . . . . . . . . . 1626 .. 3.8 Insbesondere: Die „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ („wirtschaftliche Auslegung“) . . . . . . . . 1629 .. 3.81 Einführung . . . . . . 1630 .. 3.82 Meinungen und Meinungsphasen . . 1631 .. 3.83 Stellungnahme . . . 1635 .. 4. Gesetzeslücken und ihre Ausfüllung; rechtsfreier Raum . . . . . . . . . . . . . . . 1637 .. 5. Einfluss des Rechtsgefühls . 1645 ..
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung adopted by the Israeli Courts, IFA-Bulletin 1988, 170 ff.; R. Mastalski, Interpretacja prawa Pdatkowego, Wroclaw 1989; R. Lobo Torres, Normas de Interpretação do Direito Tributário, Rio de Janeiro 1991; E. Höhn, Zweck(e) des Steuerrechts und Auslegung, in: Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 159 ff.; Chr. Geppaart, Fiscale rechtsvinding in het kader van de Europese Unie, 2001; F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik Bd. II: Europarecht2, 2007; R. Matteotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung. Ein Rechtsvergleich zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten von Amerika unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, 2007 (mit umfassendem, 42-seitigem Literaturnachweis); A. Steichen, Manuel de droit fiscal Tome 1, 2006, S. 640 ff. (Outils d’interprétation).
Vorbemerkung: Dieser Paragraph hat gegenüber der Vorauflage eine andere Position erhalten, weil die Lehre von der Methode der Steuergesetzanwendung in den Finanzämtern kaum eine Rolle spielt. Die Veranlagungsbeamten orientieren sich an Richtlinien und an anderen Verwaltungsvorschriften, bei Bedarf auch an Gerichtsurteilen und an Kommentaren. Den Veranlagungsbeamten stehen oft Steuerberater mit wirtschaftswissenschaftlicher Ausbildung gegenüber. Ihr Wissen über die Gesetzesanwendungsmethode pflegt ebenso unvollkommen zu sein wie das der Beamten des gehobenen Dienstes. Daher die unkritische Orientierung auch vieler Steuerberater an den Richtlinien.
1. Einführung Mit der Methode der Rechtsanwendung befassen sich nicht nur Rechtsdogmatiker, sondern auch Rechtstheoretiker, Rechtsphilosophen, Rechtssoziologen und Politologen. Die Methodenlehre hat es nicht nur mit Vertretern der klassischen Auslegungslehre, sondern auch mit „Topikern“, „Vorverständnis-Theoretikern“, „Vernunftrechtlern“ („kritischen Rationalisten“), Vertretern einer „politischen Rechtswissenschaft“, „modernen Rechtslogikern“, Rechtssoziologen (die die Rechtswissenschaft der Soziologie zurechnen) und „ökonomischen Analytikern des Rechts“ 1 zu tun. Wir werden uns mit „modernen“ Strömungen, von denen kaum etwas in die Rechtspraxis, geschweige denn speziell in die Steuerrechtspraxis eingedrungen ist, allenfalls am Rande befassen 2. Viele Methoden1 Dazu D. Schneider, DStJG Bd. 5 (1982), 85, 92 ff. („Ökonomische Analyse des Rechts statt der gegenwärtigen sog. wirtschaftlichen Betrachtungsweise bei Auslegung der Steuergesetze“); s. auch ders., in: K. H. Hansmeyer, Staatsfinanzierung im Wandel, 1983, S. 77 f. m. w. N.; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 645 ff. m. w. N.; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNrn. 305 ff., 368 ff., 379 f.; R. Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 70 ff. 2 Eine kritische Auseinandersetzung mit den Modernisten liefert F. Bydlinski, AcP Bd. 188, 448 ff.
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Einführung
lehrer versuchen sich auch durch eine eigene Terminologie abzuheben. So stoßen wir z. B. auf eine objektiv-teleologische, eine teleologisch-systematische, eine prinzipiell-systematische, eine wörtliche, grammatische, grammatikale, textuale, litterale Auslegung, eine logisch-systematische, eine gerechtigkeitsorientierte, wertungsorientierte, axiologische Auslegung, eine libertäre Auslegung. Etliche „Modernisten“ können die Praxis schon deshalb nicht erreichen, weil sie in einer hochabstrakten, höchst unverständlichen Imponiersprache schreiben und die konkreten Verhältnisse aus ihrer Rhetorik ausblenden. „Modernisten“ nennen nicht nur die Rechtsanwendungspositivisten „Subsumtionsmaschinen“, „Scholastiker“, „Paragraphenautomaten“, „obrigkeitsscheue Rechtstechniker“, „Vertreter der Scheuklappenjurisprudenz“ o. Ä. 3 Wer für eine teleologische Auslegung statt für Anwenderei strikt nach dem Wortlaut eintritt, wer möchte, dass die Rechtsanwendung das teleologische oder innere System möglichst stabilisiert und nicht destabilisiert, braucht sich von solcher „Qualifizierung“ nicht getroffen zu füllen. Dass Rechtsanwender sich an „Gesetz und Recht“ gebunden fühlen, wie das Grundgesetz es vorschreibt, gereicht ihnen wahrlich nicht zum Vorwurf. Indessen, auch die Vertreter der „klassischen“ Methodenlehre haben noch genügend Differenzen. „Die“ Methodenlehre gibt es nicht, und auch die Gerichte verfolgen verständlicherweise keine gerade Linie. 4 Fast jedes Gericht verfügt über mehrere Spruchkörper. In jedem Spruchkörper sind mehrere Richter tätig. Die Richter wechseln im Laufe der Zeit, und: Auch Richter können und dürfen ihre Meinung ändern, auch ihre methodische Meinung. Schließlich gibt es auch Richter, die ihre Methode jeweils an das für richtig gehaltene Ergebnis anpassen, statt das Ergebnis methodisch zu suchen. Eine spezielle, partikuläre Methodenlehre für das Steuerrecht gibt es grundsätzlich nicht. 5 Für das Steuerrecht gilt grundsätzlich die gleiche Methode der Rechtsanwendung wie für andere Rechtsgebiete; jedoch bringt die Anwendung der allgemeinen Methode im Steuerrecht besondere, sich aus der besonderen Teleologie des Steuerrechts erklärende Probleme mit sich, die es besonders zu erörtern gilt. Dazu gehören das Rechtssicherheitsbedürfnis der Steuerpflichtigen, die gerechte Verteilung der Gesamtsteuerlast und auch die so genannte wirtschaftliche Betrachtungsweise. W. Schick wertet die intensive Methodendiskussion im Steuerrecht als „Krisensymptom“, als „Anzeichen dafür, dass ein Rechtsgebiet 3 Nachweise bei J. Esser, AcP Bd. 172 (1972), 520. 4 Dazu L. Woerner, DStJG Bd. 5 (1982), 23–25; ders., FR 1992, 226, 227 ff. 5 Dazu – allgemein – F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien/New York 1982, S. 593 ff.; zum Steuerrecht: F. Cagianut, in: Festschrift für F. Zuppinger, Bern 1989, S. 137.
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung
noch unfertig, in Gärung ist“. 6 Solche Schlüsse lassen sich m. E. aus der steuerrechtlichen Methodendiskussion nicht ziehen. Über Methoden der Rechtsanwendung wird entgegen der Behauptung von R. Schenke auch in anderen Rechtsbereichen intensiv diskutiert. 7 Dass das im Verwaltungsrecht relativ wenig geschieht, Verwaltungsrechtler möglicherweise wenig methodenbewusst sind, sich auch kaum um die Zulässigkeit der Analogie im Eingriffsverwaltungsrecht kümmern, 8 muss nicht für die Reife des Verwaltungsrechts sprechen. Die Steuerrechtswissenschaft ist mindestens so gesund wie die Verwaltungsrechtswissenschaft und andere Rechtsdisziplinen es sind. 9 Nicht behandelt werden in diesem Band die Besonderheiten der Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen 10. Die beste Auslegungsmethode nützt wenig, wenn die Gesetze schlecht sind, weil es keine wissenschaftliche Gesetzgebungsmethode gibt.
6 DStR 1982, 575. So schon G. Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft12, 1969, S. 242, 253. Ihm folgend R. Schenke, der die Steuerrechtswissenschaft eine kranke Wissenschaft nennt, weil sie sich noch zu sehr mit er eigenen Gesetzesanwendungsmethode zu beschäftigen habe (Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 2 f.). S. auch B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNr. 640. 7 R. Schenke (Fußn. 6), S. 2, 487 („in anderen Rechtsgebieten keine Entsprechung“); dazu kritisch K. Tipke, in: StuW 2008, 377 m. w. N.; s. auch R. Schenke selbst z. B. S. 14. 8 S. auch F. Bydlinski, a. a. O. (Fußn. 5), S. 600. 9 Hinweis auf K. Tipke, StuW 2008, 362. 10 Dazu J. Lang, Grundsätzliches zur Interpretation völkerrechtlicher Abkommen im Steuerrecht, dargestellt am Beispiel der Frage, ob der Diplomat einer ausländischen Mission unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist, StuW 1975, 285 ff.; K. Vogel, Doppelbesteuerungsabkommen und ihre Auslegung, StuW 1982, 111 ff., 286 ff.; H. Debatin, Zur Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen, in: Festschrift für P. Scherpf, 1983, S. 305 ff.; K. Vogel, Abkommensvergleich als Methode bei der Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen, StbJb. 1983/84, 373 ff.; ders., Double Tax Treaties and their Interpretation, International Tax & Business Lawyer (Berkeley Cal.) 1986 Nr. 1; J. M. Mössner, Zur Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen, in: Liber amicorum für I. Seidl-Hohenveldern, 1988, S. 403 ff.; J. Strobl, Zur Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen, in: Festschrift für G. Döllerer, 1988, S. 635 ff.; K. Vogel, Interpretation of double taxation treaties, in particular the problem of ‚qualification‘, Rassegna Tributaria (ital. Zeitschrift) 1988, 175 ff.; Haarmann, Auslegung und Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen, 2004; Chr. Waldhoff, Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen: Zweck und Rolle des OECD-Kommentars, StbJb. 2005/2006, S. 161 ff.; Lampert, Doppelbesteuerungsrecht und Lastengleichheit, 2010; H. Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011, Kap. 16, 49 ff. m. w. N. (S. 633 f.).
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Gesetzesanwendung durch Sachverhaltssubsumtion
2. Rechtsanwendung durch Sachverhaltssubsumtion oder -zuordnung Das sich in den Rechtsnormen verkörpernde geltende Recht muss auf tatsächliche oder hypothetische (Stichwort: Steuerplanung 11) Einzelfälle angewendet werden. Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, Rechtssicherheit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung können sich nur dann entfalten, wenn die Rechtsanwendung, insbesondere die Gesetzesauslegung, sich einer disziplinierten Methode bedient und nicht in den gesetzesfreien Raum eindringt. Die Methode der Gesetzesanwendung soll der Beliebigkeit, dem Emotionalen, Irrationalen Grenzen setzen. Dies hilft allerdings nur recht eingeschränkt, wenn der Gesetzgeber emotional, irrational agiert, frei von Rechtslogik. Die Rechtsanwendung (Gesetzesanwendung) besteht in der Prüfung, ob ein konkreter Lebenssachverhalt unter den abstrakten Gesetzestatbestand der Rechtsnorm (des Rechtssatzes) passt, von ihr (ihm) erfasst wird, in seinen Geltungsbereich fällt, unter die Rechtsnorm subsumiert werden, der Rechtsnorm zugeordnet werden kann. Während des Subsumtionsversuchs „wandert der Blick hin und her“ zwischen der möglicherweise anwendbaren Norm und dem Sachverhalt. 12 Dabei stellt sich schließlich heraus, ob der Sachverhalt überhaupt gesetzesrelevant ist bzw. welcher Sachverhaltsausschnitt gesetzesrelevant ist. Die niederländische Rechtssprache verwendet den treffenden Ausdruck „toepassing“. Die Voll-Norm besteht aus dem Tatbestand und der Rechtsfolgeanordnung. Passt der Sachverhalt unter den abstrakten Gesetzestatbestand, gelingt die Subsumtion oder Zuordnung, so gilt die in der Norm angeordnete Rechtsfolge.
11 J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, insb. S. 577 ff. Planende Jurisprudenz oder Kautelarjurisprudenz ist insofern erheblich schwieriger als Justizjurisprudenz, weil die Justizjurisprudenz es mit abgeschlossenen Fällen zu tun hat, während die rechtliche Sachverhaltsplanung verschiedene Sachverhaltsmöglichkeiten darauf durchprüfen muss – durch Subsumtion unter das Gesetz oder Zuordnung des gedachten Sachverhalts zum Gesetz –, welche Sachverhaltsgestaltung die günstigste Rechtsfolge auslöst. Diese Betrachtungsweise, die umfassende Rechtskenntnisse und Sachverhaltsphantasie verlangt, wird in der rechtswissenschaftlichen Universitätsausbildung – die noch immer eine einseitige Ausbildung zum Justizjuristen ist – vernachlässigt. 12 K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung3, 1963, S. 15. Ebenso B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNrn. 658 ff.; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 503 (das gilt auch für die Suche nach Normen, die einschlägig sein könnten).
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung
Logisch stellt sich die Grundform der Rechtsanwendung als eine Anwendung der syllogistischen Schlussfigur des (seit der Scholastik) so genannten modus barbara dar. 13 Die eigentliche Schwierigkeit der Rechtsanwendung besteht nicht in der Schlussfolgerung, sondern darin, dass die Begriffe der Rechtsnorm (bestehend aus Tatbestand und Rechtsfolge) ausgelegt werden müssen und dass der Sachverhalt – nicht selten durch Beweisaufnahme – ermittelt werden muss. Die Prüfung, ob der Sachverhalt unter das Gesetz passt, ist oft kein Subsumtionsvorgang im engeren Sinne, sondern ein wertendes Inbeziehungsetzen, eine wertende Zuordnung. Das gilt vor allem für die Zuordnung zu wertausfüllungsbedürftigen oder normativen Begriffen, zumal zu Generalklauseln und unbestimmten Gesetzesbegriffen (unbestimmten Rechtsbegriffen) sowie zu Typusbegriffen. Alle Rechtsbegriffe sind mehr oder weniger unbestimmt und folglich auslegungsfähig und auslegungsbedürftig. 14 Ungeachtet dieses Befundes pflegen in der Jurisprudenz nur die vagen, nicht alle mehrdeutigen Begriffe als „unbestimmte Gesetzesbegriffe“ oder „unbestimmte Rechtsbegriffe“ bezeichnet zu werden. Allgemein wird zwischen wertausfüllungsbedürftigen oder normativen und empirischen oder deskriptiven Begriffen unterschieden. Die wertausfüllungsbedürftigen oder normativen Begriffe verlangen vom Rechtsanwender ein Werturteil, nicht bloß Wahrnehmung, Erkenntnis oder Schlussfolgerung. Um Missverständnissen vorzubeugen: Gemeint ist die ethische, moralische, ästhetische Bewertung, nicht die Feststellung des wirtschaftlichen Wertes von Wirtschaftsgütern. Beispiele für wertausfüllungsbedürftige Begriffe: „Gemeinnützigkeit“, „Erfordernisse des Gemeinwohls“, „Wohl des Staates“, „zwingendes öffentliches Interesse“, „berechtigtes Interesse“, „Billigkeit“/„Unbilligkeit“, „unbillige Härte“, „Zumutbarkeit“/„Unzumutbarkeit“, „Vertrauenswürdigkeit“, „Angemessenheit“, „wichtiger Grund“, „Treu und Glauben“, „schwerwiegender Fehler“, „grobes Verschulden“, „verständige Würdigung“, „volkswirtschaftlich wertvoll“, „außergewöhnliche Belastung“, „angemessene Zeit“, „erhebliche Nachteile“, „ordnungsgemäße Buchführung“ 15, „Luxusgegenstand“. 16 Die wertausfüllungsbedürftigen Begriffe stehen meistens im Tatbestand, seltener in der Rechtsfolgeanordnung einer Rechtsnorm. Vor allem wertausfüllungsbedürftige Begriffe sind geeignet, mit grundrechtlichen Wertungen angereichert zu werden, grundgesetzkonform aufgefüllt zu werden.
13 Näheres bei K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991, S. 271 ff; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 123 ff.; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNrn. 187 ff., 677 ff. 14 K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 606; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNrn. 731 ff.; J. Hey, Planungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 577. 15 Dazu J. Lang, in: Handwörterbuch unbestimmter Rechtsbegriffe im Bilanzrecht des HGB, 1986, S. 221, 232 ff. 16 BFH BStBl. 1990 II, 710, 711.
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Gesetzesanwendung durch Sachverhaltssubsumtion Wertausfüllungsbedürftige Begriffe können auch auf außerrechtliche Maßstäbe oder Regeln verweisen, z. B. auf die „guten Sitten“, auf die „Verkehrsauffassung“, auf den „Handelsbrauch“. Dadurch ist der Rechtsanwender grundsätzlich an den außerrechtlichen Maßstab gebunden; missbräuchliche, laxe Sitten oder nicht ordnungsgemäße Gebräuche darf und muss er aber negieren. Die empirischen oder deskriptiven Begriffe beziehen sich auf erfassbare, wahrnehmbare oder erfahrbare Zustände oder Vorgänge. Die Erfassung (das Verständnis) des Begriffs kann auf schlichter Wahrnehmung beruhen; sie kann aber auch Schlussfolgerungen verlangen, die eine bestimmte Erfahrung voraussetzen. Notwendig sein kann auch die Deutung eines natürlichen oder technischen Zustands oder Vorgangs. Die Erfahrung kann sich zu allgemeinen oder besonderen Erfahrungssätzen verdichten. 17 Mehr oder minder unbestimmte empirische Begriffe sind die meisten Begriffe des Bilanzrechts; ihre Auslegung und Anwendung setzt Wahrnehmung, i. d. R. auch Schlussfolgerung aufgrund vorliegender Tatsachen mit Hilfe wirtschaftlicher und/oder sozialer Erfahrung voraus. Die Anwendung dieser Begriffe kann zugleich prognostische Fähigkeiten verlangen („voraussichtliche Steuerbelastung“, „vorhersehbare Risiken“). Empirische oder deskriptive Begriffe sind der Seinserkenntnis oder Tatsachenfeststellung zugänglich. Soweit der Rechtsanwender es mit einem ihm nicht hinreichend vertrauten Erfahrungsbereich zu tun hat, ist er auf die Mitwirkung von Sachverständigen angewiesen. Im Bilanzrecht kommen vor allem Betriebswirte als Sachverständige in Betracht. Begriffe können empirische und normative Elemente enthalten. Auch die Typusbegriffe verlangen wertende Zuordnung. Typusbegriffe haben noch nicht die Stufe eines abstrakten (klassifikatorischen) Begriffs erreicht. Im Gegensatz zum abstrakten Begriff ist der Typus offen. Die ihn repräsentierenden Merkmale brauchen im Einzelfall nicht sämtlich vorzuliegen. Der Typus ist nicht im strengen Sinne definiert. Von den Merkmalen, die insgesamt als typisch, als für den Typus charakteristisch angesehen werden, kann im Einzelfall das eine oder andere Merkmal fehlen oder von minderer Bedeutung sein, ohne dass dadurch die Zugehörigkeit zum Typus in Frage gestellt zu sein braucht. Ein abstrakter Begriff wird definiert durch die erschöpfende Aufzählung sämtlicher unabdingbarer Merkmale. Unter diese Merkmale wird subsumiert. Dem Typus hingegen wird die Einzelerscheinung nicht subsumiert, sondern zugeordnet, und zwar dadurch, dass sie als ihm mehr oder weniger entsprechend erkannt wird. Die Abstufbarkeit ist ein wesentliches Merkmal des Typus. Anders als beim abstrakten Begriff sind die Grenzen des Typus fließend, es gibt Übergangsformen. Entscheidend ist das Gesamtbild. Bei den abstrakten Begriffen stellt sich die Subsumtionsfrage so, dass es nur ein Ja oder Nein gibt. Im Bereich der Typen haben wir es hingegen mit verschwommenen Grenzen und fließenden Übergängen zu tun; daher gibt es eine Zugehörigkeit „bis zu einem gewissen Grade“. Was die Merkmale des Typus ausmacht, kann durch repräsentative Beispiele exemplifiziert oder veranschaulicht werden. Solche Beispiele können als repräsentativer Typus den Maßstab, das Muster oder Modell deutlich werden lassen, an dem der Vergleich oder die Ähnlichkeitsprüfung zu orientieren ist.
17 Über Tatsachenfeststellung und Erfahrungssätze in Urteilen K. Röhl/ H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 563.
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung Vielfach geht das typologische Denken dem abstrakten begrifflichen Denken – als Vorstufe – voraus. 18 Überall dort, wo es in besonderem Maße um Rechtssicherheit und Berechenbarkeit geht, sollte der Gesetzgeber den offenen Typus baldmöglichst durch einen abstrakten Begriff zu ersetzen versuchen. Steuerrechtliche Typusbegriffe sind z. B. die Berufsbilder der einzelnen Einkunftsarten, 19 insbesondere die Begriffe „Unternehmer“ und „Mitunternehmer“, „Arbeitnehmer“, „Freiberufler“, „Vermögensverwaltung“, ferner der Begriff „Liebhaberei“. 20 Auch der Begriff „Gewerbebetrieb“ gehörte ursprünglich zu den Typusbegriffen; er hat jedoch nach vorangegangener Ausformung durch die Rechtsprechung die Stufe eines abstrakten Begriffes (s. § 15 II EStG) erreicht. Wenn das Einkommensteuergesetz verlangt, dass etwas „ähnlich“ (§§ 13 I Nr. 4; 17 I 2; 18 I Nr. 1 Satz 2 EStG) ist, so verlangt es den Vergleich mit einem Typus.
Um das Gesetz mit seinen abstrakten Rechtssätzen anwendbar zu machen, bilden Wissenschaftler (auch Kommentatoren) und Richter konkretisierende Rechtssätze (Leitsätze); sie liefern insbesondere Definitionen, die die Mehrdeutigkeit von Begriffen eingrenzen sollen. Dabei mag den Wissenschaftlern ihre Hinneigung zum Systematischen und Hypothetischen zugute kommen. Die Praktiker haben den Vorteil größerer Lebensnähe. Sie bekommen laufend „Fälle“ geliefert und können den Sinn für das Besondere des Falles entwickeln. Sie können vergleichen und Fallgruppen bilden. Wer sich allerdings nur mit Fällen und Einzelproblemen beschäftigt, wird erfahrungsgemäß lange brauchen, bis er die größeren prinzipiellen Zusammenhänge entdeckt. Werden – ohne Bezug zum Gesetzeszweck – nur noch Fallgruppen gebildet, so kann es passieren, dass die Rechtsprechung aus dem teleologischen Ruder läuft. Die Gerichte tragen nicht nur selbst zur Rechtsdogmatik bei, sie liefern den Wissenschaftlern auch Anschauungsmaterial und Testfälle, an denen diese ihre eigene Dogmatik bewähren können. Nur Dogmatik, die sich am Fall bewährt, ist gute Dogmatik.
18 Dazu näher K. Engisch, Die Idee der Konkretisierung2, 1968; D. Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971; J. Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 68 ff.; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 616 ff.; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNrn. 930 ff.; R. Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 312 ff., 420, 422, 460 f., 492. Speziell zum Steuerrecht: K. Vogel, StuW 1971, 308, 313 ff.; F. Salditt, StuW 1971, 191, 193; W. R. Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, s. 181 ff.; K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, § 5 Rz. 51; H.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO (Lfg. 111), Tz. 213. 19 Dazu J. Lang, DStJG Bd. 9 (1986), 22 f. m. w. N., 38 ff. 20 G. Stoll, Verluste und Verlustquellen im Steuerrecht, Wien 1989, S. 216 ff.
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Auslegung und Auslegungsmethoden
3. Auslegung und Auslegungsmethoden 3.1 Methodologische Strömungen des 19./20. Jahrhunderts Die Subsumtion (Zuordnung) unter den Gesetzestatbestand und seine Merkmale (Begriffe) setzt deren Auslegung voraus. Da weder die Verfassung 21 noch die Gesetze vorschreiben, nach welchen Methoden Gesetze auszulegen sind, konnten sich verschiedene methodologische Strömungen entwickeln. (1) Die Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts (Puchta, Windscheid, der jüngere R. v. Jhering) stellte sich einen aus sich selbst heraus kreativ wirkenden Begriffsapparat zur Lösung gesellschaftlicher Probleme vor, sie leitete Ergebnisse „begriffsnotwendig“ ab; aus formalen Begriffen glaubte sie Rechtserkenntnisse konstruieren oder deduzieren zu können. Richtiges Operieren mit den Begriffen – ohne Rücksicht auf Gesetzestelos und Kontext – sollte genügen, um zu richtigen Entscheidungen zu kommen. Das führte zwar zu einigermaßen exakt vorausberechenbaren Ergebnissen, jedoch um den Preis formaler, lebensfremder Begriffsanwenderei. 22 Bloße Begriffsargumente haben in der Regel wenig Überzeugungskraft; sie eignen sich schlecht, etwas plausibel zu machen, Verständnis zu wecken. Die Begriffsjurisprudenz lebte im Steuerrecht auslegungsmethodisch als am Gesetzesbuchstaben haftender „Vulgärpositivismus“, als „primitiver Positivismus des nackten Wortes“ 23 fort. F. Bydlinski erklärt das Haften am Gesetzesbuchstaben in heutiger Zeit nicht als Halten einer theoretischen Position, sondern aus „verbreiteter, allzu menschlicher Bequemlichkeit mancher Rechtsanwender“, „die sich gern die Mühe einer wirklichen Begründung ersparen.“ 24 Dies kann so sein: Der Umgang mit einzelnen Vorschriften oder Begriffen, das Ausblenden von allem, was jenseits des Linguistischen liegt, ist einfacher als die Berücksichtigung des gesamten Steuerrechts oder eines gan21 Aus Art. 20 III GG lässt sich m. E. keine bestimmte Methode entnehmen oder ableiten. Man sollte in ihn auch nichts hineinlesen, was man aus ihm herauslesen möchte. Die heute wohl von niemandem mehr vertretenen Lehren der „Freirechtsbewegung“ (s. S. 1596 f.) wären allerdings mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. 22 Näher zur Begriffsjurisprudenz M. Marx, System des 19. Jahrhunderts, in: A. Kaufmann/W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart3, 1981, S. 89 ff.; K. Larenz (Fußn. 13), S. 19 ff.; W. Fikentscher, Methoden des Rechts, III, 1976, S. 87 ff.; W. Krawietz, Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz, 1976; s. auch Th. Mayer-Maly, Rechtswissenschaft5, 1991, S. 67 f.: „Begriffsjurisprudenz ist nicht Einsicht in die unvermeidbare Fixierung des Juristischen auf Begriffe, sondern Behauptung der Totalität des Begrifflichen. Begriffsjurisprudenz glaubt, dass ein richtiges Operieren mit Begriffen genüge, um zu richtigen Fallentscheidungen zu gelangen, und sie vermeint, dass man aus der Kombination von Begriffen neue Rechtsbegriffe, ja neue Normen gewinnen könne.“ Aus jüngerer Zeit K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 62 ff.; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNrn. 458 ff. 23 W. Antoniolli, Gleichheit vor dem Gesetz, öJBl. 1956, 612. 24 F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 594.
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung zen Steuergesetzes. Die Heranziehung des Wörterbuches ist einfacher als die Berücksichtigung von Entstehungsgeschichte und System. Im Steuerrecht hat die positivistische Tradition aber noch eine andere Wurzel: Es soll Rechtssicherheit erreicht werden, oft zugleich eine möglichst niedrige Steuer. So betrachten die Auslegungspositivisten das Leistungsfähigkeitsprinzip als ein unsicheres rechtspolitisches Element, das in der Auslegung nichts zu suchen habe. Die Reduktion der Auslegung auf Techniken, so M. Kriele, macht die Rechtspositivisten indessen „blind für die Sachgründe und Prinzipien, die letztlich die Wahl des jeweiligen Auslegungselements oder Schlussverfahrens unvermeidlicherweise bestimmen müssen“. 25 (2) Eine Überreaktion auf die Begriffsjurisprudenz war die Freirechtsbewegung oder Freirechtsschule (Eu. Ehrlich, H. Kantorowicz, E. Fuchs, H. Isay). Sie hat zwar „Begriffsgötzendienst“ und „Buchstabenkult“, „Wortklauberei“ und „Begriffshaarspalterei“ der Begriffsjurisprudenz mit Recht bekämpft, ist jedoch weit über das Ziel hinausgeschossen. Da die Rechtsfindung aus dem Rechtsgefühl kommen sollte, entzog sich die Rechtsfindung dieser Denkrichtung jeglicher Methode und damit der rationalen Nachprüfung. Rechtsanwendung sollte ars boni et aequi sein. Die Grenzen zur Rechtspolitik wurden klar überschritten, die Gewaltenteilung verletzt, die Regeln rationaler Begründung verlassen. Die Freirechtsbewegung begünstigte rechtlichen Irrationalismus, Voluntarismus, Subjektivismus und Dezisionismus, kurz: Kadijustiz. Mit den grundgesetzlichen Prinzipien der Gewaltenteilung ist freirechtliche Rechtsanwendung nicht zu vereinbaren. § 227 AO wäre überflüssig, wenn die Rechtsanwendung schlechthin nur ars boni et aequi wäre. 26 Mit dem älteren R. v. Jhering setzte die Überwindung des „juristischen Begriffshimmels“ der Begriffsjurisprudenz auch von einer anderen Seite ein. Jhering warf die Frage nach dem Zweck im Recht auf. Es entwickelte sich die Interessenjurisprudenz (Ph. Heck, M. v. Rümelin, H. Stoll, R. Müller-Erzbach). Diese Denkschule ging davon aus, dass die Rechtsordnung aus Geboten bestehe, mit denen etwas bezweckt wird: Es solle das Leben gestaltet werden. Die Forderungen des Lebens seien die Interessen, materielle und ideelle. Bei der Gesetzesauslegung müsse berücksichtigt werden, dass die Gesetze Interessen durchsetzen oder schützen wollten. 27 Die Interessenjurisprudenz hat sich zur Wertungsjurisprudenz (führender Vertreter: K. Larenz) weiterentwickelt. 28 Die auch in der Steuergerichtspraxis dominierende 29 Wertungsjurisprudenz macht deutlich, dass es nicht nur um Interessen geht, zumal nicht nur um 25 M. Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 71. 26 Näher zur Freirechtsbewegung F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 1967, S. 430 ff.; M. Marx (Fußn. 22), S. 100 ff.; W. Fikentscher, (Fußn. 22), S. 365 ff.; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, Rz. 610 (mit Verfassung nicht vereinbar). 27 Näher dazu Ph. Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, Bd. 2 der Studien und Texte zur Theorie und Methodologie des Rechts, redigiert von Dubischar, 1968, insb. S. 58 ff.; K. Larenz, (Fußn. 13); K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 264 ff.; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNrn. 524 ff. 28 K. Larenz, (Fußn. 13), S. 119 ff., 214 ff.; kritisch dazu R. Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 13 f., 36, 38. 29 Dazu H. Weber-Grellet, Auf den Schultern von Larenz . . ., DStR 1991, 438 ff.
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Auslegung und Auslegungsmethoden materielle oder individuelle Interessen, sondern dass den Gesetzen bezweckte Wertungen aller Art zugrunde liegen, zumal Gemeinwohlwertungen zum Zwecke gerechter Konfliktlösungen.
Enno Becker, der Schöpfer der Reichsabgabenordnung von 1919, wollte eine Entscheidung im Methodenstreit treffen, und zwar gegen die Begriffsjurisprudenz für eine „teleologische Wirklichkeitsjurisprudenz“. Er schuf daher den § 4 RAO 1919 30, den Vorläufer des § 1 II StAnpG. § 4 RAO 1919 schrieb vor: „Bei der Auslegung der Steuergesetze sind ihr Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.“ Enno Becker sah in § 4 RAO 1919 „einen Sieg Jherings gegen seine wissenschaftlichen Gegner, d. h. damals fast die gesamte Rechtsgelehrsamkeit Deutschlands“ 31. Er wollte mit ihm aus der Steuerrechtsanwendung Begriffshaarspalterei und Buchstabenkult, Paragraphenschusterei, Konstruktionalismus und Formalismus, Auslegung „mit dem toten Gesetzgeber“ verbannen.
Die allgemeine juristische Methodenlehre hat § 4 RAO von 1919 allerdings kaum beachtet. Sobald die Begriffsjurisprudenz als methodologische Theorie auf allen Rechtsgebieten weitgehend überwunden war, wurden die Beckerschen Auslegungsregeln überflüssig. Die Abgabenordnung 1977 hat sie daher nicht mehr übernommen. 32 Eine Auslegungsvorschrift enthält § 10 des Entwurfs eines Steuergesetzbuches (von 2011) von P. Kirchhof (dazu in diesem Band S. 1850 f.). 3.2 Ziel der Auslegung; Auslegungsmethoden Ziel der Gesetzesauslegung ist es, den Sinn der Gesetzesworte zu ermitteln und klarzustellen. Von Zahlbegriffen abgesehen, sind die Gesetzesworte stets auslegungsfähig und -bedürftig, weil sie mehrere Sinnmöglichkeiten enthalten. 33 Die Auslegung darf nicht am buchstäblichen Sinn einzelner Ausdrücke haften, darf nie isolierte Wortinterpretation sein, sondern muss den wirklichen Sinn des Rechtssatzes unter mehreren Sinnmöglichkeiten erforschen. Das muss vom Gesetzeszweck (Gesetzestelos) her geschehen. Gesetze sind nämlich 30 Dazu E. Becker, Die Reichsabgabenordnung7, 1930, § 4 Anm. 1 a (Einleitung); H. Cordes, Untersuchungen über Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919, Diss. Köln 1971, S. 46 ff. 31 (Fußn. 30), § 4 Anm. 1 a a. E. 32 BT-Drucks. 7/4292, 15 zu § 4. Über Chancen und Risiken einer Methodengesetzgebung R. Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 484; s. auch schon S. 94 ff. 33 K. Larenz, (Fußn. 13), S. 312; s. auch oben Fußn. 14; a. A. war A. Spitaler, StbJb. 1956/57, 111 („Eine Auslegungsbedürftigkeit liegt nur dann vor, wenn die Vorschrift auslegungsfähig ist. Es sollte daher die Frage der Auslegungsfähigkeit sehr genau geprüft werden, bevor es zu einer vom Wortlaut abweichenden Auslegung kommt.“).
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung
Zweckschöpfungen, Gesetzesworte sind Mittel zum Zweck. Der Gesetzgeber will mit seinen Worten sagen, was er bezweckt, was sein Ziel ist. Ist der Zweck bekannt, so erhellt sich auch der Wortsinn, d. h. die inhaltliche Bedeutung, der Sinngehalt des Textes. Daher müssen Gesetze teleologisch ausgelegt werden. 34 Die herrschende Meinung sieht in der Ermittlung des Gesetzeszwecks indessen nicht das einzige Mittel, um den Sinn des Gesetzes klarzustellen; sie setzt zur Sinnermittlung die teleologische Auslegung – als eine von mehreren Auslegungsmethoden – neben die grammatische, historisch/genetische und systematische Methode. Die klassischen Auslegungsmethoden (-kriterien, -kanones) gehen zurück auf F. C. v. Savigny 35. Er befürwortete die grammatische, die logische, die systematische und die historische Methode. 36 Seit R. v. Jhering 37 ist die telelogische Methode hinzugekommen. Heutzutage werden von den angegebenen Autoren folgende Methoden unterschieden: K. Larenz: Auslegung nach dem Wortsinn, nach dem Bedeutungszusammenhang des Gesetzes, nach der Regelungsabsicht, den Zwecken und Normvorstellungen des historischen Gesetzgebers, nach objektiv-teleologischen Kriterien; 38 F. Bydlinski: wörtliche (grammatische) Auslegung, systematisch-logische Auslegung, historische Auslegung (nach der „Absicht des Gesetzgebers“), objektiv-teleologische Auslegung; 39 K. Röhl./H. Röhl: Wortauslegung, typologische Methode, genetische, teleologische systematische Auslegung; 40 B. Rüthers: Auslegung nach dem Wortlaut, systematische, historische Auslegung; 41 K.-D. Drüen: grammatische, logisch-systemische, teleologische, historische Auslegung; 42
34 P. Kirchhof spricht sich ebenfalls dafür aus, dass nicht „Wörter als Begriffe“ (obwohl dies gelegentlich als „streng“ juristisch charakterisiert werde), sondern „Worte als Ideen“ aufgenommen werden. „Streng“ juristisch sei „allein das Fragen nach dem ‚Sinn und Zweck‘“, nicht die Begriffsdeutung „nach den Vorgaben allgemeiner Wörterbücher“, sondern die Deutung „nach Steuerrechtsstrukturen und -prinzipien“ (NJW 1987, 3217, 3222 li. oben). 35 Zu F. C. v. Savigny und R. v. Jhering ausführlich K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 62 ff., 353 f.; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNrn. 451 ff., 463 f., 518 ff., 698 ff. 36 F. C. v. Savigny, System I, 1840, S. 213. 37 Dazu K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 66 ff. Hinweis auch auf W. Behrens (Hrsg.), Rudolf v. Jhering2, 1993. 38 K. Larenz, (Fußn. 13), S. 320 ff. 39 F. Bydlinski, (Fußn. 24), S. 437 ff. 40 K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 613 ff. 41 B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNrn. 731 ff. 42 K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 111), § 4 Rz. 25 ff., 260 ff.
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Auslegung und Auslegungsmethoden A. Steichen: Interpretation grammaticale, logique, historique, téléologique; 43 M. Reich: grammatikalische, historische, systematische, teleologische Auslegung. 44
Ist das Gesetz Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks (oder bestimmter Zwecke), so muss das Gesetz so verstanden werden, dass der verfolgte Zweck erreicht wird, muss dem Gesetz m. a. W. ein Sinn beigelegt werden, der die Erreichung des verfolgten Zwecks ermöglicht. Wird die Sinnermittlung jedoch nicht nur vom Zweck her gesteuert, sondern auch unabhängig vom Zweck – grammatisch, historisch oder systematisch betrieben, so ist nicht auszuschließen, dass der Zweck verfehlt wird. Dies wird jedoch vermieden, wenn die historische und die systematische Methode ebenfalls eingesetzt werden, um den Zweck des Gesetzes zu ermitteln und vom gefundenen Zweck her auf den Sinn zu schließen. Danach ist es nicht richtig, grammatische, historisch/genetische und systematische Auslegung neben die teleologische Auslegung zu setzen. Da eine grammatische, historisch/genetische oder systematische Auslegungsmethode ohne Rückgriff auf den Gesetzeszweck die Erreichung des Gesetzeszwecks verfehlen kann, sind Grammatik, Historie/Genesis und Systematik als Mittel zur Feststellung des Gesetzeszwecks einzusetzen. 45 Der Europäische Gerichtshof beginnt denn auch mit der teleologischen Interpretation und argumentiert erst danach systematisch und wendet sich schließlich dem Wortlaut zu. 46 Damit ist die Reihenfolge klar, nicht sicher ist aber, ob die systematische und die Wortauslegung auch bloß der Feststellung des Zwecks dienen. Auch P. Kirchhof tritt in seinem Entwurf eines Steuergesetzbuches für eine vom Zweck bestimmte Auslegung ein. § 10 Satz 1 seines Entwurfs lautet: „Das Bundessteuergesetzbuch ist so auszulegen, dass 43 A. Steichen, Manuel de droit fiscal Tome 1, 2006, S. 640. 44 M. Reich, Steuerrecht, Zürich u. a. 2009, S. 130 ff. 45 So auch H. Coing, in: Staudinger, BGB12, Einl. Tz. 195 („Es gilt der Primat der teleologischen Methode. Hilfsmittel . . . sind aber die übrigen Methoden: die sprachlich-grammatische, die logisch-systematische, die historisch-genetische . . .“). Das meint wohl auch M. Kriele, wenn er sagt: „Es gibt keine grammatische, logische, systematische oder sonstige Auslegung ohne Rückgriff auf die ‚ratio legis‘“ (Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 77). 46 S. auch U. Haltern, Europarecht2, 2005, S. 324 ff. Nach M. Groh ist wichtigstes Auslegungskriterium die ratio legis, der Zweck des Gesetzes, die übrigen Kriterien treten dahinter zurück (DB 1990, 14 re. Sp. unten). Auch für B. Rüthers steht der Normzweck als Auslegungsziel am Anfang (Rechtstheorie4, 2008, vor RNr. 171). Viele Entscheidungen des Bundesfinanzhofs verweisen kurzerhand auf die Gesetzesmaterialien (Entstehungsgeschichte) und wollen damit ausdrücken, dass die gewählte Auslegung dem Gesetzeszweck entspricht, was durch die Materialien bestätigt wird (s. etwa BFH BStBl. 1980 II, 253, 254).
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung
alle Steuerpflichtigen nach dem Belastungsgrund der Steuer gleichheitsgerecht besteuert werden.“ Umstritten ist, ob es bei der Auslegung darauf ankommt, was der Gesetzgeber im Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes mit diesem bezweckte (subjektive Theorie), oder ob es auf einen davon unabhängigen Zweck oder „Willen“ des Gesetzes ankommt (objektive Theorie). Was unter einem objektiven Zweck (oder Sinn) des Gesetzes zu verstehen ist, ist freilich recht unklar. Rhetorische, romantische oder mystisch anmutende Bilder und Worthülsen verdunkeln mehr als sie erklären; 47 sie hinterlassen den Eindruck, der „Wille des Gesetzes“ sei ein Phantom. Bezeichnend Binding: „Das Gesetz denkt und will, was der vernünftig auslegende Volksgeist aus ihm entnimmt.“ Mit seinem Erlass löse sich das Gesetz von seinem Urheber, der ganze Unterbau von Absichten und Wünschen verschwinde. Binding weiter: „Und das ganze Gesetz ruht von nun an auf sich, gehalten durch die eigene Kraft und Schwere, erfüllt von eigenem Sinn, oft klüger, oft weniger klug als sein Schöpfer, oft reicher, oft ärmer als dessen Gedanken, oft glücklicher im Ausdruck, als dieser zu vermuten wagte.“ 48 Ähnlich mystisch und ornamental J. Kohler: „Es ist ein häufiger Irrtum zu meinen, dass der Gedanke der vollständige Sklave unseres Willens sei, und nur das hervorbringe, was wir wollen, während doch der Gedanke dem Willen gegenüber seine volle Selbstständigkeit hat und vielfach über die Tragweite des Willens hinausgeht. Dass der Gedanke einen so weiten Hintergrund hat, beruht wiederum darauf, dass unser Denken nicht bloß ein individuelles, sondern ein soziologisches ist. Was wir denken, ist nicht nur unsere Arbeit; es ist etwas Unendliches, es ist das Erzeugnis der Gedankenarbeit von Jahrhunderten und Jahrtausenden. Es hat unendlich viele Zusammenhänge, es zeigt in den Begriffen einen Ideengehalt, den der subjektiv Denkende nicht ahnt.“ 49 Zu einem Bild greift auch G. Radbruch. Er vergleicht das Gesetz mit einem Schiff, „das bei seiner Ausfahrt vom Lotsen auf vorgeschriebenem Wege durch die Hafengewässer gesteuert wird, dann aber unter Führung des Kapitäns auf freier See den eigenen Kurs sucht“ 50. – Man fragt sich, wer der Kapitän ist. Nach K. Larenz gehen in „das Gesetz als die Objektivation des . . . Willens seines Urhebers . . . ebenso dessen ‚subjektive‘ Vorstellungen und Willensziele, wie gewisse ‚objektive‘ rechtliche Zwecke ein“ 51. K. Larenz/C.-W. Canaris
47 Kritisch Chr. Starck, VVDStRL 34 (1976), 72; H.-J. Koch/H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 176 ff. 48 Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 1885, S. 456, 457. 49 Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts I, 1906, S. 123. 50 Rechtsphilosophie8, 1973, S. 207. Ausführlicher (im gleichen Sinne) äußert sich G. Radbruch dazu in seiner Einführung in die Rechtswissenschaft12, 1969, 254 f. Auch danach ist das Gesetz klüger als der Gesetzgeber. „Klüger ist natürlich nicht das Gesetz, sondern für klüger halten sich seine Interpreten“ (K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 629). 51 K. Larenz (Fußn. 13), S. 318.
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Auslegung und Auslegungsmethoden haben die Auslegungstheorie durch „objektiv-telelogische“ Kriterien ergänzt, insbesondere um rechtsethische Prinzipien. 52
Eine Art objektiver Theorie vertritt auch der Zivilrechtslehrer und Rechtsphilosoph Johann Braun. Einige Kernsätze von ihm mögen hier genügen: Im Anschluss an J. Esser führt J. Braun eine weitere Rechtsquelle ein: die Prinzipien (Grundsätze, Leitideen, allgemeine Rechtsgedanken) – als Wertmaßstäbe für die Rechtsfindung . . ., als da sind: Gerechtigkeit, Angemessenheit, Billigkeit, gute Sitten, Treu und Glauben u. a. m. Der Gesetzesanwender „gerät auf diese Weise . . . in ein näheres Verhältnis zu dem Gedanken des Rechts und übernimmt Verantwortung für den Gerechtigkeitsgehalt seiner Entscheidung . . . Auch da, wo der Richter unmittelbar nicht ein Prinzip konkretisiert, sondern ein Gesetz anwendet, sucht er dennoch . . . den Bezug auf das dahinter stehende Prinzip . . . der Richter . . . würde sein Amt missbrauchen, wenn er sich bei seiner Tätigkeit an etwas orientieren würde, was nicht im konkreten Fall auf Gerechtigkeit abzielt . . . 53
K. Röhl/H. Röhl kritisieren zu Recht die „objektive Auslegung“ u. a. wie folgt: „Objektive Auslegung ist . . . tatsächlich Rechtsetzung. Mit der objektiven Theorie haben sich Gerichte von Dienern zu Herren des Gesetzes aufgeschwungen . . . Man muss . . . klar sehen, dass die objektive Theorie nicht wegen ihrer Objektivität überzeugt; im Gegenteil; ‚subjektive‘ Auslegung ist objektiv, ‚objektive‘ Auslegung ist subjektiv.“ 54
Zum gleichen Ergebnis kommt B. Rüthers: „Die ‚subjektive‘ Auslegung sucht objektive Tatsachen zu erforschen, nämlich den ursprünglichen Normzweck. Die angeblich ‚objektive‘ Auslegung ist stattdessen subjektive richterliche Normsetzung. Die subjektive Auslegung ist also objektiv. Die objektive Auslegung ist subjektiv. Weicht der Rechtsanwender vom ursprünglichen Normzweck ab, so legt er das Gesetz nicht mehr aus, sondern ersetzt die Wertung der Gesetzgebung durch eine Eigenwertung . . . Der rechtspolitische Akt (Richter als Gesetzgeber) bleibt unerörtert, weil er nicht als richterliche Normsetzung (Gesetzeserweiterung), sondern als ‚Auslegung unter der Flagge der Objektivität‘ deklariert wird. Dazu dient die Bezugnahme auf offene, außergesetzliche Kategorien wie Rechtsidee, Gerechtigkeit und rechtsethische Prinzipien . . .“ 55
Eine strikte subjektive Theorie müsste für die Findung des Gesetzeszwecks hauptsächlich auf die Entstehungsgeschichte (Genesis) des Gesetzes abstellen. Eine strikte objektive Theorie müsste die Entstehungsgeschichte ausklammern.
52 K. Larenz/C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 1995, S. 153. 53 J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 388, 389, s. auch S. 402. 54 K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 630 u./631 o. 55 B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, S. 502, 503.
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung
Stellungnahme: Die subjektive Theorie entspricht besser dem Demokratieprinzip, die objektive Theorie stellt den Gesetzesanwender freier als die subjektive, ermöglicht es ihm, sich vom subjektiven Willen des demokratischen Gesetzgebers zugunsten objektiver Kriterien zu lösen. Die objektive Theorie vermag allerdings den Anforderungen der Gerechtigkeit und Gleichheit unmittelbar besser zu entsprechen. Doch auch die subjektive Theorie nötigt nicht zu wertblinden Lösungen, da der Weg zum Bundesverfassungsgericht offen steht, wenn das Gesetz den Gleichheitssatz verletzt. Die objektive Theorie ist in Gefahr, die Prärogative des Bundesverfassungsgerichts zu unterlaufen. Den Anforderungen an die Rechtssicherheit vermögen beide Theorien nur mit Einbußen zu genügen. Diese Einbußen ergeben sich bei der subjektiven Theorie daraus, dass der Wille des Gesetzgebers oft nicht klar ist und nur umständlich (zumal aufgrund der Entstehungsgeschichte) festgestellt werden kann; jedoch lassen sich die Einbußen begrenzen, wenn man vom Gesetzgeber (oder von der Regierung) eine klare Gesetzesbegründung verlangt und den Gesetzesanwender zum Zwecke der Aufklärung des Willens des Gesetzgebers, des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks, nicht zum Rechtshistoriker macht, sondern ihm im Zweifel erlaubt, sich auf den Wortlaut zurückzuziehen. Die Rechtssicherheitseinbuße der objektiven Theorie ist eher größer als die der subjektiven. Die Richtmaße für die objektive Theorie sind z. T. recht nebelhaft oder luftig; die Theorie lässt Raum für subjektive Wertungen des Gesetzesanwenders. Einer gerechtigkeitsorientierten, d. h. einer (wertungs-)Prinzipienund regelorientierten Auslegung ließe sich durchaus etwas abgewinnen. Nur existiert in der Realität kein einheitlich-gerechtes, von Prinzipien und Regeln getragenes, inneres System einer Steuerrechtsordnung. Ein solches System, in dem die Prinzipien und Regeln durchweg verallgemeinernd, folgerichtig und widerspruchsfrei umgesetzt, konkretisiert werden, existiert nur in den Köpfen von Steuerrechtswissenschaftlern, ist Ideal geblieben. 56 Dass der Gesetzgeber sich künftig an einem solchen Ideal orientieren könnte, ist nicht zu erwarten. Und die Gerichte können es per Gesetzesanwendung nicht installieren. Die Steuern der Gegenwart stammen nicht aus einem einheitlichen Guss; sie entstammen verschiedenen Epochen und politischen Systemen. Sie sind zum Teil antiquiert. Nicht alle basieren auf dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Es gibt nicht zu Ende gedachte Teil- oder Sondersteuern und unaufgelöste Steuerkonkurrenzen. Verstöße gegen die in der Ethik und im Gleichheitssatz angelegten Gebote der Verall56 Dazu zuletzt K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, in: Festschrift für W. Spindler, 2011, S. 29 ff.
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Auslegung und Auslegungsmethoden
gemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit sind zahlreich. Vielen Vorschriften liegt keine ethische Wertung, keine Gerechtigkeitsüberlegung zugrunde. Daher stößt system- oder prinzipiengemäße Auslegung schnell an Grenzen. Ein Werk aus einem Guss ist P. Kirchhofs Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches von 2011 mit nur wenigen auf das Leistungsfähigkeitsprinzip gegründeten Steuern (S. §§ 1, 2). Unter diesen Voraussetzungen macht die Anordnung einer Auslegung im Sinne „gleichheitsgerechter“ Besteuerung (s. § 10 Satz 1) Sinn. Wenn der Gesetzgeber und in Zweifelsfällen die Gesetzesanwender für eine gleichgerechte Besteuerung sorgen würden, würde das Verfassungsgericht wesentlich entlastet werden. Es würde sichtbar werden, dass die Justiz etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat, wenn die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit durch Auslegung für gleichgerechte Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sorgen dürften.
Prinzipien- und Regellosigkeit ist allerdings Willkür; sie verletzt den Gleichheitssatz. Das Gleiche gilt von den erwähnten Verstößen gegen die Gebote der Wertungslogik (Verallgemeinerung, Folgerichtigkeit, Widerspruchsfreiheit). Wegen der Gleichheitssatzverstöße bleibt nur übrig, das Verfassungsgericht zu bemühen. Die Fachgerichte dürfen weder die Gesetzgebung (das Parlament) noch das Verfassungsgericht substituieren. Ständig das Verfassungsgericht anzurufen, scheuen sie sich aber, zumal wegen der restriktiven Verfassungsrechtsprechung. Der Einwand, es gebe gar keinen Willen des demokratischen Gesetzgebers, da der Gesetzgeber aus vielen Personen bestehe, ist nicht stichhaltig. Maßgeblich ist der Wille der Mehrheit. Wer mit der Mehrheit stimmt, unterwirft sich damit der eventuell durch Ausschussberichte modifizierten Regierungsbegründung des Gesetzentwurfs. 57 Jedoch pflegt die Methodenliteratur sich nicht – wie B. Rüthers 58 – an Verfassungsgrundsätzen wie Demokratieprinzip, Gewaltenteilung, Gleichheitssatz und Rechtssicherheitsprinzip zu orientieren. Das Bundesverfassungsgericht hat zuerst in BVerfGE 1, 299, 312 (s. auch E 10, 234, 244; 11, 126, 129 ff.; 59, 128, 153) geäußert, es komme auf den in der Gesetzesvorschrift zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des Gesetzgebers an; der aus der Entstehungsgeschichte zu entnehmenden subjektiven Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten komme hingegen keine entscheidende Bedeutung zu. Dieser Passus ist auch vom Bundesfinanzhof häufig zitiert worden (s. z. B. BFH BStBl. 1986 III; 692; 1987 II; 670; 1988 II, 795). Weder das Bundesverfassungsgericht noch die anderen Gerichte halten sich aber durchgehend an ihn. 59 Er ist auch mehrdeutig, kann 57 S. auch F. Bydlinksi, (Fußn. 24), S. 432. 58 B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNrn. 649–654. 59 Dazu M. Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1984, 73 ff.
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung
auch bloß besagen sollen: Der bloß intern gebliebene Wille des Gesetzgebers darf nicht berücksichtigt werden; relevant ist nur der im Gesetzeswortlaut irgendwie objektivierte (verlautbarte) Wille des Gesetzgebers. Jedenfalls messen Bundesverfassungsgericht und andere Gerichte der Entstehungsgeschichte nicht selten doch erhebliche oder entscheidende Bedeutung zu. In der Literatur wird auch die Auffassung vertreten, alle Auslegungsmethoden oder -kriterien müssten sämtlich angewendet und ausgewertet werden. Das pflegt zu einer Mischung subjektiver und objektiver Gesichtspunkte zu führen. K. Larenz meint denn auch: „Jeder der beiden Theorien liegt eine Teilwahrheit zugrunde; daher kann keine ohne Einschränkung akzeptiert werden.“ 60 In der Tat kann man einerseits den subjektiven Willen des Gesetzgebers nicht einfach unberücksichtigt lassen, muss man andererseits aber auch technische Entwicklungen und veränderte Wertvorstellungen berücksichtigen. So müssen zeit- und gesellschaftsbedingt wertende Begriffe (etwa „Ordnungsmäßigkeit“, „Unbilligkeit“, „sittliche Verpflichtung“, „öffentliches Interesse“, „Kunstwerk“, „Luxusgegenstand“ 61) zeitgemäß, d. h. nach den Wertvorstellungen der Gegenwart, beurteilt werden, da ihr Inhalt nicht apriorisch, absolut, definitiv feststeht, jedenfalls gerade von einem demokratischen Gesetzgeber so nicht gedacht ist. Wertausfüllungsbedürftige Begriffe sind offen für eine zeitgerechte Anpassung durch Gerichte. Sie eignen sich besonders für die Rechtsfortbildung. Unter objektiver Auslegung mag man auch verstehen, dass man dem Gesetzgeber nicht die einzelnen Vorschriften isoliert abnimmt, sondern nur das Gesetz als Ganzes; objektive Auslegung besteht dann in dem Bemühen, das Gesetz als sinnhafte Einheit zu begreifen, auch wenn der Gesetzgeber nicht „einheitlich“ gedacht haben mag. Mit einer Gesetzesnorm können auch mehrere Zwecke verfolgt werden, auch ein Hauptzweck und ein Nebenzweck sind möglich. 3.3 Zu den einzelnen Auslegungsmethoden (-kriterien) 3.31 Vorbemerkung Es ist die Auffassung vertreten worden, die Methodenlehre sei überflüssig. Die Rechtsanwendung sei unvermeidlich ein irrationaler, emotionaler oder volitiver Vorgang. Die Praxis benutze die doktrinären Methoden der Auslegung nur oder allenfalls, um die für ange60 K. Larenz, (Fußn. 13), S. 316 ff. Eine vermittelnde Meinung vertritt auch K. Vallender, Die Auslegung des Steuerrechts2, Bern/Stuttgart 1988, S. 28 ff., ferner B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNr. 820 a. E. 61 BFH BStBl. 1990 II, 710, 711.
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Auslegung und Auslegungsmethoden
messen gehaltene Entscheidung nachträglich – zum Schein – zu begründen. Das Ergebnis werde antizipiert, die Begründung werde nur nachgeschoben. Die Begründung habe allenfalls sekundäre Bedeutung gegenüber gewissen primären Überlegungen darüber, was im Konfliktfall die für richtig gehaltene Entscheidung sei. 62 Gänzlich irrationale, gefühlsmäßige Entscheidungen kommen in der Tat vor, bei Verwaltungsbehörden vermutlich häufiger als bei Gerichten. Jedenfalls in den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit sind sie aber nicht die Regel. Sicher versucht der Richter, sich schon bei der ersten Kenntnisnahme vom Fall aufgrund seiner rechtlichen und tatsächlichen Erfahrung ein Bild von einer Lösung zu machen. Das „Vor“-Urteil wird dann aber in aller Regel methodisch überprüft. Kollegialentscheidungen lassen auch kaum etwas anderes zu. Ideologische, schulenabhängige, theoriengeprägte Befangenheiten – sie werden durch Kollegialentscheidungen eher egalisiert – kommen auch bei Wissenschaftlern vor. 63 Es ist gerade der Zweck der Auslegungsmethode, unkontrollierte „Vorverständnis“-Ergebnisse oder irrationale Resultate zu verhindern. Der Rationalität der Gesetzesauslegung steht vor allem der Methodenpluralismus im Wege. Mit irgendeiner der vielen Methodenlehren lässt sich das gewünschte Ergebnis immer erreichen. Methodenpluralismus gibt es nicht nur in Deutschland (schon gar nicht nur im Steuerrecht), sondern auch sonst in der Welt. Und nicht wenige Methodenlehrer legen Wert auf eine eigene – manchmal eigensinnige – Terminologie. Abzulehnen sind topische Begründungen. Die Topik 64 sieht die Begründung aus dem Gesetz ebenfalls als Scheinbegründung oder Selbsttäuschung des Rechtsanwenders an. Sie setzt an die Stelle methodisch-systematischen Denkens das Problemdenken in topi – das sind als einleuchtend erscheinende, in der Diskussion als zur Problemlösung tauglich angesehene Gesichtspunkte. Die Topik mit ihrem problematisierenden, punktuellen Zugriff ist mit der Bindung von
62 S. insb. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972. 63 Bei gelehrten Gutachtern soll gelegentlich auch das vom Auftraggeber ausgesetzte Honorar die methodische Einstellung beeinflussen (s. auch A. Uelner, in: A. Raupach/K. Tipke/A. Uelner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?, Münsteraner Symposion Bd. I, 1985, S. 182). Nicht wenigen Fachveröffentlichungen merkt man übrigens die Zugehörigkeit des Autors zum Berufsstand der Finanzbeamten oder der Rechtsanwälte/Steuerberater auch dann an, wenn der Beruf des Autors nicht angegeben ist. 64 Dazu Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz5, 1974; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff der Jurisprudenz, 1969, S. 141 ff.; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNr. 611 f.
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Exekutive und Judikative an das Gesetz nicht vereinbar. 65 Die topische Methode pflegt in der Finanzgerichtsbarkeit auch nicht praktiziert zu werden. 66 Je weniger sich Beamte und Richter bei der Gesetzesauslegung exakt an die methodischen Regeln halten, je mehr sie unkontrolliert bloß ihrem eigenen Rechtsgefühl, ihrer subjektiven Überzeugung oder Werthaltung folgen und diese mit bloß rhetorischen oder bildhaften Wendungen „begründen“, je mehr sie unpräzise, undiszipliniert oder emotional subsumieren oder deduzieren, desto stärker leidet die Rechtssicherheit und eventuell auch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Jede Entscheidungsprognose ist dann mehr oder minder „Glückssache“. 3.32 Zur grammatischen Methode Allgemein wird gelehrt, jede Auslegung habe mit der grammatischen (wörtlichen, sprachlichen, textlichen, linguistischen, philologischen, literalen) Methode zu beginnen. Die grammatische Methode versucht, den Wortsinn aufgrund der Sprachkonvention, des üblichen Sprachgebrauchs zu erhellen. Auch Richter sind nicht selten bemüht, das Problem aufgrund des eigenen Sprachgefühls oder mit Hilfe von Wörterbüchern der deutschen Sprache oder mit fachsprachlichen Wörterbüchern oder Glosarien „auf den Begriff zu bringen“. 67 A. Uelner weist darauf hin, dass eine „feinmaschige Steuervermeidungskunde“ sich „erst auf dem Boden dieser Rechtsprechung, die die Wortinterpretation sozusagen zum ‚non plus ultra‘ erklärte“, richtig habe entfalten können. 68 Nicht selten beenden Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit den Auslegungsvorgang bereits mit der Begründung, der Wortlaut sei eindeutig oder die möglichen Wortbedeutungen stünden lexikalisch fest. Indessen sind von Zahlbegriffen abgesehen alle Begriffe mehr oder weniger mehr- oder vieldeutig. 69 Worte sind oft nur symbolisch, bildhaft, methaphorisch; sie sind nur annähernde Beschreibungen, sie enthalten regelmäßig einen gewissen Bedeutungsspielraum mit mehreren Bedeutungs- oder Sinnvarianten. Selbst Legaldefinitionen oder authentische Interpretationen (s. z. B. §§ 3 I-III; 4; 6 ff. AO; §§ 13 ff. EStG) sind noch mehr oder weniger unbestimmt. Selbst gleichlauten65 Ablehnend auch F. Bydlinski, (Fußn. 24), S. 141 ff. 66 Hinweis auch auf R. Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 62 f. 67 Dazu kritisch G. Wilhelm, öJBl. 1977, 162 („Niederkunft mit Brockhaus“); s. auch Glosse „Da mihi Lexikon dabo tibi ius!“ (FR 1987, 247), P. Kirchhof, NJW 1987, 3217, 3222li.; K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (Loseblatt Lfg. 111), § 4 AO Tz. 223. 68 DStR 1977, 123 li. Sp. 69 S. schon Fußn. 14.
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de Worte können Verschiedenes meinen, gleichlautende Begriffe können Verschiedenes erfassen wollen. Welche Bedeutungsvariante innerhalb des möglichen Bedeutungsspielraums in Betracht kommt, kann nicht zuverlässig durch Wortphilologie, durch grammatische (wörtliche) Überlegungen festgelegt werden, sondern nur vom Gesetzeszweck her, teleologisch. Die Gesetzessprache hat nämlich eine spezifische Übermittlungsfunktion, sie soll dazu dienen, den Zweck der Norm zu verwirklichen. Jeder Begriff symbolisiert den Gesetzeszweck, intendiert die Verwirklichung des Gesetzeszwecks, kann daher nur vom Zweck der Norm her verstanden werden, ist insofern teleologisch, tendenziös, final, intentional. Da die Begriffe ihre inhaltliche Bestimmtheit nur vom Gesetzeszweck her erhalten können, kein Rechtssatz um seiner selbst willen erlassen wird, ist eine Auslegung, die nicht nach dem Gesetzeszweck fragt, sondern „rein sprachlich“ oder „rein begrifflich“ oder „begriffsnotwendig“ etwas für richtig hält, immer unvollkommen. Welche Bedeutung, welchen Sinn ein Text hat, kann ohne Einbeziehung des Gesetzeszwecks nicht zuverlässig beurteilt werden. Alsbald nach dem Gesetzeszweck zu fragen, bringt daher im Allgemeinen am schnellsten den größten Auslegungsgewinn. Genau das ist auch der Standpunkt des Europäischen Gerichtshofs. Er beginnt mit der Auslegung aufgrund des Gesetzeszwecks und schließt allenfalls ganz am Ende noch eine Wortlautauslegung an. 70 Den Auskünften der Wörterbücher besonderes Gewicht beizulegen, ist auch deshalb problematisch, weil kaum anzunehmen ist, dass die Gesetzespräparatoren mit solchen Wörterbüchern arbeiten. Prozesse werden nicht aus „sprachlichen“ (linguistischen) Gründen geführt, sondern weil der Betroffene sich „in seinen Rechten verletzt“ fühlt. Dass sein Rechtsgefühl irre, wird man dem Betroffenen kaum mit Wörterbüchern oder linguistischen Hinweisen plausibel machen können. Wer nur den Wortlaut im Auge hat, kann im Übrigen weder Lücken feststellen und gegebenenfalls ausfüllen, noch Verstöße gegen den Gleichheitssatz registrieren. Dazu einige Beispiele: Die ersten Beispiele entstammen den Verkehrsteuergesetzen. Besonders Verkehrsteuer-Richter standen früher zu Recht in dem Ruf, pure Gesetzespositivisten zu sein. (1) Ein Lohndrescher machte geltend, die Zugmaschine für seine Dreschmaschine mit einer Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 70 Dazu U. Haltern, Europarecht2, 2007, S. 324. – U. Diederichsen gab schon den Studierenden den richtigen Rat: „Das Recht ist Wertverwirklichung. Darum stelle man sich überall die Frage nach dem Sinn der Regelung. Beim Lesen eines Paragraphen frage man stets nach dem Gesetzeszweck (der ratio legis) . . .“ (Der Allgemeine Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches für Studienanfänger, 1969, S. XV).
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung
6 km/h unterliege nicht der Kraftfahrzeugsteuer. Der II. Senat 71 verliert kein Wort darüber, warum es sachgerecht ist, an das Halten von Kraftfahrzeugen eine Steuer zu knüpfen. Es wird nur unterschieden zwischen steuerpflichtigen Kraftfahrzeugen und steuerbefreiten selbstfahrenden Arbeitsmaschinen, wozu die gesonderte Zugmaschine eben nicht gehöre. Zum Gleichheitssatz heißt es dann: „Die . . . Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz kann nicht dazu führen, Ausnahmen von der Besteuerung, die der Gesetzgeber auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt wissen will, im Auslegungswege auszudehnen.“ – Der Gleichheitssatz verlangt danach nicht Verallgemeinerung und Folgerichtigkeit, vielmehr hängt die Frage, was gleich ist, nach dem BFH-Urteil allein vom Willen des Gesetzgebers ab. Das Urteil mag im Ergebnis richtig sein, es hat aber den Lohndrescher wohl kaum überzeugt. (2) Nach § 3 I Nr. 5 b Beförderungssteuergesetz war der Betrieb von Straßenbahnen steuerfrei. Der Steuerpflichtige begehrte die Steuerfreiheit auch für seine Seilschwebebahn. Der II. Senat 72 gab sich größte Mühe, dem Steuerpflichtigen lang und breit auseinanderzupflücken, dass Straßenbahnen auf Schienen fahren, während die Seilschwebebahn an einem Seil hänge („Ein Seil ist keine Schiene“, heißt es wörtlich). Die erstaunlich sachkundigen technischen Ausführungen dürften den Steuerpflichtigen indessen kaum überzeugt haben, denn er hatte natürlich gar nicht behauptet, dass er ein Seil für eine Schiene halte. Zu seinem eigentlichen Argument heißt es apodiktisch: „Irrig ist die Meinung der Bfin., dass bei der Beurteilung weniger von äußeren Merkmalen und der technischen Gestaltung als vielmehr von wirtschaftlichen und verkehrsmäßigen Gesichtspunkten auszugehen sei. Gerade auf die Bau- und Betriebsweise kommt es entscheidend an.“ Warum dies so sei, wird nicht ausgeführt. Zum Schluss heißt es dann, von Gleichheitssatzverletzung können „auch keine Rede sein“; die Seilbahnen dienten überwiegend dem Ausflugsverkehr, nicht dem Berufs- und Massenverkehr. Um zu überzeugen, hätte der Senat erklären müssen, warum an Beförderungsvorgänge grundsätzlich eine Steuer geknüpft wurde und zu welchem Zweck Straßenbahnen befreit waren, dass dieser Zweck aber auf Seilbahnen nicht zutreffe. (3) Der II. Senat hatte und hat es auch mit der Grunderwerbsteuer zu tun. Folglich musste er sich vor der Grunderwebsteuerreform (vor der wohltuenden Abschaffung fast aller Befreiungen) auch mit den zahllosen Befreiungen befassen. Die Steuerpflichtigen sahen hinter diesen Befreiungen wenig verallgemeinernde Sachgerechtigkeit und Folgerichtigkeit. Wenn sie in der Befreiungslotterie ausnahmsweise nicht bei den Gewinnern waren, bemühten sie die Gerichte. Der II. Senat 71 BFH BStBl. 1953 III, 231. 72 BFH BStBl. 1959 III, 42.
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Auslegung und Auslegungsmethoden
leugnete nun nicht, dass Befreiungsvorschriften nach ihrem Zweck auszulegen sind 73, er entschied aber, der Zweck könne nur aus dem Gesetz selbst entnommen werden. 74 Im Gesetz selbst wurde der Senat dann aber nicht fündig und verwies daher die Steuerpflichtigen auf den klaren, eindeutigen Wortlaut. Sinnerhellung wurde nicht geliefert. Wahrscheinlich wäre das in Anbetracht der Chaotik der Befreiungen auch gar nicht möglich gewesen. Der II. Senat fragte jedenfalls nicht nach Verallgemeinerung und Folgerichtigkeit (als Ausfluss des Gleichheitssatzes). Er ließ den Gesetzgeber gewähren, bis dieser – unerwarteterweise – selbst einsah, dass es so nicht weiter gehen konnte. (4) Der Halter eines Schlammsaugfahrzeugs fuhr flüssige Abfälle (u. a. Säuren, Laugen, Gifte, Öle usw.) ab und begehrte KraftfahrzeugsteuerBefreiung wie für Müllabfuhrfahrzeuge (§ 2 Nr. 3 a KraftStG 1972; § 3 Nr. 4 KraftStG 1979). Der II. Senat 75 machte imponierende Ausführungen über den Begriff „Müll“, der nur feste, nicht flüssige Abfälle erfasse. Das Hessische Finanzgericht hatte in einem anderen Fall gemeint, es sei unverständlich, die Beseitigung des relativ ungefährlichen Hausmülls zu begünstigen, die Beförderung des teilweise giftigen, für die Umwelt enorm gefährlichen Industriemülls aber nicht. Der II. Senat hielt diesen Schluss nicht für erlaubt, da keine Gesetzeslücke vorliege. Das Gesetz wurde darauf vom Gesetzgeber erweitert. (5) Ein Steuerpflichtiger hatte Mais- und Silofutter geliefert, er begehrte die Behandlung als „Kleie“ (Kleie unterlag einem ermäßigten Steuersatz). Der V. Senat beschied ihn abschlägig. 76 Er bemühte den Großen Brockhaus und zwei chemische Wörterbücher. Darauf, dass das Futter im Wesentlichen die gleichen Bestandteile wie Kleie enthalte, so der Senat, komme es nicht ausschlaggebend an. Es sei nicht zu bestreiten, dass die Rückstände der Maisstärkefabrikation mit der Kleie zu vergleichen seien. Die gesetzliche Vorschrift habe die steuerliche Vergünstigung aber auf Kleie beschränkt. Eine analoge Anwendung sei nicht möglich. Ich meine: Begriffliche Ausführungen überzeugen auch dann nicht, wenn sie physikalisch oder chemisch untermauert werden. (6) Der VI. Senat entschied 77, die Beschäftigung von Arbeitnehmern des Altersheims durch Altenheimbewohner mit hauswirtschaftlichen Arbeiten sei keine Beschäftigung einer Hausgehilfin im Sinne des § 33 a III EStG, da zwischen den Altenheimbewohnern und den Arbeitnehmern des Altersheims kein Dienstvertrag bestehe. § 33 a EStG, ein Sondertatbestand für einige typische Sachverhalte, diene der 73 74 75 76 77
Etwa BFH HFR 1970, 442; BStBl. 1970 II, 600. BFH (Fußn. 73); BStBl. 1972 II, 35, 36; 1972 II, 65, 66; 1975 II, 88, 89. BFH BStBl. 1980 II, 677. BFH BStBl. 1963 III, 588. BFH BStBl. 1973 II, 159.
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Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Dazu passt das Urteil: „Eine Wäscherei, bei der der Steuerpflichtige seine Wäsche waschen und bügeln lässt, ist keine Haushaltshilfe.“ 78 Weiter wurde dann differenziert: Wenn eine Putzfrau oder Aufwartefrau die Wäsche des Steuerpflichtigen in der zentralen Waschküche des Hauses oder Wohnblocks, in einem Waschsalon oder in ihrer eigenen Wohnung wasche und die übrigen hauswirtschaftlichen Arbeiten im Haushalt verrichte, seien die Aufwendungen abzugsfähig; sie seien es aber nicht, wenn der Steuerpflichtige die Wäsche zur Wäscherei bringe, weil die Wäscherei ihre Tätigkeit nicht „im“ Haushalt des Steuerpflichtigen ausübe. Im Urteil vom 19. 1. 1979 79 wurde ein gewerbliches Kleinunternehmen (Fensterputzunternehmen) als Haushaltshilfe anerkannt. Maßgeblich war also im ersten Fall das Fehlen eines Dienstvertrages, im zweiten Fall der Ort der Tätigkeit. Unter dem Aspekt einer gerechten Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sind beide Gesichtspunkte „sinnentleert“. Es ist richtig, dass auch der Gesetzgeber „in diesem Bereich“ ohne jeden Maßstab hantiert. Aber der VI. Senat war jedenfalls nicht gehindert, dem Gesetzgeber einmal eine dogmatische Linie zu zeigen oder das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass zwangsläufige private Aufwendungen als abzugsfähig zu berücksichtigen sind. 80 Natürlich konnten die Urteile des VI. Senats einen verständigen Steuerpflichtigen nicht befriedigen. Mit dem bloßen Wortlaut, das lehren auch diese Urteile, lässt sich keine überzeugende Begründung geben, aber auch kein Rechtsfrieden schaffen. Die „in ihrem Rechtsgefühl verletzten“ Steuerpflichtigen setzen immer wieder zu Prozessen an, um Recht zu bekommen. Wer überzeugen will, braucht plausible Regeln, braucht Orientierung an Verallgemeinerung und Folgerichtigkeit, nicht nur Wortklauberei. Offensichtlich hätte sich in Fällen wie den zitierten mit weniger Worten besser überzeugen lassen, wenn alsbald gesagt worden wäre, was mit den einschlägigen Normen eigentlich bezweckt wird. 81 Auch der Richter kann nicht überzeugen, wenn er sich technokratisch nur auf Worte beruft, statt etwaige Vernunftgründe des Gesetzes zur Geltung zu bringen, die dem Gesetz zugrunde liegen (sollten), wenn er das Gesetz von den es rechtfertigenden Gründen abschneidet. 78 79 80 81
BFH BStBl. 1982 II, 399. BFH BStBl. 1979 II, 326. BVerfGE 61, 319, 344; 66, 214; 67, 290. „. . . it is one of the surest indexes of a mature and developed jurisprudence not to make a fortress out of the dictionary; but to remember that statutes always have some purpose or object to accomplish, whose sympathetic and imaginative discovery is the surest guide to their meaning“, sagt W. Friedmann, Legal Theory, 5th Ed., London 1967, S. 458.
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Der Streit um viele Begriffe wird einfach deshalb ad infinitum fortgesetzt, weil die Diskutanten nicht teleologisch verfahren. Man denke etwa an die Begriffe „Betrieb“ 82, „Teilbetrieb“ 83, „Gewinn“ 84, „Wirtschaftsgut“ 85, „Unternehmer“, „Entgelt“ (im Umsatzsteuerrecht) 86. Der an den Gewinn anknüpfende § 6 b EStG spricht nur von „Steuerpflichtigen“. Personengesellschaften ermitteln zwar den Gewinn, sie sind aber nicht einkommensteuerpflichtig. In seiner Bonner Dissertation „Gewinnübertragungen bei Personengesellschaften nach § 6 b EStG“ 87 wendet sich W. Schön gegen die wortlautverhaftete Auslegung des § 6 b EStG und kommt mit teleologischen Mitteln zu dem m. E. zutreffenden Ergebnis, dass Veräußerungen aus dem Gesellschaftsvermögen die Gesellschaft als solche zur eigennützigen Inanspruchnahme des in § 6 b EStG festgelegten Wahlrechts berechtigt. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Wahlrechts müssten in der Person der Gesellschaft, nicht in der der Gesellschafter erfüllt sein.
Dass der Gesetzgeber auch im Recht der Steuervergünstigungen stets nur vom „Steuerpflichtigen“ spricht, 88 hängt wohl damit zusammen, das er die dogmatische Unterscheidung Fiskalzwecknormen – Sozialzwecknormen (Lenkungsnormen) noch nicht aufgenommen hat, vielmehr in seinem Normen-Einheitsbrei nur „Steuerpflichtige“ kennt. 89 Allgemein gilt: Wer sich – wie die Gesetzespositivisten – allzu akribisch an den Wortlaut klammert, wird dem dogmatisch und termino82 R. Gröschner weist zutreffend darauf hin, dass das, was im Steuerrecht als Liebhaberei aus dem Gewerbebetriebsbegriff eliminiert werde, gewerberechtlich doch Gewerbebetrieb sein könne, da das Gewerberecht die Abwehr von Gefahren bezwecke, es im Gewerberecht um Erlaubnis- und Überwachungspflichtigkeit gehe (StuW 1986, 317). Die Rechtsprechung zum Begriff „für betriebsfremde Zwecke“ muss sich vom Zweck der Entnahmeregelung leiten lassen. 83 Dazu K.-F. Dietz, Die Abgrenzung der Begriffe „Teilbetrieb“ und „ein in der Gliederung des Unternehmens gesondert geführter Betrieb“ im Steuerrecht, Diss. Mannheim 1979; W. Fischer, Der steuergesetzliche Begriff des „Teilbetriebs“, 1983. 84 Es gibt keinen „Gewinn“ an sich; was „Gewinn“ ist, hängt von dem Zweck ab, zu dem er ermittelt werden soll. Der steuerrechtliche Gewinn soll ermittelt werden zum Zwecke der Feststellung von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (s. auch R. Gröschner, StuW 1986, 316). Vom Bilanzzweck hängt ab, was in einer Bilanz zu aktivieren und zu passivieren ist, ferner wie Aktiva und Passiva zu bewerten sind. – Wenn es Zweck der steuerrechtlichen Gewinnermittlung ist, gleichmäßige Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu ermöglichen, so muss der Steuerbilanzzweck diesem Zweck entsprechen. 85 Dazu H.-D. Häcker, Der steuerrechtliche Begriff „Wirtschaftsgut“, Berlin 1980, und – teleologisch – U. Ramcke, DStR 1988, 476. 86 Dazu W. Reiß, DStJG Bd. 13 (1990), 27. 87 Köln 1986. 88 Dazu K. Tipke, DStJG Bd. 2 (1979), 3. 89 Allgemein zur Personengesellschaft im Recht der Steuervergünstigungen B. Knobbe-Keuk, DStJG Bd. 2 (1979), 109 ff.
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logisch sehr unzulänglichen Steuerrecht nicht gerecht. Bloße Begriffsargumente überzeugen nicht. Nur der Bezug auf Zwecke und Wertungen kann letztlich etwas plausibel machen, Verständnis wecken. Auch in den USA gibt es einen Methodenpluralismus. Man unterscheidet insbesondere textualism, intentionalism und purposivism. 90 In Großbritannien 91 Kanada und Australien gilt für das Steuerrecht traditionell das Prinzip der strikten Interpretation (principle of strict or literal construction, principle of adherence to the words of the statute), d. h. der wörtlichen Auslegung. „In a taxing Act one has to look merely at what is clearly said. There is no room for any intendment. There is no equity about a tax. There is no presumtion as to a tax. Nothing is to be read in, nothing is to be implied. One can only look fairly at the language used.“ „It is well established that one is bound, in construing Revenue Acts, to give a fair and reasonable construction to their language without leaning to one side or the other, that no tax can be imposed on a subject by an Act of Parliament without words in it clearly showing an intention to lay the burden upon him, that the words of the Statute must be adhered to, and that so-called equitable constructions of them are not permissible“. 92 Auch in Israel war das Wortlaut-Prinzip aus der britischen Mandatszeit in Palästina übernommen worden; es wurde aber mehr und mehr von Ausnahmen durchlöchert. Inzwischen, so berichtet A. Lapidoth, hätten die Gerichte sich der „purposive construction“ oder „purposive interpretation“ zugewendet, mitunter „without any support from statutory language“. 93 Auch in Großbritannien wird inzwischen stärker berücksichtigt, what the real intention of parliament is. In Ländern, in denen es keine Spezialgerichte für Steuersachen gibt und die Richter kaum etwas von der Materie verstehen, scheint sich die Hinwendung zum Wortlaut als Behelf geradezu anzubieten. Der alle vom Gesetzgeber vorgegebenen Wertungen ausblendende Wortausleger mag sich besonders redlich vorkommen. Er sollte aber auch bedenken, dass bloße Begriffsargumente, die alle Wertungs- und Verständnisbezüge abschneiden, in der Regel nicht plausibel sind und daher nicht überzeugen. Führt die bornierte Wortauslegung allerdings zwar nicht zu einem sinnhaften, aber doch zu einem vorteilhaften Ergebnis für den Steuerpflichtigen, so mag das diesen zufrieden stellen.
3.33 Zur formal-systematischen Methode Die formal-systematische Methode – auch als systematisch-logische Methode bezeichnet – versucht, Erkenntnisse über Gesetzeszweck 90 Ausführlich dazu R. Matteotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung. Ein Rechtsvergleich zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten von Amerika, Bern 2007, S. 337 ff. 91 Dazu W. E. Weisflog, StuW 1982, 136, 140 ff.; 143 ff. 92 W. E. Weisflog, StuW 1982, 141 Fußn. 91; 147; J. Tiley, Revenue Law2, 1978, S. 33 ff. (Statutory Interpretation). 93 IFA-Bulletin, 1988, 170 ff.
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und Sinn des Gesetzestextes aus dem äußeren (nicht inneren) 94 System oder Kontext zu gewinnen, aus der Stellung des Rechtssatzes in der Rechtsordnung, im Gesetz, im Gesetzesabschnitt, im Paragraphenzusammenhang, kurz: im Verwendungszusammenhang. Auch aus der Überschrift über Gesetzen, Gesetzesabschnitten oder Gesetzesvorschriften können sich Fingerzeige ergeben. Die formal-systematische Methode ist sozusagen die Fortsetzung der grammatischen. Nicht ein isolierter Begriff oder Text soll ausgelegt werden; vielmehr soll der Begriff oder die Textstelle im formalen Kontext des Gesetzes, eventuell auch anderer Gesetze verstanden werden, damit in einem größeren Zusammenhang eine konsistente Auslegung erreicht wird. 3.34 Zur historischen Methode Die historische 95 Methode sucht den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck aus seiner Entstehungsgeschichte (daher auch genetische Methode), insbesondere aus den Gesetzesmaterialien zu ergründen: aus Vorarbeiten und Entwürfen oder aus sonstigen Quellen, aus denen sich das Gesetzmotiv ergibt, aus der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs, 96 aus der Stellungnahme des Bundesrates und der Gegenäußerung der Bundesregierung, aus Parlamentsausschuss-Beratungsprotokollen und -berichten, aus Protokollen über Plenarsitzungen der gesetzgebenden Körperschaften. Aufschlussreich sein können auch Zeitpunkt und Umstände der Gesetzesinitiative, ferner die Entwicklungsgeschichte einer Vorschrift (auch in früheren Gesetzen). Die reine objektive Theorie ist auf die historisch/genetische Methode nicht angewiesen. Dem Gesetzesanwender ist zwar zuzumuten, sich mit der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs und den Stellungnahmen von Bundesrat und Finanzausschuss zu befassen. Man kann von ihm m. E. aber nicht verlangen, dass er sich (zur Entscheidung eines Einzelfalles oft tagelang) mit der Entwicklung einer Vorschrift und ihrer Vorläufer (eventuell seit ihrer Entstehung in früheren Jahrhunderten) wie ein Rechtshistoriker sowie mit den verstreuten Äußerungen einzelner Referenten, Regierungsmitglieder, Ausschussmitglieder, Bundestag- und Bundesratmitglieder befasst. Ein solches Verfahren ist nicht nur unökonomisch, die Einzelstimmen sind auch irrelevant. Der Gesetzgeber würde den Gesetzesanwendern die Arbeit erheblich erleichtern, wenn er nicht nur das Gesetz selbst veröffentlichen, sondern mit ihm auch eine dem Gesetzesverständnis dienende Begründung liefern würde. Sonst muss erst 94 Zu den Begriffen inneres/äußeres System s. Band I2, S. 61 ff., 67 ff. 95 Nach der bestehenden Sprachkonvention zielt das Wort „historisch“ auf die weitere Entstehungsgeschichte (die auch die Normvorläufer und -vorbilder einbezieht), während die Genesis nur die eigentliche Entstehung des betroffenen Gesetzes selbst meint. 96 Dazu W. v. Buch, Die „Amtliche Begründung“, ZRP 1973, 64 ff.
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung umständlich geklärt werden, ob und inwieweit die Regierungsbegründung als Gesetzesbegründung verstanden werden darf. Der Gesetzgeber sollte insbesondere klar kundtun, ob er mit einer beschlossenen Norm einen Fiskalzweck, einen Sozialzweck oder einen Vereinfachungszweck verfolgt, ferner durch welche sachgerechten Prinzipien er den Gesetzeszweck zu erreichen sucht. Dadurch würde der Gesetzgeber sich auch selbst unter Sinngebungszwang stellen; er könnte sich nicht darauf beschränken, auf Mehrheitsmacht gegründete Dezisionen zu treffen, zumal nicht solche zugunsten von Partikularinteressen. Durch die Offenlegung der dem Gesetz zugrunde liegenden oder innewohnenden Prinzipien würde der Gesetzgeber zugleich dartun, dass dem Gesetz eine auf Gerechtigkeit zielende Gesinnung zugrunde liegt. Dem Gesetzgeber wäre eine solche Begründung auch zuzumuten. Tatsächlich ist die historische Auslegung teleologische Auslegung; denn die historische Methode dient dazu, den Gesetzeszweck zu eruieren und vom Gesetzeszweck her den Sinn des Gesetzes zu erhellen. In den Gesetzesmaterialien pflegt – wenn überhaupt – der Gesetzeszweck dargelegt, nicht aber der Sinn von Gesetzesworten erklärt zu werden. Das lässt sich auch den Ausführungen derjenigen Autoren entnehmen, die – äußerlich – noch zwischen historischer und teleologischer Auslegung trennen. 97
Juristische Kommentare sollten nicht nur Änderungsdaten und Änderungswortlaute mitteilen, sondern auch den Zweck der Änderung. Ist der ursprünglich vom Gesetzgeber verfolgte Zweck historisch eruiert worden, so stellt sich allerdings – zumal bei älteren Gesetzen – die Frage, ob der ursprüngliche Zweck entfallen ist. 3.35 Zur teleologischen Methode 3.351 Telosermittlung Wir folgen hier der üblichen deutschen Methodenlehre und setzen die teleologische Methode neben die anderen Methoden (3.32–3.34). Dass es u. E. in Wirklichkeit darum geht, mit Hilfe der Systematik und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes dessen Zweck zu ermitteln, ist bereits ausgeführt worden. Zwar gibt es Gesetze, die expressis verbis etwas über ihren Zweck aussagen. Die Steuergesetze verlautbaren aber nicht ausdrücklich etwas über ihren Zweck. Der Zweck muss ermittelt werden. Führen formal-systematische und historische Auslegung (als Mittel der Ermittlung des Gesetzeszwecks) nicht weiter, so kommen zunächst bestimmte Hilfsmethoden in Betracht: Ergeben sich mehrere 97 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991, überschreibt den Unterabschnitt über die „historische Auslegung“ bezeichnenderweise mit „Regelungsabsicht, Zwecke und Normvorstellungen des Historischen Gesetzgebers“ (S. 328). Nach F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien/New York 1982, soll die „historische Auslegung“ die dem Gesetz zugrunde liegenden „Vorstellungen, Wertungen und Zwecke“, die „Absicht des Gesetzgebers“ einschließen (S. 449).
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Auslegung und Auslegungsmethoden
Deutungsmöglichkeiten, so gebührt derjenigen der Vorzug, die mit den Prinzipien, Regeln und Geboten der Steuergerechtigkeit (gerechtigkeitskonforme Auslegung) oder die mit dem Grundgesetz vereinbar ist oder dem Grundgesetz am besten entspricht. Man unterstellt dem Gesetzgeber nämlich, dass er im Zweifel etwas bezweckt hat, was dem Grundgesetz entspricht (sog. verfassungskonforme Auslegung 98). Geht die verfassungskonforme Lösung allerdings über den möglichen Wortsinn und damit über die Grenzen der Auslegung hinaus; so käme allenfalls verfassungskonforme Analogie in Betracht. Gerechtigkeitskonforme und verfassungskonforme Auslegung können zusammenfallen. Ist die Teleologie des Gesetzes eindeutig, so darf sie nicht unter Berufung auf die Gerechtigkeit oder die Verfassung verbogen werden. Im Rahmen verfassungskonformer Auslegung kann es auch geboten sein, das Übermaßverbot zu berücksichtigen. Weil Systemkonformität und Gleichheitssatz (Art. 3 GG) eng miteinander zusammenhängen, Systembrüche Gleichheitssatzverletzungen indizieren, kann man im Zweifel auch annehmen, dass der Gesetzgeber nur solche Vorschriften erlassen will, die sich harmonisch in das innere System von Prinzipien und Regeln einfügen (systemkonforme Auslegung), soweit ein solches System überhaupt besteht. Die Zusammenhänge können durchaus ergeben, dass die Annahme eines Willens zur Systemkonformität eine wirklichkeitsfremde Unterstellung wäre. Rechtsverordnungen sind gesetzeskonform zu interpretieren. Zwar gibt es keinen Grundsatz, wonach Steuergesetze stets so auszulegen sind, dass sie praktisch und einfach zu handhaben sind. Jedoch darf in einem Fall zweier an sich möglicher Auslegungen, von denen eine zu einem praktikablen, die andere zu einem weniger oder gar nicht praktikablen Ergebnis führt, dem Gesetzgeber unterstellt werde, er habe die praktikable oder praktikablere Lösung gewollt. 99 Soweit Steuerrecht durch Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft geregelt ist, ist das nationale Steuerrecht im Zweifel richtlinienkonform auszulegen, da grundsätzlich anzunehmen ist, dass der nationale Gesetzgeber sich an die supranationalen Richtlinien halten will. 100 98 Nachweise der BVerfG-Entscheidungen dazu in Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Rechtsprechung des VerfG, Kommentar (Loseblatt), Einf. 13 ff., 16, 20; A. Vosskuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte, AöR Bd. 125 (2000), 177 ff. 99 BFH BStBl. 1969 II, 550; BVerfGE 21, 209, 217 f. 100 Zur richtlinienkonformen Auslegung des Umsatzsteuergesetzes U. Probst, DStJG Bd. 13 (1990), 137 ff. m. w. N. U. Probst weist zutreffend darauf hin, dass die richtlinienkonforme Auslegung nicht bloß methodisch geboten, sondern auch eine Verpflichtung aus dem EWG-Vertrag ist. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind die Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Anwendung innerstaatlicher Rechtsvorschriften nach Art. 5
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Erscheint nur eine Auslegungsvariante vernünftig, führen die anderen Auslegungsmöglichkeiten hingegen zu törichten, indiskutablen Ergebnissen – zumal zu Ergebnissen, die gegen grundlegende Rechtsprinzipien verstoßen –, so ist das vernünftige Ergebnis vorzuziehen (argumentum ad absurdum) 101. Lex semper indentit, quod convenit rationi, heißt ein lateinisches Rechtssprichwort. Die Wirklichkeit genügt dieser Aussage allerdings nicht immer. Zur Rechtsvernunft gehört auch die bereits erwähnte Praktikabilität 102. Etwas verwegen war wohl die von A. Raupach aufgeworfene, dann von ihm zu Recht verneinte Frage, ob auch die typologische Gestaltung von Gesetzestexten Kriterium der Auslegung sein könne? 103 3.352 Der Zweck im Steuerrecht Wer nach dem Normzweck im Steuerrecht fragt, muss zunächst drei Normgruppen unterscheiden: Fiskalzwecknormen, Sozialzwecknormen (insbesondere Lenkungsnormen) und Vereinfachungszwecknormen. 104 Während unbestritten ist, dass mit Lenkungsnormen ein bestimmter Zweck, eben der Lenkungszweck, verfolgt wird 105 und solche Normen folglich teleologisch ausgelegt werden können und müssen, wird von mehreren Autoren die Auffassung vertreten, Fiskalzwecknormen entzögen sich teleologischer Interpretation. Enno Becker meinte seinerzeit, der bei der Auslegung besonders zu berücksichtigende Zweck der Steuergesetze „sei doch in erster Linie der, Geld zu
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EWG-Vertrag verpflichtet, diese im Lichte des Wortlautes und Zweckes der EG-Richtlinien auszulegen (Nachweise bei U. Probst, DStJG Bd. 13 [1990], 139 Fußn. 7, s. auch S. 142). Probst spricht von einer „neuen Gesetzesinterpretation“. Ausführlich dazu auch W. Dänzer-Vanotti, Richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung, StVj 1991, 1 ff.; A. Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts, IFSt-Schrift Nr. 357, 1997; Chr. Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003; U. Haltern, Europarecht2, 2005, RNrn. 789 ff. (insb. zur EuGH-Rechtsprechung). Weitere Nachweise in: K. Tipke/J. Lang (W. Reiß), Steuerrecht20, 2010, § 14 Rz. 8 f., 12, 89. U. Diederichsen, Die „reductio ad absurdum“ in der Jurisprudenz, in: Festschrift für K. Larenz, 1973, S. 155 ff.; F. Bydlinski (Fußn. 24), S. 454, 457 ff.; Hinweis auch auf K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, Loseblatt Lfg. 111), § 4 AO Tz. 223, 305. Dazu F. Burchardi, Dritte Gewalt und Vereinfachung des Steuerrechts, StuW 1981, 304, 312 ff. StuW 1988, 239 ff. Dazu Band I2, 2000, S. 73 ff. Dazu auch E. Steindorff, Politik des Gesetzes als Auslegungsmaßstab im Wirtschaftsrecht, in: Festschrift für K. Larenz, 1973, S. 217.
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Auslegung und Auslegungsmethoden beschaffen, und zwar möglichst viel Geld . . .“ „Aber es kommt doch darauf an“ – so Becker weiter – „wie das Geld aufgebracht wird, und in dieser Hinsicht wird man davon ausgehen müssen, dass gerade der Zweck, nachhaltig Geld zu beschaffen . . . und vor allem die wirtschaftliche Bedeutung der Steuergesetze darin liegt, dass sie zwar schöpfen, aus der Wirtschaft schöpfen, aber die Wirtschaft gerade nicht erschöpfen wollen, d. h. dass sie unter möglichster Schonung und unter Berücksichtigung der lebenswichtigen Belange der Wirtschaft durchgeführt werden sollen . . . Führt nun der Zweck der Steuergesetze, ganz allgemein gesagt, dahin, zwar möglichst viel Geld zu beschaffen, aber doch unter möglichster Schonung der Wirtschaft, so ist damit die Möglichkeit geschaffen, Billigkeitserwägungen Eingang zu verschaffen“ 106. An anderer Stelle heißt es bei Enno Becker: „Dass erster Zweck eines Steuergesetzes ist, Geld hereinzubekommen, und dass dieser Zweck bei drängender Notlage des Reichs und der am Steuerertrag beteiligten Körperschaft berücksichtigt werden muss, zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und erklärt manche Entscheidung, die früher nicht oder doch nicht in der Schärfe ergangen wäre. Die Notlage des Reichs gebietet, die Besteuerung streng durchzuführen, alle Löcher zu verstopfen und für eine wirkliche Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu sorgen“ 107.
Demgegenüber lehrte H. W. Kruse 1973: Die Steuergesetze hätten den Zweck, „den Interessenkonflikt zwischen öffentlicher Hand und einzelnen“ zu lösen. „Die öffentliche Hand“ – so Kruse – „hat ein Interesse an möglichst hohen Einnahmen . . . Gegen dieses ganz banale Interesse der öffentlichen Hand steht das nicht minder banale Interesse des einzelnen, möglichst wenig zahlen zu müssen. Indem die Steuergesetze diesen Interessenkonflikt entscheiden, ziehen sie eine Grenzlinie zwischen steuerpflichtigen und nicht steuerpflichtigen Vorgängen und Veranstaltungen. Die Absicht, dem Steuergläubiger Einnahmen zuzuführen, ist also nicht der Zweck der Steuergesetze i. S. der teleologischen Auslegung. Diese Absicht ist nur das Motiv für die Schaffung von Steuergesetzen und ihre allgemeine finanzpolitische Aufgabe“ 108. Klaus Vogel hat wie folgt Stellung genommen: „Zweck der Steuergesetze ist es, den öffentlichen Finanzbedarf zu decken . . . Für die Auslegung der Steuergesetze ist dieser Zweck jedoch nicht geeignet. Er kann nicht erklären, warum eine einzelne steuergesetzliche Vorschrift so und nicht anders gestaltet ist (wie also ihre Lücken zweckgerecht ergänzt werden müssen). Angesichts des weiten Bedeutungsspielraums der meisten Gesetzesbegriffe würde eine Auslegung nach dem Ertragszweck deshalb zu einer nahezu unbegrenzten Ausdehnung aller Steuerpflichten führen, einer Auslegung, die allenfalls noch durch den ‚möglichen Wortsinn‘ des Gesetzes begrenzt ist, die aber im Übrigen ‚in dubio pro fisco‘ entscheiden müsste . . . Dass der Interessenausgleich eine wichtige, ja geradezu ‚die‘ Funktion der Finanzzwecknormen ist, ist sicherlich richtig. In den Blick kommen muss dabei aber, dass es nicht in erster Linie um einen Interessenausgleich zwischen Staat und Steuerpflichtigen geht, sondern zunächst um einen Ausgleich der Interessen der Steuerpflichtigen untereinander. Der Finanzbedarf des Staates ist zwar nicht schlechthin variabel; er spielt aber für die Auslegung des Steuerrechts keine 106 E. Becker, RAO7, 1930, § 4 Anm. 1 a (S. 41). 107 E. Becker, StuW 1931 Teil I, 429, 433. 108 H. W. Kruse, Steuerrecht I, Allgemeiner Teil3, 1973, S. 94.
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung Rolle . . . Im Steuerrecht geht es vielmehr darum, diesen Finanzbedarf unter den steuerpflichtigen Bürgern gerecht zu verteilen. Die Finanzzwecknormen haben mit anderen Worten zwei Hauptfunktionen: sie sollen einerseits Finanzmittel beschaffen (das ist ein echter ‚Zweck‘), und sie sollen andererseits diese Last auf die Bürger verteilen. Gerecht verteilen: hier wird nun aber Gerechtigkeit nicht vermittelt durch einen Zweck . . . Sondern wir müssen unvermittelt fragen: ‚Welche Lösung entspricht (innerhalb der durch Gesetz und Lebenssachverhalt vorgegebenen Grenzen) den Erfordernissen austeilender Gerechtigkeit‘“ 109? K. Vogel möchte von einem Zweck nur dann sprechen, wenn an ihm geprüft werden kann, ob die eingesetzten Mittel geeignet, erforderlich, verhältnismäßig sind. 110
Ähnliche Gedanken finden sich bei W. R. Walz: Er ist der Ansicht, der Schutz der Bürger vor zu hohen Steuern sei nur eine Aufgabe der Gerichte. Wörtlich führt er aus: „Damit ist in der Tat eine wichtige und zentrale Aufgabe der Gerichte benannt. Aber deshalb ist dieser Aspekt nicht die ausschließliche Grundlage für die Entwicklung steuerlicher Rechtsüberzeugungen. Die andere Seite ist doch die, dass die Gerichte eine komplizierte Balance zwischen der Rechtsposition des Klägers und den legitimen Interessen der an dem Prozess gar nicht beteiligten anderen Mitglieder der Gesellschaft halten müssen. Jede nicht vom Sinn des Gesetzes gedeckte Rechtswohltat, die größere fiskalische Auswirkungen hat, bewirkt tendenziell eine Umverlagerung steuerlicher Lasten von bestimmten Steuerbürgern auf andere Steuerbürger, wenn auch nicht im laufenden Veranlagungszeitraum, so doch mittel- und längerfristig . . .“. 111
K. Vogel hat zutreffend erkannt, dass Fiskalzwecknormen zwei Zwecke haben, nämlich – erstens den Zweck, den öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen die benötigten Einnahmen zu verschaffen; – zweitens den Zweck, die Gesamtlast sachgerecht auf die Bürger zu verteilen. K. Vogel nennt die Fiskalzwecknormen wegen dieses zweiten Zwecks auch „Lastenausteilungsnormen“. 112 Es geht aber auslegungsteleologisch nicht um das Verhältnis Staat– Bürger, sondern um das Verhältnis Bürger–Bürger, wie dies bei K. Vogel und besonders deutlich bei W. R. Walz und auch bei J. M. Mössner 113 und H. Weber-Grellet 114 zum Ausdruck kommt.
109 DStZA 1977, 5, 8 re. Sp. unten und 9; s. auch ders. JbFSt. 1978/79, 49 f. und Festschrift für G. Döllerer, 1988, S. 688. 110 DStZA 1977, 9 li. Sp. – Das zutreffend als zu eng ablehnend H. WeberGrellet, DStR 1991, 443 und L. Woerner FR 1992, 228 Fußn. 22. 111 StuW 1984, 170, 172. In diesem Sinne auch H. Weber-Grellet, DStR 1991, 438, 443 f. und L. Woerner, FR 1992, 230. 112 StuW 1977, 97 ff. 113 DStR 1991, 438, 443 f. 114 DStR 1991, 438, 443 f.
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Auslegung und Auslegungsmethoden
Nicht anders als bei Fiskalzwecknormen ist es aber bei Subventionsnormen (die subventiven steuergesetzlichen Lenkungsnormen eingeschlossen). Diese Normen haben ebenfalls zwei Zwecke, nämlich – erstens den Subventionsberechtigten die ihnen zugedachten Mittel – durch Transferleistungen oder durch Verzicht auf Steuermittel – zu verschaffen: – zweitens die Subventionsmittel sachgerecht auf die vom Subventionszweck erfassten Bürger zu verteilen. Den Doppelzweck der Fiskalzwecknormen hat der Bundesfinanzhof in seinem Urteil v. 8. 11. 1972 115 verkannt. Es heißt dort: „Die meisten Verkehrsteuern einschließlich der Umsatzsteuer haben keinen tieferen Sinn als den, dem Staate Geld zu bringen.“ Das ist gewiss richtig. Nur, (auch) Umsatzsteuergesetz und Verkehrsteuergesetze haben auch den Zweck, zur Verteilung der Gesamtsteuerlast auf die einzelnen Steuerpflichtigen beizutragen. Das sollte nach einem gerechten und nicht nach einem beliebigen Maßstab geschehen.
Im Falle von Subventionen (Steuervergünstigungen oder Steuersubventionen immer eingeschlossen) muss man in der Tat untersuchen, ob die Subvention zu dem ihr zugedachten Zweck geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist. Das dürfte aber keine Auslegungs-, sondern eine Verfassungsfrage sein. Theoretisch kann man auch fragen, ob eine Steuer zu dem ihr zugedachten Zweck geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist; nur wird sich praktisch in keinem Fall dartun lassen, eine Fiskalzwecknorm sei zur Einnahmenverschaffung nicht geeignet, nicht erforderlich oder unverhältnismäßig. Dazu müsste das Verfassungsgericht einen idealen Haushaltsbedarf festlegen, was ihm aber nicht möglich ist. Geeignet sind Fiskalzwecknormen zur Einnahmenverschaffung immer. Anders als bei Subventionsnormen kann bei Fiskalzwecknormen die Beurteilung der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit aber nicht daran orientiert werden, für welche Aufgabe die Mittel eingesetzt werden sollen. Dass Fiskalzwecknormen (erstens) den Zweck haben, den öffentlichrechtlichen Körperschaften Einnahmen zu verschaffen, besagt – entgegen Enno Becker – nicht, die Normen müssten so ausgelegt werden, dass die Einnahmen und vorausgehend auch die die einzelnen Steuerpflichtigen treffenden Lasten möglichst hoch angesetzt werden müssten. Wie hoch die Einzelsteuerlast zu sein hat, ist dem Gesetz zu entnehmen. Enno Beckers Auffassung, die Einzelsteuerlast sei – durch Auslegung der Steuergesetze – so zu bestimmten, dass einerseits der Staat möglichst viel einnehmen, es andererseits aber – aus Billigkeitsgründen – nicht zum Kollaps der Wirtschaft kommen dürfe, 116 war schon zu seiner Zeit kein zulässiges Auslegungskriterium. Steuergesetze sind nicht fiskalisch, nicht in dubio pro fisco auszule115 BFHE 107, 315, 319. 116 S. Fußn. 108, 109.
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gen. 117 Das ist aber bei Subventionsnormen nicht anders: Auch Subventionsnormen lassen sich nicht so auslegen, dass die Bürger – bis zur Grenze des Staatsbankrotts – möglichst hohe Subventionsmittel erhalten. Auch Normen des Strafrechts werden schließlich nicht so ausgelegt, dass eine möglichst hohe Strafe herauskommt. Der Unterschied zwischen Fiskalzwecknormen und Lenkungsnormen besteht (nur) darin, dass sich den Fiskalzwecknormen nicht entnehmen lässt, für welche konkreten Zwecke der Staat die vereinnahmten Mittel ausgeben darf; das ist Sache des Haushaltsrechts. Schon der Steuerbegriff (§ 3 I AO) ist so angelegt, dass er die Verbindung zwischen Steuer und Steuerverwendung aufhebt. Subventionsmittel hingegen pflegen oft für die Erfüllung einer konkreten Aufgabe gewährt zu werden (etwa für den Wohnungsbau, für Umweltschutzmaßnahmen, etc.). Dieser Zweck kann im Rahmen des Nötigen und Möglichen bei der Auslegung berücksichtigt werden. Sicher darf der Rechtsanwender seine Entscheidung nicht unmittelbar „vom Himmel der Gerechtigkeitsidee“ herabholen. Auch darf nicht jede Auslegung sofort auf das Fundamentalprinzip dieser Wertungsteleologie, auf das Leistungsfähigkeitsprinzip, rekurrieren. Das ist klar in den Fällen, in denen der Gesetzgeber das Leistungsfähigkeitsprinzip bewusst verletzt hat (worin eine Verletzung des Gleichheitssatzes liegen kann). Aber auch sonst muss zunächst bei den Subprinzipien (falls es sie gibt) angesetzt werden und bei den Einzelnormen. 118 Aber man muss doch das Leistungsfähigkeitsprinzip (soweit es für die betreffende Steuer gilt) und seine etwaigen Subprinzipien und Regeln bei der Gesetzesanwendung stets im Hinterkopf haben, und zwar schon unter dem Gleichheitsaspekt (gerechtigkeitskonforme Auslegung). Wenn jemand z. B. die Umsatzsteuerfreiheit der Vermietung von Yachtliegeplätzen begehrt, 119 dann braucht man nicht sogleich 117 S. auch schon A. Hensel, VJSchrStFR 1931, 115. 118 „Versteht man den Zweck eines Gesetzes in diesem allgemeinen Sinne, lassen sich daraus Argumente für die Auslegung in der Tat nicht gewinnen. Die teleologische Interpretation einer Norm stützt sich jedoch nicht auf einen solchen allgemeinen Regelungszweck. Auch der Auslegung der kaufrechtlichen Vorschriften des BGB wird nicht ihr genereller Zweck, einen Interessenausgleich zwischen Käufer und Verkäufer herbeizuführen, zugrunde gelegt. Die teleologische Auslegung muss vielmehr an den Sinneszusammenhang der Normen anknüpfen und hieraus Zwecke in einem engeren Sinne ableiten, aus denen sich der Inhalt der Vorschriften erschließen lässt“ (AcP Bd. 190 [1990], 154 f.). – Allerdings geht es bei der Auslegung von Steuergesetzen auch gar nicht um einen Interessenausgleich Staat–Bürger. Das will wohl auch W. R. Walz mit seinen Ausführungen über „Leistungsfähigkeitsprinzip und Rechtsanwendung“ (Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, S. 161–163) sagen; s. aber auch K. Vogel, JbFSt. 1978/79, 52 f. (unter 5). 119 Dazu BFH BStBl. 1992 II, 108.
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technokratisch auf den Wortlaut des § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG loszusteuern, sondern darf und sollte sich fragen, welchen Sinn es unter dem Aspekt des Leistungsfähigkeitsprinzips und des Verbrauchsteuerprinzips macht, dass Grundnahrungsmittel mit 7 v. H. Umsatzsteuer belastet sind, die Miete eines Yachtliegeplatzes aber unbelastet sein soll. Stehen die Grenzen der Auslegung und Lückenausfüllung einer sinnvollen Lösung im Wege, so bleibt wiederum noch die Prüfung einer Gleichheitssatzverletzung. Mehrere Steuergesetze erklären Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu Steuersubjekten (s. §§ 1 I Nr. 6 und 4 I KStG; § 2 III UStG; § 2 GewStG i. V. mit § 2 GewStDV; § 1 Nr. 2 g VStG). Die Frage, was ein Betrieb gewerblicher Art ist, wie er insbesondere von Hoheitsbetrieben (sie dienen der Ausübung öffentlicher Gewalt) abzugrenzen ist, ist nicht staatsrechtlich-begriffsjuristisch zu lösen, sondern entsprechend dem Zweck der Vorschriften: Er besteht darin, den Grundsatz der Wettbewerbsneutralität der Besteuerung durchzuführen. Bei der Auslegung des Umsatzsteuergesetzes muss – teleologisch – beachtet werden, dass die Umsatzsteuer eine Verbrauchsteuer ist, die ungeachtet ihrer Technik nicht den Unternehmer, sondern den Verbraucher belasten will, ferner, dass die Umsatzsteuer EG-Richtlinien zur Grundlage hat, die nach einer richtlinienkonformen Auslegung verlangen. W. Widmann arbeitet interpretativ mit dem Zweck des § 3 VIII UStG 120, H. Stadie mit dem Zweck des Vorsteuerabzugs und dem Zweck des § 15 a UStG. 121 § 2 III 2 UStG 1967 hatte die Tätigkeit der Rundfunkanstalten der gewerblichen Tätigkeit gleichgestellt. Das war verbrauchsteuer-teleologisch konsequent. Unter dem Verbrauchsteueraspekt ist es irrelevant, ob Waren oder ob Rundfunk-/Fernsehsendungen entgeltlich konsumiert werden. 122 Das Bundesverfassungsgericht 123 jedoch hat die Vorschrift für verfassungswidrig erklärt, da Rundfunkanstalten keine Unternehmer seien, sondern öffentliche Gewalt ausübende Körperschaften des öffentlichen Rechts. Das ist nicht falsch, umsatzsteuer-teleologisch aber irrelevant. Die Rundfunkanstalten sollten (durch das aufgehobene Gesetz) nicht selbst steuerbelastet, sondern als Vehikel für die Verbraucherbelastung eingesetzt werden. Unter dem Verbrauchsteueraspekt dient die Entscheidung des Bundesverfassungs120 DStJG Bd. 13 (1990), 130. 121 H. Stadie, Das Recht des Vorsteuerabzugs, 1989, S. 1, 226; ders., DStJG Bd. 13 (1990), 179 („Der Zweck des Vorsteuerabzugs als Auslegungsmaxime“), 180, 181, 194, 195, 211, 212. 122 So auch H. Söhn, StuW 1975, 166 f. 123 BVerfGE 31, 314.
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gerichts nicht dem Gleichheitssatz, sie zwingt den Gesetzgeber zur Verletzung des Gleichheitssatzes. Die Entscheidung hat auch zur Disharmonisierung des EG-Rechts beigetragen. 124 Die Vereinfachungszwecknormen bilden keine selbständige Normengruppe; sie wollen vielmehr die praktikable Anwendung der Fiskalzweck- und Sozialzwecknormen ermöglichen oder erleichtern und sind entsprechend auszulegen. Von der Auslegung einer besonderen gesetzlichen Vereinfachungszwecknorm muss der Fall unterschieden werden, dass bei der Auslegung von Fiskal- oder Sozialzwecknormen im Rahmen der anerkannten Auslegungsgrundsätze auch Praktikabilitätsgesichtspunkte berücksichtigt werden. Auch Ausnahmevorschriften sind – wie alle anderen Normen – teleologisch auszulegen, nicht eng-wörtlich oder gar einengend (restriktiv). 125 Es gibt keine gesetzliche Grundlage, die es der Verwaltung oder Rechtsprechung erlaubt, den Steuerpflichtigen Wahlrechte einzuräumen. Wahlrechtseinräumung ist keine Rechtsanwendung. 3.36 Der Rückgriff auf den Wortlaut als „ultima ratio“ Führen die erörterten Auslegungsmethoden zu keinem Ergebnis, so bleibt schließlich nur der Rückgriff auf den Gesetzeswortlaut selbst. Dabei kommt es zunächst darauf an, den Sprachgebrauch herauszufinden, den fachsprachlichen oder umgangssprachlichen – je nachdem, aus welchem Bereich der Begriff stammt. Falls nichts anderes festzustellen ist, kann davon ausgegangen werden, dass in der Gesetzessprache bereits bekannte Begriffe den konventionellen Sinn haben sollen, der ihnen auch sonst beigemessen worden ist. Die Berufung auf die Verkehrsauffassung (Verkehrsanschauung) kommt auch nur als letztes Mittel in Betracht; sie darf nicht den feststellbaren Gesetzeszweck als Direktive des Gesetzessinns verdrängen. Anders ist es freilich, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise selbst die Verkehrsauffassung für maßgeblich erklärt hat. Die Verkehrsauffassung ist die Volksanschauung eines begrenzten Kreises, etwa des Handels (man spricht insoweit auch von Handelsbrauch) oder des Handwerks. Die Berufung auf die Verkehrsauffassung setzt voraus, dass sie vorher tatsächlich festgestellt worden ist; erforderlich sind Repräsentativerhebungen. Richter pflegten früher mitunter eine bestimmte Verkehrsauffassung unter Berufung auf ihre 124 BT-Drucks. 7/913, S. 5. 125 K. Larenz (Fußn. 13), S. 353 ff.; F. Bydlinski (Fußn. 24), S. 79, 81, 232, 440, 480; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 631 f.; abw. K. Muscheler, Singularia non sunt ex tendenda, Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 135 ff.
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Auslegung und Auslegungsmethoden
Lebenserfahrung zu behaupten, auch wenn auf der Hand lag, dass es sich um einen Verkehrsbereich außerhalb ihres Erfahrungshorizonts handelte. So war die Berufung auf die (in der Regel nicht festgestellte, sondern einfach behauptete) Verkehrsauffassung bloß die Bemühung eines argumentativ wertlosen Schlagwortes und damit Berufung auf eine Scheinautorität, daher Scheinbegründung. In der Gegenwart spielt die Berufung auf eine Verkehrsauffassung als Auslegungsmittel so gut wie keine Rolle mehr. Erst wenn ein Fachsprachgebrauch nicht festzustellen ist, kommt zu allerletzt eine grammatisch-philologische, eine literale Interpretation in Betracht, der Rückzug auf das Wörterbuch. Bleiben danach noch Zweifel, so müssen sie zu Lasten des Fiskus gehen. 3.4 Zur Frage der Reihen- und Rangfolge der Auslegungsmethoden Den Rechtsanwendern wird nachgesagt, sie verwendeten die einzelnen Auslegungsmethoden (Auslegungskriterien) oft allzu beliebig. Je nachdem, welches Ergebnis für befriedigend oder erwünscht 126 gehalten werde, werde – nach Bedarf – entweder die grammatische, die systematische, die historische oder die teleologische Methode stärker oder schwächer gewichtet. Um methodischem Manipulieren zu begegnen, sind immer wieder Vorschläge gemacht worden, den Auslegungsprozess nach einer bestimmten Reihenfolge oder Rangfolge der Methoden abzuwickeln. 127 Dabei wird nicht immer klar, ob die Reihenfolge zugleich auch eine Rangfolge beinhalten soll. Ein Beispiel: Die Tatsache, dass ein Richter erst Zeugen (diese in einer bestimmten Reihenfolge) vernimmt, dann ein Gutachten einholt und schließlich eine Ortsbesichtigung vornimmt, muss nicht bedeuten, dass der Richter dem zuerst vernommenen Zeugen einen höheren Beweiswert zubillige als allen anderen Beweismitteln. Das Problem „Reihen- und Rangfolge“ der methodischen Mittel löst sich weitgehend auf, wenn man sich klarmacht, dass es darum geht, den Gesetzeszweck herauszufinden, aus dem auf den Gesetzessinn geschlossen werden soll. Zu diesem Zweck sind alle methodischen Mittel heranzuziehen, die sich zur Ermittlung des Zwecks eignen. Dabei wird sich des Öfteren zeigen, dass das eine Mittel zur Ermittlung des Zwecks nichts oder wenig hergibt, das andere Mittel hingegen aussagekräftig ist. Es wird aber kaum vorkommen, dass die eine
126 Man kann dabei durchaus auch an gewisse professorale Rechtsgutachten denken. 127 S. K. Larenz (Fußn. 13), S. 343 ff.; F. Bydlinski (Fußn. 24), S. 558 ff.; A. Gerns, VerwArch. Bd. 80 (1989), 415 ff.; zum Steuerrecht A. Spitaler, StbJb. 1949, 267 ff.; ders., BB 1963, 1267.
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Methode auf den Zweck a, die andere Methode auf den Zweck b hindeutet. 3.5 Grenze der Auslegung Auslegung ist immer Auslegung von etwas, Gesetzesauslegung ist Auslegung eines sprachlichen Textes. Von ihm darf Auslegung sich nicht gänzlich lösen; Auslegung ist Gesetzesanwendung secundum legem. Löst die Gesetzesanwendung sich ganz vom Text, so wird sie zur Gesetzes- oder Rechtsfortbildung. 128 Der Wortlaut steckt die äußersten Grenzen vertretbarer Sinnvarianten oder Auslegungsmöglichkeiten ab. Fast jedes Wort beinhaltet mehrere, aber nicht beliebig viele Sinnvarianten. Die Grenze der Möglichkeiten ergibt sich aus dem möglichen (im Sinne von: noch möglichen), dem äußersten Wortsinn; das ist derjenige Sinn, der nach dem Sprachgebrauch eben noch mit dem mehr- oder vieldeutigen Ausdruck verbunden werden kann. Er bildet die Grenze der Auslegung. 129 Darüber, dass Rechtsanwendung jenseits des möglichen Wortsinns – durch Lückenausfüllung – ebenfalls zulässig ist, s. Band I2, 2000, S. 177 ff. Dem Einwand, eine Wortsinngrenze lasse sich nicht feststellen, ist entgegenzuhalten: Wörter sind keine willkürlichen Lautungen, sondern Mittel der Sprachkonvention; fast alle Wörter enthalten zwar mehrere Sinn- oder Bedeutungsvarianten und -nuancen: Könnte einem Wort – besser einem Text – aber ein beliebiger Sinn beigelegt oder unterlegt werden, so wäre zwischenmenschliche Verständigung gar nicht möglich. Die Wortsinngrenzen ergeben sich aus den Konventionen der Sprachgemeinschaft. Was diese nicht mehr versteht, liegt jenseits der Grenzen des möglichen Wortsinns. Der Begriff „eigenes Kraftfahrzeug“ kann nicht im Sinne des Einkommensteuergesetzes auch fremde Kraftfahrzeuge erfassen sollen, der Begriff „Arbeitnehmer“ kann auch steuerrechtlich nicht als „Arbeitgeber“ verstanden werden. Geht es um einen Gesetzestext, um juristische Fachsprache, so greift es zu kurz, den möglichen Wortsinn allein mit einem Sprachwörter128 Dazu S. 1178 ff., 1196 ff. 129 So auch BVerfGE 1, 299, 312; 10, 234, 244; 11, 126, 129 ff.; 71, 108, 115; 73, 206, 235; BFH BStBl. 1965 II, 82; 1965 III, 261 f.; 1968 III, 216; 1969 II, 550, 552; 1969 II, 736; 1970 II, 119, 120; 1970 II, 597, 598; 1970 II, 600 f.; 1971 II, 187 f.; 1971 II, 509 f.; 1972 II, 455, 457; 1974 II, 295, 296 f.; 1974 II 572, 576; 1980 II, 97, 98; 1980 II, 190; 1980 II, 287, 289; 1983 II, 77, 79; 1986 II, 289, 292; K. Larenz (Fußn. 13), S. 322 f., 343; Friedr. Müller, Juristische Methodik3, 1989, S. 182 ff.; F. Bydlinski (Fußn. 24), S. 441, 467 ff. m. w. N.; L. Woerner, DStJG Bd. 5 (1982), 39 ff.; K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, Loseblatt Lfg. 111, § 4 AO Tz. 140 ff.
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buch ausmessen zu wollen. 130 Die Gesetzessprache hat ihre eigenen fachsprachlichen Konventionen; sie werden von allgemeinen Wörterbüchern nur in Grenzen berücksichtigt. Viele Fachausdrücke tauchen in allgemeinen Wörterbüchern gar nicht auf. So findet man in Wahrigs Deutschem Wörterbuch von 1980 z. B. nicht den Begriff „Wirtschaftsgut“. „Einkommen“ bezeichnet dieses Werk als „Einnahmen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes, Gehalt“. Dasselbe Buch kennt zwar „Betriebsausflug“ und „Betriebsklima“, nicht aber „Betriebsausgaben“. „Werbungskosten“ werden registriert als Aufwendungen, die „vom steuerpflichtigen Einkommen“ absetzbar sind. Schöpft die Auslegung die Wortsinngrenzen voll aus, so spricht man von extensiver Auslegung; entscheidet sie sich für eine enge Sinnvariante, so spricht man von restriktiver Auslegung. 3.6 Zur Methode der Praxis der Gerichte Methodentheoretiker klagen nicht selten darüber, dass die Gerichtspraxis sich um ihre Methodenlehre nicht kümmere. Der Praxis wird Methodenvergessenheit vorgeworfen; sie gebe sich dem „methodischen Blindflug“ hin. 131 B. Rüthers beklagt „die real konkurrierenden Methoden der Rechtspraxis, die bunte Vielfalt der im Justizalltag verwendeten Methoden“. 132 Erhebliche Teile der Rechtswissenschaft, aber auch der Rechtsprechung oberster Bundesgerichte, „bewegten sich auf einem bemerkenswert bescheidenen Stand rechtsmethodischen Bewusstseins“. 133 K. Muscheler stellt zur Praxis des Bundesgerichtshofs (in Zivilsachen) fest: „Die heutige Methodenlehre hat weitgehend den Kontakt mit der gerichtlichen Praxis und damit auch den Einfluss auf sie verloren. Es gibt kaum höchstrichterliche Urteile, die sich überhaupt explizit über Methodenfragen äußern, und wenn dies ausnahmsweise geschieht, dann wird – im Bereich des Zivilrechts – allenfalls auf das klassische Methodenlehrbuch von Larenz verwiesen . . . Gründe für den fehlenden Einfluss der methodologischen Theorie auf die Praxis gibt es viele: Die teilweise eigenwillige Begrifflichkeit und Anlehnung an gerade in Mode befindliche Konzeptionen geisteswissenschaftlicher Nachbardisziplinen sind nur einige davon . . .“ 134 Zur Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte führt K. Muscheler aus: „Die Antworten, die die methodologische Theorie heute gibt, sind vielfältig. Die 130 Dazu K. Tipke, Über Speisen und Verspeisen, StuW 1985, 98 f. 131 Dazu z. B. M. Morlok, Theorie/Praxis-Bruch in juristischer Methodenlehre und Soziologie, in: Rechtstheorie, 32 Bd. (2001), 135 ff. 132 B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNr. 675. 133 B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, RNr. 647. 134 K. Muscheler, in: Festschrift für Hollerbach, 2001, S. 99 ff.
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Haltung, die unser höchstes Zivilgericht zu ihr einnimmt, ist . . . nicht weniger verwirrend.“ 135 Die Kritik am Bundesgerichtshof lässt sich nicht auf den Bundesfinanzhof übertragen. Bundesfinanzhof und Finanzgerichte der Länder sind vergleichsweise methodenbewusst. Mehrere Richter des Bundesfinanzhofs haben sich auch als Methodiker einen Namen gemacht. Die Schrift von R. Schenke 136 erfasst insbesondere Arbeiten von H. Beisse, Peter Fischer, H. Weber-Grellet und L. Woerner. Ich möchte noch H.-J. Kanzler hinzufügen. 137 Auch in den Senaten des Bundesfinanzhofs sitzen Richter mit unterschiedlichen anwendungsmethodischen Grundauffassungen. 138 M. E. zeugt es von hohem Berufsethos, dass Richter sich wegen steuermethodischer Differenzen kaum je beruflich oder privat entzweien. Mit Sicherheit kann angenommen werden, dass die Richter der Finanzgerichtsbarkeit nicht den Erwartungen von Finanzministern entsprechen. Die Zeit der Kassenjustiz gehört längst der Vergangenheit an. 139 3.7 Berufung auf Präjudizien und Literaturäußerungen Es gibt kaum ein Urteil und kaum einen Fachaufsatz, der nur mit den Mitteln der Methodenlehre argumentiert. In der Regel berufen sowohl Urteile als auch Fachaufsätze sich auch auf (andere) Urteile (Präjudizien) und auf Literaturäußerungen. Nicht nur dem Nichtjuristen, auch manchem Juristen fällt es schwer, diese Erscheinung rational zu erklären. Der Jurist hat schon während seiner Universitätsausbildung gelernt, seine Ausführungen durch Hinweise auf Urteile (zumal solche des obersten Gerichts) und auf die herrschende Lehre abzusichern. Ohnehin reichen beim Studenten für eigenständiges methodisches Argumentieren die Kenntnisse in Methodenlehre i. d. R. nicht aus. Wir finden nicht nur die Berufung auf einzelne Urteile oder einzelne Literaturmeinungen, sondern auch den Hinweis, die eigene Auffassung entspreche der „ständigen Rechtsprechung“ oder der „gefestigten Rechtsprechung“, der „einhelligen“, der „überwiegenden“ oder „herrschenden“ Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum – oder 135 136 137 138
K. Muscheler (Fußn. 134). Rechtsfindung im Steuerrecht, 2006. FR 2007, 525 ff. Zu Einzelheiten ausführlich Bd. III1, 1993, S. 1275 ff. Besonders lesenswert L. Woerner, DStJG Bd. 5 (1982), 23 ff. 139 Ausführlich dazu Peter Fischer, Innere Unabhängigkeit und Fiskalinteresse, StuW 1992, 121 ff.
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Auslegung und Auslegungsmethoden
sie entspreche der „herrschenden Lehre“. 140 Die herrschende Lehre betrifft die Äußerungen in der Literatur, zumal in der wissenschaftlichen Literatur (die communis opinio doctorum). Seit dem Bestehen der Datenbanken hat sich das Auffinden von Präjudizien und einschlägigen Literaturmeinungen erheblich erleichtert. Bei genauerer Beobachtung lassen sich folgende Praktiken unterscheiden: – Die Berufung auf Präjudizien oder die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur dient als Begründungsersatz (z. B. „Mit der ganz herrschenden Meinung ist davon auszugehen, dass . . .“). – Die Berufung auf Präjudizien oder auf die herrschende Meinung wird einer eigenen Begründung nur – affirmativ – hinzugefügt („Das entspricht im Ergebnis auch der herrschenden Meinung . . .“). – Es werden die Präjudizien oder es wird die herrschende Meinung informierend dargestellt, dann aber eine eigene Begründung hinzugefügt („Der herrschenden Meinung ist aus folgenden Gründen beizupflichten . . .“). Unter Zeitdruck arbeitende Richter schließen sich gern der herrschenden Meinung an. In der Praxis der Gerichte setzt die herrschende Meinung sich meistens durch. Sie wird zur Autorität. 141 „Die Berufung auf das Präjudiz bedeutet Arbeitsersparnis, weil die Rechtsfrage nicht von Grund auf neu durchdacht werden muss.“ 142 F. Haft hat die „Zitateritis“ der Juristen wie folgt glossiert: „Juristen sind autoritätsgläubige Leute. Wer sich auf den BGH oder die herrschende Meinung berufen kann, wird behandelt, als hielte er damit schon Argumente in Händen – obwohl er meist nur mehr oder weniger schlecht passende Zitate besitzt. Ein Satz wie: ‚Der Montag folgt auf den Sonntag‘ erscheint dem Juristen nackt und trivial. Derselbe Satz erhält durch Zitate juristischen Adel, z. B.: ‚Der Montag‘ (dazu RGSt 7, 14; 13, 26; BVerfGE 17,8) folgt (a. M. Müller-Seibermann in: NJW 77, 1788 ‚schließt sich an‘ – dagegen treffen AG Dietzenbach in: Kritische Justiz 78, 55) auf den Sonntag (h. M. entgegen der Sonntagsvorausgehungstheorie, die auf Savigny zurückgeht, aber bereits durch Ihering in seiner Schrift ‚Der Kampf um den Montag‘, Leipzig 1859, widerlegt wurde. Zum Ganzen auch Baumann: Sonntag, Montag und was dann? Kritische Gedanken zur Woche, Berlin 1977).“ 143 140 Dazu R. Schnur, Der Begriff der herrschenden Meinung in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe für E. Forsthoff, 1967, S. 43 ff.; Rita Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts1983; Th. Drosdeck, Die herrschende Meinung, 1989; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 160, 520, 604. 141 K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, 168. 142 J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 47. 143 F. Haft, Juristische Rhetorik3, 1985, S. 118.
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Gewiss sollte nicht jede banale Aussage, nicht jede Trivialität mit einem Zitat versehen werden. Geht es um juristische Streitfragen, hat das Zitat aber seinen guten Sinn. Durch das Zitat zeigt der Rechtsanwender, dass er keine singuläre, subjektive Meinung vertritt, sondern sich in der Gesellschaft anderer Autoritäten befindet. Der Jurist zitiert, um, wenn schon nicht die Objektivität, so doch die Intersubjektivität seines Standpunkts zu belegen. Abgesehen davon, dass Kommentare und Lehrbücher den mit begrenztem Zeitdeputat arbeitenden Richter durch ihren Argumentenvorrat entlasten können: Die Beachtung (und das Zitieren) von Kommentaren, Lehrbüchern, Monographien oder Aufsätzen in Urteilen hat auch deshalb Sinn, weil der Richter es immer nur mit Einzelfällen zu tun hat, während der Autor größerer Arbeiten nicht vom Einzelfall her denkt, sondern sich einen mehr oder weniger breiten Überblick verschaffen muss und dadurch oft einen gesonderten Beitrag zum Erfassen des Sinnganzen liefert. Andererseits trägt allerdings auch der Einzelfall zum Verständnis des Gesetzes bei; er ist ein Testfall für die Bewährung von allgemeinen Auslegungsvorschlägen im Einzelfall. Daher zitieren Verfasser von Kommentaren, Lehrbüchern und Aufsätzen ihrerseits die Einzelfallentscheidungen der Gerichte. Kurzum, sowohl die Erfassung eines Gesetzes in seiner Ganzheit als auch die Bewährung von ganzheitlichen Auslegungsvorschlägen an Einzelfällen tragen zur richtigen Rechtsfindung bei. 144 Nicht immer ist die (veröffentlichte) herrschende Lehre ungetrübt von Interessen. Gelegentlich kommt es vor, dass bemittelte Interessenten Aufsätze und Rechtsgutachten bei angesehenen Autoren gegen ein ansehnliches Honorar bestellen und dass solche Gutachter alle Gründe für das vertretene Interesse sammeln und hochspielen und die Gegengründe verschweigen oder minimalisieren. Das soll allerdings nicht heißen, dass jede bezahlte Arbeit verdächtigt werden müsste. Durchaus nicht jedermanns Meinung ist käuflich.
Insgesamt haben Beiträge von Fachschriftstellern bei Richtern und Autoren unterschiedlichen Autoritätswert und unterschiedliche Resonanz. Der Meinungsbeitrag und der Meinungskommentar haben ein anderes Gewicht als das bloße Präjudizienregister, als die bloße Sammlung fremder Meinungen. 145 144 Zur Präjudizienwirkung (insb. im Zusammenhang mit Steuerplanung) auch J. Hey, (Fußn. 14), S. 46 ff.; K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (Loseblatt Lfg. 111), § 4 AO Tz. 114. 145 1955 hatte der Verfasser während seiner Ausbildung als Finanzassessor bei der OFD Hamburg zwei Gutachten anzufertigen, in denen er sich mit der einhelligen bzw. fast einhelligen Meinung auseinanderzusetzen hatte – mit dem Ergebnis, diese Meinung sei – obwohl einhellig vertreten – unzutreffend. (DStRu 1955, 411; 1955, 483). Aufgrund der Begründung des Verfassers kehrte der Strom alsbald. Herrschende oder einhellige Meinung kann sich auch dadurch bilden, dass allzu viele Autoren sich, etwa aus Zeitmangel, einer Meinung kritiklos anschließen.
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Nach deutschem Recht gibt es – sieht man von § 31 I BVerfGG ab – keine Präjudizienbindung. Wer von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs abweichen, wer die herrschende Meinung umstürzen will, muss aber dafür eine besonders überzeugende Begründung liefern. Das Gleiche gilt, wenn der Bundesfinanzhof, was nicht eben selten vorkommt, seine eigene Rechtsprechung ändern möchte. Höchstrichterliche Urteile sind Vorbilder oder Muster, denen einstweilen die Vermutung der Richtigkeit zukommt. Sie konstituieren die „Rechtslage“, bilden eine Vertrauensgrundlage. Diese Grundlage darf nicht schon aufgrund von „Besserwisserei“ oder „Originalitätssucht“ aufs Spiel gesetzt werden. 146 Das heißt nicht, dass Präjudizien blind zu übernehmen seien, es heißt nur, dass sie vom Gericht selbst nur dann preisgegeben und von Instanzgerichten nur dann nicht beachtet werden sollten, wenn wirklich durchschlagende Gründe gegen sie sprechen. 147 3.8 Insbesondere: Die „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ („wirtschaftliche Auslegung“) Literatur W. Hartz, Die Auslegung von Steuergesetzen, Inhalt und Umfang der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, 1957; R. Thiel, Wirtschaftliche Betrachtungsweise – ja oder nein?, in: Gedenkschrift für A. Spitaler, 1965, S. 195 ff.; H. v. Wallis, Zur Selbstständigkeit der Begriffsbildung im Steuerrecht, in: Gedenkschrift für A. Spitaler, 1965, S. 207 ff.; K. Tipke, Steuerrecht und bürgerliches Recht, JuS 1970, 149 ff.; H. Spanner, Zum Verhältnis des Steuerrechts zum bürgerlichen Recht, in: Festschrift für G. Wacke, 1972, S. 181 ff.; H. W. Kruse, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Recht der Verkehrsteuern, in: Fest146 Dazu K. H. Günther, Zur Kontinuität der Rechtsprechung des BFH, FR 1987, 560 ff.; F. Wassermeyer, Über die Kontinuität in der Rechtsprechung des BFH, DStR 1989, 561 ff.; D. Krüger, Ändert der Bundesfinanzhof seine Rechtsprechung zu häufig?, Stbg. 1989, 155 ff.; J. Voss, Ungewissheit im Steuerrecht, Wiesbaden 1992 (Kölner Diss. rer. pol.), insb. S. 61 ff., 92 ff.; J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 606 ff., s. auch schon ebenda S. 46 ff.: Richterrecht (Präjudizienwirkung als abstrakte Planungsgrundlage). 147 F. Bydlinksi, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien/New York 1982, hält (veröffentliche) Präjudizien für widerlegbar, aber auch für widerlegungsbedürftig in dem Sinne, dass sie „nachweislich falsch“ sind (s. dort S. 501 ff.). Weniger weitgehend K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991, S. 429 ff. – BSGE 40, 292: „Ein oberster Gerichtshof des Bundes soll von seiner bisherigen Rechtsprechung nicht abweichen, wenn sowohl für die eine als auch für die andere Ansicht gute Gründe sprechen.“ – Zum Vertrauensschutz bei der Rechtsprechungsverschärfung s. Band I2, S. 171 f.; abw. J. Hey (Fußn. 14), S. 615 ff. – Sehr kritisch zur Präjudizienpraxis der Gerichte der Rechtsphilosoph J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, 360 f.
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung schrift für H. Paulick, 1973, S. 403 ff.; ders., Ende oder neuer Anfang der wirtschaftlichen Betrachtungsweise?, JbFSt. 1975/76, 35 ff. (s. auch ÖStZ 1976, 86 ff.); H. Beisse, Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht nach Wegfall des § 1 StAnpG, Inf. 1977, 433 ff.; ders., Die wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Auslegung der Steuergesetze in der neueren deutschen Rechtsprechung, StuW 1981, 1 ff.; H.-M. Pawlowski, Abschied von der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise“ im Steuerrecht?, BB 1977, 253 ff.; C. Grimm, Das Steuerrecht im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Betrachtungsweise und Zivilrecht, DStZA 1978, 283 ff.; W. Maaßen, Privatrechtsbegriffe in den Tatbeständen des Steuerrechts, 1977 (mit umfassendem Fundstellennachweis bis 1977); S. Martin, Rechtsgeschäfte im Spannungsfeld zwischen Zivil- und Steuerrecht, BB 1984, 1629 ff.; G. Döllerer, Die Maßgeblichkeit des Zivilrechts für das Ertragsteuerrecht in der neueren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, JbFSt. 1986/87, 37 ff.; M. Groh, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im rechtlichen Sinn, StuW 1989, 227 ff.; J. Schulze-Osterloh, Zivilrecht und Steuerrecht, AcP Bd. 190 (1990), 139 ff.; L. Woerner, Verfassungsrecht und Methodenlehre im Steuerrecht, FR 1992, 226 ff.; M. Lehner, Wirtschaftliche Betrachtungsweise und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, in: Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 237 ff. (zur Möglichkeit einer teleologischen Auslegung der Fiskalzwecknormen); M. Eibelshäuser, Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht – Herkunft und Bedeutung, DStR 2002, 1426 ff.; K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 5 Rz. 77–82 (instruktive Kurzübersicht). Zum österreichischen und zum schweizerischen Recht: W. Gassner, Auslegungsprobleme im Steuerrecht bei zivilrechtlichen Begriffen und Rechtsgestaltungen, Zürich 1954; E. Höhn, Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, Steuer-Revue 1963, 387 ff.; K. Vallender, Die Auslegung des Steuerrechts2, Bern/Stuttgart 1988, S. 41 ff.; R. Matteotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung. Ein Rechtsvergleich zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten von Nordamerika unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, Bern 2007. Rechtsvergleichend hat sich 1965 der IFA-Kongress in London mit dem Thema befasst: The interpretation of tax laws with special reference to form and substance (Studies on International Fiscal Law Vol 50 a, Amsterdam 1970). Die Ausführungen sind zum Teil überholt.
3.81 Einführung „Wirtschaftliche Betrachtungsweise“ wird als Gegensatz verstanden zu einer „formalrechtlichen Betrachtungsweise“. Unter „wirtschaftlicher Betrachtungsweise“ wird mehr verstanden als eine bestimmte Art der Auslegung. 148 In diesem Abschnitt geht es aber nur um die Auslegung im Sinne „wirtschaftlicher Betrachtungsweise“. Diese Auslegung ist keine besondere Methode, sondern eine sich am wirtschaftlichen Normzweck orientierende teleologische Interpretation. 149 148 S. S. 1308 ff. 149 So auch M. Groh, StuW 1989, 229, 230; A. Moxter, StuW 1989, 232; M. Lehner, in: Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 237, 241 ff. m. w. N. in Fußn. 10–12; K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 5 Rz. 77.
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Da das Steuerrecht vom Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beherrscht wird oder beherrscht werden sollte (s. dazu Bd. I2, 2000, S. 479 ff.), müsste es sich eigentlich solcher Begriffe bedienen, die – teleologisch – geeignet sind, diesem Prinzip gerecht zu werden. Das Steuerrecht ist aber noch nicht so entwickelt, dass es durchgehend Begriffe – Rechtsbegriffe – verwendet, die sich zur gleichmäßigen Erfassung wirtschaftlicher Vorgänge oder Zustände eignen. Teils aus Tradition, teils aus Verlegenheit, teils aus Notwendigkeit (nämlich wenn die Steuergesetze das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verfehlen), teils aus Zweckmäßigkeit (nämlich wenn der zivilrechtliche Begriff klare Konturen hat und sich zur gleichmäßigen Erfassung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit eignet) greift das Steuerrecht aber auch auf Zivilrechtsbegriffe zurück. Beispiele: Offene Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft, Darlehen (§ 15 I Nr. 2 EStG), Kapitalgesellschaft (§§ 17, 20 EStG; § 1 I Nr. 1 KStG); Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG; § 4 Nr. 12 a UStG). Oder es knüpft an Rechtsgeschäfte des Zivilrechts an. Beispiele: Kaufvertrag, Auflassung (§ I Nr. 1, 2 GrEStG); Schenkung (§ 1 I Nr. 2 ErbStG). Eine richtig verstandene Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit müsste alle Unternehmen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform steuerlich gleich belasten (Rechtsformneutralität): Denn die Rechtsform ist kein geeigneter Maßstab für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. 150 Tradiert ist aber der Dualismus der Einkommensbesteuerung der Gesellschafter von Personengesellschaften und die Körperschaftsbesteuerung der Kapitalgesellschaften. Die Grund- und Kernfragen des Unternehmensteuerrechts sind Gerechtigkeitsfragen, sie gehören vor das Verfassungsgericht. Richtig verstandene gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verlangt grundsätzlich nach Gleichbehandlung aller Einkunftsarten des Einkommensteuerrechts. Das entspricht auch dem Geist des Art. 12 GG. 151 Unter solchen Umständen würden Entscheidungen nach Einkunftsarten mit zivilrechtlicher Anknüpfung überflüssig. Aber auch wenn man es – aus welchen Gründen auch immer – bei der Unterscheidung zwischen Einkunftsarten belässt, ist es angezeigt, die zivilrechtliche Anknüpfung möglichst aufzugeben oder allenfalls zur Illustration zu verwenden. Z. B. wollen die §§ 20, 21 EStG Einkünfte erfassen, die durch (befristete) Überlassung von Vermögen zur Nutzung entstehen. Das ließe sich im Gesetz gewiss besser ausdrücken als gegenwärtig durch die §§ 20, 21 EStG.
3.82 Meinungen und Meinungsphasen Bei Inkrafttreten der Reichsabgabenordnung folgte die Rechtsprechung zum Steuerrecht bei der Auslegung von Zivilrechtsbegriffen oder bei der Qualifikation von Zivilrechtsverhältnissen noch weithin 150 Dazu J. Hey, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 13 Rz. 168 ff. („Rechtsformneutralität der Besteuerung“), insb. Rz. 533. 151 Dazu Band I2, 2000, S. 431 ff.
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dem Zivilrecht. 152 Das wollte § 4 RAO 1919, später § 1 II StAnpG verhindern. § 4 RAO 1919 schrieb vor: „Bei der Auslegung der Steuergesetze sind ihr Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.“ § 1 II StAnpG 1934 übernahm § 4 RAO 1919, schrieb aber ergänzend vor: „Entsprechendes gilt für die Beurteilung von Tatbeständen“ (gemeint war: von Sachverhalten).
Die Abgabenordnung 1977 hat § 1 StAnpG ersatzlos aufgehoben. Zu der Frage, was unter „Auslegung unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Bedeutung“ der Steuergesetze zu verstehen sei, hat es immer Meinungsverschiedenheiten gegeben. Auffällig ist aber vor allem das Bestehen verschiedener vorherrschender Auffassungen in verschiedenen zeitlichen Perioden. C. Grimm spricht von einem „Pendelschlag der Entwicklung“ 153, H. Beisse von „Entwicklungsphasen“ 154. So lassen sich drei Phasen mit tendenziell unterschiedlichen Grundauffassungen feststellen. 155 (1) Die wirtschaftliche Betrachtungsweise – so die vor allem von Enno Becker begründete und von ihm wieder und wieder vorgetragene Meinung – sei ein „allgemeines Korrektiv“; 156 sie diene der allgemeinen Transformation oder Umsetzung der zivilrechtlichen Begriffe in das Steuerrechtlich-Wirtschaftliche. Der zivilrechtliche Begriff gebe für das Steuerrecht nur den Begriffskern ab, um diesen herum befinde sich ein Begriffsfeld, das alle Sachverhalte erfasse, die dem Kernsachverhalt wirtschaftlich gleichgelagert seien. Werde z. B. in einem Steuergesetz der Begriff „Vermietung“ verwendet, so sei das nur die schlaglichtartige Bezeichnung für eine wirtschaftliche Interessenlage, wie sie insbesondere bei einem Mietverhältnis anzutreffen sei. Die Verwendung zivilrechtlicher Begriffe sei ein Notbehelf, die zivilrechtliche Tatbestandsumschreibung nur ein Hilfsmittel, den Typus der wirtschaftlichen Veranstaltung oder eines wirtschaftlichen Typus der wirtschaftlichen Veranstaltung oder eines wirtschaftlichen Zustands zu umschreiben. 157 Konsequent ist diese Auffassung allerdings nie 152 Dazu W. Merk, Reichsgericht und Steuerrecht, in: Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. IV, 1929, S. 73 ff., 84 ff., 95 ff. 153 DStZA 1978, 285. Im Anschluss an H. W. Kruse, in: Festschrift für H. Paulick, 1973, S. 404; s. auch L. Woerner, FR 1992, 227 f. 154 StuW 1981, 4. 155 Eine ausführlichere Darstellung der Entwicklung (als sie hier geboten wird) findet sich bei H. Beisse, StuW 1981, 4 f. 156 StuW 1932, 481, 542 f. S. auch W. Gassner, Interpretation und Anwendung der Steuergesetze, Wien 1972, S. 131 („Interpretationskorrektur“). 157 Hauptvertreter dieser Richtung: C. A. Emge, Gratisaktien und Steuerrecht. Grundsätzliche Erwägungen über die Beziehung des Zivilrechts zum
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durchgeführt worden. So sind z. B. die familienrechtlichen Statusverhältnisse immer im zivilrechtlichen Sinne verstanden worden. Außereheliche Lebensgemeinschaften sind bisher nicht durch Auslegung wie ein Eheverhältnis behandelt worden, auch wenn sie diesen in wirtschaftlicher Hinsicht vergleichbar waren. 158 Der Begriff „Erbschaft“ („Erwerb durch Erbanfall“) ist immer erbrechtlich verstanden worden. Die Selbstständigkeit der juristischen Person ist prinzipiell immer geachtet worden (Trennung zwischen Kapitalgesellschaft und Gesellschaftern; sog. Trennungsprinzip); die Einmann-GmbH ist nie als wirtschaftliches Einzelunternehmen behandelt worden. Die Vertreter einer umfassenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise – sie verfuhren mehr intuitiv –, leiteten die wirtschaftliche Betrachtungsweise nicht vom Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ab; sie gingen im Übrigen freizügig zu Werke, wenn es darum ging, Rechtsverhältnisse oder Rechtsgeschäfte, auf die es nach steuerrechtlichen Vorschriften ankam, zu qualifizieren. Vom zivilrechtlichen Vertrag sprach man – voran Enno Becker – gern als „formaler Hülle“, „bloßer Einkleidung“, „Schleier“, „Scheinfassade“, „bloßer Aufmachung“, „zufälligem formalen Erscheinungsbild“, „„Zurechtstellung“, „Maskierung“. 159 Aus dem Beckerschen Vokabular stammt auch der „Hokuspokus der bürgerlich-rechtlichen Aufstützung“. 160 Stattdessen sollte es ankommen auf das, was man nannte: „die Lebenswirklichkeit“, „den wahren wirtschaftlichen Inhalt“, „den wirklichen Gehalt des Sachverhalts“, „das wirkliche oder reale Geschehen“, „das wirtschaftliche Ist“. 161 Aus der notwendigen Differenzierung „zwischen Schein und Sein“ leitete man das Recht ab, Rechtsverhältnisse „umzuqualifizieren“. So wurde aus einem Darlehen (jeweils zu ergänzen: wirtschaftlich) Stammkapital, aus einem partiarischen Darlehen eine stille Gesellschaft, aus einem Kommanditisten ein Komplementär, aus einem Arbeitnehmer ein Gesellschafter, aus einem Vermächtnisnehmer oder Nießbraucher ein Erbe. Die An-
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Steuerrecht, 1923, S. 38 ff.; K. Ball, Steuerrecht und Privatrecht, Theorie des selbstständigen Steuerrechtssystems, 1924, insb. S. 115 f., 118, 125; am wirkungsvollsten Enno Becker, Reichsabgabenordnung1–7, § 4 Anm. 1 a, 4; ders., StuW 1924, 166 ff., 1005, 1028; 1928, 855, 881; 1932, 481, 495 ff., 504; 1934, 299; 1935, 705; 1939, 745, 748, 751, 753, 759; ders., Zur wirtschaftlichen Einstellung der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs, in: Festschrift zum 10jährigen Bestehen des Steuer-Instituts an der Handels-Hochschule Leipzig, 1931. S. auch H. Beisse, StuW 1981, 14 (I, 2). S. die Nachweise bei K. Tipke, JuS 1970, 152 f.; C. Grimm, DStZA 1978, 284 li. Sp.; P. Locher, Grenzen der Rechtsfindung im Steuerrecht, Bern 1983, S. 154. StuW 1939, 685. S. Fußn. 218, 220.
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wendung des § 6 StAnpG (jetzt § 42 AO) wurde auf diese Weise weitgehend überflüssig. § 1 III StAnpG („Entsprechendes gilt für die Beurteilung von Tatbeständen“) sollte die Zulässigkeit einer wirtschaftlich angemessenen Qualifizierung bestätigen. Die Rechtsprechung ließ es dabei aber nicht bewenden. 162 Demgegenüber ist festzustellen: Eine vom Gesetz und seinem Zweck losgelöste, freischwebende „wirtschaftliche Sachverhaltsbeurteilung“ führt in die Irre, weg von der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung. P. Kirchhof hat in § 10 Satz 2 seines Bundessteuergesetzbuch-Entwurfs folgende Vorschrift eingefügt: „Der vom Steuerpflichtigen verwirklichte Sachverhalt ist in einer vom Maßstab des Steuergesetzes geprägten Beurteilung zu ermitteln (steuerjuristische Betrachtungsweise).“ Dieser Satz mag auf den ersten Blick entbehrlich erscheinen. Er soll aber die §§ 40, 41 AO ersetzen. Ein Satz löst mehrere Paragrafen ab.
(2) Etwa 1955 setzte die Gegenbewegung ein. Nun hieß es: Soweit die Steuergesetze Begriffe des Zivilrechts verwenden oder an Rechtsverhältnisse des Zivilrechts anknüpfen, komme es auf die zivilrechtliche Interpretation bzw. Qualifikation an. Es gelte der „Primat des Zivilrechts“. Das Steuerrecht sei insoweit „Folgerecht des Zivilrechts“. Diese Betrachtungsweise diene der Einheit der Rechtsordnung und der Rechtssicherheit. 163 (3) Etwa 1965 begann erneut eine Trendwende. Die neue, differenzierende Sicht lässt sich kurz so zusammenfassen: Die wirtschaftliche Betrachtungsweise sei kein Spezifikum des Steuerrechts. Sie sei eine rechtliche Betrachtungsweise, nämlich teleologische Auslegung 164. Je nachdem, was der Gesetzeszweck verlange, sei ein dem Zivilrecht entnommener Begriff zivilrechtlich oder steuerrechtlich-wirtschaftlich zu verstehen bzw. sei ein Rechtsverhältnis zivilrechtlich oder abweichend zu qualifizieren. Dabei werden die Akzente jedoch unterschiedlich gesetzt. Die einen gehen von der Vermutung aus, dass dem Zivilrecht 162 Beispiele dazu in Bd. III1, 1993, S. 1288. 163 BFH BStBl. 1967 III, 781, 782. – Vertreter dieser Version ist oder war G. Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, insb. S. 309, 358 ff. Dazu die wohlbegründete Kritik von J. Schulze-Osterloh, StuW 1986, 74 ff. – Ein engagierter Verfechter eines „Grundsatzes der Maßgeblichkeit des Zivilrechts für das Steuerrecht“ war auch der frühere Vorsitzende Richter am BFH G. Döllerer. Döllerer riet „den Propheten der Steuergerechtigkeit zu misstrauen“. „Ihre Forderungen“ – so Döllerer – „führen regelmäßig nicht zu einer niedrigen, sondern zu einer höheren Besteuerung. Der Anwender des Steuerrechts fährt daher besser, wenn er sich mit dem bescheidenen Ziel der Rechtssicherheit begnügt – Rechtssicherheit durch Maßgeblichkeit des Zivilrechts“ (JbFSt. 1986/87, 54). 164 Nachweise dazu in Bd. III1, 1993, S. 1289 Fußn. 230.
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entstammende Begriffe zivilrechtlich aufzufassen seien, wenn nicht der erkennbare Zweck des Steuerrechtssatzes etwas anderes verlange; andere meinen, die Vermutung spreche eher für einen steuerrechtsspezifischen, vom Zivilrecht abweichenden Begriffsinhalt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt eine sich auf die „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ berufende Rechtsanwendung gebilligt, so den „Durchgriff“ auf die hinter einer Kapitalgesellschaft stehenden Personen, wenn eine Rückstellung für Pensionszusagen an beherrschende Gesellschafter-Geschäftsführer zu beurteilen war (BVerfGE 18, 224), so die körperschaftsteuerrechtliche Nichtanerkennung nachträglich festgesetzter Vergütungen an Gesellschafter-Geschäftsführer mit maßgebendem Einfluss in der Kapitalgesellschaft (BVerfGE 22, 156), so die Rechtsgrundsätze des Bundesfinanzhofs zur Betriebsaufspaltung (BVerfGE 25, 28), so die Zurechnung eines von einem Personengesellschafter der Gesellschaft mietweise überlassenen Grundstück zum Betriebsvermögen (BVerfGE 26, 327). Nach BVerfGE 29, 104, 117 m. w. N. ist es auch von der Verfassung her nicht geboten, bei der Anwendung des Steuerrechts Begriffe und Institute stets und ausschließlich entsprechend ihrem bürgerlich-rechtlichen Gehalt auszulegen. Für eine vom Zivilrecht abweichende Beurteilung müssten jedoch sachlich einleuchtende Gründe bestehen. Hinzuweisen ist vor allem auf die neuere Entscheidung BVerfG StuW 1992, 186 ff. 3.83 Stellungnahme Die Auffassung, dass alle dem Zivilrecht entnommenen Begriffe ins Steuerrechtlich-Wirtschaftliche zu transformieren seien, ist nicht stichhaltig. Wie die Praxis zeigt, vernachlässigt diese Auffassung die Regeln und Grenzen teleologischer Auslegung und ersetzt sie durch eine freischwebende „wirtschaftliche Gefühlsjurisprudenz“. Abzulehnen ist aber auch die Auffassung, dass dem Zivilrecht entnommene Begriffe oder Rechtsgeschäftstypen stets wie im Zivilrecht aufzufassen seien. Die unreflektierte Berufung auf Schlagworte wie „Einheit der Rechtsordnung“, „Primat des Zivilrechts“, „Rechtssicherheit“ bewältigt das Problem nicht angemessen. Gesetze sind teleologisch zu interpretieren. 165 Steuerrecht und Zivilrecht bilden keine teleologische Einheit (s. Bd. I2, S. 43 ff.). Jeder Gesetzesbegriff ist nur verständlich aus seiner Rolle, der Verwirklichung eines bestimmten Normzwecks zu dienen. Auch gleichlautende Begriffe innerhalb einer Rechtsordnung, ja u. U. sogar innerhalb einund derselben Gesetze sind je nach Normzweck variant, relativ; sie sind je nach der zu ordnenden Materie unterschiedlich teleologisch 165 Dazu S. 1614 f., 1616 ff.
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ausgerichtet, von der jeweiligen spezifischen Regelungsaufgabe geprägt. Folglich müssen auch die dem Zivilrecht entnommenen Begriffe aus dem Zweck der jeweiligen Steuerrechtsnorm heraus verstanden werden. Erst dadurch gelangt man zum spezifischen Norminhalt. Es ist bereits oben ausgeführt worden, dass die Normen eines Steuerrechts, das vom Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beherrscht wird und das die Gesamtsteuerlast entsprechend diesem Prinzip aufteilen will, prinzipgerecht ausgelegt werden müssen. Das Steuerrecht hält sich jedoch nicht durchgehend an das Leistungsfähigkeitsprinzip; es enthält im Übrigen auch Sozialzwecknormen. Und es kann wirtschaftlich auch exakt das erfassen wollen, was sich in einer bestimmten zivilrechtlichen Gestaltung ausdrückt. Fiskalzwecknormen, die dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht entsprechen, mögen allerdings den Gleichheitssatz verletzen. Es ist aber nicht zulässig, durch Auslegung dem Gleichheitssatz entgegen dem erkennbaren Normzweck und über den möglichen Wortsinn von Normbegriffen hinausgreifend Rechnung zu tragen. Richtig ist, dass das Steuerrecht grundsätzlich nicht an bestimmte Formen des Zivilrechts anknüpft, um diese Formen zu erfassen; erfasst werden soll vielmehr der in die jeweilige Form gekleidete wirtschaftliche Inhalt. Aber das kann auch ein Inhalt sein, der der Form genau entspricht. Es kann aber auch anders sein. Beizupflichten ist daher der Auffassung, dass bei jeder einzelnen Norm durch teleologische Auslegung darüber zu befinden ist, wie ein dem Zivilrecht entnommener Begriff zu verstehen ist. Nicht beigepflichtet werden kann m. E. der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach für eine vom Zivilrecht abweichende Beurteilung sachlich einleuchtende Gründe bestehen müssten (BVerfGE 29, 104, 117 m. w. N.). Sie dürfte inzwischen überholt sein. Unter „Vermietung und Verpachtung“ i. S. des § 21 EStG wird mehr verstanden als unter „Vermietung und Verpachtung“ i. S. der §§ 535 ff. BGB, nämlich jede entgeltliche, befristete Überlassung von Gegenständen zum Gebrauch oder zur Nutzung auf obligatorischer oder dinglicher Grundlage, auch die Nutzungsüberlassung aufgrund Nießbrauchs. Hingegen werden die Begriffe (typische) „stille Gesellschaft“ und partiarisches Darlehen“ (§ 20 I Nr. 4 EStG) zivilrechtlich verstanden, ebenso wird es der Begriff (vertragliche) „Leibrente“ (§ 22 EStG). Ebenso wie der Zivilrechtler gehalten sein kann, die Erklärungen von Parteien einem bestimmten Vertragstyp zuzuordnen und dadurch rechtlich zu qualifizieren, muss auch der Steuerrechtler eine solche Qualifizierung vornehmen, wenn das Steuerrecht daran anknüpft, dass gewisse dem Zivilrecht entstammende Rechtsverhältnisse vorliegen. Ist das Rechtsverhältnis, an das angeknüpft wird (z. B. Kauf, Miete, Pacht, Gesellschaftsverhältnis, Darlehen) nicht anders zu verstehen als im Zi1636
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vilrecht – deckt sich die zivilrechtliche Qualifikation mit der steuerrechtlichen –, so muss der Steuerrechtler zu dem gleichen Ergebnis kommen wie der Zivilrechtler. Um das zu gewährleisten, muss er die zivilrechtliche Rechtsprechung und Literatur heranziehen. Enno Beckers Auffassung, dass die Begründung von Rechtsverhältnissen zivilrechtlich durchweg nur Formsache („formale Hülle“, „Einkleidung“, „Scheinfassade“, „Zurechtstellung“, „Maskierung“ etc.) sei, ist nicht stichhaltig. Soweit es sich nicht um Scheingeschäfte handelt (die auch zivilrechtlich nicht anerkannt werden), geht es auch zivilrechtlich um den Inhalt des Vertrages. Diesen Inhalt können die Parteien nicht beliebig rechtlich qualifizieren. Zwar können die Parteien ihre rechtlichen Verhältnisse grundsätzlich frei gestalten. Wie ihre Vereinbarungen rechtlich zu qualifizieren sind (konkret: welchem Vertragstyp sie zuzuordnen sind), können sie aber nicht frei entscheiden. Der Zivilrechtler überprüft – unter Heranziehung der §§ 133, 157, 242 BGB –, ob die Selbstqualifikation der Parteien die tatsächlich vereinbarten Rechtsfolgen deckt, dem einverständlich wirtschaftlich Gewollten entspricht. 166 Für den Steuerrechtsanwender besteht die Krux darin, dass viele steuerrechtlich relevante Vorfragen des Zivilrechts zivilrechtlich nicht vorentschieden sind. Solange die Parteien nämlich einig sind, bemühen sie den Zivilrichter nicht. Der Steuerrechtsanwender muss sich dann in die Lage des Zivilrichters versetzen.
Ergibt teleologische Auslegung indessen, dass die steuerrechtliche Anknüpfung an ein Rechtsverhältnis des Zivilrechts gar nicht im engen zivilrechtlichen Sinne zu verstehen ist, kann die steuerrechtliche Qualifikation selbstredend nicht der zivilrechtlichen entsprechen.
4. Gesetzeslücken und ihre Ausfüllung; rechtsfreier Raum Literatur Allgemein: C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz2, 1983; W. Fikentscher, Methoden des Rechts Bd. III, 1976, S. 701 ff.; F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien/New York 1982, S. 472 ff.; K. Larenz, Methodenlehre6, 1991, S. 366 ff.; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, § 80: Rechtsfortbildung, m. w. N.; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, § 23: Rechtsanwendung im Lückenbereich (Rz. 822 ff. m. w. N.). Zum Steuerrecht: L. Woerner, Die Steuerrechtsprechung zwischen Gesetzeskonkretisierung, Gesetzesfortbildung und Gesetzeskorrektur, DStJG Bd. 5 (1982), 23 ff., 39 ff.; K. Tipke, Über teleologische Auslegung, Lückenfeststellung und Lückenausfüllung im Steuerrecht, in: Festschrift für H. v. Wallis, 1985, S. 133 f.; H. W. Kruse, Über Rechtsgefühl, Rechtsfortbildung und Richterrecht im Steuerrecht, BB 1985, 1077 ff.; H. Weber-Grellet, Auf den Schultern von Larenz: Demokratisch-rechtsstaatliche Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung im Steuerrecht, DStR 1991, 438 f.; P. Fischer, Grundlagen
166 Dazu H.-M. Pawlowski, BB 1977, 253 (Pawlowski spricht statt von „wirtschaftlicher Betrachtungsweise“ von „funktionaler Qualifikation“); S. Martin, BB 1984, 1629, 1631; J. Schulze-Osterloh, AcP Bd. 190 (1990), 140, 144 ff., 149 ff.
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung und Grenzen der Rechts(fort)bildung im Steuerrecht, StVj 1992, 3 ff.; L. Woerner, Verfassungsrecht und Methodenlehre im Steuerrecht, FR 1992, 226 ff.; P. Fischer, Überlegungen zur Lückenhaftigkeit des Steuergesetzes, StuW 1995, 330 ff.; J. Lang, Die Ausfüllung von Lücken in Steuergesetzen, in: Festschrift für E. Höhn, Bern 1995, S. 159 ff.; R. Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 1996; G. Crezelius, Analogieanwendungen in Steuergesetzen, FR 2008, 889 ff.; P. Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007 (Zusammenfassung in StuW 2008, 206 ff.).; K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 5 Rz. 53–67 (instruktive Kurzübersicht); K.-D. Drüen, Rechtsfortbildung, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (Loseblatt Lfg. 111), § 4 AO Tz. 344 ff. Die BFH-Rechtsprechung zur Lückenfeststellung und Lückenausfüllung ist dargestellt von Th. Rittler, Die Auslegung der Steuergesetze in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs – Bestandsaufnahme und verfassungsrechtliche Würdigung. Diss. Bayreuth 1987, S. 104 ff. („Gesetzesimmanente Rechtsfortbildung“). Insbesondere zum Schweizer Steuerrecht: E. Höhn, Gesetzesauslegung, Rechtsfortbildung und richterliche Gesetzesergänzung im Steuerrecht, ASA Bd. 51 (1983), 385 ff.; P. Locher, Grenzen der Rechtsfindung im Steuerrecht, Bern 1983, S. 83 ff., 109 ff., 136 ff.; K. Vallender, Die Auslegung des Steuerrechts2, Bern/Stuttgart 1988, S. 56 ff.; R. Matteotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung. Ein Rechtsvergleich zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, Bern 2007. Hinzuweisen ist auch auf die (auch deutsche Literatur berücksichtigende) Arbeit von R. Lobo Torres, Normas de Interpretação do Direito Tributário, Rio de Janeiro 1991.
(1) Von der Auslegung pflegt die jenseits des möglichen Wortsinns beginnende Ausfüllung von – unbewussten oder bewussten – offenen Gesetzeslücken durch Gesetzesergänzung (Rechtsfortbildung oder Rechtsschöpfung) unterschieden zu werden. 167
167 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, S. 366 f.; W. Fikentscher, Methoden des Rechts III, 1976, S. 294, 718 ff.; F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien/New York 1982, S. 441, 467 ff.; L. Woerner, DStJG Bd. 5 (1982), 39 ff.; K.-D. Drüen, in: Tipke/ Kruse, AO/FGO (Loseblatt Lfg. 111), § 4 Tz. 340 ff., 344 ff.; s. auch BVerfGE 71, 108, 115; 73, 206, 235 f. (zum Strafrecht). Die Schweizer Doktrin folgt der Unterscheidung Auslegung/Lückenausfüllung wohl überwiegend nicht (s. E. Höhn, ASA Bd. 51 [1983], 385, 400 ff.; P. Locher, Grenzen der Rechtsfindung im Steuerrecht, Bern 1983, S. 97 f.; 135 f.; K. Vallender, Die Auslegung des Steuerrechts2, Bern/Stuttgart 1988, S. 60 ff., 139 ff); R. Matteotti arbeitet mit den Begriffen Auslegung (Rechtsfindung intra verba legis) und Lückenfüllung und spricht auch von der Auslegungsgrundlage des möglichen Wortsinns (Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, z. B. S. 73, s. auch S. 102). – Vereinzelt finden sich solche Stimmen auch in der deutschen Steuerrechtsliteratur (so P. Fischer, StuW 1979, 347, 354, 360 f., 364). – Es gibt auch BFH-Entscheidungen, die noch (stillschweigend) jenseits des möglichen Wortsinns „auslegen“ (s. etwa BFH BStBl. 1973 II, 102, 104; 1980 II, 119, 120;
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Die Lücke besteht in einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes; sie beginnt dort, wo die Auslegungsmöglichkeit endet, nämlich jenseits des möglichen Wortsinns. Der Gesetzgeber hat einen bestimmten Plan gehabt, einen bestimmten Gesetzeszweck realisieren wollen; es ist ihm dies aber nicht gelungen. M. a. W.: Das Gesetz oder einzelne Gesetzesvorschriften sind, gemessen am zugrundeliegenden Plan oder Zweck, lückenhaft geblieben, der verfolgte Plan oder Zweck ist tatbestandlich nicht oder nicht voll abgedeckt. Es handelt sich um eine Panne bei der Umsetzung des Plans oder Zwecks in gesetzliche Tatbestände, sei es, dass der Gesetzgeber nicht alle Lebenssachverhalte bedacht hat, sei es, dass er sie nicht bedenken konnte, weil sie in dem Zeitpunkt, als das Gesetz beschlossen wurde, noch nicht vorkamen (unbewusste Lücke). Aus solchen Gründen sind Gesetze oft unvollkommen, unfertig, nicht verallgemeinernd zu Ende gedacht oder wegen des Wandels der Verhältnisse unpassend. Oft ist es erst die Vielfalt der aufkommenden Fälle (die kein Gesetzgeber vorausbedenken kann), die Lücken an den Tag bringt. 168 Von den in einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes bestehenden Lücken (Lücken praeter legem; Lücken außerhalb des Gesetzes) werden die Lücken intra legem unterschieden; darunter versteht man Lücken innerhalb des Gesetzes (diesseits des möglichen Wortsinns). Sie entstehen durch Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe und sonstige Ausdrücke, die mehr oder minder vage sind. 169 Die Ausfüllung von Lücken intra legem ist Rechtsfindung secundum legem, Rechtsfindung gemäß dem Gesetz. Von der offenen wird die verdeckte Lücke unterschieden. Sie liegt vor, wenn ein Sachverhalt vom Gesetzeswortlaut erfasst wird, dieser Wortlaut mit Rücksicht auf den Gesetzeszweck aber über die Grenze des möglichen Wortsinns hinaus reduziert werden muss. 170 Der weite Wortlaut verdeckt dann die Tatsache, dass eine Lücke vorliegt. Bevor eine Lücke ausgefüllt werden kann, muss festgestellt werden, dass sie existiert. Die Lücke darf nicht bloß behauptet oder für möglich gehalten werden. Zur Feststellung der Lücke sind zu berücksichtigen: der Gesetzeszweck (Hat der Gesetzgeber etwas über den mögliBFHE 137, 547 f., 552). Dazu auch G. Crezelius, Verkappte Analogien in der Finanzrechtsprechung, StuW 1981, 117 ff. 168 In diesem Sinne auch P. Fischer, StVj 1992, 11 ff. 169 Dazu C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, S. 16 ff.; W. Fikentscher (Fußn. 22), S. 719 ff.; F. Bydlinski (Fußn. 24), S. 473 f.; Die Akzente werden auch in der steuerrechtlichen Literatur unterschiedlich gesetzt (s. L. Woerner, FR 1992, 231 m. w. N.; P. Fischer, StVj 1992, 28 f.). 170 Ausführlich zur Terminologie der Lückenarten C.-W. Canaris (Fußn. 169), S. 129 ff.; K. Larenz (Fußn. 13), S. 370 ff.; W. Fikentscher (Fußn. 22), S. 719 ff.
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chen Wortsinn Hinausgehendes bezweckt?), im Einzelnen: die Entstehungsgeschichte, systematische Gesichtspunkte sowie die auf S. 1615 ff. für die Auslegung genannten Hilfsmethoden: verfassungskonforme Lückenfeststellung 171, argumentum ad absurdum, Größenschluss (argumentum a minore ad maius; argumentum a maiore ad minus). 172 Man geht im Zweifel davon aus, dass der Gesetzgeber etwas Verfassungsmäßiges (insbesondere etwas dem Gleichheitssatz Entsprechendes) oder etwas Vernünftiges, Folgerichtiges, nicht aber etwas Absurdes, Systemwidriges, Inkonsequentes gewollt habe. Der Größenschluss kann ebenfalls auf der Annahme basieren, der Gesetzgeber habe etwas Vernünftiges, nicht aber etwas Absurdes gewollt. Mit anderen Worten: Zur Lückenfeststellung werden die gleichen Methoden angewendet, die auch zur Gesetzesauslegung herangezogen werden. Wer dazu neigt, den Gesetzeswortlaut für „klar und eindeutig“ zu halten und deshalb die Auslegung abzubrechen, wird – konsequenterweise – auch dazu neigen, Lücken mit dem Hinweis auf den „klaren und eindeutigen“ Gesetzeswortlaut zu verneinen. Der Umkehrschluss bloß aus dem Wortlaut des Gesetzes ist indessen insuffizient. 173 Ebenso gut könnte man verlangen, der Gesetzgeber solle auf Lücken durch den Hinweis „Achtung Lücke!“ aufmerksam machen. Wer Literatur und Rechtsprechung durchsieht, wird bald bemerken, dass bei der Lösung von Fällen nicht selten recht unterschiedliche Sicherheitsanforderungen an die Feststellung einer Lücke, einer planwidrigen Gesetzesausführung, gestellt werden. Mit Sicherheit lassen sich Lücken überhaupt nur in einem Vorschriftensystem feststellen, nicht in einem Sammelsurium systematisch ungeordneter Vorschriften. Nur ein (inneres) System lässt sich aus sich selbst heraus ergänzen; die das System tragenden Prinzipien tragen nämlich den Plan für den weiteren Ausbau ins Konkrete in sich. (2) Lässt sich jenseits des möglichen Wortsinns eine Lücke nicht feststellen, so handelt es sich um den so genannten rechtsfreien Raum. 171 So auch BFH BStBl. 1966 III, 272, 273 re. Sp.: „Dabei ist zu unterstellen, dass der Gesetzgeber vor allem der Wertordnung des Grundgesetzes Rechnung getragen hätte.“ – Da der Wille zu verfassungsmäßigen, vernünftigen Lösungen den Gesetzgeber betrifft, ist die Heranziehung der Verfassung etc. durchaus mit der subjektiven Theorie vereinbar (a. A. L. Woerner, BB 1984, 523). 172 S. auch BFHE 118, 499, 502; 118, 509, 512 f.; BFH BStBl. 1983 II, 187, 188. 173 So auch L. Woerner, FR 1992, 229 re. Sp.: „Noch verhängnisvoller erweist sich die Neigung, Rechtsanwendung mit dem möglichen Wortsinn enden zu lassen. Bei diesem eingeschränkten Verständnis bleibt das wertvolle Instrumentarium der Lückenausfüllung für den Rechtsanwender unsichtbar.“
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Gesetzeslücken und ihre Ausfüllung
Das ist der Raum, der vom Gesetzgeber bewusst und planvoll nicht erfasst wird, 174 indem folglich nach dem Willen und prinzipiellen Konzept des Gesetzgebers kein steuerrechtlicher Rechtssatz besteht (insbesondere kein steuerbelastender) und der Gesetzgeber die fehlende Regelung auch nicht bewusst Lehre und Rechtsprechung überlassen wollte. Der steuerrechtsfreie Raum beginnt jenseits der (be-)steuerbaren Tatbestände. Der steuerrechtsfreie Raum beginnt z. B. jenseits der sieben Einkunftsarten des Einkommensteuergesetzes (so ist z. B. der von den sieben Einkunftsarten nicht erfasste Lotteriegewinn nicht besteuerbar). Er beginnt z. B. dort, wo Nichtunternehmer umsatzsteuerliche Leistungen ausführen, wo besondere Verbrauchsteuergesetze bestimmte Waren nicht erfassen, wie z. B. Wein (Wein ist nicht verbrauchsteuerbar); wer Wein trinkt, tut dies im verbrauchsteuerrechtsfreien Raum. 175 Wer statt eines Hundes eine Katze hält, vermeidet die Hundesteuer; das Halten von Katzen ist nicht steuerbar.
Von rechtsfreiem Raum kann man nicht sprechen, wo ein Tatbestand im Umriss (mit seinen wesentlichen Elementen) vorhanden ist, aber wegen fehlender Regelungsdichte im Detail der Ausführung durch Lehre und Rechtsprechung bedarf (Beispiele: Zurechnung von Einkünften; Details der Gewinnermittlung und Gewinnrealisierung). 176 (3) Die Lücken praeter legem dürfen vom Rechtsanwender nicht freischwebend, autonom, subjektiv ausgefüllt werden. Vielmehr kommen zur Lückenausfüllung die gleichen teleologischen Mittel zur Anwendung, mit denen die Lücken zunächst festgestellt werden. 177 Methoden der Lückenausfüllung sind die Analogie (Ähnlichkeitsschluss, argumentum a simile) und der mit der Analogie verwandte Größenschluss. 178 Verdeckte Lücken werden methodisch durch teleologische Reduktion ausgefüllt. 179 Lücken können ferner mit Hilfe der EGRichtlinien ausgefüllt werden. 180 Die Analogie – sie dient dem Gebot der Verallgemeinerung – besteht darin, dass das Prinzip, das dem Gesetz oder einem oder mehreren Vorschriften des Gesetzes zugrundeliegt (was nicht immer zutrifft), 174 Dazu allgemein H. Comes, Der rechtsfreie Raum, Diss. Köln 1975, Berlin 1976; s. ferner K. Larenz (Fußn. 13), S. 375, 376; W. Fikentscher (Fußn. 22), S. 722. – Ist kein Grund für eine verschiedene Behandlung erfindlich, so ist die Analogie und nicht der Umkehrschluss geboten. – S. auch BFH BStBl. 1972 II, 858, 859; 1974 II, 295, 297; 1982 II, 362, 364. 175 Dazu K. Tipke, BB 1973, 158 ff. 176 So auch P. Fischer, StVj 1992, 12 ff., 21 ff. 177 S. auch BFH BStBl. 1953 III, 92, 93; 1962 III, 19, 20 f.; 1965 III, 611 f.; 1972 II, 97, 99; 1974 II, 295, 297; 1980 II, 190. – Dazu auch H. WeberGrellet, DStR 1991, 442. 178 Dazu F. Bydlinski (Fußn. 24), S. 476, 479 f. 179 S. etwa BFH BStBl. 1990 II, 396, 397. 180 Dazu W. Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 9 f., 11 ff.; M. Mössner, Prinzipien und . . . Analogie, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 97 ff.
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über das mögliche Wortverständnis hinaus in der vom Gesetz prinzipiell eingeschlagenen Richtung weitergedacht wird. 181 Da das Prinzip auch die Grundlage teleologischer Auslegung ist, 182 sind Auslegung und analoge Gesetzesanwendung methodisch gleichermaßen Fälle prinzipienorientierter oder teleologischer Rechtsanwendung. 183 Dass das Steuerrecht – abgesehen von Steuervergünstigungen – schlechthin nicht analogiefähig sei, weil es im Steuerrecht an Prinzipien oder Sachgesetzlichkeiten fehle, trifft nicht zu (s. Bd. I2, S. 189 f.). Wenn die Rechtsanwendung zulässigerweise sowohl in Auslegung als auch in Lückenausfüllung bestehen kann, wird doch die Frage nach der Grenze des möglichen Wortsinns dadurch nicht obsolet. L. Woerner gibt darauf folgende überzeugende Antwort: „. . . gerade im steuerrechtlichen Eingriffsrecht, dass geprägt ist vom Gesetzesvorbehalt, ist die Grenze des möglichen Wortsinns . . . sinnvoll und sachgerecht. Unabhängig zunächst davon, wie weit die Befugnis des Richters zur Ausfüllung von Lücken im steuerrechtlichen Eingriffsrecht geht, überschreitet der Rechtsanwender, wenn er die Grenze des möglichen Wortsinns verlässt, eine Art Sicherheitszone. Diese erfordert einen unbequemen, aber fruchtbaren Denkzwang. Es muss zunächst das Vorliegen einer Lücke im Gesetz (planwidrige Unvollständigkeit) dargetan und Rechenschaft darüber abgelegt werden, mittels welcher Methoden die Lücke geschlossen wird . . .“ 184
Unterschieden wird zwischen Rechtsanalogie und Gesetzesanalogie. Die Rechtsanalogie bedient sich eines Prinzips, das einer Mehrheit von Rechtssätzen gemeinsam zugrundeliegt. Liegt das Prinzip nicht offen zutage, so muss versucht werden, es im Wege der Induktion sichtbar zu machen. Die Gesetzesanalogie wendet auf einen vom möglichen Wortverständnis nicht mehr erfassten Fall ein Prinzip an, das einem einzelnen 181 F. Bydlinski, Rechtstheorie 1985 Heft 1, S. 33, 36; ders., Juristische Methodenlehre (Fußn. 24), S. 473 f.; Th. Mayer-Maly, Rechtswissenschaft4, München/Wien 1988, S. 64 („Der tragende Grund für die analoge Anwendung einer Norm liegt in der Reichweite ihres Prinzips. Fordert das Prinzip einer Norm auch in einem ihrem Tatbestand ähnlichen Fall Beachtung, so ist Analogie geboten. Das Prinzip der anzuwendenden Norm legitimiert und begrenzt die Analogie.“). 182 Dazu S. 1262 f. 183 K. Larenz (Fußn. 13), S. 366, 367 bezeichnet Auslegung, gesetzesimmanente Rechtsfortbildung und gesetzesüberschreitende Rechtsfortbildung zutreffend nur als verschiedene Stufen desselben gedanklichen (teleologischen) Prozesse. – Die Lückenausfüllung ist also kein subjektives Verfahren, das sich nach Art des Art. 1 II des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) vollziehen dürfte. Nach Art. 1 II ZGB hat der Richter nämlich Lücken nach der Regel auszufüllen, die er selbst als Gesetzgeber aufstellen würde. 184 FR 1992, 229 re. Sp.
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Rechtssatz zugrunde liegt, der einen ähnlichen Fall erfasst, daher spricht man auch von Einzelanalogie. Beispiel: Anders als § 16 I Nr. 1 EStG erwähnt § 16 III EStG nicht den Teilbetrieb. Es liegt eine Gesetzeslücke vor. Entsprechend § 16 I Nr. 1 EStG ist auch § 16 III EStG auf den Teilbetrieb anzuwenden. Die Analogie bewirkt, dass an Sachverhalte, die vom gleichen Prinzip erfasst werden, die gleichen Rechtsfolgen geknüpft werden. 185 Die Analogie dient damit der Erfüllung des Gleichheitssatzes (argumentum a simile oder pari). Gesetzliche Fiktionen sind oft gesetzlich angeordnete Analogien. Nach der in Bd. I2, S. 177 ff., 197 ff., 204 begründeten Auffassung besteht im Steuerrecht grds. kein Analogieverbot mit Wirkung ex nunc, anders im Strafrecht. Rückwirkende Analogie löst Vertrauensschutzprobleme aus. 186 Bei verdeckter Gesetzeslücke wird der mögliche Wortsinn teleologisch reduziert. Eventuell muss danach die durch die Reduktion entstehende Lücke ebenfalls durch Analogie wieder geschlossen werden. Rechtsfreie Räume sind für den Gesetzesanwender tabu. Ein Eindringen in sie wäre Rechtsschöpfung contra legem. Übersicht 1 Lücke
ausfüllbar durch Analogie oder Größenschluss
Nichtlücke (rechtsfreier Raum)
nicht ausfüllbar bei Analogieverbot
in keinem Fall ausfüllbar Umkehrschluss erforderlich Verletzung des Gleichheitssatzes möglich
Übersicht 2 Auslegung innerhalb des möglichen Wortsinns ausdehnende oder extensive eineingende oder restriktive
Lückenausfüllung außerhalb des möglichen Wortsinns durch Analogie oder Größenschluss durch teleologische Reduktion (und eventuell Analogie)
185 S. auch BFH BStBl. 1974 II, 295, 297; 1984 II, 221, 223 f. 186 Über Vertrauensschutz bei rückwirkender Analogie J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 567–576; R. Schenke, StuW 2008, 214 f. (4.).
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Rechtsfreie Räume können allerdings auf einem rechtspolitischen Fehler beruhen, 187 als unbefriedigend oder als Verletzung des Rechtsgefühls empfunden werden oder gar den Gleichheitssatz verletzen. Aber auch in solchen Fällen hat der Rechtsanwender keine Korrekturmöglichkeit. In Betracht kommt im Falle des rechtsfreien Raums nicht der Analogieschluss, sondern der Umkehrschluss (argumentum e contrario). Bei Verstößen gegen den Gleichheitssatz (die sich durch verfassungskonforme Auslegung nicht beheben lassen), ist (von Gerichten) das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Übersicht 3 Gesetzeslücke Planwidrige Nichterfassung Antwort fehlt im Gesetzestext Ausfüllung durch Gesetzesfortbildung (praeter legem) ist zulässig, soweit kein Fortbildungsverbot besteht Gesetzesfortbildung besteht in Analogie (Ähnlichkeitsschluss, argumentum a smile) oder Größenschluss Es liegt ein Fehler bei der tatbestandlichen Verfestigung des gesetzgeberischen Plans oder Zweckgedankens vor
Rechtsfreier Raum Planmäßige bzw. nicht planwidrige Nichterfassung Gesetz gibt negative Antwort Eindringen wäre unzulässige Rechtsschöpfung, wäre contra legem Es ist der Unähnlichkeitsschluss (argumentum e contrario) geboten
Es liegt vielleicht ein rechtspolitischer Fehler vor, eventuell ein verstoß gegen den Gleichheitssatz
Hatte der Gesetzgeber keinen Plan, kein Prinzip, herrscht Prinzipienlosigkeit, so liegt Gesetzgebungswillkür vor, damit Verletzung des Gleichheitssatzes. K. Larenz 188 will unter bestimmten Voraussetzungen die Rechtsfortbildung über den Plan des Gesetzgebers hinaus zulassen, nämlich mit 187 Auch der Bundesfinanzhof hebt von der Lücke den rechtspolitischen Fehler ab, „der dann gegeben ist, wenn sich eine gesetzliche Regelung zwar rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig, aber doch nicht – gemessen an der dem Gesetz immanenten Teleologie – als planwidrig unvollständig und ergänzungsbedürftig erweist“ (BFH BStBl. 1972 II, 858, 859; s. auch BFH BStBl. 1974 II, 295, 297; 1982 II, 362, 364). S. auch L. Woerner, FR 1992, 229. 188 (Fußn. 13), S. 333 ff., 413 f; s. auch P. Fischer, StVj 1992, 28 f. Ebenso ist abzulehnen K. Larenz/C. W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 1995, S. 153 f. (s. auch B. Rüthers, Rechtstheorie 2008, RNr. 801: „Die objektiv-teleologische Kriterien von Larenz/Canaris“).
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Einfluss des Rechtsgefühls
Rücksicht auf die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs, mit Rücksicht auf die Natur der Sache, mit Rücksicht auf ein rechtsethisches Prinzip. M. E. ist solch’ freie Rechtsfortbildung mit Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und Rechtssicherheit nicht mehr vereinbar. P. Kirchhof unterscheidet in § 10 seines Bundesgesetzbuchentwurfs nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung durch Lückenausfüllung. Auch über die Grenzen der Auslegung wird nichts gesagt. Ist der Begriff der teleologischen Auslegung so weit zu verstehen, dass er auch die Rechtsfortbildung durch Lückenausfüllung umfasst? In der Begründung des § 10 (RNr. 11) wird allerdings neben der Auslegung die „richterliche Rechtsfortbildung“ erwähnt. Sollen Finanzbehörden bei der Anwendung der Steuergesetze das Recht nicht fortbilden dürfen?
5. Einfluss des Rechtsgefühls Sobald der Rechtsanwender mit einem Fall konfrontiert wird, wird er – noch bevor er Gesetzesvorschriften heranzieht – oft spontan ein erstes Gefühl dafür haben, wie der Fall gerecht zu entscheiden sei. 189 Dieses subjektive, oft auch emotionale Rechtsgefühl muss er jedoch am Gesetz bewähren, indem er die einschlägigen Vorschriften heranzieht und die oben beschriebene Methode der Gesetzesanwendung (s. S. 1588 ff.) anwendet. Indessen pflegt der Gesetzesanwender wiederum bei dem methodisch gefundenen Ergebnis nicht stehen zu bleiben, wenn dieses Ergebnis für sein Rechtsgefühl unbefriedigend ist. 190 Freilich hängt das vom 189 In der Frage, worin das Rechtsgefühl eigentlich bestehe, gehen die Meinungen auseinander. F.-X. Kaufmann meint, das Rechtsgefühl sei nicht angeboren, sondern beruhe auf der Verarbeitung von Informationen und sozialen Erfahrungen im Rechtsalltag (Rechtsgefühl, Verrechtlichung und Wandel des Rechts, in: Das sogenannte Rechtsgefühl, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 10 [1985], 185, 187). H. W. Kruse sieht es so: „Rechtsgefühl ist für die einen die Fähigkeit zu intuitiver Erfassung und richtiger Anwendung dessen, was geltendes Recht ist. Ein gutes ‚Judiz‘ ist eine Mischung aus Intuition und intellektueller Fähigkeit . . . Damit haben wir aber nur eine Erscheinungsform des Rechtsgefühls behandelt. Rechtsgefühl ist nicht nur das Judiz, die Intuition für das, was recht ist, sondern auch der Wunsch und Wille für das, was rechtens sein sollte. In diesem Sinne ist Rechtsgefühl die gefühlsmäßige Neigung zu einem Rechtsideal. Beide Erscheinungsformen gehen ineinander über . . .“ (BB 1985, 1077). Grundlegend dazu M. Bihler, Rechtsgefühl, System und Wertung. Ein Beitrag zur Psychologie der Rechtsgewinnung, 1979. 190 G. Arzt, JA 1978, 557, 558, weist auf eine Wechselwirkung von Dogmatik und Rechtsgefühl hin: „Ein prima vista als gerecht empfundenes Resultat, dessen dogmatisch saubere Begründung Schwierigkeiten macht, stellt sich bei nochmaliger Überprüfung des gefühlsmäßigen Ergebnisses vielleicht nicht mehr als unproblematisch richtig dar. Umgekehrt enthält ein prima vista konstruktiv richtiges Ergebnis, wenn es dem Rechtsgefühl widerstrebt, vielleicht doch einen dogmatischen Konstruktionsfehler.“
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§ 34 Gesetzesauslegung und Lückenausfüllung
Methodenideal des Gesetzesanwenders ab. Wer meint, dem Steuerrecht lägen keinerlei Wertungen zugrunde, das Steuerrecht sei „völlig wertfrei“, „völlig wertneutral“, es habe keine Teleologie, ihm unterlägen keine Sachgesetzlichkeiten, das Leistungsfähigkeitsprinzip zumal sei metajuristische Ideologie, wird sich bevorzugt am Wortlaut orientieren; das Ergebnis seiner Gesetzesanwendung wird ihn „kalt lassen“. Er wird nicht dazu neigen, Lücken im Gesetz zu entdecken, zumal dann nicht, wenn sich mit seinem Positivismus die Neigung paart, die Qualität der Gesetzgebung gehörig zu überschätzen. Die Mehrheit der Gesetzesanwender pflegt das Rechtsgefühl jedoch nicht auszuschalten. Wenn bei der Auslegung nicht selten einmal dieses (z. B. Entstehungsgeschichte), einmal jenes Auslegungsmittel (z. B. System, Kontext) in den Vordergrund geschoben wird und auf diese Weise Begriffe „präpariert“ werden (damit aus ihnen expliziert werden kann, was vorher impliziert worden ist), wenn die Lückenfrage aufgeworfen wird, so erklärt sich das meist aus dem Bemühen, das Entscheidungsergebnis mit dem Rechtsgefühl zu harmonisieren. Dabei geht es dem professionellen Gesetzesanwender nicht um ein subjektives Rechtsgefühl, sondern um intersubjektives Werten. Auch die Berufung auf eine ständige Rechtsprechung, auf Literaturmeinungen oder gar die herrschende Meinung dient dazu, intersubjektives Werten zu demonstrieren. Das Rechtsgefühl (wenn es denn in diesem Falle überhaupt so bezeichnet werden kann), jede Entscheidung müsse möglichst die Staatskasse begünstigen, spielt heute kaum noch eine Rolle. Nur wer meint, im Konflikt Steuerpflichtiger-Fiskus gehe es nur um den Inhalt dieser Beziehung, nicht aber um Steuergerechtigkeit unter den Steuerpflichtigen, wird überhaupt vor der Frage stehen: in dubio pro fisco („Kassenjustiz“) oder in dubio pro libertate? Wer hingegen überzeugt ist, dass es vor allem um die gleiche Belastung von Steuerpflichtigen in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen geht, d. h. aber um die Beziehung zu anderen Steuerpflichtigen, wird der gleichmäßigen Besteuerung (auch erreichbar durch Analogie) i. d. R. erhebliche Bedeutung beimessen, damit vor allem das Verhältnis der Steuerpflichtigen untereinander in Betracht ziehen, 191 aber weder Kassen- noch Klassenjustiz treiben. Gesellschaftspolitische Parteinahme, politischer Aktivismus in schwarzer oder roter Robe ist den Richtern der Finanzgerichtsbarkeit nach meiner Erfahrung schwerlich vorzuwerfen. Leider gibt es auch professionelle Gesetzanwender, deren natürliches Rechtsgefühl durch prinzipienlose, sich ständig ändernde Gesetze so verbildet worden ist, dass man von einem ursprünglichen, unverfälschten Rechtsgefühl nicht mehr sprechen kann. 191 In diesem Sinne auch H. Weber-Grellet, DStR 1991, 444; L. Woerner, FR 1992, 230.
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§ 35 Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise 1. Organschaft . . . . . . . . . . . 1648 .. 2. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Divergenz zwischen wirtschaftlichem Verhalten und juristischem Zustand (§ 41 AO) . . . . . . . 1648 .. 2.1 Erfassung des wirtschaftlichen Ergebnisses unwirksamer Rechtsgeschäfte . . . . . . . . . . . 1649 .. 2.2 Insbesondere: Irrelevanz von Scheingeschäften . . 1655 .. 2.3 Ergänzende, verallgemeinernde Ableitungen . . . . . . . . . . . . . . . 1656 .. 3. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei gesetzwidrigem oder sittenwidrigem Verhalten (§ 40 AO) . . . . . . 1657 .. 4. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Wahl einer unangemessenen, vom Steuergesetzgeber bei der Formulierung des Gesetzestatbestands nicht erfassten Rechtsgestaltung (§ 42 AO) . . . . . . . . . . . . . 1661 .. 4.1 Grundlegung . . . . . . . . 1662 .. 4.11 Unternehmerfreiheit, Steuerumgehung und Steuervermeidung 1662 .. 4.12 Methodische Einordnung der Steuerumgehung . . . . 1664 .. 4.121 Unterschiedliche Meinungen . . . . . 1664 .. 4.122 Stellungnahme. . . 1667 .. 4.123 Die besondere Lückenausfüllungstechnik des § 42 AO . . . . . . . 1670 .. 4.13 § 42 AO ist verfassungsmäßig . . . . . 1672 ..
4.2 Tatbestand der Steuerumgehung . . . . . . . . . . 1674 .. 4.21 Gesetzesanknüpfung an Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts, um einen wirtschaftlichen Sachverhalt zu erfassen . . . . . . . . . . . 1674 .. 4.22 Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts . . . . . . . . 1676 .. 4.221 Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts . . . . . . . . 1676 .. 4.222 Missbrauch . . . . . 1677 .. 4.2221 Unangemessene Gestaltung . . . . . 1677 .. 4.2222 Gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil . . . . . . . 1681 .. 4.223 Missbrauchsabsicht . . . . . . . . 1682 .. 4.224 Umgehung eines Steuergesetzes . . . 1684 .. 4.23 Rechtsfolgen der Steuerumgehung . . . . . . 1685 .. 4.231 Steuerrechtliche Folgen . . . . . . . . 1685 .. 4.232 Strafrechtliche Folgen . . . . . . . . 1686 .. 4.24 Nachweis außersteuerlicher Gründe . . . . . . . . 1686 .. 4.25 Konkurrenzen . . . 1687 .. 4.26 Exkurs in ausländisches Recht . 1689 .. 5. Wirtschaftliche Zurechnung von Wirtschaftsgütern (§ 39 AO) . . . . . . . . . . . . . 1689 ..
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§ 35 Sondervorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Vorbemerkung: Unter wirtschaftlicher Betrachtungsweise wird im Allgemeinen auch die Berücksichtigung des wirtschaftlichen Zwecks bei der Auslegung von Steuergesetzen verstanden. Diese Bezeichnung für den Auslegungsvorgang verdunkelt indessen nur, dass die wirtschaftliche Auslegung ein normaler teleologischer Vorgang ist. 1 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise ist der Reflex der Anknüpfung der Besteuerung an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Sie wirkt der steuersparenden, autonomen Zivilrechtsgestaltung entgegen. Jus civile scriptum est vigilantibus gilt nicht für das Steuerrecht. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise dient der gleichmäßigen Erfassung gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und damit dem Gleichheitssatz. 2 Sie ist eine spezifisch steuerjuristische Betrachtungsweise. P. Kirchhof hat in seinem Entwurf eines Steuergesetzbuches eine (besondere) Vorschrift wie die des § 41 I, II AO nicht aufgenommen. Er hält sie wegen des allgemeinen § 10 Satz 2 des Entwurfs für überflüssig. § 10 Satz 2 lautet: „Der vom Steuerpflichtigen verwirklichte Sachverhalt ist in einer vom Maßstab des Steuergesetzes geprägten Beurteilung zu ermitteln.“ Ein anschaulicher Satz ist das m. E. nicht.
1. Organschaft Soweit das Steuerrecht nicht die juristische Person, sondern die Organschaft zum Steuersubjekt oder zum Quasi-Steuersubjekt erhebt, folgt es der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, nicht der formaljuristischen Gestaltung. Es wertet die „wirtschaftliche Fusion“, die „wirtschaftliche Unternehmenseinheit“ höher als die rechtliche. 3
2. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Divergenz zwischen wirtschaftlichem Verhalten und juristischem Zustand (§ 41 AO) Lässt sich meist auch nicht zwischen Form und Inhalt, zwischen äußerer Hülle und wahrem Gehalt von Rechtsgeschäften unterscheiden, so gibt es doch Rechtsgeschäfte, die faktisch nicht durchgeführt werden. An sie kann das Steuerrecht, das wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, folglich wirtschaftliche Vorgänge oder Zustände erfassen will, nicht anknüpfen; insoweit muss es das wirtschaftliche „Ist“ zur
1 Dazu S. 1629 ff. 2 In diesem Sinne auch R. Herzog, StbJb. 1985/86, 44 f. 3 Dazu H. Montag, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht21, 2013, § 14 Rz. 1.
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Divergenz zwischen wirtschaftl. Verhalten und juristischem Zustand
Basis nehmen. Andererseits gibt es unwirksame Rechtsgeschäfte, die trotz ihrer Unwirksamkeit faktisch durchgeführt werden. 2.1 Erfassung des wirtschaftlichen Ergebnisses unwirksamer Rechtsgeschäfte Literatur Kommentare zu § 41 AO; J. Kratz, Unwirksame Rechtsgeschäfte im Steuerrecht und in der Steuerbilanz, VJSchrStFR 1932, 841 ff.; M. Beker, Hinfällige Rechtsgeschäfte im Steuerrecht, 1969; G. D. Lauer, Die Korrekturvorschrift des § 175 I 1 Nr. 2 AO, 1984; J. Schulze-Osterloh, Zivilrecht und Steuerrecht, AcP Bd. 190 (1990), 139 ff.
a) Unwirksame, insbesondere nichtige Rechtsgeschäfte lösen gleichwohl steuerliche Folgen aus, soweit und solange die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis des unwirksamen Rechtsgeschäfts trotz der Unwirksamkeit eintreten und bestehen lassen (§ 41 AO), das Rechtsgeschäft also faktisch durchführen. Die faktische Durchführung des unwirksamen Rechtsgeschäfts beeinflusst nämlich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der am Rechtsgeschäft Beteiligten. 4 Vor Inkrafttreten der Reichsabgabenordnung von 1919 hatte das preußische Oberverwaltungsgericht in Gewerbe- und Einkommensteuersachen 20 Jahre lang entschieden, dass die zivilrechtliche Gültigkeit Voraussetzung für das Auslösen steuerlicher Folgen sei. Den gleichen Standpunkt hatte in Verkehrsteuersachen vor 1918 das Reichsgericht, dann bis zum Inkrafttreten der Reichsabgabenordnung von 1919 der Reichsfinanzhof eingenommen. Diesen Rechtszustand hat die Abgabenordnung beendet.
„Unter einem ‚Rechtsgeschäft‘ versteht das BGB eine Handlung – oder auch eine Mehrzahl zusammenhängender Handlungen – sei es einer, sei es mehrerer Personen –, deren Zweck es ist, eine privatrechtliche Rechtsfolge, also eine Änderung in den rechtlichen Beziehungen Einzelner, herbeizuführen. Mittels des Rechtsgeschäfts gestalten die Einzelnen ihre rechtlichen Beziehungen zu anderen selbst – das Rechtsgeschäft ist das Mittel zur Verwirklichung der vom BGB grundsätzlich vorausgesetzten ‚Privatautonomie‘ . . . Das Rechtsgeschäft ist also in den Regelfällen, von denen auszugehen ist, ein finaler, auf die Herbeiführung eines bestimmten Rechtserfolgs zweckhaft gerichteter Akt.“ 5 Die Handlung, durch die sich der Wille, einen bestimmten Rechtserfolg herbeizuführen, manifestiert, nennt man Willenserklärung.
4 BFH BStBl. 2000 II, 588, 590; 2004 II, 651, 653; 2005 II, 46, 49. 5 So wörtlich K. Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts. Ein Lehrbuch7, München 1989, § 18 I (S. 314); s. auch H. Hübner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1985, §§ 30, 31.
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Es lassen sich unterscheiden: – einseitige Rechtsgeschäfte und mehrseitige Rechtsgeschäfte (insbesondere Verträge), – schuldrechtliche, sachenrechtliche, familienrechtliche und erbrechtliche Rechtsgeschäfte, – Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäfte, – formfreie und formbedürftige Rechtsgeschäfte. 6 § 41 I AO spricht von „unwirksamen“ Rechtsgeschäften. Unwirksamkeit ist der Oberbegriff für Nichtigkeit, relative Unwirksamkeit, schwebende Unwirksamkeit und sonstige Unwirksamkeit. 7 Ein Rechtsgeschäft ist wirksam, wenn es auf fehlerlos zustande gekommenen und richtig abgegebenen Willenserklärungen beruht, wenn die am Rechtsgeschäft Beteiligten geschäftsfähig sind und wenn es nicht gegen gesetzliche Gebote/Verbote oder gegen die guten Sitten verstößt. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, so ist das Rechtsgeschäft von Anfang an unwirksam. Eine wesentliche Rolle spielt im Steuerrecht die Formnichtigkeit. § 125 BGB schreibt vor: „Ein Rechtsgeschäft, welches der durch Gesetz vorgeschriebenen Form ermangelt, ist nichtig. Der Mangel der durch Rechtsgeschäft bestimmten Form hat im Zweifel gleichfalls Nichtigkeit zur Folge.“ Die Tragweite rechtsgeschäftlicher Formvorschriften ist jedoch durch Auslegung (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln. Dient eine Formvorschrift lediglich der Beweissicherung oder Klarstellung, ist das Rechtsgeschäft trotz Verstoßes gegen die Vorschrift wirksam. 8 Bei vollzogenen Gesellschafts- und Arbeitsverträgen wirkt die Geltendmachung der Formnichtigkeit nur ex nunc. Werden die Formvorschriften der §§ 566, 1154 BGB verletzt, tritt keine Nichtigkeit ein. In den Fällen der §§ 313, 518, 766, 2310 BGB, § 15 IV GmbHG wird der Formmangel durch Erfüllung geheilt. Inhaltlich können die Parteien insbesondere im Sachen-, Familienund Erbrecht nur zwischen bestimmten Geschäftstypen wählen. Im Schuldrecht hingegen besteht grundsätzlich Typenfreiheit. Die Privatautonomie des Zivilrechts wird jedoch begrenzt durch gesetzliche Verbote und durch das Gebot der Beachtung der „guten Sitten“. § 134 BGB bestimmt: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein ande6 Zu den Arten der Rechtsgeschäfte näher K. Larenz (Fußn. 5), § 18 II (S. 318 ff.); H. Hübner, (Fußn. 5), § 31. 7 Einzelheiten bei H. Hübner (Fußn. 5); § 39; Tipke/Kruse, AO/FGO, § 41 (Loseblatt Lfg. 116) Tz. 14 ff. mit Nachweis von Einzelfällen aus der Rechtsprechung der Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit. 8 Dazu näher K. Larenz, (Fußn. 5), § 21 I; H. Hübner (Fußn. 5) § 37 IV.
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res ergibt.“ Die Vorschrift mag auf den ersten Blick klar erscheinen; sie ist es aber nicht. Was ist ein Verbot, ein verbotswidriges Geschäft? Es empfiehlt sich auf jeden Fall, die einschlägigen bürgerlich-rechtlichen Lehrbücher 9 und Kommentare zu Rate zu ziehen, wenn es steuerrechtlich darauf ankommt. Wirkliche Verbotsnormen nimmt man jedenfalls an, wenn das Gesetz an die Vornahme eines bestimmten Rechtsgeschäfts eine Strafe (etwa wegen Hehlerei oder Bestechung) oder eine Schadensersatzpflicht anknüpft. Für die Besteuerung ist jede Art von Unwirksamkeit unerheblich, soweit und solange die am Rechtsgeschäft Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis des Rechtsgeschäfts gleichwohl eintreten und bestehen lassen (§ 41 I 1 AO). Daher ist es z. B. unerheblich, ob ein Testament, ein Vermächtnis, ein Grundstückskaufvertrag, ein Arbeitsvertrag, ein Schenkungsversprechen unwirksam ist; es kommt auf die tatsächliche (wirtschaftliche) Durchführung an. Allerdings ist § 41 I 1 AO nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nicht anwendbar auf Verträge zwischen Familienangehörigen und sonst einander nahestehenden Personen. Bei derartigen Verträgen verlangt der Bundesfinanzhof, dass die privatrechtlichen Formvorschriften erfüllt sind; auch spätere Genehmigung erkennt der Gerichtshof nicht an. Es genügt ihm also nicht, dass die einander nahestehenden Parteien das wirtschaftliche Ergebnis des Vertrages eintreten und bestehen lassen. 10 Diese Rechtsprechung ist überwiegend kritisiert worden. 11 Richtig ist: Auch wenn Familienangehörige Leistungen gewähren oder austauschen, kann diesen Leistungen tatsächlich eine causa zugrunde liegen, die der durch den nicht formgültigen Vertrag vorgespiegelten nicht entspricht. Jedoch kann aus der bloßen Verletzung von Formvorschriften nicht geschlossen werden, der Vertrag sei ein Scheingeschäft oder er sei nicht wirklich durchgeführt worden. Allenfalls kann die Formverletzung ein Indiz für ein Scheingeschäft oder für ein nicht durchgeführtes Geschäft sein. 12
9 K. Larenz (Fußn. 5), § 22 II; H. Hübner (Fußn. 5), § 38 A. 10 Rechtsprechungsnachweise dazu bei Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 41, AO Tz. 14, 15. Hinweis besonders BFH BStBl. 2000, 386; 2002, 674; 2004, 826 m. w. N. BFH BStBl. 2007, 294, 295 nimmt an: Unwirksamkeit des zivilrechtlichen Vertrages hat nur indizielle Bedeutung. 11 H. W. Kruse, JbFSt. 1977/78, 82 und ÖStZ 1977, 174; D. Rönitz, FR 1977, 512; F. Wassermeyer, StuW 1979, 216; E.-G. Dornbach, FR 1979, 389; K. Tiedtke, FR 1980, 421 und DStR 1988, 64; H. Beul/C.-R. Beul, DStR 1985, 13; L. Meyer-Arndt, StBJb. 1987/88, 166, 176 ff. m. w. N.; B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, S. 507 ff.; D. Birk, Steuerrecht13, 2010, RNrn. 337 ff., 335; s. jetzt auch BFH BStBl. 2007, 294, 295. 12 So auch H. G. Ruppe, DStJG Bd. 1 (1978/79), 12; Tipke/Kruse, AO/FGO (Loseblatt Lfg. 115), § 41 AO Tz. 28 ff., s. auch W. Doralt/H. G. Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts II5, Wien 2006, RNr. 438.
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Zutreffend führt H. G. Ruppe dazu aus: „Lassen Vertragspartner die wirtschaftlichen Effekte eines nichtigen (z. B. formungültigen) Rechtsgeschäftes eintreten, so kann es keinen Unterschied machen, ob es sich um ein Geschäft zwischen Fremden oder Familienangehörigen handelt. Die Rechtsprechung verändert den einkommensteuerlichen Tatbestand für Angehörige, wenn nicht nur die Erfüllung der vom EStG vorgeschriebenen Tatbestandsmerkmale, sondern darüber hinaus eine zivilrechtliche Gültigkeit des zugrundeliegenden Geschäfts verlangt wird. Der richtige Kern der Rechtsprechung liegt auf dem Beweissektor. Die Einhaltung von Formvorschriften und dergleichen kann im Einzelfall ein Glied in der Beweiskette sein, das schließlich das Bild der Tatbestandsverwirklichung vermittelt. Der Stellenwert dieses Beweismittels ist allerdings nicht allzu hoch einzuschätzen. Auf Einhaltung von Formvorschriften werden gut beratene Parteien gerade dann achten, wenn das Geschäft nicht ernstlich gewollt ist . . . – Einzuräumen ist ferner, dass die Unwirksamkeit eines Rechtsgeschäftes Einfluss auf die rechtliche und damit auf die wirtschaftliche Position der Beteiligten haben kann. Insofern kann sie in seltenen Fällen dazu führen, dass eine Tatbestandsverwirklichung nicht angenommen werden kann. Dies ist aber keine Besonderheit bei Angehörigenvereinbarungen, sondern gilt auch zwischen Fremden. Auch bei Familienverträgen kommt der Einhaltung von Formvorschriften somit letztlich nur Indizwirkung zu (Ruppe, DStJG 1 [1978], S. 12).“ 13
§ 41 I 1 AO ist nicht anwendbar, soweit sich aus den Steuergesetzen etwas anderes ergibt (§ 41 I 2 AO). b) Für die Besteuerung ist es auch unerheblich, wenn ein Rechtsgeschäft (s. oben a) nachträglich unwirksam wird, soweit und solange die Beteiligten am Rechtsgeschäft das wirtschaftliche Ergebnis dieses Rechtsgeschäfts bestehen lassen. Ein Rechtsgeschäft wird insbesondere unwirksam durch Anfechtung wegen Irrtums (z. B. §§ 119, 120 BGB) oder wegen Täuschung oder Drohung (§§ 123, 2078 II BGB), durch Eintritt einer auflösenden Bedingung (§ 158 II BGB) und durch Wegfall der Geschäftsgrundlage. 14 Das sind Fälle, die § 175 Satz 1 Nr. 2 AO als „Ereignisse mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit“ bezeichnet. Ob Steuerklauseln (insbesondere Satzungsklauseln) 15 echte auflösende Bedingungen mit vereinbarter Rückwirkung oder unechte Gegenwartsbedingungen enthalten, ist unter dem Aspekt des § 41 I 1 AO unerheblich. Im Falle der auflösenden Bedingung wird das Rechts-
13 In: HHR, Einf. ESt RNr. 459. S. auch schon H. G. Ruppe, in: ders. (Hrsg.), Familienverträge und Individualbesteuerung, Wien 1976, S. 87 ff. 14 Dazu K. Larenz (Fußn. 5), § 20 II-IV, § 23 V, § 25 IV; H. Hübner (Fußn. 5), § 36, § 39 II, § 41 I; G. D. Lauer, Die Korrekturvorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Abgabenordnung, Diss. Köln 1984, S. 65 ff. 15 Dazu m. w. N. G. D. Lauer (Fußn. 14), S. 65 ff.
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geschäft unwirksam, im Falle der unechten Gegenwartsbedingung ist es von Anfang an unwirksam. Beide Fälle erfasst § 41 I 1 AO. 16 § 41 I 1 AO ist eine steuerschuldrechtliche Vorschrift. Sie regelt die Frage der Erheblichkeit unwirksamer oder unwirksam gewordener Rechtsgeschäfte „für die Besteuerung“, d. h. für die Steuerschuld. Aus § 41 I 1 AO lässt sich der Umkehrschluss ziehen: Ist ein Rechtsgeschäft unwirksam oder wird es unwirksam, so ist das für die Steuerschuld erheblich, wenn und soweit die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis des Rechtsgeschäfts gar nicht erst eintreten lassen oder wenn und soweit sie es wieder beseitigen; denn auf das wirtschaftliche „Ist“ kommt es an. Wird wirtschaftlich etwas bewegt, ist das auch steuerrechtlich zu berücksichtigen. Wird wirtschaftlich nichts bewegt, so bleibt auch steuerrechtlich alles „beim alten“. Zum Anwendungsbereich: § 41 I 2 AO bestimmt: „Dies gilt nicht, soweit sich aus den Steuergesetzen etwas anderes ergibt.“ Das soll doch wohl heißen: Die Rechtsfolge des § 41 I 1 AO tritt nicht ein, wenn in einem Einzelsteuergesetz etwas anderes angeordnet ist. Vorschriften, die ausdrücklich anordnen, § 41 I 1 AO gelte nicht, existieren – soweit ersichtlich – nicht. § 41 I 1 AO bezieht sich grundsätzlich auf alle Arten von Steuergesetzen, auch auf Steuergesetze, die unmittelbar an Rechtsgeschäfte anknüpfen, wie die (besonderen) Verkehrsteuergesetze, sowie auf Steuergesetze, die mittelbar von Rechtsgeschäften beeinflusst werden. So wird Einkommen normalerweise auf der Grundlage von zweiseitigen Rechtsgeschäften erzielt. Die Verlagerung von Einkünften pflegt mit Hilfe von Rechtsgeschäften zu geschehen. Umsätzen pflegen ebenfalls zweiseitige Rechtsgeschäfte zugrunde zu liegen. Auch § 41 I 1 AO lässt sich nichts darüber entnehmen, dass die Vorschrift sich nur auf Steuern beziehe, die unmittelbar an Rechtsgeschäfte anknüpfen; es lässt sich auch nicht eruieren, dass § 41 I 1 AO eine solche Einschränkung bezweckte, ohne es zum Ausdruck zu bringen. 17 Wie bereits erwähnt, gilt § 41 I 1 AO nicht, wenn die Steuer ausnahmsweise an das wirksame zivilrechtliche Rechtsgeschäft anknüpfen will, nicht an die wirtschaftlichen Folgen eines (unwirksamen oder unwirksam gewordenen) Rechtsgeschäfts. Die Bilanzvorschriften tragen auf ihre Weise der wirtschaftlichen Betrachtungsweise bereits Rechnung. Das Bilanzrecht erfasst Veränderungen nur im Geschäftsjahr der Veränderung, lässt aber bei rückwirkenden Ereignissen keine Bilanzberichtigung oder -änderung zu. 18 16 So auch Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 41 AO Tz. 49 ff. 17 Ebenso Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 41 AO Tz. 8. 18 G. D. Lauer, a. a. O. (Fußn. 14), S. 37 ff.; Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 41 AO Tz. 10.
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Die Gewinnermittlung nach § 4 III EStG und die Überschussrechnung nach §§ 8, 9 EStG erfassen Zuflüsse und Abflüsse von wirtschaftlichen Werten (§ 11 EStG). Die Frage, ob diese Zuflüsse auf wirksamen oder nicht wirksamen Rechtsgeschäften beruhen, spielt keine Rolle. 19 § 41 I 1 AO ist daher nicht heranzuziehen. Mehrere Einzelvorschriften der Steuergesetze regeln die Folgen des nachträglichen Unwirksamwerdens von Rechtsgeschäften auf spezielle Weise, so §§ 5, 7 BewG, § 17 UStG, § 16 GrEStG, § 9 VersStG. Ist ein Rechtsgeschäft von vornherein unwirksam oder wird es noch vor dem Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld unwirksam, so wirkt sich das sofort auf die Steuerschuld aus, wenn die am Rechtsgeschäft Beteiligten das Rechtsgeschäft wirtschaftlich nicht durchführen. § 41 I 1 AO sagt nichts darüber, wie es sich verhält, wenn die Steuerschuld zwar bereits entstanden ist (s. etwa § 36 I EStG; § 48 c KStG; § 18 GewStG), dann aber ein für diese Steuerschuld relevantes Rechtsgeschäft nachträglich, d. h. nach der gesetzlichen Entstehung der Steuerschuld unwirksam wird – etwa aufgrund Anfechtung. Insoweit liegt m. E. eine Lücke im Gesetz vor. Nach § 38 AO entstehen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Bei periodischen Steuern kommt es grundsätzlich auf den Tatbestand an, der im Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld (s. etwa § 36 I EStG, § 48 c KStG; § 18 GewStG) verwirklicht ist. Danach können aber Ereignisse eintreten, die steuerliche Wirkung für die Vergangenheit haben, wie § 175 I 1 Nr. 2 AO will insbesondere die Fälle der Anfechtung, des Eintritts einer auflösenden Bedingung und des Wegfalls der Geschäftsgrundlage erfassen. § 175 I 1 Nr. 2 AO setzt als Verfahrensvorschrift (Korrekturvorschrift) eine Änderung des materiellen Rechts, des Steueranspruchs (der Steuerschuld), voraus. Er geht stillschweigend von einer Änderung der Steuerschuld aus, die durch „Ereignisse mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit“ ausgelöst werden. Damit knüpft § 175 I 1 Nr. 2 AO aber an eine steuerschuldrechtliche Lücke an. Die Lücke kann durch Ergänzung des § 38 AO oder des § 41 AO ausgefüllt werden. Dem § 38 AO könnte zur Lückenschließung folgender Satz hinzugefügt werden: „Die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ändern sich rückwirkend, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat.“ Oder: Es könnte § 41 AO wie folgt ergänzt werden: „Wird ein Rechtsgeschäft nach der Entstehung der Steuerschuld unwirksam, so ändert sich die Steuerschuld, wenn die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis dieses Rechtsgeschäfts nicht eintreten oder bestehen lassen.“ 19 G. D. Lauer (Fußn. 14), S. 35 ff.
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Divergenz zwischen wirtschaftl. Verhalten und juristischem Zustand
Die Dogmatik des Steuerschuldrechts ist insoweit unausgegoren. § 37 II 2 AO operiert mit einem Erstattungsanspruch. Was ist aber, wenn die Steuerschuld sich erhöht, etwa wenn durch Unwirksamwerden eines Rechtsgeschäfts eine Steuerbefreiung oder sonstige Steuervergünstigung wegfällt oder eingeschränkt wird? Der Steuerpflichtige hat auch gesetzliche Gestaltungsrechte, die er noch nach Entstehung der Steuerschuld ausüben kann. Wird ein Rechtsgeschäft – mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit – unwirksam, nachdem die Steuer bereits festgesetzt worden ist, so ist die Steuerfestsetzung nach § 175 I 1 Nr. 2 AO aufzuheben oder zu ändern. 2.2 Insbesondere: Irrelevanz von Scheingeschäften Da Scheingeschäfte (und Scheinhandlungen) keine wirtschaftlichen Effekte auslösen, Scheingeschäfte nicht durchgeführt werden, sind sie steuerrechtlich unerheblich (§ 41 II 1 AO). 20 Wird durch ein Scheingeschäft ein anderes Rechtsgeschäft verdeckt, so ist das verdeckte Rechtsgeschäft für die Besteuerung maßgebend (§ 41 II 2 AO). Das entspricht freilich auch dem bürgerlichen Recht, wonach Scheingeschäfte nichtig sind (§ 117 I BGB); auch das bürgerliche Recht will es eben nicht mit bloßen Hüllen zu tun haben. Ein Scheingeschäft liegt vor, wenn sich die Beteiligten eines Rechtsgeschäfts – Erklärender und Erklärungsempfänger – darüber einig sind, dass das Erklärte nicht gelten soll, wenn also die Beteiligten „einverständlich nur den äußeren Schein des Abschlusses eines Rechtsgeschäfts hervorrufen, dagegen die mit dem betreffenden Rechtsgeschäft verbundene Rechtswirkung oder Rechtsfolge nicht eintreten lassen wollen“. 21 Oft wird mit dem Scheingeschäft die Täuschung eines Dritten, nicht selten die des Finanzamts, bezweckt. 22 Ein Rechtsgeschäft ist nicht deshalb Scheingeschäft, weil eine atypische Rechtsform gewählt worden oder weil das Rechtsgeschäft nicht formgerecht abgeschlossen worden ist. Der Formmangel ist allenfalls ein Indiz für ein Scheingeschäft.
20 Dazu H. Hahn, Das Scheingeschäft im steuerrechtlichen Sinne. Zur Dogmatik des § 41 II AO, DStZ 2000, 433 ff.; B. Heuermann, Simulation im Steuer- und Zivilrecht, DB 2007, 416. 21 BGHZ 36, 84, 87; J. Schulze-Osterloh, AcP Bd. 190 (1990), 147 f. m. w. N. 22 Dazu S. Trüter, Steuerlich motivierte Scheingeschäfte. Ihre Behandlung im Zivilrecht, Diss. Hamburg 1987; s. auch J. Schulze-Osterloh, AcP Bd. 190 (1990), 139 ff.
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§ 35 Sondervorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Kein nach § 117 BGB nichtiges Rechtsgeschäft wird angenommen, wenn die Beteiligten den Eintritt der Rechtsfolge wohl wollen, nicht aber den damit regelmäßig verbundenen wirtschaftlichen Erfolg. 23 Nicht selten dient das Scheingeschäft dazu, ein anderes – ernsthaft gewolltes – Rechtsgeschäft zu verdecken. In solchen Fällen sind die für das verdeckte Rechtsgeschäft geltenden Vorschriften anzuwenden, zivilrechtlich (§ 117 II 2 BGB) und steuerrechtlich (§ 41 II 2 AO). Von den Rechtsfolgen, auf die das Scheingeschäft abstellt, sind die wirtschaftlichen Folgen zu unterscheiden, ist die wirtschaftliche oder tatsächliche Durchführung des Rechtsgeschäfts abzuheben. Da es im Steuerrecht i. d. R. auf die wirtschaftliche Durchführung ankommt, ist § 41 II AO in Wirklichkeit wenig hilfreich. Das Abstellen auf das Scheingeschäft trifft i. d. R. nicht die steuerrechtliche Sachlage; denn im Steuerrecht pflegt es nicht um den Gegensatz zwischen scheinbarem und ernsthaftem Rechtsgeschäftswillen zu gehen, sondern um den Gegensatz zwischen vorgespiegeltem und wirtschaftlichem Ergebnis. 24 § 41 II 1 AO ist auch wegen § 41 I 1 AO überflüssig. § 41 I AO und § 41 II AO ließen sich wie folgt zusammenfassen: Fallen Rechtsgeschäft und wirtschaftliche Durchführung des Rechtsgeschäfts auseinander, so kommt es auf das wirtschaftlich Durchgeführte an. – Das entspricht dem angloamerikanischen Grundsatz „substance over form“. 2.3 Ergänzende, verallgemeinernde Ableitungen §§ 39 II Nr. 1; 41; 42 AO enthalten eine lückenhafte Durchführung des Prinzips, dass es unter dem Aspekt der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auf die Erfassung des wirtschaftlichen oder des sonstigen tatsächlichen Verhaltens ankommt, nicht auf die Rechtsform als solche. Denkt man dieses lückenhaft ausgeführte
23 K. Larenz (Fußn. 5), § 20 I; s. auch H. Hübner (Fußn. 5), § 36 A II. 24 Zutreffend bemerkt W. R. Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, S. 229: „Aber die für § 117 BGB entwickelte Dogmatik passt auf das Steuerrecht, das an einen gegebenen Erfolgstatbestand anknüpft, nicht. Der Sachverhalt, das geschäftliche Ergebnis, wird nicht daraufhin rekonstruiert, ob sich in ihm privatautonome Selbstbestimmung realisiert hat oder ob zwischen ihr und dem Erklärten eine Diskrepanz besteht. Das geschäftliche Ergebnis muss vielmehr daraufhin geprüft werden, ob sich in ihm der tatbestandliche Erfolg, den das Steuergesetz meint und an das es die Rechtsfolge der Steuerpflicht knüpft, hergestellt hat . . . Eine sich am ‚wirklich Gewollten‘ orientierende Dogmatik verfehlt das spezifisch Steuerrechtliche, wo es statt dessen darauf ankäme, eine Dogmatik steuertatbestandlicher Erfolge zur Erfassung sachverhaltlich vorgefundener Geschäftsergebnisse zu entwickeln“ (s. auch a. a. O. S. 247).
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Gesetzwidriges oder sittenwidriges Verhalten
Prinzip verallgemeinernd weiter, so ergeben sich auch folgende Ableitungen: (1) Ist ein Rechtsgeschäft zwar wirksam, wird es aber nicht tatsächlich durchgeführt, so ist es steuerrechtlich irrelevant. Fallen Vereinbarung und Durchführung auseinander, so kommt es auf das Durchgeführte an. (2) Da es auf das wirtschaftliche „Ist“, auf das tatsächlich Durchgeführte ankommt, sind steuerrechtlich unerheblich – die Rückdatierung von Verträgen (= Einsetzen eines falschen Datums, was den Tag des Vertragsabschlusses betrifft); – die Rückbeziehung von Verträgen (= Inkraftsetzen mit Rückwirkung). In der Zeit zwischen dem Tage des Vertragsabschlusses und dem angegebenen falschen Datum bzw. dem Datum des vereinbarten rückwirkenden Inkrafttretens fehlt es an der Durchführung des Vereinbarten. Rechtsgeschäfte können nicht rückwirkend durchgeführt werden.
3. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei gesetzwidrigem oder sittenwidrigem Verhalten (§ 40 AO) Literatur J. Popitz, Die Ideale im Recht und das Steuerrecht, AöR Bd. 40 (1921), 129 ff.; W. Salpeter, Verbotene und unsittliche Geschäfte im Steuerrecht, Diss. Halle 1934; R. Claßen, Besteuerung des Unrechts. Das Wirklichkeitsprinzip des § 40 AO im Lichte der Einheit der Rechtsordnung, Diss. Bonn 1981; W. Kroll, Die Behandlung illegalen Einkommens im Einkommensteuerrecht der USA, StuW 1984, 260 ff.; H. Vogel, Wertungsdivergenzen zwischen Steuerrecht, Zivilrecht und Strafrecht, NJW 1985, 2986 ff. Weitere Nachweise in Tipke/Kruse, AO/ FGO (Lfg. 115), zu § 40 AO.
Nach § 40 AO ist es für die Besteuerung unerheblich, ob ein Verhalten, das den Tatbestand eines Steuergesetzes ganz oder zum Teil erfüllt, gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt. Nach § 134 BGB sind Rechtsgeschäfte, die gegen ein gesetzliches Verbot – insbesondere gegen Strafgesetze – verstoßen, nichtig, wenn sich aus dem Gesetz nichts anderes ergibt. Nach § 138 BGB sind Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstoßen, nichtig. Nichtige Rechtsgeschäfte sind unwirksame Rechtsgeschäfte i. S. des § 41 I 1 AO. Werden solche Rechtsgeschäfte wirtschaftlich durchgeführt, so ist ihre Unwirksamkeit nach § 41 I 1 AO jedoch unerheblich. 25
25 Dazu näher R. Claßen, Besteuerung des Unrechts, Diss. Bonn 1981, S. 21 ff.
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§ 35 Sondervorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
§ 40 AO schneidet den Einwand ab, § 41 I 1 AO gelte nicht für solche unwirksamen Rechtsgeschäfte, die wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot oder gegen die guten Sitten nichtig sind, da in der Besteuerung solcher Geschäfte eine „Beteiligung“ des Staates an gesetz- oder sittenwidrigen Geschäften, zugleich eine Legalisierung solcher Geschäfte zu erblicken sei. 26 § 40 AO wäre daher besser an § 41 I, II AO angeschlossen worden. § 40 AO will nicht zum Ausdruck bringen, dass das Steuerrecht wertfrei sei. Das Steuerrecht ist nicht wertfrei. 27 Das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, das der Besteuerung weithin zugrunde liegt, ist ein wertendes Prinzip. Würde der Zuwachs an Leistungsfähigkeit nicht berücksichtigt, wenn dieser Zuwachs auf gesetz- oder sittenwidrigen Geschäften beruht, würde illegales oder unsittliches Verhalten vor legalem, anständigem Verhalten begünstigt, prämiert. Ein Wertungswiderspruch zum Zivil- oder Strafrecht ist in § 40 AO nicht zu erblicken. § 40 AO fällt weder dem Zivilrecht noch dem Strafrecht in den Arm. Er lässt die Rechtsfolgen des Zivilrechts und des Strafrechts unberührt. Er unterstützt die Rechtsordnung durch die Steuerbelastung. Das Steuerrecht würde das Unrecht, den Verstoß gegen die guten Sitten begünstigen und ermutigen, wenn illegal oder sittenwidrig erzieltes Einkommen oder Vermögen unbesteuert bliebe. 28 Darin aber würde ein nicht zu rechtfertigender Wertungswiderspruch zum Nicht-Steuerrecht liegen. 29 P. Kirchhof ersetzt in seinem Entwurf eines Steuergesetzbuches den speziellen § 40 AO durch § 10 Satz 2 des Entwurfs. Die Frage ist nur: Ist § 10 Satz 2 des Entwurfs auch auf Steuervergünstigungen anzuwenden, zumal wenn der Vergünstigungstatbestand durch gesetz- oder sittenwidriges Verhalten erfüllt wird. Ethikfreie Positivisten mögen daran keinen Anstoß nehmen, der Verfasser schon. Ist es nicht auch zu eng, dass § 10 des Entwurfs nur von Steuerpflichtigen spricht. P. Kirchhof dürfte erwidern, dass sein Entwurf keine Steuervergünstigungen (Steuersubventionen) enthalte. Abweichend vom geltenden 26 Diesen Einwand erhoben tatsächlich E. Pfeiffer, Die Staatseinnahmen, 1. Bd. 1866, S. 87; O. Bühler/G. Strickrodt, Steuerrecht I3, 1960, S. 181; s. dazu auch Th. Würtenberger, FR 1966, 20; R. Voss, FR 1967, 361; J. Markus, FR 1970, 149. – S. auch die historischen Vorbemerkungen von R. Claßen, Besteuerung des Unrechts, Diss. Bonn 1981, S. 5–20 (dort ist auch die Entwicklung der Rechtsprechung dargestellt; s. insbesondere RGSt 37, 74, 75; 39, 186, 189; 39, 269, 271 f.; 45, 97, 103; 46, 237, 240; andererseits RFHE 3, 173; 5, 228, 231; 8, 100; RFH RStBl. 1929, 474 f.). 27 S. auch W. R. Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, S. 202 ff. (S. 205: „Man kann allen diesen Fällen nur dadurch gerecht werden, dass man das Postulat einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung als Rechtsprinzip begreift, das rechtliche, gerechtigkeitsbezogene Wertung nicht ausschließt, sondern voraussetzt.“). 28 So auch W. R. Walz (Fußn. 27), S. 202 ff.; Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 40 AO Tz. 1 ff. 29 G. Heuer, FR 1963, 3, 2; W. R. Walz (Fußn. 27), S. 202 ff.
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Gesetzwidriges oder sittenwidriges Verhalten Einkommensteuergesetz kennt der Kirchhof-Entwurf keine Abzugsverbote, etwa für Schmiergelder, Geldstrafen und -bußen.
§ 40 AO ist m. E. nicht anwendbar auf Steuervergünstigungen (Sozialzwecknormen). Zwar ist es richtig, dass § 40 AO allgemein von „Besteuerung“ spricht und dass auch Steuervergünstigen mit der „Besteuerung“ zu tun haben. Nur muss der Wortlaut des § 40 AO insoweit teleologisch reduziert werden. Als der Vorläufer des § 40 AO, § 5 II StAnpG, erlassen wurde, spielten Sozialzwecknormen im Steuerrecht noch nicht die große Rolle, die sie in der Gegenwart einnehmen. Vor allem war die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Fiskalzwecknormen und Sozialzwecknormen (insbesondere Steuervergünstigungen) dogmatisch nicht nur noch nicht bewältigt, sie war noch nicht einmal dem Grunde nach erkannt. Steuervergünstigungen sind Subventionen oder Prämien. Könnte man sich aber ein Gesetz über (offene) Subventionen oder ein Prämiengesetz vorstellen, dass die Vorschrift enthielte: „Die Subvention (oder Prämie) wird auch gewährt, wenn das Verhalten, das den Subventionstatbestand (Prämientatbestand) erfüllt, gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt?“ Eine solche Vorschrift würde gesetzoder sittenwidriges Verhalten belohnen (prämieren, stimulieren) und wäre selbst sittenwidrig. § 40 AO ist deshalb tragbar und geboten, weil eine Steuerbelastung eben nicht prämiert oder stimuliert. Hätte der Gesetzgeber das Problem bedacht, hätte er wohl kaum eine Vorschrift aufgenommen, die lautet: „Für die Gewährung einer Steuervergünstigung ist es unerheblich, ob ein Verhalten, das den Tatbestand der Steuervergünstigung erfüllt, gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt.“ Steuervergünstigungen und (offene) Subventionen wollen Gemeinwohlverhalten fördern oder prämieren, nicht asoziales, sittenwidriges oder gar strafbares Verhalten belohnen. BFH BStBl. 1990 II, 251 hat allerdings – zu einer Kraftfahrzeugsteuerbefreiung – anders entschieden, und zwar unter Berufung auf AO-Kommentare, die die Unterscheidung Fiskalzwecknormen/Sozial-zwecknormen noch nicht zu machen pflegen. Ob das Urteil mit anderer Begründung nicht doch zu halten gewesen wäre, ist eine andere Frage.
§ 40 AO begründet keinen selbständigen Steuertatbestand. Auch gesetz- oder sittenwidriges Verhalten darf nur besteuert werden, wenn es den Tatbestand eines Steuergesetzes erfüllt, etwa den einer Einkunftsart des Einkommensteuergesetzes. Beispiele: Einkommensteuerpflicht auch, wenn Einkünfte erzielt werden durch Diebstahl, Schmuggel, Erpressung, Korruption 30, Hehlerei, Geld30 Dazu H. G. Ruppe, Korruption und Steuerrecht, in: Korruption und Kontrolle, Graz 1981, S. 593 ff.; ders., Unerlaubte Provisionen, Zuwendungen und Vorteile in steuerrechtlicher Sicht, in: Krejci/Ruppe/Schick, Unerlaubte Provisionen, Zuwendungen und Vorteile im Straf-, Privat- und Steuer-
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§ 35 Sondervorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise wäscherei, (verbotenen) Rauschgifthandel, Wuchergeschäfte, „gewerbliche Unzucht“ (BFHE 80, 73 [GrS]; 108, 103), aufgrund unerlaubter Steuer- und Rechtsberatung, unter Verstoß gegen Mietpreisrecht, gegen das Gesetz über Wettbewerbsbeschränkungen oder gegen das Gesetz über unlauteren Wettbewerb, gegen Marktordnungsvorschriften, gegen die Verpflichtung zur Anzeige gewerblicher Tätigkeit, gegen Wirtschaftsstrafgesetze oder gegen das Waffengesetz; Biersteuerpflicht trotz verbotenen Wasserzusatzes; Umsatzsteuerpflicht auch bei Lieferung gestohlener Ware.
Rückzahlungs- oder Herausgabeverpflichtungen können nur bei wirtschaftlicher Belastung berücksichtigt werden. Die praktische Bedeutung des § 40 AO ist eher gering. Dass z. B. Banditen, Mafiosi, Wirtschaftskriminelle, Waffenschieber, Drogenhändler, Zuhälter sich von sich aus (soll heißen: ohne die Aufklärungstätigkeit von Steuerfahndern und Außenprüfern) dem § 40 AO entsprechend verhalten, ist sehr unwahrscheinlich. Erfahrungsgemäß verstoßen sie sowohl gegen gesetzliche Ge- und Verbote und Strafgesetze als auch gegen Steuergesetze und steuerstrafrechtliche Vorschriften. Ihr Schmarotzen an der Gesellschaft pflegt total zu sein. Die Vorstellung, das Steuergeheimnis (§ 30 AO) bewege solche Kreise wenigstens zur Steuerehrlichkeit, dürfte naiv sein. 31 Selbst ein gewerbsmäßiger Dieb wird seine im Zusammenhang mit Diebstählen erzielten Einkünfte nicht erklären; er spart es sich denn auch, die Aufwendungen für Einbruchswerkzeug von der Bemessungsgrundlage abzusetzen. § 40 AO spricht vom „Verhalten, das den Tatbestand eines Steuergesetzes . . . erfüllt“. Er unterscheidet nicht zwischen Bezügen (Erträgen, Einnahmen) und Aufwendungen (Betriebsausgaben, Werbungskosten). § 40 AO will die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auch für den Fall durchsetzen, dass der Zuwachs an Leistungsfähigkeit unter Verstoß gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt. Das Nettoprinzip, das zum Abzug von Betriebsausgaben und Werbungskosten führt, entspricht dem Leistungsfähigkeitsprinzip. 32 Dass § 40 AO nur die durch gesetz- oder sittenwidriges Handeln erzielten Bezüge erfassen, die mit diesen Bezügen zusammenhängenden Aufwendungen aber nicht zum Abzug zulassen wolle, ist der Vorschrift nicht zu entnehmen. 33 recht, Wien 1982, S. 87 ff. Zum U. S.-amerikanischen Recht: W. Georges, The Foreign Corrupt Practices Act Review Procedure: A Quest for Clarity, Cornell International Law Journal Vol. 14 (1981), 56 ff.; D. Slade, Foreign Corrupt Payments: Enforcing a Multilateral Agreement, Harvard International Law Journal Vol. 22 (1981), 117 ff. Auch in den Niederlanden erfasst der Hoge Raad kriminelle Einkünfte als „voordelen genoten uit niet in dienstbetrekking verrichte werken en diensten“. 31 Dazu Band I2, 2000, S. 217 f. 32 Dazu Band II2, 2003, S. 776. 33 J. Lang, JbFSt., 1983/84, 198; s. auch H. Vogel, NJW 1985, 2986, 2987 f.; R. Claßen (Fußn. 25), S. 27 f.
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Unangemessene Rechtsgestaltung
Die Rechts- oder Sittenwidrigkeit von Aufwendungen ist auch dann unerheblich, wenn nur die Aufwendungen, nicht aber die Bezüge (Erträge, Einnahmen) gesetz- oder sittenwidrig zustande kommen. Diese Lösung ist allerdings nicht zwingend. Es wäre m. E. zulässig, Bezüge zu erfassen, Aufwendungen, die in schwerwiegender Weise gegen die Rechtsordnung verstoßen, aber nicht zum Abzug zuzulassen. Immerhin sind bei Zahlungen ohne Rechnung und bei Schmiergeldzahlungen § 160 AO und § 4 V Nr. 1 EStG zu beachten. § 4 Nr. 8; 9 V; 12 Nr. 4 EStG verbieten den Abzug von Geldbußen und Geldstrafen 34. Das U.S.-amerikanische Steuerrecht sieht in § 162 e bis g IRC weitergehende public policy deduction exceptions vor. 35 Beispiel: V dingt sich eine Mörderbande, die die Konkurrenten K1 und K2 „beseitigt“. An die Mörderbande zahlt V 1 Mio. Euro. – Sollte es sich tatsächlich nicht rechtfertigen lassen, das „Mordgeld“ vom Abzug auszuschließen?
4. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Wahl einer unangemessenen, vom Steuergesetzgeber bei der Formulierung des Gesetzestatbestands nicht erfassten Rechtsgestaltung (§ 42 AO) Literatur A. Hensel, Zur Dogmatik des Begriffs „Steuerumgehung“, in: Festgabe für Zitelmann, München und Leipzig 1923, S. 217 ff.; W. Fuchs, Steuerumgehung, Rechtswissenschaftliche Studien Heft 20, Berlin 1923; M. Lion, Gesetzlich erlaubte Steuerersparungen, StuW 1931, 609 ff.; P. Böhmer, Erfüllung und Umgehung des Steuertatbestands, 1958; R. Thiel, Gedanken zur Methode der steuerlichen Rechtsfindung, StbJb. 1963/64, 161 ff.; H. J. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 182 ff.; N. Hensel, Zur verfassungsrechtlichen Problematik des § 6 StAnpG, Berliner Diss. 1973; H. W. Kruse, Steuerumgehung zwischen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung, StbJb. 1978/79, 443 ff.; J. Danzer, Die Steuerumgehung, 1981; P. Kirchhof, Steuerumgehung und Auslegungsmethoden, StuW 1983, 173 ff.; Suse Martin, Rechtsgeschäfte im Spannungsfeld zwischen Zivil- und Steuerrecht, BB 1984, 1629 ff; P. Fischer, Die Umgebung des Steuergesetzes, DB 1996, 644 ff.; W. Gassner, Das allgemeine und das besondere Umgehungsproblem im Steuerrecht, in: Festschrift für H. W. Kruse, 2011, S. 183 ff; H.-J. Pezzer, Neuere Entwicklungen in der BFH-Rechtsprechung zu § 42 AO, StbJb. 2000/2001, 61 ff.; S. Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001; 34 Dazu Band II2, 2003, S. 776 oben. 35 Dazu W. R. Kroll, StuW 1984, 260 ff. – In der Zeit des nationalsozialistischen Regimes wurde nachdrücklich die Nichtabzugsfähigkeit von ungesetzlichen oder unsittlichen Ausgaben vertreten, und zwar unter Berufung auf Ethik oder Sittlichkeit (s. etwa Th. Maunz, in: Deutsche Rechtswissenschaft 1940, 330, 331 f.). Der Vorläufer des § 40 AO – § 5 II StAnpG – stammt aus dem Jahre 1934.
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§ 35 Sondervorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise P. Fischer, Überlegungen zum fraus-legis-Gedanken nach deutschem und europäischem Recht, in: Festschrift für W. Reiß, 2008, S. 621 ff.; W. Schön, Rechtsrechtsmissbrauch und Europäisches Steuerrecht, in: Festschrift für W. Reiß, 2008, S. 571 ff.; K.-D. Drüen, ‚Präzisierung‘ und ‚Effektuierung‘ des § 42 AO durch das Jahressteuergesetz 2008?, Ubg. 2008, 31 ff.; K.-D. Drüen, Unternehmerfreiheit und Steuerumgehung, StuW 2008, 154 ff; P. Fischer, Überlegungen zu § 42 AO i. d. F. des Jahressteuergesetzes 2008, FR 2008, 306 ff.; J. Hey, Spezialgesetzliche Missbrauchsgesetzgebung, StuW 2008, 187 ff.; A. Leisner-Egensperger, Das Verbot der Steuerumgehung nach der Reform des § 42 AO – Kein Freibrief für ein mangelhaftes Steuerrecht, DStZ 2008, 358 ff.; J. Hey, Gestaltungsmissbrauch im Steuerrecht nach der Neufassung des § 42 AO und dem dazu ergangenen BMF-Erlass, BB 2009, 1044 ff.; R. Hüttemann (Hrsg.), Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsmissbrauch im Steuerrecht, DStJG Bd. 33 (2010), mit Beiträgen von R. Seer, P. Kirchhof, W. Schön, St. Neumann, Th. Rödder, M. Wendt, J. Hey, M. Tanzer, G. Kofler, M. Klein, R. Hüttemann.
4.1 Grundlegung 4.11 Unternehmerfreiheit, Steuerumgehung und Steuervermeidung Der Vorwurf der Steuerumgehung trifft vor allem clevere Unternehmer. So ist es nicht verwunderlich, dass die Verteidigung bei der aus den Grundrechten der Verfassung abgeleiteten Unternehmerfreiheit ansetzt. Es ist aber noch niemand zu dem Ergebnis gekommen, dass Steuerumgehung nichts anderes als erlaubte Ausübung der Unternehmerfreiheit sei. 36 Daran ändert offenbar auch der höchste theoretische Ansatz, die höchste theoretische Warte nichts. Nach § 38 AO entsteht eine Steuerschuld, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Daraus folgt umgekehrt: Solange und soweit kein Tatbestand verwirklicht wird, an den das Gesetz eine Steuerschuld knüpft, entsteht keine Steuerschuld. Man kann die Steuerschuld also vermeiden, man kann ihr dadurch ausweichen, dass man die Verwirklichung des Steuertatbestands vermeidet. Wer z. B. nicht arbeitet und kein Einkommen erzielt, nichts verbraucht oder nichts aufwendet, wer die Erbschaft ausschlägt, wer kein Vermögen ansammelt, vermeidet den entsprechenden an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit anknüpfenden Steuertatbestand und erspart die Steuer, aber er umgeht sie nicht i. S. § 42 AO. Die Umgehung des Steuergesetzes setzt einen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des gesetzlichen Rechts voraus, der zwar nicht am Gesetzeszweck, wohl aber am Gesetzeswortlaut vorbeizielt. Durch den Missbrauch wird das Spannungsfeld zwischen dem 36 S. insbesondere K.-D. Drüen, StuW 2008, 154 ff. („Steuergleichheit als Schranke der Unternehmerfreiheit“); J. Hey, StuW 2008, 167, 170 f.; dies., BB 2009, 1044. In der Begründung abweichend W. Schön, DStJG Bd. 33 (2010), 29, 58 ff. (dazu auch ebenda S. 64, 70 f.).
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Unangemessene Rechtsgestaltung
(insb. wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erfassen wollenden) Zweck der Norm und dem Wortlaut der Norm ausgenutzt. Es wird zwar nicht der Buchstabe der belastenden Norm erfüllt, wohl aber ihr (insb. wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erfassen wollender) Zweck; und umgekehrt: es wird zwar der Buchstabe der begünstigenden Norm erfüllt, nicht aber ihr Zweck. Man kann die Steuerumgehung auch als missbräuchliche Steuervermeidung bezeichnen; jedoch sollte man den Begriff „Steuervermeidung“ der legalen (nicht missbräuchlichen) Steuerersparung vorbehalten. Kein gesetzlicher Begriff ist der der (internationalen) Steuerflucht. Die Steuerflucht besteht darin, dass Einkommen oder Vermögen in den Zufluchtstaat so verlagert wird, dass es dem Besteuerungszugriff des Fluchtstaates entzogen wird. Es kann sich um Steuervermeidung, Steuerumgehung, auch um Steuerhinterziehung handeln. 37 Steuergesetzen, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erfassen wollen, muss es grundsätzlich auf die Erfassung der wirtschaftlichen Effekte ankommen, nicht auf formal-(rechtliche) Gestaltungen. Das Steuerrecht respektiert gleichwohl grundsätzlich die gewählte gesetzliche Gestaltung; es geht davon aus, dass die gesetzliche Gestaltung grundsätzlich entsprechende wirtschaftliche Effekte auslöst und dass bestimmte wirtschaftliche Veranstaltungen durch bestimmte dafür vorgesehene Gesetzesgestaltungen herbeigeführt werden. Jedoch setzt § 42 AO der freien gesetzlichen Kombination oder Manipulation im Interesse gleichmäßiger Erfassung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit eine Schranke: Er erkennt nur solche rechtlichen Gestaltungen an, die ein angemessenes Mittel für die (beabsichtigte) Gestaltung der wirtschaftlichen Vorgänge (oder Verhältnisse) sind. Der Satz, dass das Steuerrecht die gewählte gesetzliche Gestaltung grundsätzlich respektiere, vermag den § 42 AO nicht aus den Angeln zu heben, er vermag ihn auch nicht einzuschränken; der Satz findet seine Grenze eben an § 42 AO. Da das Bundesministerium der Finanzen mit der Anwendung des § 42 AO (zu Lasten des Fiskus) unzufrieden war, ging die Steuerabteilung unter Finanzminister Steinbrück daran, die Vorschrift fiskalisch effizienter zu gestalten; jedenfalls ging das Bemühen dahin. Auch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung und die Rechtssicherheit sollten verbessert werden. 38 Das Vorhaben gelang jedoch nur recht eingeschränkt.
37 Dazu J. M. Mössner, Die internationale Steuerflucht, in: Staatsfinanzierung im Wandel, hrsg. von K.-H. Hansmeyer, 1983, S. 817 ff. 38 Dazu BT-Drucks. 16/6739, 24; 16/7036, 9.
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§ 35 Sondervorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
In § 42 I 2 AO wurde eine Konkurrenzvorschrift und in § 42 II AO eine Missbrauchsdefinition eingefügt sowie eine Beweisregel. 39 Die Neufassung trat am 1. 1. 2008 in Kraft. Die heftige Kritik, die sich schon gegen Referenten- und Regierungsentwurf gerichtet hatte, wurde unvermindert fortgesetzt. Wer sich einen Überblick über die Diskussion – sie nimmt inzwischen wohl weit über 1000 Seiten ein – verschaffen will, greift am besten zu dem Tagungsband 33 der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft von 2010 (432 Seiten). Es ist zu befürchten, dass Steuerstrafrichter und mit Steuerhaftpflichtsachen befasste Zivilrichter mit § 42 AO desto weniger zurechtkommen, je mehr sie darüber lesen. Im Grunde geht es immer um Rechts- und Planungssicherheit für Unternehmer einerseits und Gleichmäßigkeit der Besteuerung auch für Unternehmer andererseits. Die Umsetzung dieser Ideen in präzise juristische Terminologie ist schwierig. Hätten das BMF und die Steuerpolitik ein besseres Verhältnis zu Steuerrechtswissenschaften, so hätte sie die Hauptkritiker des § 42 AO und seiner sprachlichen Umsetzung eingeladen, einen Entwurfsvorschlag einzureichen. Dazu wären von 10 Kritiken vielleicht 10 verschiedene Entwurfsfassungen eingegangen. Danach hätten die 10 Kritiker gebeten werden können, sich auf eine Fassung zu einigen. Die wäre wahrscheinlich nie eingegangen. 10 Rechtswissenschaftler, 10 verschiedene Entwürfe. (Quot homines tot sententiae). 4.12 Methodische Einordnung der Steuerumgehung 4.121 Unterschiedliche Meinungen Die Steuerumgehung ist ein Sonderfall oder Unterfall der allgemeinen Gesetzesumgehung. Auch die allgemeine Gesetzesumgehung besteht darin, dass das Spannungsverhältnis zwischen Gesetzeszweck und Gesetzeswortlaut ausgenutzt wird. „Jede Gesetzesumgehung hat eine irgendwie unvollkommene Gesetzesformulierung, eine Diskrepanz zwischen Gesetzeszweck und Gesetzeswortlaut zur Voraussetzung.“ 40 Darin besteht Übereinstimmung.
39 Ausführlich dazu K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FG (Loseblatt Lfg. 124), Vor § 42 AO Tz. 1 ff. 40 Allgemein: J. Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung. Das Umgehungsgeschäft in der rechtswissenschaftlichen Doktrin von der Spätaufklärung bis zum Nationalsozialismus, Paderborn/München/Wien/Zürich 1985; s. ferner A. Hensel, Zur Dogmatik des Begriffs „Steuerumgehung“, in: Festgabe für Zitelmann, 1923, S. 230; H.-J. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 183 f.
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Unangemessene Rechtsgestaltung
Die Rechtsnatur des § 42 AO wird indessen unterschiedlich beurteilt: a) Nach herrschender Meinung enthält § 42 AO für eine besondere Fallgruppe (Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts) einen Anwendungsfall gesetzlich zugelassener Analogie zum Zwecke der Lückenausfüllung. Diese Meinung unterscheidet zwischen Auslegung und Analogie. Die Auslegung endet – so diese Meinung – an der Grenze des möglichen Wortsinns. 41 Jenseits der Grenze des möglichen Wortsinns beginnt die Gesetzeslücke oder der rechtsfreie Raum. Gesetzeslücken werden durch Analogie ausgefüllt. „Die Steuerumgehung fängt genau dort an, wo die Auslegungskunst zu versagen beginnt.“ 42 § 42 AO verlängert die Gesetzestatbestände in den Lückenbereich hinein durch eine analogische oder jedenfalls lückenausfüllende Methode. 43 Innerhalb der herrschenden Meinung sind zwei Versionen zu unterscheiden: Version (1): Das Steuerrecht ist nicht analogiefähig oder es besteht im Steuerrecht jedenfalls ein Verbot steuerbelastender/steuerverschärfender Analogie. 44 Danach ist § 42 AO eine konstitutive Norm, die das Analogieverbot durchbricht. Die Durchbrechung wird allgemein für zulässig gehalten. Version (2): Auch das Steuerrecht ist analogiefähig; ein Analogieverbot existiert im Steuerrecht so wenig wie im übrigen Eingriffsverwaltungsrecht. 45 Danach ist § 42 AO deklaratorisch; er enthält nur einen besonders geregelten Fall analoger Gesetzesanwendung jenseits des möglichen Wortsinns. 46 b) Eine Mindermeinung hält § 42 AO für überflüssig: Die Auslegung ende nicht an der Grenze des möglichen Wortsinns. Der Gesetzeszweck könne durch Auslegung uneingeschränkt zur Geltung gebracht werden. Auf diese Weise würden Umgehungsversuche (Versuche, den
41 S. S. 1624. 42 A. Hensel, Festgabe für Zitelmann, 1923, S. 224. 43 A. Hensel (Fußn. 42), S. 217 ff.; H.-J. Papier, (Fußn. 40), S. 187; K. Meßmer, StbJb. 1979/80, 247 ff.; J. Isensee, in: Festschrift für W. Flume, II, 1978, S. 137; H. W. Kruse, StbJb. 1978/79, 443, 447 ff.; G. Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, S. 220 f., 227; P. Böhmer, Erfüllung und Umgehung des Steuertatbestands, 1958, S. 71 ff. 44 K. H. Friauf, H. W. Kruse, G. Felix, J. Pelka, alle in: DStJG Bd. 5, 1982 (53 ff., 71 ff., 99 ff., 209 ff.). 45 M. Tanzer, W. R. Walz, H. G. Ruppe, J. Stolterfoht, alle in: DStJG Bd. 5, 1982 (139 f., 140 ff., 154 ff., 271 ff.); K. Tipke, StuW 1981, 189 ff.; BFH BStBl. 1984 II, 221, 225. S. auch Band I2, 2000, S. 177 ff. 46 Ein Analogieverbot im Verwaltungsrecht verneinend A. Gern, DÖV 1985, 558 ff.
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§ 35 Sondervorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Gesetzeszweck durch den Wortlaut auszuspielen) – durch Auslegung – untauglich. § 42 AO sei entbehrlich, leerläufig. 47 Das war die Meinungslage von 1993. 48 Darin hat sich bis zur Gegenwart (2011) kaum etwas geändert. Die Auffassung, § 42 AO sollte durch Auslegung und Lückenfüllung (durch Analogie) ersetzt werden, hat sich allerdings verstärkt. In ihrer Habilitationsschrift „Umgehungsgeschäfte“ von 2001 kommt Susanne Sieker zu dem Ergebnis: „Mit der Anerkennung einer teleologischen Auslegung von Gesetzen und der prinzipiellen Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung ist das Bedürfnis für eine eigenständige Umgehungslehre entfallen. Die Gesetzesumgehung ist eine Frage der Rechtsanwendung, die an die Rechtsverbindlichkeit der jeweiligen gesetzlichen Regelung und deren Durchsetzbarkeit aus eigener Kraft anknüpft . . . Das Grundverständnis der Gesetzesumgehung als tatsächliches Phänomen, dem auf der rechtlichen Ebene mit den Mitteln der Auslegung und Analogie zu begegnen ist, lässt ein Regelungsbedürfnis für spezielle gesetzliche Umgehungsvorschriften entfallen. Die dennoch existierenden besonderen Umgehungsverbote haben keinen eigenen Regelungsgehalt, ihnen kommt eine bloße Appellfunktion zu, die zu einer teleologischen Auslegung des Gesetzes oder einer Analogie ermutigen soll . . . Über den Appell an den Rechtsanwender hinaus, eine teleologische Gesetzanwendung in Betracht zu ziehen, erlaubt § 42 AO die analoge Anwendung belastender steuerrechtlicher Normen.“ (S. 214).
P. Kirchhof wendet sich nicht gegen die Neufassung des § 42 AO von 2008, versteht § 42 AO aber als Auslegungshilfe, nicht – wie A. Hensel – als Tatbestandserweiterung. 49 Er erlaubt „keine Tatbestandsergänzung, die eine Steuergesetzesanwendung in die Nähe der belastenden Analogie brächte.“ 50 St. Neumann (LFM Nordrhein-Westfalen) meint ebenfalls, die befriedigende Lösung könne darin liegen, § 42 AO nicht mehr als Missbrauchsverhinderungsvorschrift zu verstehen, sondern als Auslegungsvorschrift. „Ihr Inhalt wäre dann auf die Analogie zum Nachteil des Steuerpflichtigen gerichtet.“ 51
47 S. E. Becker, StuW 1924, 145, 151, 154, 443; A. Spitaler, StbJb. 1956/57, 105, 115; R. Thiel, StbJb. 1963/64, 198 („Die so genannte Steuerumgehung ist . . . ein Phantom“); H. Paulick, StbJb. 1963/64, 371, 391 f., 414; W. Gassner, Interpretation und Anwendung der Steuergesetze, Wien 1972, S. 90, 96; W. R. Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, S. 224, 226; J. Danzer, Die Steuerumgehung, 1981, S. 83 ff., 95; wohl auch P. Kirchhof, DStJG Bd. 33 (2010), S. 22 f. 48 Dargestellt in Bd. III1, 1993, S. 1325 f. 49 DStJG Bd. 33 (2010), 22 f. – K.-D. Drüen dazu: „Herr Kirchhof, Sie haben einerseits die Neufassung der Generalklausel gelobt, andererseits die Vorschrift insgesamt als überflüssig dargestellt, was zusammen betrachtet schon erstaunlich ist.“ (DStJG Bd. 33, S. 64). 50 DStJG Bd. 33 (2010), 23. 51 DStJG Bd. 33 (2010), 83.
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Hier knüpft auch Jochen Thiel an, wohl unter dem Eindruck, dass mit dem 2008 erweiterten § 42 AO – wie immer man ihn auch formuliert – das angestrebte Ziel nicht zu erreichen sei. J. Thiel schlägt im Anschluss an den Verfasser vor, auf die Missbrauchsregelung des § 42 AO zu verzichten und den Missbrauch durch Auslegung nach dem Gesetzeszweck und durch Lückenausfüllung über den möglichen Wortsinn des Gesetzes hinaus zu erreichen. P. Kirchhof ersetzt § 42 AO in § 10 Satz 1 seines Entwurfs eines Steuergesetzbuches durch Auslegung nach dem Gesetzeszweck (teleologische Auslegung). § 10 Satz 1 bestimmt: „Das Bundessteuergesetzbuch ist so auszulegen, dass alle Steuerpflichtigen nach dem Belastungsgrund der Steuer gleichheitsgerecht besteuert werden.“ Die das Leistungsfähigkeitsprinzip realisierenden Belastungsgründe ergeben sich aus § 3 des Entwurfs. Durch Auslegung will P. Kirchhof auch Steuerumgehungen unterbinden. Aus P. Kirchhofs Begründung ist allerdings nicht ganz klar zu entnehmen, ob die Umgehung durch Auslegung (§ 10 Satz 1) oder durch Sachverhaltsbeurteilung (§ 10 Satz 2) oder auf beiderlei Weise verhindert werden soll (s. Erläuterungen zu § 10 Rz. 9, 11, 15 und S. 344 zu § 42 AO). Über Auslegungsgrenzen – Abgrenzung zum rechtsfreien Raum – ist dem § 10 des Entwurfs auch nichts zu entnehmen, wohl deshalb, weil Auslegungsgrenze der Gesetzeszweck ist. Sprachlich ist es m. E. allerdings vorzuziehen, zwischen Auslegung des Gesetzes und Ausfüllung von Gesetzeslücken zu unterscheiden. Die Gesetzeslücke wird nicht ausgelegt, sondern ausgefüllt durch Gesetzesfortbildung. Das Recht wird nicht fortgebildet, sondern festgestellt.
4.122 Stellungnahme Das Analogieverbot hat im Steuerrecht eine lange positivistische Tradition. Durch Anwendung von Analogie, ebenso durch Auslegung über den Wortlaut hinaus, sieht man die Rechts- und Planungssicherheit gefährdet. 52 Da es sich bei der Anwendung des § 42 AO um eine Analogietechnik handelt, erstaunt es, dass die Apologeten des steuerrechtlichen Analogieverbots nicht die Abschaffung des § 42 AO verlangen. In der Tat lässt sich die Steuergesetzesumgehung oder der Versuch dazu durch (unbegrenzte) Auslegung nach dem Gesetzeszweck oder durch Analogie verhindern. Es gibt denn auch Länder, in denen Steuergesetzesumgehungen als unbeachtlich negiert werden, ohne dass dafür eine gesetzliche Grundlage nach Art des § 42 AO existiert (so z. B. in der Schweiz 53, einzelne Kantone der Schweiz kennen allerdings eine Generalklausel gegen Steuerumgehungen). Jedoch gibt es auch Länder, in denen noch mehr oder minder strenge steuerrecht52 Hinweis auch auf die Argumente von W. Schön, DStJG Bd. 33 (2010), 63. 53 Dazu R. Matteotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, 2007, S. 99, 109, 113, 118, 157, 280 f.; M. Reich, (Schweizer) Steuerrecht, Zürich u. a. 2009, S. 134 ff., 141 ff.
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liche Begriffsjurisprudenz getrieben wird, so in den meisten romanischen Ländern, in Großbritannien und Kanada. 54 Dass in der AO 1919 eine Umgehungs-Regelung nicht überflüssig war, ergab sich aus der sich strikt an die zivilrechtliche Gestaltung haltenden Rechtsprechung des RFH und des RG vor Inkrafttreten des § 5 AO 1919 (Vorläufer des § 42). Im sog. Mitropafall hatte RFHE 1, 126 die Erfassung von Umgehungsgeschäften abgelehnt, ebenso in ständiger Rechtsprechung das RG. 55 Ferner hatte das preußische OVG ständig entschieden, dass es nicht Sache des Richters, sondern des Gesetzgebers sei, bei Umgehungen Abhilfe zu schaffen. 56 Die Begriffsjurisprudenz im Sinne eines Haftens am Wortlaut ohne Rücksicht auf den Gesetzeszweck war in der Steuerrechtsprechung auch 1977 noch nicht „ausgestorben“. Vor allem ist nach heute noch herrschender Meinung der mögliche Wortsinn aber Grenze der Auslegung (s. oben S. 1624), außerdem nimmt die wohl noch herrschende Meinung ein Verbot steuerbelastender Analogie an (s. Band I2, 2000, S. 177, 179 ff., 185 ff., 190–192). Folglich konnte der Gesetzgeber auch 1977 noch sehr wohl ein Bedürfnis für einen § 42 AO sehen. Obwohl § 42 AO für nötig gehalten worden ist, weil nach herrschender Meinung die Auslegung an der Grenze des möglichen Wortsinns endet und ein Verbot steuerbelastender Analogie besteht, zementiert § 42 AO diese Auffassungen nicht. Er steht der Entwicklung oder Fortbildung der Gesetzesanwendungsmethode im Steuerrecht nicht im Wege; er hindert die Rechtsprechung insb. nicht daran, die Auffassung aufzugeben, im Steuerrecht bestehe ein Verbot steuerbelastender Analogie. Soweit ein Gericht einen Sachverhalt durch Auslegung oder Analogie erfasst, braucht § 42 AO nicht bemüht zu werden. In Wirklichkeit folgen extensive Auslegung und Analogie den gleichen teleologischen Grundwerten; sie sind nicht prinzipiell verschiedene Methoden, sondern bloß graduell verschiedene Stufen der Rechtsanwendung. Auch die Gesetzeslücke liegt im Bereich der ratio legis. Die Frage, ob ein Analogieverbot besteht, lässt sich daher nicht methodisch, sondern nur verfassungsrechtlich lösen. Die meisten Methodenlehrbücher (außer Larenz) kennen die Unterscheidung Ex-
54 Zu Letzteren N. Boidman, Bulletin for International Fiscal Documentation 1981, 439 f. 55 Dazu W. Merk, RG und Steuerrecht, in: Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des RG, IV. Bd., 1929, S. 84 f.; A. Hensel, (Fußn. 42), S. 259 f; M. Lion, VJSchrStFR Bd. 1 (1927), 141 f., 146, 164. 56 Etwa Pr. OVG Pr. VerwBl. 1912/13, 825; JW 1918, 151; Pr. VerBl. 1919/20, 171.
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tension/Analogie denn auch nicht. Mit F. Bydlinski 57 ist anzunehmen, dass die Unterscheidung „unnötig“ ist. Außerdem ist klarzustellen: Das Gesetz ist immer das ausgelegte Gesetz. Wer vom ausgelegten Gesetz erfasst wird, umgeht das Gesetz nicht, auch wenn er sich das irrtümlich („wahnhaft“) vorstellt; es handelt sich dann bloß um eine Scheinumgehung. Folglich ist Umgehung umso weniger möglich, je weiter die Auslegung ist. Die Umgehung beginnt erst jenseits des ausgelegten Gesetzes, im Lückenbereich. Daher ist die Analogie als Mittel, die Folgen der Umgehung zu vermeiden, unentbehrlich, solange der teleologischen Auslegung Wortsinngrenzen gesetzt werden. § 42 AO trägt der Tatsache Rechnung, dass nach gegenwärtig herrschender Meinung die Auslegung am möglichen Wortsinn endet und ein Verbot steuerbelastender Analogie besteht. Daraus ergeben sich Möglichkeiten zur Gesetzesumgehung (durch Lückenausnutzung), die § 42 AO für eine besondere Fallgruppe (Missbrauch von Rechtsgestaltungsmöglichkeiten) unterbindet. Da § 42 AO nicht bezweckt, die Methodenlehre der Rechtsanwendung in ihrer Entwicklung zu behindern: Einer Verhinderung der Gesetzesumgehung durch eine über den möglichen Wortsinn des Gesetzes hinausgreifenden Rechtsanwendung steht § 42 AO nicht entgegen. Die Umgehung beginnt erst im Lückenbereich. Die Befürchtung, bei Einführung der belastenden Analogie werde es zu einem Dammbruch in die Rechtssicherheit kommen, ist nicht berechtigt. 58 Die Analogie – auch § 42 AO – dient dazu, Gesetzeslücken zu schließen. Sie erlaubt kein Vordringen in rechtsfreie Räume. Gesetzeslücken bestehen in prinzip- oder planwidrigen, dem Gesetzeszweck nicht gerecht werdenden Unvollständigkeiten. Der rechtsfreie Raum soll nach dem Plan des Gesetzgebers steuerlich nicht erfasst werden. Das Bestehen der Gesetzeslücke muss sicher festgestellt werden. Das ist umso schwieriger, je planloser, prinzipienloser der Gesetzgeber agiert. Analogie ist nicht freie Rechtsfindung, nicht freie Dezision, nicht Gefühls- oder Kadijustiz. Sie ist eine ebenso stringente Methode wie die teleologische Auslegung. 59 Das brachte mich zu dem Satz: Rechtssicherheit ist Prinzipien- oder Regelsicherheit. 60 Sie setzt die sichere Feststellung eines Prinzips oder einer Regel voraus. 61 J. Hey wendet dagegen ein: „Regelsicherheit mag Element der Rechtssicherheit sein, sie ist aber jedenfalls nicht deckungs57 F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien/New York 1982, S. 475. 58 Ebenso J. Thiel, in: K. Tipke, Steuerberatung im Rechtsstaat, 2010, S. 29 f. 59 Dazu Bd. I2, 2000, S. 202. 60 Bd. I2, 2000, S. 202. 61 Dazu auch J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 63, 564, 572 f. m. w. N.
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gleich mit individueller Planungssicherheit.“ 62 Abgesehen davon, dass auch der auszulegende Gesetzeswortlaut keine Steuerplanungssicherheit schafft: In Bd. I2 vertrete ich die Auffassung, dass die belastende Analogie nicht rückwirkend angewendet werden dürfe 63, ebenso wenig, wie verschärfende Rechtsprechung. 64 Obwohl die Beschränkung der Analogie auf die Umgehung i. S. des § 42 AO das Verallgemeinerungsgebot verletzt: Dass sich demnächst eine an Prinzipien orientierte belastende Analogie durchsetzen würde, ist nicht anzunehmen. Zu stark ist die Front der Steuerplaner – mit viel Rückhalt in der Richterschaft. Steuergerechtigkeit, Gleichmäßigkeit der Besteuerung treten davor in den Hintergrund. 65 Solange sich die Zulässigkeit der belastenden Analogie nicht durchgesetzt hat, wird der Gesetzgeber an § 42 AO festhalten. Gegen eine den Gesetzeszweck ohne Einschränkungen verwirklichende Auslegung ist m. E. nichts einzuwenden. Eine solche Auslegung erübrigt die Analogie, auch die Analogietechnik des § 42 AO. Dennoch: Wer gegen Analogie ist, aber nicht gegen die Analogietechnik des § 42 AO, verletzt das Verallgemeinerungsgebot (dazu S. 1259). Warum soll Analogie im Falle des § 42 AO zulässig sein, darüber hinaus aber nicht? 4.123 Die besondere Lückenausfüllungstechnik des § 42 AO In § 42 AO hat der Steuergesetzgeber zu einem generalklauselartigen Tatbestand gegriffen, durch den er allerdings die Umgehung von Steuergesetzen nicht schlechthin bekämpft. § 42 AO erfasst nämlich nur einen Sonderfall der Steuerumgehung, nämlich den der Umgehung durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts. Die besondere Notwendigkeit, gerade solche Umgehungen zu bekämpfen, erklärt sich aus folgender Technik der Steuergesetze: Das Steuerrecht knüpft zur Erfassung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit weithin an wirtschaftliche Vorgänge oder Verhältnisse an (wie Einkommen, Vermögen, Bereicherung, Umsatz, Verbrauch, Aufwand). Es bezeichnet im Tatbestand des Steuergesetzes diese wirtschaftlichen Vorgänge 62 (Fußn. 61), S. 573. 63 S. 204. Dazu auch R. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2006, 385 f. 64 Bd. I2, 2000, S. 171. 65 P. Kirchhof dazu: „Doch das Gesetz verliert heute ein Stück der mäßigenden Kraft allgemeiner Steuerregeln, weil Steuerpflichtige und Abgeordnete sich mit der unzulänglichen Steuerregel begnügen und statt dessen in Gesetzesausnahmen und Gesetzdurchbrechungen eine individualgerechte Steuer zu sichern versuchen . . . der betroffene Steuerpflichtige arrangiert sich mit der vermeidbaren Steuerlast, widmet damit der allgemeinen Belastungsgleichheit wenig Aufmerksamkeit“ (DStJG Bd. 33 [2010], S. 11 f.).
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oder Verhältnisse häufig aber nicht unmittelbar, sondern geht von ihnen als Prämisse aus, erhebt zu Tatbestandsmerkmalen jedoch „Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts“ (insbesondere des Zivilrechts), dabei davon ausgehend, dass bestimmten wirtschaftlichen Vorgängen oder Verhältnissen bestimmte Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts als angemessen entsprechen. Die rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten können im steuerrechtlichen Gesetzestatbestand unmittelbar erwähnt sein, sie können auch mittelbar von Bedeutung sein. „Die steuergesetzlichen Tatbestandsnormen versuchen, die als steuerwürdig angesehenen wirtschaftlichen Sachverhalte in ihrer typischen rechtlichen Gestaltung zu umschreiben; sie errichten „dadurch sozusagen den Schlagbaum des Steuertatbestandes an dem Normalwege, auf welchem der Verkehr ein bestimmtes wirtschaftliches Ziel i. d. R. zu erreichen strebt“. 66 Nun ist es aber nicht selten möglich, den nämlichen wirtschaftlichen Effekt rechtlich auf verschiedene Weise zu erreichen, insbesondere auch durch atypische, unangemessene rechtliche Gestaltungen. So gestattet es das Zivilrecht nicht nur, frei zu entscheiden, ob ein Vertrag abgeschlossen werden soll, es gewährt i. d. R. auch Freiheit der Typenwahl (freie Wahl des Vertrags- oder Gesellschaftstyps), ja sogar die Freiheit, sich gänzlich neue inhaltliche Gestaltungen auch außerhalb der gesetzlichen Typen auszudenken (sog. Privatautonomie). Besonders im Schuldrecht und im Gesellschaftsrecht sind die meisten Vorschriften nur dispositiver Natur, so dass es den Parteien freisteht, ihre Rechtsverhältnisse abweichend von der gesetzlichen Regelung selbst zu ordnen. So kann die tätige Mitwirkung eines Familienangehörigen durch unentgeltliche Mitarbeit, Dienstvertrag, Werkvertrag oder Gesellschaftsvertrag geregelt werden. Die finanzielle Ausstattung einer Kapitalgesellschaft kann durch Eigenkapitalzufuhr oder Gesellschafterdarlehen bewirkt werden. Die freie zivilrechtliche Gestaltung ermöglicht auf diese Weise ein Ausbrechen aus der gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Um dies zu verhindern, ordnet § 42 AO an: Wer den wirtschaftlichen Effekt herbeiführt, den das Steuergesetz erfassen will, sich aber einer rechtlichen Einkleidung bedient, die das Gesetz, weil atypisch, nicht erfasst, wird so behandelt, als habe er die angemessene rechtliche Gestaltung gewählt. Diese Begrenzung der rechtlichen Gestaltung soll der Verwirklichung des Gleichheitssatzes durch gleichmäßige Erfassung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit dienen, zugleich verhindern, dass der bevorzugt wird, der selbst der durch Sachverständige in der Lage ist, die jeweils steuergünstigste rechtliche Gestaltung unbeschadet ihrer Angemessenheit herauszufin66 A. Hensel, Steuerrecht3, 1933, S. 95.
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den. A. Hensel 67 hat die Steuerumgehung definiert „als die Erreichung einer bestimmten wirtschaftlichen Lage unter Vermeidung des rechtlichen Tatbestandes, welchen der Gesetzgeber hierfür als üblich im Verkehrsleben angesehen und daher zur Voraussetzung der Entstehung des Steueranspruchs erhoben hat“. Während die Technik der Analogie nun darin besteht, dass der Rechtssatz entsprechend seinem Zweck über seinen möglichen Wortsinn hinaus weitergedacht, zu Ende gedacht, verlängert wird, geht die Technik des § 42 AO vom Sachverhalt und seiner rechtlichen Gestaltung aus. Es wird nicht unmittelbar geprüft, ob der Sachverhalt (in seiner rechtlichen Gestaltung) von einem (durch Analogie mit Hilfe des Prinzips oder Gesetzesplans) weitergedachten oder zu Ende gedachten Gesetz noch erfasst wird, sondern es wird gefragt, welche rechtliche Gestaltung den wirtschaftlichen Vorgängen (oder Verhältnissen) angemessen gewesen wäre. Ist die angemessene rechtliche Gestaltung gefunden, so wird auf sie das Steuergesetz – entsprechend seinem Zweck – angewendet. 68 Diese besondere Technik ändert aber nichts daran, dass es sich im Ergebnis um einen Analogieeffekt handelt. 69 Auch die Technik des § 42 AO führt dazu, dass dem vom Wortlaut nicht mehr erfassten (aber einen wirtschaftlichen Effekt erfassen wollenden) Gesetzeszweck Geltung verschafft wird. § 42 AO darf und soll aber nicht zu Ergebnissen führen, die dem Gesetzeszweck nicht entsprechen oder über ihn hinausgehen. Der Orientierung am Gesetzeszweck bedarf es also immer, soll es nicht zu einer freischwebenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise kommen, die zu einem Eindringen in den steuerrechtsfreien Raum führen kann. Zu einem solchen freischwebenden Vorgehen verleitet § 42 AO insofern, als er seine Prämisse (s. unten 4.21) nicht nennt, die Erfassung wirtschaftlicher Vorgänge (oder Verhältnisse), die das Gesetz erfassen will. 70 Im Ergebnis handelt es sich darum, dass § 42 AO alle steuergesetzlichen Tatbestände, die unmittelbar oder mittelbar an rechtliche Gestaltungen anknüpfen, aber wirtschaftliche Sachverhalte erfassen wollen, durch einen allgemeinen Tatbestand so erweitert (verlängert), dass auch die unangemessenen Rechtsgestaltungen mit erfasst werden. 4.13 § 42 AO ist verfassungsmäßig § 42 AO ist verfassungsmäßig. Das Grundgesetz zielt nicht bloß auf den formalen Rechtsstaat, es will auch den materialen Rechtsstaat 67 68 69 70
(Fußn. 42), S. 225. Zustimmend G. Crezelius, DB 1984, 533. S. auch BFH BStBl. 1980 II, 364 u. BFHE 139, 304, 306. S. auch P. Kirchhof, StuW 1983, 176 f.
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oder Gerechtigkeitsstaat verwirklichen. Zur Steuergerechtigkeit gehört insbesondere die gleichmäßige Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (s. Bd. I2, 2000, S. 479 ff.). § 42 AO will dazu beitragen, dass diese sichergestellt wird. 71 Steuergesetzesumgehung ist Ausbruch aus der gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit mit formalen Mitteln. Die Bekämpfung der Steuerumgehung ist daher eine verfassungsmäßige Aufgabe von Gesetzgebung und Verwaltung. 72 Weder geht Art. 2 I GG dem Art. 3 I GG vor, noch gilt das Umgekehrte. Vielmehr müssen es alle Steuerpflichtigen hinnehmen, dass sie durch die Besteuerung gleichmäßig (Art. 3 I GG) in ihrer Entfaltung i. S. Art. 2 I GG (durch Investieren oder Konsumieren) beeinträchtigt werden. Einerseits: Bestünde qua Verfassung für die Steuerrechtsanwendung ein Analogieverbot, so müsste auch die Analogietechnik des § 42 AO verfassungswidrig sein. Das hat aber noch kein Gericht angenommen. Andererseits: Ist die Analogietechnik des § 42 AO verfassungsmäßig, so muss die Analogie verallgemeinernd allgemein zulässig sein. Es wird allerdings niemanden geben, der diesen Rechtssatz gerichtlich durchsetzen würde. § 42 AO ist auch nicht unnötig unbestimmt und daher rechtsstaatswidrig. Die in § 42 AO steckende generalklauselartige Tatbestandserweiterung ist nicht vermeidbar. Zwar muss der Gesetzgeber sich bemühen, die Einzeltatbestände so zu fassen, dass Umgehungen nach Möglichkeit ausgeschlossen werden. Das ist jedoch ein unerreichbares Ideal. Es sind nicht alle Umgehungsmöglichkeiten abstrakt vorhersehbar. Auch durch Spezialklauseln wird es dem Gesetzgeber nie völlig gelingen, alle Umgehungswege zu verstopfen. Agierte der Gesetzgeber nicht durch eine Generalklausel, so bliebe ihm oft nur übrig, zu reagieren, d. h. hinterherzuhinken. 73 P. Kirchhof 74 bemängelte 1979, § 42 AO sei zu unbestimmt, seine Ermächtigung an Verwaltungsbehörden und Gerichte sei nach Inhalt, Zweck und Ausmaß nicht hinreichend bestimmt. Die Auffassung hat er in DStJG Bd. 33 (2010), 9 ff., 22 ff. nicht mehr vorgetragen, obwohl die Neufassung der Vorschrift von 2008 durchaus nicht mehr Bestimmtheit gebracht hat, im Gegenteil. Immerhin ist § 42 AO bestimmter gefasst als der Gleichheitssatz, dem er dienen will. Richtig ist, dass die Vorschrift nicht ausdrücklich an den Gesetzeszweck an71 So auch N. Hensel, Zur verfassungsrechtlichen Problematik des § 6 StAnpG, Diss. Berlin 1973, S. 103 ff.; J. Danzer, Die Steuerumgehung 1981, S. 24 f. 72 S. auch BVerfGE 13, 290, 315 f.; 13, 331, 334, 345. 73 Wie hier N. Hensel (Fußn. 71), S. 114 ff. 74 JbFSt. 1979/80, 259, 291.
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knüpft, so dass die Gefahr freischwebender wirtschaftlicher Sachverhaltserfassung entsteht – mit der Gefahr des Eindringens in den rechtsfreien Raum: Dieser Gefahr lässt sich aber durch Auslegung des § 42 AO begegnen. Die meisten Gesetzesvorschriften lassen ihren Zweck nicht ausdrücklich erkennen; deswegen sind sie nicht nichtig. 75 § 42 AO verletzt auch nicht den Vertrauensschutz, denn er verlangt eine Missbrauchsabsicht. Wer Steuergesetze aber in Missbrauchsabsicht umgeht, verdient keinen Vertrauensschutz, kann sich auf Rechtssicherheit nicht berufen. 76 Auch die Neufassung des § 42 AO von 2008 ist nicht verfassungswidrig. 77 Obwohl im Strafrecht das Analogieverbot gilt (Art. 103 II GG), hat der Bundesgerichtshof 78 § 6 StAnpG, den Vorläufer des § 42 AO, auch in steuerstrafrechtlichem Zusammenhang als verfassungsmäßig, insbesondere als hinreichend bestimmt angesehen. 79 4.2 Tatbestand der Steuerumgehung 4.21 Gesetzesanknüpfung an Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts, um einen wirtschaftlichen Sachverhalt zu erfassen Erste (ungenannte, stillschweigende) Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 42 AO ist, dass das Steuergesetz entweder ausdrücklich an Gestaltungen des Rechts (gesetzliche Gestaltungsmöglichkeiten) anknüpft oder solche Gestaltungen jedenfalls mittelbar in der Weise erfasst, dass es auf sie ankommt, dabei aber hinter dem Gesetzeszweck zurückbleibt, so dass eine Gesetzeslücke entsteht. Wendet das Steuergesetz einen Rechtsbegriff an, der den ihm zugedachten wirtschaftlichen Begriffsinhalt voll abdeckt (man denke etwa an den Begriff „Lieferung“), so scheidet eine Umgehung i. S. § 42 AO von vornherein aus. Das Steuergesetz muss wirtschaftliche Vorgänge (oder Zustände) erfassen wollen. 80 Diese vorausgesetzte Prämisse war in § 5 II AO 1919 noch ausdrücklich erwähnt, indem es dort hieß:
75 Wie hier im Ergebnis H.-J. Papier (Fußn. 40), S. 188 ff.; J. Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 94 f.; J. Danzer, Die Steuerumgehung, 1981, S. 95 f. 76 S. auch J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2001, S. 16, 299. 77 K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 124), Vor § 42 AO Tz. 38. 78 NStZ 1982, 206; wistra 1982, 108. 79 Dazu kritisch K. Ulsenheimer, wistra 1983, 12, 16 f. 80 Zustimmend BFH BStBl. 1985 II, 636, 640.
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Knüpft das Steuergesetz z. B. an die Ehe an und meint es die Ehe nur im bürgerlich-rechtlichen Sinne, so genügt es, dass eine bürgerlichrechtlich wirksame Ehe besteht. Da die Steuergesetze, soweit sie an die Ehe anknüpfen, die Ehe im bürgerlich-rechtlichen Sinne meinen, kommt eine Steuerumgehung i. S. § 42 AO durch Eheschließung lediglich aus Gründen der Steuerersparnis von vornherein nicht in Betracht. Das Gleiche gilt, wenn Steuergesetze an Kindschaftsverhältnisse anknüpfen, oder, wie § 1 I KStG, an Rechtssubjekte des Zivilrechts. 81 Die Frage, ob das Steuergesetz auf ein wirtschaftliches Substrat zielt, auf den wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand, dem die rechtliche Gestaltung adäquat sein muss, lässt sich dem Gesetz zuweilen nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht entnehmen. Eine andere Frage ist auch, ob die exakte Beschränkung eines Steuergesetzes insbesondere auf den zivilrechtlichen Inhalt unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit dem Gleichheitssatz gerecht wird. § 42 AO greift nicht nur nicht ein, wenn der Begriff des Steuertatbestands keinen wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand erfassen will, sondern ein bestimmtes rechtliches Verhältnis als solches, ohne Rücksicht auf den wirtschaftlichen Hintergrund (wie Ehe, Kindschaftsverhältnis, Erbschaft); er greift auch nicht ein, wenn der Gesetzesbegriff (z. B. der Begriff „Lieferung“) bereits einen wirtschaftlichen Inhalt hat, der dem Gesetzeszweck voll entspricht. § 42 AO hat demnach wesentliche Bedeutung im Bereich der Verkehrsteuern. Diese knüpfen wohl an zivilrechtliche Tatbestände an, haben aber einen wirtschaftlichen Hintergrund. So knüpft § 1 I GrEStG bei Aufzählung der Erwerbsvorgänge an zivilrechtliche Tatbestände an. Dass das aber auch nur geschieht, um einen wirtschaftlichen Effekt einzufangen, ergibt sich aus § 1 II GrEStG. § 1 GrEStG könnte entsprechend § 1 II GrEStG auch kurz lauten: „Der Grunderwerbsteuer unterliegen Rechtsvorgänge, die es mit oder ohne Begründung eines Anspruchs auf Übereignung einem anderen rechtlich oder wirtschaftlich ermöglichen, ein inländisches Grundstück auf eigene Rechnung zu verwerten.“
81 BFH BStBl. 1987 II, 308, 310 re. Sp.
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4.22 Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts 4.221 Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts Erfasst werden vor allem Gestaltungsmöglichkeiten des von der Privatautonomie beherrschten Zivilrechts. § 6 StAnpG (der Vorgänger des § 42 AO) erfasst ausdrücklich nur Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts (im weiteren Sinne von: Zivilrechts). § 42 AO hat den Tatbestand jedoch auf Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts schlechthin erweitert. Damit sollen auch Gestaltungsmöglichkeiten des öffentlichen Rechts erfasst werden (BT-Drucks. VI/1982, S. 114, zu § 45). Allerdings ist diese Erweiterung bisher nur im Bereich des Kraftfahrzeugsteuergesetzes relevant geworden. 82 Obwohl es vorstellbar ist, dass auch Gestaltungsmöglichkeiten des Steuerrechts missbraucht werden können, will § 42 AO solche Fälle nicht erfassen (wenngleich sie vom Wortlaut mit umfasst werden). Dies wäre aber eine wesentliche Änderung gegenüber dem bisher geltenden Recht, die nicht beabsichtigt war (s. BT-Drucks. VI/1982, S. 114, zu § 45: „Gegenüber dem geltenden Recht sollte insoweit eine Änderung nicht eintreten.“). Rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten sind nicht nur Rechtsgeschäfte (Willenserklärungen), sondern auch geschäftliche Handlungen und Rechtshandlungen (Realakte). Die Rechtsgestaltung muss wirksam sein; sonst gilt nicht § 42 AO, sondern § 41 I AO. Soweit Geschäfte oder Handlungen Scheincharakter haben, greift nicht § 42 AO, sondern § 41 II AO. § 42 AO erfasst nicht wirtschaftlich unangemessenes Verhalten. Innerhalb der Gesetze darf der Steuerpflichtige frei entscheiden, was er wirtschaftlich veranstalten will. Das Steuerrecht schränkt die wirtschaftliche Freiheit nicht ein, es respektiert sie und knüpft an sie an. Die „freie Wirtschaft“, die „Marktwirtschaft“ lässt dem Steuerpflichtigen einen großen Spielraum. Sie gewährt auch Freizügigkeit, schreibt dem Steuerpflichtigen nicht vor, wo und wie er sein Einkommen beziehen oder sein Vermögen anlegen soll, ob z. B. in Nord- oder Süddeutschland, im In- oder Ausland. Nur muss er sich zur Verwirklichung seines wirtschaftlichen Ziels, das er frei bestimmen kann, angemessener rechtlicher Gestaltungen bedienen. Wer nicht arbeitet und daher weder Einkommen noch Umsatz erzielt, wird von der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer nicht erfasst. Wer sein gesamtes Einkommen verbraucht, kann auch über § 42 AO nicht von der Vermögensteuer erfasst werden. Das Unterlassen einer wirtschaftlichen Veranstaltung ist keine Umgehung durch rechtliche Gestaltung – abgesehen davon, dass dieses Unterlassen in den steuerrechtsfreien 82 BFH BStBl. 1985 II, 636.
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Raum fällt, nicht in eine Gesetzeslücke, in der sich mit Hilfe des § 42 AO allein operieren lässt. 4.222 Missbrauch 4.2221 Unangemessene Gestaltung Missbraucht werden muss die Gestaltungsmöglichkeit des Rechts. Was Missbrauch ist, war bis 2008 im Gesetz nicht definiert. Die Bestimmung des Begriffs war Literatur und Rechtsprechung überlassen. Nunmehr bestimmt § 42 II 1 AO: „Ein Missbrauch liegt vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die dem Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt.“ Kritiker machen geltend, § 42 II 1 AO ersetze nur einen unbestimmten Rechtsbegriff (Missbrauch) durch einen anderen. Das führe nicht weiter. Außerdem werde nicht angegeben, gegenüber was die Gestaltung unangemessen sein müsse. Positive Kritik würde darin bestehen, einen eigenen Formulierungsvorschlag zu unterbreiten. Die Formulierung des § 42 II 1 AO führt in der Tat nicht über das hinaus, was bisher von der Rechtsanwendung angenommen worden ist. Die Prüfung der Angemessenheit muss mit etwas gemessen werden, sie braucht einen Maßstab. Dieser lässt sich durch Rückschluss aus § 42 I 3 AO entnehmen, der „von einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung“ spricht. Das setzt freilich voraus, dass das Gesetz wirtschaftliche Vorgänge erfassen will. Gegenüber den (frei gestaltbaren) wirtschaftlichen Vorgängen, die mit der rechtlichen Gestaltung erreicht oder aufrechterhalten werden sollen, muss die rechtliche Gestaltung unangemessen sein. Den wirtschaftlichen Vorgängen sind die wirtschaftlichen Zustände gleichzustellen. Eine Rechtsgestaltung ist von vornherein unangemessen, wenn sie überhaupt keinem wirtschaftlichen Zweck dient, wenn ein vernünftiger wirtschaftlicher Grund überhaupt fehlt, wenn durch die Gestaltung wirtschaftlich gar nichts bewirkt werden soll. Bloße Scheinhandlungen fallen unter § 41 II AO. Um die Angemessenheit/Unangemessenheit beurteilen zu können, muss bei zivilrechtlichen Vorgängen zunächst durch Auslegung des Rechtsgeschäfts (s. §§ 133, 157 BGB) klargestellt werden, was zivilrechtlich wirklich gewollt ist. So kann etwa ein Mietvertrag als Hausverwaltervertrag oder als Treuhandvertrag zu verstehen sein. Auch Umdeutung (§ 140 BGB) kommt in Betracht. Unangemessen ist eine rechtliche Gestaltung, die verständige Parteien in Anbetracht des wirtschaftlichen Sachverhalts, insbesondere 1677
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des erstrebten wirtschaftlichen Ziels, als unpassend nicht wählen würden. Damit sind die Parteien nicht auf Schema F festgelegt. Unangemessen sind in erster Linie abwegige rechtliche Kniffe und Schliche. Da es das natürliche Streben der Rechtsordnung ist, für alle wirtschaftlichen Veranstaltungen möglichst einfache Rechtsgestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, wird i. d. R. der einfachste rechtliche Weg zu dem, was wirtschaftlich gewollt ist, der angemessenste sein. Angemessene Rechtsgestaltungen (Gesetzesgestaltungen) pflegen einfach, zweckmäßig, übersichtlich zu sein. Unangemessene Rechtsgestaltungen hingegen sind oft umständlich, kompliziert, schwerfällig, unökonomisch, gekünstelt, unnatürlich, absonderlich, z. T. überflüssig, widersinnig oder widersprüchlich, unsinnig oder undurchsichtig, nicht selten gleichwohl wenig effektiv. Meist sind sie nicht der ehrliche Ausdruck dessen, was wirtschaftlich veranstaltet werden soll. Angemessene Rechtsgestaltungen pflegen das Ziel auf einem mehr oder minder geraden Wege zu verfolgen, unangemessene Rechtsgestaltungen hingegen pflegen oft Um-Wege einzuschlagen. Nicht selten wird zunächst ein vom wirtschaftlichen Endziel ablenkendes Geschäft abgeschlossen, diesem Geschäft dann aber bald ein weiteres hinzugefügt, mit dem korrigierend oder ergänzend das wahre wirtschaftliche Ziel erreicht wird. In der amerikanischen Literatur spricht man von step transactions. 83 Hierher gehört auch die Kettenschenkung. J. Isensee 84 meint, die „Bemühungen, allgemeine, inhaltliche Maßstäbe für das ‚Angemessene‘ zu finden, haben etwas rührend Hilfloses“. Aber er selbst bietet zur Konkretisierung nichts an. Und es vergrößert die Rechtssicherheit nicht, wenn man das kritisierte, zugegeben nicht zu scharfer Abgrenzung führende Erklärungsbemühen durch noch größere Dunkelheiten ersetzt. Die Rechtsprechung hat schon mit unbestimmteren Begriffen fertig werden müssen als mit dem der Angemessenheit/Unangemessenheit, und unbestimmter als der Gleichheitssatz (wie ihn das Bundesverfassungsgericht versteht), dem § 42 AO doch dienen soll, ist der Begriff „unangemessen“ nicht, zumal der Orientierungsmaßstab (die „wirtschaftlichen Vorgänge“) doch angegeben ist. M. Lion 85 hat den typischen Umgehungsvorgang zutreffend so beschrieben: Es komme dem Umgeher darauf an, möglichst in die wirtschaftliche Position zu gelangen, in die er auf dem vom Gesetz unmittelbar ins Auge gefassten Weg gelangen würde. Mit einem nur ähnlichen Erfolg sei ihm oft nicht gedient, und bei 83 Zur Step-Transaction-Doctrin ausführlich R. Matteotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, Bern 2007, S. 364–377. 84 J. Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 93; kritisch auch P. Kirchhof, StuW 1983, 176 ff. 85 VJSchrStFR Bd. 1 (1927), 164.
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verfeinerter Umgehungsmethode sehe man, dass dann, wenn ein entfernterer Weg mit großer Ähnlichkeit gewählt worden sei, durch vielfache Neben- und Seitenverträge die Unterschiede wieder beseitigt oder wirkungslos gemacht würden. So liefen die Umgehungen darauf hinaus, den nämlichen Tatbestand zwar inhaltlich-wirtschaftlich zu schaffen, äußerlich-rechtlich jedoch zwar inhaltlich-wirtschaftlich zu schaffen, äußerlich-rechtlich jedoch als einen anderen erscheinen zu lassen. – Soll der angestrebte wirtschaftliche Vorgang oder Zustand verschiedensten Interessen Rechnung tragen, so kann das allerdings notwendigerweise auch zu komplizierten rechtlichen Gestaltungen führen. W. Schön will – wenn ich ihn richtig verstehe – den Begriff „Unangemessenheit“ auf „innere Widersprüchlichkeit“ reduzieren. 86 Zwar kann widersprüchliche Gestaltung für Unangemessenheit sprechen. Die Begriffe „Unangemessenheit“ und „innere Widersprüchlichkeit“ sind aber nicht inhaltsgleich. Widersprüchlichkeit ist keine Kronkretisierung von Unangemessenheit. Der Angemessenheitsbegriff sollte auch nicht entsprechend gebogen werden. Der Begriff „unangemessen“ wurde von der Rechtsprechung auch mit dem Begriff „ungewöhnlich“ identifiziert. 87 Das erklärt sich wohl daraus, dass § 5 AO 1919 von ungewöhnlichen Rechtsformen sprach und der Begriff „ungewöhnlich“ weitergeschleppt worden ist. „Unangemessen“ und „ungewöhnlich“ sind aber nicht inhaltsgleich. Ungewöhnlich ist, was bestehender Übung, bestehenden Gewohnheiten oder Sitten nicht entspricht, u. U. sogar das, was geschieht, ohne dass sich zuvor eine bestimmte Übung herausgebildet hatte. § 42 AO will den Steuerpflichtigen jedoch nicht zwingen, fortschrittliche rechtliche Wege zu meiden. Wenngleich es auch Unsitten und schlechte Gewohnheiten gibt, so spricht doch eine gewisse Vermutung dafür, dass etwas, was rechtlich allgemein geübt wird oder was sogar üblich ist, auch angemessenes rechtliches Verhalten ist. 88 Das schließt nicht aus, dass im Einzelfall Ungewöhnliches auch unangemessen sein kann. 89 Eine Rechtgestaltung ist nicht allein deshalb unangemessen, weil sie aus steuerlichen Beweggründen gewählt worden ist 90; nur muss sie einen vernünftigen wirtschaftlichen Zweck haben. Auch eine rechtliche Gestaltung, der eine rein steuerrechtliche Motivation zugrunde 86 DStJG Bd. 33 (2010), 60. 87 BFH BStBl. 1984 II, 426, 428; 1985 II, 269, 271; 1985 II, 494, 495; 1985 II 636, 641. 88 Zutreffend BFH BStBl. 1986 II, 821, 823. 89 K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (Loseblatt Lfg. 124), § 42 AO Tz. 18. 90 BFH BStBl. 1951 III, 181, 183; 1964 III, 667; 1968 II, 152, 155; 1974 II, 382; 1992 II, 451, 542. – Es gibt allerdings auch abweichende Entscheidungen.
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liegt, ist anzuerkennen, wenn sie gegenüber dem frei gestaltbaren wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand angemessen ist. Ist ein vernünftiger wirtschaftlicher Zweck aber nicht zu erkennen, wenn man Motiv und Zweck der Steuerersparnis wegdenkt, so trifft § 42 AO zu. § 42 AO enthält keine Ermächtigung an die Steuerbehörden zu prüfen, ob eine wirtschaftliche Veranstaltung (Vorgang, Zustand) wirtschaftlich vernünftig ist. Die Erfahrung lehrt allerdings, dass rechtliche Gestaltungen, die lediglich aus steuerrechtlichen Gründen gewählt werden, nicht ganz selten unvernünftig, umständlich und unangemessen sind. Von einer angemessenen rechtlichen Gestaltung kann allerdings von vornherein keine Rede sein, wenn die wirtschaftliche Veranstaltung (Vorgang, Zustand), der gegenüber die Rechtsgestaltung angemessen sein könnte, lediglich behauptet, vorgegeben oder vorgetäuscht wird, während es in Wirklichkeit an solcher Veranstaltung fehlt, weil nur wirtschaftliche Scheinhandlungen vorgenommen werden. In diesen Fällen ist aber nicht § 42 AO, sondern § 41 II AO anzuwenden. Danach sind Scheinhandlungen für die Besteuerung unerheblich. Die Rechtsprechung hat einen Rechtsgestaltungsmissbrauch oft verneint mit der Begründung, dass der gewählte Weg durch beachtliche Gründe nichtsteuerlicher Art veranlasst worden sei. 91 Indessen sind beachtliche wirtschaftliche Gründe lediglich ein Indiz für die Angemessenheit der Rechtsgestaltung, aber eben nicht mehr. Oftmals wird sich eine beabsichtigte wirtschaftliche Veranstaltung rechtlich auf verschiedene Weise bewerkstelligen lassen, ohne dass man den einen oder anderen Weg als unangemessen bezeichnen könnte. Von mehreren angemessenen Gestaltungsmöglichkeiten darf der Steuerpflichtige die steuerlich günstigste wählen. Hat der Steuerpflichtige eine angemessene Gestaltung gewählt, so ist es irrelevant, ob es eine noch angemessenere Gestaltung gegeben hätte. Nicht unangemessen ist es z. B., wenn Eheleute testamentarisch bestimmen, dass der Längstlebende Nießbraucher werden soll, nicht Erbe (kraft gegenseitigen Testaments) oder Vorerbe. Vorausgesetzt ist immer, dass es sich um eine zivilrechtlich wirksame Gestaltung handelt. Bei der Würdigung der zivilrechtlichen Gestaltung ist § 133 BGB zu beachten. Auch ist zu prüfen, ob zivilrechtliche Umdeutung möglich ist. Der BFH (insbesondere der II. Senat) hatte in einer Reihe von Urteilen entschieden, entscheidend sei, dass durch einen ungewöhnlichen (!) Weg ein steuerlicher Erfolg erreicht werden solle, der bei sinnvoller, Zweck und Ziel der Rechtsordnung (!) berücksichtigender Auslegung
91 BFH BStBl. 1961 III, 21 f.; 1964 III, 667, 669.
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(!) vom Gesetz missbilligt werde. 92 Der II. Senat hat nie dargelegt, wie sich dieser „Kernsatz“, der die Unbestimmtheit einer Leerformel hat, aus § 42 AO (früher § 6 StAnpG) ableiten lässt. 93 Es geht nicht um einen ungewöhnlichen Weg, sondern um einen unangemessenen. Es kann nicht auf Zweck und Ziel der Rechtsordnung ankommen, sondern nur auf den Zweck der Norm, deren Umgehung zu beurteilen ist. Im Falle des § 42 AO handelt es sich nicht um Auslegung, sondern um eine Art Analogietechnik (s. oben S. 1670 ff.). Offenbar ist die kritisierte Formel inzwischen von den meisten BFH-Senaten aufgegeben und in etlichen Urteilen durch folgende Formel ersetzt worden: Eine Rechtsgestaltung ist missbräuchlich, wenn sie, gemessen an dem erstrebten Ziel, unangemessen ist, der Steuerminderung dienen soll und durch wirtschaftliche oder sonst beachtliche nichtsteuerliche Gründe nicht zu rechtfertigen ist. 94 Unangemessen sein kann eine Gesamtgestaltung 95 etwa die Gründung einer bestimmten Gesellschaft (die Wahl einer bestimmten Gesellschaftsform); unangemessen sein kann auch eine Einzelgestaltung im Rahmen einer Gesamtgestaltung. 4.2222 Gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil Das Gesetz setzte schon immer stillschweigend voraus, dass durch Umgehung oder durch Ergehen ein steuerlicher Vorteil erreicht wird. Nach § 42 II 1 AO n. F. muss die unangemessene Gestaltung zu einem „gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil“ führen. Über diesen Passus haben sich schon viele Steuerjuristen mit unterschiedlichem Ergebnis den Kopf zerbrochen. 96 Verursacht worden ist das durch eine Fehlleistung der Gesetzesformulierer. Da ist einmal das, was die Urheber der Formulierung wahrscheinlich ausdrücken wollten; und da ist zum anderen das, was sie tatsächlich ausgedrückt haben – und 92 BFH BStBl. 1964 III, 667; 1965 III, 697; 1966 III, 148, 150; 1966 III, 509, 510; 1970 II, 674, 675; 1971, 721, 722; 1977 II, 322, 324; 1974 II, 521; 1977, 261, 262 f.; 1977 II, 263, 264; 1977 II, 754, 756; 1977 II, 843, 844; 1979 II, 77, 78; 1980 II, 28, 30; 1980 II, 247, 248. 93 Kritisch auch K. Meßmer, StbJb. 1979/80, 255; J. Danzer, Die Steuerumgehung, 1981, S. 115. 94 BFH BStBl. 1981 II, 223, 225; 1981 II, 219, 220; 1984 II, 426, 428; 1984 II, 428, 430; 1985 II, 33, 35; 1985 II, 680, 681; 1987 II, 814, 815; 1991 II, 903; 1992 II, 446; 1992 II, 542; 1992 II, 549. Reste der alten Formel enthalten BFH BStBl. 1986 II, 284, 286; 1987 II, 219, 220. 95 Dazu Damas/Ungemach, Schreckgesperrt Gesamtplanrechtsprechung?, DStZ 2007, 552; Kugelmüller-Pugh, Der „Gesamtplan“ im deutschen Steuerrecht, FR 2007, 1139; M. Tanzer, Der Gesamtplan im Rahmen steuerlicher Tatbestände, DStJG Bd. 33 (2010), 189 ff. 96 Nachweise dazu von K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (Loseblatt Lfg. 124), Vor § 42 AO Tz. 22.
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was bei Gesetzespositivisten dann zu sinnlosen Ergebnissen führt. Im Referenten- und im Regierungsentwurf 97 war zwar auch schon vom Steuervorteil die Rede, aber noch nicht vom Steuervorteil, der „gesetzlich nicht vorgesehen“ ist. Der Steuergesetzgeber unterscheidet nicht zwischen Fiskalzwecknormen und Lenkungsnormen. § 42 AO erfasst wörtlich nur das Umgehen von Fiskalzwecknormen, nicht das Ergehen von Lenkungsnormen, insbesondere von Steuervergünstigungen. Der in den §§ 70 I, 71–150 VI, 370 I, 379 I AO verwendete Begriff „Steuervorteil“ bezieht sich nicht auf Fiskalzwecknormen, nicht auf Steuerfestsetzungen. Was Steuern betrifft, hat der Gesetzgeber wahrscheinlich Folgendes ausdrücken wollen: „der zu einem steuerlichen Vorteil führt, der dem Steuerpflichtigen bei angemessener Gestaltung gesetzlich nicht zustehen würde.“ Die Formulierung „gesetzlich nicht vorgesehener Steuervorteil“ ist insofern verfehlt, als der Begriff „Steuervorteil“ zu den Fiskalzwecknormen nicht passt und es nicht darauf ankommt, ob das Gesetz einen Vorteil nicht vorsieht, sondern darauf, ob der Steuerpflichtige einen „steuerlichen Vorteil“ erstrebt, der ihm bei angemessener Gestaltung nicht zustehen würde. „Steuerlicher Vorteil“ ist neutraler als „Steuervorteil“, wie er in anderen Vorschriften verwendet wird. Man kann auch von „Steuerersparnis“ sprechen. Die Steuerersparnis kann in einer niedrigeren Steuer infolge Steuerumgehung oder infolge Ergehens steuermindernder Vorschriften bestehen, auch in einer Steuererstattung oder Steuervergütung. Das Schweizer Bundesgericht formuliert: „wenn (2) anzunehmen ist, dass die gewählte Gestaltung lediglich deshalb getroffen wurde, um Steuern einzusparen . . .“ 98 Die Formulierung erfasst wörtlich nicht das Erstreben von Steuervergünstigungen oder Steuervorteilen. Der Nichtpositivist dürfte keine Schwierigkeiten haben, § 42 AO im hier erörterten Sinne auszulegen, da gleichlautende Begriffe (so auch der Begriff „Steuervorteil“) unterschiedlich ausgelegt werden können. 99 Besser wäre es allerdings, § 42 AO würde unmissverständlich formuliert. Dazu könnte der Gesetzgeber die Vorschläge von § 42 AOExperten einholen. Wir wären dann wieder bei dem, was hier schon in der 1. Auflage zu § 42 AO ausgeführt worden ist. 4.223 Missbrauchsabsicht Das Gesetz spricht bewusst von Missbrauch von Rechtsgestaltungsmöglichkeiten, nicht von Gestaltungsfehlgebrauch. Das „Missbrauchen“ ist eine zweckgerichtete (finale) Handlung zum Zwecke der 97 Abgedruckt bei K.-D. Drüen (Fußn. 96), Vor § 42 AO Tz. 3, 4. 98 Zitiert nach M. Reich, Steuerrecht, 2009, S. 134. 99 Dazu K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 111), § 4 AO Tz. 264.
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Umgehung des Steuergesetzes. Die unangemessene rechtliche Gestaltung muss gewählt worden sein, um das Steuergesetz zu umgehen, mit anderen Worten: es muss mit Umgehungsabsicht (dolos, fraudulös) gehandelt worden sein. Der Steuerpflichtige muss in fraudem legis agere. Den Begriffen ‚Missbrauch‘ oder ‚missbrauchen‘ entsprechen in der englischsprachigen Fachliteratur die Begriffe ‚abuse‘ oder ‚misuse‘. Das französische Recht kennt den abus de droit. Die Frage, ob Umgehungsabsicht mitbestimmend ist 100, ist freilich weitgehend theoretischer Natur: Ist der Tatbestand des § 42 AO nämlich im Übrigen erfüllt, so lässt sich die Umgehungsabsicht regelmäßig im Wege des Indizienbeweises feststellen; gegen den Steuerpflichtigen spricht dabei, wenn er die von ihm gewählte Rechtsgestaltung nicht durch eine plausible Erklärung zu rechtfertigen vermag. Wer keine plausiblen wirtschaftlichen Gründe für eine bestimmte Rechtsgestaltung angeben kann, von dem kann angenommen werden, dass er in Umgehungsabsicht gehandelt hat. Wer aus Rechtsunkenntnis, Unerfahrenheit oder Ungeschicklichkeit eine unangemessene Rechtsgestaltung wählt, wird freilich von § 42 AO nicht erfasst. 101 Diese Auffassung wird zum Teil mit methodischen, zum Teil mit anderen Gründen bestritten. Der Steuertatbestand sei objektiv; Steuerrechtsanwendung sei ein objektiver Vorgang, vertrage keine subjektive Abhängigkeit. 102 Andere möchten dem Steuerpflichtigen ersparen, dass er als „Steuerschieber“, „Schleichweg-Benutzer“ oder als „in fraudem legis-Agierender“ (fraus = Betrug, Täuschung, Gaunerei, Frevel) bezeichnet wird. Sie interpretieren den Begriff „Gestaltungsmissbrauch“ um in „Gestaltungsfehlgebrauch“ oder „Steuerfehlgestaltung“. Richtig ist, dass die wirtschaftliche Betrachtungsweise grundsätzlich eine objektive Methode ist. Das ändert aber nichts daran, dass der Gesetzgeber in einem Sonderfall anders verfahren, nur das „bösgläubige“ Handeln erfassen darf. Der Verfasser hatte in StuW 1971, 101 eine objektive Fassung des § 42 AO vorgeschlagen, der Gesetzgeber ist dem aber nicht gefolgt. Wer für eine objektive Auslegung des § 42 AO eintritt, müsste auch für Umgehungen mit dem Ergebnis einer höheren Steuer eintreten. § 42 AO enthält einen relativ engen Sondertatbestand. Wer unbegrenzte Auslegung nach dem Zweck oder Analogie auch im Steuer-
100 RFH RStBl. 1937, 73; 1937, 434; BFH BStBl. 1964 III, 667, 669; 1977 II, 843; 1986 II, 496. 101 In diesem Sinne auch A. Hensel, (Fußn. 42), S. 282. 102 So etwa H. W. Kruse, StbJb. 1978/79, 452 f.; J. Danzer, Die Steuerumgehung, 1981, S. 101 f. m. w. N. in Fußn. 496.
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recht für zulässig hält, ist von § 42 AO unabhängig und auf den Nachweis einer Missbrauchs- oder Umgehungsabsicht nicht angewiesen. Die erforderliche Umgehungsabsicht lässt sich aus der Neufassung von 2008 auch daraus entnehmen, dass das Gesetz von „außersteuerlichen Gründen“ spricht. 103 Jedenfalls hat die Neufassung des § 42 AO ab 2008 an der bisherigen Rechtslage nichts geändert. 104 4.224 Umgehung eines Steuergesetzes Durch den Missbrauch von Rechtsgestaltungsmöglichkeiten muss ein Steuergesetz umgangen werden. Da Umgehung nur vorliegt, wenn die Divergenz zwischen Gesetzeszweck und Gesetzeswortlaut ausgenutzt wird (s. oben S. 1662 ff.), kann eine Umgehung nur bejaht werden, nachdem zuvor geprüft worden ist, ob nach dem Gesetzeszweck eine Steuerbelastung gewollt oder eine Steuerentlastung nicht gewollt ist. Findet eine solche Prüfung nicht statt, wird m. a. W. eine bloß freischwebende Missbrauchsprüfung vorgenommen, so ist nicht auszuschließen, dass mit Hilfe des § 42 AO Fälle erfasst werden, die nach dem Gesetzeszweck nicht belastet oder entlastet werden sollen. Es entsteht dadurch m. a. W. die Gefahr eines Eindringens in den rechtsfreien Raum. Es gibt zwar zwei Wege der wirtschaftlichen Ähnlichkeitsbestimmung: die Orientierung am Gesetzeszweck (oder Gesetzesprinzip) und die Orientierung am ähnlichen Sachverhalt. Jedoch bedarf der zweite Weg ebenfalls der Kontrolle am Gesetzeszweck; das verlangt die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung. Es muss ein Steuergesetz umgangen werden. § 42 AO spricht von Umgehung des „Steuergesetzes“. Aus ihm ergibt sich nicht, ob die einzelne Gesetzesnorm gemeint ist oder das Gesetz als solches. Regelmäßig werden einzelne Normen umgangen. Der „Umgehungserfolg“ kann allerdings auch dadurch eintreten, dass eine steuerentlastende (steuermindernde) Vorschrift erfüllt wird. In diesem Fall wird die einzelne steuermindernde Norm ergangen. 105 Es kann allerdings auch mit teleologischer Reduktion (s. S. 1641) der ergangenen Norm geholfen werden, wenn man diese für zulässig hält. Missbräuchliches Ergehen ist Erschleichen. Insgesamt liegt gleichwohl eine analoge Anwen103 Jedenfalls Missbrauchsabsicht verlangend W. Schön, DStJG Bd. 33 (2010), 61; M. Wendt, DStJG Bd. 33 (2010), 132 f. 104 Zur bisherigen, hier vertretenen Rechtsauffassung (Missbrauchsabsicht erforderlich) auch K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 123), § 42 AO (a. F.) Tz. 44 f. 105 H. W. Kruse, StbJb. 1978/79, 443, 454; BFH BStBl. 1985 II, 33, 35 zu § 17 II BerlinFG; 1985 II, 636, 641 zu Art. I Nr. 2 KraftStÄndG Berlin 1950; 1987 II, 814, 815 zum Spendenabzug; D.-J. Piltz, BB 1987, Beilage 14 S. 9, zu DBA-Vorteilen. – Dem bloßen Gesetzeswortlaut ist das „Ergehungsverbot“ allerdings nicht zu entnehmen.
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dung des Gesetzes insofern vor, als (zwar nicht die steuermindernde Norm, sondern) der Haupttatbestand ausgeschlossen oder eingeschränkt wird. 106 4.23 Rechtsfolgen der Steuerumgehung 4.231 Steuerrechtliche Folgen Das Umgehungsgeschäft, die unangemessene rechtliche Gestaltung, ist eine zivilrechtlich wirksame Gestaltung; sie ist kein Scheingeschäft (folglich ist § 41 II AO nicht anwendbar); sie ist auch kein verbotenes oder sittenwidriges, daher unwirksames (s. §§ 134 138, BGB) Geschäft (folglich ist § 41 I AO nicht anwendbar). 107 Gleichwohl ist die missbräuchliche Gestaltung i. S. des § 42 AO wie jeder Rechtsmissbrauch ein rechtlich unerwünschtes Verhalten, ein rechtlicher Unwert. § 42 I 3 AO verhindert den Umgehungserfolg dadurch, dass er bestimmt: Liegt ein Missbrauch vor, so „entsteht der Steueranspruch . . . so wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht.“ Die Wirkungen der Umgehung werden also neutralisiert, sie bleiben unberücksichtigt, sind irrelevant. Die tatsächlich gewählte rechtliche Gestaltung ist für die steuerrechtlichen Rechtsfolgen ohne Bedeutung. An ihrer Stelle wird die tatsächlich nicht gewählte angemessene Rechtsgestaltung der Besteuerung zugrunde gelegt. Kommen mehrere angemessene Gestaltungen mit unterschiedlicher steuerlicher Last in Betracht, so ist die steuerlich günstigere maßgeblich, es sei denn, dass der Steuerpflichtige widerspricht. Damit besteuert das Gesetz durch § 42 AO aber keinen fiktiven, fingierten, unterstellten, irrealen Sachverhalt, wie vielfach angenommen wird. § 42 AO soll nur sicherstellen, dass der eigentliche wirtschaftliche Vorgang oder Zustand (um den es den Steuergesetzen in der Regel wirklich geht) erfasst wird, nicht aber die diesen Vorgang nicht fundierende, weil unangemessene Rechtsgestaltung. Der eigentliche wirtschaftliche Vorgang oder Zustand, der erfasst werden soll, ist keine Fiktion, außer in der Sicht des Rechtsformalisten. Fingiert wird – zur Erfassung des wirklichen wirtschaftlichen Vorgangs oder Zustands – nur die angemessene Rechtsgestaltung. Von einem fiktiven Sachverhalt kann nur sprechen, wer irrtümlich gar nicht in dem wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand, sondern in der formalen Rechtsgestaltung als solcher den Sachverhalt sieht, den das Gesetz erfassen will. 106 Dazu A. Hensel, (Fußn. 42), S. 225. 107 Nachweise bei H. W. Kruse, StbJb. 1978/79, 450 f.; J. Danzer, Die Steuerumgehung, 1981, S. 36 f.
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Steuern, die aufgrund der unbeachtlichen unangemessenen Rechtsgestaltung etwa entrichtet worden sind, werden auf den Steuerbetrag, der sich aufgrund der angemessenen Rechtsgestaltung ergibt, angerechnet, wenn es sich um dieselbe Steuer handelt. Ist aufgrund der unangemessenen Rechtsgestaltung eine Steuer in einem anderen Veranlagungszeitraum gezahlt worden oder hat sich die unangemessene Gestaltung bei einer anderen Steuerart zu Lasten des Steuerpflichtigen ausgewirkt, so gilt auch hier § 42 Satz 2 AO, wonach der Steueranspruch so entsteht, wie es einer angemessenen Rechtsgestaltung entspricht. Ist die Steuer bereits festgesetzt worden, so kommt Zurücknahme oder Änderung dieses Bescheids in Betracht, insbesondere nach §§ 164 II, 173 I 1 Nr. 1 AO, eventuell nach § 174 AO. 4.232 Strafrechtliche Folgen Dadurch, dass § 42 AO die Steuertatbestände, die wirtschaftliche Vorgänge oder Zustände erfassen wollen, allgemein verlängert (erweitert), verhindert er automatisch die Umgehung, macht sie zum „untauglichen Versuch“. Er verbietet die Umgehung aber nicht, erklärt sie auch nicht zu einer strafbaren Handlung. Strafbar werden kann der Steuerpflichtige nur, wenn er den Sachverhalt, den das Finanzamt braucht, um § 42 AO anwenden zu können, verschleiert oder verheimlicht (sog. unehrliche Steuerumgehung). Das war in §§ 396 IV, 402 II AO 1931 ausdrücklich geregelt; die Vorschriften sind aber durch das Zweite AO-StrafÄndG vom 12. 8. 1968 BGBl. I, 953 als überflüssig gestrichen worden. Die Rechtslage hat sich dadurch nicht geändert, da alle Tatbestandsmerkmale der §§ 396 IV, 402 II AO a. F. bereits im allgemeinen Tatbestand der Steuerhinterziehung (jetzt §§ 370 I, 378 I AO) enthalten sind. Eine Bestrafung im Gefolge einer Steuerumgehung ist praktisch schwierig, zum einen wegen der Unbestimmtheit des Begriffs der „Angemessenheit“, zum anderen wegen der Schwierigkeit, den subjektiven Tatbestand mit der für das Strafrecht nötigen Eindeutigkeit nachzuweisen. 108 Der Steuerberater, der zu der Rechtsgestaltung geraten hat, ist in praxi eher gefährdet als der LaienSteuerpflichtige. 109 4.24 Nachweis außersteuerlicher Gründe Nach dem vor 2008 geltenden Recht war klar: Das Finanzamt oder das Gericht musste unter Mitwirkung des Steuerpflichten den Sachverhalt soweit aufklären (§§ 88, 90 AO), dass entschieden werden konnte, dass 108 Näheres bei K. Tipke, StbJb. 1972/73, 520 ff.; M. Streck, KÖSDI 1980, 3603 f.; s. auch H. W. Kruse, StbJb. 1978/79, 451 f.; J. Danzer, Die Steuerumgehung, 1981 S. 37 ff. 109 M. Streck, KÖSDI 1980, 3605.
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§ 42 AO zutrifft. Ließ sich das unter Ausschöpfung aller Aufklärungsmittel nicht erweisen, konnte § 42 AO nicht angewendet werden, die objektive Beweislast hatte die Behörde. Da der Steuerpflichtige bei der Sachaufklärung mitwirken musste, kam es jedoch i. d. R. nicht zu einer Beweislastentscheidung. Versagte der Steuerpflichtige seine Mitwirkung, nannte er jedenfalls keine vernünftigen Gründe für seine Art der rechtlichen Gestaltung, so pflegte im Weg der Beweiswürdigung geschlossen zu werden, dass vernünftige Gründe für die gewählte Gestaltung nicht vorliegen, dass m. a. W. Missbrauch vorliege. § 42 II 2 AO schreibt nun vor: Missbrauch liegt nicht vor, wenn der Steuerpflichtige für die gewählte Gestaltung außersteuerliche Gründe nachweist, die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse beachtlich sind. Dadurch ist die Beweislast partiell umgekehrt worden. Es genügt freilich nicht, dass das Finanzamt einen Gestaltungsmissbrauch einfach behauptet. Es muss die Annahme des Missbrauchs begründen – durch Indizien und Vermutungen. Diese muss der Steuerpflichtige durch Nachweis außersteuerlicher Gründe ausräumen, entkräften. Die nachgewiesenen außersteuerlichen Gründe sind unbeachtlich, wenn sie unwesentlich oder von untergeordneter Bedeutung sind (AEAO zu § 42, Nr. 2, 6). Über die Beachtlichkeit wird sich trefflich streiten lassen. 4.25 Konkurrenzen (1) Unwirksame (nichtige) Rechtsgeschäfte sind nicht geeignet, eine Umgehung des Steuergesetzes zu bewirken. Die missbräuchlichen Geschäfte (i. S. § 42 AO) setzen zivilrechtliche Wirksamkeit voraus. Die steuerrechtlichen Folgen unwirksamer Rechtsgeschäfte ergeben sich aus § 41 AO. Scheingeschäfte insbesondere sind zivilrechtlich nichtig (§ 117 I BG) und steuerrechtlich irrelevant (§ 41 II AO). Da „missbräuchliche“ Gestaltungen i. S. § 42 AO nicht zum Schein gewollt sind, da sonst der Umgehungszweck nicht erreicht wird, besteht theoretisch eine klare Grenze zwischen Scheingeschäft und Umgehungsgeschäft. 110 Praktisch lässt sich aber nicht selten schwierig aufklären, ob ein Schein- oder ein Umgehungsgeschäft gewollt ist. Nicht selten wird auch ein Scheingeschäft geschlossen in der Erwartung, die Finanzbehörde werde die Scheinnatur nicht bemerken. Ist das Rechtsgeschäft rechtlich zwar nicht zum Schein abgeschlossen worden, werden an das Geschäft aber nur wirtschaftliche Scheinhandlungen (Scheinfunktionen) geknüpft, so ist § 41 II AO anzuwenden.
110 Dazu V. Kluge, StuW 1976, 102 ff.; s. auch BFH BStBl. 1985 II, 33, 35 m. w. N.
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(2) Die Sondervorschriften zur Bekämpfen der Steuerumgehung (sog. Spezialklauseln) sollten nach der Rechtslage bis 2008 § 42 AO nicht verdrängen. Sie sollten – in Anbetracht der Schwierigkeiten der Anwendung des generalklauselartigen § 42 AO – lediglich den Zugriff in bestimmten typischen Fällen erleichtern und sicherer machen. Fiel ein Sachverhalt zugleich unter eine Spezialklausel und die Generalklausel des § 42 AO, so dürften die schärferen Rechtsfolgen angewendet werden. Waren die Rechtsfolgen aus § 42 AO schärfer, so galten sie. Die Spezialklauseln sollten § 42 AO nicht entschärfen. Die einzelsteuergesetzlichen Vorschriften, die der Verhinderung von Steuerumgehungen dienen sollen, pflegen in der Literatur als Spezialnormen oder spezielle Vorschriften zur Steuerumgehungsbekämpfung bezeichnet zu werden. Im Strafrecht wird ein Verhältnis der Spezialität angenommen, wenn eine Vorschrift alle Merkmale einer anderen (allgemeinen) Vorschrift aufweist und sich nur dadurch von dieser unterscheidet, dass sie mindestens noch ein weiteres Merkmal enthält, das den Sachverhalt unter einem besonderen Gesichtspunkt erfasst. Lex specialis derogat legi generali. So streng ist § 42 I 2 AO n. F. wohl nicht gedacht. Es genügt, dass die spezielle – für besondere Fälle geltende – Vorschrift wie § 42 AO der Umgehungsverhinderung dient. Tut sie das, so gilt nicht die allgemeine Rechtsfolge des § 42 I 3 AO, sondern die im Einzelsteuergesetz angeordnete besondere Rechtsfolge. Da die Finanzverwaltung § 42 AO als unbefriedigend empfindet, drängt sie den Gesetzgeber immer mehr zu Spezialvorschriften mit besonderen Rechtsfolgen. Eine allgemeine oder verallgemeinernde Vorschrift hat den Vorteil, dass sie für Gleichbehandlung (durch gleiche Rechtsfolge) sorgt. Im Interesse des Gleichheitssatzes sollte der Gesetzgeber in Spezialfällen zunächst prüfen, ob § 42 AO für die Missbrauchsbekämpfung in dem jeweiligen Sonderfall wirklich ungeeignet, ineffizient ist? Auch in Spezialfällen darf m. E. § 42 II 2 AO (Nachweis außersteuerlicher Gründe) entsprechend herangezogen werden, denn der Nachweis ist keine Rechtsfolge. Spezialvorschriften sollten stets auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden, zumal sie nicht selten das Übermaßverbot oder das Verallgemeinerungsverbot verletzen. 111 Das ist aber kein Konkurrenzproblem.
111 Dazu J. Hey, Spezialgesetzliche Missbrauchsgesetzgebung aus systematischer, verfassungs- und europarechtlicher Sicht, StuW 2008, 167 ff.; J. Hey, Spezialgesetzgebung und Typologie zum Gestaltungsmissbrauch, DStJG Bd. 33 (2010), 139 ff.; M. Gabel, Spezielle Missbrauchsnormen und der allgemeine Gleichheitssatz, StuW 2011, 3 ff.
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Zurechnung von Wirtschaftsgütern
Je mehr der Gesetzgeber § 42 AO durch Spezialvorschriften aushöhlt (man kann auch sagen: „umgeht“), desto mehr wird § 42 AO zu einer (nur noch subsidiär geltenden) Auffangvorschrift. 4.26 Exkurs in ausländisches Recht Zum ausländischen Recht Hinweis auf Bd. III1, 1993, S. 1347 ff., ferner auf R. Matteotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung. Ein Rechtsvergleich zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten von Amerika unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, Bern 2007, mit umfänglichem Literaturnachweis (S. XXXVII–LXXLX). Zum europäischen Steuerrecht W. Schön, Rechtsmissbrauch und Europäisches Steuerrecht, in: Festschrift für W. Reiß, 2008, S. 571 ff.; P. Fischer, Überlegungen zum fraus-legis-Gedanken nach deutschem und europäischem Recht, in: Festschrift für W. Reiß, 2008, S. 621 ff.; M. T. Soler Roch, Tax Avoidance – ECJ-Doctrine and Spanish Law, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 1031 ff.
5. Wirtschaftliche Zurechnung von Wirtschaftsgütern (§ 39 AO) Literatur G. Seeliger, Der Begriff des wirtschaftlichen Eigentums im Steuerrecht, Diss. Göttingen, Stuttgart 1962; J. Werndl, Wirtschaftliches Eigentum, Wien 1983, Lizenzausgabe Köln 1983; G. Stoll, Wirtschaftliches Eigentum und Verfassungsordnung, Juristische Blätter (Zeitschrift, Wien) 1986, 273 ff.; Tipke/Kruse, AO/FGO, Erläuterungen zu § 39 AO (Lfg. 109) – jeweils mit ausführlichen Literaturangaben.
Während es im privaten Recht vor allem um die Sicherung des privaten Rechtsfriedens geht, u. a. um die Bestimmung der Rechte von Eigentümern und Forderungsinhabern sowie den Schutz solcher Titel, kommt es im Steuerrecht weithin auf die wirtschaftliche Zurechnung von Wirtschaftsgütern (Gegenständen, wirtschaftlichen Potenzen) zum Vermögen des Steuerpflichtigen an. Jedenfalls sollte es im Steuerrecht darum gehen, die Indikatoren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu finden. Diese Berücksichtigung des steuerrechtlichen Telos ist nicht verfassungswidrig. Nach § 39 I AO sind Wirtschaftsgüter grundsätzlich dem Eigentümer zuzurechnen. § 39 II Nr. 1 Satz 1 AO durchbricht diese Regel aber: Übt ein anderer als der Eigentümer die tatsächliche Herrschaft über ein Wirtschaftsgut in der Weise aus, dass er den Eigentümer im Regelfall für die gewöhnliche Nutzungsdauer des Wirtschaftsguts von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut ausschließen kann, so ist ihm 1689
§ 35 Sondervorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
das Wirtschaftsgut zuzurechnen. 112 An dieser Formel lässt sich kritisieren, dass sie einseitig nur den negativen Inhalt des Eigentumsrechtes berücksichtigt (das Ausschließen-Können), nicht aber den positiven (die Befugnis zum Ge- oder Verbrauch, zur Veränderung, zur Belastung und Veräußerung). § 39 II Nr. 1 S. 2 AO nennt die wichtigsten Durchbrechungen des § 39 I AO: Bei Treuhandverhältnissen sind die Wirtschaftsgüter dem Treugeber 113, bei Sicherungsübereignung dem Sicherungsgeber (der Sicherungsnehmer ist zwar formell Eigentümer, wirtschaftlich aber nur Pfandgläubiger) 114, bei Eigenbesitz dem Eigenbesitzer 115 zuzurechnen. Nach G. Seeliger hat sich J. Werndl eingehend mit dem „wirtschaftlichen Eigentum“ befasst. 116 Er kommt zu dem Ergebnis, „dass Zurechnungssubjekt für jene Steuerarten, die sich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientieren, grundsätzlich der zivilrechtliche Eigentümer ist, und davon nur dann abgegangen werden kann, wenn dem Nichteigentümer bereits eine Rechtsposition zukommt, die sich von der eines Eigentümers im Sinne der Privatrechtsdogmatik nur mehr durch das Fehlen der dinglichen Berechtigung unterscheidet, diese dingliche Berechtigung aber durch ein einseitiges Gestaltungsrecht erzwungen werden kann.“ 117 § 39 AO, allgemein als Ausfluss der wirtschaftlichen Betrachtungsweise verstanden, trifft eine allgemeine Aussage, die für mehrere Steuern gilt. Da die Vorschrift keinerlei Einschränkungen auf bestimmte Steuern enthält, erweckt sie den Eindruck, als wolle sie alle Steuerarten erfassen. Es ist indessen fraglich, ob die Suche nach einer allgemeinen Definition hier nicht mehr verwirrt als nützt, ob es nicht besser gewesen wäre, die Zurechnung von Wirtschaftsgütern, soweit es auf sie ankommt, den Einzelsteuergesetzen zu überlassen. § 39 AO enthält keine Einschränkungen und verleitet dadurch zu der Vorstellung, die Vorschrift gelte im Steuerrecht durchgehend. Das trifft jedoch nicht zu. Besondere Vorschriften gehen der allgemeinen Vor112 Diese Formel geht auf G. Seeliger zurück (Der Begriff des wirtschaftlichen Eigentums im Steuerrecht, 1962, S. 89 f.); sie ist von dem Leasing-Urteil BFH BStBl. 1970 II, 264 ff., 272 übernommen worden. S. auch Finanzausschussbericht BT-Drucks. 7/4292, S. 19. 113 Dazu im Einzelnen Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 39 AO Tz. 30–47. 114 Dazu im Einzelnen Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 39 AO Tz. 48–50. 115 Dazu im Einzelnen Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 39 AO Tz. 51–62. 116 § 39 AO verwendet diesen Begriff nicht. B. Knobbe-Keuk bezeichnet ihn zu Recht als „wenig glücklich“ (Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht8, 1991, S. 62). § 94 I BewG spricht vom „wirtschaftlichen Eigentümer“ des Gebäudes. 117 J. Werndl, Wirtschaftliches Eigentum, 1983, S. 166 f. Von dieser engen Formel mit Recht abweichend W. Doralt/H. G. Ruppe, Steuerrecht II5, Wien 2006, RNr. 441, 444.
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Zurechnung von Wirtschaftsgütern
schrift des § 39 AO vor. Die Vorrangigkeit spezieller Vorschriften gegenüber § 39 AO muss nicht ausdrücklich angeordnet werden; sie kann sich auch durch Auslegung von Vorschriften des besonderen Steuerrechts ergeben. 118 Das führt zu einer wesentlichen Durchlöcherung des § 39 AO. Im Bereich des Einkommensteuer- und Körperschaftsteuerrechts spielt die Zurechnung von Wirtschaftsgütern vor allem im Recht der bilanziellen Gewinnermittlung eine Rolle. Die bilanzielle Gewinnermittlung knüpft grundsätzlich an die Gewinnermittlung nach der Handelsbilanz (§ 141 I 22 AO; § 5 I EStG) an. 119 Zwar decken sich die Zurechnungsregeln des Bilanzrechts und die Zurechnungsregeln des § 39 AO weitgehend, B. Knobbe-Keuk 120 weist aber zutreffend eine Reihe von Ausnahmen nach. Eine (ausdrückliche) Klarstellung im Gesetz würde der Rechtssicherheit dienen. Im Erbschaftsteuerrecht wird § 39 II Nr. 1 AO allenfalls in seltenen Ausnahmefällen herangezogen. Im Umsatzsteuerrecht geht es (technisch) zentral um die Lieferung von Gegenständen, d. h. um die Verschaffung der Verfügungsmacht an diesen Gegenständen. Die Verfügungsmacht definiert § 3 UStG als die Befähigung, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen. Auch wenn die Verschaffung der Verfügungsmacht weitgehend mit der Verschaffung von wirtschaftlichem Eigentum zusammenfällt, Verfügungsmacht und wirtschaftliches Eigentum können auch auseinanderfallen. Jedenfalls ist das Umsatzsteuerrecht auf § 39 AO nicht angewiesen. Auch das Grunderwerbsteuerrecht enthält Spezialvorschriften, die § 39 II 1 AO nicht zur Entfaltung kommen lassen. 121 Der eigentliche Anwendungsbereich der „wirtschaftlichen Zurechnung“ nach § 39 AO liegt im Bereich der zurzeit in Deutschland nicht erhobenen Vermögensteuer, der Grundsteuer und der Gewerbekapitalsteuer, Einheitswertsteuern m. a. W. – oder inhaltlich: Substanzertragsteuern. Eine Untersuchung, die die angemessene Zurechnung von Wirtschaftsgütern streng steuerteleologisch, zumal einzelsteuerteleologisch untersucht (realiter und idealiter), steht noch aus. Gerade bei 118 Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 109), § 39 AO Tz. 3, 4; B. Knobbe-Keuk (Fußn. 116), S. 64 f. 119 H. G. Ruppe, DStJG Bd. 1 (1978), 14; B. Knobbe-Keuk (Fußn. 116), S. 64 f.; Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 39 AO Tz. 11; Stobbe, BB 1990, 518 ff.; a. A. B. Runge, in: B. Runge/H. Bremser/G. Zöller, Leasing, 1978, S. 261 f. 120 B. Knobbe-Keuk, (Fußn. 116), S. 63 f. (§ 4 III 2 b). 121 S. auch Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 109), § 39 AO Tz. 4.
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§ 35 Sondervorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Steuern auf das Vermögen dürfte es weniger darauf ankommen, ob ein anderer als der Eigentümer den Eigentümer von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut wirtschaftlich ausschließen kann, sondern vielmehr auf die positive Befugnis oder Möglichkeit, ein Gut durch Gebrauch, Verbrauch, Bearbeitung, Belastung, evtl. Veräußerung zu nutzen. Der Begriff „Wirtschaftsgut“ ist im Sinne des § 39 AO teleologisch entsprechend aufzufassen. Wirtschaftsgüter, die mehreren zur gesamten Hand zustehen, werden den Beteiligten anteilig zugerechnet, soweit eine getrennte Zurechnung für die Besteuerung erforderlich ist (§ 39 II Nr. 2 AO). Bei der Gesamthand ist eine Mehrheit von Personen Träger eines diesen Personen gemeinschaftlich zustehenden Vermögens. Ganz gleich, ob die Gesamthand ein Sondervermögen der Gesamthänder betrifft oder ob – wie von einer Minderheit angenommen – die Gesamtheit ein selbstständiges Rechtssubjekt ist: steuerrechtlich kommt es darauf nicht an. § 39 II Nr. 2 AO löst, soweit steuerrechtlich erforderlich (Hauptbeispiel: Vermögensteuer; vermögensteuerrechtlich ist nicht die Gesamtheit, sondern sind die Gesamthänder Steuersubjekte), für Steuerzwecke die Gesamtheit gedanklich in wirtschaftliche Teile auf: Die gemeinschaftliche Berechtigung am ganzen Vermögen oder am Vermögensgegenstand wird rechnerisch aufgeteilt in wirtschaftliche Bruchteile. 122 Die Frage, wie im Einzelnen aufzuteilen ist, beantwortet sich nach den Einzelsteuergesetzen oder nach den gesetzlichen und vertraglichen Regelungen des jeweiligen Gesamthandverhältnisses.
Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die Zurechnung von Wirtschaftsgütern in den Fällen des Leasing und des Mietkaufs 123, des Besitzes in Erwartung des Eigentumserwerbs (insbesondere bei Erwerb unter Eigentumsvorbehalt) 124 und der Gebäude auf fremdem Grund und Boden. 125 Nießbrauchern, Mietern und Pächtern sind die ihnen zur Nutzung überlassenen Wirtschaftsgüter grundsätzlich nicht zuzurechnen.
122 123 124 125
Ausführlich dazu Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 39 AO Tz. 81 ff. K. Tipke/H. W. Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 39 AO Tz. 64 ff. Dazu Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 39 AO Tz. 72. Dazu Tipke/Kruse, AO/FGO (Lfg. 115), § 39 AO Tz. 34.
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Teil V Strafen und andere Sanktionen zum Schutze der Steuerrechtsordnung § 36 Über Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts 1. Einführung in die behandelte Problematik . . . . . . . . . . . 1693 .. 2. Über das zu schützende Rechtsgut des Steuerstrafrechts. . . . . . . . . . . . . . . . 1697 .. 3. Über Motive der Steuerhinterzieher. . . . . . . . . . . . . . 1704 .. 3.1 Einführung. . . . . . . . . 1704 .. 3.2 Der homo oeconomicus 1706 .. 3.3 Der ökonomische und der moralische Aufrechner . . . . . . . . . . . . . . 1708 .. 3.4 Der Steuerliberale . . . . 1711 .. 3.5 Der Staatsverdrossene . 1712 .. 3.6 Insbesondere: Der Steuerverschwendungsverdrossene . . . . . . . . . . 1713 .. 3.7 Der aus wirtschaftlicher Not Handelnde . . . . . . 1718 .. 3.8 Der Gerechtigkeitssensible . . . . . . . . . . . 1719 .. 3.9 Der Nebenverdiener. . . 1724 .. 3.10 Der Verführte . . . . . . . 1724 .. 3.11 Der Steuerlaie . . . . . . . 1725 .. 3.12 Exkurs: Der legalistische Steuervermeider . 1727 .. 3.13 Nachbemerkung . . . . . 1728 .. 3.14 Ableitbare Lehren . . . . 1729 .. 4. Über Schuld und Strafe . . . 1730 .. 4.1 Über die Schuld . . . . . . 1730 .. 4.2 Insbesondere über Tatsachen- und Verbotsirrtum 1731 .. 4.3 Zum Steuerrechtsirrtum im Steuerstrafrecht . . . . 1732 ..
5. Über die Steuerstrafe . . . . . 1742 .. 5.1 Ist die Steuerstrafe zum Schutze der Steuerrechtsordnung unverzichtbar? . . . . . . . . . . . 1742 .. 5.2 Über Strafzwecktheorien . . . . . . . . . . . 1745 .. 5.3 Strafzumessung zwischen Härte und Milde . 1747 .. 5.4 Vom komparativen Unwert der Steuerhinterziehung. . . . . . . . 1754 .. 6. Zu ausgewählten strafprozessualen Grundsatzfragen . 1757 .. 6.1 Kein SteuerpflichtenErfindungsrecht von Staatsanwälten und Strafrichtern . . . . . . . . 1757 .. 6.2 Über Verständigung im (Steuer-)Strafrecht. . . . . 1760 .. 6.3 Der Fiskalzweck heiligt nicht jedes Aufklärungsmittel . . . . . . . . . . . . . 1769 .. 7. Reformideen zum Steuerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . 1776 .. 7.1 Prämisse: Es gibt grundsätzlich keine gleichmäßig-gerechte Steuerstrafe . . . . . . . . . . . . . 1776 .. 7.2 Zum Reformvorschlag von Roman Seer . . . . . . 1779 .. 7.3 Zum Reformvorschlag von Paul Kirchhof. . . . . 1782 ..
1. Einführung in die behandelte Problematik Auch im steuerstrafrechtlichen Teil geht es nicht darum, mit Kommentaren zum Steuerstrafrecht zu konkurrieren, nicht um die Darstel1693
§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts
lung aller Detailprobleme unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur. Wie auch sonst in diesem Band, geht es auch nicht in erster Linie um die Darstellung der geltenden Gesetzesvorschriften im Steuerstrafrecht, sondern mehr darum, ob das Legale legitim ist. Legitim ist im Steuerrecht und im Steuerstrafrecht nur, was gerecht ist. Im Rechtsstaat muss sowohl das Steuerrecht als auch das Steuerstrafrecht gerecht und damit legitim sein. An ungerechtes oder illegitimes Steuerrecht können keine gerechten oder legitimen Steuerstrafen geknüpft werden. Um ein friedliches, gedeihliches Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten, geben Staaten sich Gesetze. 1 Der Rechtsstaat darf aber nicht beliebige Gesetze schaffen, er muss für eine Rechtsordnung sorgen. Diese Rechtsordnung muss der Staat vor Verletzung schützen, er muss sie gewährleisten, bewähren. Um diese und andere ihm übertragenen Aufgaben erfüllen zu können, ist der Staat, der nicht selbst wirtschaftet, auf die Steuern seiner leistungsfähigen Bürger angewiesen. Dazu muss der Rechtsstaat auch eine gerechte Steuerrechtsordnung schaffen, bestehend aus gerechten Steuergesetzen. Um die Gesetze gleichmäßig durchzusetzen, greift der Staat auch zum Mittel der Steuerstrafe. Da die Strafe die eingreifendste aller Sanktionen ist, muss die Strafe, so auch das Bundesverfassungsgericht, ultima ratio sein. Da die Strafe nicht die einzige Sanktion ist, ist zu prüfen, ob die Steuerstrafe wirklich das letzte, das alternativlose Mittel zum Schutz der Durchsetzung und Bewährung der Steuergesetze ist oder ob die nötige Schutzwirkung auch durch andere, mildere Sanktionen erreicht werden könnte als durch Strafe. Das geltende Steuerstrafrecht bejaht die Legitimität der Bestrafung der vorsätzlichen Steuerhinterziehung (§ 370 AO). Die vorsätzliche Steuerhinterziehung wird als strafwürdig und -bedürftig angesehen. Den Schutz der Rechtsordnung konkretisiert die Strafrechtsdogmatik durch die Anknüpfung an einzelne Rechtsgüter, wie Schutz des demokratischen Rechtsstaates, Schutz der äußeren Sicherheit, Schutz der öffentlichen Ordnung, Schutz der sexuellen Selbstbestimmung und der Ehre, Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit, Schutz der persönlichen Freiheit und des Eigentums oder Vermögens, Schutz der Umwelt, u.s.w. Folgt man der Rechtsprechung, so 1 Wir gehen hier nicht auf die Legitimation des Staates ein. Nach I. Kant (Zum ewigen Frieden) braucht den Staat selbst ein Volk von Teufeln. Ohne Gewaltmonopol des Staates und staatlichen Schutz würden die Teufel sich alle gegenseitig umbringen. Sorgte der Staat nicht für Sicherheit und Ordnung, so wäre „der Mensch dem Menschen ein Wolf“ (homo homini lupus).
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Einführung
geht es im Steuerstrafrecht nicht um den Schutz der steuerehrlichen Bürger vor Benachteiligung, sondern allein um den Schutz der Steueransprüche von Staat und Kommunen; das greift zu kurz. Die fiskalische Rechtsguttheorie muss mindestens ergänzt werden um den Schutz der ehrlichen Steuerpflichtigen. Wo keine Rechtsordnung ist, lässt sich auch kein Rechtsgut schützen, sondern nur ein Unwert. Ein solcher Unwertschutz würde das Strafrecht pervertieren. Aber die Strafgerichte prüfen die Steuergesetze bisher nicht auf ihre Legitimität, nicht einmal auf Verfassungswidrigkeit. Auch der Bundesgerichtshof für Strafsachen geht offenbar davon aus, dass die Steuergesetze eine untadelige Rechtsordnung bildeten. Die Steuergesetze enthalten aber durchaus Vorschriften, die ungerecht sind, die wegen Verletzung des Gleichheitssatzes der Verfassung widersprechen, die insbesondere die im Gleichheitssatz angelegten Gebote der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit verletzen. Das Bundesverfassungsgericht hat oft genug Verfassungswidrigkeiten im Steuerrecht aufgedeckt, der mit Steuerstrafsachen befasste Bundesgerichtshof noch nie. Was sind die Ursachen? Sind die Strafrichter in Steuersachen zu staatsfromm, anders als die Finanzrichter? Oder besteht nur ein Unterschied in der Fachkompetenz? Mit der Steuerfahndung lassen sich in der Tat keine Steuerungerechtigkeiten, keine Verfassungswidrigkeiten aufdecken. Es muss jedoch sichergestellt werden, dass das Steuerstrafrecht keine Unrechtsordnung schützt. Werden die erwähnten Mängel festgestellt, so verdienen nicht die Bürger, sondern der Gesetzgeber den Vorwurf eines Fehlverhaltens. Auch die Steuerstrafrichter müssen Hüter der in der Verfassung angelegten Steuergerechtigkeit sein. Bevor an Strafen gedacht wird, sollte gefragt werden, aus welchen Motiven das Rechtsgut, das steuerstrafrechtlich geschützt werden soll, verletzt wird. Gibt es vielleicht Motive, denen der Staat begegnen, den Boden entziehen könnte? Jedenfalls spielen schon nach geltendem Recht die Beweggründe bei der Strafzumessung eine strafschärfende oder strafmildernde Rolle. Unser Strafrecht ist Schuldstrafrecht. Der Täter muss schuldfähig sein, und die Strafzumessung muss den Grad der Schuld berücksichtigen. Das Strafrecht unterscheidet zwischen dem Irrtum über Tatumstände und dem Verbotsirrtum. Im Steuerstrafrecht spielt aber der Irrtum über den Inhalt der Steuergesetze eine besondere Rolle. Der Inhalt der Steuergesetze ist in der Bevölkerung bei Weitem nicht so verwurzelt wie der Inhalt des Strafgesetzbuches. Daher dürfen die Strafrichter geltend gemachte Irrtümer über Steuerrecht nicht leichthin als Schutzbehauptung abtun, ohne sich zu fragen, ob sie selbst das Gesetz, dessen Unkenntnis geltend gemacht wird, bisher gekannt 1695
§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts
haben. Wird der Steuerrechtsirrtum anerkannt, so fragt sich, wie dieser Irrtum sich auf die Schuld auswirkt. Die Strafe wird heute überwiegend als Schuldausgleich verstanden. Die Schuld soll ausgeglichen werden durch einen Eingriff in das Vermögen, durch Geldstrafe oder durch einen Eingriff in die Freiheit durch Freiheitsstrafe. Solche Eingriffe werden als legitim angesehen, wenn der Täter durch seine Tat einen sozialethischen (die Gemeinschaft der Steuerzahler u. a. betreffenden) Unwert zu verantworten hat. Die Strafe enthält ein Unwerturteil. Zugleich wird die Schuldstrafe aber auch als Abschreckungsmittel angesehen. Das führt wiederum zu der Frage: ob und inwieweit das geltende Steuerstrafrecht entpönalisiert werden sollte. Zurzeit geht der Trend allerdings in die umgekehrte Richtung, in die Richtung der Strafverschärfung. Insbesondere Sozialbürger (die von Steuermitteln leben), aber auch Politiker fordern seit etlichen Jahren mehr oder weniger drakonische Strafen für Steuerhinterzieher. Auch der Bundesgerichtshof folgt diesem Trend durch Strafverschärfung. Wir haben uns ohne Emotionen mit der Frage zu befassen, welcher Weg der richtige ist. Zu einer einigermaßen gerechten Steuerstrafe kann es – wenn überhaupt – nur kommen, wenn das Strafverfahren fair ist. Wir befassen uns dazu mit zwei Streitfragen: (1) Kann die seit 2009 gesetzlich geregelte Verständigung (Absprache) zu einer gerechten Strafe führen? (2) Rechtfertigt der fiskalische Zweck beliebige Mittel der Sachaufklärung? Mit dem Steuerstrafrecht befassen sich auch einige Hochschullehrer des Strafrechts. Es ist wohl richtig, dass sie überwiegend mehr praxisals theorieorientiert arbeiten. Einige Professoren arbeiten auch forensisch. Zwischen der grundlagentheoretisch orientierten Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) und der praxisorientierten Zeitschrift „Praxis Steuerstrafrecht“ (PStR) liegen Welten. Steuerstrafrechtslehrer versuchen einen Brücke zu schlagen zwischen Theorie (auch solcher, die die Praxis gar nicht erreicht) und Praxis. Zu beklagen sind leider erhebliche empirische Lücken. Die Praktikererfahrungen pflegen in der Regel nicht statistisch verdichtet zu werden. Und die empirisch forschenden Kriminologen machen einen großen Bogen um das Steuerstrafrecht, aus welchen Gründen auch immer. So wissen wir nicht nur zu wenig über die Wirkungen der Steuerstrafe, wir wissen auch nicht wirklich, wie hoch die Hinterziehungsquote ist. Wir wissen nicht genau genug, wie viele Steuerpflichtige, die wegen Steuerhinterziehung bestraft worden sind, rückfällig werden. Auch ist nicht bekannt, wie groß der Anteil derjenigen Steuerhinterzieher ist, die im Übrigen gänzlich unbescholten sind, allenfalls die Straßenverkehrsordnung übertreten.
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Über das zu schützende Rechtsgut des Steuerstrafrechts
2. Über das zu schützende Rechtsgut des Steuerstrafrechts Die herkömmliche und bis heute herrschende Meinung sieht als Schutzgut des Steuerstrafrechts noch immer allein das öffentliche Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen aus den einzelnen Steuern an. 2 Anknüpfend an die These des Verfassers, dass an ungerechtes Steuerrecht keine gerechten Strafen geknüpft werden können 3, hat F. Salditt eine Neuorientierung der (schutzwürdigen) Rechtsgutbestimmung einzuleiten versucht. Er wendet sich gegen die formale Anknüpfung an das nackte Fiskalinteresse. Sie versperre den Blick auf die bedenkliche innere Verfassung des Steuerrechts. Steuerliche Willkür, die sich in Steuerstrafen vollende, stelle die Maßstäbe auf den Kopf. Die Strafe wegen Steuerhinterziehung sei gerechtfertigt, weil die Steuerhinterziehung die gerechte Lastenverteilung gefährde. Es komme daher darauf an, ob der Täter die gerechte Steuerlastverteilung beeinträchtigt habe. Wenn die verkürzte Steuer den Gleichheitssatz verletze, müsse dies auch für die Steuerstrafe gelten. 4 Wie kein anderer hat sich F. Salditt mit dem Thema „Hinterziehung ungerechter Steuern“ befasst und damit zusammenhängend auch mit der Frage, was „geschütztes Rechtsgut“ des Steuerstrafrechts sei. 5 Er beruft sich dazu auf das Zinssteuerurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1991 6, in dessen Gründen es heißt, dass die Belastung der Bürger mit Steuern „ihre Rechtfertigung . . . auch und gerade aus der Gleichheit der Steuerverteilung bezieht.“ Daraus folge: „Der Staat des Grundgesetzes darf Steuern nicht schon deshalb erheben, weil er sie braucht. Vielmehr darf er den Menschen Steuern auferlegen, wenn und soweit er die Gleichheit der Lastenverteilung respektiert.“ 7 Daraus ergebe sich folgende Einschränkung: „Die Steuerhinterziehung ist strafbar, weil sie die Rechtfertigung der Steuern bedroht und zerstört – die Gleichheit der Lasten nämlich . . . Die Steuerhinterziehung ist . . . nur strafwürdig, soweit es um gleichmäßig verhängte und erhobene Steuern geht, kurz – um gerechte Steuern. 8 „Würde § 370 AO die Gleichmäßigkeit der Besteuerung schützen, die durch Hinterziehung verletzt wird, so folge daraus für unsere Strafgerichte eine wahrhaft richterliche Auf2 So schon das Reichsgericht (RGSt 59, 258, 261; fortgeführt vom Bundesgerichtshof (BGHSt 40, 109, 11; 53, 71, 80. 3 Bd. III1, 1993 S. 1407 f. dieses Werkes. 4 F. Salditt, Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 475 ff. 5 F. Salditt, (Fußn. 4); ders., StraFo April 1997, 65 ff. („Hinterziehung ungerechter Steuern“); ders., Stbg. 2003, 557, 561 ff. („Über die Kasse oder die Steuergerechtigkeit“); Steuerberater-Magazin 04/2008, 19. F. Salditt folgend G. Kohlmann/B. Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161, 166. 6 BVerfGE 84, 239, 269; BStBl. 1991 II, 654, 664 re. Sp. 7 StraFo April 1997, 68. 8 StraFo April 1997, 68 li.
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts
gabe. Viele der angeklagten Taten haben der Steuergerechtigkeit nämlich überhaupt keinen weiteren Schaden zugefügt, weil schon die Normen oder deren Vollzug gegen einen solchen Maßstab verstößt.“ 9 Es sei „ein Fehler, die Strafbarkeit der Steuerhinterziehung schlicht mit dem Interesse des Staates an den Steuern zu begründen. Das verletzte Rechtsgut ist die Gleichmäßigkeit der Besteuerung und damit die Steuergerechtigkeit. Denn wer Steuern hinterzieht, verschafft sich gegenüber anderen Bürgern einen Vorteil. Und wenn das in größerem Maße stattfindet, ist die gerechte Verteilung der Lasten gefährdet.“ 10 F. Salditt sieht m. E. ganz richtig, dass das mit dem Steuerrecht verflochtene Steuerstrafrecht sich, auch wenn es um die Bestimmung des zu schützenden Rechtsgutes geht, nicht vom Steuerrecht abkoppeln darf. Das rechtsstaatliche Steuerrecht (das Lenkungsrecht wird hier ausgeklammert) hat m. E. einen doppelten Zweck: (1) Es bezweckt, der öffentlichen Hand auf rechtsstaatliche Weise die Mittel zuzuführen, die diese zur Erfüllung ihrer Gemeinwohlaufgaben benötigt. Die Eingrenzung auf das Rechtsstaatliche verhindert die Berücksichtigung eines öffentlichen Interesses, das sich in purem Fiskalismus, in bloßem „Schröpfen“ erschöpft und dem Staat Mittel auf beliebige Weise zuführen will. Eine Zuführung auf beliebige Weise oder um jeden Preis ist wegen Verstoßes gegen die Verfassung, insbesondere gegen den Gleichheitssatz, mit der Verfassung nicht vereinbar. (2) Das Steuerrecht bezweckt insbesondere, die Gesamtsteuerlast gerecht, d. h. entsprechend dem Gleichheitssatz 11 gleichmäßig auf seine finanziell leistungsfähigen Bürger zu verteilen und auf diese Weise zugleich die steuerehrlichen Bürger vor Benachteiligung durch die unehrlichen Bürger zu schützen. Die Steuerpflicht ist eine mitbürgerbezogene Grundpflicht, eine Pflicht auf Gegenseitigkeit, auch ein Freiheitsverzicht auf Gegenseitigkeit. Es ist die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass jeder Steuerpflichtige seine Gegenseitigkeitspflicht erfüllt, seinen Anteil an Gleichbelastung trägt und nicht zum „Trittbrettfahrer“ auf Kosten anderer Steuerpflichtiger wird. Was für den Steuerhinterzieher vorteilig ist, darf den Gesetzestreuen nicht zum Nachteil gereichen. Die Erfüllung der verfassungsmäßigen Steuerpflicht ist eine – wenn auch im Gesetz nicht explizierte – Schuldigkeit auch gegenüber den Mitsteuerpflichtigen. Der Staat als der Formalberechtigte der Steuern und der Treuhänder der Gesamtheit der Steuerpflichtigen hat dafür zu sorgen, dass möglichst jeder Steuer9 Stbg. 2003, 561 re. 10 F. Salditt, Steuerberater-Magazin 04/2008, 19; s. auch ders., StraFo April 1997, 68 re. u. 11 Dazu Bd. I2, 2003, S. 282 ff., 312 ff.
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Über das zu schützende Rechtsgut des Steuerstrafrechts
pflichtige seiner Schuldigkeit gegenüber seinen Mitsteuerpflichtigen nachkommt. Duldet der Staat die massenhafte Verletzung einer Norm, so führt das in die Verfassungswidrigkeit. Die Bestimmung des steuerstrafrechtlichen Schutzgutes muss sich an diese Steuerzwecke anpassen. Es muss danach geschützt werden: (1) Der Anspruch der öffentlichen Hand auf verfassungsmäßige, d. h. insbesondere: dem Gleichheitssatz entsprechende Steuern und (2) der aus der Verfassung, insbesondere dem Gleichheitssatz folgende Anspruch der Bürger auf verfassungsmäßige Gleichbelastung. Die Eingrenzung des Anspruchs der öffentlichen Hand auf das Verfassungsmäßige und die verfassungsmäßig gerechte Verteilung der Gesamtsteuerlast auf die Bürger bewirkt zusammengeführt, dass das Steuerstrafrecht eine Steuerrechtsordnung schützen muss, nicht eine Steuerunrechtsordnung schützen darf. Der Schutz von verfassungswidrigem Unrecht ist kein Rechtsgutschutz. Was Rechtsgut ist, muss rechtsstaatlich abgeleitet und interpretiert werden. Folglich muss der Steuerstrafrichter, muss auch die Strafsachenstelle des Finanzamts prüfen, ob der Bürger Recht oder Unrecht verletzt hat. Mit F. Salditt lässt sich feststellen: „Die herrschende Meinung bezieht ihre formelhafte Definition . . . aus vorkonstitutioneller Zeit, als es dem Staatsverständnis entsprach, den Anspruch der öffentlichen Kassen um dieser selbst willen zu schützen („Gemeinnutz geht vor Eigennutz“)“. 12 Tradiert aus der Zeit der Staatsverherrlichung stellen immer noch viele Juristen den Staat ins Zentrum. Der Staat ist zwar juristisch Eigentümer der eingenommenen Steuern. Es muss sie aber treuhänderisch verwalten, das heißt: fremdnützig, steuerzahler-nützig. „Im Rechtsstaat müssen die Steuerstrafrichter nicht nur das dem Gesetz entsprechende Steueraufkommen sichern, nicht nur Hüter der öffentlichen Kassen sein, sondern auch Wächter über Steuergerechtigkeit“. Sonst gerät die Steuerhinterziehung in die Nähe eines Staatsschutzdelikts (F. Salditt). Von verfassungsrechtlich ungebundenem Etatismus und Fiskalismus muss sich die rechtsstaatliche Steuerrechtsordnung und mit ihr das Steuerstrafrecht lösen. Auch die Steuerstrafrechtler müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Grundrecht der Belastungsgleichheit, die gleichmäßig effiziente Umsetzung der Gesetze eingeschlossen, im Zentrum steuerrechtlicher Verfassungsbindung steht. 13 Das muss sich auch in der Bestimmung des zu schützenden Rechtsguts ausdrücken. Auch wenn es zum Staat keine Alternative gibt: In Deutschland wird 12 F. Salditt, Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 478 f. 13 Dazu BVerfGE 84, 239, 269; BStBl. 1991 II, 654, 664 re.; BVerfGE 110, 94. Hinweis auch auf J. Isensee, StuW 1994, 3, 7 („Mit der Gleichheit steht und fällt die Steuer“).
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die Gesellschaft aus etatistischer Tradition noch immer zu sehr vom autoritären Staat her gedacht. Der demokratische Rechtsstaat ist als Staat nicht alles und seine Bürger sind keine Untertanen, die beliebig belastet werden dürfen. R. Seer, der ebenfalls die ehrlichen Steuerschuldner mitgeschützt sehen will, führt dazu zutreffend aus: „Die Beschränkung der Sichtweise auf die Gefährdung des Steueranspruchs des (anonymen) Staates führt dazu, dass die Steuerhinterziehung weithin als ‚Kavaliersdelikt‘, ja sogar als eine Art von ‚Sport‘ angesehen wird. Insoweit ähnelt die Steuerhinterziehung dem Versicherungsbetrug . . . Das Bewusstsein dafür, dass ein Steuerhinterzieher die Gemeinschaft und damit zugleich andere (ehrliche) Steuerzahler schädigt, ist geschwunden . . . 14
In der Tat, unter Steuerpflichtigen ist noch weithin die Meinung verbreitet: Wer den Staat schädigt, schädigt niemanden, schädigt keine Mitbürger. Bei den Empfängern sozialer Hilfen wird durch die Einschaltung des Staates bei vielen der Eindruck erweckt, die sozialen Hilfen stammten nicht von den Steuern zahlenden Mitbürgern, sondern eben vom Staat. Der Staat kann aber nur geben, was er vorher anderen Bürgern genommen hat. Die Einschränkung des geschützten Steuerrechtsgutes auf den Schutz der Staatskasse vor Mindereinnahmen verschleiert, dass die Steuerpflicht im Rahmen des Verfassungsmäßigen nicht nur eine Pflicht gegenüber dem anonymen Staat ist, sondern auch eine Pflicht gegenüber der Solidargemeinschaft aller Bürger, nicht zuletzt auch der steuerpflichtigen Mitbürger. Der Hinterzieher verfassungsmäßig-gerechter Steuern stört die Solidargemeinschaft der Steuerzahler wie ein „lästiger Gesellschafter“. Der Einwand von U. Hellmann, dass durch die Steuerhinterziehung eines Einzelnen die ehrlichen Steuerzahler nicht geschädigt würden 15, ist nicht stichhaltig. Abgesehen davon, dass es nicht auf den einzelnen Hinterzieher ankommt: Wenn z. B. die Unternehmer A und B konkurrieren, nur B aber Steuern hinterzieht, hat B einen Wettbewerbsvorteil. Wenn der Staat den A vor dem dadurch für ihn entstehenden Nachteil nicht schützt, kann A eine Gleichstellung mit B nur erreichen, wenn er ebenfalls zur Steuerhinterziehung übergeht. Überhaupt haben Steuerehrliche gegenüber Steuerhinterziehern den Nachteil, dass sie infolge der faktischen Ungleichbelastung weniger konsumieren, sparen oder investieren können als die Hinterzieher. Auf längere Sicht trifft es auch zu, dass die Steuerehrlichen mitbezahlen müssen, was die Hinterzieher als „Trittbrettfahrer“ nicht zahlen. 16 14 R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2009, § 23 Rz. 2. 15 In Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO (Loseblattkommentar Lfg. 171), § 370 Rz. 42. 16 So auch F. Salditt (Fußn. 4), S. 479. – Umgekehrt wird man aber wohl nicht sagen können: Wenn alle ihre volle Steuerschuld zahlen, hätten alle
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Ein Staat, der seine steuerehrlichen Bürger nicht vor Benachteiligung durch Steuerhinterzieher schützt, schädigt sich am Ende selbst. Er verführt die bisher Steuerehrlichen nämlich dazu, früher oder später ebenfalls Steuern zu hinterziehen. Er fördert auch die Steuer- und Staatsverdrossenheit. Sind Steuergesetze ungerecht, geben sie den Rechtsgedanken auf, so liegt es nahe, dass die Steuergesetze nicht akzeptiert werden, es zu Steuerwiderstand kommt. 17 Zu beachten ist dazu strafrechtlich aber, was R. Seer so formuliert: „Zu weitgehend ist es aber, bereits die Hinterziehung schlicht ungerechter Steuern unter Hinweis auf das Rechtsgut aus der Strafbarkeitszone auszuklammern. Die Meinungen darüber, welche Steuern ungerecht sind, gehen weit auseinander. Unter Hinweis auf die vermeintliche Verfassungswidrigkeit der jeweiligen Steuer wäre es für Steuerpflichtige ein Leichtes, ihre steuerlichen Pflichten ohne strafrechtliches Risiko zu verletzen. Angesichts des Verwerfungsmonopols des BVerfG . . . kann die Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes deshalb erst von dem Zeitpunkt an, in dem das BVerfG es auch tatsächlich für verfassungswidrig erklärt hat, der Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung entgegenstehen.“ 18 Unbestritten ist in der Tat nur, dass eine Strafe nicht verhängt werden darf, wenn das Verfassungsgericht eine Steuerrechtsnorm, an deren Verletzung die Strafe geknüpft werden könnte, für nichtig erklärt hat. 19 Wird die Nichtigkeit rückwirkend ausgesprochen, nachdem die Strafe bereits verhängt worden ist, so ist nach § 79 I BVerfGG die Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach den Vorschriften der Strafprozessordnung möglich. 20 Es genügt, dass die für nichtig erklärte Norm eine steuergesetzliche Norm ist, die das Blankett des § 370 AO ausfüllt und deren Verletzung die Strafe begründet hat.
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weniger zu zahlen. Das Mehraufkommen könnte auch durch höhere Ausgaben egalisiert werden. Dazu A. Klein, Steuermoral und Steuerrecht. Akzeptanz als Element einer steuerlichen Rechtfertigungslehre, 1997, insb. S. 102 („Die Steuergerechtigkeit als stärkstes Akzeptanzmerkmal“). R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 23 Rz. 2; s. auch BGH DStR 2008, 144. BVerfG in BFH/NV 2007, 56, 258. Der Wiederaufnahmeantrag kann auch von der Staatsanwaltschaft gestellt werden. § 79 I BVerfGG liegt der Gedanke zugrunde, dass niemand gezwungen sein soll, den Makel einer Strafe auf sich sitzen zu lassen, wenn diese auf einem verfassungswidrigen Strafgesetz beruht (BVerfGE 11, 263, 265). § 79 I BVerfGG enthält über § 359 StPO hinaus einen weiteren absoluten Wiederaufnahmegrund. Tritt an die Stelle der nichtigen keine andere Strafnorm, so kann gemäß § 371 II StPO der Verurteilte sofort freigesprochen werden.
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Das Bundesverfassungsgericht erklärt allerdings in gewissen Fällen in Abgabensachen – mit Rücksicht auf die Finanzplanung – die als verfassungswidrig erkannte Norm nicht rückwirkend für nichtig, sondern setzt dem Gesetzgeber eine Frist, innerhalb welcher er das Gesetz verfassungsmäßig reparieren kann. Bis zum Ablauf der Frist darf das verfassungswidrige Gesetz weiterhin angewendet werden. 21 Abweichend vom Bundesgerichtshof 22 und vom Bundesfinanzhof 23 vertritt F. Salditt die Ansicht, die Duldung der Verfassungswidrigkeit für eine Übergangszeit gelte für das Steuerstrafrecht nicht, da dafür keine dies gebietenden Gründe ersichtlich seien. 24 R. Seer stimmt dem zu, weil nur aus budgetären Gründen ex nunc mit Fristsetzung entschieden werde. Ob das Bundesverfassungsgericht eine verfassungswidrige Norm für nichtig erkläre oder ob es dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist einräume, sei ebenso zufällig wie die Frage, welche Veranlagungszeiträume vom Bundesverfassungsgericht erfasst würden. 25 Dieser Auffassung ist jedenfalls im Ergebnis zuzustimmen. Durch Übergangsfristen wird der Fiskus zu Unrecht geschützt, wenn die Verfassungswidrigkeit mit Händen zu greifen war, der Gesetzgeber aber – dickfellig – nicht reagiert hat. Unter solchen Umständen ist es rechtsstaatlich unverständlich, dass die Staatsgewalt für ihr verfassungswidriges Verhalten noch eine durch eine Übergangsfrist zur endlichen Herstellung der Verfassungsmäßigkeit belohnt wird. Es ist aber schier unerträglich, wenn Bürger, die sich einer vom Gesetzgeber bewusst nicht abgestellten Verfassungswidrigkeit entzogen haben, bestraft werden. Das stellt den Rechtsstaat leider auf den Kopf. Das gilt besonders für Fälle der Massenhinterziehung, bei der die Masse unbehelligt bleibt und im Zeitraum der Übergangsfrist noch einige wenige „Sündenböcke“ ergriffen werden. 26 Dem verfassungswidrig agierenden Staat alles nachzusehen und den Bürger wegen Verletzung verfassungswidriger – genauer: vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig festgestellter – Normen zu bestrafen, ist einseitiger Etatis21 Diese BVerfG-Praxis wird von R. Seer und anderen mit überzeugenden Gründen kritisiert (K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 22 Rz. 286 ff. m. w. N.). 22 BGH BStBl. 2002 II, 259, 260 f. 23 BFH BStBl. 2000 II, 378, Hinterziehungszinsen betreffend. 24 Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 480 oben. 25 R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 23 Rz. 2 a. E. mit Nachweisen in Fußn. 6. S. auch in diesem Band S. 1566. 26 H.-J. Papier, später Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat schon 1999 darauf hingewiesen, dass die Strafverfolgung „ziemlich ungeeignet“ sei, „ein strukturelles Vollzugsdefizit auszugleichen und die erforderliche Belastungsgleichheit herzustellen . . . Hat der Gesetzgeber auf der Ebene des materiellen Steuerrechts ein strukturelles Vollzugsdefizit geschaffen, so erscheint es paradox, dieses auf der Ebene des Strafrechts unter Einsatz strafprozessualer Mittel beheben zu wollen“ (Stbg. 1999, 49, 56).
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mus von Formaljuristen, der vom Rechtsgefühl der Bürger – sie fühlen sich nicht mehr als Staatsuntertanen – nicht akzeptiert wird. Wenn es um die Verfassung geht, der Staatskasse mit Rücksicht auf den Haushalt den Vorrang einräumen, zur Euro-Rettung mit den Milliarden der Steuerzahler nur so um sich zu werfen – das passt nicht zusammen. Fühlen sich verfassungswidrig besteuerte Bürger vom Staat und auch von der formaljuristischen Fachjudikatur im Stich gelassen, so kann es dahin kommen, dass sie meinen, berechtigt zu sein, in einer Art von Notstand oder wegen Unzumutbarkeit die Gleichheit der Steuerbelastung durch Steuerverkürzungsselbsthilfe herstellen zu dürfen oder zu sollen. Handeln solche Bürger nicht hartnäckig aus Rechtsfeindschaft, sondern versuchen sie gerechtigkeitssensibel ihr Recht auf Gleichbelastung durchzusetzen, so muss das Strafgericht, wenn es die Verfassungswidrigkeit bejaht, das Verfassungsgericht einschalten. Andernfalls muss es die allenfalls geringe Schuld bei der Strafzumessung berücksichtigen. Bisher ist es leider noch nicht vorgekommen, dass ein Strafgericht wegen verfassungswidriger Steuernormen das Verfassungsgericht angerufen hat. Es genügt m. E. allerdings nicht, dass der Delinquent sich nur allgemein, ohne Beziehung zu seinem Fall, darauf beruft, dass die Steuergesetze ungerecht seien. Er muss schon ungerechte Normen benennen, die in seinem Fall einschlägig sind. Und auch dabei können subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen nicht maßgeblich sein. Letztlich muss es auf das Bundesverfassungsgericht ankommen, das über Verfassungswidrigkeiten befindet. Empfundene, gefühlte Ungerechtigkeit genügt nicht. Darin ist R. Seer (s. oben) zuzustimmen. Teilen abweichend vom Verfassungsgericht Fachgerichte und Fachautoren die Meinung des Delinquenten, so sollte sich das strafmildernd auswirken. Soweit F. Salditt in diesem Punkt den Steuerpflichtigen weiter entgegenkommen will 27: Ihm ist einzuräumen, dass der Staat, der mit einer schlechten Besteuerungsmoral vorangeht, keine vorbildliche Steuermoral von seinen Bürgern erwarten kann. In ungerechten 28, 27 Er schreibt jedenfalls: „Steuerhinterziehung ist strafbar, weil sie die gerechte Lastenverteilung gefährdet. Solange auch ungerechte Steuern erhoben werden, ist der Konfliktfall auszurufen. Hier scheitert die Bestrafung am Willkürverbot und am Grundsatz der Unverhältnismäßigkeit. Nur so erzwingen wir eine Kontrolle des Steuerrechts, die dem Parlament entglitten ist. Unsere Waffe ist die eine Frage – in welchem Umfang hat der Täter die gerechte Lastverteilung überhaupt beeinträchtigt? . . .“ (StraFo April 1997, 69 oben; s. auch schon ders., in: Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 480 ff.). 28 Ungerecht sind auch die Ausnutzung der Inflation, der „kalten Progression“ zugunsten des Fiskus, ferner die Belastung desselben wirtschaftlichen
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unnötig komplizierten und unverständlichen Gesetzen, in ständigen Gesetzesänderungen drückt sich schlechte Besteuerungsmoral aus. Auch scharfe Strafdrohungen werden nicht bewirken, dass die Steuermoral unter schlechter Besteuerungsmoral nicht leidet, zumal wenn auch noch Steuerverschwendung hinzukommt. R. Seer stellt dazu fest: „Leider ist das derzeit geltende Steuerrecht nicht dazu angetan, hier eine (steuermoralische, d. V.) Bewusstseinsänderung hervorzurufen. Solange Steuerbürger den Eindruck erhalten, in unserem real existierenden Steuerstaat gehe es nur um den Versuch jeder Gruppe, den anderen Gruppen möglichst ‚viel aus der Tasche zu ziehen‘, wird sich bei ihnen keine Steuermoral einstellen können.“ 29 F. Salditt weiß auch, dass von Steuerstrafrichtern, die bisher noch keine Verfassungswidrigkeit in Steuergesetzen haben entdecken können, kaum etwas zu erwarten ist, wenn es um die Förderung der Steuergerechtigkeit geht. „Steuergerechtigkeit“ – so F. Salditt – „ist bisher kein Thema in Gerichtssälen 30, davor scheut die Strafjustiz aus durchsichtigen Gründen zurück.“ 31 Diese Feststellung spricht eher für autoritäre als für Rechts-Staatlichkeit. M. E. trifft es allerdings nicht zu, dass es sich bei der Steuerhinterziehung um bloßes „Verwaltungsunrecht“ handle. Durch die Steuerhinterziehung werden nicht bloß formale Vorschriften verletzt. Das Steuerrechtsverhältnis ist ein Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Der Blick der Steuerstrafrichter ist zu eng, wenn sie das Steuerverhalten des Staates – anders als die Finanzrichter – gänzlich unkritisch sehen.
3. Über Motive der Steuerhinterzieher 3.1 Einführung Die Kenntnis der Motive der Steuerhinterziehung ist aus zwei Gründen wichtig: (1) Wenn Steuerhinterziehung wirksam verhindert werden soll, muss versucht werden, die Motive auszuschalten. Vorbeugen oder Verhüten ist besser als Strafen. (2) Die Motive sind für die Beurteilung der Schuld und für die Bemessung der Strafe erheblich (§ 46 I StGB). § 46 II StGB spricht von Vorgangs mit mehreren Steuern. Fehlende Besteuerungsmoral lässt kein Rechtsbewusstsein entstehen. 29 In: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 23 Rz. 3 a. E. 30 Gemeint sind die Strafgerichtssäle. 31 Gemeint ist wohl die Inkompetenz der Staatsanwälte und Strafrichter in Sachen Steuergerechtigkeit (s. auch K. Tipke, in: Festschrift für G. Kohlmann, 2003, S. 567).
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Beweggründen und Zielen sowie von der Gesinnung, die aus der Tat spricht. Immer wieder ist gefragt worden und wird noch gefragt: Was motiviert – zumal fleißige, ehrliche Bürger, die nicht daran denken, Vorschriften des Strafgesetzbuches zu verletzen – dazu, zu „Steuersündern“ zu werden, es mit der Steuer „nicht so genau zu nehmen“? Die Frage nach den Motiven hat Finanzwissenschaftler mehr beschäftigt als Juristen, für die Gesetz Gesetz ist. Sie hat aber auch das Interesse von Soziologen, Theologen, Philosophen, Anthropologen und Biologen gefunden. Auffällig ist, dass Kriminologen sich nicht beteiligt haben. Allerdings befassen sich zunehmend auch einzelne Steuerstrafverteidiger mit den Motiven der Hinterzieher, jedoch ohne ihre Erfahrungen statistisch zu verdichten, kaum aber Steuerstrafrichter. Hervorzuheben ist, dass die Steuerpsychologie ein interdisziplinärer Ansatz zur Aufklärung und Erklärung von Motiven der Steuerbürger zur Steuerhinterziehung ist. Berücksichtigt werden im Wesentlichen ökonomische, (sozial-)psychologische und soziologische Erkenntnisse. Die Steuerpsychologie wurde in Deutschland von Günter Schmölders begründet und unter Mitarbeit seiner Schüler zu einem Zweig der Finanzwissenschaft ausgebaut. Dabei wurde insbesondere die unterschiedliche Einstellung zur Besteuerung (Steuermentalität, Steuerattitüde) berücksichtigt. 32 Neuere Studien haben vor allem auch Persönlichkeitsmerkmale und situative Faktoren berücksichtigt. Biologen meinen, der Egoismus liege in der Natur des Menschen 33, in seinen Genen. 34 Oswald Spengler, 32 Dazu G. Schmölders, Das Irrationale in der öffentlichen Finanzwirtschaft. Probleme der Finanzpsychologie, 1960; ders., Finanz- und Steuerpsychologie, 1970; A. Lewis, The Psychology of Taxation, 1982; A. Cowell, Cheating the Government. The Economics of Evasion, Cambridge/London 1990; K. Mackscheidt, Die Entwicklung der Kölner Schule der Finanzpsychologie, in: C. Smekal/E. Theurl (Hrsg.), Stand und Entwicklung der Finanzpsychologie, 1994, S. 41 ff.; E. Kirchler/S. Mühlbacher, Steuern: Zur Psycho-Logik des Widerstandes, Psychologie in Österreich, 24 (2004), 1–6, 8; Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuermentalität und Steuermoral in Deutschland 2008, Forschungsbericht im Auftrag des Bundes der Steuerzahler, Febr. 2009. Hinweis auch auf L. Kuhlen, Grundfragen der strafbaren Steuerhinterziehung, 2012, S. 65 ff., 75 ff. (nicht mehr ausgewertet). 33 Dazu wird auch darauf hingewiesen, dass es selbst im NS-Staat – in dem ständig „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ propagiert wurde, Steuerhinterzieher als „Volksschädlinge“ und „Verräter am Volksganzen“ angeprangert wurden – nicht gelungen ist, die Steuerhinterziehung wirksam zu bekämpfen oder gar auszurotten (dazu H. Engel, Steuermoral im Dritten Reich, StB 1998, 469 ff.). 34 Dazu W. Hamilton, The genetical evolution of social behavior, Journal of Theoretical Biology, 1964, 1 ff.; M. Midgley, Beast and Man: The Roots of
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der den „Untergang des Abendlandes“ prognostizierte, bezeichnete den Steuerzahler als ein Wesen, das aus einer Mischung von Gerechtigkeitssinn, Ärger und Verschmitztheit bestehe. 35 In Anbetracht der unterschiedlichen Meinungen kann von „wissenschaftlich gesicherten“ Ergebnissen wohl nicht die Rede sein. Auffällig ist, dass die einen alle Steuerzahler, alle Menschen über einen Kamm scheren, während andere unterschiedliche Mentalitäten und Verhaltensweisen ausmachen. Die Ergebnisse von Umfragen sind schon deshalb unsicher, weil viel von der Fragenformulierung abhängt und nicht alle Befragten wahrheitsgemäß antworten. Wenn ich hier als unterschiedliche Einstellungen zur Steuer u. a. den homo oeconomicus, den staats- und verschwendungsverdrossenen Aufrechner, den Steuerlaien und den Gerechtigkeitssensiblen unterscheide, so soll das nicht heißen, dass sich die verschiedenen Einstellungen und Haltungen trennscharf unterscheiden ließen. Es können mehrere Motive in einer Brust wohnen, und die Übergänge können fließend sein. Vieles hängt auch von der Situation ab („Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sondern auch Steuerhinterzieher“). 36 Parteien neigen dazu, die Klientel anderer Parteien als Steuerhinterzieher anzuschwärzen. Vor allem die Reichen werden als die Hauptsteuerhinterzieher geschmäht, das kommt bei den Sozialbürgern gut an, ist aber eine unzulässige Verallgemeinerung. Auch die vielen Schwarzarbeiter, auch Rentner hinterziehen Steuern. 3.2 Der homo oeconomicus Der homo oeconomicus sucht seinen wirtschaftlichen Vorteil ohne Rücksicht auf rechtliche oder moralische Verhaltensregeln. Für ihn ist alles erlaubt, was ihm nützt. Geldwertes ist für ihn die bestimmende Determinante für Lebensqualität. Die pure ökonomische Logik kennt kein: gut oder böse, moralisch oder unmoralisch, legal oder illegal. Ganz im Vordergrund steht das Kosten-/Nutzen-Kalkül. Der homo oeconomicus möchte möglichst wenig Steuern zahlen, um sein Vermögen auch auf diese Weise zu vermehren. Er kalkuliert aber auch das Entdeckungsrisiko ein, weil Strafen wirtschaftlich nachteilig sind. Human Nature2, 1985 (behandelt die Verbindung Biologie – Ethik); R. Dawkins, The selfish Gene2, 1978; dazu K. Grammer, Biologische Grundlagen des Sozialverhaltens 1988; – Dazu kritisch der Philosoph Peter Singer, Wie sollen wir leben?, Ethik in einer egoistischen Zeit, 1993, Kap. 5 mit Nachweisen. S. auch schon Th. Nagel, The Possibility of Altruism?, 1978. 35 O. Spengler, Neubau des Reiches, 1924, S. 82. 36 Eine andere Typologie der Steuerzahlermentalitäten findet sich bei R.-C. Bayer/N. Reichl, Ein Verhaltensmodell zur Steuerhinterziehung, 1997.
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Je nach dem Grad dieses Risikos verhält er sich so oder so. Er weiß, dass dieses Risiko von der Kontrolleffizienz (Häufigkeit und Intensität der Kontrollen) abhängt. Auch die Höhe der zu erwartenden Strafe kalkuliert er ein. Seinen Steuerberater pflegt er nicht in den wahren Sachverhalt einzuweihen; eher versucht er, ihn als Komplizen zu gewinnen. Der homo oeconomicus weiß, dass er den Staat braucht und dass dieser finanziert werden muss. Er überlässt das Steuerzahlen aber möglichst anderen, betätigt sich selbst als „Trittbrettfahrer“. 37 Dass andere für ihn mitbezahlen müssen, ficht ihn nicht an. Allerdings pflegen auch Trittbrettfahrer nur einen Teil der Steuern zu hinterziehen. Vom homo oeconomicus wird angenommen: Ihm sei mit moralischen Appellen nicht beizukommen. Selbst wenn die Steuergesetze durchweg gerecht wären, selbst wenn sie durchgehend dem Gleichheitssatz entsprächen, würde das den homo oeconomicus nicht zufrieden stellen. Es würde ihn nicht von Steuerhinterziehungen abhalten. Nur das Entdeckungsrisiko und das Strafmaß würden ihn interessieren. Die Kritik hält dafür, dass es den puren homo oeconomicus in der Realität nicht gebe. Er sei ein Homunkulus. Die meisten Menschen vereinigten in sich mit unterschiedlichen Anteilen Merkmale des homo oeconomicus, des homo sociologicus, des homo culturalis, des homo oecologicus, des homo laborans und des homo ludens. Es gibt sogar Autoren, die den homo oeconomicus mit dem Menschenbild des Grundgesetzes für vereinbar halten. 38 Es mag den egozentrischen, skrupellosen, gewinnsüchtigen, zugleich risikofreudigen Unternehmer geben. Dass jemand zu Lasten anderer nur auf wirtschaftlichen Erfolg und Genuss aus ist, ist aber durchaus nicht die Regel, auch nicht die Regel unter Unternehmern. Es ist überhaupt nicht angebracht, nur Unternehmer für Steuerhinterzieher zu halten. Arbeitnehmer haben wegen des Lohnsteuerabzugs notgedrungen keine oder wenig Chancen zur Steuerhinterziehung, aber sie können Schwarzarbeit leisten, Nebeneinkünfte verschweigen, Sozialleistungen erschleichen. Gerade Schwarzarbeit wird allerdings als „Kavaliersdelikt“, auch als „Selbst-Steuersubventionierung der kleinen Leute“ abgetan. Solange Rentner nicht kontrolliert wurden, haben auch sie Steuern verkürzt. 37 Zum „Trittbrettfahren“ ausführlich O. Höffe, Politische Gerechtigkeit 1987, 412 ff.; s. auch W. Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral, 1997, S. 195. 38 G. Kirchgässner, Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem Menschenbild des Grundgesetzes und dem homo oeconomicus (JZ 1991, 104 f.). Gegen ihn zutreffend J. Wieland, in: Festschrift für E.-J. Lampe, 2003, 371, 375 ff. Zum Menschenbild des Grundgesetzes BVerfGE 4, 7, 15 f; 45, 187, 227 f. Hinweis auch auf R. Manstetten, Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith, 2000.
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Gewählte Politiker scheinen nicht weniger egoistisch zu sein als andere Bürger. Wenn es um Diäten und Kostenpauschalen geht, greifen auch Abgeordnete gern zu. Im Wege der Selbst-Gesetzgebung bewilligen sie sich hohe Kostenpauschalen und bewahren sich so legal vor „Unehrlichkeit“. In Großbritannien, wo die Abgeordneten des Unterhauses ihre Aufwendung für eine Zweitwohnung in London im Einzelnen angeben mussten, stellte sich vor einigen Jahren heraus, dass viele Abgeordnete zu ihrem Vorteil falsche Angaben gemacht hatten. Die Medien berichteten ausführlich über die „Selbstbedienungsgewohnheiten“ vieler Abgeordneter. Selbst der Finanzminister und der Speaker hatten Aufwendungen fingiert. Es gibt eben auch nicht wenige Politiker, die mehr von der Politik als für die Politik leben. Und trägt nicht auch ein Finanzminister die Züge eines homo oeconomicus, wenn er darüber klagt, dass sein Ministergehalt in Anbetracht seiner hohen Verantwortung viel zu niedrig sei im Vergleich zu den hohen Managergehältern, die in der Wirtschaft gezahlt würden. Einen homo oeconomicus kann man sogar den arbeitsscheuen Sozialhilfeempfänger nennen, der es als ökonomisch ansieht, ohne Arbeit von den Steuerzahlern unterhalten zu werden. Überhaupt, steckt nicht in jedem Strebsamen ein Stück homo oeconomicus? Der homo oeconomicus würde sich keinen Gefallen tun, wenn er – doch erwischt – zu seiner Verteidigung vortragen würde, er habe durch Steuerhinterziehung seinen Profit maximieren wollen, aber nicht damit gerechnet, vom Finanzamt entdeckt zu werden. Jeder Verteidiger würde ihm wohl von der Zurschaustellung des nackten Egoismus abraten. Auch der Vortrag, der Egoismus stecke in seinen Genen, seine Willensfreiheit sei genetisch blockiert, würde ihm nicht (jedenfalls zurzeit noch nicht) weiterhelfen. 3.3 Der ökonomische und der moralische Aufrechner (a) Der ökonomische Aufrechner ist nur zufrieden, wenn er den Eindruck hat, dass die ihm zu Gute kommenden Leistungen des Staates im Wert seinen eigenen Steuerleistungen entsprechen. Er sieht die Steuerleistung als Preis für die ihm zu Gute kommenden Leistungen des Staates an. 39 Der Aufrechner will tauschen (do ut des). Er möchte nicht für Staatsleistungen bezahlen, von denen er keinen Vorteil hat. Der Aufrechner weiß zwar, dass er auf staatliche Leistungen angewiesen ist, weil nicht jeder einzelne Bürger für sich Straßen, Schulen, Krankenhäuser bauen, dass nicht jeder seine eigene Infrastruktur schaffen kann. Die staatlichen Leistungen sind ihm aber zu teuer und oft unzureichend. So machen Aufrechner geltend, dass der Staat hohe 39 Dazu J. Märkt, Steuern als Preise, 2003, S. 376.
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Steuern verlange, aber seine Pflicht zum Schutz vor Kriminellen nicht erfülle. Insbesondere sei der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit vor Gewaltkriminellen unzulänglich, ebenso der Schutz des Eigentums vor Räubern und Einbrechern. So müsse man zusätzlich auch noch Versicherungsaufwendungen machen. Diese Aufwendung wiederum könnte man einkommensteuerlich nicht abziehen, stattdessen werde noch obendrein eine Versicherungsteuer erhoben. Auch die unverhinderten Schäden und Kosten, die Kriminelle – darunter Kravallmacher und Chaoten – verursachten, müsse der Steuerzahler tragen. Sie seien zu hoch, weil die Kriminalitätsbekämpfung mit Polizei und Justiz nicht effektiv genug sei. Zum Aufrechner passt das Äquivalenzprinzip 40 besser als das im Steuerrecht durchweg geltende Leistungsfähigkeitsprinzip. Auch nicht wenige Ökonomen bevorzugen das Äquivalenzprinzip, können dem Leistungsfähigkeitsprinzip wenig abgewinnen. 41 M. Leschke sieht in der Durchbrechung des Äquivalenzprinzips ein Steuerhinterziehungsmotiv. Nach ihm „erwartet der Bürger, dass er in der mittleren Frist an der Staatsleistungserstellung, für die er gezahlt habe, zumindest teilweise partizipiere. Habe er das Gefühl, dass dies mittel- bis langfristig nicht in genügendem Umfang der Fall sei, so steige seine Bereitschaft zur Steuerhinterziehung. 42 Mit einer Berufung auf das ökonomische Äquivalenzprinzip wird der Steuerpflichtige in einem Strafverfahren wegen hinterzogener Einkommensteuer nicht durchdringen. Das weiß auch jeder Steuerberater. Der Steuerpflichtige wird im Allgemeinen wohl nur geltend machen, dass die gegen ihn festgesetzte Steuer unverhältnismäßig hoch sei. Jedoch ist auch das ein zu allgemeines, daher nicht wirksames Verteidigungsmittel. Der Steuerpflichtige müsste Verfassungswidrigkeit von Vorschriften des Einkommensteuergesetzes geltend machen, die sich auch gegen einen willkürlichen Tarifverlauf richten könnte. Ein progressiver Tarif ist für sich nicht verfassungswidrig, ein nicht linearer Tarifverlauf kann es aber sein. 40 Dazu B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, 2000 (setzt sich für verstärkte Umsetzung dieses Prinzips ein); A. Schmeh, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, 2004. Hinweis auch auf J. Hey, Vom Nutzen des Äquivalenzprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 133 ff. 41 D. Schneider erwähnt, dass klassische Nationalökonomen noch im 19. Jahrhundert der Ansicht gewesen seien, eine über den Preis staatlicher Gegenleistung hinausgehende Steuer sei eine „Banditenforderung“. Er verweist auch auf John Stuart Mills Äußerungen (von 1848), dass eine progressive Einkommensteuer „eine milde Form der Räuberei“ sei (DB 1977, 487 re.). Aber das ist Geschichte. 42 M. Leschke, Das Problem der Steuerhinterziehung, in: Ökonomie und Moral, hrsg. von K. Lohmann und B. Priddat, 1997, S. 166.
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(b) Der moralische Aufrechner macht geltend, dass die Repräsentanten des Staates wohl von Steuerzahlern Steuermoral verlangten, aber selbst keine Besteuerungsmoral erkennen ließen. Der Steuerökonom Dieter Schneider argumentiert so: Ethische Normen hätten vor allem für jene zu gelten, die Steuerzahlungspflichten auferlegen. Parlamentsmehrheiten entzögen sich selbst ethischen Verpflichtungen und würden für die Folgen ihrer Gesetzgebung nicht zur Rechenschaft gezogen. Die Ausgabenverschwendungen seien ein weiteres Indiz für Unmoral. Das Nichteinhalten ethischer Normen im Steuerrecht und bei Staatseinnahmeverwendung nehme gesetzwidrigem Handeln einzelner Steuerpflichtiger den moralischen Makel. D. Schneider will die Steuerhinterziehung und die moralischen Verfehlungen des Gesetzgebers „abwägen“ 43 (wie immer das zu verstehen sein mag und praktiziert werden soll). Zusammenfassend heißt es: „Solange ethische Normen gegen Verschwendung öffentlicher Einnahmen nicht kodifiziert, Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht ernsthafter, treffender . . . verwirklicht wird, ist entgegen der ethischen Untertanenpflicht zur Steuerzahlung zu betonen, dass ethische Normen vor allem für die Gesetze Anordnenden und Durchführenden zu gelten haben. Deshalb geht die persönliche Wertung des Verfassers dahin, dass unter den derzeitigen Steuerrechtsgegebenheiten eine ethische Verurteilung von Steuerhinterziehungen nicht zu begründen ist. Das An-den-Pranger-stellen jener, die gesetzwidrig Steuern vermeiden, ist keine Norm, mit der Staatsverdrossenheit abgebaut werden kann und Staatsmacht in einer Demokratie durchgesetzt werden sollte.“ 44
Wenn ich D. Schneider richtig verstehe, will er Steuerhinterzieher nur moralisch freisprechen, aber wohl keinem richterlichen Freispruch das Wort reden. Ein richterlicher Freispruch bedürfte in der Tat einer konkreten Begründung unter Berufung auf die Verfassung. Bei der Gewichtung der Schuld und des Strafmaßes kann die schlechte Besteuerungsmoral allerdings durchaus berücksichtigt werden, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass früher Steuerehrliche (auch durch die Rechtsprechung) im Stich gelassen worden sind, wenn ihre Rechtsgesinnung, ihr Rechtsbewusstsein untergraben worden ist, wenn die Staatsorgane sich gar so verhalten haben, dass der Steuerpflichtige zu seiner Tat provoziert, verführt worden, zur Steuerhinterziehung geradezu eingeladen worden ist, überhaupt wenn die Staatsorgane die Haupt- oder Mitverantwortung für das illegale Verhalten des Steuerpflichtigen tragen. Haben die Finanzbehörden ein bestimmtes illegales Verhalten über längere Zeit geduldet, so haben sie das Recht verwirkt, rückwirkend auf einzelne „Sündenböcke“ das Gesetz anzuwenden. 45 43 DB 1997, 485 ff. – Dazu auch K. Vogel, in: Festschrift für W. Fikentscher, 1998, S. 223. 44 DB 1997, 490 re. 45 In diesem Sinne auch R. Seer: „Nehmen Gesetzgebung und Verwaltung über Jahre (wie z. B. bei der Zinsbesteuerung) eklatante Vollzugsdefizite ‚augenzwinkernd‘ hin, dann tragen sie eine wesentliche Mitverantwortung
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(c) Um dem Aufrechnen des eigenen Tuns mit mangelnder Besteuerungsmoral („Wie du mir, so ich dir“) 46 vorzubeugen, sollte die Finanzverwaltung wirksamer Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Den Einkommensteuer-Erklärungsformularen könnte ein Informationsbrief beigelegt werden mit einer Stellungnahme zum Vorwurf fehlender Besteuerungsmoral. Es könnte erläutert werden, warum auf einen progressiven Einkommensteuertarif nicht verzichtet werden kann. Auch könnte im Einkommensteuerbescheid mitgeteilt werden, wie hoch die Durchschnittsbelastung ist. Auch auf Verschwendungsvorwürfe müsste dringend öffentlich eingegangen werden. Wer schweigt, scheint zuzustimmen. Ein Finanzministerium, das etwa auf ein Buch wie das von Ralf Neubauer 47 nicht reagiert, erweckt den Eindruck, es gebe dagegen keine Argumente. 3.4 Der Steuerliberale Als zu hoch empfinden die Steuern insbesondere die Steuerliberalen. Sie betonen besonders den Freiheitseingriff der Steuer. Liberale Parteien sind dafür bekannt, dass sie für Steuersenkungen eintreten. Sowohl in Europa als auch in Nordamerika wird insbesondere von Steuerzahlerverbänden der Steuerfreiheitstag (tax freedom day) gefeiert. Das ist der Tag des Jahres, von dem ab die Steuerzahler „in die eigene Tasche wirtschaften“ dürfen, nicht mehr Steuern für die öffentliche Hand aufbringen müssen. Die Steuerliberalen stellen die Steuer gern als Opfer ohne Gegenleistung hin und verdrängen, dass sie bald der Willkür anderer ausgeliefert wären, wenn der Staat nicht durch seine Rechtsordnung, durch Polizei und Justiz zumal, ihre Freiheit schützen würde. Dass der Staat dabei hinter dem Optimum mehr oder weniger weit zurückbleibt, ist richtig, dass das Gemeinschaftsbewusstsein vieler Liberaler unterdurchschnittlich entwickelt ist, wohl auch. Mit Wilhelm Busch („Schein und Sein“) mögen die Steuerliberalen klagen:
für die Steuerhinterziehung. Verschärfen die Finanzbehörden plötzlich für bereits abgelaufene Zeiträume ihre Vollzugspraxis (wie z. B. Steuerfahndung gegenüber der Kreditwirtschaft und ihren Kunden), . . . muss die Mitverantwortung des Staates wenigstens bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigt werden . . .“ (in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht17, 2002, § 23 Rz. 3). Hinweis auf J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 28. M. E. wäre auch an die Einstellung des Verfahrens zu denken. 46 Dazu F. Heinemann, Wie du mir, so ich dir – der Fiskus und die Steuermoral, Steuerberater-Magazin 04/2008, 16. 47 R. Neubauer, Der Bürger als Beute. Vom Steuerraubzug der vereinigten Verschwender, 1996.
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts „Was hilft es Dir, damit zu prahlen, dass Du ein freies Menschenkind? Musst Du nicht pünktlich Steuern zahlen, obwohl sie Dir zuwider sind?“
In Europa sind die Liberalen zu schwach, um sich gegen die sozialen Parteien und ihre große Klientel durchsetzen zu können. Der Bevölkerungsanteil, der keine Einkommensteuer zahlt, wächst noch immer. Dass die, die keine Einkommensteuer schulden, dafür sind, dass die anderen progressiv hohe Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag zahlen, ist verständlich. Hohe Steuern, die andere zahlen, werden von den Nichtzahlern durchweg für gerecht gehalten. Die Einstellung der Liberalen, denen hohe Steuern zuwider sind, muss nicht in Steuerhinterziehung enden. Steuerliberale können auch in die legalistische Steuervermeidung ausweichen (s. unten S. 1727). Geraten sie ins Steuerstrafverfahren, so können sie sich nur durchsetzen, wenn sie sich erfolgreich auf Freiheitsrechte (Art. 2, 12, 14 GG) berufen können. Die Öffentlichkeitsarbeit des Finanzministeriums müsste sich auch mit den Vorstellungen der Steuerliberalen auseinandersetzen. Sie müsste die Einsicht fördern, dass gemeinsames Handeln mehr bringt als Alleinhandeln oder Gegeneinanderhandeln. 48 3.5 Der Staatsverdrossene (a) Zur Steuerhinterziehung motiviert werden kann auch der Staatsverdrossene. Im Extremfall hat er sich dem Staat entfremdet. Die ganze politische Richtung passt ihm nicht. Er sagt sich, für diesen Staat sollte man möglichst wenig ausgeben, seinen Aktivitäten sollte möglichst die finanzielle Grundlage entzogen werden. Nicht wenige Ausländer, die keine Staatsbürger sind und werden wollen, fühlen sich dem Gaststaat innerlich so wenig verbunden, dass sie keine Skrupel haben, falsche oder gar keine Steuererklärungen abzugeben. Der prominente Strafverteidiger F. Salditt hat die Erfahrung gemacht: „Steuerhinterziehung hängt in Deutschland auch mit dem Verlauf des 20. Jahrhunderts zusammen. Die Generation, die Deutschland nach dem Krieg aufgebaut hat, hat sich im Rückblick auf ihre eigene Erfahrung mit Inflation, mit Krieg und Vertreibung letztlich als Opfer des Staates gesehen. Viele von ihnen haben sich frei gefühlt, ihre Interes48 Damit aus gemeinschaftlichem Handeln nicht Handeln zum Nachteil anderer werden kann, müssen für alle die gleichen Prinzipien und Regeln (der Steuergerechtigkeit) gelten. Es genügt nicht, beliebigen Gesetzessinhalt mit harschen Strafdrohungen zu versehen. Prinzipien und Regeln müssen gleichmäßig durchgesetzt werden, insbesondere folgerichtig und widerspruchsfrei.
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sen gegenüber dem Staat gerade bei der Besteuerung so zu wahren, wie sie es für richtig hielten. Steuerhinterziehung hat ihnen kein schlechtes Gewissen bereitet. Und nicht selten ist diese Einstellung auf die nächste Generation übertragen worden – obwohl sich die Rahmenbedingungen zutiefst geändert haben . . .“ 49 Auch Föderalismusverdrossenheit kommt vor. 50 Nicht wenigen gilt der föderative Staat als besonders steuerverschwenderisch. Die Verdrossenheit muss aber nicht die Staatsform betreffen. Verdrießen kann auch eine bestimmte Politik. Dabei kann den Träger verschiedener Interessen Verschiedenes verdrießen, die einen die Politik hoher Steuern („Schröpfung“) und die Sozialpolitik, die anderen die Steuervergünstigungspolitik, von der man selbst nichts hat. Viele Steuerpflichtige haben kein Verständnis für Verstöße gegen das Subsidaritätsprinzip. Entsteht der Eindruck, den Leistungsträgern würden zu hohe Lasten zugemutet, den Empfängern von Sozialmitteln (mit „null Bock“ auf Arbeit) werde nichts zugemutet, vor allem keine Arbeit, so begünstigt das die Steuerverdrossenheit. Das gilt, wenn im „Sozialstaat“ die Groß-Steuerzahler eher mit Schmähung als mit Dank rechnen müssen, den Arbeitsunwilligen aber eher mit sozialer Hochachtung begegnet wird. 3.6 Insbesondere: Der Steuerverschwendungsverdrossene Besonders gefördert wird die Staatsverdrossenheit durch die Verdrossenheit über Verschwendung von Steuermitteln oder das, was dafür gehalten wird. Durch die jährlichen „Schwarzen Bücher“ des Bundes der Steuerzahler (Titel: „Die öffentliche Verschwendung“) und durch die kritischen Berichte des Bundesrechnungshofes und der Landesrechnungshöfe 51 erfahren Steuerbürger – durchweg vermittelt durch die Medien – von der Verschwendung von Steuermitteln. Als Steuermittelverschwendung (kurz: Steuerverschwendung) wird die nicht zu rechtfertigende, den Gemeinwohlzweck verfehlende Verwendung von Steuern bezeichnet, z. B. Verschwendungen durch große Fehlplanungen, Fehlinvestitionen, konkreter: durch Ausgaben für nicht benötigte Einrichtungen, durch verhinderbare, nicht verhinderte Kostensteigerungen, durch technisch verfehlte Anschaffungen. Besonders auffällig sind die enormen Verschwendungen durch zeitliche und monetäre Fehlplanungen im Zusammenhang mit Großprojek49 Steuerberater-Magazin 04/2008, S. 19. 50 Dazu W. Renzsch, Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und Abhilfe, in: H. H. v. Arnim (Hrsg.), Die deutsche Krankheit: organisierte Unverantwortlichkeit?, 2005, S. 39 ff. 51 Den Rechnungshöfen obliegt die unabhängige, weisungsfreie (externe) Finanzkontrolle der Bundes- und Landesbehörden.
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ten. Gegenwartsbeispiele: die Projekte Hamburger Elb-Philharmonie, Stuttgarter Bahnhof, Großflughafen Berlin, Jade-Weser-Port, Wilhelmshaven, Nürburgring-Debakel. Immer sind die Steuerzahler Mitgeschädigte. Die Vermutung, es würde mehr Steuergeld verschwendet, als Steuern hinterzogen würden, lässt sich nicht verifizieren. Weder ist die Dunkelziffer der Steuerhinterziehung bekannt, noch besteht Konsens darüber, unter welchen Voraussetzungen Steuerverschwendung anzunehmen ist. In den Medien werden auch politisch, insbesondere sozialpolitisch motivierte Ausgaben als übertrieben, unnötig oder missbräuchlich kritisiert, z. B. die Gewährung von Subventionen ohne Erfolgskontrolle, die Weitergewährung von Subventionen nach Wegfall ihres Zweckes, Subventionierungen der Wählerklientel vor der Wahl (sog. „Wahlgeschenke“), die „Gießkannen“-Subventionierung, die Subventionierung privatwirtschaftlicher Veranstaltungen – bis hin zur LoveParade. Zur Steuermittelverschwendung führt auch die Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes, insbesondere durch die Besetzung von Schlüsselpositionen durch fachlich wenig kompetente politische Gesinnungsgenossen. Diese Ämterpatronage verstößt gegen Art. 33 GG, wird aber von allen Parteien entsprechend ihren Möglichkeiten entgegen dem Grundgesetz dreist praktiziert, auch wo die gesetzliche Bindung keine Parteipolitik zulässt. 52 Als politische Verschwendung werden auch bezeichnet: kleine Bundesländer, die nur mit Hilfe anderer Bundesländer finanziell existieren können, föderative Steuerverwaltungen – verbunden mit ständigen Personal- und Aktentransporten zwischen Bonn und Berlin, unnötig komplizierte, kaum zu vollziehende Gesetze, unnötige Reisen von Abgeordneten in ferne Erdteile. Als soziale Verschwendung im weiteren Sinne werden auch kritisiert: falsch verstandene Solidarität durch soziale Hilfen an arbeitsscheue, antriebslose Leistungsverweigerer („Asoziale“), Scheinarbeitslose, Duldung unterhaltsverweigernder Väter (für die der Staat mit Steuermitteln einspringt), Duldung weiteren Aufenthalts von abgewiesenen Asylbewerbern, Zulassung der Einwanderung in das nationale Sozialsystem, Vergeudungen in der Entwicklungshilfeszene, aufwändige Bauten zur komfortablen Unterbringung von Straftätern und Siche52 Zur Realität der Ämterpatronage H. H. v. Arnim, Das System. Machenschaften der Macht, 2001, S. 48, 154, 159, 165 ff.; R. Wahl, Ämterpatronage – ein Krebsübel der Demokratie?, in: H. H. v. Arnim, Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit?, 2005, S. 107 ff. – Die Erfahrung lehrt allerdings: In der Einparteiendiktatur haben nur die Parteigänger der einen Staatspartei eine Chance. Wer nicht Parteimitglied ist, kann weder Lehrer noch Richter werden. Das rechtfertigt allerdings nicht die Verstöße gegen Art. 33 GG in der Demokratie.
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rungsverwahrten, wirkungslose Straftäter-Therapien, teure Polizeieinsätze zum Schutze gegen Gewalttäter bei Großveranstaltungen (statt Übernahme der Kosten durch die Veranstalter). Nach Rechnungshofberichten gehen auch die Brüsseler EU-Behörden sehr großzügig oder verschwenderisch mit den Mitteln der Steuerzahler um. Die Steuerhinterziehung ist strafbar, die Steuerverschwendung nicht. Das erscheint vielen Steuerbürgern inkonsequent, dem Bund der Steuerzahler strafwürdig. Strafwürdig wäre in der Tat auch die Steuerverschwendung. Es ist aber sehr schwierig, einen hinreichend bestimmten Straftatbestand der Steuerverschwendung zu formulieren, zumal wenn diese in den Bereich des Politischen fällt. 53 Was Verschwendung ist, hängt von der politischen Einstellung ab. Demokratische Politik ist pluralistisch. Was z. B. Konservativen als Verschwendung erscheinen mag, sehen Sozialisten als Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips an. Strafrechtlich könnte zurzeit allenfalls Untreue (§ 266 I StGB) angenommen werden. 54 Wer gegen Haushaltsrecht verstößt, wird aber nach ständiger Rechtsprechung nicht wegen Untreue bestraft, wenn er dem Staat keinen Vermögensschaden zufügt. Das wird angenommen, wenn der Staat für das Ausgegebene einen Gegenwert erhält. Ist doch ein Schaden entstanden, pflegt der Untreuevorsatz verneint zu werden. Wer als Beamter nicht wegen Untreue bestraft wird, wird auch nicht diszipliniert. 55 G. Wolf wendet sich in einem für den Bund der Steuerzahler erstatteten Gutachten gegen diese Rechtsprechung; er meint, die Gerichte scheuten sich davor, „hochrangige Beamte strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen“. 56 Der Bund der Steuerzahler fordert die Einführung eines Straftatbestandes der Amtsuntreue und die Einrichtung eines Amtsanklägers. 57 53 G. Kohlmann/U. Brauns haben sich in einem Gutachten für den Bund der Steuerzahler daran versucht (Zur strafrechtlichen Erfassung der Fehlleitung öffentlicher Mittel, 1979). S. auch G. Wolf, Die Strafbarkeit der rechtswidrigen Verwendung öffentlicher Mittel, 1997, mit umfassenden Nachweisen; ferner A. Coenen, Die Strafbarkeit von Verstößen gegen das öffentliche Haushaltsrecht bei der Bewirtschaftung öffentlicher Mittel, Diss. Köln 2000. 54 Dazu H. W. Neye, Die „Verschwendung“ öffentlicher Mittel als strafbare Untreue, NStZ 1981, 369 ff. S. auch G. Wolf, Der Steuerzahler 2/1997, S. 29; s. auch Der Steuerzahler 11/2010, S. 290. 55 Anders der Beamte, der Steuern hinterzieht. Er wird nicht nur bestraft, er muss auch mit einem Disziplinarverfahren rechnen, selbst dann, wenn er sich strafbefreiend selbst angezeigt hat (§§ 371; 378 III AO); dazu kritisch U. Brauns, Disziplinarische Verfolgung von Beamten nach strafbefreiender Selbstanzeige, in: Festschrift für G. Kohlmann, 2003, 387 ff. 56 Der Steuerzahler 2/1997, S. 29. 57 Der Steuerzahler 11/2010, S. 290.
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Den Hinweis auf Steuerverschwendungen wird der Strafrichter als unerheblich ansehen. Er wird nicht gestatten, dass die hinterzogenen Steuern um die Steuerverschwendungsquote (deren Höhe nicht feststeht, immer umstritten sein wird) gekürzt wird. Das ändert aber nichts daran, dass der Inhalt der jährlichen Verschwendungsberichte des Bundes der Steuerzahler und der Rechnungshöfe (über die in den Medien berichtet wird), der öffentlichen Hand von vielen Steuerzahlern als Beweis schlechter Besteuerungsmoral angekreidet wird. Darin, dass verschwenderische Besteuerungsmoral folgenlos bleibt, schlechte Steuermoral aber bestraft wird, wird von vielen ein Messen mit zweierlei Maß gesehen. Auch den Hinweis, dass der Bürger ein Wahlrecht habe und bei der Wahl verschwenderische Abgeordnete „abstrafen“ könne, wird erfahrene Wähler nicht zufrieden stellen. Sie wissen, dass alle Parteien verschwenderisch agieren können, dass sie vor der Wahl Versprechungen machen (sie stehen in einem Versprechenswettbewerb), die nach der Wahl – soweit die Versprechungen nach der Wahl nicht gebrochen werden – finanziert werden müssen, durch höhere Steuern oder höhere Verschuldung. Das gilt für alle Parteien. Nicht wenige Steuerzahler fühlen sich gegenüber der Staatsgewalt ohnmächtig und entschließen sich, zur Steuerhinterziehung statt zur Steuerkooperation mit dem Staat – ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Quantität der Verschwendung mögen sie überschätzen, mit dem Begriff „Verschwendung“ mögen sie ziemlich beliebig umgehen. An der Verdrossenheit ändert das nichts. Öffentlichkeitsarbeit ist auch in diesem Bereich gefragt. Wenn der Steuerbürger in seiner Zeitung Verschwendungsberichte des Bundes der Steuerzahler oder der Rechnungshöfe liest, aber nie eine Erwiderung der kritisierten Behörden, wird er nicht nur auf Dickfelligkeit schließen, sondern auch annehmen, dass die Verschwendungsberichte zutreffen. (c) Ob unsere Politiker, insbesondere die so genannten Euro-Rettungspolitiker es wahrhaben wollen oder nicht: Viele Steuerzahler sind Euro-verdrossen über die Verpflichtungen, die unsere Politiker zu Lasten der deutschen Steuerzahler eingehen. Deutschland – so bedauern sie – sei in ein Boot gesetzt worden mit südeuropäischen Staaten mit schwacher Wettbewerbsfähigkeit, deren Bürger eine andere Steuermentalität und eine andere Einstellung zu Staatsschulden hätten. Richtig ist: Deutschland war von Anfang an ein Geberland, und es waren Griechenland, Italien, Spanien und Portugal von Anfang an Nehmerländer. 58 Das Ziel der Umverteilung ist bisher durchaus nicht 58 Dazu das seriöse Buch von F.-U. Willeke, Deutschland, Zahlmeister der Europäischen Union, 2011, insb. S. 120 ff. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, die Lastenverteilung in der Europäischen Union sei von Anfang an
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erreicht worden. Die Nehmerländer sind solche geblieben; sie haben ihre Nehmerqualitäten behalten. Trotz der Umverteilung haben sie extrem hohe Staatsschulden angehäuft, ihre Wettbewerbsfähigkeit aber nicht verbessert. Deutsche Steuerzahler verstehen offenbar nicht, warum sie trotzdem mit unserer Solidarität rechnen sollen, die Eurozone eine Schulden- und Haftungsunion, eine Fiskalunion werden soll. Sie verstehen nicht, warum unsere Politiker die Frage nach der Solidaritätswürdigkeit nicht aufwerfen. Viele Steuerzahler in Deutschland haben den Eindruck, es werde über sie hinweg regiert, sie würden fehlinformiert. Sie haben durchaus Verständnis für den Abbau der ebenfalls extrem hohen deutschen Staatsschulden, für die dringend verbesserungsbedürftige deutsche Infrastruktur und die Weiterentwicklung der deutschen Wissenschaft, sehen aber nicht ein, dass sie für verschwenderische Südeuropäer einstehen sollen. Sie fragen sich, ob die Nehmerländer sich mit einer besseren Besteuerungs- und Steuermoral sowie mit einer halbwegs effizienten Steuerverwaltung nicht selbst helfen könnten. Aber man kann auch fragen: Warum sollten sie das tun, wenn andere etwas für sie tun, aus „Solidarität“. Man weiß, dass in den südeuropäischen Ländern riesige private Vermögen existieren, deren Halter aber nicht effizient besteuert werden. Steuerzahler, die internationale Ethik einfordern, lassen sich deshalb nicht gern als Deutschnationale einordnen. Auch deutsche Europapolitiker und Euroretter sollen nach dem Grundgesetz Schaden vom Deutschen Volk abwenden, es bestehen für viele Steuerzahler aber Zweifel, ob sie das wirklich tun. Nicht nur Mitglieder des Bundes der Steuerzahler fürchten, deutsche Politiker und Beamte gingen zu sorglos mit dem Geld der deutschen Steuerzahler um. Politikern und Beamten wird auch von Fachautoren vorgeworfen, es fehle ihnen an Kostenbewusstsein; sie gingen mit Steuergeld zu sorglos, zu achtlos um, sie pflegten die Mentalität des „Es ist ja nicht mein Geld!“ Nicht wenige Steuerzahler fürchten, sie würden von der Politik „für dumm verkauft“. Südeuropa sei offenbar ein Fass ohne Boden. Die Transfers nach Südeuropa seien kontraproduktiv; sie untergrüben die Leistungsbereitschaft der Empfänger. Klaus Vogel erklärte den sorglosen, leichtfertigen Umgang mit Steuergeld so: „Macht ist eine Droge; Geld ist auch eine Droge; aber die gefährlichste aller Drogen ist es, über das Geld anderer verfügen zu können. Denn da kann Macht durch die Bestimmung über Geld ausgeübt werden, ohne dass der Mächtige (der Volksvertreter, der Oberbürgermeister, der Ministerpräsident) auch nur auf einen Pfennig eigenen Geldes, somit eigenen Lebensgenusses verzichten müsste.“ 59 ungerecht gewesen, Deutschland werde ausgeplündert. „Nordeuropa arbeitet und zahlt für den Süden“, titelt H. M. Broder (Welt online v. 3.8.2012). 59 DStJG Bd. 12 (1989), 128.
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An anderer Stelle äußerte Klaus Vogel:
„Hüten muss man sich . . . vor dem Kinderglauben, die Erhebung von Steuern bedeute per se eine Mehrung des Gemeinwohls zulasten des Eigennutzes. Steuereinnahmen bedeuten zunächst nur einen Machtzuwachs für Politiker und Beamte. Ob sie tatsächlich dem Gemeinwohl dienen, hängt von ihrer Verwendung ab. Nicht auszuschließen ist, dass manche Mittel gemeinwohldienlicher verwendet würden, wenn man sie dem Eigentümer beließe. Und man muss bedenken, dass von den Mitteln, die zur Umverteilung erhoben werden, nur ein Teil – wenn es hoch kommt, die Hälfte – bei denen ankommen wird, für die sie bestimmt sind.“ 60
Da die gezahlten Steuermittel formal dem Staat gehören, wird immer wieder übersehen, dass sie wirtschaftlich treuhänderisch zu verwaltende Fremdmittel sind – auch wenn sich Steuermittel bereits in der Staats- und Gemeindekasse befinden. In diesen Kassen setzt kein wundersamer Verwandlungsprozess, keine Metamorphose der Steuermittel ein. Wer die Macht über die Verwendung von Steuermitteln hat, muss mit diesen Mitteln nach Möglichkeit noch sorgfältiger umgehen als der sorgfältige Hausvater mit der Privatschatulle, noch sorgfältiger als mit eigenen Mitteln, nicht umgekehrt. Steuermittelverschwendung ist Missachtung der Steuerzahler, die die Steuern aufgrund ihrer Leistung erarbeitet oder erwirtschaftet und aufgebracht haben. Sie sind im demokratischen Rechtsstaat keine Untertanen. Aus der Kritik des Bundes der Steuerzahler und der Rechnungshöfe machen sich die Adressaten in der Tat wenig. Die Rechnungshöfe haben keine Sanktionsmittel. Man nennt die Rechnungsprüfer daher auch „Ritter ohne Schwert“. 61 Das bloße Moralisieren scheint sich im Laufe der Zeit abzunutzen. Jedenfalls bewirken die Monita der Rechnungshöfe keinen Rückgang der Beanstandungen. 3.7 Der aus wirtschaftlicher Not Handelnde Auch aus wirtschaftlicher Not kann es zur Steuerhinterziehung kommen. Wenn Unternehmer – verschuldet oder unverschuldet – in eine wirtschaftliche Notlage geraten sind, versuchen sie nicht ganz selten, den Zusammenbruch des Unternehmens durch Steuerhinterziehung abzuwenden. 62 Die Notlage entschuldigt die Tat nicht, kann aber eine Strafmilderung rechtfertigen, wenn nicht eine Einstellung des Verfahrens. Auch ein Billigkeitserlass (§ 228 AO) kann in Betracht kommen.
60 JZ 1996, 44. 61 Über die Ohnmacht der Rechnungshöfe H. H. v. Arnim, Staatslehre der BR Deutschland, 1984, 394 ff.; Udo Müller, Gegen die Ohnmacht der Rechnungshöfe. Plädoyer für eine wirksame Finanzkontrolle, in: Verwaltungsführung, Organisation, Personalwesen (Zeitschrift) 1993, 311 ff. 62 Dazu die Beispiele von F. Salditt, StraFo April 1997, 67 li.
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3.8 Der Gerechtigkeitssensible Wer Steuern hinterzieht, weil er sich durch das Gesetz oder durch die Gesetzesanwendung ungerecht behandelt fühlt, konfrontiert uns mit der Frage, ob es, wenn nicht legal, so doch legitim sein kann, ungerechte, zumal verfassungswidrige Steuern, zu hinterziehen. Von jeher hat es in der Steuergeschichte Widerstand gegen ungerechte Steuern gegeben, auch Revolten und Kriege. Unblutigen Widerstand gibt es auch in demokratischen Ländern. 63 Auch in Deutschland hält die große Mehrheit der Steuerzahler die Steuergesetze wohl für ungerecht. 64 Das heißt nicht, dass mehr als eine kleine Minderheit eine fundierte Vorstellung von Steuergerechtigkeit hätte. 65 Viele fürchten, sie seien mangels Steuervergünstigungen benachteiligt, weil andere Steuerpflichtige Schlupflöcher und Vergünstigungen nutzen dürften und nutzten. „Meine Steuer ist zu hoch“, ist eine verbreitete, aber simple Begründung. Viele kennen indessen gar nicht ihre Durchschnittsbelastung. Die Meinung, dass ungerechte Steuergesetze oder solche, die dafür gehalten werden, zu Steuerhinterziehung motivieren, ist weit verbreitet und belegt. 66 K. Mackscheidt hält als Ergebnis fest, dass „das Gerechtigkeitsempfinden gegenüber der Besteuerung stark ausgeprägt ist. Eine Steuerlast, die als unangemessen verteilt gilt, wird signifikant weniger gut akzeptiert als eine Steuer, die als gleichmäßig verteilt empfunden worden ist. Sowohl in der steuerpsychologischen als auch im . . . Steuerhinterziehungsexperiment rangiert wahrgenommene Steuerungerechtigkeit als Einflussfaktor auf dem zweiten Platz hinter der Steuerhöhe . . . In Zeiten, in denen hohe Steuern unabdingbar sind, muss die größte Aufmerksamkeit auf die gerechte Steuerlastverteilung gelegt werden . . .“ 67 63 In Demokratien existieren auch Steuerzahlerverbände, die nicht nur für niedrigere Steuern eintreten und sich gegen Steuerverschwendung wenden, sondern sich auch für Steuergerechtigkeit engagieren. 64 Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach hat ergeben, dass 78 % der Befragten die deutschen Steuergesetze für ungerecht hielt. 65 Die „gefühlte“ Auffassung, es sei ungerecht, bei der Zinsbesteuerung die Inflation nicht zu berücksichtigen, ist aber – gemessen am Leistungsfähigkeitsprinzip – wohlbegründet (s. Bd. I2, S. 512 ff.). Dass Inflation und Steuer die Zinsen ganz „auffressen“ können, kümmert bisher aber die Steuerstrafrichter nicht, andere Richter auch nicht; die Abgeordneten, deren Aufwendungen jährlich an die Inflationsrate angepasst werden, erst recht nicht. 66 Dazu R.-Chr. Bayer/N. Reichl, Ein Verhaltensmodell zur Steuerhinterziehung, 1997; K. Mackscheidt, Die Entwicklung der Steuermoralforschung, in: K. Bizer/A. Falk/J. Lange (Hrsg.), Am Staat vorbei, 2004; C. Fuest, Steuerakzeptanz und Steuerwiderstand als Herausforderung für die Steuergesetzgebung, Deutscher Finanzgerichtstag 2007, S. 87 ff. 67 K. Mackscheidt (Fußn. 66), S. 27.
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Anders ausgedrückt: In ungerechten Steuergesetzen drückt sich Besteuerungsunmoral aus; sie beeinflusst die Steuermoral der Bürger negativ. 68 Besteuerungsunmoral baut das Gemeinschaftsbewusstsein und steuermoralische Hemmungen ab. Die Bürger rechtsstaatlicher Demokratien sind keine staatsfrommen, obrigkeitsgläubigen Trottel, die Gesetzen, die sie für ungerecht halten, ohne weiteres gehorchen. Lässt sich den Gesetzen kein ethisches Muster, kein Gerechtigkeitsmaßstab entnehmen, werden die Gesetzesbefehle ständig und mehr oder weniger beliebig geändert, wird der Rechtsgedanke beliebig vom Macht- oder vom Fiskalgedanken verdrängt, lassen sich den Gesetzen keine folgerichtig nachvollziehbaren Wertungen oder Prinzipien entnehmen, so kann verwurzeltes, eingewöhntes Recht nicht entstehen. Rechtsgesinnung braucht einen festen Boden, braucht Rechtsbeständigkeit. Nur zu leicht verschwimmt die Grenze zwischen Legalem und Illegalem, wenn der feste Boden fehlt, den auch sichere Planungen der Unternehmer brauchen. Die Besteuerung existiert im Bewusstsein vieler Politiker und auch der Bevölkerung leider weithin nur noch als technischer Erhebungsmechanismus. 69 Auch Steuerlaien könnten sich gesetzeskonformer verhalten, wenn die Gesetze einsichtiger und konstanter wären und so die Anknüpfung an das Gewohnte, Eingelebte ermöglichen würden. Das Gros der Steuerpflichtigen zahlt ihre Steuern allerdings ohne Rücksicht auf die Besteuerungsmoral korrekt. Gleichwohl: Nicht jeder Gesetzesbrecher ist ein Rechtsbrecher im Sinne von Gerechtigkeitsbrecher. 70 Der Eindruck von Steuerungerechtigkeit wird besonders gefördert, wenn sich die Auffassung verbreitet, „dass alle oder sehr viele es tun“ und dass der Staat zu wenig dagegen tut, so dass die Ehrlichen die Dummen sind. Viele Unehrliche ziehen auch bisher Ehrliche mit. Steuermoralisch lässt sich ohne Schwierigkeiten handeln, wenn die steuermoralische Regel und das Eigeninteresse zusammenfallen. Oft besteht aber – unvermeidlich – ein Spannungsverhältnis. Vermeidbar besteuerungsunmoralisch ist es, wenn Steuergesetze die Ehrlichen (und ihre Interessen) benachteiligen. Im Strafverfahren genügt es indessen nicht, dass sich der Angeklagte allgemein auf „die Ungerechtigkeit der Steuergesetze“ beruft. Gegen vom demokratischen Gesetzgeber beschlossene (Steuer-)Gesetze ist Widerstand durch Gesetzesbruch grundsätzlich nicht zugelassen. Gerechtigkeitssensible dürfen zwar nicht mit den homines oeconomici verwechselt werden, was ihre Einstellung zur Steuer betrifft: Aber im 68 Dazu insb. D. Schneider, DB 1997, 488 li, 489. J. Lang, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 1 Rz. 4, 8; § 4 Rz. 1 f., 60–62, 109. 69 So auch Deutsche Steuergewerkschaft (Niedersachsen), DStG Dez. 1998, 155. 70 Dazu auch K. Vogel, in: Festschrift für W. Fikentscher, 1998, S. 225.
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Strafprozess müssen sie zur erfolgreichen Verteidigung in ihrem Falle einschlägige Steuerrechtsnormen benennen, die Grundrechte, insbesondere den Gleichheitssatz verletzen und damit ungerecht sind. 71 Gelingt es, die Steuerstrafrichter von der Gleichheitssatzverletzung oder einer anderen erheblichen Verfassungswidrigkeit zu überzeugen, so haben diese das Bundesverfassungsgericht anzurufen (Art. 100 GG). Das ist bisher noch nie geschehen. Entweder haben die Strafrichter sich bisher nie mit Verfassungsfragen, die die materiellen Steuergesetze betreffen, befasst oder sie haben wohl mangels steuergesetzlichem Durchblick keine Verfassungswidrigkeit erkennen können. Umstritten ist allerdings die Frage, wie zu verfahren ist, wenn das Verfassungsgericht eine rechtserhebliche Norm zwar für verfassungswidrig hält, dem Gesetzgeber aber mit Rücksicht auf die Budgetplanung eine Übergangsfrist für die Herstellung der Verfassungsmäßigkeit setzt – mit der Folge, dass das verfassungswidrige Gesetz bis zum Fristablauf weiterhin angewendet werden darf. 72 Die Meinungen über die steuerstrafrechtliche Folge gehen auseinander. 73 M. E. würde der bis zum Fristablauf fortgeltende Strafanspruch auf die Verteidigungsabsicherung einer Unrechtsordnung hinauslaufen. Ein Unwerturteil verdient in solchen Fällen die sich in der Verfassungswidrigkeit ausdrückende mangelhafte Besteuerungsmoral des Gesetzgebers, nicht das Verhalten des Steuerpflichtigen. Seinen Übergangs-Steueranspruch (der dem Staat verfassungsrechtlich nicht zusteht, ihm nur aus budgetären Gründen zugebilligt wird) kann der Fiskus bei Zahlungsverweigerung durch außerstrafrechtlichen Zwang durchsetzen. Eine strafrechtliche Ahndung muss zur Unrechtsabwehr eingesetzt werden, darf aber nicht der Durchsetzung von verfassungswidrigem Unrecht dienen. F. Salditt formuliert es so: „Die Willkür der Erhebung verfassungswidriger Steuern ist ein befristet hingenommenes geringeres Übel. Um fiskalisches Chaos zu verhindern, bedarf es des Verwaltungszwangs, nicht aber auch der Strafe als eines gesteigerten Übels. Das über den Täter verhängte Unwerturteil des strafrechtlichen Schuldspruchs
71 Die Gleichheitssatzverletzung kann sich aus Vorschriften der materiellen Steuergesetze (die das Blankett des § 370 AO ausfüllen) ergeben, aber auch aus insuffizienten Verfahrensvorschriften oder durch massenhafte Nichtaufklärung bestimmter Fallgruppen (dazu Bd. I2, S. 282 ff., 359 ff.; 365 ff.; s. auch oben . . .). 72 Kritisch zu diesem Verfahren R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 22 Rz. 287 f. mit Nachweisen in Fußn. 36; K. Tipke in diesem Bd. S. 1567). 73 Dazu mit Nachweisen G. Kohlmann/B. Hilgers-Klautzsch, Stbg. 1998, 485 ff.; dies., wistra 1998, 161.
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wäre vorgeschoben, wenn bereits die verletzte Steuernorm selbst einem Unwerturteil unterliegt.“ 74 Obwohl allein das Bundesverfassungsgericht verbindlich über Verfassungsfragen entscheidet: Es ist allerdings nicht verwunderlich, dass nicht wenige Steuerpflichtige, die sich ungerecht behandelt fühlen, die eigenmächtige Steuerverkürzung dem langwierigen und nicht selten unbefriedigenden Weg zum Verfassungsgericht vorziehen. 75 Sie fühlen sich vom Rechtsstaat im Stich gelassen und greifen zur Selbsthilfe. Jahrzehnte hat es z. B. gedauert, bis das Verfassungsgericht endlich die mit Händen zu greifende Ungleichbelastung durch ungleiche Bewertung verschiedener Vermögensarten bejaht hat. 76 Jahrzehntelang hatte das Gericht sich unzugänglich gezeigt, sich mit selbst erfundenen formalen Gründen selbst blockiert. Erst Verfassungsrichter Paul Kirchhof hat die formale Hürde des „keine Gleichheit im Unrecht“ übersprungen und wieder Gleichbelastung ermöglicht. Bis heute werden die Steuerbürger vor der „kalten Progression“ nicht geschützt. 77 Hat das Gros der Steuerpflichtigen mit Duldung der Finanzbehörden bestimmte Steuervorschriften nicht beachtet, so ist es m. E. nicht gerechtfertigt, rückwirkend bis zur Verjährung strafrechtlich gegen wenige „Sündenböcke“ vorzugehen. Ein über längere Zeit geduldeter verfassungswidriger Zustand darf nicht rückwirkend mit strafrechtlichen Mitteln verfolgt werden, schon gar nicht dadurch, dass rückwirkend noch an einigen „Sündenböcken“ ein Exempel statuiert wird. Das ist schlechte Besteuerungsmoral. Die Steuermoral lässt sich nicht rückwirkend wieder herstellen, schon gar nicht, wenn sie durch schlechte Besteuerungsmoral verdorben worden ist. „Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun“, meint ein Sprichwort. Aber den wenigen zunächst gesetzestreu Gebliebenen ist es auf die Dauer nicht zuzumuten, eine Art Sonderopfer erbringen zu sollen. „Ehrlich zu sein, ist für den einzelnen nur dann rational 78, wenn er keine Angst haben muss, allein ehrlich zu sein.“ 79 Steuerstrafe kann nicht ausgleichen, was durch fehlende Kontrolle im Besteuerungsverfahren versäumt worden ist. Der Staat, der nicht kontrolliert, der verführt. 74 In: Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 478. Wie F. Salditt auch R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 23 Rz. 2. 75 Dazu K. Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000, S. 104 f. 76 BVerfGE 93, 121 zur Vermögensteuer, - 93, 165; 117, 1 zur Erbschaftsteuer. 77 Dazu M. Leschke, Problem der Steuerhinterziehung. Eine moralökonomische Analyse, in: R. Lohmann/B. Priddat (Hrsg.), Ökonomie und Moral, 1997, S. 997: „Werden Individuen in einem progressiv gestalteten Steuersystem inflationsbedingt stärker durch Steuern belastet, so wird dies als nicht legitimierte Einnahmenerzielung des Staates bewertet, und die Steuerhinterziehung nimmt zu.“ 78 Das „rational“ würde ich gern durch „zumutbar“ ersetzen. 79 O. Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 419.
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Handeln Steuerpflichtige nicht hartnäckig aus Rechtsfeindschaft, sondern versuchen sie gerade das Recht oder das, was sie dafür halten, durchzusetzen (insbesondere die Gleichbelastung, für die auch die Gerichte nicht gesorgt haben), so ist das zwar illegal: Der Strafrichter hat aber alle Veranlassung zu prüfen, ob die Rechtsauffassung des Steuerpflichtigen nicht eine solide verfassungsrechtliche Grundlage hat, etwa eine Basis in der Fachliteratur. Stehen der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts Bedenken entgegen, sollte das glaubhafte Gerechtigkeitsmotiv bei der Bemessung der Schuld und der Strafe mildernd berücksichtigt werden; auch die Einstellung des Verfahrens käme in Betracht. 80 In Steuerstrafverfahren muss es künftig auch um das Unrecht gehen, dass der Gesetzgeber ausgelöst hat. Überhaupt können Strafen die Akzeptanz der Steuergesetze nicht ersetzen. Akzeptiert zu werden pflegen Steuergesetze nur, wenn sie – als gerecht – gerechtfertigt sind. M. Leschner stellt es so dar: „Glaubt ein Individuum, dass der Anteil steuerhinterziehender Bürger sehr hoch ist, so ist seine Bereitschaft, steuerehrlich zu handeln, geringer, als wenn er annimmt, der Anteil der steuerhinterziehenden Bürger sei klein . . . kaum jemand verhält sich in der Umgebung von unmoralischen Personen genau so wie in einer Gemeinschaft von moralischen Personen . . . Ist die Gefahr groß, dass die eigene moralisch-kooperative Haltung, Steuern ehrlich zu zahlen, durch das egoistische Handeln der Steuerhinterzieher in ihrer Wirkung konterkariert wird, so sind die wenigsten Menschen bereit, diese Strategie beizubehalten. Ein hoher Anteil moralisch-kooperativen Handelns reduziert hingegen die Gefahr der Ausbeutung des eigenen steuerehrlichen Verhaltens und bestärkt moralische Akteure, weiterhin für die Gemeinschaft zu handeln . . .“ 81 In Kürze: Kaum jemand möchte zur Minorität der ehrlichen Dummen gehören. Für die Rechtfertigung der Steuern als gerecht tut die Öffentlichkeitsarbeit des Finanzministeriums nichts. Es enthält sich auch der Stellungnahme zu Steuerverschwendungsvorwürfen. Je mangelhafter die Steuergesetze und ihre Anwendung sind, je mehr Steuermittel verschwendet werden, desto schwieriger ist allerdings die Öffentlichkeitsarbeit – wenn diese nicht bloß Regierungspropaganda sein soll, sondern – im Rechtsstaat – der Wahrheit verpflichtet sein soll. Die Wahrheit ist leider, dass der Gesetzgeber weithin noch immer dem Leitsatz „Weiter so!“ folgt.
80 Dazu auch F. Salditt, Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 482. 81 M. Leschke, Problem der Steuerhinterziehung (Fußn. 77), S. 157 ff., 168, 170 f.
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3.9 Der Nebenverdiener Nicht wenige Steuerpflichtige verdienen sich neben den Einkünften aus ihrem Hauptberuf noch weitere Einkünfte, auch als Nebeneinkünfte oder „Zubrot“ bezeichnet. Oft werden die Nebeneinkünfte durch Arbeit in den Abendstunden oder an Wochenenden erzielt, d. h. in einer Zeit, die für andere Freizeit ist. Es gibt Nebenverdiener, die zusätzliche Arbeit in der Freizeit für nicht steuerpflichtig halten; andere sehen es als illegetim an, „Freizeiteinkünfte“, die zusätzliche Anstrengungen erforderlich machen und für die Freizeit geopfert werden muss, zu besteuern. Sie meinen, was jemand in seiner Freizeit verdiene, dürfe oder sollte nicht zusätzlich belastet werden. Wer es auf sich nehme, statt zu faulenzen auch in seiner Freizeit zu arbeiten, sollte nicht mit einer zusätzlichen progressiven Steuer „bestraft“ werden. Was die Nebenverdiener einwenden, lässt sich hören. Es berücksichtigt aber nicht, dass sich zwischen Haupt- und Nebenverdienst oft nicht trennen lässt. Das gilt insbesondere für Unternehmer. Viele Unternehmer arbeiten – aus welchen Gründen auch immer – länger als 40 Stunden in der Woche. Das gilt z. B. für viele Freiberufler, Landwirte, Schriftsteller, Richter 82 usw. Eine günstigere Behandlung nur der Nebeneinkünfte von Arbeitnehmern würde aber das Verallgemeinerungsgebot des Gleichheitssatzes verletzen. 3.10 Der Verführte Es gibt nicht nur die Steuerhinterziehung durch Anstiftung, sondern auch die Steuerhinterziehung infolge Verführung durch Unterlassen oder Vernachlässigung der Kontrolle durch den Staat. Wenn z. B. – wie bei Klein- und Kleinstbetrieben – der Außenprüfer allenfalls in Abständen von Jahrzehnten kommt, braucht man sich nicht darüber zu wundern, wenn Steuerpflichtige sich zur Steuerhinterziehung verleiten lassen. Wenn der Staat nicht darauf drängt, dass ihm die Zinseinkünfte von Steuerflüchtlingen bekannt werden, wenn er es sich gefallen lässt, dass Zufluchtsländer sich auf das Bankgeheimnis berufen können, sollte er nicht nur den Steuerflüchtlingen Vorwürfe machen, sondern auch sich selbst. Das Schweizer Bankgeheimnis ist keine Erfindung von Steuerflüchtlingen. Sie ist eine Einrichtung, die sich die Steuerfluchtländer über Jahrzehnte haben gefallen lassen. Ein Doppelbesteuerungsabkommen, das keine Informations- oder Quellenabzugspflicht des Quellenstaates kennt, ist eine lex imperfecta.
82 Dazu gehören auch die Steuerstrafrichter.
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3.11 Der Steuerlaie Steuerlaien werden in der Regel falsche Steuererklärungen abgeben. Das kann zu ihren Gunsten oder zu ihren Ungunsten ausfallen. „Der normale Steuerpflichtige“ – so J. Isensee – „versteht nicht die Steuergesetze, die ihn angehen. Er kann die eigene Steuererklärung nicht lesen, unterschreibt blind, was der Steuerberater vorbereitet hat, und beteuert nach Formular, dass er seine Angaben wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen gemacht habe. Die Steuergesetze begreift noch nicht einmal der normale Jurist mit der Befähigung zum Richteramt. Der Satz, ‚iura novit curia‘ wird suspendiert, wenn das Zivilgericht, von der steuerrechtlichen Vorfrage überfordert, einer Partei die Beweislast über den Inhalt des geltenden Steuerrechts aufbürdet und sich so mit einer Maßnahme behilft, die in der Zivilprozessordnung für ausländisches Recht vorgesehen ist. Das Körperschaftsteuergesetz enthält Vorschriften, die sich selbst dem Spezialisten unter den Körperschaftsteuerjuristen nur in glücklichen Stunden erschließen.“ 83 Hier geht es um Steuerlaien, die nicht den Rat eines Steuerberaters einholen, die Steuererklärung nicht von einem Steuerberater vorbereiten lassen. Ein Beratungszwang besteht nämlich nicht. Nach § 80 I 1 AO kann der Steuerpflichtige sich von einem Bevollmächtigten vertreten lassen, er muss es aber nicht. Wie hoch der Anteil der LaienSteuerpflichtigen ist, die keinen Steuerberater als Bevollmächtigten zuziehen, hat der Verfasser nicht in Erfahrung bringen können, vielleicht weiß das die Finanzverwaltung selbst nicht. Die Finanzbehörden wissen aber, dass Steuerlaien i. d. R. weder Steuergesetze noch Steuerrichtlinien, weder Rechtsprechungssammlungen noch Steuerrechtskommentare besitzen. Würden sie sie besitzen, sie würden sie nicht verstehen 84, wie sie denn auch den Steuererklärungsformularen beigefügte Erläuterungen weithin nicht verstehen. Daraus folgt, dass Laien-Steuererklärungen in aller Regel nicht richtig sind. Wer eine richtige Steuererklärung abgibt, ist – im Bereich seiner Steuererklärung – kein Laie. R. Seer sieht es ganz ähnlich: „Die Finanzverwaltung gewährt den Steuerpflichtigen derzeit einen freiheitsschonenden Vertrauensvorschuss im Sinne einer Richtigkeitsvermutung der eingereichten Steuererklärung. Sie macht dabei keinen Unterschied danach, ob die Steuererklärung von einem Steuerberater oder einem steuerrechtlichen 83 J. Isensee, StuW 1994, 4. Hinweis auch auf ähnliche Äußerungen von P. Kirchhof, Karlsruher Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2001, S. 19; ders., in P. Kirchhof/M. Neumann (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Effizienz, 2001, s. 7; ders., DStR 2001, 913. 84 So auch Bund der Steuerzahler, Der Steuerzahler Jan. 2003 5 („Buch mit sieben Siegeln“). S. auch schon in diesem Band S. 1419 f.
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts Laien erstellt worden ist. Ohne fachkundige Hilfe wird ein Steuerpflichtiger regelmäßig jedoch nur in einfach gelagerten Fällen, z. B. wenn seine Einnahmen/Ausgaben überschaubar bzw. Letztere bereits durch Pauschalen abgegolten sind, eine steuerrechtlich zutreffende Steuererklärung abgeben. Deshalb spricht in den übrigen Fällen bei von Laien gefertigten Steuererklärungen eine Vermutung dafür, dass die Steuererklärung unrichtig ist . . .“. 85
R. Seer möchte daher die Einführung einer Selbstveranlagung mit der Pflicht zur Konsultation eines Angehörigen der Steuerberatenden Berufe verbunden sehen. 86 Da Laien rechtliche Unrichtigkeiten nicht erkennen können, läuft für sie insoweit auch die Erklärungsberichtigungspflicht (§ 153 AO) leer. Die Finanzbehörden kennen den beschriebenen Zustand, nehmen ihn aber hin. Sie verlangen von Laien keine Zuziehung eines Beraters und sind durch § 80 I 1 AO („kann“) gedeckt. 87 Füllt ein Laie seine Steuererklärung unrichtig aus, so nimmt der Bundesfinanzhof kein grobes Verschulden i. S. des § 173 I Nr. 2 AO an. Den Abzug privater Steuerberatungskosten hat der Gesetzgeber abgeschafft. Steuerordnungswidrigkeitenrechtlich wird dem Steuerlaien aber Leichtfertigkeit i. S. des § 378 AO „angekreidet“, wenn er keinen Steuerberater oder sonst Sachkundigen zuzieht. Das ist nicht gerechtfertigt, weil die Abgabenordnung in den Vorschriften über das Besteuerungsverfahren eine Informationspflicht für Laien nicht vorsieht. Näher dazu unten S. 1758. Im Übrigen: Würde ein Laie die Steuergesetze kennen, so würde er sein Ziel oft auch durch legale Gestaltung erreichen können. Die Finanzverwaltung hat die vielen Rentner, die ständig ihre Rente zu Unrecht nicht erklärt haben, pauschal als unwissende Laien behandelt und von Strafverfolgung abgesehen. Im Steuerstrafrecht gilt: Die Großen „henkt“ man, die Kleinen lässt man laufen.
85 StuW 2003, 55 re. S. auch R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 21 Rz. 161 („Die AO zwingt zwar Laien nicht, sich eines sachkundigen Steuerbevollmächtigten zu bedienen. Laien sind ohne solche Bevollmächtigte aber tatsächlich nicht in der Lage, ihre steuergesetzlichen Pflichten wirklich zu erfüllen“). S. auch R. Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO Lfg. 119, § 150 AO Tz. 13–15; F. Kirchhof, StuW 2002, 195 re. 86 R. Seer, FR 2002, 261, 265 li. (Bericht von S. Ahrens u. S. Nagel); ders., Besteuerungsverfahren: Rechtsvergleich USA – Deutschland, 2002, Rz. 148. 87 BFH BStBl. 1989 II, 131, 133, einen Juristen ohne Steuerrechtskenntnisse betreffend. Zu Einzelheiten M. Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO Lfg. 119, § 173 Tz. 76 ff., 79; s. auch Tz. 82–84 betr. Zurechnung des Verschuldens des Steuerberaters an den Steuerpflichtigen.
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3.12 Exkurs: Der legalistische Steuervermeider Der Steuervermeider verstößt nicht gegen Steuergesetze; er nutzt ihre Mängel aus. Das ist nicht strafbar. Gesetzesmängel und -lücken sowie Steuervergünstigungen auszunutzen, die steuergünstigste Lösung zu suchen, ist legal. Zu den Steuervermeidern gehört das Gros der Steuerberater, zumal sie sich Steuerhinterziehung sowie Anstiftung oder Beihilfe dazu wegen drohender beruflicher Nachteile nicht leisten können. Die folgende Äußerung stammt von einem Repräsentanten des Steuerberaterverbandes: „Inzwischen reift die Erkenntnis, es sei im Interesse der Gesundung unseres Staatswesens unabdingbar erforderlich, dass wir Steuerberater bei jeder Bilanz und jeder Steuererklärung nach jeder Möglichkeit suchen, das kurzfristige Steueraufkommen so weit wie möglich zu mindern. Dabei müssen wir alle legalen Gestaltungsmöglichkeiten restlos ausschöpfen. Bedenken wir dabei: Die Bewertung von Aktiven und Passiven hat sich ausschließlich nach der Einschätzung des Kaufmanns zu richten. Dasselbe gilt für Rückstellungen. – Die Steuerrichtlinien binden nur die Verwaltung, nicht den Kaufmann und Unternehmer, nicht den Steuerberater und nicht die Gerichte. Selbstverständlich ist Steuerhinterziehung kein Mittel. Das haben wir unseren Mandanten als Entscheidungsgrenze unmissverständlich klar zu machen, und zu anderem dürfen wir uns nicht verleiten lassen. Das Ziel muss jedoch klar sein: Legale Steuervermeidung muss die Kassen leeren und unsere Politiker davon abhalten, durch vorhandene Kasse sinnlich zu werden. Menschen, die wirtschaftlich zu denken gewöhnt sind, wissen: Mit Geld können auch die Einfältigen etwas bewirken, die Klugen arbeiten mit Ideen . . . Wenn wir Steuerberater es in diesem Jahr schaffen, die Möglichkeiten zu großzügigen Transferzahlungen auf allen Gebieten zu beschneiden, indem wir mit allen Kräften legale Steuervermeidung praktizieren, werden wir unserem Staat den größten Dienst erweisen.“ 88 – Das Steuervermeiden wird hier zum wahren Staatsinteresse überhöht.
Der Steuerberater und Steuerökonom Gerd Rose hat den Begriff der „Dummensteuer“ geprägt. Darunter versteht er „(Teile von) Steuerlasten, die nicht entstanden wären, wenn der Steuerpflichtige das gleiche wirtschaftliche Ziel unter klugem Einsatz der vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten anders erreicht hätte.“ 89 Da Steuerlaien nicht in der Lage sind, Gesetzeslücken, Vagheiten und Privilegien zu erkennen und zu nutzen, ist das „Dummensteuer“-Theorem wohl auch ein Stück Werbung für den Berufsstand der Steuerberater. Die Botschaft lautet: „Wenn Du auf legale Weise möglichst wenig Steuern zahlen willst, ist es ratsam, zum Steuerberater zu gehen.“ – Aber ein Laie, ohne oder mit geringem Gestaltungs-
88 J. Sauerwald, StB 1998, 80, 81. 89 G. Rose, Über die Entstehung von Dummensteuern und ihre Vermeidung, Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 159 ff.
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potential kommt u. U. mit seiner „Steuerdummheit“ weiter als mit Steuervermeidung. Steuervermeider pflegen zwischen klug und dumm, aber nicht zwischen gerecht und ungerecht zu unterscheiden. Fragen der Besteuerungs- und der Steuermoral pflegen sie nicht zu beschäftigen. Sie nehmen die Steuergesetze so wie sie sind und pflegen sich nicht über Steuerungerechtigkeiten aufzuregen, eher über fehlende Rechts- und Planungssicherheit. Das Verhalten des Steuervermeiders wird moralisch nicht von allen gutgeheißen. Das kommt schon in abqualifizierenden Vokabeln zum Ausdruck wie „Schlupflochsucher“, „Abschreibungstrickser“, „Steuertrickser“. Soweit Steuerpolitiker mit solchen Wortschöpfungen arbeiten: Sie sind als Parlamentarier die Schöpfer von Gestaltungsmöglichkeiten. „Klugensteuern“ beruhen oft auf „dummen“ Gesetzen. Die Adressaten schlechter Gesetze müssen nicht „Hüter des Gesetzgebers“ sein. 90 Die moralische Aufrüstung besteuerungsunmoralischer Gesetze ist nicht ihre Aufgabe. Für Unternehmer sind Steuern Kosten, damit ein Wettbewerbsfaktor. Wer diesen Faktor nicht zu minimieren versucht, belastet sich mit Wettbewerbsnachteilen. 3.13 Nachbemerkung Chr. Lösel, G. Brähler und Chr. Hackert haben meine SteuerzahlerHinterziehungstypen empirisch mit Hilfe ihrer Q-Methode analysiert. 91 Die Q-Methode versteht sich „als Qualitätsmethode zur Erhebung subjektiver Einstellungen und Meinungen“. 92 Die Verfasser wollen mit ihrer Methode die deutsche Steuermentalität analysieren und kategorisieren. Ihre Befunde bestätigen grundsätzlich auch meinen hier dargelegten Ansatz. Sie weisen jedoch darauf hin, dass in der Empirie nicht trennscharf nach Typen unterschieden werden könne. Das habe ich auch nicht angenommen. In mancher Steuerzahlerbrust wohnen eben tatsächlich „mehrere Seelen“. Lösel/Brähler/Hackert zweifeln die neoklassische Annahme an, dass es den Typ des nutzenmaximierenden homo oeconomicus gebe. Mag der reine Typ auch nicht existieren, so steckt m. E. doch in jedem strebenden Leistungsträger ein Stück von ihm. An meiner Skepsis gegen Umfrageergebnisse hat sich nichts geändert. Es gibt leider nicht nur spekulative Fragen, auch viele Antworten sind spekulativ. Nicht wenige sagen 90 Dazu auch K. Vogel, Gesetzesgehorsam als ethisches Problem, Festschrift für W. Fikentscher, 1998, S. 215, 220: Die Verantwortung für Ungerechtigkeiten der Gesetze trifft den Gesetzgeber. – Steuervermeidung billigend auch J. Isensee, StuW 1994, 8 re. 91 Die Tipke’schen Steuerzahlertypen, StuW 2009, 221 ff. 92 StuW 2009, 222 Fußn. 14.
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nicht, was sie wirklich denken, sondern wollen sich in ein gutes Licht setzen. 93 In meiner Annahme, dass eine schlechte Besteuerungsmoral zu einer schlechten Steuermoral beiträgt, fühle ich mich durch die erwähnte Arbeit bestätigt, auch darin, dass komplizierte, undurchsichtige Steuergesetze mit – zumal schlecht auszumachenden – Steuervergünstigungen das Misstrauen von Nicht-Experten erwecken und diese dazu verführen, ihre (vermeintliche) Benachteiligung durch Steuerhinterziehungen auszugleichen, etwa durch Schwarzarbeit, die als „Steuervergünstigung des kleinen Mannes“ für legitim gehalten wird. 3.14 Ableitbare Lehren Wenn es auch wirklich sichere Erkenntnisse über die Motive der Steuerhinterzieher nicht gibt, so lassen sich doch gewisse Lehren ziehen. Es genügt nicht, von Steuerbürgern Steuermoral zu verlangen und sie ständig darüber zu belehren, dass Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt sei. Entscheidend wichtig ist, dass die Staatsgewalten und ihre Repräsentanten mit dem Beispiel einer guten Besteuerungsmoral vorangehen, d. h. vor allem, mit dem Beispiel möglichst gerechter Steuergesetze. Das geschieht nicht, wenn trotz Inflation und sehr niedriger Zinsen die Abgeltungsteuer erhöht werden soll, wenn die Gewerbesteuer für unantastbar erklärt wird und eine nicht gleichmäßig durchführbare Vermögensteuer wieder eingeführt werden soll, wenn an Steuern festgehalten wird, deren Bemessungsgrundlage dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht entspricht, wenn die zahlreichen Verstöße gegen die Gebote der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit nicht beseitigt werden, wenn die ungerechtfertigten Steuervergünstigungen nicht aufgehoben werden. Die Hinterziehung ungerechter Steuern lässt sich durch Strafen nicht wirksam bekämpfen. Die Kritik an Steuerverschwendungen sollten die Politiker und die Beamten ernster nehmen. Wenn die Behauptung umgeht, dass dem Gemeinwohl durch Steuerverschwendung mehr Mittel entzogen würden als durch Steuerhinterziehung, so ist das für die Steuermentalität schädlich, auch wenn die Behauptung nicht bewiesen werden kann, weil wir in der Tat nicht wissen, wie hoch die Dunkelziffer der Steuerhinterziehung ist und mit dem unbestimmten Begriff der Steuerverschwendung schwer umzugehen ist. Steuerhinterziehung wird am besten dadurch bekämpft, dass der Steuervollzug gleichmäßig entsprechend der Kontrollbedürftigkeit 93 P. Kirchhof spricht vom Steuerpflichtigen, „der sich emotional gegen die Steuer wehrt“ (StbJb. 1994/95, S. 15).
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durchgeführt wird. Dadurch, dass an einer relativ kleinen Gruppe von Steuerhinterziehern scharfe Strafen exekutiert werden, einzelne Sündenböcke produziert werden, schafft man in der Breite weder Steuergerechtigkeit noch Strafgerechtigkeit.
4. Über Schuld und Strafe 4.1 Über die Schuld Das Strafrecht, auch das Steuerstrafrecht, ist Schuldstrafrecht. Wer gegen ein Strafgesetz verstößt, begeht Unrecht. Bestraft werden darf er aber nur, wenn er schuldhaft gehandelt hat. Dazu muss er schuldfähig sein (§§ 19, 20 StGB). Steuerhinterzieher gelten als normal 94, als willensfrei, als psychisch gesund, wenn nicht psychisch robust. Psychiatrische Gutachten braucht man über sie nicht einzuholen. Das schuldhafte Handeln kann vorsätzlich oder fahrlässig geschehen (dazu § 15 StGB). Grundlage der Strafzumessung ist die Schuld des Täters (§ 46 I StGB). Nicht jedes begangene Unrecht wird mit Strafe sanktioniert. Soll die Sanktion aber in Strafe bestehen, so ist die Voraussetzung schuldhaftes Handeln. Der Täter handelt schuldhaft, wenn er ein Strafgesetz verletzt, obwohl er in der Lage gewesen wäre, die Verletzung zu vermeiden. 95 Hat der Täter über Tatumstände geirrt, so handelt er ohne Vorsatz (§ 16 I StGB). Befand sich der Täter über die Strafbarkeit der Tat im Irrtum (sog. Verbotsirrtum), so handelt er ohne Schuld, wenn der Irrtum vermeidbar war (§ 17 StGB). Wenn ein Täter behauptet, er habe angenommen, dass Steuerhinterziehung nicht strafbar sein, so wird das Gericht ihm das nicht abnehmen. Irrtümer über Steuerrecht sind aber keine Seltenheit (s. unten S. 1732 ff.). Die schuldhaft begangene Steuerhinterziehung wird als strafwürdig angesehen (§ 370 AO), weil in ihr ein sozial-ethischer, d. h. ein die Gemeinschaft betreffender Unwert gesehen wird. Kommt das unwerte Verhalten schuldhaft zustande, so wird es durch Strafe missbilligt. 96 94 Apropos normal: Als der Verfasser vor vielen Jahren einmal an einem Sonntag in der Eifel tanken musste, bot die Tankstellenbesitzerin ihm an, die Quittung auf den Montag auszustellen – wegen des Finanzamts. Als ich bemerkte, ich wolle das Finanzamt nicht betrügen, musterte sie mich und entgegnete: „Dann sind Sie wohl nicht ganz normal!“ 95 Das Problem, ob Menschen überhaupt in der Lage sind, willensfrei zu handeln, bleibt hier dahingestellt. Die Erfahrung lehrt jedenfalls, dass Menschen auf Strafdrohungen durchaus reagieren. Mit dem Problem der Willensfreiheit befassen sich gegenwärtig vermehrt Hirnforscher. 96 Schuldtheorien spielen in der Praxis des Steuerstrafrechts keine Rolle (dazu etwa G. Jakobs, Das Schuldprinzip, Rheinisch-Westfälische Aka-
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Im Rahmen der Erörterung der Sanktion „Strafe“ werden wir uns zu fragen haben, ob der Zweck, der mit der Strafe erreicht werden soll, nicht auch durch mildere Sanktionen erreichbar wäre. Die Strafe soll nämlich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die ultima ratio unter den Sanktionen sein. Die Pönalisten sehen in der Strafe einen Schuldausgleich, ein Mittel, die Schuld auszugleichen oder abzugelten. Jedoch gibt es Sanktionen, die nicht an Schuld gebunden sind. 4.2 Insbesondere über Tatsachen- und Verbotsirrtum Das Strafrecht unterscheidet zwischen Tatsachenirrtum und Verbotsirrtum (§§ 16, 17 StGB). Der Tatsachenirrtum wird allerdings durchweg als Tatbestandsirrtum bezeichnet. Das verleitet zu der Annahme, gemeint sei der Irrtum über den Straftatbestand (etwa den Irrtum über den Tatbestand der Steuerhinterziehung). Gemeint ist aber der Irrtum über die Tatsachen, die den Sachverhalt bilden, auch als Irrtum über Tatumstände bezeichnet (§ 16 I StGB). Wer bei der Begehung der Tat einen tatsächlichen Umstand (eine Tatsache), der strafrechtlich erheblich ist, nicht kennt, handelt wegen Tatsachenirrtums nicht vorsätzlich (§ 16 I StGB), er macht sich falsche Vorstellungen über Tatsachen. Ein solcher Irrtum kann z. B. dadurch entstehen, dass Mitarbeiter (Arbeitnehmer ohne Wissen des Unternehmers) den steuererheblichen Sachverhalt realisiert haben. Unter Strafrechtslaien ist noch immer die Ansicht verbreitet, Unkenntnis oder Irrtum schütze vor Strafe nicht. Der Tatsachenirrtum kann im Schuldstrafrecht aber durchaus erheblich sein. Allerdings bleibt in Fällen des Tatsachenirrtums die Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit unberührt (§ 16 I 2 StGB). Fahrlässige Steuerhinterziehung wird aber nicht bestraft, und nur bei grober Fahrlässigkeit (Leichtfertigkeit) liegt eine Ordnungswidrigkeit vor (§ 378 AO). Der Verbotsirrtum ist der Irrtum des Täters darüber, dass sein Handeln strafrechtliche Folgen hat, strafrechtlich verboten ist. Der Täter hält sein Handeln für strafrechtlich erlaubt; ihm fehlt bei einem Verbotsirrtum das Bewusstsein, Unrecht zu tun (§ 17 StGB). War der Verbotsirrtum unvermeidbar, so handelt der Täter zwar vorsätzlich (er weiß, was er tut und will das auch tun), er handelt aber nicht schuldhaft, sondern schuldlos, ohne Schuld. Es dürfte aber kaum vorkommen, dass jemand z. B. geltend macht, er habe nicht gewusst, dass man Steuern nicht hinterziehen dürfe; er besitze keine Abgabenordnung und in den zehn Geboten komme die Steuerhinterziehung demie der Wissenschaften, Vortrag 314, 1993; R. Schünemann, Zum gegenwärtigen Stand der Lehre von der Strafrechtsschuld, in: Festschrift für E.-J. Lampe, S. 517 ff. m. w. N.).
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nicht vor. Über strafbare Steuerhinterziehungsfälle wird ständig in Zeitungen und anderen Medien berichtet. War der Verbotsirrtum vermeidbar, so kommt Strafmilderung in Betracht (§ 17 Satz 2 StGB). 4.3 Zum Steuerrechtsirrtum im Steuerstrafrecht Nicht eben selten kommt es vor, dass Steuerpflichtige und selbst ihre Berater über die steuerrechtlichen Folgen eines Handelns irren, eine andere Steuerrechtsfolge annehmen als die, die sich aus dem ausgelegten Gesetz ergibt. Vor allem Laien wissen oft nicht, was steuerrechtlich relevant ist und was nicht. Wie der Steuerrechtsirrtum sich steuerstrafrechtlich auswirkt, ist im Gesetz nicht geregelt. Das anwendbare (§ 369 II AO) Strafgesetzbuch kennt nur den Tatsachenirrtum und den Verbotsirrtum, nichts Drittes. Die Meinungen darüber, ob der Steuerrechtsirrtum Tatsachen- oder Verbotsirrtum ist, gehen erheblich auseinander. Die Rechtsprechung 97 nimmt ebenso wie die herrschende Meinung 98 einen den Vorsatz ausschließenden Tatsachenirrtum an. Hingegen vertritt R. Seer die Auffassung: „Versteht man § 370 I AO in dem Sinne als Blanketttatbestand, dass die Normen der Einzelsteuergesetze Teil des Tatbestandes der Steuerhinterziehung sind, dann ist ein Irrtum über die Steuerrechtslage gleichbedeutend mit einem Irrtum über die Verbotsnorm des § 370 AO, also ein – den Vorsatz unberührt lassender – sog. Verbotsirrtum i. S. d. § 369 II AO, § 17 StGB“. 99 Die Gegenmeinung müsste konsequenterweise von der Auffassung Abschied nehmen, dass das Steuerhinterziehungsverbot ein Blanketttatbestand sei. 100 Das tut sie aber nicht. Der Auffassung von R. Seer ist m. E. zu folgen. Da § 370 AO eine Blankettnorm ist, ist der Irrtum über das das Blankett ausfüllende Steuerrecht Verbotsirrtum. Das ist hier auch schon in der 1. Auflage 97 RGSt. 49, 323; 56, 337, 339 zum Blankettgesetz; BGH NJW 1980, 1005, 1006; BGH wistra 1986, 174; 1986, 220 f.; 1989, 263, 264. 98 H. Welzel, NJW 1953, 486 ff.; P. Backes, Zur Problematik der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht, Diss. Köln 1981, insb. S. 152 ff.; ders., StuW 1982, 253 ff.; E. Samson, DStJG Bd. 6 (1983), 99, 105 f.; E. Schlüchter, wistra 1985, 43, 47; W. Reiß, wistra 1987, 161, 163; J. Bachmann, Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht, 1993 (Kieler Diss.). Weitere Nachweise in der 1. Auflage dieses Werkes in Bd. III, S. 1421 Fußn. 52. 99 In K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 23 Rz. 45 m. w. N. in Fußn. 66, 67. 100 R. Seer (Fußn. 99), § 23 Rz. 46. Inkonsequent ist m. E. die Auffassung von M. Streck/R. Spatscheck, Die Steuerfahnung4, 2006, Rz. 1014. Sie nehmen einerseits eine Blankettnorm an, leiten daraus aber einen Tatbestandsirrtum, nicht einen Verbotsirrtum ab.
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vertreten worden. 101 Es geht um zwei Steuerrechtsirrtümer: (1) um den Irrtum über das Bestehen und/oder den Inhalt einer verfahrensrechtlichen Pflicht und (2) um den Irrtum über die Rechtserheblichkeit von Tatsachen. Auch Laien werden die Steuererklärungspflicht kennen. Aber viele werden § 149 I 3 AO nicht kennen, wonach die Pflicht zu einer richtigen Steuererklärung fortbesteht, nachdem die Besteuerungsgrundlagen mangels Abgabe einer Steuererklärung bereits geschätzt worden sind. Auch über die Erklärungsberichtigungspflicht (§ 153 AO) dürfte mancher nicht informiert sein. Der Irrtum über steuergesetzliche Pflichten ist kein Irrtum über Tatsachen, sondern ein (Verfahrens-)Rechtsirrtum. Dasselbe trifft zu, wenn Tatsachen nicht für rechtserheblich gehalten werden, weil der Steuerpflichtige z. B. eine einschlägige Vorschrift übersehen hat, weil er sie falsch verstanden hat oder weil er eine Befreiungsvorschrift für anwendbar hielt. Das sind Rechtsfragen; der Irrtum darüber ist ein Rechtsirrtum über Steuerrecht, ein Verbots- oder Gebotsirrtum. Um die Irrtumsart zu erkennen, müssen wir die ausfüllungsbedürftige Blankettvorschrift des § 370 AO nur ergänzen (auffüllen), z. B. so: (1) Es ist verboten, unter Verstoß gegen § 153 AO eine nachträglich als unrichtig erkannte Erklärung nicht zu berichtigen und dadurch Steuern zu verkürzen. (2) Es ist verboten, den Finanzbehörden in der Einkommensteuererklärung über einkommensteuerrechtlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben zu machen und dadurch Einkommensteuer zu verkürzen.
Über beide Verbote (man kann sie auch als Gebote formulieren) sind Rechtsirrtümer möglich. Für den Verbotsirrtum spricht auch: Nimmt der Steuerpflichtige zu seinen Lasten irrtümlich an, seine Einkünfte seien zu versteuern, während das Gesetz sie nicht erfasst oder steuerbefreit, so liegt kein strafbarer untauglicher Versuch vor, sondern ein strafloses Wahndelikt. 102 Es würde sich wohl kein Richter finden, der eine Rechtsgutverletzung bejahen und eine Strafe verhängen würde. Nach meinem Eindruck lassen sich die Anwender der Tatbestandsirrtumsregel vom Ergebnis leiten. Die bei Annahme eines Verbotsirrtums entstehenden Folgen dürften sie als unangemessen ansehen. Man könnte auch auf die Idee kommen, das Strafgesetzbuch für lückenhaft zu halten und die Folgen des Tatbestandsirrtums analog (zugunsten des Täters) anwenden. Der Annahme einer Lücke steht aber Folgendes entgegen: § 358 AO 1919 schrieb ausdrücklich vor: Unverschuldeter Irrtum über das Bestehen und die Anwendbarkeit steuerrechtlicher Vorschriften ist Strafausschließungsgrund, wenn der Täter die Tat daraufhin für erlaubt gehalten hat. A. Hensel bemerkte dazu: 101 Bd. III, S. 1421 ff. mit näherer Begründung. 102 So auch W. Reiß, wistra 1986, 193 ff.
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts „Dieser erst von der Nationalversammlung eingefügte Satz ist ein weiterer Schritt auf dem Wege, der zuerst von der Bundesratsverordnung vom 18. Januar 1917 (RGBl. S. 58) für die Kriegsgesetzgebung beschritten wurde, den von der Praxis bisher festgehaltenen Satz ‚Irrtum über Strafrechtssätze schützt nicht vor Strafe‘ abzubauen. Gerade für ein so verwickeltes und sich rasch veränderndes Spezialrechtsgebiet wie das Steuerrecht ist eine solche Vorschrift unerlässlich; denn die durch Strafandrohung (gleichgültig, ob diese in der AO oder in einem materiellen Gesetz enthalten ist) geschützten Normen des Steuertatbestandes müssen in diesem Zusammenhang als Strafrechtssätze, der Irrtum über sie als Strafrechtsirrtum aufgefasst werden. So bildet § 358 AO eine wichtige Ergänzung zu § 59 StGB, durch den der Irrtum über tatsächliche Verhältnisse und auch über Rechtssätze, soweit sie nicht dem Strafrecht angehören, für beachtlich erklärt wird.“
§ 358 AO 1919 ist als § 395 in die Abgabenordnung von 1931 übernommen worden. Die Abgabenordnung 1977 hat keine entsprechende Vorschrift aufgenommen. Man wollte offenbar keine steuerstrafrechtliche Sonderdogmatik, sondern auch im Steuerstrafrecht das allgemeine Strafrecht (s. § 369 II AO) und seine Dogmatik zur Geltung bringen. Also muss unterschieden werden, ob der Steuerrechtsirrtum ein Tatbestandsirrtum (besser: Sachverhalts-, Fakten-, Tatsachenirrtum) oder ein Verbotsirrtum (Rechtsirrtum) ist. Jedoch ist festzuhalten: Beide Seiten sind der Meinung, dass der Steuerrechtsirrtum beachtlich sein könne. Ob nun ein Strafausschließungsgrund angenommen wird (so § 358 AO 1919 und § 395 AO 1931) oder ein Ausschluss des Vorsatzes oder der Schuld: Im Ergebnis kommt es nicht zu einer Strafe. Bemerkenswert ist die Lösung durch § 9 des österreichischen Finanzstrafgesetzes. Danach wird dem Täter weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit zugerechnet, wenn ihm bei der Tat ein entschuldbarer Irrtum unterlaufen ist, ein Tatbestandsirrtum (in Österreich als Tatbildirrtum bezeichnet) oder ein Verbotsirrtum. Da die Folgen des Tatbestandsirrtums und des Verbotsirrtums in Österreich die gleichen sind, braucht nicht zwischen diesen beiden Irrtumsarten unterschieden zu werden. Unterschieden wird aber zwischen entschuldbarem und nicht entschuldbarem Irrtum. Der entschuldbare Irrtum ist in Österreich relevant; er schützt vor Strafe. 103
In Deutschland kommt es bei einem Tatbestandsirrtum (Tatsachenirrtum) darauf an, ob der ohne Vorsatz handelnde Täter fahrlässig geirrt hat; dann liegt bei grober Fahrlässigkeit eine Ordnungswidrigkeit vor. Beim Verbotsirrtum kommt es darauf an, ob der Irrtum vermeidbar 103 Es kommt also alles darauf an, wie streng in Fragen der Entschuldbarkeit verfahren wird. Nach Doralt/Ruppe ist die Unkenntnis von Abgabenvorschriften bei Laien leichter entschuldbar als bei Fachleuten (Steuerrecht II5, Wien 2006, Rz. 594). Strenge Anforderungen werden von St. Seiler gestellt, der einen Aufsatz signifikant überschreibt mit „Unkenntnis schützt nicht vor Strafe“ (ÖStZ 2006, 368). Er nimmt Unentschuldbarkeit an, wenn der Steuerpflichtige es pflichtwidrig unterlassen hat, sich über die einschlägigen Vorschriften zu informieren.
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Über Schuld und Strafe
war. In Österreich darf der Irrtum (ganz gleich, welcher Art) nicht fahrlässig passieren. Das sind dogmatische Unterschiede. Fraglich ist aber, ob sie in der Praxis nicht auf gleiche Ergebnisse hinauslaufen können? Der Unterschied lässt sich jedenfalls mildern. So wie zwischen verschiedenen Graden der Fahrlässigkeit unterschieden wird, lässt sich auch zwischen verschiedenen Graden der Vermeidbarkeit differenzieren. Bei leicht fahrlässigem Irrtum könnte man noch Unvermeidbarkeit annehmen, bei leichtfertigem Irrtum Vermeidbarkeit. Die Geldstrafe nach § 370 AO müsste nicht höher ausfallen als eine Geldbuße nach § 378 II AO. Der Unterschied Strafe/Buße bliebe allerdings bestehen. Besser wäre es, der deutsche Gesetzgeber würde dem österreichischen Beispiel des § 9 öFinanzstrafgesetz folgen. Dadurch würde viel dogmatischer Aufwand erspart. Ob ein fahrlässiger oder nicht fahrlässiger, ein vermeidbarer oder unvermeidbarer Irrtum angenommen wird, hängt davon ab, was wir vom Steuerpflichtigen oder seinem Berater verlangen? Freischwebender Einsatz von Erkenntniskräften und sittlichen Wertvorstellungen, Gewissensanspannung oder moralische Selbstprüfung sind nicht geeignet, herauszufinden, was der Inhalt der Steuergesetze ist. Wenn es um die Kerntatbestände des allgemeinen Strafrechts geht, mag das Gewissen als Quelle des Rechts- oder real existierenden Unrechtsbewusstseins in Betracht kommen 104, dem Inhalt der Steuergesetze lässt sich mit dem Gewissen oder mit besonderer Gewissensanspannung o. Ä. nicht beikommen, mit dem Vorwurf mangelnder Rechtsgesinnung oder gar der Rechtsblindheit wird man den Steuerpflichtigen in Anbetracht des Zustandes der Steuergesetze nicht gerecht. Die Gesetze enthalten Verstöße gegen die Rechtslogik (s. S. 1251 ff.), viele Inkonsequenzen und Lücken und werden permanent geändert. Wie soll sich ein Rechtsgewissen oder Rechtsbewusstsein bilden, wenn der Gesetzgeber selbst es oft vermissen lässt? Wie soll sich ein Rechtsbewusstsein bilden, wenn heute dies gilt und ab morgen das Gegenteil? Wie oft ist es schon vorgekommen, dass ein Steuerlaie gemeint hat, er müsse bestimmte Einkünfte versteuern, der dann aber vom Steuerberater erfuhr, dass die Einkünfte vom Gesetz nicht erfasst werden oder steuerbefreit sind. 105
104 Dazu H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil5, 1996, S. 413 ff. („Das Gewissen als Quelle des Rechts- und Unrechtsbewusstseins“). Das „Rechtsgewissen“ soll danach den Menschen befähigen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden (S. 414). Auch vom „irrenden Gewissen“ ist die Rede. Fehlentscheidungen werden auf „Gewissensträgheit“, „Gewissensirrtum“, „Gewissensblindheit“ zurückgeführt (S. 414). 105 Über den beklagenswerten Zustand der Steuergesetze s. S. 1393 ff.
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts
Auch lange geduldetes Unrecht und fehlende Kontrolle korrumpieren das Rechtsbewusstsein. In Anbetracht des miserablen Zustands der Steuergesetze versagt auch die so genannte „Parallelwertung in der Laiensphäre“. Von Steuerstrafverteidigern kann man immer wieder die Klage hören, Steuerstrafrichter ließen sich kaum je auf den Vortrag ein, der Steuerpflichtige habe sich steuerrechtlich geirrt. 106 Sie pflegten die Irrtumseinlassung als Schutzbehauptung zu werten. Steuerpflichtige, die steuerrechtlich nicht informiert seien, müssten sich – so die Strafrichter – bei einem Steuerberater oder bei anderen Steuerrechtskundigen informieren. Der Laienirrtum sei leichtfertig oder vermeidbar, wenn kein kompetenter Rat eingeholt werde. Dass Steuerlaien sich steuerrechtlich irren, ist fast immer unvermeidlich. Aber auch Finanzbeamte und Finanzrichter irren sich immer wieder. Die Urteile, die Entscheidungen der Finanzbehörden oder der Finanzgerichte aufheben, beweisen es. Nur löst der FinanzbeamtenIrrtum keine Nachteile für sie aus. Macht der Finanzbeamte einen Fehler bei der Festsetzung oder Erhebung der Steuer, so muss er – s. § 32 AO – grundsätzlich nicht haften. Eine Ausnahme gilt bei Amtspflichtverletzungen, die mit Strafe bedroht sind (so insbesondere bei Bestechlichkeit, Rechtsbeugung, Steuerhehlerei). 107 Auch der vermeidbare oder durch Leichtfertigkeit entstandene Irrtum von Beamten und Richtern ist nicht strafbar. Entscheidungen von irrenden Beamten und Richtern können vom Steuerpflichtigen mit Rechtsbehelfen angefochten werden. Staatsanwälte und Strafrichter sollten sich – bevor sie einen Steuerrechtsirrtum als Schutzbehauptung abtun – immer fragen: „Kenne ich selbst die Steuerrechtslage, und wenn ja, seit wann und durch wen?“ Im Steuerstrafrecht wird jedoch angenommen: Wer sich im Steuerrecht nicht auskenne, müsse sich über die ihn betreffende Rechtsfolge informieren, bei Steuerberatern oder anderen Sachkundigen. Andernfalls handle er leichtfertig i. S. des § 378 AO. 108 W. Joecks führt zur Informations- oder Erkundungspflicht aus: „Eine weitgehende Erkundigungspflicht trifft den Steuerpflichtigen, wenn er bei der Gewinnermittlung, der Fertigung seiner Steuererklärung oder bei der Inanspruchnahme von Steuervergünstigungen über die Rechtslage nicht unterrichtet ist oder auf rechtliche Zweifel stößt, z. B. in Bezug auf die Bewertung, die Abgrenzung der Betriebsausgaben von Privatausgaben u. s. w. Jeder Steuerpflichtige muss sich über diejenigen steuerlichen Verpflichtungen un106 S. auch Praxis Steuerstrafrecht 2002, 108, 109. 107 Zum Zweck des § 32 AO s. K.-D. Drüen, in: Tipke/Kruse, Loseblattkommentar (Lfg. 124), § 32 AO Tz. 2. 108 BGHSt (GrS), 194, 201; 4, 1, 5; 21, 18; BGH wistra 1984, 178; BayObLG JR 1989, 386 f. u. wistra 1992, 312, 313; OLG Köln NJW 1996, 172, 173.
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Über Schuld und Strafe terrichten, die ihn im Rahmen seines Lebenskreises treffen. Dies gilt in besonderem Maße in Bezug auf solche steuerrechtlichen Pflichten, die sich aus der Ausübung eines Gewerbes oder einer freiberuflichen Tätigkeit erwachsen (FG Freiburg . . ., EFG 1959 Nr. 280). Sie erfordern, dass der Unternehmer sich ständig auf dem Laufenden hält (OLG Hamm, BB 1963, 1004; BB 1964, 1032) und in Zweifelsfällen von sachkundiger Seite Rat einholt (RG StuW 1927 Nr. 209; Bayr. OLG, BB 1971, 1544). Die Erkundigungspflicht kann, braucht aber nicht durch Anfrage bei der zuständigen Finanzbehörde erfüllt zu werden . . . Es genügt jede sonstige zuverlässige Auskunftsperson oder Stelle (OLG Hamm, BB 1963, 1004) . . . Die Inanspruchnahme eines steuerlichen Beraters befreit den Steuerpflichtigen nicht von eigener Sorgfalt . . . Eine Überwachung von Hilfspersonen ist auch bei gegebener fachlicher und charakterlicher Eignung erforderlich, mindestens in Form gelegentlicher Stichproben. Jeder Steuerpflichtige, der sich der Hilfe anderer fachkundiger Personen bedient, muss sich im Rahmen des ihm Möglichen und Zumutbaren vergewissern, ob seine Angestellten die ihnen übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß ausführen (OLG Karlsruhe, DB 1972, 661) . . .“ 109
Von Strafrechtlern wird auch die Auffassung vertreten: Steuerpflichtige, die in der Steuererklärung von der BFH-Rechtsprechung oder von Verwaltungsrichtlinien abweichen, müssten dies dem Finanzamt offenbaren. Das entspreche dem „Erwartungshorizont der Finanzämter“. 110 Der Rechtsprechung der Strafgerichte ist entgegenzuhalten: Die steuerlichen Pflichten ergeben sich nicht aus den Vorschriften über das Steuerstraf- und ordnungswidrigkeitenrecht, sondern aus den Vorschriften über das Besteuerungsverfahren. Die Abgabenordnung ordnet aber nirgends an, dass Steuerlaien oder Steuerpflichtige, die rechtliche Zweifel haben, sich steuerlich informieren, erkundigen müssten. 111 109 In Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht7, 2009, § 378 Rz. 39–42. Die zitierten Urteile der Strafgerichte sind auffällig alt. In Österreich wird im Ergebnis aufgrund von § 9 FinStG ähnlich praktiziert (s. St. Seiler, Unkenntnis schützt nicht vor Strafe, ÖStZ 2006, 366). Kritischer als W. Joecks dazu G. Kohlmann, Steuerstrafrecht (Loseblatt Lfg. Nov. 1995), § 378 Rz. 64–122). Er wendet sich gegen „Überspannungen“. Kritischer auch B. Gast-de Haan, in: Klein, AO9, § 378 Rz. 12. 110 BGH wistra 2000, 137 nimmt eine Offenbarungspflicht für Sachverhaltselemente an, deren rechtliche Relevanz objektiv zweifelhaft ist, wenn die vom Steuerpflichtigen vertretene Auffassung von der Rechtsprechung, von den Richtlinien der Finanzverwaltung oder der regelmäßigen Verwaltungspraxis abweicht. 111 Der Zweifel setzt übrigens bereits Kenntnisse voraus. Dem wirklichen Laien kommen regelmäßig keine Zweifel. So auch B. Gast-de Haan: „. . . dass der Steuerpflichtige Zweifel hatte oder dass sich ihm Zweifel hätten aufdrängen müssen . . ., wird nur in ganz ungewöhnlichen Ausnahmefällen anzunehmen sein. Andernfalls wäre – angesichts der Unübersichtlichkeit und Systemwidrigkeit unseres Steuerrechts jede Abgabe einer Steuererklärung ohne Berater leichtfertig“ (in: Klein, AO9, § 378 Rz. 12).
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Warum sollen insbesondere Gewerbetreibende und Freiberufler über ihre steuerlichen Pflichten informiert sein müssen? Warum nicht auch Beamte, Richter, warum nicht überhaupt alle Steuerpflichtigen? Entsprechend dem Gleichheitssatz müsste folgerichtig doch verlangt werden, dass alle Steuerpflichtigen über die sie betreffende Steuerrechtslage informiert sein müssen. Die Abgabenordnung enthält eine solche Vorschrift aber nicht. Da das Einkommensteuergesetz nicht vorschreibt, dass Freiberufler und Bezieher von Kapitaleinkünften ihre Einnahmen und Ausgaben aufzeichnen müssen, darf auch der Steuerstrafrichter das nicht annehmen. Nach § 80 I AO kann der Steuerpflichtige sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen, er muss es aber nicht. Er hat das Recht, einen Bevollmächtigten zu bestellen, aber nicht die Pflicht dazu. 112 Die Abgabenordnung schreibt auch nicht vor, dass Steuerpflichtige ihrer Steuererklärung die einschlägige Rechtsprechung und die einschlägigen Verwaltungsrichtlinien zugrunde legen müssen. Es ist bekannt, dass Steuerlaien keine Steuergesetze, keine Rechtsprechungssammlungen und keine Verwaltungsrichtlinien zu besitzen pflegen (das Gesetz schreibt das auch nicht vor) und sich daher auch nicht an ihnen orientieren können. Die Steuerpflichtigen haben Steuererklärungen nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck abzugeben (§ 150 I 1 AO). Weder dem Gesetz, noch dem Vordruck, noch den Anleitungen zum Erklärungsvordruck ist zu entnehmen, dass dem ausgefüllten Vordruck Hinweise auf Abweichungen von der Rechtsprechung und der Verwaltungsauffassung beizufügen sind. So auch F. Kirchhof: „Die Meinung, dass er (der Stpfl.) in seinen Erklärungen in der Regel der Auffassung der Finanzverwaltung zu folgen habe und Abweichungen davon aufdecken müsse, lässt sich verfassungsrechtlich aber nicht mehr halten. Der Steuerbürger ist an das Gesetz, nicht an die Rechtsansicht der Fiskalbehörde gebunden. Das gilt insbesondere, wenn dabei einem Laien zugemutet würde, sich zuvor die Auffassung der Finanzverwaltung zu Eigen zu machen, die nicht nur in Steuergesetzen, sondern auch in zahllosen Richtlinien, Erlassen und Hinweisen zu Tage tritt . . .“ 113 112 K.-D. Drüen, AO/FGO (Loseblatt, Lfg. 117), § 80 Rz. 2. 113 F. Kirchhof, StuW 2002, 195 re. Auf etwas anderes will allerdings wohl der Bundesgerichtshof als Strafgericht hinaus: Steuerpflichtige sollen danach nicht nur eine Erkundigungspflicht haben, sondern unter Umständen auch die Pflicht, Abweichungen von der Rechtsprechung, den Verwaltungsrichtlinien und der regelmäßigen Veranlagungspraxis dem Finanzamt zu offenbaren (BGH wistra 2000, 137; dazu R. Weyand, Risiko der Steuerhinterziehung bei abweichender Rechtsauffassung, INF 2000, 726 ff.).
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Die Angaben in den Steuererklärungen sind „wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu machen“ (§ 150 II AO). Die Steuererklärungsformulare verlangen nicht nur Angaben über Tatsachen, sie setzen auch Rechtskenntnisse voraus, die Steuerlaien nicht haben. 114 Steuerhinterziehung setzt aber voraus, dass die Finanzbehörde über „steuerlich erhebliche Tatsachen“ falsch oder gar nicht informiert wird (§§ 370 I Nr. 1, 2; 378 I AO). Der Irrtum darüber, welche Tatsachen „steuerlich erheblich sind, ist m. E. Verbotsirrtum (s. oben). Die Gesetzessprache und die Sprache der Verwaltungsrichtlinien verstehen Laien in der Regel nicht. Das gilt aber für die Erläuterungen, die den Steuererklärungsformularen beigefügt werden. Sie sind in der Beamtensprache abgefasst und auch wegen ihrer gedrängten Kürze für Laien durchweg nicht verständlich. Der Bund der Steuerzahler nennt das Steuererklärungsformular „ein Buch mit sieben Siegeln“. 115 In der Begründung des Karlsruher Entwurfs zur Reform des Einkommensteuergesetzes von 2001 heißt es (S. 19): „Trotz der Widersprüchlichkeit und Unverständlichkeit baut das Einkommensteuerrecht auf die persönliche Steuererklärung, die der Steuerpflichtige in voller – strafbewehrter – Verantwortung für die Richtigkeit seiner Erklärung nach bestem Wissen und Gewissen abgeben muss. Zur Erfüllung dieser Rechtspflicht ist er gegenwärtig kaum noch in der Lage.“
P. Kirchhof formuliert es so: „Außerdem verhindert ein unverständliches und in sich widersprüchliches Steuergesetz den Steuerpflichtigen, seine Erklärungspflicht zu erfüllen . . . Der Rechtsstaat verlangt vom Steuerpflichtigen etwas Ungewöhnliches.“ 116 „Der Steuerpflichtige kann seine Steuererklärung aus eigenem Rechtsverständnis nicht verantworten . . . Er steht einem Gestrüpp von Steuerlenkungen, Ausnahmevorschriften und gesetzlichen Formulierungsmängeln gegenüber.“ 117 Die Finanzbehörden wissen, dass Laien in der Regel nicht über die Kenntnisse verfügen, die sie benötigten, zutreffende Steuererklärungen abzugeben. Sie wissen, dass sie zum Selbststudium in der Regel nicht fähig sind. Trotzdem verweisen sie die Laien (wegen § 80 I AO) nicht an Steuerberater, sie schalten auch die Strafsachenstellen nicht ein, sondern winken die Laien-Erklärungen nur zu oft einfach durch, jedenfalls wenn die erklärten Beträge nicht allzu hoch sind. Tatsächlich wären gerade die Laien-Steuererklärungen kontrollbedürftig. 114 Ausführlich zu den Steuererklärungspflichten K. Tipke, in: Tipke/Kruse, Komm. zur AO/FGO (Loseblatt Lfg. Okt. 2005), § 150 AO, Rz. 10–15. Hinweis auch auf M. Wulff, Reichweite steuerlicher Erklärungspflichten bei unklarer Rechtslage . . ., in: Festschrift für M. Streck, 2011, S. 627 ff. 115 Der Steuerzahler, Januar 2003, NW, 2003, S. 5. 116 DStR 2001, 313. 117 In P. Kirchhof/M. Neumann (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Effizienz, 2001, S. 7.
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Das „Durchwinken“ verstößt gegen die Verfassungsgerichtsentscheidung von 1991, die verlangt, dass Steuererklärungen nicht nur entgegengenommen, sondern auch kontrolliert (verifiziert) werden müssen. 118 Steuerstrafrechtler, die im Strafrecht mehr zu Hause sind als im Steuerrecht, neigen dazu, das Problem des Steuerrechtsirrtums in seiner Bedeutung für das Steuerstrafrecht zu verniedlichen, weil sie insbesondere die Kompliziertheit der Steuergesetze nicht voll ermessen können. So heißt es bei W. Joecks: Die „oft geltend gemachte ‚Unkenntnis der komplizierten Steuergesetze‘ sei nur selten ursächlich für Steuerverkürzungen. Um die Betriebseinnahmen und die Gegenstände des Betriebsvermögens vollständig zu erfassen und zu erklären, sind besondere Kenntnisse der Steuergesetze im Allgemeinen nicht erforderlich.“ 119 Wer als Strafrechtler zum Steuerstrafrecht kommt, kann auch Nachholbedarf im Steuerrecht haben. Als ob es im Steuerrecht damit getan wäre! Um bei dem simplifizierenden Beispiel zu bleiben. Sein Autor sollte sich einmal das ABC der Betriebseinnahmen und das ABC der Betriebsausgaben im Kurzkommentar von Ludwig Schmidt (Hrsg.) ansehen 120. Was Betriebseinnahmen sind, ist im Gesetz nicht definiert. Die Rechtsprechung wendet entsprechend die Definition der Betriebsausgaben an und die dazu entwickelte Kausaloder Zurechnungstheorie. Diese Theorie macht auch Fachleuten Schwierigkeiten. Entsprechend umfangreich sind Rechtsprechung und Literatur. Auch die Abgrenzung des (notwendigen und gewillkürten) Betriebsvermögens zum Privatvermögen hat seine Probleme. 121 Abgesehen davon, dass die Behauptung, Kenntnisse der Steuergesetze seien im Allgemeinen nicht erforderlich, sich an zwei Begriffen (Betriebseinnahmen, Betriebsvermögen) nicht nachweisen lässt: Die Abgrenzung der Betriebs- oder Berufssphäre von der Privatsphäre ist besonders streitanfällig (die Rechtsprechungssammlungen demonstrieren das). Überhaupt lässt der Inhalt eines Gesetzes sich nicht unmittelbar aus dem Textwortlaut einzelner Begriffe ablesen. Zu berücksichtigen sind die gesamten Vorschriften eines Gesetzes in ihrem Zusammenhang, in ihren Beziehungen und Abhängigkeiten. Man braucht nur den erwähnten Kommentar von Ludwig Schmidt (Hrsg.) zu § 15 EStG zu lesen, um zu erfahren, wie wenig der Text des 118 BVerfGE 84, 239, 273; s. auch BVerfGE 110, 94, 112. Hinweis auch auf S. 1404 ff., 1453 ff., 1460 f. 119 (Fußn. 109), § 378 Rz. 38. 120 Heinicke, in: L. Schmidt (Hrsg.), EStG Komm.26, 2007, § 4 Rz. 420 ff., 460, 470 ff., 520; ferner die Literaturangaben von J. Lang, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, § 9 vor Rz. 230. 121 Dazu die Nachweise von J. Hey, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, § 17 vor Rz. 121. Die Literatur dazu, die in Großkommentaren nachgewiesen wird, ist viel umfänglicher als in Tipke/Lang aufgeführt.
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Über Schuld und Strafe
§ 15 EStG die Rechtslage – wie sie sich aus Literatur und Rechtsprechung ergibt – widerspiegelt. Es gibt dogmatische Figuren, die der Gesetzeswortlaut nicht erwähnt. Laien können durchweg nicht zwischen Gesetz, Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschriften unterscheiden. Sie pflegen nichts zu wissen von Lücken im Gesetz und von der Gesetzanwendungsmethode (Rechtsfindungsmethode). Wenn das Recht so einfach wäre, dass man im Allgemeinen ohne besondere Gesetzeskenntnisse auskommen könnte, warum studieren wir überhaupt Rechtswissenschaft? – und – zu ergänzen –: Warum kommen so viele studierte Juristen mit dem Steuerrecht nicht zurecht? Wäre es der Finanzverwaltung ernst mit der Informationspflicht von Steuerlaien, so könnten die Finanzbeamten an alle Steuerlaien schreiben: „Soweit Sie keine oder nur oberflächliche Steuerrechtskenntnisse haben, müssen Sie sich diese verschaffen. Sie müssen auch informiert sein über die einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung, die einschlägigen Richtlinien der Finanzverwaltung und andere bedeutsame Verwaltungsvorschriften. Diese Rechtsgrundlagen müssen Sie Ihrer Steuererklärung zugrunde legen, denn nur so können Sie den Erwartungen (dem Empfängerhorizont) des Finanzamts entsprechen. Sollten Sie der Meinung sein, dass für Ihre Steuererklärung erhebliche BFH-Urteile, Richtlinien oder andere bedeutsame Verwaltungsvorschriften vom Gesetz nicht gedeckt sind, so müssen Sie, falls Sie in Ihrer Steuererklärung von solchen Urteilen oder Verwaltungsvorschriften abweichen, die Abweichung in einer Anlage zur Steuererklärung kenntlich machen. Sollten Sie sich die erforderlichen Kenntnisse nicht selbst aneignen wollen oder können, haben Sie einen zur Hilfeleistung in Steuersachen befähigten Bevollmächtigten mit der Vorbereitung Ihrer von Ihnen zu unterschreibenden Steuererklärung zu beauftragen. Auch Ihr bevollmächtigter Steuerberater muss bei der Vorbereitung Ihrer Steuererklärung die einschlägige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs und bedeutsame Verwaltungsvorschriften beachten und etwaige Abweichungen dem Finanzamt mitteilen. Verfahren Sie bzw. Ihr Steuerberater nicht so, können Sie sich der vorsätzlichen oder leichtfertigen Steuerhinterziehung schuldig machen (§§ 370, 378 AO).“
Ein solches Schreiben wird die Finanzverwaltung wohl niemals versenden. Es würde dafür m. E. auch die Rechtsgrundlage fehlen. Den von Theoretikern des Strafrechts erfundenen „Erwartungshorizont der Finanzämter“, wonach die Steuerpflichtigen sich an der Rechtsprechung und an den Richtlinien der Finanzverwaltung orientieren müssten, existiert in Wirklichkeit nicht. Die Finanzbeamten wissen, dass der Steuerhorizont der Steuerlaien die Erfüllung solcher Erwartungen gar nicht möglich macht. Die Pflichten der Steuerpflichtigen ergeben sich aus der Abgabenordnung. Strafgerichte und Strafrechtler dürfen nicht leichtfertig darüber hinausgehende Pflichten erfinden. Für die Pflichtenerweiterung wäre der Gesetzgeber zuständig. Er rührt sich aber nicht. Die Strafgerichte sind ihm zu Hilfe gekommen. Hätten sie stattdessen die Mängel der Abgabenordnung aufgedeckt und kritisch auf sie hingewiesen, 1741
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wäre der Gesetzgeber wahrscheinlich längst tätig geworden. Die Erfindung von Pflichten, die das Gesetz nicht vorsieht, das (dem Gesetzgeber) Zur-Hilfe-Kommen in Strafsachen lässt Parteilichkeit zu Gunsten des Staates befürchten. Pflichten, die nach der Abgabenordnung nicht existieren, können auch nicht verletzt werden, auch nicht leichtfertig.
5. Über die Steuerstrafe 5.1 Ist die Steuerstrafe zum Schutze der Steuerrechtsordnung unverzichtbar? Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 122 muss die Strafe als die schärfste der möglichen Sanktionen ultima ratio sein, d. h.: Die Strafe muss Mittel zu einem Zweck sein, der durch ein anderes Mittel nicht erreicht werden kann. Ob die Steuerstrafe ultima ratio ist, pflegt durchweg nicht geprüft zu werden. Die Steuerstrafe, so lesen wir, dient dem Schutz, der Gewährleistung, der Aufrechterhaltung, der Stabilisierung, der Verteidigung der Steuerrechtsordnung, dem Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit dieser Rechtsordnung. Von „Verteidigung der Rechtsordnung“ ist an verschiedenen Stellen des Strafgesetzbuches die Rede (§§ 47 I, 56 III, 59 I Nr. 3). Die Rechtsprechung geht wie selbstverständlich davon aus, dass die deutschen Steuergesetze eine Steuerrechtsordnung bilden, die diesen Namen verdient. Die Wirklichkeit sieht leider anders aus. 123 Die rechtsstaatliche Steuerrechtsordnung muss eine Gerechtigkeitsordnung sein 124, getragen vom Rechtsgedanken. 125 Die Steuergesetze bilden zwar nicht insgesamt eine Unrechtsordnung, aber es gibt einzelne Steuern, die insgesamt ungerecht sind, weil ihre Bemessungsgrundlage dem Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht gerecht wird. Das gilt für die Gewerbesteuer 126, die Grundsteuer, die Kaffeesteuer sowie die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern. 127 122 BVerfGE 39, 1, 47. 123 Dazu auch J. Weigell, Überlegungen zum Steuer(straf)recht, in: Festschrift für M. Streck, 2011, S. 609 ff. 124 Hinweis auf S. 1243 f. 125 Dazu aber K. Vogel, Der Verlust des Rechtsgedanken im Steuerrecht als Herausforderung an das Verfassungsgericht, DStJG Bd. 12 (1989), S. 123 ff. 126 Was die Gewerbesteuer betrifft, so scheint eher ein Kamel durch ein Nadelöhr zu gehen, als dass die kommunalen Kämmerer und ihre politischen Beschützer sich auf eine andere, bessere Lösung einlassen würden. 127 Leider folgt das Bundesverfassungsgericht einigen Staatsrechtslehrern in der Ansicht, dass alle von Art. 105, 106 GG erfassten Steuern verfassungs-
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Über die Steuerstrafe
Die einzelnen Steuergesetze enthalten zahlreiche verfassungswidrige Ungerechtigkeiten, bestehend vor allem in Verstößen gegen die Gebote der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit. Im Übrigen enthalten Steuergesetze noch immer nicht zu rechtfertigende Steuervergünstigungen. Die Rechnungshöfe dürften den wirklichen Zustand der Steuergesetze besser kennen als Steuerstrafrichter. Anders als die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit haben die Steuerstrafgerichte, hat auch der Bundesgerichtshof (St) das Bundesverfassungsgericht wegen Verfassungswidrigkeiten in Steuergesetzen noch nie angerufen. 128 Wenn staatsfromme Steuerstrafrichter nur unkritisch den Standpunkt von Steuerbehörden übernehmen, laufen sie Gefahr, auch Unrecht zu schützen. Das ist schon geschehen in Fällen, in denen für verfassungswidrig erklärte Steuervorschriften aus fiskalischen Gründen für eine Übergangsfrist weiter gelten durften. Ungerechte Steuergesetze sind ein Zeichen schlechter Besteuerungsmoral. Gute Steuermoral können die Staatsgewalten nur erwarten, wenn sie mit dem Beispiel guter Besteuerungsmoral vorangehen. Damit können wir zurückkehren zu der Frage, ob der Bestand und die Unverrückbarkeit der Steuerrechtsordnung von Steuerstrafen abhängig ist, durch Strafen verteidigt oder stabilisiert werden muss. Das ist m. E. zu verneinen. Die Steuerrechtsordnung bricht nicht dadurch zusammen, dass Steuern hinterzogen werden. So wie bisher wird die mäßig seien. Sie übergehen, dass die betroffenen Steuern aus einer Zeit stammen, als es gar keine verbindlichen Grundrechte gab. Sie erwähnen auch nicht, dass die Väter des Grundgesetzes gar keine Verfassungsprüfung vorgenommen haben, weil es ihnen kurz nach der Gründung der Bundesrepublik nur darum ging, möglichst schnell an Steuermittel zu kommen. – Dazu auch J. Lang: „Die örtlichen Aufwandsteuern bilden ein Konglomerat, dessen Willkür nicht zu rechtfertigen ist“ (in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 8 Rz. 107 a. E.). Und J. Englisch: „Ein derartig fragmentiertes Steuerkonglomerat genügt aber weder Rationalitätspostulaten noch gleichheitsrechtlichen Anforderungen an Steuergerechtigkeit“ (ebenda § 16 Rz. 20). P. Kirchhof bejaht gegen das Bundesverfassungsgericht zutreffend, dass die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern der Umsatzsteuer gleichartig sind (Entwurf S. 138). K. Vogel hat die Gleichartigkeit schon in den 1970er Jahren bejaht (s. K. Vogel, Konkurrenz zwischen Bundes- und Landessteuern nach dem Grundgesetz, StuW 1971, 308 ff.; ders., Das Verbot „gleichartiger örtlicher Verbrauch- und Aufwandsteuern in Art. 105 Abs. 2 a GG, in: Festschrift für K. Barth, 1971, S. 169 ff. Die Verfassungsrichter der 1970er und 1980er Jahre sind auch ihm nicht gefolgt). 128 Dass Staatsanwälte und Steuerstrafrichter sich ohne steuerrechtliche Ausbildung während des Studiums mit dem Steuerrecht schwer tun, ist nicht ihnen anzulasten, sondern den für die juristische Ausbildung Verantwortlichen (dazu K. Tipke, Über Abhängigkeiten des Steuerstrafrechts vom Steuerrecht, in: Festschrift für G. Kohlmann, 2003, S. 555 ff., darin auch der Exkurs „Steuerstrafrichter . . .“ auf S. 567).
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts
Steuerrechtsordnung so stabil bleiben wie sie immer war. Dass genug Steuermittel in die öffentlichen Kassen fließen, hängt insbesondere damit zusammen, dass ein großer Teil des Steueraufkommens im Wege des Quellenabzugs erhoben wird, an dem Arbeitgeber, Banken und andere Dritte mitwirken. Auch die Mitwirkung von Steuerberatern bei der Unternehmensbesteuerung sorgt für Gesetzestreue. Dass die Steuerrechtsordnung sich in einer gewissen rechtlichen Schieflage befindet, ist nicht das Werk von Steuerpflichtigen und Steuerberatern, ist vielmehr den für die Steuergesetzgebung Verantwortlichen zuzurechnen. Zur Abschreckung wären allerdings spürbare Verkürzungszuschläge erforderlich. Wie hoch die Hinterziehungsquote wirklich ist, wissen wir nicht, können darüber nur spekulieren. Sie ist jedenfalls nicht so hoch, dass die Steuerrechtsordnung dadurch in Gefahr kommen könnte. Zur Illustration zwei Einlassungen von Angeklagten, die sich von „Fachanwälten für Selbstanzeigen“ nicht zur Selbstbezichtigung hatten überreden lassen und auch auf eine „Absprache“ nicht eingehen wollten: Fall 1 Richter: Warum wollen Sie keine Absprache? Angeklagter: Ich bitte um mein Recht. Richter: Was heißt hier Recht? Warum? Welche Gesinnung steckt dahinter? Angeklagter: Ich habe nicht mein Geld in die Schweiz gebracht, sondern einen Bruchteil meines Geldvermögens. Das habe ich vor Jahrzehnten getan, als ich den Eindruck haben musste, dass alle es taten. Der Staat aber tat nichts dagegen. Ich wollte nicht der Dumme sein. Richter: Aber warum haben Sie Ihr Geld später nicht aus der Schweiz zurückgeholt? War es nicht doch Gier? Angeklagter: Die Grenzkontrollen, die inzwischen eingerichtet worden waren, ließen das nicht zu. Richter: Sie hätten sich selbst anzeigen können oder an einer Amnestie teilnehmen können. Angeklagter: Das habe ich nicht getan, weil ich meinen guten Ruf bei meinem Finanzamt nicht verlieren wollte. Ich habe viel Steuern gezahlt. Außerdem bin ich verärgert darüber, dass „Vater Staat“ bei der Zinsbesteuerung die Inflation nicht berücksichtigt. Das führt bei einer Inflation, die die Zinsen übersteigt und unter Berücksichtigung der Verwaltungsgebühren der Banken und der Steuer zu einem Eingriff in das Vermögen. Richter: Das ist rechtlich unerheblich. Sie müssen dem Gesetz gehorchen. Angeklagter: Gesetzlich unerheblich, ja. Aber rechtlich ist es m. E. nicht unerheblich. Ich halte die Art der Zinsbesteuerung nicht für legitim. Auch den Soli halte ich nicht für legitim. Wie lange soll der Soli noch erhoben werden? Oder braucht man die Mittel aus dem Soli für Griechenland? Richter: Werden Sie jetzt bitte nicht unsachlich. Mit dem Soli haben wir in diesem Verfahren nichts zu tun. Daher bin ich auf den Soli auch nicht vorbereitet. Steuern werden nach Gesetz erhoben, nicht nach Ihren Legitimitätsvorstellungen . . .
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Über die Steuerstrafe Fall 2 Richter: Sie haben Steuern hinterzogen, warum haben Sie unseren Staat hintergangen? Angeklagter: Ich habe extrem viel gearbeitet, auch viel Sonntags- und Nachtarbeit geleistet. Das kann meine Familie bestätigen. Richter: Warum haben Sie ständig gearbeitet? Nach dem Gesetz kommt es nicht darauf an, wie lange jemand gearbeitet hat und zu welcher Tages- oder Nachtzeit er gearbeitet hat. Das bestätigt auch die Finanzbehörde. Wussten Sie das nicht? Angeklagter: Ich weiß, dass es leider so ist, für Freiberufler. Je fauler jemand ist, desto weniger verlangt der Staat von ihm. Aber gewisse Arbeitnehmer, die für Nacht- und Sonntagsarbeit obendrein einen Zuschlag erhalten, müssen diesen Zuschlag nicht versteuern. Ist das hier nicht bekannt? Ich halte das für ungerecht. Richter: Mit Gerechtigkeitsfragen müssen Sie sich an das Bundesverfassungsgericht wenden. Angeklagter: Ein Steueranwalt hat mir gesagt: „Das bringt nichts.“ Ich sei richtig besteuert. Ich hätte kein Recht, anderen ihre Vergünstigungen wegnehmen zu wollen. Das sei alles Sache des Staates in Verbindung mit der Lobby. Ich halte das für schlechte Besteuerungsmoral. Richter: Was Sie vortragen ist gesetzlich unerheblich. Sie sollten sich auf eine Verständigung einlassen und nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen. Es geht um Ihre Steuer, nicht um die Steuer anderer. Angeklagter: Zugegeben, ich habe zur Selbsthilfe gegriffen. Richter: Soweit mir geläufig ist, lässt das Steuerstrafrecht keine Selbsthilfe zu ...
Wie die Beispiele zeigen, geht es nicht nur um die Verletzung der Steuerrechtsordnung als Ganzer, sondern auch um die Verletzung einzelner Steuerrechtsnormen. Auch diese Verletzung berührt den Schutz des Rechtsgutes. 5.2 Über Strafzwecktheorien Wer meint, dass Strafen im Interesse der Steuerrechtsordnung unentbehrlich seien, muss sich darüber klar werden, ob das Ziel des Strafens am besten durch Schuldausgleichsstrafen oder durch Abschreckungsstrafen erreicht werden kann. Soll der Täter durch die Strafe eine Schuld abgelten oder abtragen und so zur Einsicht gebracht werden, oder sollen Steuerpflichtige durch die Strafdrohung oder durch die Strafe abgeschreckt werden? Noch immer befinden sich zwei Strafzwecktheorien im Konflikt, nämlich die Schuldausgleichstheorie (Schuldabgeltungstheorie) und die Abschreckungstheorie (Präventionstheorie). Die Schuldausgleichstheorie ist aus der von I. Kant vertretenen Vergeltungstheorie hervorgegangen. Der Begriff der Vergeltung gilt heute aber als unpassend. H.-H. Jescheck/Th. Weigend erläutern das so (Lehrbuch5, 5.66 f.): 1745
§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts „Die überlieferte Sinngebung der Strafe ist der Vergeltungsgedanke. Vergeltung war ursprünglich eine von starken Emotionen getragene, rein negative Reaktion auf die Tat. Der Begriff der Vergeltung hat jedoch seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert einen tiefgreifenden Sinnwandel erfahren. Vergeltung bedeutet danach heute, dass die Strafe eine Antwort auf das verschuldete Unrecht darstellt . . . und diesem daher nach dem Grundsatz der austeilenden Gerechtigkeit gleichwertig sein soll. Vergeltung hat also nichts zu tun mit Rache, untergründigen Hassgefühlen oder verdrängten Aggressionsgelüsten der Gesellschaft, sondern sie ist ein Maßprinzip. Nach dem Vergeltungsgedanken bestimmt die begangene Tat Grund und Maß der Strafe. Der Vergeltungsgedanke ruht auf drei immanenten Voraussetzungen. Die erste ist, dass die Befugnis des Staates, dem Schuldigen durch die Strafe das zu geben, was er verdient hat, überhaupt gerechtfertigt werden kann; dies ist nur möglich, wenn die sittliche Überlegenheit der Gemeinschaft gegenüber dem Verbrecher anerkannt wird. Die zweite Voraussetzung der Vergeltung ist, dass es Schuld gibt, die nach ihrer Schwere gewogen werden kann. Drittens setzt der Vergeltungsgedanke voraus, dass es grundsätzlich möglich ist, Schuldgrad und Strafgröße dergestalt in Einklang zu bringen, dass das Urteil von dem Täter und der Allgemeinheit als gerecht empfunden wird. Von der Vergeltung ist die Sühne zu unterscheiden. Sie ist eine eigene sittliche Leistung des Verurteilten, die ihn die Notwendigkeit der Strafe bejahen und dadurch die eigene sittliche Freiheit wieder gewinnen lässt. Sühne kann durch Strafe nicht erzwungen, sie muss jedoch durch den Staat wenigstens möglich gemacht werden und schließt die Bereitschaft der Gesellschaft ein, dass der Täter durch die Annahme der Strafe mit ihr versöhnt wird.“
Die angenommene Schuldstrafe – sie wird auch als Gerechtigkeitsstrafe bezeichnet – soll also auch die Wiedereingliederung in die Gesellschaft fördern. Dagegen wendet H. Coing ein: „Insbesondere fordert die ausgleichende Gerechtigkeit nicht die Zufügung eines Übels für den Rechtsbrecher. Zwischen Schuld und Strafe gibt es im Grunde keinen gemeinsamen Nenner. Das würde voraussetzen, dass die Tugend mit Glück, Böses mit Unglück sittlich verbunden und dass der Staat berufen sei, diesen Zusammenhang herzustellen. Die Strafe nutzt dem Verletzten nichts, stellt kein verletztes Recht wieder her; nur wer gestilltes Racheverlangen und gestillte Schadenfreude für einen Ausgleich hält, kann die Bestrafung aus der iustitia communication ableiten. Einzig soweit sie Gelegenheit zur Entsühnung böte, wäre sie sittlich gerechtfertigt. Zur Entsühnung aber kann Strafe nur führen, wenn sie vom Schuldigen innerlich angenommen wird; und gerade das kann kein Strafverfahren garantieren.“ 129
Die andere Theorie: Die Strafe soll abschrecken, damit Täter nicht erneut Straftaten begehen, und damit sie überhaupt von Straftaten abgehalten werden. „Die Strafjustiz muss“ – so H. Coing – „in erster Linie am Zweckgedanken der Sicherung der Gesellschaft orientiert sein; daher können neben die abschreckende Strafe im eigentlichen Sinn Sicherungsmaßnahmen treten.“ 130
129 H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie3, 1976, S. 239. 130 H. Coing, (Fußn. 129), S. 240.
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Über die Steuerstrafe
Heute versucht man, Schuldausgleichstheorie und Abschreckungstheorie zu versöhnen („Vereinigungstheorie“). Dass auch die an der Schuld orientierte, einem schuldausgleich dienende Strafe abschrecken kann, ist wohl richtig. Jedoch fallen das Maß der Schuldstrafe und das Maß der Abschreckungsstrafe auseinander. Die Schuldstrafe orientiert sich an der in der Vergangenheit liegenden Tat. Die Abschreckungsstrafe will in die Zukunft wirken. Die Strafpraxis macht sich um die Strafzwecktheorien wohl kaum Kopfzerbrechen. Die Notwendigkeit der Abschreckung wird bei der Strafzumessung auch berücksichtigt, obwohl sie in § 46 StGB nicht zum Ausdruck kommt. Theoretiker nehmen an, § 46 StGB belasse dem Richter einen Wertungsspielraum, der auch Platz habe für Abschreckungserwägungen. Es gibt auch Schuldpönalisten, die ihren Standpunkt zusätzlich sozialethisch aufladen. Steuerhinterziehung wäre danach ein sozialethischer Unwert 131, der Strafe verdient, strafwürdig ist, und sozialethisch Strafwürdiges soll nach diesem Standpunkt auch sozialethisch sanktioniert werden – durch eine sozialethische öffentliche Missbilligung der Tat, durch eine hoheitliche Reaktion auf schuldhaftes sozialwidriges Verhalten. Zum sozialethischen Unterfangen der Strafe würde es besser passen, wenn der Schutz der ehrlichen Mitsteuerpflichtigen in das zu schützende Rechtsgut aufgenommen würde. 5.3 Strafzumessung zwischen Härte und Milde Schon in der Theorie lässt sich die gerechte Strafe – wenn überhaupt – noch schwerer finden als die gerechte Steuer. § 370 I AO setzt einen Strafrahmen zwischen Geldstrafe und fünf Jahren Freiheitsstrafe fest. Es besteht also ein großer Aktionsraum für die unterschiedlichen Einstellungen der Richter zur Strafe und zur Wirkung der Strafe. Die Schere wird noch weiter in „besonders schweren Fällen“. Der Strafrahmen liegt dann zwischen Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren (§ 370 III StGB). 132 § 46 StGB, der auch für das Steuerstrafrecht gilt (§ 369 II AO), bestimmt: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab.“ Dazu führt § 46 II StGB eine Reihe von Kriterien auf, die bei der Strafzumessung zu beachten sind. 131 Dazu S. 1754 ff. 132 Kritisch zur Behandlung von „besonders schweren Fällen“ M. Hettlinger, Abschied von den „unselbständigen Abwandlungen“ oder den besonders schweren Fällen oder beidem, in: Festschrift für M. Maiwald, 2010, S. 320 ff. (betrifft die besonders schweren Fälle, die im Strafgesetzbuch geregelt sind).
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts
Im letzten Jahrzehnt hat sich die Einstellung zur Steuerhinterziehung – auch unter dem Einfluss der Medien – deutlich gewandelt. Steuerhinterziehung gilt bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr als Kavaliersdelikt, sondern als schimpfliche Straftat. Man spricht von Wertewandel oder Klimawandel. Dieser Wandel dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Zahl der Sozialbürger, die zugleich Stimmbürger sind, erheblich gewachsen ist. Steuern, die andere zahlen, sind bekanntlich gerechte Steuern. Nach der Verhaftung von K. Zumwinkel fielen auch konservative Politiker in den Chor der Moralisten ein. Politiker und Journalisten nannten Steuerhinterzieher zum Beispiel „Sozialschmarotzer“ (Ministerpräsident Müller, Saarland 133), „Abschaum der Gesellschaft“, „Ausbeuter des Staates“. 134 Für Groß-Steuerhinterzieher werden „drakonische 135„ Strafen verlangt. Für SPD-Chef Sigmar Gabriel gehören alle, die den Staat um 500 000 Euro geprellt haben, „hinter Gitter“. Und nach einer ForsaUmfrage plädieren fast zwei Drittel aller Bürger dafür, bei Steuerschäden von mehr als einer Million Euro zwingend Gefängnisstrafen zu verhängen, ohne Bewährung. 136 Am 2. 12. 2008 ging der 1. Senat des Bundesgerichtshofs (St) daran, durch ein Grundsatzurteil die Maßstäbe der Strafzumessung in Steuerhinterziehungssachen deutlich zu verschärfen. Er ging über das bisher Praxisübliche hinaus und bemühte sich um „steuerstrafrechtliche Aufrüstung“. 137 In der Urteilsbegründung heißt es: „Grundlage für die Zumessung der Strafe ist bei einer Steuerhinterziehung . . . die persönliche Schuld des Täters. Dabei sind auch die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 StGB). § 46 Abs. 2 Satz 1 StGB bestimmt, dass bei der Zumessung der Strafe die Umstände gegeneinander abzuwägen sind, die für und gegen den Täter sprechen . . . Bei der Zumessung einer Strafe wegen Steuerhinterziehung hat das von § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB vorgegebene Kriterium der ‚verschuldeten Auswirkungen der Tat‘ im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung besonderes Gewicht. ‚Auswirkungen der Tat‘ sind 133 Der Begriff „Schmarotzer“ passt dann nicht, wenn Teil-Steuerhinterzieher so viel Steuern bezahlen, dass die auf sie entfallenen Staatsleistungen durch ihre Steuerzahlungen abgedeckt sind. – Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte eine harte Bestrafung von Steuersündern. 134 Im NS-Staat wurden Steuerhinterzieher als Parasiten und Volksschädlinge bezeichnet, Helfer in Steuersachen auch als Helfer im Steuerbetrug oder als Helfer in Steuerhinterziehung. Als der größte Volksschädling erwies sich allerdings der Führer Adolf Hitler. Staatsausbeuter für Steuerhinterzieher ist auch ein entstellender Begriff. 135 Drakon war ein altgriechischer (athenischer) Gesetzgeber, der um 691 v. Chr. die erste Aufzeichnung des geltenden Strafrechts vornahm und wegen der Strenge und Härte seiner Strafgesetze berüchtigt war. 136 Nach Cicero 3/2011, S. 92. 137 BGHSt 53, 71 ff. = wistra 2009, 107 ff. An dieser Rspr. hat der BGH trotz der Kritik festgehalten.
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Über die Steuerstrafe insbesondere die Folgen für das durch die Strafnorm geschützte Rechtsgut. Das . . . ist die Sicherung des staatlichen Steueranspruchs, d. h. des rechtzeitigen und vollständigen Steueraufkommens (vgl. BGHSt 36, 100, 102; 40, 109, 111; 41, 1, 5; 46, 107, 120) . . . Dass der Hinterziehungsbetrag . . . darüber hinaus, dann wenn er hoch ist, ein auch für die konkrete Strafzumessung gewichtiger Strafverschärfungsgrund ist, zeigt insbesondere die gesetzgeberische Wertung in § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO . . . Auch wenn der Hinterziehungsbetrag ein bestimmender Strafzumessungsgrund für die Steuerhinterziehung ist, kann allein dessen Ausmaß für die Strafhöhenbemessung nicht in dem Sinne auschlaggebend sein, dass die Strafe gestaffelt nach der Höhe des Hinterziehungsbetrags schematisch und quasi ‚tarifmäßig‘ verhängt wird. Jeder Einzelfall ist vielmehr nach den von § 46 StGB vorgeschriebenen Kriterien zu beurteilen. Das schließt indessen nicht aus, die Strafhöhe an den vom Gesetzgeber auch in § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO vorgegebenen Wertungen auszurichten . . . Der Senat ist der Ansicht, dass insoweit vergleichbare Kriterien wie für das wortgleiche Merkmal in § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Alt. 1 StGB . . . zur Anwendung kommen müssen . . . Der Senat ist daher der Ansicht, dass das Merkmal ‚im großen Ausmaß‘ des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO wie beim Betrug nach objektiven Maßstäben zu bestimmen ist. Das Merkmal ‚in großem Ausmaß‘ liegt danach nur dann vor, wenn der Hinterziehungsbetrag 50 000 E übersteigt . . . Jedenfalls bei einem sechsstelligen Hinterziehungsbetrag wird die Verhängung einer Geldstrafe nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen noch schuldangemessen sein. Bei Hinterziehungsbeträgen in Millionenhöhe kommt eine aussetzungsfähige Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe noch in Betracht . . . Schon deswegen wird bei der letztgenannten Fallgestaltung (Millionenbetrag) ein Strafbefehlverfahren regelmäßig nicht geeignet erscheinen (vgl. § 400 AO i. V. m. § 407 StPO) . . . f) Die ‚Indizwirkung‘ des ‚großen Ausmaßes‘ kann einerseits durch sonstige Milderungsgründe beseitigt, andererseits aber auch durch Strafschärfungsgründe verstärkt werden. aa) Ein die Indizwirkung des Hinterziehungsbetrages beseitigender Milderungsgrund ist etwa gegeben, wenn sich der Täter im Tatzeitraum im Wesentlichen steuerehrlich verhalten hat und die Tat nur einen verhältnismäßig geringen Teil seiner steuerlich relevanten Betätigungen betrifft. Bedeutsam ist daher das Verhältnis der verkürzten zu den gezahlten Steuern. Hat sich der Täter vor der Tat über einen längeren Zeitraum steuerehrlich verhalten, so ist auch dies in den Blick zu nehmen. In die vorzunehmende Gesamtwürdigung ist auch die Lebensleistung und das Verhalten des Täters nach Aufdeckung der Tat einzubeziehen, etwa ein (frühzeitiges) Geständnis, verbunden mit der Nachzahlung verkürzter Steuern oder jedenfalls dem ernsthaften Bemühen hierzu. Der ‚Schadenswiedergutmachung‘ durch Nachzahlung verkürzter Steuern kommt schon im Hinblick auf die Wertung des Gesetzgebers im Falle einer Selbstanzeige (§ 371 AO) besondere strafmildernde Bedeutung zu. bb) Gegen die Geldstrafe oder – bei entsprechend hohem Hinterziehungsbetrag – eine aussetzungsfähige Freiheitsstrafe spricht es insbesondere, wenn der Täter Aktivitäten entfaltet hat, die von vornherein auf die Schädigung des Steueraufkommens in großem Umfang ausgelegt waren, etwa weil der Täter unter Vorspiegelung erfundener Sachverhalte das ‚Finanzamt als Bank‘ betrachtete und in erheblichem Umfang ungerechtfertigte Vorsteuererstattungen erlangt hat oder weil der Täter die Steuerhinterziehung in sonstiger Weise
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts gewerbsmäßig oder gar ‚als Gewerbe‘ betrieb. Gleiches gilt auch für den Aufbau eines aufwändigen Täuschungssystems, die systematische Verschleierung von Sachverhalten und die Erstellung oder Verwendung unrichtiger oder verfälschter Belege zu Täuschungszwecken.“ 138
Im Steuerrecht gilt der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, d. h. gleiche Fälle sind gleich zu belasten. Im Strafrecht müsste der Grundsatz der Gleichbestrafung gleicher Fälle gelten. Das ist aber praktisch nicht zu erreichen. Das Steuerrecht kennt feste Steuersätze oder Tabellen. Das Schuldstrafrecht kennt nur zu berücksichtigende Strafbemessungsrichtlinien mit zahlreichen Wertungsspielräumen. Bewertet werden sollen zum Beispiel (s. § 46 II StGB) die Beweggründe (obwohl die wirklichen Beweggründe meist schwer festzustellen sind). Und ob die Beweggründe mehr oder weniger verwerflich, niederträchtig, schimpflich, schändlich, boshaft, niedrig (§ 211 II StGB spricht von ‚niedrigen‘ Beweggründen) sind, werden verschiedene Richter oder Spruchkörper unterschiedlich werten. Auch aus der Gesinnung werden unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden. Nachdem die Richter alle Kriterien berücksichtigt haben, werden sie unterschiedlich abwägen. Was besonders schwere Fälle sind (§ 370 III AO), wird zwar durch Beispiele illustriert, jedoch geschieht das nicht abschließend. Mit weiteren unbestimmten Begriffen bekommen Staatsanwälte und Richter es zu tun, wenn es um die Einstellung des Verfahrens geht (§ 398 AO: „geringwertige“ Steuerverkürzung), § 153 StPO (Schuld „als gering anzusehen“), § 153 a StPO (wenn „schwere der Schuld nicht entgegensteht“). Der 1. BGHSt-Senat ist rigider als der 5. BGHSt-Senat, von dem der 1. Senat die Steuerstrafsachen übernommen hat. B. Schünemann 139 stellt dazu fest, in der Judikatur der BGH-Strafsenate hätten sich Unterschiede eingestellt. Ob und inwieweit eine Revision Erfolg habe, hänge stark vom Senat ab, der über die Revision zu entscheiden habe. Am Urteil des 1. Senats v. 2. 12. 2009 lässt er kaum ein gutes Haar. Es geht ihm insbesondere darum, ob die richterliche Entscheidung nicht mehr von der Einstellung (Attitüde) des einzelnen Richters zur Steuerhinterziehung abhängt, als von dogmatischer Analyse der einschlägigen Rechtsnormen. B. Schünemann reibt sich (m. E. zu Recht) an der vom Bundesgerichtshof herausgestellten Gleichwertigkeit von Steuerhinterziehung und Betrug. Durch den Betrug – das ist m. E. der wesentliche Unterschied – wird dem Betrogenen etwas von seinem 138 Ausführliche, umfassende Darstellung der Strafbemessungspraxis durch Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, Kommentar Bd. I, § 370 AO (Lfg. 34, 40) RNrn. 1005 ff. (Strafe bei der Steuerhinterziehung). Allgemein zur Strafe, auch zum Zweck der Strafe Bd. 1, B RNrn. 489 ff. 139 Festschrift für V. Mehle, S. 613 ff.
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Vermögen genommen, durch die Steuerhinterziehung wird dem Staat etwas vorenthalten, was ihm nach dem Gesetz zusteht. Darüber, ob das zu einem Wertungsunterschied führen muss, mag man streiten. Schünemanns Hinweis auf den mit Milliarden quasi um sich werfenden Staat dürfte staatsfromme Richter nicht beeindrucken, wie denn die Besteuerungsmoral des Staates nicht ihr Interesse findet. Was der Staat tut, das ist wohlgetan. Richter dürfen sich zu einer allgemeinen Strafverschärfung nicht dadurch verleiten lassen, dass einige Einzelfälle, die Großhinterziehung betreffen, unzulässig verallgemeinert werden. Die allgemeine Strafverschärfung lässt sich auch nicht damit rechtfertigen, dass die Hinterziehungsquote in den letzten Jahrzehnten gestiegen sei. Für eine solche Feststellung fehlt es an empirischem Material. Daher kennen wir die Steuerhinterziehungsquote – das ist die Quote der geschuldeten, aber nicht gezahlten (hinterzogenen) Steuern – so wenig wie die Dunkelziffer der begangenen StGB-Straftaten. Allerdings werden dazu in der Literatur Angaben gemacht, manchmal sogar beziffert. Die Presse übernimmt solche Angaben ebenso unkritisch wie gerne. Die Deutsche Steuergewerkschaft schätzt nach Pressemeldungen, es würden jährlich 30 Milliarden Euro an Steuern hinterzogen. Nicht selten sind die Angaben spekulativ, tendenziös. Die Steuergewerkschaft verbindet ihre Angaben gern mit der Forderung, mehr Beamte zur Steuerkontrolle und zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung einzustellen, dazu verständlicherweise die Beförderungsstellen zu vermehren. Auch die Angaben über die steuerlich nicht erfasste „Schwarzarbeit“ sind gegriffen. Die FAZ meldete am 13. 4. 2006: „Durch Schwarzarbeit entgehen dem Staat nach Angaben von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) jedes Jahr etwa 70 Milliarden Euro an Steuern und Abgaben. Finanzminister Steinbrück habe ausrechnen lassen, dass durch Steuerflucht unserem Staat 100 Milliarden Euro verloren gehen (innerhalb welcher Zeit?). Ausrechnen lässt sich das nun wirklich nicht. Politiker, die einseitig gegen „die reichen Steuerhinterzieher“ agitieren, sind m. E. nicht gut beraten. Die Egalisierung macht am Ende alle gleich arm. Und Sozialhilfeempfänger haben zwar auch bei der Wahl eine Stimme, können aber ihre Mit-Sozialhilfeempfänger nicht ernähren. Fair wäre es, mitzuteilen, wie hoch der Einkommensteuerbeitrag der Reichen wirklich ist. Zahlen sind nicht schon deshalb stichhaltig, weil sie von der Steuergewerkschaft oder vom Finanzministerium in die Welt gesetzt werden. M. Streck hat schon 1984 durch die Behauptung provoziert, es sei keine Übertreibung, davon auszugehen, dass nahezu jeder Steuern hinterziehe, wenn man auch die Bagatell-Steuerhinterziehung berück1751
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sichtige. 140 Diese Auffassung hat M. Streck 2009 wiederholt mit den Worten: „Steuerhinterziehung ist tatsächlich ein weit verbreitetes Delikt . . . Aber die Fälle, die an die Presse gehen, sind immer Ausnahmesachverhalte.“ 141 Der Eindruck, dass fast alle Steuern hinterziehen, sagt über die Hinterziehungsquote nichts aus. Die Hinterziehungsquote wird auch dadurch beeinflusst, dass nur wenige die gesamte geschuldete Steuer hinterziehen. Wenn Medien über hinterzogene Beträge berichten, verschweigen sie meistens, was der Hinterzieher gezahlt hat. Wenn wirklich fast alle Steuern hinterzögen, dürfte der Angeklagte dann dem Staatsanwalt und seinen Richtern zurufen: Tu quoque? M. E. muss man doch unterscheiden zwischen „kleinen Schummeleien“ und planmäßiger Großhinterziehung. Auch der Versuch, die Hinterziehungsquote durch Umfragen zur Steuermoral zu ermitteln, bringt kaum Zuverlässiges. 142 Es wird nicht direkt gefragt: Hinterziehen Sie Steuern, wenn ja, wie viel? Wenn nein, warum nicht? Man fragt z. B. vielmehr: Was halten Sie von Steuerhinterziehung? Die wahrheitsgemäße Antwort könnte lauten: Von Steuerhinterziehung durch andere halte ich nichts. 143 Von Behauptungen ins Blaue hinein ist ohne empirische Unterlagen nichts zu halten. Es ist immerhin zu bedenken, dass ein hoher Anteil des Steueraufkommens durch Quellensteuern oder sonst durch Mitwirkung Dritter (Banken, Notare und andere Dritte) aufgebracht wird. Die Träger der Umsatzsteuer sind nicht die Schuldner dieser Steuer. Besonders ist zu erwähnen, dass die Steuerberater – fast alle Unternehmen beschäftigen Steuerberater – einen wichtigen Beitrag zur Zahlung der gesetzlichen Steuer leisten. 144 Es sind vor allem mangelnde Steuerkontrollen, die zur Steuerhinterziehung führen. Jeder Wirtschaftsaufschwung in Deutschland löst alsbald auch den Effekt aus, dass die Steuerquel-
140 BB 1984, 2205. 141 Steuerberater-Magazin 11/2009, S. 19 li. o. – In der Tat könnte z. B. ein Staatsanwalt oder Richter, der historisch interessiert ist, ein Buch über den Ersten Weltkrieg anschaffen und die Kosten (bei Überschreiten des Freibetrages) als Werbungskosten abziehen, ohne dass es kontrolliert würde. 142 Viel hängt von der Formulierung der Fragen ab. Und die Antworten auf die gestellten Fragen sind auch nicht immer wahrheitsgemäß. 143 Zu der Art der Fragen und Antworten Hinweis auf Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik, Steuermentalität und Steuermoral in Deutschland. Forschungsbericht über eine empirische Studie im Auftrag des Bundes der Steuerzahler, 2009. 144 Dazu K. Tipke (Hrsg.), Steuerberatung und Rechtsstaat, 2010 mit Beiträgen von K. Tipke, J. Thiel, R. Seer, J. Lang, F. Salditt, J. Pelka.
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len zu sprudeln beginnen, alsbald merklich höhere Steuereinnahmen erzielt werden. Die Steuerschätzer müssen sich dann korrigieren. Einen Abgrund von Steuerhinterziehung gibt es in Deutschland m. E. nicht. Jedenfalls gibt es dafür keine empirischen Belege. 145 Es ist freilich nicht verwunderlich, dass Mitarbeiter von Straf- und Bußgeldstellen der Finanzämter, Steuerfahnder, Staatsanwälte und Richter, die täglich mit Steuerstrafsachen – auch mit schweren Fällen – zu tun haben, die Steuerehrlichkeit pessimistisch einschätzen. 146 Im April 2002 veranstalteten das finanzwissenschaftliche Forschungsinstitut Köln und die Evangelische Akademie Loccum eine Tagung zum Thema „Am Staat vorbei“. 147 Die Staatsrechtslehrerin U. Sacksofsky resümierte das Ergebnis der Tagung so: „Die Steuermoral in Deutschland ist schlecht. Über diesen Ausgangsbefund besteht Einigkeit. Steuerhinterziehung gilt in Deutschland als Kavaliersdelikt, wenn sie nicht schon zum Volkssport avanciert ist.“ Man fragt sich auch hier, wo die empirischen Unterlagen sind. Was in Loccum festgestellt worden ist, entspricht etwa dem, was unsere Zeitungen heute über Griechenland und Italien berichten. Wenn wir nichts Sicheres wissen, müssen wir deswegen m. E. nicht alles glauben. Wenn die Steuerhinterziehung in Deutschland (noch immer) Kavaliersdelikt, gar Volkssport wäre, wie könnte die Finanzverwaltung in eine Verwaltungsvorschrift für die Finanzämter hineinschreiben, dass im Regelfall bei der Veranlagung davon auszugehen sei, dass „die Angaben des Steuerpflichtigen in der Steuererklärung vollständig und richtig sind“ (AEAO zu § 88 Nr. 2). Steuerstrafrichter tun den Einwand, man habe sich über Steuerrecht geirrt, zu oft vorschnell ab. Jeder kennt die wichtigsten traditionellen Tatbestände des Strafgesetzbuches: Du sollst nicht töten, anderen nicht Gewalt antun, nicht stehlen, nicht einbrechen, nicht betrügen etc. Darunter kann man sich etwas ziemlich genaues vorstellen. Aber das Gebot: „Du sollst keine Steuern hinterziehen“ ist nicht viel mehr als eine Leerformel. Das Strafgesetzbuch benötigt für die einzelnen Straftaten in der Regel nicht mehr als einen Paragraphen. Wer aber nur wissen will, worin eine Einkommensteuerhinterziehung besteht, muss mindestens große Teile des Einkommensteuergesetzes kennen. Steuergesetze haben keine ethische Tradition, und der Steuergesetz145 So auch M. Streck, Steuerberater-Magazin 11/2009, S. 19 re. 146 Auch der Verteidiger in Steuer- und Wirtschaftsstrafsachen F. Salditt stellt fest: „Fast jeder hinterzieht Steuern nach seinen Möglichkeiten.“ Das entspricht einer Äußerung der früheren Vorsitzenden am Bundesgerichtshof Monika Harms, die von der FAZ so zitiert wird: „Jeder hinterzieht Steuern so gut er kann.“ Steuerhinterziehung sei ein „breit verwurzeltes Verhalten in der Bevölkerung.“ (FAZ v. 20. 2. 2008). 147 Dokumentiert in: K. Bizer/A. Falk/J. Länge (Hrsg.), Am Staat vorbei, 2004.
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geber lässt sich nicht von Besteuerungsmoral leiten. Der Begriff „Besteuerungsmoral“ existiert für ihn gar nicht. 5.4 Vom komparativen Unwert der Steuerhinterziehung In der strafrechtlichen Literatur stoßen wir auf den Begriff „Unwert“ oder „sozialethischer Unwert“. Ein erheblicher (sozialethischer) Unwert soll strafwürdig sein, d. h. das Unwertverhalten soll durch eine angemessene Strafe sanktioniert werden dürfen oder müssen. Unwert ist der Gegensatz von Wert. Die Grundrechte verkörpern verbindliche Werte. Werden solche Werte verletzt, so entsteht ein Unwert. Die Grundrechte können auch vom Staat verletzt werden. Verletzt z. B. der Steuergesetzgeber den Gleichheitssatz, so ist das ein besteuerungsmoralischer Unwert. Auch die Staatsgewalten können sich unwertig verhalten. Aber das liegt im Allgemeinen nicht im Blickfeld von Staatsanwälten und Strafrichtern. In Deutschland und auch in anderen Ländern gilt die vorsätzliche Steuerhinterziehung als (sozialethischer) Unwert, weil dem Staat idealiter (die Verschwendung wird ausgeblendet) Mittel vorenthalten werden, die er zur Erfüllung seiner Gemeinwohlaufgaben benötigt, und weil die Steuerehrlichen davor geschützt werden müssen, dass Steuerunehrliche sich ihrem Belastungsanteil ganz oder zum Teil entziehen. Nur der erste Satzteil wird vom Bundesgerichtshof akzeptiert. Komparativer Unwert soll heißen, dass der Unwert der Steuerhinterziehung mit dem Unwert anderer Straftaten in vergleichbare Beziehung gesetzt werden muss. Theoretisch lässt sich eine Unwertskala entsprechend einer Rangordnung der Unwerte bilden. Dabei geht es aber kaum um Rechtslogik, viel mehr insbesondere um das Werten oder Werturteilen nach dem Rechtsgefühl, das nicht frei ist von Emotionen. Man könnte allerdings den Versuch machen, eine Wertskala aus den verschiedenen Schutzgütern des Grundgesetzes abzuleiten. 148 Revisionsrichter, die auf bestimmte Arten von Straftaten spezialisiert sind, können dazu neigen, die Unwert-Verhältnismäßigkeit in Bezug auf andere Arten von Straftaten aus den Augen zu verlieren. Wäre es richtig, dass Steuerhinterzieher zum „Abschaum der Gesellschaft“ gehörten (was behauptet worden ist), so müsste die Steuerhinterziehung auf der Unwertskala einen sehr schlechten Platz bekommen. 148 Als der Verfasser vor mehr als 50 Jahren als Referendar einer Strafkammer zugeteilt war, störte ihn, dass Körperverletzung (selbst durch brutale Schläger) mit ungewöhnlicher Milde behandelt wurden, während einfache Diebstähle recht unnachsichtig behandelt wurden. Das Sacheigentum wurde besser geschützt als die körperliche Unversehrtheit. Das hatte offenbar Tradition, entsprach m. E. aber nicht den Wertvorstellungen des Grundgesetzes.
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Über die Steuerstrafe
Zum Vergleich seien einige Fragen aufgeworfen: Wie ist es z. B. um den Wert oder Unwert von Rockerbanden – Hells Angels, Bandidos, Mongols, Original Gangster und Streetgangs aller Art – bestellt? Sie pflegen gewalttätig und bewaffnet zu sein. Von ihnen nimmt man an, dass sie Waffen-, Drogen- und Frauenhandel betreiben, dass sie Verbindungen zum Rotlichtmilieu und zu Unterweltmilieus haben, etwa zu Schutzgelderpressern. Aber hat jemals die Steuerfahndung solche Banditen heimgesucht? Rocker und andere Banditen sind stolz auf ihre Gesetzlosigkeit und schrecken auch vor der Einschüchterung von Zeugen und Richtern nicht zurück. Politiker vom sozialen Flügel möchten durch CD-Käufe mit Steuerdaten Steuerhinterzieher „zum Zittern bringen“. Dass sie Rocker zum Zittern bringen wollen, ist nicht bekannt. Dem Unwert der erwähnten Banden steht m. E. der Unwert von Banden gleich, deren einzige „Leistung“ darin besteht, dass sie Umsatzsteuer-Karussell fahren, eine reine Schmarotzertätigkeit. Wie steht es mit dem Wert und Unwert von Jugendlichen, die – wie Raubtiere – Hochbetagte zusammenschlagen und ausrauben, nicht ganz selten auch erschlagen. Wie verhält es sich mit den Banden, die sich auf den Diebstahl von Kupfer und anderen Metallen spezialisiert haben, die Dachrinnen und Metallzäune „abräumen“, ja sogar durch Diebstahl von Kabeln Bahnen vorübergehend stilllegen? Wie ist die erwähnte Hinterziehung von 10 000 Euro (von geschuldeten 100 000 Euro) zu bewerten im Vergleich zu dem Verhalten arbeitsfähiger, aber antriebsloser, arbeitsscheuer Arbeitsverweigerer, die sich vom Staat, d. h. von den steuerzahlenden Mitbürgern, aushalten lassen? Wir sollten auch bedenken, dass das Gros der Steuerhinterzieher nach der Erfahrung außer der Steuerhinterziehung keine Straftaten im Sinne des Strafgesetzbuches zu begehen pflegt, allenfalls gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt. Abgesehen von der Steuerhinterziehung pflegen diese Bürger strafrechtlich unbescholten zu sein. Freilich gibt es Ausnahmen, die diese Regel bestätigen. Steuerhinterzieher kann man nur sein, wenn man Steuern schuldet. Und Steuern schuldet man nur, wenn man durch Anstrengungen Einkommen erzielt oder Einkommen verwendet. Steuerhinterzieher haben durchweg eine Berufsausbildung erhalten, sie gehen einem Beruf nach und ernähren sich und ihre Familie aufgrund eigener Anstrengung und eigenen Einkommens. Sie hängen nicht am Tropf des Staates, d. h. der Steuerzahler. Steuerhinterzieher pflegen keine gemeingefährlichen Gewalttäter zu sein, vor denen man die Gesellschaft schützen müsste. 1755
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Es geht hier nicht darum, die Steuerhinterziehung zu verharmlosen und nicht zu sanktionieren. Vielmehr soll zum Nachdenken darüber angeregt werden, wie schwierig es ist, den Grad des Unwerts zu bestimmen. Da gibt es die Antwort: Maßstab müsse die Sozialschädlichkeit sein. Aber wie misst man die Sozialschädlichkeit? Eine Antwort lautet: Maßgeblich sei der Grad der Störung des Zusammenlebens. Es sind vor allem die Angehörigen der „nehmenden Hand“, die sich besonders über Steuerhinterziehung empören. Aber man sollte auch bedenken, dass das Gros der Steuerhinterzieher nicht die gesamte geschuldete Steuer dem Staat vorenthält. Im Allgemeinen besteht auch kein Bedürfnis dafür, Steuerhinterzieher „hinter Gitter“ zu bringen. Sie gefährden nicht die öffentliche Sicherheit. Die Freiheitsstrafe sollte gemeingefährlichen Gewalttätern vorbehalten bleiben. Steuerhinterzieher werden durch Freiheitsstrafen nur daran gehindert, ihrem Erwerb nachzugehen und dadurch Steuerschulden auszulösen. Wenn dem Staat Geld vorenthalten wird, so passt dazu die Geldstrafe oder eine andere Geldsanktion. M. Streck fragte schon 1999: „Warum stecken wir Leistungsträger dieser Gesellschaft in ein Gefängnis, wo sie nur Kosten verursachen, warum sagen wir nicht, sie könnten das Gefängnis dadurch vermeiden, dass sie den dreifachen Betrag der hinterzogenen Steuer zahlen? Wäre das nicht eher im Sinn des § 370 AO, der das Steueraufkommen sichern soll?“ 149 J. Weigell dazu: „Diese Frage hat aktuell nichts – aber auch gar nichts – an Brisanz verloren. Sie kann gar nicht oft genug wiederholt werden.“ 150 Schuldpönalisten könnten einwenden, M. Streck bringe keinen Gerechtigkeits-, sondern einen Zweckgesichtspunkt ein. Das hängt indessen davon ab, was man unter Gerechtigkeit versteht. Folgt man I. Kants Talionstheorie, so müsste die schuldhafte Vorenthaltung von Geld durch eine Geldstrafe ausgeglichen werden, die Vorenthaltung von viel Geld durch eine hohe Geldstrafe. Würden nur kleinere Beträge hinterzogen, so müsste es zulässig sein, statt der Strafe eine mildere Sanktion zu verhängen. Das Strafen bis hin zur Freiheitsstrafe könnte den besonders schweren Fällen vorbehalten werden. Eine „Umwertung“ aller Werte (Nietzsche) oder Unwerte wäre das m. E. nicht. Im Rechtsstaat sollte das Verhüten von Straftaten im Vordergrund stehen. Steuerstraftaten verhütet man durch möglichst gerechte (besteuerungsmoralische) Gesetze, die möglichst gleichmäßig entsprechend dem Kontrollbedürfnis vollzogen werden. Das Verhüten ist besser als die Produktion vieler Straftäter, von denen dann doch nur ein niedriger Bruchteil ermittelt werden kann. Vor allem die Produktion einzelner Sündenböcke ist nicht gerecht. 149 Harzburger Protokoll 1999, S. 83. 150 In: Festschrift für M. Streck, 2011, S. 609 f.
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Die Steuerhinterzieher sind nicht auffällig, fallen nicht als kriminell auf, sie sind in die Gesellschaft integriert, haben ein Ansehen, einen Ruf zu verlieren, wenn öffentlich wird, dass sie Steuern hinterzogen haben. Viele von ihnen fürchten sich weniger vor Strafe als vor dem Ansehensverlust. Steuerhinterzieher verursachen wenig Sanktionskosten im weiteren Sinne. Sie müssen nur in Extremfällen „hinter Gitter“. 151 Für sie entstehen keine Kosten für Maßregeln der Sicherung und Besserung. Steuerhinterzieher müssen nicht in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht werden, nicht in Erziehungsanstalten, nicht in der Sicherungsverwahrung. Sie benötigen keine Führungsaufsicht (s. §§ 61 ff. StGB). Steuerhinterzieher müssen nicht sozialtherapiert werden. Für sie müssen keine Steuerzahlermittel für erlebnispädagogischen Aufenthalt im Ausland verschwendet werden. Steuerhinterzieher pflegen nicht arbeitsscheu zu sein, daher ist es auch nicht angebracht, sie zu gemeinnütziger Arbeit zu verurteilen. Steuerhinterzieher sind eben alles in allem Delinquenten sui generis. Dass auch Staatsgewalten sich unwertig verhalten können, besteuerungsunmoralisch, pflegt nicht im Blickfeld von Staatsanwälten und Richtern zu liegen.
6. Zu ausgewählten strafprozessualen Grundsatzfragen Es wird hier nicht eine geschlossene Darstellung des finanzbehördlichen Steuerstrafverfahrensrechts (§§ 385 ff. AO) und auch keine Darstellung der für das Steuerstrafrecht geltenden Vorschriften der Strafprozessordnung (s. § 385 AO) geboten, sondern nur zu einigen ausgewählten aktuellen verfahrensrechtlichen Problemen Stellung genommen.
6.1 Kein Steuerpflichten-Erfindungsrecht von Staatsanwälten und Strafrichtern 152 Die steuerrechtlichen Verfahrenspflichten für Steuerpflichtige ergeben sich aus der Abgabenordnung und aus anderen Steuergesetzen. Diesen Pflichten dürfen Staatsanwälte und Strafrichter keine weiteren Pflichten hinzuerfinden, auch dann nicht, wenn sie das für erforderlich oder nützlich halten. Soweit Steuerlaien verpflichtet sind, Steu151 Ausnahmen sind insbesondere die unappetitlichen Existenzen, die als Berufsverbrecher in Banden handelnd am wirtschaftlichen Erfolg anderer schmarotzen. Da die Wirtschaft sie nicht braucht, ist die Justizvollzugsanstalt der richtige Aufenthaltsort für sie. 152 Die hier eingeschobene Stellungnahme gehört genau genommen in das materielle Steuerstrafrecht, wenngleich es sich um steuerrechtliche Verfahrenspflichten handelt.
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ererklärungen mit oder ohne Steuerberechnung abzugeben (s. §§ 149, 150 AO), verlangt das Gesetz von ihnen nicht, dass sie sich von einem Steuerberater 153 unterstützen lassen. Nach § 80 I AO kann sich ein Steuerlaie von einem Steuerberater betreuen oder vertreten lassen, er muss es aber nicht. Selbst wenn ein Steuerlaie sich ständig von einem Steuerberater betreuen lässt, darf in vielen Fällen nicht der Steuerberater, sondern nur der Laie die Steuererklärung unterschreiben (s. § 150 III AO). Der Steuerlaie hat seine Angaben nach bestem Wissen und Gewissen zu machen und schriftlich zu versichern, dass er dies getan hat, wenn der Erklärungsvordruck es vorsieht (§ 150 II AO). An Amtsstelle aufnehmen lassen dürfen Laien ihre Steuererklärung nur, wenn ihnen die Zuziehung eines Steuerberaters finanziell nicht zuzumuten ist (so die Auslegung des § 151 AO). Erkennt der Steuerlaie nachträglich, dass er eine unrichtige oder unvollständige Erklärung abgegeben hat, muss er die Erklärung berichtigen (s. § 153 AO). Nur, das Gros der Laien dürfte Unrichtigkeiten nicht erkennen können. Die Laien geben ihre Steuererklärung in Wirklichkeit nach „bestem Nichtwissen“ oder „bestem Unwissen“ ab. Steuerlaien müssen auch die Mitwirkungspflichten nach §§ 90 ff. AO erfüllen. Steuerlaien pflegen in der Regel keine Steuergesetze, keine Steuerrichtlinien und keine Rechtsprechungssammlungen zu besitzen; und besäßen sie sie, so würden sie sie wahrscheinlich nicht verstehen. Die den Steuererklärungsformularen beigefügten Erläuterungen sind in der Beamtensprache abgefasst und für Laien auch nicht durchgehend verständlich. „Für viele Steuerzahler“ – so der Bund der Steuerzahler – „stellen die amtlichen Steuerformulare . . . nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln dar.“ 154 Man muss die Formularverfasser allerdings in Schutz nehmen: Sie können zu einem komplizierten Gesetz kein einfaches Formular entwerfen. Und würden sie versuchen, das Gesetz in den Erläuterungen in die Umgangssprache zu übersetzen, so müssten die Erläuterungen nicht nur voluminös ausfallen, sie würden auch Gefahr laufen, den Gesetzesinhalt zu verändern. Die Wahrheitspflicht kann sich nur auf Tatsachen (Wissenserklärungen) beziehen, nicht auf Willenserklärungen und Rechtsauffassungen. Die Steuererklärungsvordrucke erfragen aber nicht nur Tatsachen, sondern verlangen quantifizierte Angaben über Besteuerungsmerkmale und -grundlagen. Die Angaben können nur dann korrekt sein, wenn die Tatsachen rechtlich richtig eingeordnet werden. Das kann man von einem Laien aber nicht erwarten. Durch „Gewissensanspannung“ kann kein Laie zur Erkenntnis des Inhalts von Steuergesetzen kommen. 153 Der Begriff wird hier pars pro toto für alle Angehörigen der steuerberatenden Berufe verwendet, eingeschlossen auch Angestellte in Steuerabteilungen großer Unternehmen. 154 Der Steuerzahler, Januar 2003, S. 5.
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Da die Abgabenordnung weder anordnet, ein Laie habe sich über Rechtsprechung und Richtlinien zu informieren, noch vorschreibt, er habe sich steuerlich beraten zu lassen, kann auch der Steuerstrafrichter das nicht verlangen. Steuerrechtlich wird ihm die Nichtberatung denn auch nicht als „grobes Verschulden“ im Sinne des § 173 I Nr. 2 AO angerechnet. Statt „Wissen ist Macht“ gilt hier „Unwissen ist Macht, gereicht zum Vorteil“. Abweichend davon wird im Steuerstrafrecht jedoch angenommen, ein Laie begehe leichtfertige Steuerhinterziehung, wenn er sich nicht über die Rechtslage informiere. Dabei wird von Unternehmern mehr verlangt als von Rentnern und anderen Nichtunternehmern. Eine solche Unterscheidung ist nicht gerechtfertigt. Soweit Steuerberater Steuerlaien betreuen oder vertreten, haben sie die Pflichten der steuerpflichtigen Laien zu erfüllen. Auch für Steuerberater gibt es in Steuergesetzen keine Vorschriften, die von ihnen verlangen, dass sie sich an die höchstrichterliche Rechtsprechung oder die Richtlinien der Finanzverwaltung halten müssten, oder dass sie die Finanzbehörden bei Abweichungen davon informieren müssten. Tatsächlich pflegen Steuerberater die für ihre Mandanten einschlägige 155 Rechtsprechung und die Richtlinien zu kennen, und das Gros der Steuerberater orientiert sich wohl auch daran. Das dürfte auch mit der von der Finanzverwaltung beeinflussten Steuerberaterausbildung zusammenhängen. Juristische Methodenlehre und die Unterscheidung zwischen Rechtsnormen und Verwaltungsvorschriften pflegt indessen nicht die Stärke nur ökonomisch vorgebildeter Steuerberater zu sein. Soweit Steuererklärungen von Steuerberatern vorbereitet oder abgegeben werden, spricht eine Vermutung für weitgehende Gesetzmäßigkeit der Erklärung, zumal Steuerberater fürchten müssen, in Steuerstrafverfahren verwickelt zu werden, in extremen Fällen Berufsverbot zu erhalten, wenn sie sich gegen die Steuergesetze vergehen. Die Stärke der Steuerberater liegt in der Ausnutzung aller legalen Steuerersparnismöglichkeiten zu Gunsten ihrer Mandanten. Als legalistische Steuervermeider leisten Steuerberater einen immensen Beitrag zur Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, wenn auch nicht unbedingt zu Steuergerechtigkeit. Dafür tragen aber nicht die Steuerberater, sondern trägt der Gesetzgeber die Verantwortung. 155 Soweit sich größere Steuerberaterpraxen nicht bereits spezialisiert haben, ist eine Spezialisierung auf die Mandantschaft nicht zu umgehen. Würden Steuerberater, Steuerbeamte und Steuerrichter alle Urteile, Verwaltungsvorschriften, Kommentare, Lehrbücher, Monographien und Aufsätze zum Steuerrecht und zu Nebengebieten lesen, verbliebe ihnen nicht nur keine Zeit mehr zum Vorbereiten von Steuererklärungen, bzw. zu Veranlagungen oder Außenprüfungen, zum Abfassen von Urteilen, sie hätten auch keine Zeit zum Schlafen.
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In der Literatur zum Steuerstrafrecht indessen wird durchaus gelehrt: Steuerberater hätten sich an die einschlägige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs und an die Richtlinien der Finanzverwaltung zu halten. Abweichungen von der Rechtsprechung oder den Richtlinien müssten sie in der Steuererklärung offenbaren. Könnten sie etwas auch nicht mit Hilfe der Fachliteratur klären, müssten sie sich an die Berufsorganisation, an andere Fachleute oder an das Finanzamt wenden. Von Steuerberatern müsse man mehr erwarten als von Laien. So wenig wie von Laien verlangen Gesetz und Steuererklärungsformulare indessen von Steuerberatern, dass sie Abweichungen von Rechtsprechung oder Richtlinien kenntlich machen müssten. Ob ein Kommentator oder der Richter eine solche Offenlegung für sinnvoll, für zweckmäßig hält, ist unerheblich, so lange das Gesetz eine Offenbarungspflicht nicht anordnet. Wer von Steuerbürgern oder ihren Beratern etwas verlangt, muss darlegen können, aus welcher Norm des Steuerrechts er das Verlangen ableitet. Wie übrigens soll verfahren werden, wenn die Rechtsprechung verschiedener Senate divergiert? Wo soll die Abweichung offen gelegt werden? In einer Anlage zur Steuererklärung? Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferd. Kirchhof vertritt dazu die Auffassung: „Letztlich müssen alle vernünftigen rechtlichen Bewertungen eines erklärungspflichtigen Steuerbürgers in den interpretationsfähigen Grauzonen der Steuergesetze von Sanktionen freigehalten werden . . . Die Meinung, dass er in seinen Erklärungen in der Regel der Auffassung der Finanzverwaltung zu folgen habe und Abweichungen davon aufdecken müsse, lässt sich verfassungsrechtlich aber nicht mehr halten.“ 156 M. E. lässt es sich auch nicht rechtfertigen, zwischen Laien-Steuerpflichtigen und fachberatenen Steuerpflichtigen zu unterscheiden. Das führt weg von gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit hin zu ungleichmäßiger Steuerbelastung entsprechend der unterschiedlichen Vorbildung und Erfahrung. Wegen Gesetzesmängel dürfen nicht Steuerpflichtige bestraft werden, vielmehr sollten Steuerstrafrichter wegen solcher Mängel den Gesetzgeber rügen. Ausführlicher über Laien-Steuerpflichten oben S. 1419, 1725 ff. 6.2 Über Verständigung im (Steuer-)Strafrecht Am 5. 8. 2009 wurde das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren (kurz: Verständigungsgesetz) verabschiedet. 157 Danach können Strafprozesse nicht nur durch streitiges Verfahren, sondern auch durch Verständigung als gleichwertige Methode erledigt werden. 156 Ferd. Kirchhof, StuW 2002, 185, 195. 157 BGBl. 2009 I, 2353.
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Zum besseren Verständnis des Verständigungsgesetzes und seines nicht durchweg klar ausgesprochenen Anliegens empfiehlt sich ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung der strafrechtlichen Verständigung: Verständigungen – vor dem Verständigungsgesetz wurde durchweg von Absprache oder Deal gesprochen – wurden etwa seit Beginn der 1970er Jahre praktiziert, insbesondere, aber nicht nur in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen. Das geschah praeter oder contra legem. Sie wurden daher strikt vertraulich behandelt und im Hauptverhandlungsprotokoll nicht erwähnt. Die Verständigung pflegte darin zu bestehen, dass der Straftäter ein Geständnis ablegte und auf eine Sachaufklärung mit Beweisaufnahme (s. § 244 I, II StPO) verzichtete. Als „Gegenleistung“ gewährte das Gericht eine Strafmilderung, einen „Strafrabatt“. Wie hoch dieser Rabatt werden würde, konnten die Täter in der Absprache erfahren. Allerdings bezichtigten sich Staatsanwälte und Richter auf der einen Seite sowie Strafverteidiger auf der anderen Seite, sie seien zur Absprache gedrängt worden. Auch wurde über Absprachemissbrauch durch die so genannte Sanktionsschere geklagt, bestehend darin, dass Richter abspracheunwillige Täter dadurch absprachewillig machten, dass sie diese wissen ließen, um wie viel höher die Strafe ausfallen würde, wenn sie nicht in die vorgeschlagene Absprache einwilligen würden. 158 Durch Urteil v. 28. 8. 1997 befasste sich erstmals der 4. BGH-Strafsenat grundsätzlich mit der Abspracheproblematik. 159 Der Senat entschied: Absprachen seien nur wirksam, wenn die Aufklärungspflicht des Gerichts unangetastet bleibe, wenn kein inhaltsleeres Formalgeständnis abgelegt werde, wenn der Schuldspruch nicht in die Absprache einbezogen werde, wenn die freie Willensentschließung des Angeklagten gewahrt bleibe, wenn kein Rechtsmittelverzicht vereinbart werde, wenn die Absprache in öffentlicher Hauptverhandlung zustande komme und wenn sie im Verhandlungsprotokoll festgehalten werde, wenn die Strafe trotz Milderung schuldangemessen bleibe. Der Große Senat des Bundesgerichtshofs schloss sich dem erwähnten Urteil im Wesentlichen an. 160 Der Große Senat bemühte sich aber auch um eine Legitimation der Absprache durch richterliche Rechtsfortbildung. Er sah sie in der Pflicht zur Sicherstellung einer „funktionstüchtigen Strafrechtspflege, die von den Organen der Strafjustiz unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen ohne Absprachen nicht erfüllt werden“ könne. 161 Abschließend ap158 Über einen Missbrauchsfall berichtet auch K. Tipke, in: Gedächtnisschrift für Chr. Trzaskalik, 2005, S. 5 f. 159 BGHSt 43, 195, 204 f. 160 BGHSt (GrS) 50, 40, 52 ff. 161 BGHSt (GrS) 50, 40, 53 f. Kritisch zu dieser Rechtfertigung Th. Fischer, NStZ 2007, 433, 434.; s. auch ders., StraFo 2009, 177, 185.
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pellierte der Große Senat an den Gesetzgeber, die Zulässigkeit sowie eventuell die wesentlichen rechtlichen Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. 162 Der Appell des Großen Senats wurde 2009 schließlich vom Gesetzgeber erhört. 163 Das Verständigungsgesetz von 2009, eingeführt in die Strafprozessordnung als § 257 c, hat folgenden Wortlaut: (1) Das Gericht kann sich in geeigneten Fällen mit den Verfahrensbeteiligten nach Maßgabe der folgenden Absätze über den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens verständigen. § 244 Abs. 2 bleibt unberührt. (2) Gegenstand dieser Verständigung dürfen nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. Bestandteil jeder Verständigung soll ein Geständnis sein. Der Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen nicht Gegenstand einer Verständigung sein. (3) Das Gericht gibt bekannt, welchen Inhalt die Verständigung haben könnte. Es kann dabei unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen auch eine Über- und Untergrenze der Strafe angeben. Die Verfahrensbeteiligten erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Verständigung kommt zustande, wenn Angeklagter und Staatsanwaltschaft dem Vorschlag des Gerichts zustimmen. (4) Die Bindung des Gerichtes an eine Verständigung entfällt, wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist. Gleiches gilt, wenn das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichts zugrunde gelegt worden ist. Das Geständnis des Angeklagten darf in diesen Fällen nicht verwertet werden. Das Gericht hat eine Abweichung unverzüglich mitzuteilen. (5) Der Angeklagte ist über die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichtes von dem in Aussicht gestellten Ergebnis nach Abs. 4 zu belehren.
Die Urteile über die Bedeutung des Verständigungsgesetzes fallen ziemlich weit auseinander. Staatsanwälte und Richter pflegen das Gesetz zu begrüßen, soweit sie es nicht vorgezogen hätten, an der „informellen“ (nicht gesetzlich geregelten) Verständigung festzuhalten. Auch Tatrichter (Instanzrichter) und Revisionsrichter stimmen 162 BGHSt (GrS) 50, 40, 64. 163 Ausführlicher Rückblick in die Entwicklung der Absprache bei U. Murmann, ZIS 2009, 526 ff.; R. Schlotthauer/J. Wieder, StV 2009, 600 f. („Von Mauschelhausen nach Berlin“); Th. Weigend, in: Festschrift für M. Maiwald, 2010, S. 829 ff.; D. Sauer, Konsensuale Verfahrensweisen im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2008; M. Jahn/M. Müller, NJW 2009, 2625 f. („Vorgeschichte“). Wie sehr es sich um eine Kernfrage des Strafprozessrechts handelt, wird auch dadurch demonstriert, dass zu dem Thema „Absprachen“ („Verständigungen“) bis 2009 mehr als 100 Beiträge veröffentlicht worden sind (s. Niemöller, GA 2009, 172, 173 mit Fußn. 14).
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nicht durchweg überein. Strafverteidiger (nicht alle) hätten es lieber gesehen, wenn durch das Gesetz etwa vorgeschrieben worden wäre: „Kommt es zu einem Konsens zwischen Staatsanwalt, Richter und Angeklagtem (Verteidiger), so soll dieser Konsens tatsächlich und rechtlich verbindlich sein. Die vereinbarte Strafe soll als gerecht gelten.“ Das nennt man „konsentierte Gerechtigkeit“. Die Hauptkritik kommt von Strafrechtswissenschaftlern. Soweit sie nicht an den traditionellen Grundlagen des Strafprozessrechts festhalten wollen, kritisieren sie die Legalisierung eines strafprozessualen Dualismus: auf der einen Seite Wahrheitssuche von Amts wegen entsprechend § 244 I 2, II StPO, auf der anderen Seite Verständigung durch Geständnis und Verzicht auf eine Beweisaufnahme. Einige Beispiele: Das Verständigungsgesetz „ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Durch seine Vorschriften wird die Urteilsabsprache als grundsätzlich gleichberechtigte und gleichwertige Erledigung neben dem streitigen Verfahren anerkannt.“ (M. Jahn/M. Müller, NJW 2009, 2625, 2631). „Der an die Leitlinien des BGH anknüpfende Versuch des Gesetzgebers, die Absprache in das überkommene Strafprozessrecht zu integrieren, setzt falsch an, führt notwendigerweise zu Widersprüchen, löst die zentralen Probleme nicht . . .“ (K. Altenhain/M. Haimerl, JZ 2010, 327). „Der . . . Amtsaufklärungsgrundsatz . . . einer systemgerechten Integrierung der bisherigen Absprachepraxis im Wege. Somit ist ein Festhalten am Amtsaufklärungsgrundsatz nicht das taugliche Mittel, um die gegenwärtige Krise des Strafverfahrens zu bewältigen . . .“ (G. Fezer, NStZ 2010, 177, Schlussbemerkung). „Die Regelung treibt eine Fehlentwicklung voran, und es ist abzusehen, dass sie einen erheblichen Verlust an Rechtsstaatlichkeit bewirken wird“ (U. Murmann, ZIS 2009, 526).
Schon recht früh hatte sich gezeigt, dass der Versuch, die Praxis der Urteilsabsprachen richterlich oder gesetzlich zu verbieten 164, „angesichts des gemeinsamen Interesses von Justiz und Staatsanwaltschaft daran, ‚kurzen Prozess‘ zu machen, illusionär gewesen wäre. „Ein solches Verbot hätte die Absprachenpraxis nicht beendet, sondern in den Untergrund getrieben und die Situation einer rechtswidrigen Justiz geschaffen.“ 165 Stellungnahme: Es scheint kaum möglich zu sein, eine Brücke zu schlagen zwischen der Auffassung, es müsse strikt an den traditionellen Prinzipien des Strafprozessrechts festgehalten werden, und den Apologeten der Erledigung durch Verständigung. Soweit Strafrechtslehrer am traditionellen Strafprozessrecht festhalten wollen, übergehen sie, dass die Zahl der Straftaten sich im Laufe der Zeit erheblich 164 Dafür M. Harms, in: Festschrift für Nehm, 2006, S. 289, 296; W. Pfister, StraFo 2006, 349, 354. 165 Th. Weigend, in: Festschrift für M. Maiwald, 2010, S. 829.
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erhöht hat, dass aber auch die technischen Mittel der Sachaufklärung verbessert worden sind. Die Ermittlung der Wahrheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kann – zumal in Steuer- und Wirtschafts-Strafsachen – sehr zeitraubend sein. Steuerbeamte, die für eine einzelne Einkommensteuerveranlagung im Durchschnitt nur 20 bis 30 Minuten zur Verfügung haben, wundern sich, wenn sie lesen, dass ein wegen Mordes geführter Strafprozess Monate, wenn nicht gar ein ganzes Jahr dauern kann. Nun sind das Besteuerungsverfahren und der Strafprozess nicht miteinander zu vergleichen. Im Besteuerungsverfahren geht es nur um Geld, nicht um Schuld und Strafe, vor allem nicht um Freiheitsstrafe. Und die Steuerbürger und ihre Berater haben bei der Sachaufklärung mitzuwirken und tun das in aller Regel auch. Im Strafprozess hingegen darf der Angeklagte die Aussage verweigern. Statt Kooperation gibt es im Strafverfahren oft Obstruktion. Strafverteidiger prüfen die Zuständigkeit des Gerichts, die ordnungsmäßige Besetzung der Gerichtsbank, viele Strafverteidiger sind schnell mit Befangenheitsablehnung bei der Hand und stellen gern immer neue Beweisanträge. So kann es passieren, dass nach einer Woche der Steuersachbearbeiter 15 Einkommensteuerveranlagungen erledigt, der Staatsanwalt aber noch nicht in der Lage war, die Anklageschrift zu verlesen. 166 War ein Richter oder eine Richterin für einige Minuten zum Telefon im Nebenraum verschwunden, ohne dass der Vorsitzende die Verhandlung formell unterbrach, statt dieses Ereignis protokollieren zu lassen, so gibt es Strafverteidiger, für die das schon ein Revisionsgrund ist. Es pflegt nicht erwähnt zu werden, dass die Hauptverantwortlichen für die Situation sowohl des Besteuerungsverfahrens als auch des Strafprozesses – in beiden Fällen wird von Krise gesprochen – zum einen der Gesetzgeber ist, der nicht willig oder fähig ist, prinzipiengerecht und zeitgemäß zu reformieren, zum anderen die Budgetverantwortlichen es sind, die der Finanz und der Justiz nicht die erforderlichen finanziellen Mittel für das erforderliche Personal bewilligen. Die Strafprozessordnung von 1877 (mit vielen Detailregelungen und -änderungen) lässt sich nur unter großem Personalaufwand umsetzen. Für eine Personalvermehrung lassen sich aber die Haushälter im Parlament schwer gewinnen. Das gilt selbst für das Personal der Finanzämter (die doch die Staatskasse füllen sollen). Auch die Finanzbeamten können nicht umsetzen, was sie nach dem Gesetz umsetzen sollen. Universitätsprofessoren, die auch überlastet sind, werden, statt dass das Personal vermehrt wird, gern auf von ihnen einzuwerbende Drittmittel verwiesen. Abgeordnete und vor allem Haushälter können bewirken, dass der Gesetzesvollzugsauftrag und 166 Dazu auch W. Pfister, Rechtsmissbrauch im Strafprozess, StV 2009, 550 ff. mit Erwiderung von W. Beulke StV 2009, 554 ff.
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die Vollzugswirklichkeit weit auseinander klaffen. Im Steuerstrafprozess kommt aber entscheidend hinzu, dass die Gerichte es durchweg nicht mit einem Einzelfall zu tun haben, sondern – zumal im Anschluss an Außenprüfungen oder Steuerfahndungen – mit Fallkomplexen, die sich über mehrere Jahre hinziehen können. In solchen Prozessen ist eine gründliche Sachaufklärung in allen Punkten in angemessener Zeit gar nicht möglich. Damit die Rechtspflege irgendwie „funktionstüchtig“ bleibt, wird mit den Verfahrensordnungen so umgegangen, dass die anhängigen Fälle irgendwie erledigt werden. Der Druck trifft nicht etwa nur die Strafjustiz, sondern auch die Ziviljustiz. Auch Zivilrichter drängen oft auf einen Vergleich, um die Zeit für das Absetzen eines Urteils mit Gründen zu ersparen. Der Vergleich ist allerdings zivilrechtlich kein Fremdkörper; schon das römische Recht kannte ihn. Auch ist bekannt, dass Zivilrichter wohl schon immer auf Vergleiche gedrängt haben. 167 Wenn zwei verschiedene Verfahrensarten praktiziert werden, die zu verschiedenen Ergebnissen führen können, so liegt der Einwand nahe, dass der Gleichheitssatz verletzt werde. Zu den Gegnern des Deal gehört der Verfassungsrichter Herbert Landau. Er zweifelt an der Verfassungsmäßigkeit des Deal: Die Täter würden je nach Delikt ungleich behandelt. Der Deal führe zu Abstrichen bei der Erforschung der objektiven Wahrheit. Überlastung der Strafgerichte und Prozessökonomie könnten Absprachen nicht rechtfertigen. Durch sie werde Feuer an die Fundamente der Strafrechtspflege gelegt. 168 Das Bundesverfassungsgericht könnte Verständigungen, wenn es denn angerufen würde, für verfassungswidrig erklären. – Würde dann aber nicht das Personal der Strafjustiz gehörig vermehrt, so würde das erst recht in die Ungleichmäßigkeit des Strafens führen. Es würden dann nämlich nur wenige Fälle nach alter Art erledigt werden, das Gros der Fälle aber bliebe unerledigt liegen. Das würde die Fundamente der Strafrechtspflege erst recht erschüttern. Straftäter und ihre Verteidiger, Staatsanwälte und Instanzrichter scheinen überwiegend mit der Möglichkeit der Verständigung zufrieden zu sein, nicht aber alle Strafrechtslehrer und nicht alle Revisionsrichter und Verfassungsrichter. Der Strafrechtslehrer Th. Weigend beschreibt die Gegenwartstendenz des Gesetzgebers so: „Die gesetzliche Etablierung des Verständigungsverfahrens passt zu einer Gesamttendenz des modernen Strafverfahrensrechts, deren Konturen hier nur noch skizziert werden können: Aus der altmodisch-sorgfältigen Aufklärung 167 So wird von einem Amtsrichter berichtet, der vergleichsunwillige Parteien im Winter an den heißen Ofen habe platzieren lassen. Wenn er sie dann aus der Ofenhitze zurückgerufen habe, habe er gedroht: „Wenn Sie jetzt keine Vernunft annehmen und sich nicht vergleichen, lasse ich den Stein-Jonas (ein bekannter ZPO-Kommentar) hereinholen.“ 168 FAZ v. 1. 7. 2011.
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts eines Sachverhalts und der öffentlichen Verhandlung aller für Schuld und Strafe wesentlichen Gesichtspunkte werden für den Regelfall die geräuschlose administrative Erledigung strafrechtlicher Fälle. Nicht mehr auf das ostentative Zelebrieren von Gerechtigkeit kommt es an, sondern auf effiziente, schleunige und kostengünstige ‚Erledigung‘ von Strafsachen. Was zählt, ist das Ergebnis, nicht der Prozess. Bevorzugt wird daher die Erledigung in dem wenig formalisierten Ermittlungsverfahren gegenüber der Präsentation und Aburteilung des Falles in einer öffentlichen Hauptverhandlung. Tatsächlich gelangen schon heute nur noch rund 14 Prozent aller Fälle, die die Polizei der Staatsanwaltschaft mit einem ermittelten Verdächtigen präsentiert, in eine Hauptverhandlung. In den übrigen Fällen verwendet die Staatsanwaltschaft eine der zahlreichen Optionen, die ihr die Strafprozessordnung für eine Erledigung ohne Hauptverhandlung zur Verfügung stellt (Verfahrenseinstellung nach §§ 170 II oder 153 ff. StPO, Strafbefehl) . . . Zusammenfassend kann man sagen, dass die erkennbare Tendenz des deutschen Strafverfahrens in die Richtung eines effizient organisierten, geräuschlosen und für die Öffentlichkeit weitgehend verborgenen professionell betriebenen Verwaltens der Fälle geht. Der Beschuldigte und sein Verteidiger werden in diesen Prozess so weit einbezogen wie dies notwendig ist, um ihre Unterwerfung unter das schließlich gefundene Verfahrensergebnis herbeizuführen. Die dramatische öffentliche Darstellung von Schuld und Strafe in der Gerichtsverhandlung ist bereits jetzt die statistische Ausnahme und wird in Zukunft noch seltener werden. Von den wenigen Fällen, die überhaupt das Stadium der Hauptverhandlung erreichen, dürfte nur noch ein kleiner Prozentsatz – die Fälle hartnäckigen Dissenses über das Ob und Wieviel der Schuld des Angeklagten – in einem ‚streitigen‘ Verfahren entsprechend dem traditionellen Modell der Strafrechtsordnung abgearbeitet werden. Dies sind dann eher Betriebsunfälle als Paradebeispiele einer effizient ‚funktionierenden‘ Strafjustiz.“ 169
M. E. geht es nicht wirklich um „altmodisch“ oder „modern“, auch nicht um tendenzielle Abneigung gegen Sachaufklärung, sondern darum, dass die sorgfältige Aufklärung sehr vieler sich zeitlich oft über Jahre erstreckender Straftaten und eine Zeremonie um Schuld, Strafe und Sühne den Haushalt unverhältnismäßig belasten. Viele Straftäter pflegen nicht daran interessiert zu sein, dass ihre Taten ins Licht der Öffentlichkeit gestellt werden. Sie ziehen der Öffentlichkeit die „geräuschlose Erledigung“ im Verborgenen vor. 170 Das Verständigungsgesetz legalisiert für den Strafprozess unter bestimmten Voraussetzungen die Verständigung. 171 169 Th. Weigend, in: Festschrift für M. Maiwald, 2010, S. 845, 846. 170 Es gibt zu viele Straftäter und Straftaten. Nur das Fernsehen versucht, die Wirklichkeit noch zu überbieten, indem es Kriminalität zu einem Hauptunterhaltungsgegenstand macht, sie in Wirklichkeit nicht ernst nimmt. Zugleich erweckt das Fernsehen den Eindruck, dass Kriminalität das Normale und Rechtschaffenheit die Ausnahme sei (die vor allem für Bundespräsidenten in Betracht kommt). 171 Absprachen oder Verständigungen gibt es auch im Besteuerungsverfahren freilich ohne besondere gesetzliche Grundlage. Die Parallelen zur strafrechtlichen Verständigung sind nicht zu übersehen.
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Zu ausgewählten strafprozessualen Grundsatzfragen
§ 257 c StPO schafft einen Verfahrensdualismus. Grundsätzlich sollen die Verfahrensmaximen der Strafprozessordnung weiterhin gelten. Die Legalisierung der Verständigung durch § 257 c StPO durchbricht aber die allgemeinen StPO-Vorschriften als Ausnahme. In der Praxis dürfte die Ausnahme allerdings zur Regel werden. Oder will der Gesetzgeber in Wirklichkeit den erwähnten Dualismus gar nicht? Er irritiert jedenfalls dadurch, dass § 257 c I 2 StPO vorschreibt, dass § 244 II StPO unberührt bleibt. Dadurch entsteht nach verbreiteter Meinung ein Konflikt. Man könne nicht beides haben: die Verständigung und das Verfahren nach § 244 II StPO. Der Gesetzgeber wird wohl abwarten, wie der Bundesgerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht die von der Kritik 172 m. E. zu Unrecht angenommene Inkompatibilität auflöst. Der Hinweis auf § 244 II StPO macht m. E. Sinn, wenn man ihn so versteht, dass er nicht stets angewendet werden muss, sondern dass das Gericht das Recht hat, ihn anzuwenden, wenn das der Klärung der Voraussetzungen der Verständigung dient, weil die Aktenlage daran zweifeln lässt. Hinzuweisen ist auch auf das „bleibt unberührt“-Verständnis der §§ 159, 160 AO. Die Praxis wird sich wohl damit behelfen, dass sie § 257 c I 2 StPO nicht beachtet. Das ist m. E. für den Regelfall zu billigen. Da der Gesetzgeber die Verständigung will, diese aber durch allgemeine Anwendung des § 257 c I 2 StPO ihre Substanz verlieren würde, muss der „Widerspruch“ m. E. dadurch aufgelöst werden, dass § 244 II StPO nur ausnahmeweise angewendet werden soll, z. B. um Geständnisse auf ihre Plausibilität zu prüfen. Dem Leser des § 257 c StPO fällt zunächst auf, dass das Gericht in Sachen Verständigung die Verfahrensherrschaft hat. Das Gericht kann sich mit den Verfahrensbeteiligten verständigen (Absatz 1). Das Gericht gibt bekannt, welchen Inhalt die Verständigung haben könnte (Absatz 3). Die Bindung des Gerichts (nicht die des Angeklagten und des Staatsanwalts) ist sehr locker (s. Absatz 4). Das ist so, weil ausschließlich Strafgerichte entlastet werden sollen. Nur, das Gericht, das sich durch ein Geständnis des Angeklagten entlasten will, braucht nicht nur die Zustimmung der Staatsanwaltschaft (die in der Regel das gleiche Entlastungsinteresse hat wie das Gericht), sondern auch die Zustimmung des Angeklagten bzw. des Verteidigers. Ein
172 G. Fezer meint: „Es mutet fast skurril an, wie der Gesetzgeber versucht, auf sprachlicher Ebene eine Vereinbarkeit der begrenzten Geständnisüberprüfung mit dem Untersuchungsgrundsatz zu formulieren, die es auf sachlicher Ebene beim besten Willen nicht geben kann.“ (NStZ 2010, 177). U. Murmann: Verständigung und Aufklärungspflicht sind nicht kompatibel (ZIS 2009, 532 re.), „Heuchelei“ (ZIS 2009, 534 re.). M. E. verstehen die Kritiker das „bleibt unberührt“ falsch (s. Text).
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts
verständiges Gericht wird den Verständigungsvorschlag mit den Beteiligten erörtert haben, bevor es ihn bekannt gibt. Nach § 257 c I StPO kann das Gericht nur in geeigneten Fällen eine Verständigung vorschlagen. Hier wird ein unbestimmter Rechtsbegriff („geeignet“) mit einer Ermessensermächtigung verbunden, d. h.: Auch in Fällen, die sich zur Verständigung eignen, kann das Gericht von einem Verständigungsvorschlag absehen. Ein Ermessensrichtmaß gibt das Gesetz dazu nicht an. Das hat zur Folge, dass die Grenzen zur Willkür schwer auszumachen sind. Die Eignung (besser wäre: die Notwendigkeit) muss unter dem Aspekt der Rechtfertigung der Verständigung gesehen werden. Es dürfen jedenfalls nicht willkürlich die einen Angeklagten hierhin, die anderen Angeklagten dahin sortiert werden. Die Gerichte werden die Eignung vermutlich vom Entlastungsgrad abhängig machen. § 257 c StPO definiert nicht, was unter einer Verständigung zu verstehen ist. Allgemein wird angenommen, dass beide Seiten einander entgegenkommen müssen. § 257 c StPO sagt immerhin, worüber die Verfahrensbeteiligten sich verständigen dürfen und worüber nicht. Im Übrigen heißt es: „Bestandteil der Verständigung soll ein Geständnis sein“; auch das Prozessverhalten wird genannt. Herkömmlich pflegt sich das Gericht dadurch zu entlasten, dass es keine Sachaufklärung betreibt – über das hinaus, was es den Akten entnehmen kann. Auch mit komplizierten Rechtsfragen quält man sich nicht ab, mit Verfassungsfragen schon gar nicht. Mit einer mäßigen Rechtskompetenz kommt der Richter also aus. Aber nirgends steht expressis verbis, wodurch das Gericht dem geständigen Angeklagten entgegen kommen muss. Es heißt nur, dass das Gericht eine Ober- und Untergrenze der Strafe angeben kann. Die Eingeweihten wissen, wozu diese Angaben dienen. Offenbar haben die Gesetzesformulierer sich gescheut, den Klartext zu wählen. Herkömmliche Praxis ist, dass der Angeklagte einen Strafnachlass (Strafrabatt, Strafmilderung) erhält. Überhaupt ist es in Strafsachen üblich, dass Angeklagte, die gestehen und dem Richter keine Aufklärungsarbeit aufnötigen, als Belohnung eine mildere Strafe bekommen – wegen „seines Verhaltens nach der Tat“ (s. § 46 II StGB). Unerfreulich ist und bleibt, dass im Verständigungsverfahren der Ausgang in erheblichem Umfang vom Verhandlungsgeschick des Verteidigers abhängt. § 257 c IV StPO will immerhin verhindern, dass es zu einer Strafe kommt, die „nicht tat- und schuldangemessen ist“. Von einer „Strafgerechtigkeit“, die allein die Verfahrensbeteiligten bestimmen, will der Gesetzgeber also nichts wissen. Eine „konsensualisierte Strafgerechtigkeit“ soll es nicht geben.
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Zu ausgewählten strafprozessualen Grundsatzfragen
Nach § 257 c StPO gilt nicht: Pacta sunt servanda. Selbst bei einem Übersehen bedeutsamer rechtlicher oder tatsächlicher Umstände, entfällt die Bindung des Gerichts zum Zwecke der Sicherung einer tatund schuldangemessenen Strafe. Wer die Verständigung nach § 257 c StPO für verfehlt hält, aber auch nicht zum traditionellen Strafverfahren zurückkehren will, muss konkrete Reformvorschläge machen. Für das Steuerstrafverfahren, um das es hier geht, hat R. Seer solche Vorschläge gemacht (s. S. 1779 ff.) Der Gesetzgeber könnte zur Einsparung von Personal das materielle und das formelle Recht reformieren; er könnte es rechtsrationalisieren und vereinfachen. Der Gesetzgeber ist aber reformscheu, und zwar nicht nur im Bereich des Steuerrechts. Daher sucht er sein Heil überall in der Flucht in Verständigungen (Absprache, Deal). Gutes Verhandlungsgeschick mag daher immer wichtiger werden, wichtiger als gediegene juristische Kompetenz. Auch wenn es um den „Handel mit Gerechtigkeit“ geht. Die Politik will nicht den Rechtsstaat aushöhlen. Der ideale Rechtsstaat ist ihr aber aus fiskalischen Gründen zu teuer. Daher sieht sie sich gezwungen, zu Juristerei light überzugehen und eine rechtsstaatliche Hülle zu erhalten. Auch fiskalische Not kennt eben kein Gebot. 6.3 Der Fiskalzweck heiligt nicht jedes Aufklärungsmittel Der Fiskalzweck heiligt im Rechtsstaat nicht jedes Mittel der Sachverhaltserforschung. Es ist kein Grundsatz der Strafprozessordnung, dass die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müsste. Vor allem dürfen nicht rechtsstaatswidrige oder rechtsstaatlich bedenkliche Mittel angewendet werden, wenn rechtsstaatliche Mittel zur Verfügung stehen. § 136 a I StPO, der Ausfluss des Schutzes der Menschenwürde ist, bestimmt: Die Freiheit der Willensentscheidung und der Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht beeinträchtigt werden durch Misshandlung, durch Ermüdung, durch körperlichen Eingriff, durch Verabreichung von Mitteln, durch Quälerei, durch Täuschung oder durch Hypnose. Zwang darf nur angewendet werden, soweit das Strafverfahrensrecht dies zulässt. Die Drohung mit einer nach seinen Vorschriften zulässigen Maßnahme und das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils sind verboten.
Der Verstoß gegen § 136 a I StPO führt zu einem Verwertungsverbot (§ 136 a III StPO). Was im Steuerstrafverfahren allenfalls denkbar wäre, wäre die Beeinträchtigung der freien Willensentscheidung durch Täuschung und unzulässige Drohungen. 1769
§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts
Nicht einheitlich beantwortet wird die Frage, ob die Steuerstrafbehörden Beweismittel verwerten dürfen, die sie gegen Entgelt (Belohnung) erworben haben, zumal von jemandem, der diese durch strafbare Handlung an sich gebracht hat. Die Frage lässt sich mit Hilfe des § 136 a StPO nicht beantworten. Sie wurde schon Ende der 1990er Jahre diskutiert. Damals hatte ein anonymer Anrufer der Steuerfahndungsstelle in Saarbrücken Unterlagen angeboten, die 270 deutsche Steuerpflichtige mit einem Depot in Luxemburg betreffen sollten. Der Informant verlangte dafür 500 000 DM. Die Kritiker argumentierten, „Fangprämien für Denunzianten“, „Kopfgeld für Steuersünder“ seien eines Rechtsstaates unwürdig. Das Denunziantentum dürfe nicht gefördert werden. Wie im NS-Staat und in der DDR geschehen, werde durch die Förderung des Denunziantentums die Vertraulichkeit verletzt, würden die Grundlagen menschlicher Beziehungen beeinträchtigt, hier im fiskalischen Interesse. 173 Finanzminister H. Schleußer (Nordrhein-Westfalen) erinnerte damals daran, dass die „Kapitalflucht im großen Stil“ hätte verhindert werden können. „Aber der Staat wollte keine Kontrolle, die politische Mehrheit wollte keine Kontrollmitteilungen der Banken, und sie wollte keine Abgeltungssteuer. Wenn der Staat bewusst auf Kontrollen verzichtet, kann er nicht anschließend Informanten oder Denunzianten honorieren. Das passt nicht zusammen.“ 174 Die Finanzministerkonferenz beschloss daher, von der „Luxemburger Offerte“ keinen Gebrauch zu machen. Im Jahre 2008 wurde die rechtliche und moralische Seite des „bezahlten Informantentums“ erneut problematisiert. Anlass war ein Liechtenstein-Fall. Ein früherer Angestellter der liechtensteinischen LGT-Bank hatte dem deutschen Nachrichtendienst eine CD-ROM mit Bankinterna angeboten, aus denen sich der Verdacht ergeben sollte, dass zahlreiche Deutsche Steuern hinterzogen hätten. Der deutsche Nachrichtendienst gab das Material an die Steuerfahndung weiter, die wiederum Kontakt zum Bundesfinanzministerium aufnahm; dies deshalb, weil der Informant 4,2 Mio. Euro verlangte. Das Bundes173 Uwe H. Schneider, Handelsblatt v. 20. 1. 1998, S. 2. 174 DER SPIEGEL 10/1998, S. 96. 1991 beschrieb DER SPIEGEL unter dem Titel „Milliarden auf der Flucht“ (Nr. 27/1991), wie vor allem nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1991 (E 84, 239) eine Massensteuerflucht in die Schweiz und andere Steueroasen einsetzte. Wohl nur eine Minderheit versteuerte vor 1991 ehrlich die Einkünfte aus Kapitalvermögen. Diese Ehrlichen waren die Dummen. Der Bundesrechnungshof hatte bei der Überprüfung von Erbschaftsteuerfällen (die Banken müssen Kapitalvermögen von Erblassern an die Finanzämter melden) festgestellt, dass etwa 80 Prozent der Kapitaleinkünfte nicht versteuert worden waren. Diesen Zustand wollte das Bundesverfassungsgericht beenden. So kam es zur Massensteuerflucht, die der Staat unter Finanzminister Th. Waigel geschehen ließ.
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Zu ausgewählten strafprozessualen Grundsatzfragen
finanzministerium unter der Leitung des Ökonomen Peer Steinbrück hatte keine rechtlichen Bedenken gegen die Zahlung, weil sie damit rechnen konnte, von den enttarnten Steuerhinterziehern eine viel höhere Summe vereinnahmen zu können. Dem „Datendieb“, dem Kriminellen Heinrich Kieber, wurde durch gefälschte deutsche Pässe zu einer neuen Identität verholfen. Aus der überlassenen CD-ROM leiteten Steuerfahndung und Staatsanwaltschaft den Verdacht ab, u. a. der prominente Vorstandsvorsitzende der Post AG, Klaus Zumwinkel, habe als Großverdiener in großem Umfang Steuern hinterzogen. Daher wurde eine Durchsuchung im Hause des Verdächtigen und seine Verhaftung angeordnet. Das Spektakuläre: Schon vor Erscheinen der Staatsanwälte und Fahnder hatte sich im Morgengrauen im Vorgarten des Hauses, das durchsucht werden sollte, ein Fernsehteam des Zweiten Deutschen Fernsehens postiert. Deren Aufnahmen lösten einen großen „Presserummel“ aus. Staatsanwaltschaft und Fahnder bestritten, das Fernsehen auf den Plan gerufen zu haben, konnten aber auch nicht angeben, wer das getan haben könnte. Nach Abschluss der Aktion wurde der Verdächtigte mit einem Mercedes der S-Klasse, begleitet von einer Polizeieskorte, „abtransportiert“. Die Vermutung, dass die Urheber dieser Abschreckungsshow im Bundesfinanzministerium saßen, konnte nicht bewiesen werden. Den anderen entdeckten Liechtenstein-Anlegern wurde diese Sonderbehandlung nicht zuteil. Ihnen wurde sogar empfohlen, Selbstanzeige zu erstatten. Falls die Fernsehbilder über die Einzelaktion gegen Klaus Zumwinkel dazu gedacht waren, sich nachhaltig und abschreckend in das emotionale Gedächtnis einzuprägen: Dieser Zweck wurde wohl erreicht. Erstaunlich emotional äußerten sich Politiker aller Parteien und etliche Medienkommentatoren – so als sei in Deutschland soeben von einem Manager und Großverdiener ein besonders abscheuliches Verbrechen begangen worden. In schmähenden Kommentaren tauchten Vokabeln auf wie „Raubrittertum“, „Abschaum“, „Schmarotzer“, „neue Asoziale“. Als Reklameveranstaltung für die Staatsanwaltschaft und die Steuerfahndung war die Aktion aber doch wohl eher ungeeignet. In den Richtlinien für das Strafverfahren heißt es: „Der Staatsanwalt vermeidet alles, was zu einer durch den Zweck des Ermittlungsverfahrens nicht bedingten Bloßstellung des Beschuldigten führen kann.“ Dagegen wurde eklatant verstoßen. Dass ein prominenter Top-Manager – schon vor seiner Verurteilung – „an den Pranger gestellt“, „bloßgestellt“, „entwürdigt“, „erniedrigt“, „fertig gemacht“ worden war, empörte viele Leserbriefschreiber. Nicht nur „Verletzung der Strafrechtskultur“ wurde behauptet, auch an „Stasi-Methoden“ fühlte sich jemand erinnert. Der Leitung der Staatsanwaltschaft und der Steuerfahndung nahm man die Beteuerung, man habe das Er1771
§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts
scheinen des Fernsehens nicht veranlasst, nicht ab. Man wusste aus Erfahrung, dass die Steuerfahndung – anders als der Innendienst der Finanzämter und die Außenprüfung – eine Vorliebe für mediale Aufmerksamkeit hat. Strafverteidiger R. Schwedhelm äußert sich dazu wie folgt: Das Verfahren gegen K. Zumwinkel „ist jedenfalls nach meiner Kenntnis das einzige Steuerstrafverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik, das von Anfang bis Ende von der Presse ‚begleitet‘ wurde. Presse und Fernsehsender waren vorab informiert, so dass Bürger schon das Erscheinen der Steuerfahndung und Staatsanwaltschaft vor Morgengrauen am Valentinstag 2008 live mitverfolgen konnten. Schon wenige Stunden nach Beginn der Durchsuchung brachten wichtige und weniger wichtige Personen des öffentlichen Lebens ihre Missbilligung und ihr Unverständnis vor jedem vorgehaltenen Mikrofon zum Ausdruck und verlangten nach unnachgiebiger Bestrafung. Der Verdächtige war verurteilt, lange bevor Anklage erhoben wurde . . . Beunruhigend fand ich, dass auch Amtsträger wie Minister, Ministerpräsidenten und Richter sich nicht scheuten, an der öffentlichen Vor- oder Nachverurteilung mitzuwirken. Umso bemerkenswerter ist, dass Staatsanwaltschaft und Gericht es . . . geschafft haben, dem öffentlichen und politischen Druck standzuhalten, selbst wenn dies nicht jedem zum Vorteil gereichte. Bis heute ist diese Art der ‚öffentlichen Hinrichtung‘ die Ausnahme geblieben. Bisher galt und gilt nach meiner Beobachtung, dass Steuerstrafverfahren nur in absoluten Ausnahmefällen derartige Publizität erlangen. Dies gilt zunächst uneingeschränkt für Verfahren, die nur auf Finanzamtsebene, also von der Steuerfahndung und den Straf- und Bußgeldsachenstellen geführt werden . . . Weniger öffentlichkeitsscheu sind die Staatsanwaltschaften . . . Allerdings gilt auch hier, dass die Staatsanwaltschaften . . . in der Regel nicht an einer großen Öffentlichkeit interessiert sind. Nach meiner Erfahrung ist das Interesse der Medien an der individuellen Steuerhinterziehung gering. Die Steuerhinterziehung als solche ist – anders als Mord oder Entführung – keine Meldung wert. Sie wird allenfalls durch die Person des Hinterziehers (Boris Becker, Verona Poth) zur Meldung, was bei dem einen oder anderen meiner Mandanten schon zu gewisser Enttäuschung geführt hat.“ 175
Es geht hier aber nicht um „mediale Begleitmusik“, sondern darum, ob „bezahlte Denunziation“ zu rechtfertigen ist? Unter „Denunziation“ verstand man ursprünglich wertneutral die „Anzeige“. Im Laufe der Geschichte erhielt der Begriff aber einen negativen Wertakzent. Denunziert worden waren vor der Aufklärung die, die nicht „rechtgläubig“ waren, auch Hexen. Denunziert wurden in autoritären Staaten oder in Diktaturen die, die eine andere als die vorgeschriebene oder erwünschte Meinung vertraten. Solche Staaten förderten das Spitzelwesen. Denunziert wurde aus ideologischen und aus niedrigen Beweggründen, z. B. aus Rache oder Hass. Der Denunziant ließ sich vom Überwachungsstaat instrumentalisieren. So kam es zu dem Dik175 R. Schwedhelm, in: Festschrift für M. Streck, 2011, S. 577, 578.
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Zu ausgewählten strafprozessualen Grundsatzfragen
tum von H. Hoffmann von Fallersleben: „Der größte Lump im ganzen Land: Das ist und bleibt der Denunziant.“ Einen niedrigen, unmoralischen Beweggrund hat auch, wer nur gegen Entgelt anzeigt, um künftig ein materiell sorgenfreies Leben führen zu können. Ihm geht es um die persönliche Bereicherung, nicht um die Stabilisierung der Rechtsordnung. Daher muss der Rechtsstaat sich grundsätzlich hüten, das Spitzelwesen zu finanzieren und zu fördern. Wer einen Steuerhinterzieher anzeigt, mag das aber auch tun, um sich auf diese Weise eines Konkurrenten zu erwehren, der durch Steuerhinterziehung unlauteren Wettbewerb treibt. Die Abwehr unlauteren Wettbewerbs ist kein niedriger Beweggrund, aber eine Art Notwehr. Und wer Steuerhinterzieher anzeigt, um der Steuergerechtigkeit, der Gleichmäßigkeit der Besteuerung willen, hat auch kein niedriges Motiv. 176 Erst das Verlangen einer Belohnung entwertet die Anzeige, macht den moralischen Beweggrund unglaubwürdig. Der homo fiscalis als Finanzminister mag wie der homo oeconomicus nur fragen: Wie viel soll ich ausgeben und um wie viel werden sich die Einnahmen der Staatskasse vermehren? Im Rechtsstaat darf man sich aber nicht auf eine Kosten-/Nutzen-Abwägung beschränken, sondern muss auch sicherstellen, dass sich im freiheitlichen Staat nicht Misstrauen, Argwohn, Befangenheit eines jeden gegen jeden ausbreiten. Dieser Zustand würde bestimmt eintreten, wenn der Staat konsequent jedem Steuerinformanten ein Entgelt von zehn Prozent der durch die Anzeige erlangten Mehreinnahmen versprechen würde. Die Konsequenz würde es im Übrigen verlangen, die Belohnung auch auf nichtsteuerliche Bereiche auszudehnen, etwa auf das Sozialrecht, das Wirtschaftsrecht, das Umweltrecht, etc. Soweit es um Einkünfte eines Steuerinländers geht, die im Ausland anfallen, wäre es gewiss ein völkerrechts-unfreundlicher Akt, würde der Wohnsitzstaat, der im Ausland nicht ermitteln darf, die Bediensteten ausländischer Banken durch das Versprechen einer Belohnung dazu anstiften, durch Mitteilungen über Depots das landeseigene Strafrecht zu verletzen. Es ist völkerrechtlich unbestritten, dass deutsche Ermittler (Fahnder, Staatsanwälte) nicht das Recht haben, im Ausland zu ermitteln. Sie dürfen nicht in eine ausländische Bank einbrechen, um an Beweismaterial gegen Steuerinländer heranzukommen. Aber muss es dann nicht ebenso unzulässig sein, sich Material mit Hilfe eines bezahlten Diebes zu beschaffen? 176 Dass eine Mehrheit das anders sehen mag, hängt damit zusammen, dass sie als Nutznießer nur den „steuergierigen“ Staat sieht, nicht die Solidargemeinschaft der Steuerbürger. Dass es durchaus auch Rechtsstaaten gibt, in denen Denunzianten prämiert werden, ist bekannt. Dazu auch R. H. Happé, Op het hellende Vlak met fiscale tipgevers, klokkenluiders en premienjagers, Weekblad fiscaal recht v. 19. 11. 2009.
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts
Der Datendiebstahl hat zwischen Deutschland und der Schweiz zu Spannungen geführt. Die deutschen Oppositionsparteien möchten ein zwischen der deutschen und der Schweizer Regierung vereinbartes Abkommen nicht akzeptieren. Der SPD-Vorsitzende bezichtigt die Schweizer Banken der „organisierten Kriminalität“. Schweizer Politiker nennen den Erwerb gestohlener Steuerdaten „organisierte Kriminalität“. Das Dilemma rührt daher, dass durch das nationale Recht und durch Doppelbesteuerungsabkommen dem Wohnsitzstaat Einkünfte zugesprochen werden, über die er keine Kontrolle hat, was zur Steuerflucht anreizt. Warum wird die lex imperfecta nicht entsprechend BVerfGE 84, 239, 268 ff. behandelt? 2010 erwarb das Land Nordrhein-Westfalen eine CD der Credit Suisse, insbesondere deutsche Anleger betreffend, für 2,5 Mio. Euro. Der Schweizer Datendieb erhielt davon aber nur 340 000 Euro, die weitaus größere Summe ging an einen österreichischen Ganoven, der sich nach seiner Verhaftung im September 2010 im Gefängnis umbrachte. Die Rechtsfrage, ob ein Rechtsstaat gestohlene Steuerdaten ankaufen darf oder soll, wird kontrovers beurteilt. 177 M. E. ist es ein Unterschied, ob dem passiven Staat eine Daten-CD geliefert wird, oder ob der Staat sich aktiv um Ankäufe bemüht, z. B. dadurch, dass er keinen Zweifel daran lässt, er werde jede CD kaufen, wenn „das Geschäft sich lohnt“. Im Fall Credit Suisse hat ein Düsseldorfer Rechtsanwalt Strafanzeige gegen nordrhein-westfälische Amtsträger erstattet. Er hält es für erwiesen, dass diese „gezielt Spionageaufträge“ erteilt hätten mit dem Ziel des Ausspähens von Daten, dass sie ferner Beihilfe dazu geleistet hätten, dass der Datendieb die aus Nordrhein-Westfalen erhaltene Belohnung in der Schweiz nicht versteuern müsse. 178 2011 schlossen die Schweiz und Deutschland ein Abkommen, dass die Besteuerung deutscher Kapitaleinkünfte auch für die Vergangenheit endgültig regeln soll. Die Steuerhinterzieher sollen aber anonym bleiben und nicht bestraft werden. Daran stoßen sich nicht nur Zei-
177 Hinweis z. B. auf E. Samson mit M. Langrock, „Pecunia non olet“? wistra 2010, 201 ff.; J. Lang, Steuerberatung und Steuergerechtigkeit, in: K. Tipke (Hrsg.), Steuerberatung im Rechtsstaat, 2010, S. 5, 57 ff. (Ist der Ankauf von Steuersünder-CD rechtsstaatlich zulässig?) mit Erwiderung von J. Pelka, ebenda, S. 98 ff. (Unzulässigkeit des Ankaufs einer SteuerdatenCD), jeweils mit weiteren Nachweisen. 178 Dazu Th. Koblenzer, Interviews in steuertip Nr. 35/2012 und in Steuerberater Magazin 10/2012. Dort auch zu BVerfG DStR 2010, 2512.
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Zu ausgewählten strafprozessualen Grundsatzfragen
tungen mit Titeln wie „Straflose Steuerflucht“ oder „Weißwaschgang für Steuersünder“, sondern auch die Opposition (SPD/Grüne). Der Opposition geht es nicht primär um das Wohl des Fiskus, sondern darum, dass die Steuerflüchtlinge nicht anonym bleiben, sondern im Lichte der Öffentlichkeit ihre „gerechte Strafe“ erhalten. Würde so verfahren, so wäre Deutschland wieder auf gestohlene CDs angewiesen. Ob und wann solche Angebote in Zukunft kommen werden, weiß niemand. Sicher dürfte aber sein, dass man über gestohlene CDs nicht alle Steueroasen-Anleger erreichen wird, auch wenn bei jeder Schreckensmeldung über eine weitere angekaufte CD auch solche Anleger sich zur Selbstanzeige entschließen würden, die bloß fürchten, von der CD erfasst zu sein. Solche Befürchtungen werden von Spezialanwälten für Selbstanzeige planmäßig geschürt, wohl nicht im Interesse der Stabilisierung der deutschen Steuerrechtsordnung, sondern zur Steigerung des eigenen Honorareinkommens. Das Abkommen mit der Schweiz würde zu gleichmäßiger Besteuerung führen, das Angewiesensein auf gestohlene CDs zu bloßer Zufallsbesteuerung. M. E. sollte man die Haltung der Opposition nicht gleich als Ausdruck von Neid oder Missgunst erklären, wohl aber – so scheint es mir – ist Uninformiertheit im Spiel. In der Gegenwart legt meines Wissens niemand mehr aus Gründen der Steuerersparnis Geld in der Schweiz oder in anderen Steueroasen an. Das Geld, um das es hier noch geht, ist meist vor Jahrzehnten ins Ausland geschafft worden, zu einer Zeit, als es in Deutschland – was die Zinsbesteuerung betraf – nicht nur um die Steuermoral der Bürger, sondern auch um die Besteuerungsmoral des Staates schlecht bestellt war. Der Finanzminister von Nordrhein-Westfalen – Schleußer – hat sich dazu zutreffend geäußert (s. S. 1771). Man fragt sich: Wer ist hier eigentlich der Täter und wer ist Opfer? „Opfer ist der deutsche Staat“ mögen die Heutigen antworten. Aber könnte man nicht auch die Anleger als Opfer bezeichnen und die Steueroasen sowie Deutschland als Täter, waren die Steueroasen und Deutschland nicht beide Verführer, Deutschland Verführer durch Unterlassen? Deutschland hätte doch wie auch andere Wohnsitzstaaten darauf hinwirken können und müssen, dass die Doppelbesteuerungsabkommen ergänzt würden. Haben nicht die Oasen-Staaten durch den Hinweis auf ihr Bankgeheimnis, hat nicht Deutschland durch Duldung der Berufung auf das Bankgeheimnis und Duldung der Steuerflucht zur Steuerhinterziehung verführt? Die rechtliche Position der Oasen-Staaten wäre m. E. sehr schwach gewesen. Was rechtfertigt schon eine lex imperfecta? Es ist nämlich inkonsequent, einerseits die Besteuerung der Zinsen dem Wohnsitzstaat zuzusprechen, ihm aber die Möglichkeit zu nehmen, von seinem Anspruch zu erfahren. Wenn dieser Zustand jetzt endlich beseitigt wird, so ist das kein Vergehen an der Steuergerechtigkeit. Die sowohl durch Steueroasen-Staaten als Zufluchtsstaaten und durch Deutschland als 1775
§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts
Fluchtstaat bewirkte Verführung erübrigt es, Verführte öffentlich bloßzustellen und zu bestrafen. 179 Die Erkenntnis, dass man auf die Zufluchtstaaten hätte rechtlich einwirken können, kommt zu spät. Die Gesetze, die zu spät kommen, sind schlechte und ungerechte Gesetze. 180 Im Übrigen ist die Kapital- und Steuerflucht auch dadurch begünstigt und gefördert worden, dass bei der Besteuerung der Kapitaleinkünfte in Deutschland die Inflation nicht berücksichtigt wurde. Das war ungerecht und besteuerungsunmoralisch. Ein Staat, der selbst besteuerungsunmoralisch handelt, sollte seinen Bürgern nicht vorschnell moralisch kommen. 2012 erklärte der Finanzminister von Nordrhein-Westfalen – es war natürlich nicht der Finanzminister H. Schleußer –, er werde bis zum Inkrafttreten des Abkommens mit der Schweiz weiterhin Steuer-CDs kaufen lassen. Diese durch die Presse verbreitete Erklärung läuft m. E. auf eine Anstiftung ausländischer Bankmitarbeiter zum Diebstahl hinaus. Der rechtsstaatliche Weg hätte auch für Nordrhein-Westfalen darin bestanden, auf ein Abkommen mit den Oasen-Ländern zu drängen. Warum ist man gegen die Beseitigung einer lex imperfecta? Warum ergänzt der Gesetzgeber die Abgabenordnung nicht um einen Paragrafen wie „Die Finanzbehörden dürfen gestohlene SteuerdatenCDs ankaufen und auswerten. Sie dürfen auch bekanntgeben, dass sie Steuerdaten-CDs kaufen und den Dieben eine neue Identität verschaffen.“ Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat es leider versäumt, dem Erwerb gestohlener Steuerdaten klare Grenzen zu setzen. Der Schweiz bleibt zurzeit nur übrig, Datendiebe zu bestrafen.
7. Reformideen zum Steuerstrafrecht 7.1 Prämisse: Es gibt grundsätzlich keine gleichmäßig-gerechte Steuerstrafe So wie es im Steuerrecht das Ideal der gleichmäßigen Besteuerung (entsprechend der finanziellen Leistungsfähigkeit) gibt, so wird von Strafrechtslehrern auch über das Ideal gleichmäßiger Bestrafung 179 Dazu auch mein Interview in steuertip 15/10 v. 16. 4. 2010. Hinweis auch auf R. Seer, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 23 Tz. 72 a. E. („Ein strafmildernder Umstand liegt außerdem vor, wenn der Staat eine Mitverantwortung an eklatanten Vollzugsdefiziten (wie z. B. bei der Zinsbesteuerung) trägt . . .“). 180 Bundespräsident R. Herzog formulierte es so: „… verspätetes Recht ist oft genug Unrecht, aber es ist jedenfalls kein Recht mehr“ (NJW 1999, 28). Es lag doch von Anfang an eine rechtlich regelbare Materie vor (dazu auch K. Lüderssen (Prof. für Strafrecht), Anstiftung ist mehr, FAZ v. 7.4.2012).
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(gleich schwerer) Straftaten räsoniert. Ideal und Wirklichkeit fallen aber deutlich auseinander, im Strafrecht noch mehr als im Steuerrecht. Im Strafrecht ergibt sich das aus Folgendem: (1) Es gibt eine weite Strafrahmenschere für die Steuerhinterziehung (§ 370 I). Sie ist noch weiter in besonders schweren Fällen (§ 370 III). (2) Es gibt Steuerehrliche und Steuerunehrliche. Aber bei weitem nicht alle Steuerunehrlichkeiten (insbesondere Steuerhinterziehungen) werden aufgedeckt. Der Staat ist in starkem Maße auf die Kooperation seiner Steuerbürger angewiesen. Die Steuerehrlichen sind gegenüber den Steuerunehrlichen benachteiligt. (3) Nicht wenige Steuerhinterzieher scheitern an den Formalien der Selbstanzeige und werden bestraft. Diejenigen, deren Selbstanzeige akzeptiert wird, bleiben straffrei. (4) Die Strafe muss am Strafzweck orientiert werden. Über den Strafzweck herrscht aber keine Übereinstimmung. § 46 I StGB stellt für die Strafzumessung die Schuld in den Vordergrund. Dazu führt § 46 II Umstände auf, die für und gegen den Täter sprechen. Sie sind gegeneinander abzuwägen. Mit dem Abwägen gehen verschiedene Gerichte aber verschieden um – je nach Einstellung zur Steuerhinterziehung. Das ist unvermeidlich. Man stelle sich vor, wie ungleichmäßig die Steuern in gleichen Fällen festgesetzt würden, wenn die Steuergesetze einen weiten Festsetzungsrahmen bestimmen und die Leistungsfähigkeit nicht an das Einkommen, den Umsatz, das Vermögen oder andere konkretisierte Quantitäten knüpfen, sondern vorschreiben würden: „Die finanzielle Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen ist die Grundlage für die Bemessung der Steuer. Die Wirkungen, die von der Steuer für das künftige Leben des Steuerschuldners in der Gemeinschaft ausgehen, sind zu berücksichtigen.“ Im Strafrecht geht es innerhalb eines weiten Strafrahmens um verschiedene Grade des Unrechts und der Schuld, sogar um die Beurteilung der Gesinnung, die aus der Tat spricht, sowie um den Grad der Pflichtwidrigkeit. Solche Kriterien lassen viel Spielraum für die verschiedenen Gerichte. Über den Abschreckungszweck der Strafe (Prävention) ist dem § 46 StGB ohne dogmatische Akrobatik nichts zu entnehmen. Gleichwohl setzen verschiedene Gerichte Strafen fest, die in unterschiedlichem Umfang auch den Zweck haben, den Täter oder Dritte abzuschrecken. (5) Die Finanzbehörden, insbesondere die Steuerfahndungsdienste, pflegen sich – je nach dem Grad ihrer Überlastung – einzelne Gruppen oder einzelne Steuerpflichtige herauszugreifen und so Sündenböcke zu schaffen. Sündenböcke werden schlechter behandelt als andere Steuerhinterzieher. Ein hohes Strafsachen-Revisionsgericht, das erheblichen Abstand von der Praxis hat und sich um den „desolaten Zustand“ der Steuergesetze nicht kümmert, mag drakonische Regeln für die Strafzumessung 1777
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aufstellen. Je schärfer die Gerichte vorgehen, desto sorgfältiger müssen sie aber den Sachverhalt (meist sind es Sachverhalte) aufklären, desto gründlicher müssen sie auch in die Steuerrechtsproblematik einsteigen und desto penibler müssen sie mit der Strafzumessung (§ 46 StGB) umgehen. Dafür fehlt hochbelasteten Instanzgerichten aber die Zeit, u. U. auch die steuerrechtliche Kompetenz. In der Steuerstrafrechtspraxis gerät die Bemessung der Strafe nach der Höhe der hinterzogenen Steuer in den Vordergrund, und steuerrechtskompetente Strafverteidiger konzentrieren sich auch auf die steuerschuldrechtlichen Vorfragen, weil es ohne Steuerschuld keine Steuerstrafe geben kann. So kommt es bekanntlich dazu, dass die Verfahrensbeteiligten zum Mittel der Verständigung (Absprache, Deal) greifen und sich Sachaufklärung und Auseinandersetzung über komplizierte Steuerrechtsfragen sowie über die Strafrechtslage möglichst ersparen. Was nützt es auch, dass zehn Prozent der Fälle mit allen Feinheiten penibel bearbeitet werden und 90 Prozent der Fälle schließlich liegen bleiben und verjähren. Das wäre noch ungerechter, bewirkte erst recht Ungleichmäßigkeit der Bestrafung – im Vergleich zu einer Erledigung aller Fälle auf eine grobe, aber noch erträgliche Weise. Ein anderes Mittel der Entlastung ist die Einstellung des Verfahrens nach § 398 AO wegen „geringwertiger“ Steuerverkürzung oder als „gering anzusehender Schuld“ nach § 153 StPO. Auch im Falle der Einstellung nach § 153 a StPO wird keine Strafe in das Bundeszentralregister eingetragen, der Täter gilt als nicht vorbestraft. Er muss aber einen empfindlichen, ebenfalls zur Abschreckung geeigneten Geldbetrag an gemeinnützige Einrichtungen oder den Staat zahlen. Wer Hauptverhandlung und Öffentlichkeit vermeiden will, darf finanziell nicht kleinlich sein. Auch durch die Einstellung des Verfahrens nach § 153 a StPO wird ein zeitraubendes Ermittlungsverfahren vermieden. Der Betroffene kauft sich sozusagen durch Geldzahlungen von Strafe frei. Auch durch das Strafbefehlsverfahren (§§ 400, 406 AO; §§ 407 ff. StPO) können alle Verfahrensbeteiligten Vorteile haben. Zu einer Gleichmäßigkeit der Steuerbestrafung kann es auf diese Weise nicht kommen. Dies ist aber auch schon deshalb so, weil Steuerstrafgerechtigkeit von Steuergerechtigkeit abhängt. Dazu stellt Steuerstrafverteidiger F. Salditt aufgrund seiner Erfahrungen fest: „Steuergerechtigkeit ist bisher kein Thema in Gerichtssälen, davor scheut die Strafjustiz aus durchsichtigen Gründen zurück.“ 181
181 Steuerberater-Magazin 04/2008, 19. F. Salditts Feststellung gilt wohl auch für den Bundesgerichtshof. – Mit den „durchsichtigen Gründen“ ist wohl die steuerliche Inkompetenz vieler Staatsanwälte und Steuerstrafrichter gemeint.
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Reformideen zum Steuerstrafrecht
Den Steuerhinterziehern pflegt es nicht darum zu gehen, dass sie nicht bereit sind, eine Geldzahlung zu leisten; sie fürchten vor allem um ihren guten Ruf, um ihr Ansehen in der Gesellschaft. In einer Zeit, in der die veröffentlichte Meinung die Steuerhinterziehung durchaus nicht mehr als Kavaliersdelikt ansieht. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Steuerstrafrechtspraxis – wohl getragen von einer Billigung der Mehrheit – Züge eines Zweiklassen-Steuerstrafrechts trägt. Es gilt nicht: „Die Großen lässt man laufen, die Kleinen hängt man“, sondern: „Die Kleinen lässt man laufen, die Großen hängt man“. Auch wenn Leistungsbürger weitgehend gesetzestreu sind, werden doch einzelne Sündenböcke durch Verallgemeinerung dazu benutzt, die Steuerehrlichkeit großer Unternehmer überhaupt in Zweifel zu ziehen. Sie werden in einer Art von politischem Klassenkampf zu einer Art von Klassenfeinden, während Verfahren gegen andere Steuerpflichtige großzügig eingestellt werden. Gegen Rentner werden Strafverfahren nicht einmal eröffnet, auch dann (bisher) nicht, wenn es sich um Rentner handelt, die ihren Lebensabend im Ausland verbringen, insbesondere im sonnigen Süden. 7.2 Zum Reformvorschlag von Roman Seer Wenn Rechtsideale und Rechtswirklichkeit weit auseinanderfallen, ist es nicht erstaunlich, dass Reformüberlegungen angestellt und Reformvorschläge gemacht werden. Nach einem Vorschlag von R. Seer soll nur noch der schweren Steuerkriminalität durch Strafen begegnet werden. Die normalen Steuerhinterzieher sollen mit einem prozentualen Zuschlag auf die hinterzogene, zu spät gezahlte Steuer sanktioniert werden. Dabei soll es nicht darauf ankommen, aus welchem Grund die Steuer verspätet gezahlt wird, insbesondere soll der Zuschlag nicht von einem Verschulden abhängig sein. 182 Im Steuerrechtslehrbuch K. Tipke/J. Lang20 von 2010, § 23 Rz. 4 fasst R. Seer seinen Standpunkt so zusammen: „Die wesentliche Rechtfertigung der Strafe ist die Herstellung eines Schuldausgleichs unter Berücksichtigung spezial- und generalpräventiver Gesichtspunkte. Das Steuerstrafverfahren ist dementsprechend Individualstrafverfahren, das nach Schuld und Verantwortung fragt. Das Steuerstrafverfahren ist deshalb ungeeignet, strukturelle Vollzugsdefizite auszugleichen und gebotene Belastungsgleichheit herzustellen. Auf Grund seines intensiven Eingriffscharakters bleibt das Mittel der Strafe ultima ratio im Instrumentarium des 182 Zu diesem Vorschlag ist R. Seer wohl durch das US-amerikanische Beispiel des Civil penalty (Failure to file-penalty) angeregt worden (s. R. Seer, Besteuerungsverfahren: Rechtsvergleich Deutschland – USA, 2002, Rz. 86 f.).
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§ 36 Ideal und Wirklichkeit des Steuerstrafrechts Gesetzgebers (BVerfGE 39, 1, 47). Steuerliches Fehlverhalten im Massenverfahren ist deshalb primär nicht durch das dafür untaugliche Steuerstrafrecht, sondern durch eine effiziente Ausgestaltung des Besteuerungsverfahrens herzustellen. Dazu bedarf es eines Risikomanagements der Finanzverwaltung. Statt die Strafbarkeitszone – ohne Rücksicht auf Vollzugsfähigkeit – auszudehnen, ließe sich die persönliche Prävention durch ein verschuldensunabhängiges Steuerzuschlagssystem erreichen (sog. Entpönalisierung). Straftatbestände, die mehr oder weniger nur auf dem Papier stehen, diskreditieren das Recht und untergraben die Steuermoral. Deshalb sollte sich auch das normative Steuerstrafrecht von vornherein auf Fälle gewichtiger Kriminalität konzentrieren. Wenn sich die Strafverfolgungsbehörden mit deutlich weniger Fällen zu befassen haben, könnten sie außerdem auch ressortmäßig getrennt werden . . .“
Das Seersche System von Zuschlägen soll die Einstellung des Verfahrens – von R. Seer als „Ablasshandel“ bezeichnet – entbehrlich machen. Auch an anderer Stelle betont R. Seer schon das Anliegen, den ultima ratio-Charakter des Steuerstrafrechts und die Entpönalisierung sowie den Präventivschutz durch ein System von Steuerzuschlägen zu realisieren. 183 Stellungnahme: Pointiert und typisierend ausgedrückt, stehen sich zwei Einstellungen gegenüber, eine ideologische und eine realistische. Die ideologischen Pönalisten verlangen: Wer, zumal als Reicher, schuldhaft Steuern hinterzieht, wird zum sozialethischen Unwertträger und Sozialschmarotzer. Er muss seine Schuld durch das Unwerturteil der Strafe abbüßen. Der reiche Steuerhinterzieher schädigt danach nicht nur Steuerehrliche, sondern auch die, die auf Steuermittel als Existenzminimum angewiesen sind. Die Steuerhinterzieher werden heute auch als die wahren Sozialschmarotzer bezeichnet. Statt die Verhütung von Straftaten durch den Staat zu verlangen, sollen die Täter durch die Schuldstrafe lernen, sich selbst künftig vor Straftaten zu hüten. Gleichmäßige Sanktionierung kann so nicht erreicht werden. Die Realisten weisen darauf hin, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht annähernd in der Lage seien, die Straftaten nach den idealen Maximen der Strafprozessordnung zu behandeln. Daher habe sich eine Art von Notstrafrecht entwickelt – durch Verständigung (Absprachen, Deal) und Verfahrenseinstellung mit Geldauflagen. Gerechter als der „Handel mit Gerechtigkeit“ oder „Ablasshandel“ seien spezial183 S. auch schon R. Seer, StuW 2003, 40, 56 ff. („Alternative Kriminalstrafbarkeit: System von Zuschlägen“); ders., Steueramnestie und Idee der Entpönalisierung des Steuerrechts, in: Gedächtnisschrift für Chr. Trzaskalik, 2005, S. 457, 465 ff. Wie R. Seer auch L. Kuhlen, Grundfragen der strafbaren Steuerhinterziehung, 2012, S. 93 ff., 201. L. Kuhlen spricht von „Überkriminalisierung der leichten Steuerhinterziehung“; er folgt Seer, StuW 2003, 40 ff.
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Reformideen zum Steuerstrafrecht
und generalpräventiv wirkende Steuerzuschläge. Das Steuerstrafrecht sollte schwerwiegenden Fällen vorbehalten bleiben. Das sei gerechter als das strafrechtliche Sanktionieren in allen aufgedeckten Fällen, gerechter auch als die Abhängigkeit der Strafhöhe vom Verhandlungsgeschick der Verteidiger. Für den Steuerzuschlag spreche auch, dass der Unwertgehalt der Steuerhinterziehung wesentlich von der Höhe der hinterzogenen Steuer abhänge. Zu den Realisten gehört sicher R. Seer. Er ist aber nicht nur Praktiker. Dass die Strafe erst als ultima ratio eingesetzt werden soll, ist eine rechtsstaatliche Forderung des Bundesverfassungsgerichts. Das Schuldstrafrecht vernachlässigt zu sehr die Prävention. Im Sinne des Rechtsstaates ist es, Straftaten möglichst zu verhüten, statt sie geschehen zu lassen, um dann einen Bruchteil der Täter zu bestrafen. Jedes Verhüten von Straftaten ist besser als Strafen, es ist auch weniger kostspielig als Strafverfahren es sind. Der Staat, der durch Lücken im Vollzug zu Straftaten verführt, statt sie zu verhüten, verhält sich besteuerungsunmoralisch. Wenn das Strafen ultima ratio sein soll, dann muss man vor allem fragen, ob fühlbare Steuerzuschläge nicht ebenso wenn nicht besser geeignet sind, Straftaten zu verhüten. Solche Verhütung ist der beste Schutz der Rechtsordnung, auch der beste Schutz der Staatskasse und der Steuerehrlichen. Dafür spricht auch das amerikanische Beispiel. Was den Inhalt des Zuschlagsystems betrifft, so mag man ohne trial and error nicht auskommen. Straftaten werden kaum dadurch verhütet, dass der Staat sich besteuerungsunmoralisch verhält und seinen Bürgern Steuermoral predigt. Vielmehr muss ein Steuerrecht geschaffen werden, das möglichst gleichgerecht ist, indem die Mängel an Verallgemeinerung, an Folgerichtigkeit und an Widerspruchsfreiheit sowie die zahlreichen Privilegien beseitigt, damit das Steuerrecht für Einsichtsfähige einsichtig wird, damit einsichtige Steuerpflichtige wollen, was sie sollen und nicht nur aus Angst vor Strafe zahlen. Zur Verhütung gehört überhaupt, dass den geläufigen Hinterziehungsmotiven möglichst der Boden entzogen wird. Der Steuervollzug, einschließlich der Außenprüfung, muss als Verhütungsvollzug verstanden werden – durch Kontrolle entsprechend dem Kontrollbedürfnis (s. S. 1460 ff.). Strafdrohungen können Kontrolle nicht ersetzen. Wer meint, dass die Sanktion durch Steuerzuschläge nicht ausreichend oder nicht angemessen sei, mag sich in Erinnerung rufen, was jetzt schon praktiziert wird, ohne dass die Schuld wirklich festgestellt wird, ohne dass das Gros der Strafverfahren noch nach der Strafprozessordnung durchgeführt wird. Th. Weigend hat zutreffend geschildert, wie die strafrechtliche Realität von heute aussieht (s. S. 1766). An diesem unbefriedigenden Zustand werden auch Appelle des Bundesgerichtshofs, die Steuerstrafen zu verschärfen, nichts ändern. Die Steuerzuschläge sind gerechter, einfacher und berechenbarer als das 1781
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unübersichtliche Konglomerat von Behelfen, mit denen Finanzbehörden, Staatsanwaltschaften und Steuerstrafrichter versuchen, sich ihrer Aufgabe zu „entledigen“. Wir können allerdings auch nicht schlicht davon ausgehen, dass die Mehrheit der Steuerpflichtigen, der Steuerberater, und der Steuerstrafverteidiger ein klares, folgerichtiges Zuschlagssystem dem „Handeln mit Steuerstrafgerechtigkeit“ vorziehen würden. Es muss sich herausstellen, wie viele Strafverteidiger weiterhin das Dealen, das Einstellen von Verfahren, die Betreuung von Selbstanzeigern einem Zuschlagsystem vorziehen würden. Wir wissen es bisher nicht. Wir wissen nur: Es gibt schließlich Berufe, die indirekt von Strafverfolgung leben. Würde das Zuschlagssystem eingeführt, so blieben einschlägige Streitigkeiten über Steuerzuschläge in den Händen der Steuerberater und der Finanzgerichte. Steuerstrafrichter, aber auch Steuerstrafverteidiger würden erheblich entlastet. Wollen Steuerstrafverteidiger aber entlastet werden? Diejenigen, die keine oder wenig Steuern zahlen, die aus den Steuermitteln des Staates versorgt werden, könnten das Bestrafen von Steuerhinterziehern dem Steuerzuschlagsverfahren vorziehen, mag man das nun „als die Rache des kleinen Mannes am Leistungsträger“ bezeichnen oder nicht. Nicht für alle ist die Strafe ultima ratio. Wie sind die Realisationsaussichten des Seerschen Vorschlags? In Anbetracht der notorischen Reformfaulheit des Gesetzgebers sowohl in Steuersachen als auch in Strafsachen erscheint es mir leider realistisch anzunehmen: Die Reformaussichten sind auch in diesem Bereich nicht gut. Am besten sind sie noch im Besteuerungsverfahrensrecht. Steuerstrafwütige werden sich gegen R. Seer’s Vorschlag zur Entpönalisierung ebenso wenden wie gegen ein Abkommen mit der Schweiz, das zur Gleichbehandlung führen würde. 7.3 Zum Reformvorschlag von Paul Kirchhof Dazu kann auf S. 1856 f. hingewiesen werden.
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Teil VI Steuerreform und Steuerrechtswissenschaft § 37 Rückblick auf misslungene oder gescheiterte Steuerreformen 1. Erste Reformversuche in den 1950er Jahren . . . . . . . . . . 1783 .. 2. Missglückter Versuch einer „Großen Steuerreform“ durch eine sozialliberale Koalition in den 1970er Jahren 1785 .. 3. Missglückter Versuch einer „Großen Steuerreform“ durch eine christlich-liberale Koalition in den 1980er und 1990er Jahren . . . . . . . 1793 .. 3.1 Missglückter Reformversuch von Finanzminister Gerhard Stoltenberg . . . 1793 ..
3.2 Gescheiteter Reformversuch von Finanzminister Theodor Waigel . . . . . . 1800 .. 4. Einkommensteuer-Änderungsgesetze einer rot-grünen Koalition . . . . . . . . . . . . . 1809 .. 5. Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble als rechtsreformabstinente Finanzminister . . . . . . . . . . . . . . 1811 .. 5.1 Peer Steinbrück . . . . . . 1811 .. 5.2 Wolfgang Schäuble . . . . 1814 .. 6. Resultat . . . . . . . . . . . . . . 1817 ..
1. Erste Reformversuche in den 1950er Jahren Wer künftig Fehler der Vergangenheit vermeiden will, tut gut daran, die Vergangenheit noch einmal Revue passieren zu lassen. Nach Beendigung des 2. Weltkrieges verfügte der Alliierte Kontrollrat im Februar 1946 eine exzessive Anhebung der Belastung mit direkten Steuern. Der Spitzensteuersatz der veranlagten Einkommensteuer wurde auf 95 % angehoben. Das konnte den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft nur behindern. Schon in seiner Regierungserklärung vom 20. 9. 1949 kündigte Bundeskanzler Konrad Adenauer eine umfassende Steuerreform an mit dem Ziel, die Leistungsbereitschaft, die Ersparnisbildung und die Investitionstätigkeit anzuregen. 1 In der ersten Hälfte der 1950er Jahre wurde eine „Organische Steuerreform“ vorgeschlagen. 2 Man verstand darunter eine Abstimmung des 1 BT-Verhandlungen I/5 v. 20. 9. 1949, S. 25 D. 2 Wiss. Beirat beim BMF v. 14. 2. 1953, Bericht über eine „Organische Steuerreform“, BMF (Hrsg.) 1953; Inst. FuSt, Grundlagen und Möglichkeiten einer organischen Finanz- und Steuerreform, Schriftenreihe Inst. Heft 30, 1954/55; s. auch H. Troeger (Hrsg.), Diskussionsbeiträge des 1951 vom Bun-
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„Steuersystems“ mit dem Wirtschaftssystem und der politischen Struktur der Bundesrepublik Deutschland. Der Finanzbedarf sollte unter Berücksichtigung der Marktwirtschaft und der sozialen Kulturgesinnung möglichst ökonomisch aufgebracht werden. 3 1953 wurde ohne Bezug auf die abstrakten Vorstellungen von einer „Organischen Steuerreform“ eine sog. „Kleine Steuerreform“ verabschiedet. 4 Die Änderungen dieses Gesetzes, die Tarifsenkung sowie vorangegangene Änderungen verdienten allerdings den Namen „Reform“ nicht. 1954 erging ein weiteres umfassenderes Steueränderungsgesetz mit deutlichen weiteren Tarifsenkungen. Der Inhalt des Gesetzes 5 wurde informell als „Große Steuerreform“ bezeichnet, ebenfalls zu Unrecht. 6 Die Änderungen, Ergänzungen eingeschlossen, betrafen ganz überwiegend Steuervergünstigungen zum Zwecke der Wirtschaftsankurbelung. In den 1950er Jahren entstand auch die Siebener Gruppe (§§ 7 a–7e EStG), wurden ferner die §§ 3 a, 3 b, 10 c EStG eingeführt. Die Steuervergünstigungen zeigten zwar die ihnen zugedachte Wirkung beim Wiederaufbau des Landes; sie erschwerten aber auch die Anwendbarkeit des Einkommensteuergesetzes und beeinträchtigten die Tarifwahrheit. Fritz Schäffer/CSU war der erste Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland (1949–1957), wohl auch der erste Steuerpolitiker, der eine Vereinfachung der Steuergesetze für nötig erklärte. Sein Nachfolger Franz Etzel (1957–1961) berief eine „Einkommensteuer-Kommission“ mit dem Auftrag, das Einkommensteuergesetz zu „durchforsten“, dabei auch textkritisch zu überarbeiten. Das Gesetz sollte vor allem klarer, einfacher, allgemeinverständlicher und volkstümlicher gefasst werden. Die Kommission – inoffiziell als „Durchforstungskommission“ bezeichnet – legte im Herbst 1963 einen 483 Seiten umfassenden Bericht 7 vor. Wesentliche Wirkungen gingen von ihm aber nicht aus.
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desrat eingesetzten Arbeitsausschusses für die große Steuerreform. Ein Bericht an den Finanzausschuss des Bundesrates, 1954. Wiss. Beirat (Fußn. 2), S. 14 f. Ges. zur Änderung steuerlicher Vorschriften und zur Sicherung der Haushaltsführung v. 24. 6. 1953, BGBl. I, 413, BStBl. I, 192 (sog. „Kleine Steuerreform“). Ges. zur Neuordnung von Steuern v. 16. 12. 1954, BGBl. I, 373, BStBl. I, 575. Die Regierung bezeichnete die Änderungen von 1953–1955 allerdings als „Teile einer permanenten Steuerreform“ (s. W. Mersmann, Steuerneuordnung 1954, DStZA 1954, 373, 374; dazu auch G. Schmölders, Permanente Steuerreform, StuW 1971, 37 ff. – Alle Änderungen sind der Zeitfolge nach aufgelistet von W. Krüer-Buchholz, Steuerpolitik und Steuerreform in der BR Deutschland . . ., Bremer Diss. rer. pol. 1975, publ. München 1982, S. 345–351). Untersuchungen zum Einkommensteuerrecht, BMF-Schriftenreihe Heft 7, 1964.
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Versuch der sozialliberalen Koalition, 1970er Jahre
Auch in den Jahren 1958 bis 1968 beschränkte man sich auf zahlreiche Änderungsgesetze. 8 Schon der Bundesfinanzminister Rolf Dahlgrün/FDP (1962–1966) äußerte: „Es geht um eine gerechte Verteilung der Steuerlast. Das Steuerrecht muss auf überflüssige Begünstigungen hin untersucht werden.“ Das geschah aber nicht.
2. Missglückter Versuch einer „Großen Steuerreform“ durch eine sozialliberale Koalition in den 1970er Jahren 9 Bereits Ende 1968 hatte Franz-Josef Strauß, seit 1966 Bundesfinanzminister einer großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, zur Vorbereitung einer „Großen Steuerreform“ eine 14köpfige „Unabhängige Kommission“ berufen. Unter den Kommissionsmitgliedern war kein Steuerjurist, kein Steuerrechtssystematiker. 10 Die Kommission erarbeitete unter Mitwirkung von Beamten des Bundesfinanzministeriums bis 1971 ein alle Steuern umfassendes Reformgutachten von 1 203 Seiten aus, das auch Mindermeinungen auswies. Nach der Bundestagswahl vom September 1969 war es allerdings zu einer Regierungskoalition von SPD und FDP gekommen, Finanzminister der Regierung Brandt/ Scheel war Alex Möller (SPD) geworden; er war davor über 20 Jahre Generaldirektor der Karlsruher Lebensversicherungs AG gewesen. Journalisten nannten ihn, nicht unfreundlich, den Millionär. 11 Er ließ 8 Näher zur Entwicklung in den 1950er und 1960er Jahren: J. Muscheid, Die Steuerpolitik in der BR Deutschland 1949–1982, 1986, S. 32 ff., 57 ff.; W. Krüer-Buchholz (Fußn. 6), S. 65–162; D. Dziadkowski, in: Festschrift für K. Offerhaus, 1999, S. 1096 ff. – Chronologische Auflistung der einschlägigen Daten in: BMF, Schriftenreihe zur Finanzgeschichte Bd. 2 (1945–1969), 1993. 9 Ausführlich dazu J. Muscheid (Fußn. 8), 131 ff.; W. Krüer-Buchholz (Fußn. 8). (Es handelt sich nicht um juristische Arbeiten; der Rechtsgedanke der Besteuerung wird vernachlässigt). 10 Mitglieder der Kommission waren R. Eberhardt, MdL, bayr. Finanzminister a. D.; H. Troeger, Staatsminister a. D., Mitglied des Vorstandes der Bayr. Vereinsbank; H. Fredersdorf, Bundesvorsitzender des Bundes Dt. Steuerbeamter; F. Hörstmann, Präsident der Bundessteuerberaterkammer; W. Köppen, StB; K. Kuhn, Vorstandsmitglied der Thyssen Handelsunion AG; P. Mertens, em. Hauptgeschäfsführer der AGem. Selbst. Unternehmer, K.-H. Mittelsteiner, 1. Vizepräs. der Bundeskammer der StBev.; V. Muthesius, Präsident des Bundes der Steuerzahler; H. Pagenkopf, em. Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Inst. „Finanzen und Steuern“; M. Schäfer, Minister für Wirtschaft, Verkehr und Landw. des Saarlandes; R. Wiethüchter, 1. Bundesvorsitzender des Bundes der Dt. Zollbeamten; G. Wöhe, Ordinarius für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre; G. Zeitel, Ordinarius für Volkswirtschaftslehre. 11 A. Möller renommierte damit, dass der Ministereid (die Übernahme des Finanzministeriums) ihn mindestens ein Drittel seines bisherigen Einkom-
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§ 37 Rückblick auf misslungene oder gescheiterte Steuerreformen
die von F. J. Strauß berufene Kommission ihre Arbeit abschließen und nahm im März 1971 das Reformgutachten 12 entgegen. Das Reformgutachten von 1971 ist jedenfalls wegen seines Volumens imponierend. Es fällt besonders durch fleißige Dokumentationsarbeit auf. Obwohl es seinerzeit in der damaligen Fachwelt als Reformwerk des Jahrhunderts gefeiert wurde: Von einem systematischen Konzept für eine Gesamtreform, das die Grundlage für ein Steuergesetzbuch hätte werden können, war noch kaum etwas zu erkennen. Einzelne Steuern wurden noch mit ihrer Ergiebigkeit, ihrer Tradition, ihrer Unverzichtbarkeit für die Gemeinden sowie als Ergänzungs- oder Nachholsteuern gerechtfertigt. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wurde nicht als Vergleichsmaßstab des Gleichheitssatzes angesehen. Immerhin sollten schon die Gewinne aus privaten Grundstücksveräußerungen zeitlich unlimitiert erfasst werden. Da Steuerrechtswissenschaftler sich erst Anfang der 1970er Jahre für ein prinzipienbasiertes besonderes Steuerrecht zu interessieren begannen 13, konnten die Reformer sich auf steuerrechtswissenschaftliche Erkenntnisse zum besonderen Steuerrecht kaum stützen. In seiner Regierungserklärung vom 28. 10. 1969 hatte Bundeskanzler Willy Brandt die Notwendigkeit umfassender Reformen betont: Auch in der Steuerpolitik müsse die Voraussetzung für eine breitere Vermögensbildung geschaffen werden. Wörtlich sagte er: „Unser Ziel ist es, ein gerechtes, einfaches und überschaubares Steuersystem zu schaffen.“ Es werde sich um das bedeutendste und umfassendste Reformwerk nicht nur der Legislaturperiode, sondern der deutschen Nachkriegsgeschichte handeln. 14 Alex Möller begann als ehrgeiziger, engagierter Reformer. Er dachte an ein „Jahrhundertwerk“, steigerte sich sogar zur Idee eines „neuen Systems mit relativem Ewigkeitswert“. Zunächst feuerte Möller drei Staatssekretäre und ließ vier Ministerialdirektoren in den einstweiligen Ruhestand versetzen. Für seine hochfliegenden Reformpläne holmen gekostet habe und dass er die Abfassung eines Buches mit dem Arbeitstitel „Genosse Generaldirektor“ und eines Romans „Der gläserne Zug“ habe aufschieben müssen (DER SPIEGEL Nr. 42/1969). G. Gaus berichtet, A. Möller habe gern gezeigt, wie weit er es gebracht habe (G. Gaus, Widersprüche, 2004, S. 294). 12 Schriftenreihe des BMF Heft 17, 1971. 13 Erste einschlägige Beiträge: K. Tipke, Steuerrecht-Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971, 2 ff.; ders., Die Steuergesetzgebung der BR Deutschland aus Sicht des Steuerrechtswissenschaftlers – Kritik und Verbesserungsvorschläge, StuW 1976, 293 ff.; dazu Koreferate von R. Kreile, StuW 1977, 1 ff., und von A. Uelner, DStR 1977, 119 ff. 14 Bulletin der Bundesregierung Nr. 132 v. 29. 10. 1969, S. 1122, 1123.
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te er sich aus Zürich den renommierten Finanzwissenschaftler Prof. Heinz Haller. Haller hatte sich durch die finanzwissenschaftliche Entwicklung eines „rationalen Steuersystems“ einen Namen gemacht. 15 Er wurde Staatssekretär und ab April 1970 Leiter einer hausinternen Reformkommission. Dem Finanzminister und seinem Reformstaatssekretär erwuchs jedoch bald eine Gegenmacht: Prominente SPD-Vertreter beanspruchten die Mitwirkung von Partei und Bundestagsfraktion an der Steuerreform. Sie wollten die Kaufkraft der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen durch Steuerentlastung stärken und eine Steuererleichterung für Unternehmer verhindern. Auf ihrem Saarbrücker Sonderparteitag über Steuern (11.–14. 5. 1970) beschloss die SPD, eine eigene Steuerreformkommission unter der Leitung des Parteiideologen Erhard Eppler (erlernter Beruf: Studienrat) einzusetzen. Das „konservative“ Reformgutachten der F. J. Strauß-Kommission hielten die Steuerreformer der Sozialdemokraten für einseitig wirtschafts- und industriefreundlich. Es wurde daher „beiseite gestellt“. 16 Finanzminister Alex Möller hatte eine volle Staatskasse übernommen und zu Beginn seiner Amtszeit eine solide Haushaltspolitik versprochen. Den Haushalt hatte er aber schon durch seine „personelle Säuberungsaktion“ geschmälert. Nun erboste ihn nicht nur, dass ihm in dem zum Steuerpolitiker avancierten Erhard Eppler ein Reformkonkurrent erwuchs; er befürchtete auch, dass die Reformpolitik der SPD – Förderung der Bildung, Verstärkung der Sozialfürsorge, Verbesserung der Infrastruktur und des Umweltschutzes – seinen Haushalt überfordern werde. Schnell entschloss er sich daher zum Rücktritt. Schon im Mai 1971 wurde Alex Möller von dem Wirtschaftsprofessor Karl Schiller abgelöst. Mit Karl Schiller hatte Alex Möller schon seit Beginn der sozialliberalen Koalition um Macht und Publizität gestritten. Karl Schiller hatte jedoch 1971 noch eine stärkere Position in der SPD als Alex Möller, hatte er doch großen Anteil am Wahlsieg der SPD von 1969 gehabt. Nach Alex Möllers Rücktritt wurde Karl Schiller „Superminister“ für Wirtschaft und Finanzen. Unter seiner Mitwirkung verabschiedete die Regierung Brandt/Scheel im Juni 1971 „Eckwerte und Grundsätze zur Großen Steuerreform“ mit Änderungen gegenüber Möllers Vorstellungen. Das Gesamtreformvorhaben wurde in drei Reformpakete zerlegt. Die dem Paket 2 zugeordnete Einkommensteuerreform sollte im Frühjahr 1971 verabschiedet werden. Kurz nach dem Beschluss 15 H. Haller, Die Steuern, Grundlinien eines rationalen Systems öffentlicher Abgaben, 1. Aufl., 1964; 2. Aufl., 1971; 3. Aufl., 1981. 16 W. Krüer-Buchholz (Fußn. 6), S. 289, nennt das Gutachten das wichtigste, umfangreichste, aber im parlamentarischen Raum durch veränderte Koalitionsverhältnisse wirkungsloseste.
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der Regierungseckwerte kam die SPD-Reformkommission mit ihren Vorstellungen heraus. Die Kommission wurde dann noch übertrumpft von dem erwähnten Sonderparteitag der SPD, der für einen niedrigen Eingangssteuersatz und einen Spitzensatz der Einkommensteuer von 60 % eintrat, ferner für die Erhöhung der Pauschale für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, für die Abschaffung des Abzugs von Bewirtungskosten und des § 6 b EStG, für den Abzug unvermeidbarer Privatausgaben von der Steuerschuld statt von der Steuerbemessungsgrundlage, für Kindergeld statt für Kinderfreibeträge („Jedes Kind ist dem Staat gleich viel wert.“), für die Kappung des EhegattenSplitting-„Vorteils“, für die Erhöhung der Erbschaftsteuer und der Vermögensteuer sowie für die Unantastbarkeit der Gewerbesteuer. Karl Schiller versuchte, die Genossen zu mäßigen („Genossen, lasst die Tassen im Schrank.“). Er befürchtete, dass das SPD-Programm der Glaubwürdigkeit des Regierungskonzepts Abbruch tun könne, dass es die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft dämpfen und die Rezessionsgefahr verstärken werde. In dieser Beurteilung traf er sich mit der Koalitionspartnerin FDP, die sich dem Mittelstand und der Industrie als Bremserin empfohlen hatte. Jeder Koalitionspartner nahm mehr und mehr die eigene Wählerklientel ins Auge und prüfte jede Maßnahme auf ihre Wählerattraktivität bei der eigenen Klientel. Wortführer ihrer Parteien wurden aus der SPD-Fraktion Konrad Porzner (gelernter Beruf: Studienrat) und für die FDP Liselotte Funcke (Dipl.-Kff., 1972 mit der Silbernen Steuerschraube ausgezeichnet, später Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen). Als sich abzeichnete, dass selbst Teilreformen nicht bis zum Ablauf der Legislaturperiode würden verabschiedet werden können, wurde Karl Schiller vorgeworfen, er vernachlässige und bremse das Reformvorhaben. Tatsächlich lagen im Sommer 1972 erst einige Entwurfsbruchstücke vor. Immer wieder mussten die beamteten Gesetzesformulierer im Finanzministerium auf politische Vorgaben des mit Konjunktur-, Währungs- und Haushaltsproblemen überlasteten „Superministers“ warten. Auch Karl Schiller hatte zwar nach seinem Amtsantritt von der „bedeutendsten und umfassendsten Reform der Nachkriegsgeschichte“ gesprochen, sich aber nicht als entschlossener SPD-Reformer gezeigt. Als er merkte, dass er unter den SPDKabinettskollegen nur noch sachliche und persönliche Gegner hatte, trat er im Juli 1972 zurück. Er sah sich als Opfer eines Komplotts von Kabinettskollegen. Karl Schillers Rücktritt folgte bald auch der Abgang des unpolitischen Reformstaatssekretärs Prof. Heinz Haller, der im politischen Terrain und im Finanzministerium nie Fuß gefasst hatte. Zwei Steuerwelten waren sich begegnet. Prof. Karl Schiller wurde als „Superminister“ von Dipl.-Vw. Helmut Schmidt abgelöst, der zuvor Verteidigungsminister gewesen, aber mit Finanz-, Währungs- und Konjunkturpolitik durchaus vertraut war. H. 1788
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Schmidt war K. Schillers Student in der Universität Hamburg gewesen, nach dem Studium persönlicher Referent des Hamburger Wirtschaftssenators K. Schiller geworden, aber schon 1950 mit ihm in Kontroversen geraten. 1972 war es wohl H. Schmidt, der wesentlich zum Rücktritt K. Schillers beigetragen hat. H. Schmidt erklärte 1973: „Das Steuersystem muss auch, wie ich denke, dazu führen, dass der einzelne Bürger Sinn und Berechtigung steuerlicher Maßnahmen erkennen kann. Diese Forderung nach Vereinfachung nehme ich persönlich jedenfalls außerordentlich ernst.“ 17 Schon im ersten Jahr seiner Amtszeit wollte der als forsch bekannte Minister Steuervergünstigungen und andere Subventionen streichen lassen („Wir können doch nicht jedem den Arsch vergolden“; „Wir müssen auch an Steuerprivilegien ran, die Sozialdemokraten heilig sind“ 18). Er ließ sich daher eine Subventions-Streichliste anfertigen, bewirkte mit seinen starken Worten aber kaum etwas. Der zum Parlamentarischen Staatssekretär ernannte Konrad Porzner befand: „Man kann nicht einfach streichen; es muss schon ein Konzept dahinter stehen.“ In seiner 1998 erschienen Schrift „Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral“ äußert Helmut Schmidt rückblickend: Es muss eine Steuerreform „die vielen, an Gruppeninteressen orientierten legalen Steuerbefreiungen, Ermäßigungen und Schlupflöcher aller Art beseitigen. Daraus wird sich die Möglichkeit zur Absenkung der Steuersätze ergeben“ (S. 137 f.). „Nur wenn die politische Klasse unseren Steuer- und Subventionsdschungel endlich durchschaubar macht und ihn anschließend trockenlegt, wird sie im Ernst die Eingangs- und Spitzensteuersätze der Einkommensteuer und das Niveau insgesamt senken dürfen. Zwar wissen unsere Politiker dies sehr wohl, aber gegenüber dem Geschrei der Interessengruppen, der Verbände der Industrie, der Landwirtschaft, der Gewerkschaften usw. fehlt ihnen bisher der Mut, ihr Wissen öffentlich auszusprechen und die nötigen Konsequenzen zu ziehen“ (dort S. 140 f.). Im September 1972 wurde der Bundestag aufgelöst. SPD und FDP gewannen jedoch auch die Bundestagswahl vom November 1972. Helmut Schmidt wurde wieder Finanzminister und brachte den Einkommensteuer-Reformplan allmählich voran. Nach dem Ende September vereinbarten Koalitionskompromiss verabschiedete die Bundesregierung den Einkommensteuer-Reformentwurf im Oktober 1973. 19 Der Finanzausschuss beriet ihn in 22 Sitzungen und hörte im Februar 1974 die Spitzenverbände an.
17 Zitiert nach G. Felix, Neujahrsrundschreiben Ende 1978. 18 Zitiert nach DER SPIEGEL Nr. 51/1972, S. 28. (Dachte H. Schmidt insoweit schon wie P. Kirchhof?) 19 BT-Drucks. 7/1470 (3. Steuerreformgesetz).
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Nach dem Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler im Jahre 1974 wurde Helmut Schmidt Bundeskanzler. Finanzminister wurde Hans Apel (Dr. rer. pol., seit 1969 Vorsitzender des Verkehrsausschusses beim Bundesminister des Auswärtigen). An ihn reichte der neue Kanzler nach sechs Jahren das Projekt einer „Großen Steuerreform“ weiter. Ihm, Hans Apel, bereitete bald der Bundesrat Schwierigkeiten, in dem inzwischen die CDU/CSU eine knappe Mehrheit hatte. Gerhard Stoltenberg, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein und Wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU, trat als zäher Verhandler auf. Der Bundesrat lehnte den Regierungsentwurf ab. Man sprach schon damals von Blockade. Je konkreter die Reformabsichten wurden, desto mehr wuchs der Protest, nicht nur der Opposition, sondern auch des Bundes der Steuerzahler, der Deutschen Steuergewerkschaft und der Steuerberater sowie der Interessenverbände. Die Printpresse verdichtete die Proteste zu wirksamen Schlagzeilen, wobei die Massenblätter vorangingen. Insgesamt hatte das Reformvorhaben zu Apels Zeiten eine schlechte Presse. So blieb nach Anrufung des Vermittlungsausschusses von den Reformzielen nicht viel übrig. Den Vorwurf, die Opposition betreibe über Bundesrat und Vermittlungsausschuss Obstruktion, sie handle staatspolitisch verantwortungslos, nahm diese gelassen in Kauf, wusste sie doch, dass die Stimmung der Wähler sich zugunsten der CDU/ CSU-Opposition gewandelt hatte. Der SPD-Fraktionslinke G. Wichert stellte enttäuscht fest: „Solange wir nur darüber geredet haben, dass die Staatsaufgaben erweitert werden müssen, waren alle dafür. Seitdem es ans Portemonnaie geht, sind alle dagegen.“ 20 Erst sechs Jahre nach Reformbeginn konnte der Reformtorso durch das Einkommensteuer-Reformgesetz vom 5. 8. 1974 21 verabschiedet werden mit dem Ergebnis: Ein Zuwachs an Steuergerechtigkeit wurde weithin bestritten. Ein Konzept für eine konsequente Rechtsreform der Steuerbemessungsgrundlage hatten die Reformer von vornherein nicht gehabt. Der Stoff wurde nicht systematisch neugeordnet, punktuelle Einzelmaßnahmen standen im Vordergrund. Gesetzesaufbau und Gesetzessprache wurden nicht verbessert. Die SPD hatte zwar insofern einen ideologisch festen Standpunkt, als sie die unvermeidbaren Privatausgaben von der Steuerschuld abgezogen und die Kinderfreibeträge durch das Kindergeld ersetzt wissen wollte: Die Kompromisse, die sie eingehen musste, machten das Gesetz aber eher komplizierter als einfacher. Die sieben Einkunftsarten wurden nach wie vor ungleich behandelt. Es blieb beim Pluralismus der Einkünf20 DER SPIEGEL Nr. 217/1974, S. 38. 21 BGBl. I 1974, 1769; BStBl. I 1974, 530.
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teermittlung. Die Alterseinkünfte wurden weiterhin ungleich belastet. Der Versuch, Vorsorgeaufwendungen statt von der Bemessungsgrundlage von der Steuerschuld abzuziehen, scheiterte an der Opposition. Durch die Inflation ausgelöste „heimliche Steuererhöhungen“ durfte es auch in Zukunft geben. 22 Nur 11 Steuervergünstigungen im Volumen von ca. 800 Mio. DM wurden abgebaut. 23 Immerhin wurden untere und mittlere Einkommen von Einkommensteuer durchweg entlastet. Finanzminister Hans Apel erklärte jedenfalls: „Ich empfinde heute Befriedigung darüber, dass wir mit Beendigung der Arbeiten an der Einkommensteuerreform und am Familienlastenausgleich doch ein echtes Stück sozialdemokratischer Reformpolitik verabschieden können.“ 24 Die Kritiker ließen dem Finanzminister aber auch nach der Verabschiedung des Reformgesetzes keine Ruhe. Arbeitnehmer erkannten bei der ersten Lohnzahlung 1975, dass die Steuersenkung sich nur mäßig oder gar nicht auswirkte und machten ihrer Enttäuschung durch Beschwerden, Leserbriefe und Anrufe Luft. Infolge des Termindrucks gegen Ende des Reformverfahrens waren Fehler entstanden, die Hans Apel zu dem sprichwörtlichen 25 Ausruf veranlassten: „Ich dacht’, mich tritt ein Pferd.“ In der Presse tauchten negative Schlagwörter und Schlagzeilen auf wie „Flickschusterei“, „Steuerflickwerk“, „Köpenickiade“, „Fiskus als Nutznießer der Inflation“, „Steuerreform leistungshemmend und inflationsfördernd“, „Investitionsbereitschaft und -fähigkeit abgewürgt“, „Vertrauensbasis der Wirtschaft zerstört“, „Arbeitnehmer benachteiligt und Massenkaufkraft abgewürgt“, „Steuergerechtigkeit wird zur Farce“, „Steuerreform ist zur Burleske geworden“, „Das Gesetz verdient den Namen Reform nicht“, „Entlastungen sind Augenwischerei“, „Irreführende Zahlen“, „Schludrig gearbeitetes Gesetz“, „Schlechtestes Steuergesetz der Nachkriegszeit“, „Dilettantische Bastelei“, „Mischung von Dilettantismus und gutem Willen“, „Terminhetze, durchgepeitscht“, „Produkt politischer Ideologen“, „Lehrstück dafür, wie man es nicht machen soll“, „Jahrhundertreform als politischer Reinfall“, „Reform – Windei des Jahres“, „Absage an systematische Steuerpolitik“. Zum Teil waren solche und ähnliche Schlagzei22 Dazu D. Fricke, StuW 1977, 243 ff. (behandelt insbesondere Umfang und Verteilung der „heimlichen Steuererhöhungen von 1965–1974“ und die dadurch ausgelösten Mehrbelastungen). 23 Kritisch zum Reformergebnis auch D. Dziadkowski, StuW 1974, 289 ff., sowie – umfassend und ausführlich J. Lang, Das Einkommensteuergesetz 1975 – Gewinn an Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung?, StuW 1974, 293–318. 24 Zitiert nach G. Felix (Fußn. 17). 25 L. Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 1994, S. 1168 (Stichwort „Pferd“).
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len auch schon vor der Verabschiedung des Gesetzes aufgetaucht. Gegen eine derart schlechte Presse vermochte auch der mit Öffentlichkeitsarbeit beauftragte junge Parlamentarische Staatssekretär Rainer Offergeld nichts auszurichten. DER SPIEGEL resümierte: „Dabei haben die Bonner sich gerade bei diesem Reformwerk viel versprochen. Mit ihm wollten die Sozialliberalen, allen voran Kanzler Schmidt, in den kommenden Landtagswahlen und bei der Bundestagswahl 1976 Eindruck machen. Die Reform sollte das Wahlvolk für die Regierung und den Macher Schmidt einnehmen. Doch die Benachteiligten bestimmen jetzt die Diskussion über das hochgejubelte Werk.“ 26 Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft äußerte: „Nur die Gesetzesmacher sind noch immer vom Zweifel unberührt. Sie produzieren mit kaninchenhafter Virilität und überwiegend guten Glaubens Paragraphen . . ., auch wenn gelegentlich ein Pferd sie tritt – wie am Jahresbeginn 1975 den Bundesminister der Finanzen Hans Apel, der per Gesetz den kleinen Steuerpflichtigen Milliardengeschenke machen wollte und hernach feststellen musste, dass er mit seiner Großen Steuerreform vielen von ihnen mehr Geld aus der Tasche gezogen hatte, als sie durch ihnen zugedachte Vergünstigungen wieder hereinbekamen . . .“. 27 Die CDU/CSU-Opposition rühmte sich, das Schlimmste verhindert zu haben und machte für alle Pannen die Regierung verantwortlich. Im November 1977 stellten die CDU/CSU-Fraktion und einzelne Abgeordnete, darunter Helmut Kohl und Theodor Waigel, den Antrag, der Bundestag wolle beschließen, er fordere, „den geltenden Rechtsstoff zu reduzieren und zu vereinfachen“ sowie „weniger neuen Rechtsstoff mit einfacherem Inhalt und in verständlicher Sprache zu erlassen“. 28 An diese Forderung hielt sich die CDU/CSU jedoch selbst nicht, als sie wieder die Regierung stellte. Überhaupt hat sich bis heute noch keine Regierung daran gehalten. Hans Apel, durch den Reformprozess verschlissen und unpopulär geworden, wurde 1978 von Hans Matthöfer (SPD) abgelöst. Hans Apel wurde Verteidigungsminister. Der Dipl.-Vw. Hans Matthöfer war von 1972 bis 1974 Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gewesen, von 1974 bis 1978 Bundesminister für Forschung und Technologie. Erfahrungen in Finanz- und Steuersachen brachte er nicht mit. Mit Matthöfers Unerfahrenheit oder Inkompetenz im Steuerrecht mag es zusammenhängen, dass er die Steuergesetze nicht für reformbe26 DER SPIEGEL Nr. 6/1975. 27 Deutsche Steuer-Gewerkschaft 1977, S. 131. 28 BT-Drucks. 8/1206 v. 21. 11. 1977.
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dürftig hielt. Er wies jedenfalls alle ab, die sich über das komplizierte Steuerrecht beklagten. Als der Präsident der Bundessteuerberaterkammer H. Möckershoff auf dem Steuerberaterkongress 1978 vortrug, Steuerberater und Steuerbeamte stünden im Grunde vor der Wahl, entweder laufend die neuen Gesetze, Verordnungen, Richtlinien, Erlasse und Urteile sowie die Literatur dazu zu studieren – oder zu arbeiten, daher sei das Steuerrecht zu vereinfachen, entgegnete der Steuerfrischling Matthöfer, der Bewegungsraum der Politik bei der Vereinfachung sei „nicht ermutigend“. In der Steuergesetzgebung komme es zu einem komplizierten Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern, und die wachsenden Anforderungen an die Steuergerechtigkeit führten zu immer differenzierteren Lösungen. Der bürokratische Apparat entwickele seine Eigendynamik. Es sei eine Illusion zu glauben, dass es im deutschen Sozialstaat mit seinen vielfältigen Leistungs- und Transferbeziehungen möglich sei, ein einfaches und gleichzeitig gerechtes Steuerrecht zu finden. Auf die Zweifel von H. Fredersdorf, ob die etablierten Parteien die Kraft aufbrächten, das Steuersystem zu vereinfachen, erwiderte Matthöfer, er fürchte, dass Fredersdorf „so Unrecht nicht“ habe. Nur gebe es keine Alternative zur demokratischen Willensbildung über die politischen Parteien, und es gebe auch keine grundsätzliche Alternative zum heutigen Steuersystem. Die Gesetzesänderei wurde unter Hans Matthöfer munter fortgesetzt. Hans Matthöfer wurde im April 1982 von Manfred Lahnstein abgelöst. Matthöfer wurde Minister für das Post- und Fernmeldewesen. Über die kurze Amtszeit von Lahnstein ist nichts zu berichten. Im Herbst 1982 kam es nämlich zu einem Regierungswechsel.
3. Missglückter Versuch einer „Großen Steuerreform“ durch eine christlich-liberale Koalition in den 1980er und 1990er Jahren 3.1 Missglückter Reformversuch von Finanzminister Gerhard Stoltenberg 29 Im Herbst 1982 wurde die sozialliberale Koalition, nachdem die FDP die Seiten gewechselt hatte, durch eine christlich-liberale Koalition abgelöst. Helmut Kohl wurde Bundeskanzler, Gerhard Stoltenberg Finanzminister. Nach Umfragen in der Bevölkerung war Stoltenberg 29 Ausführlich dazu M. Findling, Die Politische Ökonomie der Steuerreform. Eine Untersuchung der politischen Grenzen von Steuerreformen unter besonderer Berücksichtigung der Steuerreform 1990, Essener Diss. rer. pol. 1992, veröffentlicht 1995.
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damals weit populärer als seine Kabinettskollegen, Bundeskanzler Kohl eingeschlossen. Er wurde als natürlicher Nachfolger Helmut Kohls angesehen. Nachdem die von der sozial-liberalen Koalition versuchte Steuerreform weitgehend gescheitert war, wollte die im März 1983 von den Wählern bestätigte Regierung Kohl zeigen, wie man erfolgreich eine Steuerreform „ins Werk setzt“. In der Regierungserklärung vom Mai 1983 wurde angekündigt, die Steuerpolitik solle in das Zentrum einer offensiven Wirtschafts- und Finanzpolitik für Wachstum und Beschäftigung gestellt, das Steuersystem dementsprechend Schritt für Schritt umgestaltet werden. Zur Erreichung dieses Zieles sollte die Steuerbelastung für alle Bürger deutlich und dauerhaft gesenkt werden. Die Leistung von Arbeitnehmern, freien Berufen und Unternehmern sollte dadurch stärker honoriert werden. Um das Steuerrecht in sich schlüssiger, überschaubarer und gerechter zu gestalten, sollte die Struktur des Steuersystems nachhaltig verbessert werden. 30 Das war allerdings vorerst noch ein sehr abstrakter Plan. Im März 1984 kündigte Finanzminister Stoltenberg als ersten Reformschritt das Vorhaben an, einen linear-progressiven Tarif einzuführen. Dazu wurden Zahlen für das beabsichtigte Entlastungsvolumen in Umlauf gebracht. Vor allem die CDU geizte nicht mit Reform-Superlativen. Auf dem Stuttgarter Steuerparteitag im Mai 1984 verkündete Parteivorsitzender Helmut Kohl den Plan der „größten Steuerreform seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland“. Finanzminister Stoltenberg sprach von einer „Super-Steuerreform“, auch der Begriff „Jahrhundert-Steuerreform“ tauchte in der Presse auf. Aber konkret geschah zunächst nichts. Ab Sommer 1985 stellten die Parteien ihre steuerpolitischen Pläne für die Legislaturperiode nach der nächsten Bundestagswahl vor. Die Regierungsparteien (CDU/CSU, FDP) wollten es dem Steuerreformer Ronald Reagan gleichtun. In den USA hatten öffentliche Umfragen des Survey Research Center der Universität von Michigan ergeben, dass eine Majorität der Amerikaner das Einkommensteuergesetz als das schlechteste und am wenigsten gerechte Steuergesetz ansieht. Die Mehrheit meinte, vor allem die vielen Steuervergünstigungen kämen insbesondere den Reichen zugute und die Verlustzuweisungsgesellschaften bewirkten, dass Bezieher hoher Einkommen weniger Einkommensteuer zahlten als Bezieher mittlerer und kleinerer Einkommen. Der amerikanische Präsident machte sich die Maxime „Broadening of the Tax Base, Lowering of the Rates“ zu eigen. Er nutzte die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage entsprechend dem Leistungsfähigkeitsprinzip für kräftige Steuersenkungen. Dazu verbündete der Präsident sich mit dem Wählervolk gegen die Lobby30 K. Falthauser, in: ders. (Hrsg.), Steuerstrategie, 1988, S. 8. Eine Zeittafel des Reformprozesses findet sich bei M. Findling (Fußn. 29), S. 222 ff.
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isten und setzte seine ganze Autorität für das Gelingen der Steuerreform ein. 31 In die Bundestagswahl 1987 gingen die deutschen Regierungsparteien mit kühnen Steuerentlastungsversprechen, ließen aber die Frage der Gegenfinanzierung offen. CDU/CSU und FPD gewannen zwar die Wahl vom 25. 1. 1987. Die CDU verlor aber Stimmen, sie erzielte das schlechteste Ergebnis seit 1949. Die FDP dagegen gewann Stimmen hinzu. Das stärkte ihre Position bei den Koalitionsverhandlungen. Über den Tarif kam es nach der Wahl nicht nur mit der FDP (die immer Profilierungsbedarf hatte), sondern auch CDU-intern zu Meinungsverschiedenheiten. Die Sozialausschüsse der CDU mit N. Blüm und H. Geißler wollten den Tarif mit Rücksicht auf eine Renten- und Gesundheitsreform nicht absenken. Einige Ministerpräsidenten folgerten aus dem schlechten Wahlergebnis, dass viele Wähler sich an den Plan einer kräftigen Tarifsenkung (SPD: „Reform für die Reichen“) gestoßen hätten. Die CDU-Ministerpräsidenten hatten 1987 noch Landtagswahlen zu bestehen und fürchteten, zu viele Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen könnten sich bei den Landtagswahlen von der CDU abwenden mit der Folge, dass die Bundesratsmehrheit verloren gehe. Die FDP hingegen, die ihr Wählerreservoir hauptsächlich bei den mittleren und leitenden Angestellten vermutete, hielt an der Steuersenkung fest („FDP, die Steuersenkungspartei“). So wurde der Spitzensteuersatz zum zentralen Thema. In den Koalitionsverhandlungen einigte man sich über ein Brutto-Entlastungsvolumen von 40 Mrd. DM und ein Netto-Entlastungsvolumen von 25 Mrd. DM; die Gegenfinanzierung der Differenz von 15 Mrd. DM blieb aber offen. Auch die Vorstellung über die Höhe des Vergünstigungsabbaus ging noch weit auseinander; sie wurde zum Gegenstand des Wahlkampfes in den Ländern. Die Regierungsparteien waren freilich bemüht, den Streit um die Gegenfinanzierung bis nach den Landtagswahlen 1987 zu verschieben. In den Medien ging die Diskussion rund um den Tarif und die Art der Gegenfinanzierung indessen munter weiter. Vor allem die parlamentarische Sommerpause 1987 wurde für Auseinandersetzungen und Spekulationen genutzt. Der Industrie ging die Senkung des Einkommensteuer- und Körperschaftsteuer-Tarifs nicht weit genug, den Oppositionsparteien und den Gewerkschaften ging sie zu weit („Umverteilung von unten nach oben“, „Geschenke an die Reichen“, „Unsoziales Machwerk“, „Windei“). Die Opposition bezeichnete die Verschleierung der wahren Be- und Entlastung bis nach den Landtagswahlen als „Wählerbetrug“ (H. Apel). Vorsorglich wandte sie 31 Dazu K. Tipke, Einkommensteuer – Fundamentalreform – zum Vorbild des amerikanischen Reformverfahrens, StuW 1986, 150 ff.; M. Zöller, Eine plebiszitäre Zange, FAZ v. 13. 12. 1986 (Nr. 289), S. 15; DER SPIEGEL Nr. 38/1986, S. 19 ff.
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sich auch gegen eine Erhöhung von Verbrauchsteuern und eine Erhöhung der Neuverschuldung. Inzwischen hatten die maßgeblichen Politiker der Regierungsparteien von den Beamten des Finanzministeriums eine streng geheim gehaltene Liste der Steuervergünstigungen als Tischvorlage erhalten. Allein Politiker wählten nun diejenigen Vergünstigungen aus, die gestrichen werden sollten, um Mehrsteuern von ca. 18 Mrd. DM zu erreichen. Nach welchem Maßstab das geschah, wurde nicht bekannt. Der Handelsblatt-Kommentator Hans Mundorf sprach den „selbstherrlichen Politikern“ die nötige Kenntnis des Steuerrechts ab und kritisierte: „Mit dem Finanzierungsteil der Steuerreform 1990 haben ein Dutzend Politiker an einem Samstagnachmittag Steuerrecht gemacht. So geht das nicht. Sie haben die Kritik der Bürger verdient. Gesetzgebung sollte ein ernsthaftes Geschäft bleiben, das sich nach festen Regeln und Prinzipien vollzieht“. Schon bis hierhin hatte Gerhard Stoltenberg nicht nur aus rechtlicher, sondern – wie jedenfalls rückblickend zu erkennen ist – auch aus politisch-taktischer Sicht so ungefähr alles falsch gemacht, was falsch zu machen war. Da er die Kompetenz der Steuerpolitiker überschätzte, verzichtete er auf eine gründliche Vorbereitung der Reform durch Experten, die gleich nach der Bundestagswahl 1983 hätte beginnen können. Der Minister sah Steuerpolitik wohl nicht als Steuerrechtspolitik an, Steuerreformen nicht als Steuerrechtsreformen. Anfang 1985 lag schon Joachim Langs Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes vor, an dem die Reformer sich hätten orientieren können. Sie hätten aus dem Entwurf bereits lernen können, dass die Rechtsreform der Bemessungsgrundlage Vorrang haben muss vor einer Tarifsenkung, dass der Tarif auf einer am Leistungsfähigkeitsprinzip zu orientierenden Bemessungsgrundlage aufbauen muss, nicht umgekehrt. Schon gar nicht darf eine Rechtsreform der Bemessungsgrundlage darin bestehen, dass sie ohne Maßstab zum „Zusammenkratzen“ 32 von Gegenfinanzierungsmitteln manipuliert wird. Diese Feststellung wird auch nicht dadurch erschüttert, dass Laien-Wählern die Tarifbelastung vielleicht mehr ins Auge fällt als eine Bemessungsgrundlage, die über die wahre Belastung täuscht. G. Stoltenberg wollte nicht nur ohne eine Expertenkommission auskommen. Er setzte auf seinen Parlamentarischen Staatssekretär Hansjörg Häfele. Die Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums sollte nur die Politikerbeschlüsse in Gesetzesformulierungen umsetzen. Der Minister und die Beamten der Steuerabteilung des Ministeriums hätten jedoch ein Team bilden müssen. Von den Beamten hätte der Mi-
32 B. Knobbe-Keuk, BB 1988, 1087 li Sp.
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nister sich auch einen sachgerechten Maßstab für den Abbau von Steuervergünstigungen liefern lassen sollen. Im Oktober 1987 endlich – nach der letzten Landtagswahl des Jahres – gab das Finanzministerium die konkrete Liste der Steuervergünstigungen bekannt, die gestrichen werden sollten, um ca. 18 Mrd. DM mehr Einkommensteuer einzunehmen. Darauf brach der Sturm der Kritik los. Die negative Kritik der Parteien und der Interessenverbände beherrschte die Zeitungsspalten. Die Wirtschaftsverbände behaupteten, die Wirtschaft werde unverhältnismäßig benachteiligt, die Gewerkschaften nahmen das Gleiche für die Arbeitnehmer an. Die Schlagzeilen lauteten z. B.: „Wirtschaft baut Front gegen Stoltenbergs Subventionsabbau auf“, „Blanke Geldbeschaffung zu Lasten der Unternehmer“, „Keine Reform, sondern Geldbeschaffungsaktion“. Das Vorhaben, die Steuerbefreiung der Nachtarbeitszuschläge abzuschaffen oder einzuschränken, wurde mit allen Mitteln von zwei Seiten (der sog. „unheiligen Allianz“ von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften) bekämpft. Die Zeitungs- und Zeitschriftendrucker organisierten Warnstreiks und Demonstrationen. Der Verband der Deutschen Zeitungsverleger sympathisierte mit ihnen. Auf der anderen Seite kündigte auch die Gewerkschaft IG Druck und Papier Protestkundgebungen und Demonstrationen an. Starker Widerstand richtete sich auch gegen das Vorhaben, eine 10%ige Quellensteuer auf Zinsen einzuführen. Vorsorglich wandten Opposition und Gewerkschaften sich gegen eine Erhöhung von Verbrauchsteuern und eine Erhöhung der Neuverschuldung, gegen eine Abschaffung des Weihnachtsfreibetrages und der Befreiung von Belegschaftsrabatten sowie von Zuschüssen zum Kantinenessen. Auch den vollen Abzug von Bewirtungsaufwendungen wollten Interessenten erhalten wissen. Der Finanzminister konnte sich nun auch der Mehrheit im Bundesrat nicht mehr sicher sein, weil auch mehrere CDU-Länder-Ministerpräsidenten opponierten: Der baden-württembergische Ministerpräsident Späth machte die Zustimmung Baden-Württembergs zum Reformgesetz von einer „Verbesserung“ der Steuerbefreiung für Belegschaftsrabatte sowie einer Realisierung eines in den Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurfs zur „Vereinfachung der Vereinsbesteuerung“ abhängig. Der baden-württembergische Finanzminister Palm wollte der Senkung des Einkommensteuer-Spitzensatzes nur zustimmen, wenn zugleich dem Vorhaben Baden-Württembergs zugestimmt werde, den nicht gewerblichen Kleintier- und Kleinpflanzenzüchtern die Gemeinnützigkeit zuzuerkennen. Und der bayerische Ministerpräsident F. J. Strauß nahm die Gelegenheit wahr, die Mineralölsteuer-Befreiung des Benzinverbrauchs der Hobbyflieger durchzusetzen. 33 Das wa33 Ende der 1980er Jahre plante die christlich-liberale Koalition im Rahmen der „Steuerreform“, die Mineralölsteuer zu erhöhen, davon aber – auf
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ren sachfremde Kopplungen! Die Kommunalverbände behaupteten, die Kommunen würden durch die Reform benachteiligt und forderten die Erhöhung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer. Wie sehr G. Stoltenberg wähler- und interessenorientiert statt rechtsprinzipienorientiert agierte, demonstrierte er nicht nur durch seine Nachgiebigkeit gegenüber den Hobbyfliegern, sondern auch durch die von ihm betriebene Erweiterung des § 52 Abs. 2 AO um eine Nr. 4, die reine Freizeitvergnügen bis zum „Hundesport“ für gemeinnützig erklärt. 34 G. Stoltenberg dachte wohl an die 20 Mio. Wähler, die in Deutschland Vereinen angehören, vor allem an die Mitglieder von Sportvereinen. Jedoch hat vor allem das Vorhaben der HobbyfliegerBegünstigung der Reform der CDU/CSU sehr geschadet. Die Reformdiskussion drehte sich zeitweilig nur noch um das Hobbyflieger-Flugbenzin. Der damalige Parlamentarische Staatssekretär K. Faltlhauser (CSU) dazu: „Die irrationalen Erscheinungen einer immer stärker werdenden Stimmungsdemokratie hatten die Atemwege einer rationalen Diskussion verstopft. Von Kommentatoren der großen Fernsehanstalten wurde jeweils am Abend die Tonart der Empörung angeschlagen, die Schlagzeilen der Tageszeitungen spielten am nächsten Morgen diese Tonart weiter, so dass sie schließlich Eingang fand in die Gespräche am Arbeitsplatz, in der Kantine und am abendlichen Stammtisch.“ 35 Die Öffentlichkeit reagierte deshalb so empört, weil ihr an einem einfachen Fall einmal mehr demonstriert wurde, wie man als Politiker mit Macht und Einfluss (ohne rechtfertigende Gemeinwohlgründe) Privilegien durchsetzt. Das Handelsblatt fasste die (unkonzentrierte) Protestaktion so zusammen: „Die Arbeitnehmer und die Unternehmer, die Drucker und die Reeder, die Kirchen und die Stiftungen, die Kommunen und die Länder, sie alle melden sich fast täglich zu Wort und geben ihr Unbehagen zu Protokoll über den Abbau der Vergünstigungen, der ihnen zum Zwecke der Finanzierung der Steuerentlastung zugemutet werden soll.“ Im Februar 1988 wurde in der Bonner Beethovenhalle ein zweitägiges Massenhearing durchgepeitscht. Trotz aller Kritik hielt die Regierung im Wesentlichen am Referentenentwurf fest und beschloss Ende März Drängen des bayr. Ministerpräsidenten und Privatfliegers F. J. Strauß – Flugbenzin auch für Privatflugzeuge auszunehmen. Während das Öl zum Heizen privater Wohnungen besteuert wird, sollten die „Hobbyflieger“ (F. J. Strauß: „eine mikroskopisch kleine Zahl“) begünstigt werden (dazu K. Tipke, StuW 1988, 277). 34 Dazu K. Tipke, in: Tipke/Kruse, Komm. zur AO/FGO, Loseblatt, Lfg. 104 (2004), § 52 AO Tz. 32–44. Gegenwärtig ebenda Lfg. 119 (2009), § 52 Tz. 52–64 – zu II Nr. 23. 35 K. Faltlhauser (Hrsg.), Steuerstrategie, 1988, S. 15 f.
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Versuch der christlich-liberalen Koalition, 1980er/1990er Jahre
1988 den Regierungsentwurf eines Steuerreformgesetzes 1990. Im Mai 1988 führte der Finanzausschuss des Bundestages eine dreitägige öffentliche Anhörung durch, im Juni 1988 eine weitere Anhörung zu Verfassungsproblemen. Eine Anrufung des Vermittlungsausschusses lehnte der Bundesrat mehrheitlich ab. Im Sommer 1988 wurde das Gesetz von Bundestag und Bundesrat verabschiedet. 36 Zum 1. 1. 1990 trat das Steuerreformgesetz 1990 vom 25. 7. 1988 in Kraft. In der Abschlussdebatte des Bundestages am 22. 6. 1988 nannte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Alfred Dregger, die Steuerreform ein „großes, kühnes und sozial ausgewogenes Werk“. Der finanzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Hans Apel, hingegen bewertete sie als „ein Stück aus dem Tollhaus, ein Machwerk voller Ungerechtigkeiten, der brutalen Umverteilung von unten nach oben.“ 37 Dass die Steuerreform ungeschickt angelegt worden war, erkannten auch Steuerpolitiker von CDU und CSU. Im Herbst 1988 kam ein Buch mit dem Titel „Steuerstrategie“ heraus mit Beiträgen von Steuerpolitikern der CDU und der CSU. Verfasser waren u. a. Theo Waigel, Michael Glos, Kurt Faltlhauser und Gunnar Uldall. Vor allem Kurt Faltlhauser räumte offen ein, dass die Reformstrategie von CDU/CSU alles andere als optimal gewesen sei. Er sprach von „einer zugegebenermaßen miserabel verkauften Reform“. Er beklagte „die mangelnde Koordinierung der ‚politischen Kapitänsentscheidungen‘ mit den parlamentarischen Beratungen. Die in unregelmäßigen Abständen angesetzten Koalitionsrunden waren vielfach weder inhaltlich noch zeitlich mit der Arbeit der ‚Finanzpolitiker im Maschinenraum des Parlamentes‘ koordiniert. In diesen Koalitionsrunden wurde versucht, die Auffassungen der Koalitionsparteien mit der Bundesregierung, den unionsregierten Ländern und den Fraktionen abzugleichen; eine Aufgabe, um die die Führungskräfte der Koalition sicher nicht zu beneiden waren . . . Oft mussten die Mitglieder des Finanzausschusses aus den Zeitungen entnehmen, was eine Koalitionsrunde beraten hatte, und nicht selten mussten sie dabei feststellen, dass die Koalitionsspitzen noch einmal Punkte aufgegriffen hatten, die von der Finanzarbeitsgruppe bereits einvernehmlich abgehandelt worden war. So gab es viele Missverständnisse, Kommunikationsdefekte, Paralleldiskussionen und Interpretationsstreit. Es ist nicht verwunderlich, dass die internen Abstimmungs- und Organisationsdefizite auf das Bild der Koalition in der Öffentlichkeit negativ durchschlugen“ (dort S. 17 f.). Auch Theo Waigel räumte ein, dass es bei der politischen Vorbereitung, Verabschiedung und parlamentarischen Beratung der
36 Ges. v. 25. 7. 1988, BGBl. I, 1093. Dazu die Materialien BT-Drucks. 11/2157, 11/2226, 11/2299, 11/2529, 11/2536. 37 Handelsblatt v. 24./25. 6. 1988, S. 5.
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§ 37 Rückblick auf misslungene oder gescheiterte Steuerreformen
Steuerreform 1990 leider zu vermeidbaren Fehlern im Management gekommen sei. Obwohl ein beträchtlicher Abbau von Steuervergünstigungen gelungen war, erheblich voluminöser als durch die Reform der sozialliberalen Koalition in den 1970er Jahren, obwohl ein Tarif ohne Buckel und Sprünge durchgesetzt worden war: Finanzminister G. Stoltenberg war erschöpft. Das hohe Ansehen, die unbestrittene Autorität, die er zu Beginn des Reformprozesses gehabt hatte, hatte sich während dieses Prozesses verbraucht, auch in den eigenen Reihen. Zum Glaubwürdigkeitsverlust hatte insbesondere beigetragen, dass G. Stoltenberg F. J. Strauß die Privilegierung des Flugbenzins für Hobbyflieger zugestand, dass ihm vorgeworfen wurde, er habe seine Stellung als Finanzminister dazu ausgenutzt, Landwirtschaft und Werften in Norddeutschland, insbesondere in seinem Stammland Schleswig-Holstein, zu subventionieren, und dass er eine 10%ige Quellensteuer auf Zinsen einführte, nachdem die CDU eine solche Maßnahme gegen die SPD immer abgelehnt hatte, als „Neidsteuer aus der sozialistischen Folterwerkstatt“ und als „Kontenschnüffelei“. Nachdem auch der Steuerreformversuch G. Stoltenbergs diesem keine politischen Pluspunkte eingebracht hatte, titelte die Wochenillustrierte „Stern“: „Steuerreform. Der große Bluff“ und setzte hinzu „Eine Steuerreform, die diesen Namen verdient, bleibt Bonn weiter schuldig. Es gab noch keinen Finanzminister in Bonn, der nicht ein besseres Steuersystem gefordert hätte – aber keiner von ihnen hat es geschaffen.“ Im April 1989 wurde G. Stoltenberg im Rahmen einer Kabinettsumbildung von Theo Waigel (CSU) abgelöst. G. Stoltenberg wurde, wie seinerzeit schon H. Apel, Verteidigungsminister. 3.2 Gescheiterter Reformversuch von Finanzminister Theodor Waigel Abgelöst wurde Gerhard Stoltenberg 1989 von dem Juristen Theodor Waigel. Seit 1966 war unter den Finanzministern kein Jurist mehr gewesen. Theo Waigel war bei seinem Amtsantritt sowohl wirtschaftsals auch finanzpolitisch durchaus erfahren. Durch steuerrechtssystematisches Denken war er allerdings nicht hervorgetreten. Er war auch nicht der Typ des engagierten Steuerreformers und hatte – jedenfalls anfangs – kein Einkommensteuer-Reformkonzept. Zunächst fiel er durch Re-Reformmaßnahmen auf. Die von G. Stoltenberg eingeführte unpopuläre 10%ige Quellensteuer auf Zinsen hob er zum 30. 6. 1989, also nach einer Laufzeit von nur sechs Monaten, wieder auf. Ebenso
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Reformversuch von Theo Waigel
verfuhr er mit der von F. J. Strauß durchgesetzten anrüchigen Mineralölsteuerbefreiung für Hobbyflieger. 38 Nachdem das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber durch Beschluss vom 25. 9. 1992 aufgegeben hatte, die Steuerfreistellung des Existenzminimums ab 1996 verfassungskonform zu regeln 39, berief der Minister Ende 1993 eine Kommission, die insbesondere untersuchen sollte, welche Möglichkeiten bestehen, das Existenzminimum systematisch in den Einkommensteuertarif zu integrieren und die Gegenfinanzierung durch Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sowie durch Ausgabenersparnisse zu sichern. Die „Einkommensteuer-Kommission zur Freistellung des Existenzminimums ab 1996 und zur Reform der Einkommensteuer“ – nach ihrem Vorsitzenden auch als Bareis-Kommission bezeichnet – übergab ihre begründeten Thesen dem Minister am 8. 11. 1994. Sie schlug ein Existenzminimum von 13 000 DM, einen geringfügig geänderten linear-progressiven Tarif, die Gleichbehandlung aller Einkunftsarten, die weitgehende Abschaffung von Steuerbefreiungen und Steuerermäßigungen sowie die Streichung zahlreicher Lenkungsnormen vor. 40 Während die Kommissionsthesen in der Fachöffentlichkeit und in den Medien weitgehende Zustimmung fanden, stießen sie beim Minister auf prompte Ablehnung: Die Vorschläge seien unrealistisch, politisch nicht durchsetzbar und nicht sozialstaatlich. Die Opposition und andere Kritiker stießen sich besonders daran, dass die Arbeitnehmer-Pauschale halbiert, die Land- und Forstwirte den Gewerbetreibenden gleichbehandelt werden, private Veräußerungsgewinne zeitlich uneingeschränkt erfasst werden sollten, dass auch Steuervergünstigungen wie die Kilometerpauschale und die Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags- und Nachtarbeit gestrichen werden sollten. Die Kritiker dachten eben nicht in den Kategorien einer Rechtsreform, sondern – ohne Rücksicht auf Gerechtigkeits- oder Rechtsprinzipien – wählerorientiert oder interessen-orientiert. Der finanzpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion A. Hauser äußerte: „Das Steuerrecht war noch nie an die Moral geknüpft.“ 41 Möglicherweise befürchtete Minister Th. Waigel, mit den Gegenfinanzierungsvorschlägen der „Bareis-Kommission“ im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss auf Schwierigkeiten zu stoßen. 38 Das Gutachten der Kommission zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze von 1991 (BMF-Schriftenreihe Heft 46, Dez. 1991) übergehe ich. Es hat mit seinem Schwerpunkt im Unternehmenssteuerrecht wenig Beachtung gefunden. 39 BVerfG 87, 153, 169 ff. 40 BMF-Schriftenreihe Heft 55, 1995. 41 DIE ZEIT v. 13. 1. 1995, S. 14. Zu den Gründen der Ablehnung der Vorschläge der Bareis-Kommission auch St. Ganhof, Wer regiert in der Steuerpolitik?, 2004, S. 86 f.
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Es gab nun zunächst ein Zwischenspiel mit dem wirtschaftspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dem Unternehmensberater Dipl.-Vw. Gunnar Uldall (MdB von 1983 bis 2001). Dieser schlug vor, einen Stufentarif mit drei Sätzen (8, 18, 28 %) einzuführen und zur Gegenfinanzierung der sich durch die Tarifsenkung ergebenden Mindereinnahmen von 123 Mrd. DM alle Freibeträge, Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen zu streichen, Kinderfreibeträge und einen reduzierten Arbeitnehmer-Freibetrag sowie Vorsorgeaufwendungen ausgenommen. Auch die Kilometerpauschale und die Absetzbarkeit der Kirchensteuer sollten entfallen. Auf diese Weise sollten 80 Mrd. DM zusätzlich vereinnahmt werden. Die Differenz von 43 Mrd. DM sollte durch das – angenommene – durch die Reform ausgelöste Wachstum der Wirtschaft aufgebracht werden. 42 Wie alle Radikalvereinfacher zeichnete auch G. Uldall eine fast blinde Zuversicht aus, dass sein Modell sich alsbald durchsetzen werde. In einem WOCHE-Interview vom 12. 4. 1996 äußerte er: „. . . es muss ein Neuanfang gemacht werden. Da bin ich sicher, dass man das beste Modell wählt, und das ist meines! . . . Die einzige Partei, in der es einen fundierten durchgerechneten Vorschlag gibt, ist die CDU . . . Ich gehe davon aus, dass auf dem Bundesparteitag der CDU im Herbst in Hannover von mir mein Steuermodell zur Abstimmung gestellt wird.“ Der Vergünstigungsabbauvorschlag der „Bareis-Kommission“, so meinte G. Uldall, sei daran gescheitert, dass diese Kommission nur die Streichung einzelner Vergünstigungen vorgesehen habe. Ein solcher Weg sei aufgrund des starken Lobbyismus, der sich hinter jeder Sonderregelung verberge, zum Scheitern verurteilt. Es müssten grundsätzlich alle Ausnahmen ohne Begründung gestrichen werden. Ein Streichen der Ausnahmen ohne Ausnahme sei bei niedrigen Steuersätzen politisch leichter durchzusetzen, zumal die einzelne Ausnahme bei niedrigen Steuersätzen nicht mehr so viel wert sei, der finanzielle Vorteil geringer sei. Wenn alle Ausnahmen gestrichen würden, müsse nicht mehr der Gesetzgeber begründen, warum er etwas streiche, sondern der Bürger oder der Interessenverband müsse darlegen, warum seine Begünstigung als einzige in das Gesetz aufgenommen werden solle. Die Beweislast werde also umgekehrt. Eine selektive Herausnahme einzelner Bestimmungen reiche nicht aus; das Instrument „Steuern mit Steuern“ müsse verschwinden. 43
42 G. Uldall, Die Steuerwende. Eine neue Einkommensteuer. Einfach und gerecht, 1996. 43 G. Uldall, (Fußn. 42), S. 33; s. auch S. 29.
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Reformversuch von Theo Waigel
Uldalls Parteifreunde schlossen sich dessen Empfehlungen jedoch nicht an. In der CSU wurde über Uldalls Projekt als dem „unfinanzierbaren Modell Münchhausen“ gelästert. Rechtlich ist zu Uldall zu bemerken: Wie andere Vertreter niedriger Steuersätze, vergeht sich auch Uldall am objektiven und am subjektiven Nettoprinzip und schafft so eine zum Teil unwahre oder unehrliche Bemessungsgrundlage. Uldall wollte auch § 6 b EStG, ferner jeglichen Spendenabzug streichen, so dass selbst Wissenschaft und Forschung nicht mehr durch Spenden steuerlich hätten gefördert werden können. Wer so vorgeht, macht aus „einfach und gerecht“ ein „einfach, aber nicht mehr gerecht“. 44 Im Februar 1996 wurde die Opposition aus SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit reformerischen, ja rechtsreformerischen Vorschlägen aktiv. SPD-Abgeordnete, darunter J. Poß, I. Matthäus-Maier, B. Hendricks, P. Struck und R. Scharping sowie die Fraktion der SPD beantragten am 6. 2. 1996 45 einen Bundestagsbeschluss „für eine gerechte und einfache Einkommensbesteuerung“. Danach sollte der Deutsche Bundestag feststellen: „Tragende Grundsätze der Einkommensbesteuerung sind durch eine Vielzahl steuerpolitischer Entscheidungen in den letzten Jahren schwerwiegend verletzt worden. Das Einkommensteuerrecht verstößt nachhaltig gegen das Prinzip der Steuergerechtigkeit. Es verstößt gegen den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung genauso wie gegen das Prinzip einer Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die Bundesregierung hat Mitte der 1980er Jahre wiederholt die Schaffung einer einfacheren Einkommensbesteuerung nach dem Leitgedanken, niedrigere Steuersätze und weniger Ausnahmen, als eines ihrer wichtigsten finanzpolitischen Zielsetzungen formuliert. Die Bundesregierung hat diese Zielsetzung nachhaltig verfehlt . . . Selbst für die Finanzverwaltung ist das Einkommensteuerrecht kaum noch handhabbar. Die Steuerpolitik der Bundesregierung folgt keiner geschlossenen Konzeption, sondern bleibt bloßes Stückwerk. In einer bisher nicht vorstellbaren Hektik in der Steuergesetzgebung mussten mehrfach Einkommensteuergesetze geändert werden, noch bevor sie überhaupt in Kraft getreten waren. Insbesondere unter Bundesminister der Finanzen Dr. Theodor Waigel ist das Einkommensteuerrecht geradezu verwüstet und die Einkommensteuergesetzgebung von Sachverständigen als chaotisch bezeichnet worden. Die Ergebnisse von ihm selbst in Auftrag gegebener Gutachten namhafter Wissenschaftler zur systemgerechten Neuordnung der Einkommensteuer hat er von vornherein verworfen. Es ist daher dringend erforderlich, dass die Einkommensteuer wieder an bewährten Prinzipien der Besteuerung ausgerichtet wird. Die Steuerpolitik muss wieder eine klare Zielrichtung verfolgen. Grundsatz muss dabei sein, die 44 Dazu G. Felix, Stbg. 1996, 433, 437 („mutiert zu einer eher rohen Bruttoabgabe“), 438, 439 („für Angehörige der letzten vier Einkunftsarten eine Einnahmen-Einkommensteuer auf Brutto-Basis“). 45 BT-Drucks. 13/3701.
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§ 37 Rückblick auf misslungene oder gescheiterte Steuerreformen Steuerlast zu senken, gleichzeitig aber ein effizientes und gerechtes, d. h. an der Leistungsfähigkeit orientiertes und einfaches Steuersystem zu schaffen. Dies setzt auch die Bereitschaft und Fähigkeit der Politik voraus, sich gegen die Widerstände der verschiedenen Interessengruppen durchzusetzen. Eine durchgreifende Reform der Einkommensbesteuerung muss sich an folgenden Grundsätzen orientieren: 1. Gerechtigkeit und Einfachheit . . . 2. Gleichmäßigkeit der Besteuerung . . . 3. Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit . . . 4. Transparenz und Akzeptanz der Besteuerung . . . 5. Senkung der Steuer- und Abgabenquote . . . 6. Verfassungskonformität . . . 46 Angesichts der vielfältigen Mängel der heutigen Einkommensbesteuerung, die unter der jetzigen Bundesregierung dramatisch zugenommen haben, besteht dringender politischer Handlungsbedarf. Nicht neue, vage Zielvorgaben für das Jahr 2000, sondern konkrete und umsetzbare gesetzgeberische Maßnahmen sind erforderlich . . . Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf, noch im Jahr 1996 einen Gesetzentwurf zur aufkommensneutralen Reform der Einkommensbesteuerung vorzulegen, durch die die Einkommensteuer wieder an den tragenden Grundsätzen und Prinzipien der Besteuerung ausgerichtet wird. Ein solcher Gesetzentwurf sollte insbesondere folgende Elemente enthalten: – Die einzelnen Einkommensarten sind grundsätzlich steuerlich gleich zu behandeln . . . – Das den Bürgern nicht zur Verfügung stehende, nicht disponible Einkommen soll steuerfrei gestellt werden . . . – Steuervergünstigungen und steuerliche Sonderregelungen sind weitgehend abzubauen . . . – Soweit neben gezielten Finanzhilfen steuerliche Vergünstigungen erforderlich bleiben (im Bereich Forschung und Entwicklung, Ökologie), sind sie nicht mehr einkommensabhängig als Abzüge von der Bemessungsgrundlage, sondern einkommensunabhängig als Abzüge von der Steuerschuld zu gestalten. Die durch die Verbreiterung der Einkommensteuer-Bemessungsgrundlage erzielten Steuermehreinnahmen sind in vollem Umfang für eine Senkung des Einkommensteuertarifs zu nutzen . . . In der Progressionszone des Einkommensteuertarifs darf es keine gleichheitswidrigen Progressionssprünge geben.“
Einen ähnlichen Bundestags-Beschluss beantragten am 27. 2. 1996 47 u. a. die Abgeordneten Chr. Scheel, O. Metzger und die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Die Begründung – überschrieben mit „Für eine durchgreifende Einkommensteuerreform: Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung“ – lautet auszugsweise: 46 Die Begründungen zu diesen Grundsätzen sind hier nicht abgedruckt. 47 BT-Drucks. 13/3874; abgelehnt BT-Drucks. 13/6859.
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Reformversuch von Theo Waigel „Die Ergebnisse des Jahressteuergesetzes 1996 zeigen, dass die Bundesregierung nicht in der Lage ist, eine umfassende Reform der Einkommensbesteuerung zu verwirklichen. Bei der Umsetzung der Karlsruher Vorgaben zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums hat die Bundesregierung die Chance zu einer echten Reform nicht genutzt. Die EinkommensteuerreformKommission (Bareis-Kommission) hatte dazu einen weitreichenden Vorschlag zu einer verfassungskonformen Neuordnung des Einkommensteuerrechts unterbreitet. Das Steuerrecht bleibt, wie es bisher schon war: ungerecht und undurchschaubar, gleichzeitig aber voller Schlupflöcher, die Gutverdienenden viele Steuerersparnismöglichkeiten eröffnen . . . Die Ankündigung der Bundesregierung, nach 1998 einen neuen Versuch zu einer Einkommensteuerreform zu unternehmen, ist nicht glaubwürdig. Das Chaos im Steuerrecht hat diese Regierung mit zu verantworten, und die Ankündigung einer Reform für die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl erscheint vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Steuerpolitik als Wahlkampfrethorik . . . Die Einkommensteuer ist in ihrem Grundgedanken als eine Abgabe definiert, die zur Verwirklichung einer gerechten Besteuerung – d. h. einer Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit – dienen soll . . . Obwohl der Bundesminister der Finanzen das Ziel der Steuervereinfachung mehrfach betont hat, ist tatsächlich nichts geschehen . . . Darüber hinaus führen die steuerlichen Subventionen dazu, dass das Steuersystem intransparent ist. Die tatsächliche Steuerbelastung bleibt aufgrund der vielen Sonderregelungen weitgehend im Dunkeln . . . Viele Bürgerinnen und Bürger empfinden das Steuersystem zu Recht als unverständlich und ungerecht. Die chaotische und unsystematische Steuerpolitik der Bundesregierung hat zu dieser Entwicklung in erheblichem Maße beigetragen . . . Transparenz, Vereinfachung und Gerechtigkeit sind die leitenden Grundsätze der Reform . . . Die Reform der Einkommensteuer muss sich konsequent am Prinzip der Leistungsfähigkeit und sozialen Gerechtigkeit orientieren . . . Folgende Maßnahmen sind dazu notwendig: – Konsequenter Abbau von Steuersubventionen und steuerlichen Sonderregelungen . . . – Einschränkung steuerfreier Einnahmen, Frei- und Entlastungsbeträge . . . – Einschränkung des Abzugs von Betriebsausgaben, Werbungskosten und Sonderausgaben . . . – Rechtsbereinigungen und Steuervereinfachungen . . . – Beendigung von ökonomisch und ökologisch schädlichen Fehllenkungen von Kapital und Einkommen . . . – Individualbesteuerung statt Ehegattensplitting . . . – Gleichmäßigkeit der Besteuerung . . . – Verfassungskonforme und sozial gerechte Tarifreform verwirklichen . . . Rückkehr zum linear-progressiven Tarif und darüber hinaus eine der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage entsprechende Senkung des Spitzensteuersatzes . . .“
Die Begründungen der Anträge der Oppositionsparteien der SPD und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sie wurden abgelehnt – lesen sich – von einigen wertungslogischen Aufbaufehlern abgesehen – wie ein Kurzlehrbuch des systematischen, d. h. prinzipienorientierten Ein1805
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kommensteuerrechts. Offenbar nehmen Steuerpolitiker die Erkenntnisse der Steuerrechtswissenschaft sehr wohl zur Kenntnis – oder die manifestartigen Thesen stammen vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages. Schon hier muss allerdings angemerkt werden, dass Parteien das, was sie in der Opposition fordern, als Regierungsparteien selbst nicht durchsetzen. Die Abgeordnete Ingrid Matthäus-Maier (SPD) schrieb dem Verfasser dazu am 30. 4. 1996: „Dabei bin ich mir allerdings durchaus bewusst, dass es ein weiter Weg ist zwischen der Beschlussfassung über ein solches Vorhaben und seiner tatsächlichen gesetzestechnischen Umsetzung. Denn alle Erfahrung zeigt, der Widerstand steigt enorm, wenn es darum geht, konkrete heute bestehende Vergünstigungen abzuschaffen, selbst wenn damit anderweitige Steuerentlastungen finanziert werden. Ich fürchte deshalb, dass das Einkommensteuerrecht auch noch auf Jahre hinaus eine komplizierte Angelegenheit bleiben wird . . .“
Im Übrigen, wenn die SPD-Opposition der Union vorwarf, sie habe ihr Ziel, niedrigere Steuersätze einzuführen und für weniger Ausnahmen zu sorgen, „nachhaltig verfehlt“, so ist dazu festzustellen, dass es die SPD-Opposition war, die auf diese Zielverfehlung nachhaltig hingewirkt hat. Finanzminister Theo Waigel sperrte sich lange gegen einen neuen Reformversuch. Nachdem der Koalitionspartner FDP sich aber in Landtagswahlkämpfen wiederum als „Steuersenkungspartei“ empfohlen und damit Wahlerfolge errungen hatte 48, entschloss sich Theo Waigel, sich an die Spitze einer im Juli 1996 gebildeten Kommission zu setzen, die das „große Werk“ in Angriff nehmen sollte, Die Reform sollte das Steuersystem vereinfachen, die Steuerzahler entlasten, die Steuerlast gerechter verteilen sowie Wachstum und Beschäftigung fördern. Da seit der Wahl im Herbst 1994 nun schon eineinhalb Jahre verstrichen waren, war höchste Eile geboten, sollte der Reformentwurf nicht in die Kritik des nächsten Bundestagswahlkampfes geraten. Die Kommission – der kein Steuerrechtswissenschaftler angehörte 49 – ver48 FDP-Fraktionschef H. O. Solms hatte im April 1996 seinen 3-Stufen-Tarif (15, 25, 35 %) vorgestellt. 49 Mitglieder der Kommission wurden überwiegend bekannte Politiker, nämlich Th. Waigel (Vorsitzender), W. Schäuble (CDU), H. O. Solms (FDP), M. Glos (CSU), G. Rexrodt (FDP), E. Huber (CSU), G. Mayer-Vorfelder (CDU), G. Milbradt (CDU), H. Hauser (CSU). Hinzu kamen J. Semmler (Oberstadtdirektor), Prof. G. Krause-Junk (Finanzwissenschaftler), H. Merkert (DIHT-Steuerausschuss), T. Hinter Dobler (Handwerkskammer Passau), H. Selbiger (Steuerberater), D. Meldung (OFD-Präsident), E. Geyer (Deutscher Beamtenbund). – Die Steuerrechtswissenschaft war überhaupt nicht, die Finanzwissenschaft einmal vertreten. Ein Steuerrechtssystematiker war nicht in der Kommission. – Dazu Th. Waigel, Die Erarbeitung der Petersberger Vorschläge durch die Steuerreform-Kommission, in: Festschrift für K. Offerhaus, 1999, S. 983 ff.
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Reformversuch von Theo Waigel
abschiedete ihre Vorschläge einer „grundlegenden Einkommensteuerreform“ (sog. „Petersberger Steuervorschläge“) schon im Januar 1997. Zum Inhalt bemerkte Joachim Lang: „Die ‚Petersberger Steuervorschläge‘ geben . . . den Anstoß zu einer Rechtsreform der Bemessungsgrundlage, indem sie sich geradezu lehrbuchhaft zu den Grundprinzipien des Einkommensteuerrechts bekennen, zum ‚Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung‘, zum ‚Markteinkommensprinzip . . .‘, zum ‚objektiven und subjektiven Nettoprinzip‘ . . . sowie zur ‚Ausgestaltung der Einkommensteuer als Einheitssteuer‘“.
Joachim Lang fügte hinzu, „nur, das Programm der Umsetzung von Grundprinzipien des Einkommensteuerrechts impliziert nicht nur Verbreiterung, sondern auch Schmälerung der Bemessungsgrundlage.“ 50 Auf dem CDU-Parteitag in Hannover ließ Bundeskanzler Helmut Kohl über die „Jahrhundertreform“ abstimmen. Auf der Grundlage der „Petersberger Steuervorschläge“ formulierte die Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums eiligst eine Neufassung des Einkommensteuergesetzes. 51 Die erste Stufe sollte am 1. 1. 1998 in Kraft treten, der Hauptteil am 1. 1. 1999. Aber allmählich lief schon der Bundestagswahlkampf 1998 an. Die SPD-Opposition und Interessenverbände wurden aktiv. Obwohl es weithin Übereinstimmung mit der Opposition gab, wurde mit ihr – sie hatte die Mehrheit im Bundesrat – doch über die Höhe des Eingangs- und des Spitzensteuersatzes sowie über die Höhe der Nettoentlastung und die Art der Gegenfinanzierung gestritten. Die Regierung betrieb Angebotspolitik, die Opposition – voran der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine – Nachfragepolitik mit dem Ziel, die Massenkaufkraft zu stärken. Ein geschlossenes Gegenkonzept, das ihrem Antrag „für eine gerechte und einfache Einkommensbesteuerung“ (Bundestags-Drucksache 13/3701; s. dort S. 45 ff.) entsprochen hätte – bot die Opposition nicht an. Um sich nicht der Wählerkritik auszusetzen, wollte die Opposition auch nicht auflisten, welche Steuervergünstigungen sie abzuschaffen oder einzuschränken bereit sei. So tobten die Interessenverbände sich gegen die Regierungskoalition aus. Die Bauern drohten mit „totalem Aufstand“, die Gewerkschaften mit dem „Marsch auf Bonn“. Tagelang protestierten die „Kumpel“ in Bonn für die Erhaltung der Kohlesubventionen. Wohnungswirtschaft, Gewerkschaften und Mieterbund sagten den Zusammenbruch des Wohnungsbaus voraus. Auch Länder-Ministerpräsidenten mischten sich ein. Die Kritik geriet immer mehr zur totalen Opposition und Konfrontation und ließ – so DIE WOCHE 52 – Theo Waigel’s Popularität „ins Bodenlose sin50 Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1997, S. 25. 51 BT-Drucks. 13/7480 v. 22. 4. 1997, Art. 1. 52 DIE WOCHE v. 18. 4. 1997.
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§ 37 Rückblick auf misslungene oder gescheiterte Steuerreformen
ken“. Das „versprochene Jahrhundertwerk“ – so weiter DIE WOCHE – „bleibt Illusion“. Koalition und Opposition rangen wieder einmal um die günstigste Position für die Wahl, dieses Mal für die Wahl 1998. Hans-Ulrich Jörges schrieb dazu in DIE WOCHE: „Wie lange das Bonner Staatstheater – in großer oder kleiner Zusammensetzung – auch immer andauern wird (äußerstenfalls bis zum Vermittlungsausschuss im Herbst), es ist schon jetzt an der Zeit, von allen Illusionen Abschied zu nehmen. Die faszinierende Idee einer großen Steuerreform, des radikalen Abbaus der Belastung aller Bürger bei ebenso radikaler Durchforstung des zutiefst ungerechten Paragraphen- und Vergünstigungsdschungels, ist gescheitert. Unrettbar. Denn bei nüchternem Blick auf die Verhandlungspositionen der Politik sind nur zwei – gleichermaßen entmutigende – Wege erkennbar. Entweder Koalition und Opposition einigen sich noch überraschend auf ein umfassendes Paket – dann wird es nur noch ein Sammelsurium von Wahlgeschenken beider Seiten sein, kein geschlossenes, profiliertes Konzept, das die Auszeichnung ‚groß‘ verdienen würde. Oder die Verhandlungen scheitern, die Regierung bringt ihren Entwurf auf den parlamentarischen Weg und wird in Bundesrat und Vermittlungsausschuss von der SPD gestoppt . . . Oskar Lafontaine hat seine Partei besser im Griff als seinerzeit Rudolf Scharping . . . Natürlich werden bis zum bitteren Ende vorgebliche Kompromissbereitschaft und denkbare Einigungsmodelle öffentlich zur Schau gestellt. Es geht eben um viel, um sehr viel, um die Vorbereitung der Schuldzuweisungsmuster für das Wahljahr. Wer zu früh die Nerven verliert, ist mit dem Makel der Obstruktion behaftet. Erst wenn der Scherbenhaufen unübersehbar ist, können daraus die Mosaiksteine für die Wahlstrategien zusammengefügt werden . . . Die Vorstellungen beider Seiten waren ja auch von Anfang an unvereinbar. Die Koalition hatte die Blütenträume des CDU-Steuerrebellen Gunnar Uldall vom Reformwerk des Jahrhunderts zu Theo Waigels – bei oberflächlicher Betrachtung noch ansehnlichem – Konzept schockgefroren. Doch der CSUChef, dem die Reform aufgenötigt werden musste, schreckte in Wahrheit vor den vielen Tabus des in Jahrzehnten gewucherten Steuer-Selbstbedienungs(un)rechts zurück und zog mit der Nagelschere statt mit der Machete ins Unterholz. Die aus wahltaktischem Kalkül geborene Überlegung, das Reformwerk zum Steuerentlastungsprogramm (vor allem für die wohlhabenden Stände) umzufrisieren, bot der Opposition schließlich den entscheidenden Ansatzpunkt, um das Projekt anzugreifen. Denn bei dramatischer Kassenlage, gähnenden Haushaltslöchern und wachsender Arbeitslosigkeit gibt es nichts zu verteilen . . . Hinter der Schwäche der Koalition konnte die SPD ihre prinzipielle Unbeweglichkeit verbergen. Sie hat die Idee der großen Steuerreform nie wirklich angenommen, denkt in Wahrheit an ein Konsumprogramm – und verteidigt mit Zähnen und Klauen die per Gießkanne an die eigene Facharbeiter-Klientel verteilten Wohltaten: Kilometergeld und Steuerfreiheit für Nacht- und Sonntagsarbeit . . . Verteilungskampf steht auf der Tagesordnung. Die große Steuerreform wird wohl ein Traum bleiben.“ 53
Nachdem die Gespräche zwischen Regierung und Opposition endgültig abgebrochen worden waren, ging der Reformprozess seinen insti53 DIE WOCHE v. 18. 4. 1997.
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Einkommensteuer-Änderungsgesetze der rot-grünen Koalition
tutionellen Gang: Beratung im Bundestag, Ablehnung im Bundesrat durch die Oppositionsmehrheit, Anrufung des Vermittlungsausschusses. Auch Kompromissangebote, die der SPD weit entgegenkamen, wurden abgelehnt. Aufgrund der für die SPD günstigen Umfrageergebnisse versprach diese sich offenbar mehr von einem Scheitern der Reform als von einer Einigung über sie. Schließlich folgten die üblichen Schuldzuweisungen. Die Regierung erklärte, die SPD habe die Reform aus wahltaktischen Gründen blockiert. Die SPD entgegnete, die Regierungskoalition habe kein kompromissfähiges, die soziale Symmetrie wahrendes Angebot gemacht. Sie sei reformunfähig. Die Neue Zürcher Zeitung sprach am 27./28. 9. 1997 nicht von der Reformunfähigkeit der CDU/CSU, sondern von „deutscher Reformunfähigkeit“ und vom „Desaster der Steuerreform“. Die deutsche Politik habe ein Trauerspiel sondergleichen geboten. Und wörtlich: „Regierung und Opposition befanden sich auf einem permanenten Konfrontationskurs, hüben und drüben wurde gezurrt und gezankt, ein erfolgloses Vermittlungsgespräch folgte dem anderen – und das einzige, was dabei herauskam, waren gegenseitige Schuldzuweisungen. Das Wort vom Reformstau – das sogar in den angelsächsischen Sprachschatz eingegangen ist – findet nun erneut eine Bestätigung. Und das in Deutschland ohnehin an Schwindsucht leidende Vertrauen in die Politik hat einen zusätzlichen Dämpfer erfahren.“ 54
4. Einkommensteuer-Änderungsgesetze einer rot-grünen Koalition Tatsächlich gewannen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Bundestagswahl 1998 und koalierten. Gerhard Schröder wurde Bundeskanzler, Oskar Lafontaine Wirtschafts- und Finanzminister. Dieser berief im Dezember 1998 eine Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung. Und in demselben Monat wurde noch – als sog. Vorschaltgesetz – das Steuerergänzungsgesetz 1999 beschlossen. 55 Im März 1999 folgte das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002, das die stufenweise Änderung des Tarifs und der Steuerbemessungsgrundlage vorsah. 56 Das Gesetz enthält 18 Seiten Flickerei an der Bemessungsgrundlage. „Der Steueränderungsgesetzgeber“ – so J. Lang – „praktizierte das übliche Geschäftsgebaren, jährlich Hunderte von Vorschrif54 Zum Waigel-Reformversuch auch A. Raupach, Erfahrungen aus der Steuergesetzgebung für die Steuerreform, StbJb. 1998/99, 7 ff; D. Dziadkowski, 50 Jahre Reform (Fußn. 3), S. 44 ff.; allgemein W. Ritter, in: Baron/Handschuh (Hrsg.), Wege aus dem Steuerchaos, 1996, S. 7. 55 NZZ, Int. Ausgabe Nr. 224/1997, S. 9. 56 BGBl. 1999 I, 402; BStBl. 1999 I, 304.
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§ 37 Rückblick auf misslungene oder gescheiterte Steuerreformen
ten anzupacken (einzufügen, zu ändern oder zu streichen). Darüber hinaus scheute er nicht davor zurück, in Kernbestände des Steuerrechts einzugreifen. Er verletzte das Nettoprinzip durch die sog. Mindestbesteuerung . . .“ Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine, der nach verbreiteter Meinung vor den Wahlen die Blockade der Steuerreform dirigiert hatte, „tanzte als Finanzminister nur einen Winter“, genau 134 Tage. Er trat schon am 11. 3. 1999 auf ebenso stillose wie spektakuläre Weise zurück. Ihm folgte Hans Eichel. Er nannte das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 „die größte Steuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik“. 57 Er mag dabei allerdings in erster Linie an die Steuersenkungen gedacht haben. Dem Steuerentlastungsgesetz folgte der Entwurf eines Steuervergünstigungsabbaugesetzes. Dieses Gesetz sollte u. a. durch höhere Steuereinnahmen die öffentlichen Haushalte nachhaltig konsolidieren. Die Begründung des Entwurfs stellte zutreffend fest: „Das deutsche Steuersystem enthalte immer noch viele ökonomische, ökologische und unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten fragwürdige Steuervergünstigungen und Ausnahmetatbestände, die beseitigt werden müssten. Der Gesetzentwurf ziele deshalb darauf ab, durch einen weitreichenden, breit angelegten und sozial ausgewogenen Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen die Steuergerechtigkeit und Steuertransparenz zu erhöhen und den öffentlichen Haushalten die notwendigen Einnahmen zur Finanzierung ihrer Aufgaben zu verschaffen. Nur so könne gewährleistet werden, dass alle Bürger und Unternehmen entsprechend ihrer steuerlichen Leistungsfähigkeit einen Beitrag zur Finanzierung der von ihnen in Anspruch genommenen Einrichtungen des Staates leisten und sich die Akzeptanz der Besteuerung erhöhe. Der Abbau von Ausnahmen trage auch dazu bei, die Systematik des Steuerrechts wieder erkennbar und verständlicher zu machen. Gesicherte und planbare Einnahmen garantierten dem Steuerzahler einen zuverlässigen öffentlichen Partner. Aufgrund der stetig fließenden Steuereinnahmen könne die Kreditaufnahme reduziert werden. Dies sei die Grundbedingung für eine erfolgreiche nachhaltige Haushaltskonsolidierung.
Schon der Referentenentwurf wurde indessen, insbesondere von den Interessenverbänden, heftig kritisiert und von der Opposition der CDU/CSU/FDP abgelehnt. Der Haupteinwand: Es gehe der Regierung gar nicht um den Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmevorschriften, sondern um ausschließlich fiskalisch motivierte Steuererhöhungen. Im November 2002 wurde der Regierungsentwurf beschlossen und in den Bundestag eingebracht. Der Vergünstigungsabbau scheiterte am Bundesrat, in dem CDU/CSU und FDP die Mehrheit hatten. Vom Vermittlungsausschuss wurde
57 Inst. FuSt-Schrift Nr. 406 (2003), S. 18.
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Steinbrück und Schäuble – rechtsreformabstinente Finanzminister
durch Gesetz vom Mai 2003 nur noch ein Torso entlassen, zu besichtigen im Bundesgesetzblatt. 58 Man kann sich daran stoßen, dass die SPD, die vor der Wahl versprochen hatte, die Steuern nicht zu erhöhen, nun durch Abbau von Steuervergünstigungen doch Steuern erhöhen wollte. Dieses Mal war es die Koalition aus CDU/CSU und FDP, die im Bundesrat das Vorhaben der Regierung blockierte, obwohl sie früher selbst wiederholt den weiteren Abbau von Steuervergünstigungen gefordert hatte. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP verhinderte auch die Aufhebung des Eigenheimzulagegesetzes, einer weiteren Subvention. Die Regierung wollte die Mehreinnahmen für Bildung und Forschung ausgeben. Die Opposition mit ihrer Bundesratsmehrheit wollte die Eigenheimzulage nur im Zusammenhang mit einer umfassenden Steuerreform abschaffen.
5. Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble als rechtsreformabstinente Finanzminister 5.1 Peer Steinbrück Da der Ausgang der Bundestagswahl 2005 nur die Bildung einer Koalitionsregierung aus CDU/CSU und SPD zuließ, wurde unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht Paul Kirchhof, sondern Peer Steinbrück (SPD) Finanzminister. Der Diplom-Volkswirt Peer Steinbrück hatte schon vor 2005 in unterschiedlichen Positionen immer dem Staat gedient, nämlich im Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, im Ministerium für Verkehr, als Referent für den Minister für Forschung und Technologie H. Matthöfer, im Bundeskanzleramt unter Bundeskanzler H. Schmidt, im NW-Ministerium für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft, als Büroleiter von NW-Ministerpräsident Johannes Rau, als Staatssekretär im Ministerium für Natur, Umwelt und Landesentwicklung in Schleswig-Holstein, im Ministerium für Wirtschaft, Technik und Verkehr, als Finanzminister von Nordrhein-Westfalen und schließlich als Ministerpräsident dieses Landes. Das ist fürwahr eine breite Erfahrungsgrundlage, wie sie wohl nur eine Partei ermöglichen kann. Nachdem P. Steinbrück 2005 die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gegen J. Rüttgers (CDU) verloren hatte, stand er zur Disposition. Angela Merkel machte ihn zum Finanzminister der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD. Als solcher strebte er zunächst nach Spar58 BGBl. 2003 I, 660; BStBl. 2003 I, 321.
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§ 37 Rückblick auf misslungene oder gescheiterte Steuerreformen
samkeit und Schuldenabbau – bis die Banken- und Finanzkrise ihn zur Kursänderung zwang. Am 10. 1. 2006 hielt P. Steinbrück beim Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammer Frankfurt a. M. eine Rede, in der er insbesondere programmatisch seine finanzpolitischen Vorstellungen darlegte. Einige Passagen aus dieser Rede mögen erkennen lassen, wofür P. Steinbrück steht. Die Erwartungen an den Staat „stehen im krassen Missverhältnis zu den staatlichen Einnahmen . . . dieses schizoide Verhältnis zum Staat zeigt sich nicht nur bei Bedürftigen, sondern auf allen Etagen der Gesellschaft, wobei die am besten organisierten Lobbyisten sicher eher der oberen Hälfte zuzuordnen sind . . . Die Situation der öffentlichen Haushalte lässt es nicht mehr zu, einen vornehmlich konsumtiv, auf Alimentation ausgerichteten Sozialstaat weiterhin im bisherigen Volumen zu finanzieren. Dazu kommt, dass soziale Transfers dort sinnlos und sogar kontraproduktiv werden, wo sie nicht Aufstiegschancen eröffnen, sondern gesellschaftliche Randständigkeit verfestigen und verstetigen. Das erste Ziel muss mehr denn je werden, den Einzelnen zur Teilnahme an den Märkten zu befähigen. Die Schlüssel dazu sind Bildung und Qualifizierung in ihrer ganzen Palette . . . Damit wird Chancengleichheit und nicht Ergebnisgleichheit zum Grundprinzip eines modernen Sozialstaates . . . Stattdessen erleben wir, wie ersichtlich interessengeleitete Forderungen immer dringlicher – um nicht zu sagen: dreister – an die Politik herangetragen werden. Dabei werden, zum Teil nicht ungeschickt, Partikularinteressen mit dem Allgemeinwohl gleichgesetzt, was nur von der eigenen Weigerung ablenken soll, seinen eigenen angemessenen Teil zur Verbesserung des Ganzen zu erbringen . . . In Anlehnung an die Bürgerrechtler in der damaligen DDR müsste ich an dieser Stelle eigentlich die Forderung erheben: Lobbyisten in die Produktion . . . Doch nicht nur die Finanzpolitik, die Politik insgesamt muss sich ändern. Das setzt m. E. voraus, dass es gelingt, sich auf einen neuen, von einer großen Mehrheit von Menschen verstandenen und akzeptierten Grundkonsens über die Präsenz der Ziele gesellschaftspolitischen Handelns zu verständigen . . . Dazu bedarf es einer politischen Kraftanstrengung, wie sie wohl nur eine große Koalition wird aufbringen können. Sie mag kein parlamentarischer Glücksfall sein, aber sie ist eine große politische Chance. Die gesamte Lobby, die versammelte Wissenschaft, alle Interessentenvertretungen und Verbände können sich . . . nicht mehr – wie sonst üblich – mit ihren Forderungen und Protesten hinter eine der beiden Volksparteien klemmen, um auf diesem Resonanzboden eine größere Lautstärke zu erzielen und sich mehr Gehör verschaffen . . . Und wenn sich auch die politischen Wege der beiden Volksparteien einmal wieder trennen werden: unser gemeinsames Gedächtnis für gesamtgesellschaftlich unvertretbare partikulare Interessen wird bleiben . . . . . . Man muss den Menschen ohne Umschweife die Realität so beschreiben, wie sie ist, und man darf ihnen keine raschen Lösungen versprechen, wenn es sie nicht gibt. Aber man muss Wege aufzeigen . . ., die in Richtung Zukunft führen . . . jemand, der am Gelingen orientiert ist, sucht nach Wegen . . . Dabei tut die Politik gut daran, Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen offenzulegen – und gegen irreführende Vereinfachungen anzutreten . . . Zweitens sollten wir die Sehnsucht nach der großen, mitreißenden Vision zumindest kombinieren mit der Vernunft des schrittweisen Vorgehens.
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Steinbrück und Schäuble – rechtsreformabstinente Finanzminister . . . Insgesamt müssen wir ein neues Grundverständnis finanzpolitischen Handelns entwickeln. Die verbreitete Arbeitsteilung zwischen den Finanz- und Haushaltspolitikern einerseits, die für das Sparen und die Buchhaltung zuständig sind, und den Fachpolitikern mit ihren Kunden, die Wunschzetteln folgen und eine als soziale Gesinnung verkleidete Klientelpolitik betreiben andererseits, führt in die Sackgasse . . . . . . Die große Koalition ist die Chance, ohne Blockade und parteipolitisches Pepita . . . in vier Jahren Deutschland nach vorne zu bringen. Vielleicht kann sie auch am ehesten den Politikstil entfalten, der Vertrauen weckt.“ 59
Hier wird deutlich: Peer Steinbrück denkt über Parteigrenzen hinaus, und er weiß um die Reibungsverluste, die durch engstirnigen Parteienstreit um jeden Preis sowie dadurch entsteht, dass eine Opposition aus Prinzip an jedem und allem herummäkelt, unser Land nicht voranbringen. Und er hat die Lobbyisten erkannt, die von Gemeinwohl reden, aber partikulares Wohl erstreben. Wiederholt hat P. Steinbrück unter Beweis gestellt, dass er über den Tellerrand seiner Partei hinausdenkt. Der Mann einer links-sozialdemokratischen Fürsorgepolitik scheint er nicht zu sein. Viele Steuerrechtsanwender meinen in Peer Steinbrück aber auch einen einseitigen Fiskalisten zu erkennen. Ob er in Steuergesetzen Vollzugslücken schließen ließ, ob er die Umgehungsvorschrift des § 42 AO verschärfen wollte, ob er die internationale Steuerflucht wirksam (wenn auch undiplomatisch) bekämpfen wollte, ob er Steuervergünstigungen abbauen wollte, ob die Zahl der Nichtanwendungserlasse gegen BFH-Urteile sich vermehrte, immer blieb – mindestens vordergründig – der Eindruck hängen, es gehe P. Steinbrück eher um die Staatskasse und weniger um Steuergerechtigkeit. Dieser Eindruck wurde durch seinen beamteten Staatssekretär A. Nawrath noch verstärkt. Wer gewollt oder ungewollt den Eindruck erweckt, er wolle das Steuerrecht zur Magd einer einseitig fiskalischen Finanzpolitik machen, das Recht fiskalisch einfärben, muss mit dem Widerstand der Steuerrechtsanwender, die Gerichte eingeschlossen, rechnen. Auch entstand der Eindruck, der fiskalische Geist des Finanzministers und seines Staatssekretärs färbe auf die Juristen der Steuerabteilung des Finanzministeriums ab. Das werde auch dadurch erkennbar, dass zur Gegenfinanzierung dreist das Nettoprinzip angetastet werde, auch dadurch, dass – kontraproduktiv und komplizierend – der Abzug privater Steuerberatungskosten abgeschafft worden sei. Falls A. Nawrath richtig verstanden worden ist, wollte er steuerrechtliche Prinzipien durch finanzpolitische Opportunität ersetzen. P. Steinbrück hat als Bundesfinanzminister jedenfalls nicht den Ehrgeiz erkennen lassen, er wolle seinen Namen mit einer großen Steuerrechtsreform verbinden. Das ist nicht unverständlich. P. Steinbrück 59 In Auszügen dokumentiert in FAZ v. 12. 1. 2006, S. 6.
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ist kein Jurist. Und es mag Zeiten geben, in denen ein Finanzminister mehr ökonomisch als juristisch gefordert ist. Steuerrecht muss in einem Rechtsstaat jedoch rechtlich verankert werden. Es ist zu befürchten: Wer eine Steuerrechtsreform für überflüssig hält, zeigt, dass er die rechtliche Seite des Steuerwesens nicht beherrscht. Das Finanzministerium bräuchte einen Steuerrechtsreform-Staatssekretär. Steinbrücks Unternehmenssteuerreform 2008 war keine Rechtsreform. Sie brachte zwar eine kräftige Tarifsenkung, aber auch einen rechtssystematisch sorglosen Umgang mit Gegenfinanzierungsmaßnahmen. Auch die Einführung der Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte ist rechtssystematisch bedenklich. 60 Die bevorzugte Behandlung der Kapitaleinkünfte vor den Arbeitseinkünften ist auch ethisch nicht zu verstehen. An eine Reform oder gar Abschaffung der Gewerbesteuer hat P. Steinbrück sich nicht herangemacht, mit einem Vorschlag, zur Verhinderung von Großbetrügereien durch Vorsteuererschleichung einen Umsatzsteuer-Systemwechsel vorzunehmen, hat er sich in Brüssel nicht durchsetzen können 61. Die Hoffnung, der Logiker und Schachspieler P. Steinbrück könnte auch noch zum Rechtslogiker werden, sollte man nicht ganz aufgeben. Für Verallgemeinerung, Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit müsste er eigentlich Sinn haben. Seine Popularität würde das nicht beeinträchtigen. Wer sich an der kernigen, robusten, zuweilen derben norddeutschen Klarheit Steinbrücks stört: Er muss nicht die Sprache der Philosophen Kant und Popper (die er zitiert) sprechen. P. Steinbrücks bärbeißige Mimik lässt sich ertragen. 5.2. Wolfgang Schäuble Das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 ermöglichte eine Koalition aus CDU/CSU und FDP. P. Steinbrück (SPD) wurde als Finanzminister von Wolfgang Schäuble (CDU) abgelöst. Vor der Wahl hatten die neuen Koalitionäre eine grundlegende Einkommensteuerreform versprochen. Das FDP-Reformmotto lautete: „Niedriger, einfacher, gerechter“. Vor allem die FDP versprach eine beträchtliche Steuersenkung, auch die Ausschaltung der „kalten Progression“. Die Kanzlerin ersetzte die Trinität „niedrig, einfach, gerecht“ durch die Reihenfolge „einfach, niedrig, gerecht“. Aber diese Schlagworte gerieten – ebenso wie die Koalitionsvereinbarungen – alsbald in den Hintergrund. W. Schäuble ist Jurist. Er ist für den höheren Finanzdienst ausgebildet worden. Aber das bedeutet nicht, dass er die Notwendigkeit einer
60 Dazu J. Englisch, StuW 2007, 221 ff. 61 Dazu W. Reiß, in: K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 14 Rz. 166.
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Steinbrück und Schäuble – rechtsreformabstinente Finanzminister
Steuerrechtsreform und die mit ihr verbundenen Prinzipien erkannt hätte. W. Schäubles Amtszeit als Finanzminister wurde stark überschattet von einer europaweiten, ja weltweiten Finanz- und Bankenkrise. P. Steinbrück hatte vielleicht angenommen, er hätte sie zu seiner Amtszeit schon bewältigt. Die große Krise nahm den Finanzminister verständlicherweise gänzlich in Anspruch und musste ihn zwangsläufig vom Steuerreformgedanken ablenken. In einem Interview behauptete er freilich: „Ich habe schon sehr konkrete Vorstellungen. Ich könnte ihnen sofort grundlegende Reformen des Steuersystems auf den Tisch legen. Aber das mache ich nur, wenn ich eine Chance sehe, sie auch umzusetzen. Und die ist jetzt nicht da.“ 62 Da wir nicht wissen, was Finanzminister Schäuble in der Schublade bereit hält, wissen wir auch nicht, was er unter einer grundlegenden Reform des Steuersystems versteht. In der ersten Hälfte der Amtszeit W. Schäubles bot die Steuerpolitik ein Schauspiel, wie wir es seit Jahrzehnten immer wieder erleben. Was die Regierung auch vorschlägt, fast immer ist die Opposition dagegen. Während die FDP die versprochenen Steuersenkungen umsetzen wollte, war zunächst nicht nur die Opposition dagegen, sondern auch Finanzminister Schäuble. Das Anliegen der FDP wurde unter Hinweis auf die hohe Staatsverschuldung wirkungsvoll als unverantwortlich geradezu lächerlich gemacht. Im Oktober 2011 einigten sich FDP-Wirtschaftsminister Rösler und Finanzminister Schäuble jedoch nach längerem Gezerre darauf, entsprechend der Inflationsrate in 2011 und 2012 den Grundfreibetrag anzuheben und zur Begegnung der „kalten Progression“ den Einkommensteuertarif „nach rechts zu verschieben“. Auch dagegen wandten sich viele Politiker, auch solche aus der CDU und der CSU. SPD-Vorsitzender S. Gabriel behauptete, Schäuble habe sich nur die Zustimmung der FDP für die Rettungsschirmpakete erkaufen wollen. Auch den Vorschlag, den Grundfreibetrag zu erhöhen und der „kalten Progression“ entgegenzuwirken, lehnte er unbedacht umgehend ab: Es handele sich um Steuergeschenke, die den Staat viel kosten, dem Einzelnen aber wenig bringen würden. Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein Carstensen (CDU) lehnte ebenfalls ab: „Als Konsolidierungsland können wir uns Steuersenkungen nicht erlauben.“ Die Ministerpräsidentin des Saarlandes Kramp-Karrenbauer (CDU): „Schuldenfinanzierte Steuergeschenke sind unverantwortlich.“ Der Finanzminister von Baden-Württemberg Schmid (SPD): „Steuersenkungen auf Pump machen wir nicht mit.“ Der Ministerpräsident von Brandenburg Platzek (SPD): „Voraussetzung für Steuersenkungen ist ein Ausgleich durch Mehrbelastung bei den Vermögenden.“ Hamburgs Bürgermeister Scholz (SPD): „Es gibt keinen Raum für Steuersenkungen. Angesichts der Schuldenproblematik der europäischen Staaten sind die Pläne der Regierung unseriös.“ Da der bayerische Ministerpräsident Seehofer nicht eingebunden worden war, fühlte er sich zurückgesetzt und erreichte, dass ein Treffen der Parteivorsitzenden von CDU, FDP und CSU beschlossen wurde. Dieses Treffen endete mit dem Beschluss, Arbeitsgruppen einzusetzen, die bis No-
62 Focus 9/2011, S. 49.
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§ 37 Rückblick auf misslungene oder gescheiterte Steuerreformen vember 2011 Beschlussvorschläge erarbeiten sollen. Seehofer (CSU) soll dazu geäußert haben: „Mit mir wird es nur eine Steuerreform geben, die am Ende auch im Gesetzblatt stehen kann“ (was der Bundesrat mehrheitlich verhindern kann). Die CSU schlug daher vor, besser den Solidaritätszuschlag zu reduzieren und eine Pkw-Maut einzuführen. Das lehnten die Koalitionspartner ab. Danach kam es in der Koalition zum Streit darüber, ob der Vorschlag Rösler/Schäuble vom Tisch sei oder nicht. Der SPD-Vorsitzende S. Gabriel dazu: „Wir haben offensichtlich keine Bundesregierung mehr in Deutschland, sondern aus dem Streit ist jetzt schlichtes Nichthandeln geworden.“ GrüneVorsitzende Claudia Roth fragte: „Wie kann man inmitten der Euro-Krise schon wieder diesen absurden Steuersenkungs-Luftballon steigen lassen? Frau Merkel macht sich damit zur Lady Gaga der deutschen Politik.“ 63 J. Poß (SPD) erklärte noch in der ersten Lesung des Gesetzes: Selbst für eine MiniEntlastung sei kein Geld in den öffentlichen Kassen. Ebenso könnte man, als hätte man vom Grundgesetz noch nie etwas gehört, klären: „Selbst für eine Mini-Erhöhung der Sozialhilfe ist kein Geld in den öffentlichen Kassen.“ Zur Rettung Griechenlands scheint jedoch jede Menge Geld vorhanden zu sein. –
So tickt Steuerpolitik. Aber lassen die Äußerungen der Politiker erkennen, dass sie verstanden hätten, worum es geht? Es geht zum einen um die Anpassung des Grundfreibetrags (der das Existenzminimum vor Einkommensteuerbelastungen schützen soll) an die Inflation. Die Garantie der Steuerfreiheit des Existenzminimums beruht auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Diese Rechtsprechung kann man nicht damit aushebeln, dass man auf die hohe Verschuldung der europäischen Staaten und der deutschen Länder hinweist sowie Konsolidierungsmaßnahmen fordert. Das Existenzminimum der Steuerzahler ist verfassungsrechtlich tabu. Es muss realitätsgerecht bemessen, folglich auch an die Inflation angepasst werden. Diese Anpassung ist keine Steuersenkung. Die „kalte Progression“ bewirkt eine „heimliche (ohne Parlamentsbeschluss zustande gekommene) Steuererhöhung“. Wer einen sachgerechten Grundfreibetrag und die Ausschaltung der „kalten Progression“ ein „Steuergeschenk“ nennt, redet fachlich Unsinn. Die Anpassung des Tarifs an die inflationäre Entwicklung kann durch Indexierung (so in Dänemark, einigen Schweizer Kantonen, Kanada, USA) oder durch jährliche oder mehrjährige Anpassungen geschehen (so in Frankreich, Luxemburg, Großbritannien, Schweden). 64 Es ist zu hoffen, dass die Opposition sich noch steuerfachlich informiert und davon absieht, einmal mehr den Bundesrat zu missbrauchen. Ohnehin braucht man sich darüber heute noch nicht den Kopf zu zerbrechen, denn die Vorschläge sollen erst Ende 2013/2014 wirksam werden. Die amtierende Regierung verfügt also schon über die nächste Legislaturperiode. Das ist Wahltaktik. Nach der Blockade der 63 Die Äußerungen sind zitiert nach FAZ v. 21. 10., 22. 10., 24. 10. 2011. 64 Hinweis auf K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 9 Rz. 807 mit Hinweis auch auf den Kölner Entwurf § 36 3 II.
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Resultat
Opposition im Bundesrat könnte es zum üblichen Feilschen im Vermittlungsausschuss kommen. Warum bedienen sich die Steuerlaien aus der hohen Politik nicht einmal des Sachverstands der BMF-Steuerabteilung? W. Schäubles Behauptung, die Rettung Griechenlands und des Euros koste die deutschen Steuerzahler kein Geld, ist falsch. Ein solcher Schwindel ist aber nicht strafbar. Der Finanzminister ist nicht dumm, allenfalls hält er seine Steuerzahler für dumm. 65 Bei J.-B. Colbert – Finanzminister unter Ludwig dem XIV. – diente der Schwindel der Staatsraison, heute dient er wohl dem Gemeinwohl im weiteren Sinne. Wenn W. Schäuble auch keinen Reformmut zeigt, auch andere nicht zu Reformarbeiten ermutigt, so hat er sich doch engagiert um ein Abkommen mit der Schweiz bemüht, das endlich Steuerfrieden zwischen Deutschland und der Schweiz schaffen soll. SPD und Grüne – voran S. Gabriel und J. Trittin – genügen die ausgehandelten, an Deutschland zu zahlenden Geldsummen jedoch nicht. Sie sind Pönalisten und wollen die, die sich aufgrund der bestehenden imperfekten Rechtsverhältnisse zur Steuerflucht haben verführen lassen, gehörig bestraft wissen. Es wäre indessen an der Schweiz und Deutschland gewesen, entsprechende Abkommen bereits vor 10 oder 20 Jahren abzuschließen, evtl. durch eine Ergänzung des Doppelbesteuerungsabkommens. Dieser Weg wäre dem Kauf gestohlener Daten im Rechtsstaat allemal vorzuziehen gewesen. W. Schäuble hat an das Sprichwort erinnert: „Die Nürnberger henken keinen, sie hätten ihn denn“. Das ist Realitätssinn. Es werden sich keinesfalls alle Steuerflüchtlinge aufgrund gekaufter gestohlener Daten-CD’s überführen lassen. 66
6. Resultat Alle seit 1950 unternommenen Steuerreformversuche sind mehr oder minder gescheitert oder missglückt. Dabei begannen einige Reformvorhaben durchaus nicht ohne Zuversicht und Euphorie. So schwebte dem Finanzminister Alex Möller „ein Steuersystem mit relativem Ewigkeitswert“ vor, Bundeskanzler Helmut Kohl vertraute auf eine „Jahrhundertreform“, Finanzminister Hans Eichel bezeichnete sein Vorhaben eines umfangreichen Abbaus von Steuervergünstigungen als „größte Reform in der Geschichte der Bundesrepublik“. Diese hochfliegenden Ziele wurden gänzlich verfehlt, schon deshalb, weil 65 Dazu FAZ v. 12. 3. 2012 („Dummer Steuerzahler“). 66 Zur Anstiftung zum Datendiebstahl auch K. Lüderssen, Anstiftung ist mehr, FAZ v. 7. 4. 2012. Kritisieren sollte man eher die Staaten, die durch Tun oder Unterlassen Steuerpflichtige zur Steuerflucht verführt haben (s. auch S. 1770 ff.).
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§ 37 Rückblick auf misslungene oder gescheiterte Steuerreformen
man kein Konzept hatte, das Prinzipien und Regeln folgerichtig umsetzte. Stattdessen schaute man vornehmlich auf die Wünsche der Wählerklientel und nahm Rücksicht auf die Anliegen der Interessenverbände. Der mächtige F. J. Strauß wollte die Hobbyflieger begünstigen; er war selbst einer. G. Stoltenberg sorgte dafür, dass Hobbytätigkeiten für gemeinnützig erklärt wurden. Die FDP verschaffte den Hoteliers ein Privileg. Nicht zuletzt scheiterte die Regierung an der Opposition, die stets bestrebt war, der Regierung keinen Reformerfolg gelingen zu lassen, um sie danach als reformunfähig hinzustellen. Die Opposition mit ihren Vetoakteuren war immer Sand im Getriebe von Reformvorhaben, oft mit Unterstützung wirkungsmächtiger Interessenverbände und Medien. Die Presse war immer darauf aus, mit Unterstützung von Fachleuten die Gewinner und Verlierer der Reform herauszustellen, und Verlierer möchte keine Gruppe sein. Die Versuche, Steuervergünstigungen in größerem Umfang abzubauen, war jeweils bar eines sachgerechten Maßstabs und geschah stets unter Berücksichtigung der eigenen Klientel. Die Reformminister, die zu Beginn der Reformarbeit durchaus populär waren, wurden nach und nach verschlissen und büßten Ansehen und Vertrauen gänzlich ein. Fast immer wollten die Reformparteien durch Steuerreformen Wähler gewinnen, erreicht wurde durchweg das Gegenteil. Es gingen Landtagswahlen verloren und damit durchweg auch die Mehrheit im Bundesrat, so dass die neue, regierungsoppositionelle Mehrheit im Bundesrat, wenn auch auf missbräuchliche Weise, die Reform über den Bundesrat verhindern konnte. Das wirkte so abschreckend, dass selbst große Koalitionen sich nicht mehr an eine Steuerreform heranwagen. Wenn es nur um die Befriedigung materieller Interessen geht, kann sich eine Steuer-Rechtsordnung nicht entwickeln. Eine Steuerrechtsordnung muss auf sachgerechten Prinzipien und Regeln aufbauen, die folgerichtig und widerspruchsfrei umgesetzt werden. Dass das auch im Sinne der Wählermehrheit wäre, lässt sich indessen leider nicht feststellen. Für viele Wähler gilt als gerecht, was für sie von Vorteil ist. Weil Mehrheiten in den Parlamenten von Bund und Ländern ständig wechseln, kann es nicht zu einem kontinuierlichen Steuerrecht kommen. Nicht zuletzt die vielen Interessenverbände sorgen dafür, dass auch während einer Legislaturperiode ständig Interessenwünsche an die Regierung herangetragen und in Gesetzesänderungen umgesetzt werden. Selbst eine Reform „der kleinen Schritte“ kann nicht gelingen, wenn die Reformziele sich mit jedem neuen Regierungswechsel ändern. Und so ist denn das herausgekommen, was „unsere Steuern von A–Z“ sind, ein mehr oder minder chaotisches Vorschriftenkonglomerat ohne System und Dauer. 67 67 Kaum anders ist der Befund von St. Ganghof, Wer regiert in der Steuerpolitik?, 2004, S. 118 ff., 123 ff.
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Resultat
Eine Refom duch Kritik zu zerstören, ist offenbar einfacher, als eine Reform durchzusetzen. Ist eine Reform missglückt oder gescheitert, so wirft die Opposition der Regierung Reformunfähigkeit vor, die Regierung der Opposition Refomblockade. Die Realpolitiker P. Steinbrück und W. Schäuble haben wohl erkannt, dass die hier beschriebenen Abläufe der Gesetzgebung in der real existierenden parlamentarischen Demokratie die Verabschiedung einer großen Steuerreform, eines dauerhaften Steuergesetzbuches gar, wirklich nicht ermöglichen. Aber beide äußern das nicht, warum wohl nicht?
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§ 38 Über zwei Steuergesetzbuchentwürfe aus der Steuerrechtswissenschaft und ihre Realisierungschancen Vorbemerkung . . . . . . . . . . . 1821 .. 1. Paul Kirchhofs Weg zum Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches . . . . . . . . . . 1822 .. 1.1 Vom „Karlsruher Entwurf“ zum Einkommensteuer-Reformentwurf . . 1822 .. 1.2 Versuch, den Einkommensteuer-Reformenentwurf durch Eintritt in die Politik durchzusetzen. In der Politik: grandioser Aufstieg und jäher Fall . 1824 .. 1.3 Paul Kirchhof macht weiter. . . . . . . . . . . . . 1827 .. 1.4 Am Ziel der Entwurfsarbeit: Veröffentlichung eines Bundessteuergesetzbuch-Reformentwurfs . . 1829 .. 2. Joachim Langs Weg zum Reform-Entwurf, erarbeitet unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft . . . . . . . . 1830 .. 2.1 Reformgesetz-Vorarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . 1830 .. 2.2 Erarbeitung eines Reform-Entwurfs unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft . . . . . . 1831 .. 3. Die Reformentwürfe unter dem Aspekt ihrer legistischen Realisierbarkeit . . . . 1834 .. 3.1 Stellungnahmen der Reformer zum Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . 1834 .. 3.11 P. Kirchhof . . . . . . 1834 .. 3.12 Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft. . . . . . . . . . 1836 .. 3.2 Das Ziel eines deutschen Steuerkodex . . . . . . . . 1837 .. 3.21 Beschränkung auf Deutschland . . . . . 1837 ..
1820
4. 5. 6. 7.
8.
9.
3.22 Zur Kodexidee der Reformer . . . . . . . 1838 .. Zwischen rechtslogischer Revision und Radikalreform . . . . . . . . . . . . . . . 1841 .. Über Wert und Unwert der Kürze . . . . . . . . . . . . . . . 1842 .. Vorstellungen der Reformer über die Gesetzessprache . . 1844 .. P. Kirchhofs extrem kurzer „Allgemeiner Teil“ . . . . . . 1846 .. 7.1 Zu Abschnitt 1: Grundsätze der Besteuerung . . 1846 .. 7.2 Zu Abschnitt 2: Zusammenwirken von Steuern 1848 .. 7.3 Zu Abschnitt 3: Rechtsund Erkenntnisquellen . 1849 .. 7.31 Rechtsquellen des Steuerrechts . . . . . 1849 .. 7.32 Auslegung und „Steuerjuristische Betrachtungsweise“ 1850 .. 7.4 Zu Abschnitt 4: Steuerrechtsverhältnis . . . . . . 1852 .. 7.5 Zu Abschnitt 5: Gemeinnützigkeit . . . . . . . . . . 1856 .. 7.6 Zu Abschnitt 6: „Verantwortlichkeiten“ . . . . . . 1856 .. P. Kirchhofs Besonderes Steuerrecht. . . . . . . . . . . . 1859 .. 8.1 Zur Einkommen- und Körperschaftsteuer . . . . 1861 .. 8.2 Zur Erbschaft- und Schenkungsteuer . . . . . 1863 .. 8.3 Zur Umsatzsteuer . . . . . 1864 .. 8.4 Besondere Verbrauchsteuern . . . . . . . . . . . . 1865 .. 8.5 Zur Reform der Kommunalsteuern . . . . . . . 1866 .. Schlechte Chancen privater Steuergesetzbuchentwürfe, Bundestag und Bundesrat zu erreichen . . . . . . . . . . . . . 1867 ..
Vorbemerkung
Vorbemerkung Nach dem 2. Weltkrieg war die Steuerrechtswissenschaft, soweit es sie überhaupt gab, vor allem die Magd der Steuergesetzgebung. Wer – wie Armin Spitaler – die Leistungen der Gesetzgebung nur bewunderte 1, hatte keinen Grund, sie zu kritisieren und Reformen vorzuschlagen. So gab sich A. Spitaler besonders der Beschäftigung mit der Methode der Anwendung der Steuergesetze hin. Das erwies sich jedoch umso unbefriedigender, je mehr Mängel der Steuergesetzgebung aufgrund von sachgerechten Maßstäben erkannt wurden. Zwar sind Steuerwissenschaftler nicht legitimiert, Gesetze zu beschließen. Sehr wohl dürfen sie aber Steuerpolitikberatung treiben – durch Entwicklung steuerpolitischer Ideen, auch solcher, die durch Gesetzentwürfe konkretisiert werden. Schon 1985 legte J. Lang einen „Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes“ vor. 1992 erarbeitete er gar als Erster einen Steuergesetzbuchentwurf. Später kamen Einkommensteuergesetzentwürfe von Finanzwissenschaftlern hinzu. 2 Auch der Jurist M. Elicker legte einen Einkommensteuergesetzentwurf vor. 3 Eine Arbeitsgruppe des Sachverständigenrates der Bundesregierung erarbeitete einen Vorschlag zur „Dualen Einkommensteuer“. 4 Ich beschränke mich hier darauf, näher auf die Entwurfsarbeiten von P. Kirchhof und J. Lang einzugehen, weil diese durch alle oder mehrere Steuern erfassende Gesetzbuchentwürfe abgeschlossen worden sind. Vorausschicken möchte ich, dass ich großen Respekt vor der Leistung der Entwurfsverfasser habe. Gescheiterte Reformen zu beschreiben und mangelhafte Gesetze zu analysieren ist einfacher als ein systematisches Gesetzbuch aus einem Guss zu konstruieren. Gesetze zu entwerfen ist auch schwieriger als das Verfassen von rhetorisch prätentiösen, abstrakten Beiträgen etwa für Festschriften. Mein Respekt vor 1 Dazu S. 1393. 2 M. Rose (Hrsg.), Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland. Konzept, Auswirkungen und Rechtsgrundlagen der Einfachsteuer des Heidelberger Arbeitskreises, 2002; J. Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts. Gesetzentwurf und Begründung, 2004. Dazu näher K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuer-Wirrwarr!?, 2006, S. 112–115. 3 M. Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer. Textentwurf und Begründung, 2004. 4 Schriftenreihe des BMF Bd. 79, 2006. Dazu J. Thiel, StuW 2005, 344 f.; J. Englisch, Die duale Einkommensteuer – Reform für Deutschland?, FStSchrift Nr. 432, 2005; J. Hey, JZ 2006, 854 f.; W. Schön/U. Schreiber/ Chr. Spengel/W. Wiegard, Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer, Stbg. 2006, 103 ff. Wirtschaftsdienst 2006, 147 ff.
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der Arbeit der Entwurfsverfasser wird auch nicht dadurch geschmälert, dass die für die Gesetzgebung Verantwortlichen (hochmütig?) die Diskussion verweigern. Die höchste juristische Leistung scheint mir darin zu bestehen, dass der Verfasser eines anerkannten eigenen systematischen Lehrbuchs den Stoff des Buches zu einem Gesetzentwurf verdichtet. Mir geht es hier allerdings nicht hauptsächlich um eine kritische Würdigung der Entwurfsarbeiten, sondern um die Vorfrage, ob und inwieweit die Entwürfe überhaupt Chancen haben, von der Steuerpolitik und der Gesetzgebung beachtet und ausgewertet zu werden? Zugespitzt lautet die Frage: Ist der Gesetzgeber der parlamentarischen Demokratie überhaupt kodexfähig, fähig, ein Gesetzbuch aus einem systematischen Guss und von Dauer zu schaffen? Oder geben diejenigen, die das annehmen, sich Illusionen hin? Die Frage nach der Kodexfähigkeit haben P. Kirchhof und J. Lang sich offenbar ebenso wenig gestellt wie andere Verfasser von Entwurfsarbeiten. Muten Reform-Steuerrechtswissenschaftler dem Gesetzgeber der real existierenden parlamentarischen Demokratie nicht zu viel zu, wenn sie von ihm einen Steuerkodex wissenschaftlichen Musters von Dauer erwarten? Doch verfolgen wir zunächst den Weg, den die Reformoptimisten P. Kirchhof und J. Lang bisher gegangen sind.
1. Paul Kirchhofs Weg zum Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches 1.1 Vom „Karlsruher Entwurf“ zum Einkommensteuer-Reformentwurf 2001 präsentierte P. Kirchhof der Öffentlichkeit zunächst den von ihm inspirierten, unter Beteiligung eines Arbeitskreises entstandenen so genannten „Karlsruher Entwurfs“ zur Reform des Einkommensteuergesetzes. 5 Paul Kirchhof gehört zweifellos zu den wenigen PR-Talenten unter den Rechtswissenschaftlern. Das ließ er schon als Verfassungsrichter erkennen. Nach Ablauf seiner 12-jährigen Richterzeit wurde seine 5 Heidelberg 2011. Dazu P. Kirchhof, DStR 2001, 913 ff.; H. W. Arndt (Arbeitskreismitglied), Stbg. 2001, 194 ff.; F. Wassermeyer, DStR 2001, 920 ff.; K. Tipke, StuW 2002, 148 ff. – Vordenkerarbeit: P. Kirchhof, Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, Gutachten F zum 57. Dt. Juristentag, 1988. Hinweis auch auf P. Kirchhof, iFSt-Schrift Nr. 362 (1998) und P. Kirchhof, Der Weg zu einem neuen Steuerrecht, 2005.
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Verfassungsrichter-Reputation durch ständigen Hinweis auf den „Verfassungsrichter a. D.“ als PR-Mittel eingesetzt. Nicht wenige Blätter fanden Gefallen an den Wortbildern des ausdrucksstarken, wortprägenden Verfassungsrichters a. D. Von ihm wurde das als trocken und technisch verschriene Steuerrecht als potentielle Idylle ausgemalt. P. Kirchhof versprach: Alle steuerpflichtigen Bürger und Unternehmen sollen nur 25 % Einkommensteuer zahlen, und – nachdem sie das Kassenhäuschen des Fiskus passiert haben – in den „Garten der Freiheit“ entlassen werden. Das Einkommensteuergesetz soll – so P. Kirchhofs Plan – extrem gekürzt werden 6, die Steuervergünstigungen und andere Ausnahmen sollen abgeschafft werden. P. Kirchhof versprach Gesetzestexte, die für jedermann verständlich sein würden; die Steuererklärungen würden innerhalb von 10 Minuten ausgefüllt werden können. 90 % der Bürger würden keine Steuererklärung mehr abgeben müssen, würden sich die Steuererklärung „sparen“ können. Das Wochenmagazin DER SPIEGEL, allgemein doch für Skepsis, Argwohn und Verriss 7 bekannt, ließ sich schon 1999 zu folgendem Text wegtragen: „Kirchhof der Hexer schreibt ein Steuergesetzbuch. Der uralte Traum zumindest von Paul Kirchhof soll hinter den Mauern der ältesten Universität Deutschlands in Erfüllung gehen, darin entsteht ein gerechtes Gesetz, das über Generationen hält, vielleicht länger als das Bürgerliche Gesetzbuch. P. Kirchhof schreibt am endgültigen deutschen Steuergesetzbuch, es soll so einfach werden, dass es jeder verstehen kann . . . P. Kirchhof verspricht, sein Steuergesetz werde keinen Pfennig weniger in die Kasse bringen als das geltende Dickicht von 120 Gesetzen des Bundes mit 2 500 Paragraphen und 178 Verordnungen.“ 8 Redakteure des FOCUS kamen 1993 von einem Interview mit P. Kirchhof zurück und berichteten darüber ihrem Chefredakteur so begeistert, dass dieser im Editorial schwärmerisch schrieb: Kirchhof habe seine Redakteure in ein deutsches Steuerparadies gucken lassen. Aufgrund einer wirklichen Reform, fast einer Revolution würden Hunderte von Gesetzen und Tausende von Richtlinien überflüssig werden und so Steuerzahler, Finanzbeamte und Steuerberater endlich wieder durchblicken lassen. 9 Um sich kritiklos so hinreißen zu lassen, muss man wohl (a) Steuerlaie sein, (b) charismaanfällig sein und (c) bedingungslos an die Kom-
6 P. Kirchhof gab dazu auch die Zahl der Paragraphen an, die abgeschafft werden würden. Nachgeprüft hat die Zahlenangaben wohl niemand. 7 Das Blatt war schon auf den Verfassungsrichter P. Kirchhof aufmerksam geworden und schrieb über ihn den Artikel „Die Gabe, Politik zu zersingen“ (DER SPIEGEL Nr. 50/1999, S. 68 ff.) sowie den Artikel „Im Garten der Freiheit“ (DER SPIEGEL 1/2000, S. 88 ff.). 8 Der Kursivdruck wurde vom Verfasser veranlasst. 9 FOCUS 34/2003, S. 24.
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petenz und an die Versprechungen eines Verfassungsrichters a. D. glauben. P. Kirchhof’s Ruf wurde weiter dadurch ausgebaut, dass er sich mit Friedrich Merz (CDU) verbündete und Förderer und Gönner unter Ministerpräsidenten der Länder fand. P. Kirchhof wurde „Botschafter“ der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Die Initiative sorgte dafür, dass ihr „Botschafter“ seinen Medienerfolg noch verstärken konnte. Ende 2003 wurde P. Kirchhof von der erwähnten Initiative und Lesern der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wegen seiner radikal vereinfachten Einkommensteuer und Körperschaftsteuer zum „Reformer des Jahres“ 2003 gewählt. 10 Die Sonntagszeitung schrieb dazu am 7. 12. 2003: „Paul Kirchhof überzeugt alle“. 1.2 Versuch, den Einkommensteuer-Reformentwurf durch Eintritt in die Politik durchzusetzen. In der Politik: grandioser Aufstieg und jäher Fall Als P. Kirchhof im August 2005 Mitglied des Kompetenzteams von Kanzlerkandidatin A. Merkel geworden war, hatte er den Scheitelpunkt seiner Politikkarriere schon erreicht – wohl ohne es zu ahnen. Die Krux: Die CDU/CSU wollte P. Kirchhof vor ihren Wagen spannen – als Wahlkampflokomotive und als Ersatz für Friedrich Merz, der bei A. Merkel in Ungnade gefallen war. P. Kirchhof aber wollte die CDU/ CSU vor seinen Wagen spannen, um mit der Macht des Finanzministers seinen Gesetzentwurf in das Bundesgesetzblatt bringen zu können. 11 Wer P. Kirchhof kennt, weiß, dass er grundsätzlich nur seine Entwurfsarbeit als die allein richtige ansieht und kaum Zugeständnisse zu machen bereit ist. Die Bedenken von CDU/CSU-Politikern gegen sein „25 % für alle sind gerecht“ beeindruckten ihn nicht. P. Kirchhof machte nicht den Fehler, dass er sich im Wahlkampf als Steuerdetaillist vorstellte. Er versprach den Wählern die Wiederherstellung von Verständlichkeit und Übersichtlichkeit der Steuergesetze, ihre extreme Kürzung, die Abschaffung aller Steuerausnahmen und Steuervergünstigungen (im Wahlkampf als Steuergeschenke oder als Steuerschlupflöcher bezeichnet). Er versprach weiter, dafür zu sorgen, dass die Strapaze der Steuererklärung sich nach 10 Minuten erledige. Und dann eben als das non plus ultra den Steuersatz von 25 % für alle. Auch seine Metaphorik setzte er in seinen Botschaften 10 Ich denke, die Verleiher dieses Titels wissen heute auch, dass Reformentwürfe Privater keiner realen Reform gleichstehen. 11 Das sagte er auch einer Zeitung: „Mir geht es nicht um das Amt (des Finanzministers), sondern um die Reform . . . mit dem Ziel, meine steuerpolitischen Vorschläge dann auch im Bundesgesetzblatt zu lesen“ (Kölner Stadtanzeiger v. 21. 7. 2006 (Politik 7)).
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an die Wähler weiterhin ein. So rief er den Wählern zu: „Das Tor geht auf, und die Sonne kommt herein.“ Dass SPD-Finanzminister Hans Eichel von seinem Entwurf nichts hielt, wusste P. Kirchhof. Peer Steinbrück, der als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen das Kirchhof-Modell für wert gehalten hatte, sich damit zu befassen, bezeichnete es im beginnenden Wahlkampf 2005 als interessant, aber nicht praktikabel, nicht realistisch, nicht finanzierbar. Entweder werde die Staatsverschuldung explodieren oder es müssten die Kleinen für die Großen zahlen. Gleich nach der Berufung in das „Kompetenzteam“ von A. Merkel konnte P. Kirchhof vor allem in der liberalen und konservativen Presse über sich immer neue Superlative lesen: Politkomet, Polit-Shooting-Star, Wahlmagnet, Merkels großer Coup, Merkels Wahlkampfknaller, Wahlkampfmagnet, Macher eines neuen Wirtschaftswunders, zweiter Ludwig Erhard, Wunderwaffe A. Merkels, der die Regierung Schröder nichts entgegenzusetzen habe, Glücksfall für die deutsche Politik (Chr. Wulff, damals Ministerpräsident). Wer könnte da nicht den Boden der politischen Realität unter den Füßen verlieren? Schon am 6. 5. 2005 hatte P. Kirchhof auf einem FDP-Parteitag verkündet: „. . . unsere Gesellschaft braucht 20 Jahre bis man am Ziel ist. Ich bin im Steuerrecht in der Position 18 Jahre, es dauert noch zwei Jahre, dann haben wir es erreicht“ (starker Beifall). In einem Vortrag in Gevelsberg am 12. 5. 2005 ließ der Selbstgewisse sein Publikum wissen, sein Steuersystem sei in Berlin hinter den Kulissen bereits akzeptiert, es gehe lediglich noch darum, es politisch durchzusetzen.“ 12 Wurde bezweifelt, dass sich der Staatshaushalt mit einem proportionalen Einkommensteuertarif von 25 % finanzieren lasse, konterte er mit der Behauptung, dass die von ihm geplante Abschaffung von 418 Ausnahmen eine volle Deckung des Haushalts bewirken werde. Der Streit darüber litt und leidet noch heute darunter, dass P. Kirchhof sich hier keiner sauberen Terminologie bedient und nicht sauber differenziert. Er spricht von Ausnahmen, Steuervergünstigungen, Steuersubventionen, Steuerbevorzugungen, Lenkungsnormen, Steuerschlupflöchern, Steuergeschenken. P. Kirchhof bezog sich auf eine Liste, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurde. Da musste er sich nicht wundern, dass man anfing, ihn für unseriös zu halten. 13 12 Westfälische Rundschau v. 13. 5. 2005. 13 Der Wirtschaftsweise W. Wiegand äußerte dazu in DIE ZEIT am 31. 8. 2005, er lese die Zahl 418 auch immer mit Interesse. In Kirchhofs Buch „Der sanfte Verlust der Freiheit“ würden aber nur 163 Ausnahmetatbestände genannt. Im Kommentar zu seinem Bundessteuergesetzbuchentwurf von 2011 kommt P. Kirchhof auf den Streit über die Zahl der Ausnahmen zurück. Er geht dort von 511 Ausnahmetatbeständen im deutschen Ertragsteuerrecht aus.
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Etwa zwei Wochen vor der Wahl vom 18. 9. 2005 griff dann der (Noch-)Kanzler Gerhard Schröder aktiv in den Wahlkampf ein. Der Höhepunkt bestand in einer kämpferischen Rede vor einem großen Steuerlaienpublikum. Mit rabiaten persönlichen Attacken auf P. Kirchhof erzeugte auch er ein großes Medienecho. Er wetterte nicht nur gegen Kirchhof’s Steuermodell (Pendlerpauschale weg, Steuerfreiheit für Sonntags- und Nachtarbeitszuschläge weg, Mehrwertsteuererhöhung auf 18 %), er setzte P. Kirchhof, diesem „Professor aus Heidelberg“ (als ob der Professortitel etwas Unehrenhaftes wäre) auch persönlich herab. Kirchhof habe von der Lebenswirklichkeit einfacher Leute keine Ahnung. Er sei Vertreter eines reaktionären Gesellschaftsbildes (die Mutter solle Karriere in der Familie machen), mit Merkel und Kirchhof falle die Republik in das 19. Jahrhundert zurück. Kirchhof wolle das Land in unten und oben spalten, eine kalte, unmenschliche Ellbogengesellschaft mit Neid und Missgunst schaffen. In Zeitungen und auf Wahlplakaten konnte P. Kirchhof nun über sich lesen, er sei ein Neoliberaler, er vertrete den Geist der „katholischen Romantik“, er sei extrem konservativ, sei ein Erzreaktionär, ein „Mann der Kälte“, ein „Dämon aus der Kältekammer des Kapitalismus“, er sei „radikal unsozial“, wolle den „sozialen Kahlschlag“. Andere betonten, P. Kirchhof sei ein Visionär und Utopist, ein weltfremder Phantast, ein Phantom ohne Bodenhaftung, ein Steuer-Rambo. Der Finanzminister H. Eichel nannte ihn 2005 gar Lügner und Betrüger, der unglaubliche Phrasen dresche. So wurde durch Demagogie, Rabulistik, Polemik und Ehrabschneiderei aus der Lichtgestalt P. Kirchhof im „demokratischen“ Wahlkampf ein Dunkelmann. Auch bei Spitzenleuten der CDU/CSU blieb aufgrund der Herabsetzung und Verächtlichmachung etwas vom Negativbild hängen. P. Kirchhof hätte Gerhard Schröder – der inzwischen wahrscheinlich viel reicher ist als P. Kirchhof – einen Proleten ohne Kinderstube, einen Emporkömmling mit anti-intellektuellen Ressentiments nennen können, einen Spezialisten für die Holzhammermethode (die offenbar bei einer bestimmten Wählerschicht ankommt). Aber P. Kirchhof ist bekannt für seine Contenance und bleibt seinem Stil treu, fällt nicht aus der Rolle. An einem politischen Wettbewerb um das niedrigste Niveau mochte er nicht teilnehmen. Ethos, Habitus und Stil von Schröder und Kirchhof unterscheiden sich so sehr, dass es zwischen beiden keine Brücke gibt. Obwohl meine Steuerreformvorstellungen und mein Weltbild von denen P. Kirchhofs abweichen: Gegen verbale Rüpel und Ehrabschneider muss man ihn einfach verteidigen. Aus einer bildungsbürgerlichen Familie zu stammen, ist nicht unehrenhaft. 14 14 Man sollte es nicht für möglich halten, dass ein Bundeskanzler gegen einen eminenten Verfassungsrichter a. D., Träger des Bundesverdienst-
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Peer Steinbrück, dessen Wahlkampf-Politikstil sich wesentlich von dem Gerhard Schröders unterscheidet, dazu: „Quereinsteiger – zumal solche mit unkonventionellen Auffassungen, mangelndem Stallgeruch und einem fachlichen Wissen, das sich nur schwer auf die Linie der jeweils tonangebenden Parteiströmung verbiegen lässt – werden schnell weggebissen. Die politische Konkurrenz aber beutet ihre Unerfahrenheit auf dem politischen Parkett gnadenlos aus. Insofern mag es wahltaktisch ein ‚genialer‘ Schachzug von Gerhard Schröder gewesen sein, den ‚Professor aus Heidelberg‘, Paul Kirchhof, im Bundestagswahlkampf 2005 als Kompetenzzentrum der CDU/CSU regelrecht vorgeführt zu haben. Aber die über die Wahl hinausgehenden Folgen dürfen als fatal gelten. So schnell wird sich kein deutscher Professor mehr in die heiße politische Küche wagen. Mit Blick auf die wachsenden Herausforderungen ist das für die Rekrutierung politischen Spitzenpersonals alles andere als ermutigend.“ 15 Wenn der Steurrechtswissenschaftler und Urheber eines Steuergesetzbuch-Entwurfs P. Kirchhof Finanzminister geworden wäre, hätten sich für ihn die Chancen, seinen Entwurf in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen, sicher nicht unerheblich verbessert; aber eine Umsetzung eins zu eins wäre ihm sicher auch nicht gelungen. Die Opposition und die vielen Interessenverbände hätten sich sicher nach Kräften bemüht, den Reformprozess zu stören. 1.3 Paul Kirchhof macht weiter Nach dem enttäuschenden Ausgang der Bundestagwahl 2005 schwankte P. Kirchhof zunächst zwischen Resignation und Standfestigkeit. Anfangs meinte er, die Wähler hätten entschieden, sein Platz sei nicht in der Politik, sondern in der Wissenschaft, in die er zurückkehren wolle. Eine Kölner Zeitung ließ er wissen: „Das liegt wirklich hinter mir. Ich bin jetzt wieder ganz der Professor aus Heidelberg.“ „Ich beobachte die Politik jetzt aus der Distanz.“ „Die aktive Mitgestaltung ist für mich eine geschlossene Akte. Ich steige nicht noch einmal ins Karussell um Posten. 16
kreuzes mit Stern- und Schulterband und vieler anderer Auszeichnungen und Ehrungen, so ausfällig werden könnte. In seiner Laudatio aus Anlass der Verleihung des Hanns Martin Schleyer-Preises 2001 an P. Kirchhof hat Staatsrechtslehrer K. Vogel als Tugenden P. Kirchhofs herausgestellt: Rechtlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Einsatz für Gerechtigkeit und Gemeinwohl, Mitgefühl für die Schwachen, Bescheidenheit (Veröffentlichungen der Hanns Martin Schleyer-Stiftung Bd. 57, 2001, S. 19 f.). Was für ein Kontrast zu Wahlkämpfer Altbundeskanzler Schröder! 15 P. Steinbrück, Unterm Strich, 2010, S. 41 f. 16 Kölner Stadtanzeiger v. 21. 7. 2006, Politik 7.
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Verlauf und Ergebnis des Wahlkampfes, dessen Ablauf P. Kirchhof sich sicher anders vorgestellt hatte, beschäftigten ihn weiterhin. Als Staats- und Steuerrechtslehrer war er auf die politische Wirklichkeit, auf einen rüden, ruppigen Wahlkampfstil zumal gestoßen und hatte erfahren müssen, dass man es auch im demokratischen Wahlkampf mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Besonders musste es ihn aber verdrießen, dass die Union ihn im Stich ließ 17 und dass Angela Merkel ihn über Nacht fallen ließ. Bei ihr stürzte P. Kirchhof abrupt ab vom Heilsbringer und Garanten eines sicheren Wahlsieges zum Sündenbock einer verpatzten Wahl – obwohl er sich doch überhaupt nicht geändert hatte. P. Kirchhof war sich bewusst geworden, wie es ist, wenn ein Staatsrechtslehrer auf die politische Wirklichkeit stößt. Er sprach enttäuscht von einem Wechsel aus einer „Welt des Vertrauens“ (wissenschaftliche Welt) in ein „System des Misstrauens“ (System der Politik). Ganz Demokrat beschwerte er sich jedoch nicht über die Wähler. Demokratie, äußerte er, müsse auf den mündigen Wähler bauen, und wörtlich: „. . . der Wahlkämpfer streitet unter der Alternative: Du oder Ich. Dieser politische Wettbewerb unterscheidet sich grundlegend von dem Wettbewerb in Kunst und Wissenschaft.“ 18 Allerdings müsse der Schutz vor Diffamierung verschärft werden. 19 Nach einigen Jahren Abstand sagte P. Kirchhof dem Magazin der Süddeutschen Zeitung indessen: „Der polemische Wahlkampf 2005 war aus meiner Sicht eine Niederlage der Demokratie. Die Politik zerstört ihre demokratische Grundlage und verliert Vertrauen, wenn sie die Idee des Gegners nicht ernsthaft diskutiert.“ 20 Und an anderer Stelle: „Unsere Demokratie braucht mehr Freiheitsvertrauen in den Wähler. Kraftvolle Wähleraufträge wird in Zukunft nur erringen, wer große Reformkonzepte wohldurchdacht und ausformuliert vortragen und die Realisierung in der nächsten Wahlperiode glaubwürdig versprechen kann.“ 21 Das ist m. E. ein Irrtum. P. Kirchhof sagt an anderer Stelle selbst, der unzulängliche Wähler sei einem argumentativen
17 In der Union hatte es allerdings auch vor der Wahl schon (in der Minderheit befindliche) Kräfte gegeben, die P. Kirchhof wegen seines niedrigen Einheitssteuersatzes auflaufen lassen wollten. 18 Der Verfasser hat sich schon des Öfteren verwundert darüber geäußert, dass der politische Wettbewerb im Wahlkampf ein Wettbewerb ohne Regeln ist. Es gilt „Laissez faire, laissez aller“. Nur zu oft geht es unfair zu. 19 FAZ v. 8. 2. 2006, S. 7. Zum Thema auch Th. Mergel, Wahlkampfgeschichte als Kulturgeschichte. Konzeptionelle Überlegungen und empirische Beispiele, in: B. Stolberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 35 (2005), S. 355 ff. 20 SZ-Magazin v. 26. 6. 2009. 21 FAZ v. 8. 2. 2006, S. 7 Sp. 2.
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Wahlkampf nicht gewachsen. Dort sei „nicht die Wahrheit gefragt, sondern „Meinungen und Gefühle“ seien maßgeblich. 22 Den Glauben P. Kirchhofs an die Richtigkeit seines Konzepts hat der Wahlausgang offenbar nicht erschüttert. Schon wenige Tage nach der Wahl sagte er Heike Göbel (FAZ) in einem Interview, die Zeit für sein Konzept rücke heran. Mit dem Steuerrecht gehe es so nicht weiter, weil es den Staatshaushalt nicht mehr ausreichend fülle. 23 Mit der Person von P. Kirchhof werden Eigenschaften in Verbindung gebracht wie Sendungsbewusstsein und Selbstgewissheit. Mehr hinter vorgehaltener Hand wird er von Kleinmütigen aber auch als Träumer, Schwärmer („Steuerparadies“; „Garten der Steuerfreiheit“), Phantast mit überspannten, wirklichkeitsfernen Ideen bezeichnet. Wie immer man das indessen auch sieht, P. Kirchhof ist jedenfalls einzigartig. P. Kirchhof nennt das Steuerrecht „Recht in Not“. Aus dieser Not will er es befreien. Dabei sieht er ein, dass er die Menschen noch mehr und besser aufklären müsse. Missionarisch verkündet er: „Ich will letztlich den Menschen befreien“. 24 Als Steuerphilosoph will er Aufklärer, Nothelfer, Befreier und Retter sein. 25 So ist es nicht verwunderlich, dass P. Kirchhof die Arbeit an einem Steuergesetzbuch mit einem Arbeitskreis fortgesetzt und abgeschlossen hat. Dem FOCUS sagte er dazu: „Ich bin zuversichtlich, dass wir am Anfang einer Grundsatzdebatte stehen, denn (?) das Steuergesetzbuch ist ein Angebot an die Politik, der wir einen fertigen Gesetzentwurf für alle Steuerarten mit 146 Paragraphen statt über tausend Paragraphen vorlegen.“ 26 1.4 Am Ziel der Entwurfsarbeit: Veröffentlichung eines Bundessteuergesetzbuch-Reformentwurfs Im Spätsommer 2011 kam der Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches heraus. 27 Damit ist ein erstes Ziel erreicht. Vor dem Endziel, nämlich die Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt, liegen aber doch Hürden, die wohl unüberwindbar sind (s. S. 1868 ff.) Am Ende seines Vorworts zum Bundessteuergesetzbuchentwurf schreibt P. Kirchhof: „Mit der Publikation unserer Überlegungen ver22 23 24 25 26 27
FAZ v. 8. 2. 2006, S. 7 Sp. 5. FAZ v. 23. 9. 2005. WELT am Sonntag v. 3. 7. 2011, Politik 4. WELT am Sonntag v. 3. 7. 2011, Politik 4. FOCUS 27/2011, S. 27. Bundessteuergesetzbuch. Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, vorgelegt von Paul Kirchhof. – Die Mitarbeiter, die zu verschiedenen Zeiten zwischen 2000 und 2011 am „Forschungsprojekt Steuergesetzbuch“ mitgewirkt haben, sind nachgewiesen auf S. 1209 des Entwurfs.
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binden wir die Hoffnung, der Öffentlichkeit, den Parteien und den Verbänden, dem Parlament einen Reformimpuls geben zu können, dabei auch auf wissenschaftliche Kritik zu treffen, die Wege weist, wie unser Vorschlag zu verbessern ist.“ Da nicht anzunehmen ist, dass Steuerpolitiker mit P. Kirchhof eine Reform-Grundsatzdebatte führen wollen (vorausgesetzt, dass sie das überhaupt können), sollten wenigstens Wissenschaftler versuchen, mit der Reform-Grundsatzdebatte zu beginnen. Eine kritische Debatte, die P. Kirchhof sich wünscht, besteht aber nicht darin, dass Freundlichkeiten ausgetauscht werden und nachgebetet wird, was vorgefunden wird. Im Übrigen geht es in meiner Stellungnahme mehr um das Grundsätzliche, nicht um einen Einstieg in alle Details. Das würde einen ausführlichen Kommentar erforderlich machen. Kommentatoren der geltenden Steuergesetze sollten allerdings rechtsvergleichend auch auf den Kirchhof-Entwurf eingehen und ihr kompetentes Urteil abgeben. Das Fachecho auf P. Kirchhofs Entwurf eines Steuergesetzbuches war enttäuschend schwach. Zwar erschien keine durchschlagende Kritik oder gar ein Verriss; das wäre vielleicht aber besser gewesen als das „fast nichts“. P. Kirchhof wird aber nicht müde, seinen Entwurf in Fachkreisen vorzustellen. Die Politik indessen zeigt ihm weiterhin die kalte Schulter.
2. Joachim Langs Weg zum Reform-Entwurf, erarbeitet unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft 2.1 Reformgesetz-Vorarbeiten Auf den 1985 vorgelegten „Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes“ ist bereits hingewiesen worden. 28 Schon dieser Entwurf präsentierte ein Muster an systematischer Ordnung und Klarheit. An ihm konnten Systematiker sich delektieren. Unter den Steuerpolitikern von damals – die Spitze der Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums eingeschlossen – gab es jedoch keine Steuerrechtssystematiker, die sich für den Entwurf interessiert hätten. Die Steuerpolitik ging ihre eigenen Wege. Als in den 1990er Jahren die Regierungen der früheren Ostblockstaaten das deutsche Bundesfinanzministerium um Rechtshilfe bei der Abfassung von Steuergesetzen gebeten hatten, leistete das Ministerium die Hilfe nicht selbst, sondern wandte sich auf den Rat des Ministerialbeamten G. Juchum an den Steuerrechtsprofessor J. Lang. 29 Die28 Münsteraner Symposium Bd. II, 1985. 29 Dazu G. Juchum, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 392; Hinweis auch auf die S. 11, 23. G. Juchum war sich wohl bewusst, dass sich die deutschen Steuergesetze wegen ihrer Mängel als Exportartikel nicht eigneten.
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ser nahm den Auftrag gern an, und in erstaunlich kurzer Zeit entstand der Entwurf einer Gesamtkodifikation des Steuerrechts. 30 Die Kodifikation verdanken wir dem Kopf und der Feder eines Einzelnen. Eine solche Pionierleistung konnte nur jemand vollbringen, der zugleich Generalist und Spezialist ist, Generalspezialist. Unter Steuerfachleuten und Journalisten kam damals die Frage auf, warum denn das deutsche Finanzministerium den Entwurf nicht für Deutschland nutze. Als Antwort wurde damals kolportiert: Der Entwurf sei für die osteuropäischen Länder gedacht, er passe nicht zu der hohen deutschen Steuerkultur. J. Lang ließ sich jedoch nicht entmutigen. Zehn Jahre später machte er sich aufgrund eines Preisausschreibens mit einem Team an die Erarbeitung des „Kölner Entwurfs (Sprecher: J. Lang) eines Einkommensteuergesetzes“, durch den der Stoff systematisch neu geordnet und vereinfacht wird. Der „Kölner Entwurf“ bewahrt dabei die Kontinuität zum geltenden Recht und hält an bewährten Begriffen fest. Die Hoffnung, man könne mit dem Entwurf der Steuerpolitik dienen, erfüllte sich jedoch auch dieses Mal nicht. Immerhin wurde der „Kölner Entwurf“ für den Bereich der Einkommensteuer Grundlage der von J. Lang geleiteten „Kommission Steuergesetzbuch“, die unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft arbeitete. 2.2 Erarbeitung eines Reform-Entwurfs unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft Trotz der in der Öffentlichkeit bekannten Steuerreformentwurfsarbeit Paul Kirchhofs entschlossen sich im Jahr 2004 reforminteressierte Kräfte aus Steuerpolitik und Steuerfachkreisen, organisiert von der Stiftung Marktwirtschaft, eine Steuerreformkommission zu bilden. 31 In der CDU/CSU und in der FDP – 2004 in der Opposition – gab es damals durchaus die Einsicht in die Notwendigkeit einer umfassenden Steuerreform, besonders aber einer Reform der Einkommensteuer. Dazu wurden auch vorbereitende Konzepte entwickelt 32, aber man war sich auch darüber im Klaren, dass man die Sozialdemokraten 30 Der Gesetzbuchentwurf ist abgedruckt in BMF-Schriftenreihe Heft 49, 1993. Dazu K. Tipke, Gedanken zu einem Steuergesetzbuch, StuW 2000, 309 ff. 31 Initiativ wurde insbesondere der Stiftungsvorsitzende M. Eilfort, der auch enge Verbindungen zu Steuerreformpolitiker Friedrich Merz (CDU) hatte. 32 CDU/CSU, Ein modernes Steuerrecht für Deutschland – Konzept 21, BTDrucks. 15/2745 v. 23. 3. 2004; FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer, BT-Drucks. 15/2349 v. 14. 1. 2004, BT-Drucks. 15/2745 v. 23. 3. 2004; Niedrig, einfach, gerecht, Berliner Entwurf der FDP, 2003;
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und die Grünen einbinden müsste, wollte man nicht an deren Blockade scheitern. Die Entwurfsarbeit des konservativen P. Kirchhof lehnten maßgebliche Rot-Grüne strikt ab. Überdeutlich wurde die Aversion der SPD gegen den Kirchhof-Entwurf im Wahlkampf 2005. So bildete man unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft im März 2004 eine nicht an bestimmte Parteien gebundene Reformkommission „Steuergesetzbuch“. Nachdem sich unter der Leitung von Joachim Lang in 2004 bereits eine „Lenkungsgruppe“ konstituiert hatte, wurde eine Expertenkommission aus über 70 hervorragenden Fachleuten – bestehend aus Steuerwissenschaftlern, Steuerrichtern, Steuerbeamten, Steuerberatern und in der Wirtschaft tätigen Steuerexperten – gebildet. Sie setzte sich zum Ziel, eine umfassende Neuordnung der deutschen Steuergesetze, ausformuliert in Gesetzestexten und zusammengefasst in einem Steuergesetzbuch, zu erarbeiten. Dazu wurden drei Arbeitsgruppen gebildet, nämlich die Gruppe „Einkommensteuer und Abgabenordnung“ (Vorsitz Joachim Lang), die Gruppe „Unternehmensbesteuerung“ (Vorsitz Norbert Herzig) und die Gruppe „Kommunalfinanzen“ (Vorsitz Manfred Mössner). Außerdem wurde ein „politischer Beirat“ – ohne Weisungsrecht – berufen. Diesem Beirat gehörten an: Friedrich Merz (CDU), Kurt Faltlhauser (CSU), Gernot Mittler (SPD), H. O. Solms (FDP) und Manfred Busch (Bündnis 90/Die Grünen).
Vorsitzender und Spiritus Rector der Kommission wurde Joachim Lang, der sich schon seit Jahren durch seine Veröffentlichungen als engagierter Reformdenker ausgezeichnet hatte. J. Lang hält nichts von spektakulären Versprechungen, die sich später als unrealisierbar erweisen. Da er wie wohl kaum ein anderer, Steuergeneralist und zugleich -spezialist ist, ist seine fachliche Autorität unbestritten. Von radikalen Lösungen (Radikalreform, radikale Verkürzung, radikale Vereinfachung) hält er nichts. Auch er pflegt von seinen Reformvorstellungen überzeugt zu sein, ein missionarisches Sendungsbewusstsein ist ihm jedoch nicht eigen. Die Kommission setzte sich ehrgeizige Ziele, nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich. Bis zum Frühjahr 2005 sollten erste Entwürfe vorgelegt werden, bis Ende 2005 Gesetzestexte vorbereitet sein, und bis zur Bundestagswahl 2006, jedenfalls bis Ende 2006 sollte ein kompletter Entwurf eines Steuergesetzbuches vorliegen. Optimistisch ging man davon aus, dass der nach der Wahl 2006 amtierende Finanzminister sich bereitwillig des Kommissionsentwurfs der Stiftung Marktwirtschaft bedienen werde. Die Financial Times bezeichnete den Entwurf der Stiftung Marktwirtschaft als Blaupause, als Entwurf für die Regierung nach der Wahl 2006.
H. O. Solms (Hrsg.), Liberale Reform der direkten Steuern, Berliner Entwurf der FDP, 2005.
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Joachim Langs Weg
Aber es kam ganz anders. Die Kommission arbeitete zügig und kreativ, wurde jedoch wiederholt durch die Politik irritiert. Auf Betreiben des Bundeskanzlers G. Schröder wurde die Bundestagswahl 2006 auf September 2005 vorverlegt. Bis dahin konnte unmöglich ein Steuergesetzbuchentwurf erarbeitet sein. Die zweite Überraschung bestand darin, dass Kanzlerkandidatin A. Merkel (CDU) P. Kirchhof – den Entwurfskonkurrenten – in ihr Schattenkabinett, genannt Kompetenzteam, holte und ihn als Ersatz für den bei ihr in Ungnade gefallenen F. Merz als Finanzminister in Aussicht nahm. Und die dritte Überraschung: Der als sicher angesehene Wahlsieg von CDU/CSU und FDP im September 2005 blieb aus. P. Kirchhof wurde als Sündenbock der verpatzten Wahl behandelt und umgehend zur politischen Unperson. Als Kanzlerin einer großen Koalition aus CDU/CSU und SPD holte sich A. Merkel Peer Steinbrück. Kurz nach der Septemberwahl 2005 hieß es noch, Union und SPD bewegten sich in der Steuerpolitik aufeinander zu, Politiker beider Lager hätten sich positiv über den Entwurf der „Stiftung Marktwirtschaft“ geäußert. Die Arbeit finde Zustimmung. 33 Friedrich Merz (CDU) und Barbara Hendricks (SPD) waren wohl zur Zusammenarbeit auf der Grundlage des Stiftungsentwurfs bereit, aber es kam erneut ganz anders: Der Finanzminister der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, Peer Steinbrück, hatte mit einer großen Steuerrechtsreform nichts im Sinn, und die neue Kanzlerin, A. Merkel, schlug sich nun ganz auf dessen Seite. P. Steinbrück wollte sich auf eine Senkung der Körperschaftsteuer und eine Gegenfinanzierung durch Eingriffe in das Nettoprinzip beschränken, und so geschah es. 34 Der Vorgang zeigt, was eine durchsetzungsmächtige und -fähige Politikerpersönlichkeit in der Steuerpolitik bewirken kann: Die ganze Steuerkompetenz im Parlament, im Finanzausschuss und im Finanzministerium beugte sich P. Steinbrück. Dieser hatte aufgrund der NWWahl 2005 gelernt, Wähler wollen keine Wahrheiten hören; viele sind Realitätsverweigerer und warten auf Versprechungen. Sowohl P. Kirchhof als auch J. Lang hatten große Hoffnungen auf Friedrich Merz gesetzt. Er war profilierter Wirtschafts- und Finanzpolitiker der Union und engagierter Propagandist und Betreiber der Steuerrechtsreformidee. Dazu setzte er zunächst auf das Einkommensteuerkonzept von P. Kirchhof. Als der „Kölner Entwurf“ ihm bekannt geworden war, lud er sowohl P. Kirchhof als 33 FAZ v. 23. 9. 2005, S. 17; Handelsblatt v. 23. 9. 2005; Süddeutsche Zeitung v. 22. 9. 2005, S. 20. 34 Dazu J. Hey, Verletzung fundamentaler Besteuerungsprinzipien durch die Gegenfinanzierungsmaßnahmen des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BB 2007, 1303 ff. Auch J. Hey kommt zu dem Ergebnis, dass die Tarifsenkungen insbesondere durch Einschnitte in das objektive Nettoprinzip erkauft worden seien. Steuersystematisch seien die Gegenfinanzierungsmaßnahmen größtenteils nicht haltbar.
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§ 38 Steuergesetzbuchentwürfe aus der Steuerrechtswissenschaft auch J. Lang ein, ihre Modelle einem Arbeitskreis vorzustellen. Dieser Arbeitskreis entschied sich für den weniger radikalen „Kölner Entwurf“. Sich nunmehr geistig auf das Kölner Konzept stützend 35 schlug F. Merz auf dem Leipziger CDU-Parteitag die Delegierten mit einer flammenden Rede zur Steuerreform (der so genannten „Bierdeckel-Rede“) in seinen Bann. Indem er das blaue Wunder der Steuervereinfachung (Motto: Wollt ihr die totale Steuervereinfachung?, Wollt ihr die Steuererklärung im Bierdeckelformat?) versprach, löste er bei den Delegierten geradezu frenetische Beifallsstürme aus. Kein Wort war ihm zu hochfliegend, zu pathetisch, kein Versprechen war ihm zu übertrieben, zu überspannt. Offenbar hatten die Delegierten ihre Kritikfähigkeit aufgrund der Rede eingebüßt. Aber F. Merz hatte zu dieser Zeit, wohl ohne es zu ahnen, in Wirklichkeit seinen politischen Zenit bereits überschritten. Angela Merkel, die er gänzlich unterschätzt hatte, wurde (auch) ihm zum politischen Verhängnis. Als er Mitglied des politischen Beirats der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft wurde, war er politisch schon zur lame duck geworden, seine Steuerreformkraft hatte kein politisches Gewicht mehr. In der großen Koalition von CDU/CSU und SPD suchte und fand er keinen Platz mehr. Die Steuerreformer aus der Wissenschaft hatten dadurch ihren mit Abstand wirkungsvollsten, nicht zu ersetzenden Promotor verloren. Frustriert zog F. Merz sich bald darauf aus der Politik zurück. Als Friedrich Merz sich in einer akademischen Feier zur Überreichung einer Festschrift an den 70-jährigen J. Lang zeigte, wurde er noch einmal mit Beifall gefeiert. F. Merz ist wie P. Steinbrück Aufsichtsratsmitglied von Borussia Dortmund. Die beiden sollen harmonieren, kollegial agieren und in finanzpolitischer Hinsicht oft der gleichen Meinung sein.
3. Die Reformentwürfe unter dem Aspekt ihrer legistischen Realisierbarkeit 3.1 Stellungnahmen der Reformer zum Reformbedarf 3.11 P. Kirchhof Selbstverständlich nehmen die Verfasser von Reformentwürfen einen Reformbedarf, wenn nicht eine Reformnotwendigkeit an. Es ist aber nicht einfach, reformunwillige Steuerpolitiker vom Reformbedarf zu überzeugen. Steuerreformen haben selbst schon Bundespräsidenten und Verfassungsgerichtspräsidenten für notwendig erklärt. P. Kirchhof leitet seine „Leitgedanken“ zu seinem Reformgesetzbuch so ein: „Das gegenwärtige Steuerrecht wird allgemein als unzulänglich empfunden, weil es unübersichtlich ist, die Freiheit des Wirtschaftens erschwert und hemmt, in seinem ständigen Wechsel langfristige Planungen kaum zulässt, mit seinen Lenkungstatbeständen Freiheit beengt und nicht selten in die ökonomische Torheit führt. Dieses Recht gefährdet die Vertrauenswürdigkeit des 35 J. Lang hat an dem Unionskonzept „Ein modernes Steuerrecht für Deutschland – Konzept 21 – BT-Drucks. 15/2745 v. 23. 3. 2004 – mitgewirkt, nicht P. Kirchhof, der an seinem radikalen Modell festhielt.
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Die Reformentwürfe unter dem Aspekt legistischer Realisierbarkeit Staates an einer sensiblen Stelle des rechtlichen Alltags. Dennoch erwächst aus diesen Rechtsmängeln bisher kein kraftvoller politischer Reformimpuls. Die Parteien- und Verbändedemokratie beharrt auf Privilegien und Sondertatbeständen, eine folgerichtige Besteuerung nach finanzieller Leistungsfähigkeit ist den Bedrängnissen eines weltoffenen Marktes ausgesetzt, eine Steuer mit maßvollen Steuersätzen droht an den ständig wachsenden Leistungserwartungen gegenüber dem Staat zu scheitern. Hier liegt die Aufgabe der Wissenschaft. Sie muss der Öffentlichkeit und der Politik nachhaltig bewusst machen, dass ein maßvolles und gleichmäßiges Steuerrecht möglich ist, das Gesetz einen verständlichen und einsichtigen Belastungsgrund für jede Steuer entwickeln kann, ein einfaches und folgerichtiges Steuerrecht Freiheit, Rechtssicherheit und Planbarkeit mehrt, das Ideal der Allgemeinheit und Privilegienfeindlichkeit des Gesetzes im Steuerrecht Wirklichkeit werden kann . . .“ 36
Das Kirchhofsche Gedankengemenge ist nicht leicht zu ordnen. Es fehlt die klare Trennung zwischen Gesetzesmängeln und den Mitteln, sie auszuräumen. Zuhörer mag P. Kirchhof mit seiner Ansammlung von irgendwie verquickten Begriffen erbauen können; als kritischer Leser möchte man von einem Reformer konkret wissen, was er unter Steuergerechtigkeit versteht, welchen Gerechtigkeitsbegriff er seinem Entwurf zugrunde legt und welche Gerechtigkeitsverstöße die zurzeit geltenden einzelnen Steuergesetze enthalten. Wenn das deutsche Steuerrecht die deutsche Wirtschaft erschwert und hemmt: Wie kann Deutschland dann Exportweltmeister sein und fast allen anderen Ländern der Eurozone im wirtschaftlichen Wettbewerb überlegen? Es ist leider richtig, dass Parteien und Interessenverbände auf „Sondertatbeständen“ (wohl gleichbedeutend zu verstehen mit Ausnahmetatbeständen) beharrten: Nur, wie sollen sie davon abgebracht werden? Dass Steuerreform-Steuerrechtswissenschaftler Reformentwürfe vorlegen, in denen sie alle „Sondervorschriften“ gestrichen haben, wird die Partei- und Verbandspolitiker nicht erschrecken. Da die Politik auf die Entwürfe nicht reagiert, muss man annehmen, sie sieht überhaupt keine Veranlassung, ihre Deckung zu verlassen. M. E. genügt es nicht, die genannten Sonder- oder Ausnahmevorschriften zu streichen: Sie müssen im Einzelnen aufgeführt und auf ihre Rechtfertigung untersucht werden. Es gibt eben auch Ausnahmevorschriften, die sich rechtfertigen lassen. Wichtig wäre aber auch, die angewendete Begrifflichkeit (Sondervorschriften, Ausnahmevorschriften, Lenkungsvorschriften, Steuervergünstigungen, Steuersubventionen u. ä.) zu ordnen und inhaltlich klarzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich Steuervergünstigungen grundsätzlich zugelassen, nicht verboten. Selbst wenn es davon überzeugt würde, dass bestimmte Steuervergünstigungen nicht gerechtfertigt sind, die Begünstigten würden das Verfassungsgericht nicht anrufen, und der Rechtsschutz Drittbetroffener ist problematisch. 36 Bundessteuergesetzbuch-Reformentwurf von 2011, Leitgedanken Rz. 1, 2.
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Erfahrungsgemäß genügt es offenbar nicht, der Steuerpolitik und dem Steuergesetzgeber durch Gesetzentwürfe zu zeigen, was theoretisch Gesetzesinhalt werden könnte, sondern es geht darum aufzuzeigen, wie in der real existierenden Parteien- und Verbändedemokratie der Rechtsgedanke im Sinne des Art. 1 III GG durchgesetzt werden kann. Steuerzahler, die nicht gewusst hätten, warum sie Steuern zahlen sollen, sind mir noch nicht begegnet. Dass das Leistungsfähigkeitsprinzip vom „weltoffenen Markt“ bedrängt wird, sehe ich nicht. Wäre es so, sollte der „weltoffene Markt“ etwa abgeschafft werden? 3.12 Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft Die Kommission rechtfertigt den Reformbedarf und ihr Reformvorhaben so: „Steuern . . . sollen gerechte Solidarbeiträge zu einer zivilisierten Gemeinschaft der Bürger sein. Dieser Anforderung genügt das Steuerrecht nicht mehr. Es ist den vielfältigen Konflikten öffentlicher und privater Interessen im Streit um Anteile am Steueraufkommen, in der Befriedigung von Gruppeninteressen und in politischen Kompromissen zu einer unverständlichen Materie verkommen, deren Ordnung und Prinzipien kaum mehr zu erkennen sind. Wer mit dem Steuerrecht beruflich zu tun hat, leidet unter unverständlicher Komplexität und Planungsunsicherheit des alltäglich sich verändernden Steuerrechts . . . Der Bürger fühlt sich mit Abgaben überlastet und vermag die Steuererklärung nicht richtig auszufüllen. Der als ‚Steuerchaos‘ bezeichnete Zustand des Steuerrechts ist für alle von ihm Betroffenen unerträglich geworden. Er ist Ursache für Staats-, Politikund Demokratieverdrossenheit, und er behindert Wachstum, weil es an greifenden Anreizen zu Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft ebenso fehlt wie an Vertrauen und Rechtssicherheit, die Grundlage für Investitionen und Konsum sind. Infolge dessen hat sich der allgemeine gesellschaftliche Konsens gebildet, dass das deutsche Steuerrecht grundlegender Reform bedarf. In Meinungsumfragen haben die Bürger die Steuervereinfachung an die erste Stelle des Reformkatalogs für Deutschland gesetzt, und Steuerexperten haben eine Vielzahl beachtenswerter Reformentwürfe ausgearbeitet. Die Zeit scheint endlich reif für eine Fundamentalreform des Steuerrechts.“ 37
Daraus leitet die Kommission folgende Aufgaben und Zielsetzungen ab: p Das Steuerrecht ist auf seine Grundstrukturen zurückzuführen und grundlegend zu vereinfachen. p Entbehrliche Abgrenzungen, Steuervergünstigungen und andere Ausnahmebestimmungen sind zu beseitigen. p Die Steuergerechtigkeit ist durch die folgerichtige Anwendung von systemtragenden Prinzipien des Steuerrechts wie insbesondere durch das Leistungsfähigkeitsprinzip und das vor übermäßiger Steuerbelastung schützende Nettoprinzip zu gewährleisten. 37 Stiftung Marktwirtschaft, Kommission „Steuergesetzbuch“, Projektkonzept, Januar 2005, S. 3.
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Die Reformentwürfe unter dem Aspekt legistischer Realisierbarkeit p Das Steuerrecht ist möglichst entscheidungsneutral zu gestalten, indem wirtschaftlich Gleiches auch gleich besteuert wird. p Das Steuerrecht ist international kompatibel, frei von Konflikten mit dem Europarecht und international wettbewerbsfähig zu gestalten. p Der Vollzug der Steuergesetze soll erleichtert und verbessert, die Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung sollen optimal genutzt werden. p Die Steuergesetze sind so zu entwerfen, dass die Steuern als klar, verständlich und gerecht normiert, akzeptiert und Steuerstreitigkeiten möglichst vermieden werden.“ 38
Die Kommission stellt die Situation pointiert dar, überschätzt aber vielleicht doch den Reformdruck aus der Bevölkerung. Gibt es wirklich den erwähnten „allgemeinen gesellschaftlichen Konsens“ über den Reformbedarf des deutschen Steuerrechts? Die Kommission erwähnt an anderer Stelle den Sturm auf die Pariser Bastille vom 14. 7. 1789. Aber einen Sturm der Steuerzahler auf das Bundesfinanzministerium oder ein Landesfinanzministerium wird es nicht geben. Der durchschnittliche deutsche Steuerzahler ist sehr geduldig und nicht auf eine Steuerrevolution aus. M. E. lässt sich nicht viel politisch vorteilhaftes Potenzial aus dem Vorhaben einer Großen Steuerreform gewinnen. Das deutsche Steuerrecht ist aus steuerjuristischer Sicht in der Tat mit vielen Mängeln behaftet, aber es ist auch nicht schlechter als das Steuerrecht anderer parlamentarischer Demokratien. Es ist ein normales Produkt einer solchen Demokratie. Die Politik weiß das, und sie weiß auch, dass die Steuerzahler relativ geduldig und ruhig sind. Mit der Ruhe könnte es aber vorbei sein, wenn es während einer Steuerreform – unvermeidlich – Gewinner und Verlierer gibt. Verlierer möchte niemand sein. Selbst eine aus der Sicht der Reformer optimal gerechte Steuerreform wird es nicht allen recht machen können. Das mag zum Teil die Reformunwilligkeit der Politik erklären. Auch die Kommission „Steuergesetzbuch“ will alle Vergünstigungen und anderen Ausnahmevorschriften abschaffen. Aber das Streichen aller Ausnahmevorschriften in Entwürfen von Steuerwissenschaftlern wird nichts bewirken, weil diese keine Rechtsmacht haben. Auch die Wortmächtigkeit eines P. Kirchhof reicht offenbar nicht aus, die Politik zu überzeugen. 3.2 Das Ziel eines deutschen Steuerkodex 3.21 Beschränkung auf Deutschland Sowohl P. Kirchhof als auch die Stiftungskommission beschränken sich auf die eigene Steuerideenwelt. Manche originelle Kirchhof-Idee 38 Stiftung Marktwirtschaft (Fußn. 37), S. 4.
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hat sich selbst in Deutschland noch kaum verbreitet. Immerhin mag P. Kirchhof hoffen, mit seinem Entwurf über die Grenzen Deutschlands hinaus wirken zu können. J. Lang ist das mit seinem (Muster-)Entwurf eines Steuergesetzbuches für die osteuropäischen Länder von 1993 schon gelungen. 39 Ob der Gesetzgeber einer parlamentarischen Demokratie, zumal ein stark von Interessenverbänden beeinflusster Gesetzgeber, überhaupt kodexfähig ist, wird später (S. 1896 ff.) erörtert werden. Auch der deutsche Steuerrechtskreis, zu dem auch Österreich, die Schweiz und Luxemburg gehören, ist nicht einbezogen worden. Das ist realistisch. Lassen sich schon die nationalen Steuergesetzgeber von nationalen Steuerrechtswissenschaftlern nicht gern an Prinzipien und Regeln binden, so dürfte das erst recht für ausländische Gesetzgeber gelten. Ob ausländische Steuerrechtswissenschaftler aus dem deutschen Steuerrechtskreis daran interessiert gewesen wären, an einem Gemeinschaftsentwurf mitzuarbeiten, ist zweifelhaft. Jedenfalls hätten sie weiteren Streitstoff eingebracht. Z. B. lehnen Schweizer Steuerrechtswissenschaftler die Kirchhofsche Markteinkommenstheorie ab. 3.22 Zur Kodexidee der Reformer Der Kirchhof-Entwurf versteht sich klar als Entwurf eines Kodex, nämlich als kohärentes, konzises Werk aus einem systematischen Guss, der den ganzen Rechtsstoff einer Rechtsdisziplin oder einer Teilrechtsdisziplin aufeinander abgestimmt und dauerhaft erfasst, vor allem alles erfasst, was die Rechtsanwender einer Disziplin benötigen. Einen solchen Steuerkodex hat es in Deutschland bisher für das besondere Steuerrecht noch nicht gegeben. Eine bloße Sammlung nicht aufeinander abgestimmter separater Gesetze ist kein Kodex. P. Kirchhofs Entwurf lässt weithin deutlich werden, was für ihn die Steuerwelt im Innersten zusammenhält, auch durch die Konkurrenzlösungen der §§ 5–7 seines Entwurfs. P. Kirchhof teilt seinen Kodex in Bücher auf, die Bücher in Abschnitte. Das mag dem Bürgerlichen Gesetzbuch nachempfunden sein. Allerdings erfasst P. Kirchhofs Kodex nicht das gesamte Steuerrecht, z. B. nicht das Finanzverwaltungsrecht (bisher geregelt im Finanzverwaltungsgesetz), nicht das im Außensteuergesetz Geregelte. Die Beschränkung eines Kodex aus praktischen Gründen ist allerdings nicht ungewöhnlich. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch enthält nicht das ganze Zivilrecht.
39 BMF-Schriftenreihe Heft 49, 1993. Dazu G. Juchum, in: Festschrift für J. Lang, 2011, S. 392.
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Der Kodex ist als Fundament für eine möglichst lange Dauer gedacht. Änderungen können ihn entwerten. Ein Kodex verlangt nach einem eingängigen, dem Fachgebiet angepassten Aufbau. Da Einkommensteuer und Erbschaftsteuer den Wertzuwachs belasten, hätte es sich im Kirchhof-Entwurf angeboten, den Aufbau des Erbschaft- und Schenkungsteuerbuches (Buch 3) dem Aufbau des Einkommensteuerbuches (Buch 2) anzupassen, den Aufbau des Verbrauchsteuerbuches (Buch 5) dem Aufbau des Umsatzsteuerbuches (Buch 4). Auch die Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft plante ursprünglich einen Kodex, der möglichst das gesamte Steuerrecht wie folgt erfassen sollte: Erster Teil
Allgemeine Vorschriften
Zweiter Teil Dritter Teil
Allgemeines Steuerschuldrecht Gemeinschaftsteuern
Abschnitt I Abschnitt II
Einkommensteuer Körperschaftsteuer
Abschnitt III Vierter Teil
Umsatzsteuer Bundessteuern
Fünfter Teil Sechster Teil
Landessteuern Gemeindesteuern
Abschnitt I
Beteiligung der Gemeinden an Gemeinschaftsteuern oder Gemeindeertragsteuer
Abschnitt II Siebter Teil
Grundsteuer Allgemeine Verfahrensvorschriften
Achter Teil
Besondere Verfahren
Dieser ehrgeizige Vorschlag wurde nicht zur Gänze ausgeführt. Die Kommission bildete zunächst Arbeitsgruppen für die Ausarbeitung (1) einer allgemeinen, rechtsformneutralen Unternehmensteuer, (2) einer Neuordnung der Kommunalfinanzen und (3) eines erneuerten Einkommensteuergesetzes.
Schon früh stellte sich indessen heraus, dass der ehrgeizige Plan eines umfassenden Gesetzbuches innerhalb der vorgesehenen Frist nicht realisiert werden konnte. Und als im Frühjahr 2006 die Kommissionsarbeit zum Erliegen kam (weil sich das Desinteresse des Finanzministers P. Steinbrück an der Kommissionsarbeit deutlich zeigte), wurde der Gesetzbuch-Plan überhaupt aufgegeben. Über die Entwurfsarbeit der Kommission soll in einer Schrift mit dem Titel „Strukturreform der deutschen Ertragsteuern“ berichtet werden. 40 40 Die Veröffentlichung ist für Ende 2012 vorgesehen.
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Die Verfasser eines Steuergesetzbuch-Entwurfs müssen sich darüber klar werden, aufgrund welchen Maßstabs entschieden werden soll, welche Steuern in das Gesetzbuch aufgenommen, welche hergebrachten Steuern aber abgeschafft werden sollen. Ein Steuerkodex darf und will nur solche Steuern aufnehmen, die sich rechtfertigen lassen. Steuern werden im Allgemeinen so gerechtfertigt: Die Bürger brauchen den Staat 41, und der Staat ist zur Finanzierung der ihm übertragenen Aufgaben auf Finanzmittel angewiesen, insbesondere auf Steuern seiner finanziell leistungsfähigen Bürger. Die Gesamtsteuerlast muss aus besteuerungsmoralischen und rechtsstaatlichen Gründen nach einem gerechten Maßstab auf die einzelnen Bürger verteilt werden. Als Gerechtigkeitsmaßstab wird weltweit das Prinzip gleichmäßiger Besteuerung entsprechend der finanziellen Leistungsfähigkeit anerkannt. Eine Steuer ist danach gerechtfertigt, wenn ihre Bemessungsgrundlage dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit entspricht. P. Kirchhof verlangt auch von Leistungsfähigkeitssteuern mehr. Ihre Rechtfertigung soll voraussetzen, dass der Steuerpflichtige mit Hilfe des Staates oder des Marktes oder der Rechtsgemeinschaft zu seinem Einkommen, seinem Verbrauch, dem Geerbten oder Geschenkten gekommen ist. So nimmt P. Kirchhof an, dass die Einkommensteuer nur das Markteinkommen erfassen dürfe, da das Einkommen ohne den Markt nicht erwirtschaftet werden könne. 42 Da Erbschaften und Schenkungen nicht über den Markt erworben werden, führt P. Kirchhof für die Erbschaft- und Schenkungsteuer eine andere Rechtfertigung ein. Die Erbschaft oder Schenkung verdanke der Bereicherte insofern dem Staat, als dieser die Erbschaft ermöglicht und sichert. 43 M. E. lassen sich die Kirchhofschen Rechtfertigungen auch bei anderen Steuern unterbringen, nämlich bei solchen, deren Bemessungsgrundlagen dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht entsprechen. Wie die Erbschaftsteuer könnte man auch die Vermögensteuer damit rechtfertigen, dass der Markt die Bildung von Vermögen ermöglicht und der Staat das Vermögen sichert. 44 P. Kirchhof lehnt die Ver-
41 Dazu O. Höffe, Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln, 1988. Der Titel ist einem Diktum von I. Kant nachgebildet (Zum ewigen Frieden, Abschn. 2, Zusatz 1). 42 Dazu Bundessteuergesetzbuch 2011, Leitgedanken Rz. 4, 5, 44. 43 Bundessteuergesetzbuch 2011, Leitgedanken Rz. 87. 44 Leider sichert der Staat das Vermögen nur recht unvollkommen. Z. B. ist Einbruchdiebstahl an der Tagesordnung; die Aufklärungsquote ist gering. Den Bürgern wird empfohlen, sich gegen Raub oder Diebstahl zu versichern. Die Versicherungsprämien dürfen aber nicht von der Steuerbemessungsgrundlage abgezogen werden. – Auch gegen Inflation ist das Vermögen nicht dauerhaft gesichert. Und zurzeit schicken sich Politiker an,
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Zwischen rechtslogischer Revision und Radikalreform
mögensteuer 45 und die Grundsteuer indessen ab. Ich tue das auch, jedoch mit anderer Begründung. Die Reformer der Stiftung Marktwirtschaft befassen sich nicht mit der Vermögensteuer, wollen aber an der Grundsteuer festhalten, ihr Aufkommen den Kommunen zur Verfügung stellen. Die Kommission stützt sich auf einen Grundsteuer-Reformvorschlag der Länder Bayern und Baden-Württemberg. M. E. verletzt die Grundsteuer als Teil-Vermögensteuer das Verallgemeinerungsgebot. Wäre eine Steuerbelastung des Grundvermögens als Teilvermögen zulässig, so müsste es auch zulässig sein, statt einer Einkommensteuer nur eine Steuer auf Einkünfte aus Grundvermögen einzuführen. Sowohl der Kirchhof-Entwurf als auch der Entwurf der Stiftung Marktwirtschaft wollen die gewerbliche Einkünfte sonderbelastende Gewerbesteuer abschaffen. Sie stoßen jedoch auf den hartnäckigen Widerstand der Kommunen und der diese unterstützenden Verbände. Die Reformer sitzen daher trotz ihrer guten Argumente am kürzeren Hebel, dies aber auch deshalb, weil nach Meinung von Staatsrechtslehrern und auch des Bundesverfassungsgerichts die von Art. 105, 106 GG erfassten Steuern verfassungsmäßig sind. Das trifft auch auf die Gewerbesteuer zu. Die Gemeinden und der Gesetzgeber können also fragen: „Warum sollten verfassungsmäßige Steuern aufgehoben werden?“ Andere Argumente werden nicht benötigt. Die Steuerrechtsordnung ist durch Art. 105, 106 GG auf dem Stand von 1949 eingefroren, wenn die Parlamentsmehrheit es will. Überhaupt, gegen ein Gesetzbuch mit nur vier Steuern werden Steuerpolitiker, die die Gesamtsteuerlast gern in möglichst vielen Steuern verstecken wollen, eine Aversion haben. Bleibt wiederum die Frage: Ist ein stark von Interessenverbänden beeinflusster Steuergesetzgeber überhaupt kodexfähig?
4. Zwischen rechtslogischer Revision und Radikalreform Begriffe wie „Radikalreform“ oder „Fundamentalreform“ oder „Revision“ oder „Erneuerung“ sind zumindest an ihren Grenzen unscharf. Obwohl gelegentlich auch das Reformvorhaben der Stiftung Marktwirtschaft als „Fundamentalreform“ bezeichnet wird, ihr Vorsitzender J. Lang will jedenfalls an Bewährtem, auch an bewährter Begrifflichkeit festhalten. Es geht ihm vor allem um die Verbesserung der Steuerrechtsdogmatik der Steuerbemessungsgrundlagen – durch eine den Bürgern einen Teil größerer Vermögen durch eine einmalige Vermögensabgabe zu nehmen. 45 Bundessteuergesetzbuch-Entwurf von 2011, § 2 Rz. 60 ff. Neuerdings tritt P. Kirchhof aber für eine einmalige Vermögensabgabe ein.
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rechts- und wertungslogische Revision, d. h. durch die Herstellung oder Wiederherstellung eines Systems durch die Gebote der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit. Von dem französischen Philosophen und Schriftsteller F. Voltaire stammt der Rat: „Wollt ihr gute Gesetze, verbrennt die alten und macht neue.“ Obwohl P. Kirchhof nicht selten als radikaler Reformer, radikaler Vereinfacher, radikaler Kürzer bezeichnet wird, er selbst nennt sich auch einen „Erneuerer“. Als er an die Kodexarbeit ging, hat er die bestehenden Gesetze nicht geistig verbrannt oder hinweggedacht. Die Brücken zur Vergangenheit hat er nicht abgebrochen, das Steuerrecht nicht gänzlich neu erfunden. Der Kodex hebt sich von den geltenden Gesetzen vor allem dadurch ab, dass er die Zahl der Steuern und die Zahl der Paragraphen merklich reduziert und auch die Längen der einzelnen Paragraphen durchweg einschränkt. Die Integration der Körperschaftsteuer in die Einkommensteuer ist aber mehr als eine Erneuerung von Vorgefundenem.
5. Über Wert und Unwert der Kürze Die Qualität eines Gesetzes oder eines Gesetzbuchs sollte man m. E. nicht an seiner Kürze oder Länge messen. P. Kirchhofs Steuergesetzbuch-Entwurf ist durch extreme Kürze gekennzeichnet. Mehr als 3 000 Paragraphen oder – wie P. Kirchhof an anderer Stelle erwähnt – viele tausend Paragraphen sind auf 146 Paragraphen reduziert worden. Das ist zumal für die Presse und für Laien eine stupende Zahl, auch eine werbewirksame Zahl. Man darf allerdings nicht unerwähnt lassen, dass P. Kirchhof aus seinem Gesetzbuchentwurf eine Bundessteuerverordnung und eine Bilanzordnung ausgelagert hat. Die geltende Abgabenordnung enthält mehr als 400 Paragraphen; P. Kirchhofs „Allgemeiner Teil“ kommt mit 41 Paragraphen aus. Hätte P. Kirchhof das Bürgerliche Gesetzbuch zu reformieren, das aus über 2 000 Paragraphen besteht, würde er diesen Bestand dann auf 150 Paragraphen reduzieren? Freilich sind nicht alle Paragraphen, die im Steuergesetzbuchentwurf nicht mehr erscheinen, überflüssig geworden; viele davon sollen in das Verwaltungsverfahrensgesetz, etliche in die Verwaltungsgerichtsordnung, andere in ein einheitliches Verwaltungsvollstreckungsgesetz verschoben werden. Diese Vorschriften sind also nicht weg, sie landen nur woanders. Das trägt zwar zu einer Verschlankung oder Verschrumpfung des Kodex auf 146 Paragraphen bei, führt aber auch dazu, dass der Steuerrechtsanwender nicht nur im Steuerkodex, sondern auch in anderen Gesetzen suchen muss. Das vereinfacht die Gesetzesanwendung nicht, sondern erschwert sie – auch durch komplizierende Verschränkungen. 1842
Über Wert und Unwert der Kürze
Die Auslagerung in das Verwaltungsverfahrensgesetz erschwert m. E. aber auch die Durchsetzung des Kirchhof-Entwurfs selbst. Die „Anreicherung“ des Verwaltungsverfahrensgesetzes durch steuerrechtliche und sozialrechtliche Verfahrensvorschriften ist schon einmal vergeblich versucht worden. Sie würde jetzt auf noch größeren Widerstand stoßen, weil P. Kirchhof nun auch noch die Vorschriften über die steuerliche Außenprüfung, über die Steuerfahndung, über die Steueraufsicht, über die Steuerberatung und über das Steuergeheimnis – das sind rein steuerrechtliche Sondervorschriften – in das Verwaltungsverfahrensgesetz überstellen will. M. E. würde das auf den Widerstand aller Steuerrechtsanwender stoßen, auf den der Steuerbeamten, der Steuerberater und der Steuerrichter. Die Auslagerung würde sich auch dann nicht sachlich rechtfertigen lassen, wenn es P. Kirchhof gelingen würde zu zeigen, dass die erwähnten steuerrechtlichen Vorschriften im Verwaltungsverfahrensgesetz irgendwo systematisch lokalisiert werden könnten. Bisher hat P. Kirchhof das nicht gezeigt. Für die Verwaltungsrechtler andererseits wären die steuerrechtlichen Vorschriften Fremdkörper und Ballast. Zur Kürze des Kodex trägt es auch bei, dass P. Kirchhof keine „Steuervergünstigungen“ aufgenommen hat. Keine der sachlichen Einkommensteuerbefreiungen – es sind fast 60 – ist übernommen worden. Ob und inwieweit es sich bei den Befreiungen um nicht zu rechtfertigende Vergünstigungen handelt, ist wohl nicht geprüft worden. Der Radikalakt würde an Überzeugungskraft gewinnen, wenn eine Liste aller derzeit geltenden und aus dem Kodex entfernten Ausnahmevorschriften – Vergünstigungen eingeschlossen – vorgelegt würde. Durch eine solche Liste würde transparent werden, was P. Kirchhof unter einer Ausnahme, was er unter einer Vergünstigung versteht. Dazu müsste auch angemerkt werden, welche Ausnahmen oder Vergünstigungen für gerechtfertigt gehalten werden, welche nicht. Würden alle Ausnahmen oder Vergünstigungen für ungerechtfertigt erklärt, so würde das der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widersprechen. Die vereinte Lobby würde sicher wissen wollen, warum die einzelnen Vergünstigungen gestrichen worden sind. Im Übrigen: Sollte es Reformatoren gelingen, ein von Vergünstigungen befreites Werk in das Bundesgesetzblatt zu bringen, so würde es der Lobby sicher nach wenigen Legislaturperioden doch gelingen, zahlreiche Vergünstigungen wieder durchzusetzen. Das saubere Steuerfeld würde schnell wieder verunkrauten. Das lehrt die amerikanische Erfahrung in den Legislaturperioden nach der Amtszeit von Präsident Ronald Reagan. Der Entwurf der Stiftung Marktwirtschaft lässt sich auf keinen Wettbewerb um Kürze ein. So entgeht er dem Verdacht, Kürze als Selbstzweck oder als Werbezweck zu verwenden. Ist es überhaupt seriös, Laien zu suggerieren, der Gesetzgeber habe Tausende von Paragraphen produziert, wo er auch mit 146 Paragraphen hätte auskommen 1843
§ 38 Steuergesetzbuchentwürfe aus der Steuerrechtswissenschaft
können? Gibt es nicht nur die Steuerverschwendung, sondern auch die Steuerparagraphenverschwendung? Auch der Entwurf der Stiftung Marktwirtschaft will straffen, will keine Weitschweifigkeiten. Im Wettbewerb um Kürze liegt der Kirchhof-Kodex sicher weit vorne. Nur darf „Kürze“ nicht durch extreme Abstraktion und Unanschaulichkeit erkauft werden. Mit der Kürze wächst nicht durchweg die Verständlichkeit. Der Kurzkodex kann zum Maßstäbegesetz schrumpfen, zum Simplicissimus (nicht im einfältigen, sondern im anstrengenden Sinne). Dass P. Kirchhofs Kürze seinen kontraproduktiven Preis haben kann, lässt sich auch an seinem extrem kurzen „Allgemeinen Teil“ zeigen.
6. Vorstellungen der Reformer über die Gesetzessprache Die Gesetze der Gegenwart veranlassen wohl kaum jemanden, ihre Sprache, ihren Stil zu loben. Das soll einmal anders gewesen sein. Von dem französischen Schriftsteller M. Stendhal wird berichtet, er habe täglich im Code Napoléon – wie in einem Klassiker der Literatur – gelesen, um sich stilistisch einzustimmen. 46 Gesetze müssen nicht stilbildend für Literaten sein, aber die Gesetzesanwender erwarten von ihnen, dass sie verständlich und möglichst präzise formuliert werden. Dazu trägt bürokratischer oder ungepflegter Jargon durchweg nicht bei. P. Kirchhof bekennt sich ausdrücklich zu verständlichen Steuergesetzen. Unverständliche Gesetze sieht er gar als nicht ordnungsmäßig beschlossen, nicht zustande gekommen und bekannt gegeben an; er verweist dazu auf Art. 77 I 1, 78, 82 I 1 GG. Das Steuergesetz ist nach seiner Meinung unverständlich, wenn es den Belastungsgedanken nicht hinreichend ausdrückt und keinen hinreichenden Maßstab für den Steuervollzug durch die Finanzbehörden enthält. Insbesondere wenn ein Steuergesetz nur mit Computerhilfe angewendet werden könne, sei es wegen Unbestimmtheit verfassungswidrig. 47 P. Kirchhof teilt allerdings nicht mit, welche Paragraphen des geltenden Steuerrechts nach seiner Ansicht wegen Unverständlichkeit und Unbestimmtheit unwirksam oder verfassungswidrig sind. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher bekanntlich noch keine steuerrechtliche 46 Napoleon soll auf St. Helena geäußert haben: Mein wahrer Ruhm besteht nicht darin, dass ich 40 Schlachten gewonnen habe; Waterloo löscht ohnehin die Erinnerung an die vielen Siege aus. Das, was ewig weiterleben wird, ist mein Code civil. 47 P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch – Reformentwurf, Leitgedanken, Rz. 14: „Das einfache und verständliche Steuerrecht“.
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Vorstellungen der Reformer über die Gesetzessprache
Vorschrift wegen Unbestimmtheit für verfassungswidrig erklärt. P. Kirchhofs Belastungsgrundtheorie bezieht sich auf die von ihm selbst erfundenen Belastungsgründe (S. 1845); sie dürfte sich trotz ständiger Wiederholung durch ihren Erfinder nicht durchsetzen. P. Kirchhof sagt uns nicht expressis verbis, für wen Steuergesetze verständlich sein müssen, ob nur für Steuerexperten oder auch für Steuerlaien? Vielleicht nimmt er an, dass sein Steuergesetzbuch nicht nach einer Antwort auf diese Frage verlange, weil es eben auch für Steuerlaien verständlich sei. Jedenfalls möchte er mit seiner auch „sprachlich erneuerten“ Kodifikation dafür sorgen, dass Steuerberater weitgehend überflüssig werden. „Verlierer der Reform“ – so P. Kirchhof zu einer Journalistin – „wären somit die findigen Steuersparer und das große Heer der Steuerberater, auf deren Hilfe der Normalbürger dann verzichten könnte.“ 48 Der Kirchhof-Kodex soll also regelmäßig den Steuerberater ersparen. Würde damit die Einlassung vor dem Steuerstrafrichter, man habe das Steuergesetz nicht verstanden, man habe sich über seinen Inhalt geirrt, zur bloßen Schutzbehauptung? Auch P. Kirchhof ordnet in seinem Kodex nicht an, dass Steuerpflichtige sein Steuergesetzbuch anschaffen müssen. Aber ein Steuerrecht, das man sogar ohne Gesetzestext verstehen kann, gibt es doch nicht. Die Lektüre des Kirchhof-Kodex zeigt: Es ist offensichtlich, dass auch P. Kirchhof sich einer, nämlich seiner steuerfachlichen Sprache bedient. Auch die Kirchhofsche Fachsprache ist auslegungsbedürftig und auslegungsfähig. P. Kirchhof hat denn auch eine besondere Auslegungsvorschrift eingefügt (§ 10). Diese Auslegungsvorschrift ist allerdings selbst auslegungsbedürftig. Mit § 10 Satz 2 werden selbst Fachleute ihre Schwierigkeiten haben. Man darf wohl sogar sagen: § 10 Satz 2 ist unverständlich, und zwar nicht nur für Steuerlaien. Auch mit P. Kirchhofs Rechts- und Erkenntnisquellenlehre (s. § 9) werden nicht nur Laien Verständnisschwierigkeiten haben. Auch das dem Gesetzbuchentwurf beigefügte Glossar hilft nicht immer weiter; nicht selten wiederholt es nur den Wortlaut des Gesetzentwurftextes. Zusammengefasst: P. Kirchhofs Entwurf ist nicht der Entwurf eines Volks-Steuergesetzbuches. So etwas wird übrigens niemandem gelingen. Ein einmal gewählter Begriff sollte möglichst durchgehalten werden. So sollte man sich z. B. entscheiden zwischen „Kosten der Lebensführung“ und „Lasten der Lebensführung“, „Gegenstände“ und „Güter“, „Steuergegenstand“ und „Besteuerungsgegenstand“. Der Begriff „steuerbar“ (statt „besteuerbar“) sollte m. E. vermieden werden, da er von Laien als „lenkbar“ verstanden wird. Das „steuerbar“ verwirrt 48 WELT am Sonntag v. 3. 7. 2011, Politik 5.
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Laien besonders, wenn ausdrücklich erklärt wird, dass alle Lenkungsnormen abgeschafft worden seien. Im „steuerpolitischen Programm“ der Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft vom Januar 2006 heißt es kurz: „Steuergesetze sind so zu entwerfen, dass die Steuern klar, verständlich und gerecht normiert, akzeptiert und Streitigkeiten möglichst vermieden werden“ (S. 12). Für wen Steuergesetze verständlich sein müssen, ob auch für Laien, wird nicht mitgeteilt.
7. P. Kirchhofs extrem kurzer „Allgemeiner Teil“ Vorbemerkung: Ein Vergleich mit einem „Allgemeinen Teil“ der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft ist nicht möglich, da die Kommission keinen Allgemeinen Teil erarbeitet hat. Es dürfte aber auch interessant sein, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob der Kirchhofsche „Allgemeine Teil“ der Abgabenordnung geltenden Rechts überlegen oder gar unterlegen ist? Zunächst erstaunt wieder, dass die Abgabenordnung mit ihren über 400 Paragraphen auf 41 Paragraphen geschrumpft wird. Diese 41 Paragraphen sind auf sieben kurze Abschnitte verteilt. 7.1 Zu Abschnitt 1: Grundsätze der Besteuerung In den §§ 1–3 des Entwurfs geht es um Antworten auf drei Fragen: (1) Was ist eine Steuer, was macht den Steuerbegriff aus? (2) Warum (aus welchem Grunde) müssen Steuern entrichtet werden? P. Kirchhof spricht vom „Steuergrund“, wohl im Sinne von Steuerrechtfertigungsgrund. (3) Nach welchem Maßstab wird die Steuerlast bemessen? Die Anforderungen an den Steuerbegriff ergeben sich aus § 1 Satz 1. Dass Steuern Geldleistungen sind, ist gestrichen worden, obwohl es weiterhin angenommen werden soll. Gestrichen worden ist auch der Satz, dass die Erzielung von Einnahmen Nebenzweck sein kann. Der Kodex enthält nämlich (nach Ansicht von P. Kirchhof) keine Lenkungsnormen und auch keine Lenkungssteuern. Den erfassten Arten der Verbrauchsteuern unterschiebt P. Kirchhof einen neuen Steuergrund, nämlich die Verursachung von Gemeinlasten (§ 3 IV). Nach § 1 Satz 3 wird die Steuer erhoben, „wenn (weil?) der Steuerpflichtige die Erwerbsbedingungen genutzt hat, die ihm die Rechtsgemeinschaft bietet“. Das ist m. E. – wie bereits erwähnt – eine eigenwillige Theorie. Wohl kein Steuerpflichtiger wird die Frage nach dem „warum“ der Steuer so beantworten wie § 1 Satz 3. Alle Steuerpflich1846
P. Kirchhofs extrem kurzer „Allgemeiner Teil“
tigen wissen: Wir brauchen den Staat, und der Staat braucht Steuern, um seine Aufgaben erfüllen zu können. Und diese Steuern müssen von den finanziell Leistungsfähigen aufgebracht werden. Man hört denn auch nicht von Steuerpflichtigen, die vor dem Veranlagungsbeamten oder dem Strafrichter geltend machen, sie hätten keine Steuern bezahlt, weil sie nicht gewusst hätten, warum sie hätten Steuern zahlen sollen. Aus welchem Grunde also eine m. E. lebensfremd erscheinende Theorie, wenn der Steuergrund so einfach ist. Als § 1 Satz 2 ist der Satz eingeschoben worden: „Eine Steuer belastet die finanzielle Leistungsfähigkeit des Betroffenen.“ Soll das heißen: Steuern, die sich nicht an der finanziellen Leistungsfähigkeit orientieren, sind keine Steuern, erfüllen nicht den Steuerbegriff? Das Prinzip der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit wird durch § 3 konkretisiert: Leistungsfähigkeit drückt sich danach im Einkommen oder im Vermögenszuwachs 49 oder in der Kaufkraft aus. Der in § 3 IV angegebene Belastungsgrund passt m. E. nicht zum Leistungsfähigkeitsprinzip. Im Konsum von Tabak und Alkohol drückt sich keine Sonderleistungsfähigkeit (über die von der Umsatzsteuer erfasste Leistungsfähigkeit hinaus) aus, in der Verursachung von Gemeinlasten ebenfalls nicht. Leistungen an den Staat, die verursachte Gemeinlasten ausgleichen sollen, mögen allerdings gerecht sein, nur sind sie keine Leistungsfähigkeitssteuern im Sinne des § 1 Satz 2. In § 2 werden vier (m. E. drei) Steuern aufgeführt, die wohl allein auch nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip als gerechtfertigt angesehen werden. Mich irritiert allerdings, dass P. Kirchhof die Reduktion der Steuern auf vier (auch) mit folgendem Satz begründet: „Das Bundessteuergesetzbuch will die Anzahl der Steuerarten reduzieren, um das Steuersystem überschaubar zu machen und zu vereinfachen“ (§ 2 Rz. 15). Das kann m. E. die eigentliche Begründung nicht sein. Mit ihr ließe sich verallgemeinernd auch die Abschaffung der Erbschaftsteuer begründen und durch die Abschaffung der Einkommensteuer würde das System noch übersichtlicher und einfacher. Die Körperschaftsteuer wird in die Einkommensteuer integriert, die Grunderwerbsteuer und die Versicherungsteuer werden in die Umsatzsteuer einbezogen. Damit räumt P. Kirchhof zwei Verstöße gegen die Gebote der Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit aus: Die Unternehmen, die Grundstücke erwerben oder Versicherungen abschließen, werden durch die Integration in die Umsatzsteuer nicht länger vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen, und es werden solche Versicherungen nicht länger sonderbelastet, deren Beiträge einkommensteuerrechtlich als Sonderausgaben abgezogen werden können. 49 Buch 3 über die Erbschaftsteuer verwendet an Stelle des Begriffs „Vermögenszuwachs“ den Begriff „Bereicherung“. Das meint wohl das Gleiche. Aber warum der Begriffswechsel?
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Abgesehen von Bedenken gegen die Konfusion von Einkommen- und Körperschaftsteuer stimme ich der Steuerreduktion auf einige wenige Steuern zu. Es sind eben nicht alle von Art. 105, 106 GG erfassten Steuern solche, die für gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sorgen. P. Kirchhof orientiert sich zu Recht nicht an Art. 105, 106 GG. Zugleich wird dadurch aber auch deutlich, welchen faux pas einige Staatsrechtslehrer – und ihnen folgend das Bundesverfassungsgericht – begangen haben, als sie befanden, von Art. 105, 106 erfasste Steuern könnten als solche nicht verfassungswidrig sein, als solche auch nicht den Gleichheitssatz verletzen. Darauf wird sich der Gesetzgeber berufen und gar nicht daran denken, die Zahl der Steuern auf vier einzuschränken. M. E. ist der Verzicht auf die Gewerbesteuer und die Vermögensteuer kein Geschenk an die Reichen – so aber die Wahrnehmung linker Politiker –, denn der Gewinn und das Vermögen wird vom Steuerpflichtigen erwirtschaftet, nicht vom Staat, übrigens auch nicht von der Rechtsgemeinschaft (s. schon S. 1846 ff.). 7.2 Zu Abschnitt 2: Zusammenwirken von Steuern Dieser Abschnitt zeigt, dass P. Kirchhof trotz Art. 105, 106 GG ein steuerlicher Querdenker ist, losgelöst von Art. 105, 106 GG über den Tellerrand der einzelnen Steuer hinausdenkt, daher Konkurrenzen auflöst. In Folge der Eingliederung der Grunderwerbsteuer in die Umsatzsteuer scheidet eine Doppelbelastung Grunderwerbsteuer – Umsatzsteuer aus. § 8 des Entwurfs bestimmt eine Obergrenze der Gesamtbelastung, auf die es Steuerpflichtigen allein ankommt. P. Kirchhof weiß, dass der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den Halbteilungsgrundsatz nach seinem Ausscheiden als Verfassungsrichter aufgegeben hat. Auch darauf würde sich der Gesetzgeber im Falle eines Falles berufen, aber wohl kaum bereit sein, weitere Barrieren gegen sich selbst aufzurichten, die das Bundesverfassungsgericht nicht verlangt. Für die Steuerbürger wäre eine obere Belastungsgrenze wirklich erforderlich, besteht doch die Gefahr, dass die Politikermehrheit die deutschen Steuerbürger als Euroretter zugrunsten der Südeuropäer ausbeutet. M. E. würde das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sowie ein Steuervergünstigungsverbot, überhaupt ein Verbot von Steuerlenkungen besser in der Verfassung verankert statt in einem einfachen Gesetz – wie es P. Kirchhof vorsieht. Dafür würde sich die erforderliche Parlamentsmehrheit aber ziemlich sicher nicht finden. Die Abgeordneten haben schon zum Schutze vor sich selbst eine Schuldenbarriere errichtet, werden aber wohl zum Aufbau weiterer Hürden nicht bereit sein. 1848
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Die „fiskalischen Heiligtümer“ der Gewerbesteuer und der kommunalen Verbrauch- und Aufwandsteuern werden wir trotz ihrer großen Mängel ohne die Hilfe des Verfassungsgerichts nicht loswerden. Das Verfassungsgericht aber müsste erst selbst seine Rechtsprechung zu Art. 105, 106 GG aufgeben. Bisher erkennt es nicht einmal die Gleichartigkeit von örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern und der Umsatzsteuer an. 50 7.3 Zu Abschnitt 3: Rechts- und Erkenntnisquellen 7.31 Rechtsquellen des Steuerrechts Wann immer der Verfasser etwas über „Rechtserkenntnisquellen“ (Rechts- und Erkenntnisquellen?) gelesen hat: Erquickt hat er sich daran nicht. Erst recht wird es den Steuerberatern und den Rechtslaien so gehen. Die Abschnittsüberschrift unterscheidet „Rechts- und Erkenntnisquellen“; § 9 ist überschrieben mit „Rechtsquellen des Steuerrechts“. Man hätte nun erwarten können, dass die Rechtsquellen und die davon unterschiedenen Erkenntnisquellen in je einem Paragraphen behandelt werden. Der mit „Rechtsquellen des Steuerrechts“ überschriebene § 9 sagt aber nicht, was Rechtsquellen sind, sondern führt die Erkenntnisquellen des Steuerrechts auf. Dazu sollen auch „die Verwaltungsvorschriften und die Rechtsprechung“ gehören. Das könnte alle verwirren, die gelernt haben, dass Verwaltungsvorschriften und Rechtsprechung die Steuerpflichtigen und ihre Berater nicht binden, da sie keine Rechtsnormen sind. Wozu muss man überhaupt wissen, was eine (Rechts-)Erkenntnisquelle ist? Die Juristen sind sich über den Inhalt der Begriffe ohnehin nicht einig. 51 In P. Kirchhofs Glossar heißt es: „Rechtsquellen sind die steuerrechtlichen Erkenntnisquellen mit und ohne Rechtsnormeigenschaft.“ Und bei K. Röhl/H. Röhl findet sich der Satz: „Die Rechtsquellenlehre dreht sich im Kreise, so lange sie nicht definiert, 50 Zutreffend (im Ergebnis) führt aber P. Kirchhof zu § 2 des Entwurfs Rz. 40 aus: „Vor allem das Merkmal der Gleichartigkeit dürfte bereits nach geltendem Verfassungsrecht eine Erhebung der kommunalen Aufwandsteuern verbieten. Zwei Steuern sind gleichartig, wenn sie die gleiche Quelle finanzieller Leistungsfähigkeit anzapfen; zu vergleichen sind also die Belastungsgründe. Alle Aufwandsteuern belasten die Kaufkraft des Verbrauchers. Aufwand ist nur eine andere Bezeichnung für Kaufkraft. Insofern sind sie der Umsatzsteuer gleichartig. Sie dürfen daher von den Gemeinden nicht mehr erhoben werden . . .“ 51 K.-D. Drüen sagt uns: „Der Begriff ist mehrdeutig.“ Auch er schließt sich der Definition an: „Rechtsquelle ist erfahrungsmäßiger Erkenntnisgrund für etwas als Recht.“ (in: Tipke/Kruse, § 4 AO (Lfg. 111), Rz. 3).
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was sie unter Recht verstehen will. 52 Von D. Birk erhalten wir folgende Informationen: „Das Sprachbild der Quelle deutet an, dass das Recht aus einer vorgegebenen Substanz gespeist und erneuert wird. Bildlich ausgedrückt bringen die Rechtsquellen das Recht hervor, wie die natürlichen Quellen das Bachwasser . . . Die Ursachen und Kräfte, aus denen das Recht hervorgeht, werden in Rechtserzeugungsquellen, Rechtswertungsquellen und Rechtserkenntnisquellen unterteilt . . . Rechtserkenntnisquelle ist nach der im Jahre 1929 von Ross aufgestellten Definition der ‚Erkenntnisgrund für etwas als Recht‘“. 53 Ist für das Steuerrecht die eigentliche Rechtserkenntnisquelle nicht die Ethik? Mein Vorschlag: Man sollte auf die Rechtserkenntnisquellenlehre verzichten. Die Abgabenordnung enthält darüber nichts, und niemand hat das bisher vermisst. Sprachbilder machen die Problematik auch nicht deutlicher. 54 7.32 Auslegung und „Steuerjuristische Betrachtungsweise“ P. Kirchhof hält wohl in Anbetracht der Abschnittszuordnung (Abschnitt 3) auch die Auslegung für eine Rechtserkenntnisquelle. In § 9 I wird allerdings nur die „Rechtsprechung“ erwähnt. 55 Dass die Auslegungsmethode gesetzlich geregelt wird, ist ungewöhnlich. Enno Becker hatte allerdings in der Reichsabgabenordnung von 1919 für das Steuerrecht schon eine Ausnahme gemacht, weil er eine Sondersituation als gegeben ansah. 56 In zwei Paragraphen behandelte E. Becker die Auslegung und die Steuerumgehung (§§ 4, 5 RAO 1919; §§ 9, 10 RAO 1931). Diese wurden 1934 als §§ 1, 6 in das Steueranpassungsgesetz überführt. In § 1 III StAnpG wurde ein Gebot „Beurteilung von Tatbeständen“ eingeführt. Die reformierte Abgabenordnung von 1977 übernahm jedoch keine Auslegungsvorschriften. Der Finanzausschuss war der Ansicht, dass die Auslegungsregeln im Steuerrecht ebenso wenig der Kodifikation bedürften wie im übrigen Recht. 57 Die Behandlung der Steuerumgehung wurde allerdings in § 42 AO 1977 gesetzlich geregelt. P. Kirchhof, der nun wieder eine Auslegungsvorschrift einführen will (§ 10), tritt für eine teleologische Auslegung ein. Sein Vorschlag be52 K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 519. 53 D. Birk, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO (Lfg. 153), § 4 AO Rz. 38, 39, 40. 54 Zum von ihm als „eindrucksvoll“ bezeichneten Sprachbild der Quelle auch schon P. Kirchhof, in: Starck, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, S. 50, 53. 55 Über Methodenlehre und Rechtsquellenlehre auch R. Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 19 ff. 56 Über die Steuerrechtlichen Methodennormen seit der Reichsabgabenordnung 1919 R. Schenke (Fußn. 55) S. 94 ff., 402 ff. 57 BT-Drucksache VII/4292, S. 15 f.
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grenzt die Auslegung nicht auf den möglichen Wortsinn, unterscheidet nicht zwischen Auslegung und Analogie (Gesetzesfortbildung). Sein Bundessteuergesetzbuch soll so ausgelegt werden, dass die Steuerpflichtigen entsprechend dem Belastungsgrund der Steuer gleichheitsgerecht besteuert werden. Gemeint sind die in § 3 aufgeführten Belastungsgründe (Erfassung des Markteinkommens, des Vermögenszuwachses, der Kaufkraft – als Kriterien konkretisierter finanzieller Leistungsfähigkeit). In der Tat wird auf diese Weise eine Umgehungsvorschrift überflüssig, auch wenn eine Auslegung contra legem ausgeschlossen bleibt. Damit ist P. Kirchhof m. E. im Ergebnis bei Susanne Sieker, die § 42 AO 1977 ebenfalls für überflüssig hält; sie unterscheidet allerdings zwischen Auslegung und Analogie, will die Umgehung durch Auslegung und Analogie verhindern. 58 § 3 formuliert freilich m. E. keine Belastungsgründe, sondern Belastungsgegenstände. P. Kirchhof geht in der Begründung seines § 10 auf die Analogieproblematik nicht ein, weil er die Orientierung am Belastungsgrund wohl für Auslegung hält. Da durch die teleologische Auslegung gleichheitsgerechte Besteuerung erreicht werden soll, fördert § 10 S. 1 die Steuergerechtigkeit. Die Gesetzespositivisten und die Steuerplaner, die die Rechtssicherheit besonders betonen, mögen mit § 10 S. 1 wohl nicht zufrieden sein. Die Umsatzsteuer belastet nicht die (potenzielle) Kaufkraft, sondern den Verbrauch i. w. S. Probleme bereitet § 10 S. 2. Er erinnert methodisch, wenn auch nicht im Ergebnis, an § 1 III StAnpG, der 1934 eine „Tatbestandsbeurteilung“ einführte. Gemeint war eine Sachverhaltsbeurteilung. § 1 III StAnpG schob zwischen Sachverhaltsermittlung und Subsumtion unter das ausgelegte Gesetz als ein Drittes eine Sachverhaltsbeurteilung. Dieses Dritte ist der juristischen Methodenlehre aber unbekannt. Die Frage, welche Sachverhalte steuerlich erheblich sind, wird allein vom Gesetz gesteuert. H.-J. Brandt hat daher in einer Arbeit über die „Beurteilung von Tatbeständen“ nach § 1 III StAnpG diese Vorschrift für zu unbestimmt, methodisch verfehlt und überflüssig erklärt. 59 P. Kirchhof lässt – wenn ich ihn nicht missverstehe – die Sachverhaltsbeurteilung in einem etwas anderen Wortlaut wieder aufleben. Auch wer diesen Wortlaut mehrfach liest, dürfte Schwierigkeiten haben, seinen Inhalt sicher zu verstehen. Wäre diese Vorschrift nicht vielleicht auch so unbestimmt, dass sie unwirksam wäre. Der Steuerumgehung ließe sich allein durch § 10 S. 1 begegnen. 60 In der Begrün58 S. Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001. 59 H.-J. Brandt, Beurteilung von Tatbeständen im Steuerrecht, 1967. 60 Auch in der Schweiz wird die Steuerumgehung nicht durch eine Gesetzesvorschrift bekämpft, sondern durch Gesetzesanwendung, insbesondere durch teleologische Auslegung (s. M. Reich, Steuerrecht, 2009, S. 141 ff.).
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dung des § 10 trennt P. Kirchhof nicht exakt zwischen Satz 1 und Satz 2. Über den Inhalt des § 1 III StAnpG ist so lange gestritten worden, bis die Vorschrift aufgehoben wurde. Der Streit könnte wieder aufgenommen und fortgesetzt werden, sollte P. Kirchhofs „Sachverhaltsbeurteilung“ jemals Gesetz werden. § 10 S. 2 soll auch die §§ 40, 41 AO überflüssig werden lassen. Es ist jedoch schwierig, dieses Ergebnis aus § 10 S. 2 abzuleiten, es sei denn, man hat den Willen dazu. Die „Steuerjuristische Betrachtungsweise“ soll wohl eine „ziviljuristische Betrachtungsweise“ verhindern – wie wir sie zurzeit noch im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht haben. 61 Das geltende Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz knüpft in den §§ 3 I Nr. 1, 2, 4, 5, 7 I Nr. 4–6, 15 III, 20 III, 29 I Nr. 2, 3 ausdrücklich an das Bürgerliche Gesetzbuch an. Diese Anknüpfung hat der Kirchhof-Entwurf bewusst nicht übernommen. 62 M. E. lässt sich die „Steuerjuristische Betrachtungsweise“ auch durch teleologische Auslegung erreichen, wenn das Gesetz nicht ausdrücklich an das Bürgerliche Gesetzbuch anknüpft. Im Kirchhof-Entwurf harmonieren die teleologische Auslegung (§ 10 Satz 1) und die von BGB-Anknüpfungen befreiten Gesetzestexte des besonderen Steuerrechts (das Erbschaftsteuerrecht eingeschlossen). M. E. bringt § 10 überflüssigerweise nur neue Probleme. 7.4 Zu Abschnitt 4: Steuerrechtsverhältnis Im Abschnitt „Steuerrechtsverhältnis“ werden steuerschuldrechtliche und steuerverfahrensrechtliche Vorschriften versammelt. Das ist unüblich, aber nicht unzulässig. Das Steuerrechtsverhältnis lässt sich nämlich in das Steuerschuldrechtsverhältnis (kurz Steuerschuldverhältnis) und das Steuerverfahrensrechtsverhältnis aufgliedern und trennen. Das geschieht in der Gesetzgebung im Allgemeinen auch; es ist aber nicht zwingend. Die Vorschriften über das Steuerrechtsverhältnis müssen regeln, wer als Rechtsperson am Rechtsverhältnis beteiligt sein soll. Beteiligt sind auf Steuerbürgerseite die steuerrechtsfähigen natürlichen und die steuerjuristischen Personen. Sie werden herkömmlich als Steuerpflichtige bezeichnet. Da Steuerrechtspersonen im Rechtsstaat aber nicht nur (Untertan-)Pflichten haben, sondern auch Rechte, würde man neutral besser von Steuerpersonen oder Steuerbürgern sprechen, nicht von Steuerpflichtigen. Da nicht alle Steuerpersonen handlungsfähig sind, muss auch die Handlungsfähigkeit – das ist die Fähigkeit, Rechte und Pflichten 61 Dazu J. P. Meincke, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz16, 2012, Einführung Rz. 11, 12. 62 Kirchhof-Entwurf, Leitgedanken Rz. 96.
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handelnd wahrnehmen zu können – geregelt werden. Die Abgabenordnung tut das für das Steuerschuldrecht in den §§ 34, 35 AO (übernommen aus E. Beckers Reichsabgabenordnung) und für das Steuerverfahrensrecht in § 79 AO (übernommen aus dem Verwaltungsverfahrensgesetz). Außerdem regelt § 80 AO (nur für das Verfahren) die Bevollmächtigung. Die Krux: Die erwähnten AO-Vorschriften sind lückenhaft: Die §§ 34, 35 nennen nur die Personen, die als Vertreter für nicht Handlungsfähige handeln können. § 79 regelt nur, welche Personen handlungsfähig sind, ohne anzugeben, wer für sie handeln darf. 63 Diese Mängel übernehmen die §§ 12, 13 des Kirchhof-Entwurfs nicht, weil sie sich sowohl auf das Steuerschuldrecht als auch auf das Steuerverfahrensrecht beziehen sollen. Oder soll für die Handlungsfähigkeit auch das Verwaltungsverfahrensgesetz herangezogen werden? Für die Bevollmächtigung ist das jedenfalls anzunehmen. Nur, wenn ein Bevollmächtigter die Rechte und Pflichten des Steuerpflichtigen wahrnehmen darf: Darf er auch die Steueranmeldungspflicht (§ 15 des Entwurfs) erfüllen, darf er anstelle des Steuerpflichtigen Steueranmeldungen unterschreiben? Darf der um Auskunft gebetene Steuerpflichtige auf seinen Steuerberater verweisen? 64 Das Steuerrecht hat es nicht nur mit dem Steueranspruch der Steuerberechtigten zu tun, sondern auch mit anderen „Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis“. Die §§ 37, 38 AO regeln, welche Ansprüche solche aus dem Steuerschuldverhältnis sind, wodurch diese Ansprüche entstehen (§ 38 AO) und wodurch sie erlöschen (§ 47 AO). Der Kirchhof-Entwurf verwendet auch den Begriff „Zahlungsanspruch (-ansprüche) aus dem Steuerschuldverhältnis“ oder „Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis“, schweigt sich aber darüber aus, welche Ansprüche solche aus dem Steuerschuldverhältnis sind und wodurch sie entstehen. Erst die Vorschriften über das Anspruchserlöschen beziehen sich auf Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, also nicht bloß auf den Steueranspruch. Die § 20, 21 des Entwurfs erwähnen auch Zwangsgelder, obwohl ihre Regelung für das Steuerrecht in einem einheitlichen Verwaltungsvollstreckungsgesetz untergebracht werden soll. Das Erlöschen (dieser Begriff wird im Entwurf nicht verwendet) von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis durch Zahlung, Aufrechnung, Erlass, Verjährung wird in den §§ 21, 22, 25, 26 des Entwurfs geregelt. In einem mit „unzumutbare Härte“ überschriebenen 63 Zu diesen Unvollkommenheiten schon K. Tipke, Steuerrecht11, 1987, S. 595; ders., Reform der Reichsabgabenordnung, 7. Teil: Das Steuerrechtsverhältnis, FR 1970, 582 ff. mit einem Gesetzesreformvorschlag auf S. 584. 64 Ich lasse hier außer Acht, dass P. Kirchhof der Ansicht ist, nach Inkrafttreten seines (radikal vereinfachenden) Steuergesetzbuches würden – so habe ich ihn verstanden – Steuerberater weitgehend überflüssig.
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Paragraphen wird nicht nur der Erlass, sondern werden auch die Minderung und die Stundung geregelt (§ 25). Das Nebeneinander von Festsetzungs- und Zahlungsverjährung wird mit guten Gründen aufgegeben. Die wenigen Verfahrensvorschriften (§§ 14–18 des Entwurfs) beschränken sich im Wesentlichen auf die Steueranmeldung (§ 15), die Sachverhaltsermittlung (§ 16), die Schätzung (§ 17) und den Grundlagenbescheid (§ 18). Nach § 15 S. 2 wirkt die Steueranmeldung wie ein Steuerbescheid. Vorschriften über Form und Inhalt der Steueranmeldung fehlen. Das knappe Verfahrensrecht zum Schweizer Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer bringt es immerhin auf 71 Artikel; es kennt keine Auslagerungen in verwaltungsrechtliche Gesetze. P. Kirchhofs Vorschrift über die Ermittlung des Sachverhalts entspricht den modernen Vorstellungen von einer arbeitsteiligen, kooperativen Ermittlung. 65 § 16 III lautet: „Die Finanzbehörde legt der Besteuerung die Angaben in der Steuererklärung zugrunde, soweit sie schlüssig und glaubhaft sind. Zusätzlich führt sie regelmäßige Kontrollen im Einzelfall durch. Weitere Ermittlungen bestimmen sich nach dem Aufklärungsbedürfnis.“ Die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen bleibt unter den Voraussetzungen des § 17 des Entwurfs zulässig. Was im Sinne des § 17 unter Besteuerungsgrundlagen zu verstehen ist, ist nicht klargestellt worden. So bleibt offen, ob nur Quantitäten geschätzt werden dürfen oder auch Sachverhalte. Zur Begründung des § 16 des Entwurfs wird auch angeführt, dass das Personal der Finanzbehörden nicht ausreiche, alle Fälle vollständig zu prüfen. Daher müsse die Mehrheit der Fälle ungeprüft bleiben oder sie könne nur oberflächlich geprüft werden (§ 16 Rz. 5). Dem Prüfungsbedürfnis entspricht dieses Vorgehen wohl nicht. Die dünne Personaldecke macht den Vorschlag, auf § 32 AO über die Haftungsbeschränkung für Veranlagungsbeamte zu verzichten, nicht eben einsichtig. In der Abgabenordnung gibt es sicher zahlreiche entbehrliche Vorschriften. Auf der anderen Seite kürzt der Kirchhof-Entwurf die Verfahrensvorschriften wohl zu radikal. Kann man sich z. B. vorstellen, dass der Gesetzgeber auf die erweiterten Mitwirkungspflichten zur Aufklärung internationaler Fälle (§ 90 II, III AO) und auf die internationale Amtshilfe in Steuersachen (§ 117 AO) verzichten würde? Auf das Gros der Vorschriften über das Besteuerungsverfahren soll freilich nicht verzichtet werden; diese Vorschriften sollen hauptsächlich in das Verwaltungsverfahrensgesetz eingefügt werden. Das Anliegen der Verschlankung auf wenige Verfahrensvorschriften im 65 Dazu in diesem Band S. 1478 ff.
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P. Kirchhofs extrem kurzer „Allgemeiner Teil“
Steuergesetzbuch rechtfertigt m. E. keine Verlagerung in das Verwaltungsverfahrensgesetz. Die Vorschriften über die Außenprüfung, die Steuerfahndung und die Steueraufsicht würden dort einen Fremdkörper darstellen. Wo sollen diese Vorschriften im Verwaltungsverfahrensgesetz überhaupt untergebracht werden? Das Streben nach Verschlankung des Bundessteuergesetzbuches führt zu unnötig komplizierten Verschränkungen mit dem Verwaltungsverfahrensgesetz. Der „große schlanke Wurf“ darf nicht mit einem Hinauswurf wichtiger Vorschriften über das Besteuerungsverfahren aus dem verfahrensrechtlichen Teil der Abgabenordnung erkauft werden. Ein AO-Verfahrensrecht ohne Unterleib sollte nicht eingeführt werden. Mit der Einführung eines nur auf das Verwaltungsrecht beschränkten Verfahrensgesetzes hat sich der Gesetzgeber auch schon schwer getan. Es begann mit der Erarbeitung von Grundsätzen im Jahre 1957. 1960 konstituierte sich ein Bund-Länder-Ausschuss. 1964 war ein Musterentwurf fertiggestellt. Nach lebhafter Diskussion wurde 1964 ein Referentenentwurf vorgelegt. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde 1973 (zum 2. Mal) in den Bundestag eingebracht. Die Ausschussberatungen dauerten bis Ende 1975. Nach der Verabschiedung des Gesetzes durch den Bundestag im Jahre 1976 rief der Bundesrat den Vermittlungsausschuss an. Die ganze Gesetzgebungsprozedur dauerte 20 Jahre. Wie lange mag es da dauern, bis ein auch das Besteuerungsverfahren weitgehend mitumfassendes Verwaltungsverfahrensgesetz zustande kommt? Es kommt höchst wahrscheinlich nie zustande. Der Verfasser ist jedenfalls sicher, dass er weder das Inkrafttreten des Kirchhofschen Steuergesetzbuches noch das Inkrafttreten eines Verwaltungsverfahrensgesetzes erleben wird, das auch das Besteuerungsverfahren aufnimmt.
Die 97 AO-Paragraphen über die Steuervollstreckung möchte P. Kirchhof in einem allgemeinen Vollstreckungsgesetz unterbringen, die Vorschriften über das außergerichtliche steuerrechtliche Vorverfahren (zurzeit 22 Paragraphen) in der Verwaltungsgerichtsordnung. Dazu ist darauf hinzuweisen, dass die Länder ermächtigt sind, das Widerspruchsverfahren (im Steuerrecht: Einspruchsverfahren) abzuschaffen. Davon haben etliche Länder in kommunalen Steuersachen Gebrauch gemacht. Es wäre eine Torheit, so auch mit Bundessteuersachen zu verfahren. 66 Die Anwender eines Steuergesetzbuches sollten m. E. nicht unnötig in einen Irrgarten von Steuergesetzbuch, Steuerverordnung, Verwaltungsverfahrensgesetz und Verwaltungsgerichtsordnung geführt werden. Man kann sich schwer vorstellen, dass die Auslagerungsversuche von P. Kirchhof nicht auf kräftigen Widerstand der Steuerberater, der Steuerbeamten und der Steuerrichter stoßen würden. Bisher haben 66 Dazu J. Pelka, Rechtsbehelfs-Wirrwarr im Abgabenrecht. Zur Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nach der VwGO, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 981 ff.
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die Steuerrichter sich mit Erfolg gegen den Versuch wehren können, die Finanzgerichte in die Verwaltungsgerichtsbarkeit einzugliedern. Ohne die Auslagerung würde der Entwurf allerdings deutlich länger. Nur, durch Auslagerung aus einem Kodex wird die Übersichtlichkeit erschwert, nicht erleichtert. 7.5 Zu Abschnitt 5: Gemeinnützigkeit Zu diesem Abschnitt wird nicht Stellung genommen. Die Problematik der Gemeinnützigkeit ist 2002 in der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft ausführlich diskutiert worden. 67 7.6 Zu Abschnitt 6: „Verantwortlichkeiten“ Der Begriff „Verantwortlichkeiten“ kommt bisher im Steuerrecht nicht vor. Er wird auch im Text des Kirchhof-Entwurfs nicht verwendet. Und tatsächlich geht es im Abschnitt 6 auch gar nicht um „Verantwortlichkeiten“, sondern um die rechtlichen Folgen unverantwortlichen Handelns. In den einschlägigen Leitgedanken zu P. Kirchhofs Steuergesetzbuchentwurf wird Abschnitt 6 als „Neues Sanktionssystem“ bezeichnet. 68 Wer steuerrechtliche Pflichten zu erfüllen hat, trägt für ihre Erfüllung die Verantwortung, Rechts- und Handlungsfähigkeit vorausgesetzt. 69 Wer seiner Verantwortung nicht nachkommt, muss sich verantworten oder rechtfertigen. Hat er pflichtwidrig gehandelt, wird er zur Verantwortung gezogen. Er muss negative gesetzliche Folgen tragen, wenn sein Verhalten entdeckt wird. Der Begriff der „Sanktion“ (der nur in P. Kirchhofs Reformgedanken verwendet wird, nicht im Entwurfstext) ist nicht eindeutig. Gemeint ist hier wohl die negative Reaktion auf pflichtwidriges Verhalten. In Abschnitt 6 geht es um die Folgen von Verantwortlichkeitsverletzungen, nämlich um Haftung, Verwaltungszuschläge und Strafe als Ungehorsamsfolgen. Strafrecht, auch Steuerstrafrecht, ist schuldabhängig. 70 Für die Haftung und für die Verwaltungszuschläge gilt das nicht, jedenfalls ist es 67 DStJG Bd. 26 (2003, hrsg. von M. Jachmann). Hinweis auch auf R. Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 2. Auflage, 2012. 68 P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Leitgedanken der Steuerreform, RNr. 35 ff. 69 Auf das Thema Willensfreiheit oder Willensdeterminiertheit wird hier nicht eingegangen. Erfahrungsgemäß ist das Verhalten von Steuerpflichtigen insofern nicht determiniert, als sie auf Strafandrohungen zu reagieren pflegen. 70 Dazu G. Jakobs, Das Schuldprinzip, Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften G 319, 1992; B. Schünemann, Zum gegenwärtigen Stand
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P. Kirchhofs extrem kurzer „Allgemeiner Teil“
nicht zwingend. Otto Mayer sah in Verstößen gegen Steuerrecht noch kein kriminelles Unrecht, sondern Verwaltungsunrecht. 71 Er hatte nicht das materielle Steuerrecht im Blick und auch nicht die Schädigung des Fiskus, schon gar nicht die Schädigung der Mit-Steuerpflichtigen, sondern als Nur-Steuerverfahrensrechtler allein die Verletzung der Kontrollinteressen der Steuerverwaltung. Die Vorenthaltung geschuldeter Steuern ist aber mehr als verfahrensformales Unrecht. Die Haftung und der Verwaltungszuschlag setzen im Kirchhof-Entwurf kein Verschulden voraus, anders die Strafe, die schuldabhängig ist. Der Kirchhof-Entwurf kennt als Straftat nur die vorsätzliche Steuerhinterziehung. Dass schuldunabhängige Ungehorsamsfolgen (Haftung, Verwaltungszuschläge) zusammen mit der an Kriminalität anknüpfenden Schuldstrafe in einem Abschnitt geregelt werden, ist mindestens ungewöhnlich. Steuerstrafrecht ist Strafrecht, nicht Steuerrecht, müsste seinen Platz also eigentlich in einem Strafgesetz finden. Es gibt denn auch Länder, die das Steuerstrafrecht nicht in einem Steuergesetz regeln, z. B. Spanien. Andere Länder, die das Steuerstrafrecht als besonderen Teil, sozusagen als Annex eines Steuergesetzes regeln (wie auch Deutschland), haben dafür praktische Gründe. Im Kirchhof-Entwurf werden Haftung, Verwaltungszuschlag und Strafe durch § 33 zusammengeführt. Aber wird hier nicht zusammengeführt, was nicht zusammengehört? Bloßes Verwaltungsunrecht und Straftaten als sozialethisches Unrecht gelangen bei P. Kirchhof auf eine Ebene. Sowohl sein § 33 I als auch § 33 III knüpfen daran an, dass der „Besteuerungsgegenstand“ der Besteuerung entzogen wird. Die Verwischung von Verwaltungsunrecht und Straftat dürfte nicht allgemein Beifall finden. Nun noch ergänzende Bemerkungen zur Haftung, zu den Verwaltungszuschlägen und zur Steuerstrafe. (1) Haftung: Haften für den verursachten Steuerausfall soll, wer den Besteuerungsgegenstand der Besteuerung entzieht. An diese Terminologie knüpfen die §§ 34, 35 des Entwurfs über die Haftung aber nicht an. Dass der gesamte Steuergegenstand, etwa das gesamte Einkommen der Besteuerung entzogen wird, wird ohnehin die Ausnahme sein. § 35 lässt Vertreter, Verwalter, Beteiligte an einer Steuerhinterziehung und Entrichtungspflichtige haften. Da § 35 nicht von gesetzlichen Vertretern spricht und nach § 13 Vertreter gesetzliche Vertreter und Bevollmächtigte sind, müssten auch Steuerberater nach § 35 haften. Das dürfte aber wohl nicht gewollt sein. Wenn das so ist, müsste § 35 der Lehre von der Strafrechtsschuld, in: Festschrift für E.-J. Lampe, S. 337 ff. 71 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht Bd. 1, S. 361 f.
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§ 38 Steuergesetzbuchentwürfe aus der Steuerrechtswissenschaft
auf gesetzliche Vertreter beschränkt werden. M. E. ist es nicht angebracht, Entrichtungspflichtige ohne Verschulden haften zu lassen. 72 Es fehlt eine Regelung über die Entstehung des Haftungsanspruchs (Ausnahme: § 13 BStVO). Klargestellt werden sollte, dass sich Haftungsansprüche auch aus zivilrechtlichen Vorschriften ergeben können. Dass das gewollt ist, sollte sich nicht bloß den Erläuterungen zu § 35 (Rz. 34 ff.) entnehmen lassen. Durch eine Verweisung sollte auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass es ergänzende Haftungsvorschriften in den §§ 11–14 der vorgeschlagenen Bundessteuerverordnung gibt. Verweisungen sollten auch nicht deshalb unterbleiben, weil das der angestrebten Gesetzeskürze zuwiderlaufen würde. (2) Verwaltungszuschläge: Die Tatbestände des „Verwaltungsunrechts“, an die Verwaltungszuschläge geknüpft werden sollen, sind in den einzelnen Büchern des Gesetzbuchentwurfs geregelt (§§ 60, 95 IV, 131, 141). Auf sie sollte in § 33 II hingewiesen werden. Verweisungen sind zwar für den Gesetzesanwender umständlich. Aber noch umständlicher ist es, wenn mangels Verweisungen Vorschriften, auf die verwiesen werden sollte (aber nicht ausdrücklich verwiesen wird), schwer aufgefunden werden können, zumal weil sie in außersteuerliche Gesetze oder in eine Verordnung ausgelagert worden sind. Nach § 60 des Entwurfs kann ein Verwaltungszuschlag bis zu E 5.000 (ohne Festsetzung?) erhoben werden, wenn der Steuerpflichtige einer Anzeige-, Melde- oder Mitteilungspflicht nicht rechtzeitig nachgekommen ist. Ist nicht die Pflicht zur Steueranmeldung (§ 15) auch eine Meldepflicht? So haben es die Urheber des Entwurfs wohl nicht gemeint. Verspätungs- und Säumniszuschläge sollen entfallen, und bei verspäteter Steueranmeldung soll der Anspruch jedenfalls ab Fälligkeit verzinst werden (§ 20). Der § 60 gibt kein Ermessensrichtmaß an, anders § 152 II AO, anders auch § 46 StGB mit seinen Grundsätzen der Strafzumessung. (3) Steuerstrafrecht: P. Kirchhofs Steuerstrafrecht zeichnet sich ebenfalls durch äußerste Kürze aus. Es soll nur noch die vorsätzliche Steuerhinterziehung geben (§ 38), andere Steuerstraftaten sollen in das Zollrecht verwiesen werden, Steuerordnungswidrigkeiten sollen entfallen. § 38 knüpft terminologisch nicht an § 33 III an, der davon ausgeht, dass ein (§ 33 I: „der“) Besteuerungsgegenstand der Besteuerung entzogen wird. Aus dieser Entziehung (§ 33 III) wird dann die Steuerhinterziehung und die dadurch bewirkte Steuerverkürzung. Ist Steuerhinterziehung im Sinne des Entwurfs ohne Steuerverkürzung 72 Zutreffend J. Hey: „Eine Garantiehaftung für fremde Schuld im Dienste des Fiskus stellt nicht erfüllbare Nachforschungspflichten an den unbeteiligten Dritten, höhere als an die Steuerbeamten des Fiskus selbst. Sorgfalt bei der Entrichtung ließe sich bereits durch eine Verschuldenshaftung erreichen.“ (in: Festschrift für H. W. Kruse, 2001, S. 286 f.).
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Besonderes Steuerrecht
überhaupt denkbar? Wie hat man sich die Entziehung des Besteuerungsgegenstandes vorzustellen? Steuergegenstand muss nichts Körperliches sein. Und wenn wir das Einkommen als Besteuerungsgegenstand (§ 43: Steuergegenstand) nehmen: In der Regel wird doch nur ein Teil des Gegenstandes hinterzogen, nicht die gesamte Einkommensteuerschuld, oder es werden mehrere Besteuerungsgegenstände ganz oder zum Teil hinterzogen, z. B. Steuer auf Einkommen und Umsätze. Im Falle „geringfügiger Steuerverkürzung“ (muss es in der Überschrift zu § 39 nicht heißen: „geringfügige Steuerhinterziehung“?) handelt es sich doch auch um eine Vorsatztat. Nur soll in diesem Falle keine Geldstrafe verhängt werden, sondern grundsätzlich nur mit einer Verdoppelung des hinterzogenen Betrages sanktioniert werden. Wie ist es, wenn der Steuerpflichtige die Steueranmeldung nicht rechtzeitig abgibt? § 370 IV 1 AO erwähnt ausdrücklich die „nicht rechtzeitige Festsetzung“. Nach § 370 IV 3 AO sind die Voraussetzungen der Steuerhinterziehung auch dann erfüllt, wenn die Steuer, auf die sich die Tat bezieht, aus anderen Gründen hätte ermäßigt werden können. M. E. ist dieser fiskalische Fremdkörper aus gutem Grund nicht aufgenommen worden. Der Kirchhof-Entwurf enthält keine Strafverfahrensvorschriften, auch keinen Hinweis auf die Strafprozessordnung (wie § 385 AO). Und werden die §§ 386 ff., 397 ff. AO sämtlich für überflüssig gehalten? In der Regelung des Abschnitts „Verantwortlichkeiten“ sehe ich alles in allem keine Verbesserung des geltenden Rechts. Vorzüge und Nachteile gleichen sich aus. Das schließt nicht aus, dass andere es anders beurteilen. Nur liegen zurzeit leider noch keine Stellungnahmen vor. M. E. sind die Vorschläge von R. Seer (S. 1779 ff.) vorzuziehen.
8. P. Kichhofs Besonderes Steuerrecht Vorbemerkung: Kritisches zur Gliederung der Gesetzbücher und zu Abschnittseinteilungen. P. Kirchhofs Steuergesetzbuch stellt einen Allgemein Teil (Buch 1) voran, verwendet aber nicht den Begriff „Besonderer Teil“, den es natürlich gibt und der die Einkommensteuer (Buch 2), die Erbschaftsteuer (Buch 3), die Umsatzsteuer (Buch 4) und die Verbrauchsteuer i. S. P. Kirchhofs (Buch 5) umfasst. Wer sich die Kirchhofsche Inhaltsübersicht (s. S. 39 ff.) zum Besonderen Teil ansieht, dem dürfte auffallen, dass der Gliederung oder dem Aufbau der einzelnen Bücher offenbar keine bestimmte Tatbestands1859
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lehre zugrunde liegt, dass der Aufbau nicht buchübergreifend koordiniert worden ist. Selbst wenn man davon ausgeht, dass direkte und indirekte Steuern unterschiedlich aufgebaut oder strukturiert werden dürfen, sind die einzelnen Abschnitte und Abschnittsüberschriften nicht in Übereinstimmung zu bringen. Auch die Begrifflichkeit ist nicht durchgehend aufeinander abgestimmt worden. Das mag damit zusammenhängen, dass an den verschiedenen Büchern verschiedene Fachkräfte mitgewirkt haben, die mit dem unterschiedlichen Aufbau der geltenden Steuergesetze gut vertraut sind. Die geltenden Steuergesetze und ihr Aufbau sind aber nicht aufeinander abgestimmt, zumal diese Gesetze aus unterschiedlichen Zeitabschnitten stammen. Von einem Steuerkodex, der die Einheit der Steuerrechtsordnung zum Ausdruck bringen soll, erwartet man indessen einen abgestimmten Gesetzesaufbau und abgestimmte Abschnitte und Abschnittsüberschriften. Die Einheit der Steuerrechtsordnung, die auch P. Kirchhof abweichend von den geltenden Steuergesetzen anstrebt, sollte sich nicht nur im Materiellen, sondern auch im Formellen ausdrücken, weil es Übersicht und Einsicht steuerübergreifend erleichtert. So wie der Kirchhof-Entwurf verfährt, bekommt man den Eindruck, dass noch etwas von den Eierschalen der geltenden Gesetze haften geblieben ist. Dazu einige Beispiele: Das Einkommensteuerbuch stellt die „persönliche Steuerpflicht“ in einem besonderen Abschnitt 1 voran; im Erbschaftsteuerbuch steht die „persönliche Steuerpflicht“ aber in einem Paragraphenkomplex, der mit „Grundlagen der Besteuerung“ überschrieben ist (Abschnitt 1, § 79). Einen Abschnitt „Grundlagen der Besteuerung“ kennt auch das Verbrauchsteuerbuch (Buch 5, Abschnitt 1). Den Begriff „Grundlagen“ darf man dabei wohl nicht eng verstehen. M. E. ist die Bemessungsgrundlage eine besonders wichtige Besteuerungsgrundlage; sie muss dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechen. Das Einkommensteuerbuch verwendet den Begriff „Grundlagen“ nicht; gleichwohl gibt es im Glossarium das Stichwort „Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer“. Das Gleiche gilt für das Erbschaft- und Schenkungsteuerbuch; wiederum hilft erst das Glossarium weiter. Das Einkommensteuergesetzbuch enthält einen gut gefüllten Abschnitt „Einkommen“ (Abschnitt 2), aber parallel dazu gibt es keine Abschnitte „Erbschaft und Schenkung“, „Umsatz“ und „Verbrauch“. Auch die Steuersätze sind unterschiedlich platziert worden. Das Einkommensteuerbuch bringt Steuergegenstand und Steuersatz zusammen im Abschnitt „Einkommen“; im Erbschaftsteuerbuch finden wir den Steuersatz im Abschnitt „Festsetzung der Steuer“. Das Umsatzsteuerbuch regelt „Bemessungsgrundlage und Steuersatz“ zusammen in einem Abschnitt 5. Das mag zur Illustration genügen und hinreichend dartun, dass der Gesetzesaufbau und die Abschnittseinteilung bisher noch nicht musterhaft und meisterhaft gelungen sind. 1860
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P. Kirchhofs Steuergesetzbuchentwurf enthält auffällig viele Ermächtigungen (s. S. 332 ff.). In einer langen Verordnungsermächtigung wird immer wieder bestimmt, dass „das Nähere“ von der Exekutive in einer Verordnung bestimmt wird. Es fällt aber nicht immer leicht, das Wesentliche und die Umsetzung des Wesentlichen in „das Nähere“ auseinanderzuhalten. Auf jeden Fall muss man wissen, dass es nicht genügt, sich am Gesetzbuchentwurf zu orientieren, man braucht auch die Verordnung, die nicht bloß Steuertechnisches regelt. Leider fehlt im Gesetzestext selbst auch ein Hinweis darauf, dass „das Nähere“ an anderer Stelle geregelt ist. Da dem Verfasser zurzeit noch keine ausformulierten Texte der Reformkommission der Stiftung Marktwirtschaft vorliegen, ist es ihm nicht möglich, zur Gliederung der behandelten Gesetze und der Einteilung in Abschnitte Stellung zu nehmen. 73 8.1 Zur Einkommen- und Körperschaftsteuer Auch P. Kirchhofs Einkommensteuerbuch (Buch 2) besticht durch eine stupende Kürze. Die geltenden Gesetze zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer mit ihren etwa 250 Paragraphen sind im Entwurf auf 29 Paragraphen reduziert worden. Hinzu kommen allerdings noch einige Verordnungsvorschriften (die aber auch kürzer sind als die Vorschriften der geltenden Einkommensteuer-Durchführungsverordnung) sowie eine Bilanzordnung mit 18 Paragraphen. Obwohl P. Kirchhof die extreme Kürze auch zu Werbezwecken verwendet, muss man sehen, dass die Kürze sich bei ihm aufgrund seiner Fähigkeit einstellt, abstrahierend zu verallgemeinern. Eine gewisse Scheu vor Differenzierung und Kasuistik mag hinzukommen. – So führt P. Kirchhof z. B. die natürlichen Personen und seine „steuerjuristischen Personen“ zu Einkommensteuerpflichtigen zusammen, die Einkommensteuer mit der Körperschaftsteuer zu einer einheitlichen Einkommensteuer, und er belastet natürliche und steuerjuristische Personen (abgesehen von einem ‚Sozialausgleichsbetrag‘, § 48) gleich. Die Steuerreformkommission der Stiftung Marktwirtschaft lehnt einen flachen Einkommensteuertarif aus sozialstaatlichen und finanzwirtschaftlichen Gründen ab und hält an einem progressiven Einkommensteuertarif fest. Sie tritt aber aus Gründen der nationalen Wettbewerbsfähigkeit für einen mäßigen proportionalen Körperschaftsteuersatz ein, für eine Tarifspreizung also. Sie hält einen Einheitstarif für natürliche und juristische Personen für nicht realisierbar und verwirft 73 Eine Veröffentlichung der Steuerreformarbeiten der Steuerreformkommission der Stiftung Marktwirtschaft war für Ende 2011 geplant; sie ist zurzeit für Ende 2012 vorgesehen und soll unter dem Titel „Strukturreform der Deutschen Ertragsteuern“ erscheinen.
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daher die Idee der in die Einkommensteuer integrierten Körperschaftsteuer. Allerdings entscheidet sich die Kommission für eine allgemeine Unternehmensteuer, der nicht nur Körperschaften, sondern auch Personenunternehmen (Mit- und Einzelunternehmen) unterworfen werden sollen. Die Rechtsform ist in der Tat kein geeigneter Maßstab für eine sachgerechte Belastung. Die Idee der allgemeinen Unternehmensteuer mit einer einheitlichen Belastung aller Unternehmen entspricht theoretisch dem Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Die Kommission ist allerdings flexibel genug zu registrieren, dass in mehrfacher Hinsicht differenziert werden muss. Jede Differenzierung wirkt aber auch komplizierend. Eine einfache Unternehmensbesteuerung, die ohne Ausnahmen auskommt, gibt es eben nicht. Dass Ausschüttungen nicht der flachen Körperschaftsteuer unterworfen werden können, versteht sich. Beide Entwürfe gehen grundsätzlich davon aus, dass die verschiedenen Einkunftsarten gleichbelastet werden müssen (sog. synthetische Einkommensteuer). Das kommt bei P. Kirchhof bereits darin zum Ausdruck, dass sein Abschn. 2 nur eine Einkommensart kennt, während der Stiftungsentwurf immerhin noch fünf Einkommensarten unterscheidet, und zwar mit Rücksicht auf unterschiedliche Ermittlungsund Erhebungsarten. Auch P. Kirchhof kommt nicht mit einer Ermittlungs- und Erhebungsart aus. So hat er z. B. in § 8 seiner Bilanzordnung eine Einkunftsart „Grundstücksbezogene Einkünfte“ untergebracht. Nach geltendem Recht durchbricht zurzeit die proportionale Abgeltungsteuer auf Einkünfte aus Finanzkapital die Synthetik der Einkommensarten. J. Lang führt zur Rechtfertigung aus: „Die Kommission hatte sich ursprünglich auf das Prinzip der synthetischen Einkommensteuer festgelegt. Sie beugte sich schließlich den Zwängen der Globalisierung … die progressive Besteuerung von Erträgen aus dem international mobilen Kapital lässt sich schwerlich durchsetzen. Es besteht ein dringendes rechtsstaatliches Bedürfnis nach einer Besteuerung, die den materiellen Steueranspruch in Einklang mit den realen Vollzugsmöglichkeiten bringt. Das … viel zu komplizierte Abgeltungsteuerrecht vereinfacht der Entwurf durchgreifend …“ 74 Zwar lässt es sich grundsätzlich nicht rechtfertigen, Arbeitseinkünfte höher zu belasten als Einkünfte aus Finanzkapital. Es gibt einen Ethos der Arbeit, aber kein Ethos der Spekulation und der Zockerei. 75 74 steuertip 09/2009, S. 3. 75 Jedoch ist zu berücksichtigen, dass zurzeit das Zinsangebot so dürftig ist, dass eine volle Besteuerung und die Inflation und die Verwaltungsgebühren der Banken zu einem steuerlichen Eingriff in das Vermögen führen. Das geschieht zurzeit selbst schon bei einem Abgeltungsteuersatz von 25 Prozent.
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Dass P. Kirchhof ein Meister der abstrahierenden Verallgemeinerung ist, zeigt er z. B. in § 43 des Entwurfs über den Einkommensteuergegenstand sowie in § 62 über die unbeschränkte Steuerpflicht. Während P. Kirchhof in beiden Fällen zur abstrakten Definition greift, zieht der Entwurf der Reformkommission Marktwirtschaft rechtssichere, dem Verständnis durch mehr Anschaulichkeit entgegenkommende Enumerationen vor. Beide Entwürfe nehmen den Ausgang beim Leistungsfähigkeitsprinzip und konkretisieren es durch das objektive und das subjektive Nettoprinzip. P. Kirchhof verletzt das objektive Nettoprinzip m. E. aber dadurch, dass er gemischte (teils beruflich, teils privat veranlasste) Aufwendungen zur Gänze nicht zum Abzug zulassen will. Es wird vermutet, dass dieser Eingriff in das Nettoprinzip der Gegenfinanzierung des Steuerausfalls durch die Flat Tax dienen soll. 76 Dass P. Kirchhof im Umgang mit dem Nettoprinzip nicht zimperlich ist, zeigt auch § 8 seiner Bilanzordnung. Danach mindern grundstücksbezogene Aufwendungen den Gewinn und werden „unwiderleglich mit 60 vom Hundert der steuerpflichtigen Erwerbserträge … vermutet.“ Diese Vermutung geht in vielen Fällen an der Realität vorbei. Die Aufwendungen vieler Vermieter überschreiten insbesondere infolge von Abschreibungen und Darlehenszinsen die 60 v. H.Grenze erheblich. Auch verletzt es den Gleichheitsgrundsatz, nur bei einer Einkunftsart mit einer unwiderleglichen Vermutung zu operieren. Eine Vorschrift, die etwa besagt: „Wer Steuerpflichtiger ist, hat auch Gewinn zu haben“ oder „Wer Unternehmer ist, hat mindestens 40 Prozent seiner Einnahmen als Gewinn zu versteuern“ sollte es auch künftig im Steuerrecht nicht geben. 8.2 Zur Erbschaft- und Schenkungsteuer Mit der Erbschaft- und Schenkungsteuer hat sich nur der P. KirchhofEntwurf befasst, nicht die Reformkommission der Stiftung Marktwirtschaft. Charakteristisch für die Erbschaft- und Schenkungsteuer ist: Sie ist im besonderen Maße wertungsabhängig und zugleich bewertungsabhängig. Es geht zunächst um die Frage, ob eine Erbschaft- und Schenkungsteuer überhaupt gerechtfertigt ist, dann aber nach Fragen der Bemessungsgrundlage um das Problem, ob die verwandtschaftliche Nähe eine Rolle spielen soll, wie hoch etwaige Freibeträge sein sollen und wie der Tarif verlaufen soll. Hier gibt es für den Gesetzgeber Spielräu76 Hinweis auch auf W. Drenseck, Einkommensteuerreform und objektives Nettoprinzip, FR 2006, 1 ff.
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me. Um die Intersubjektivität des Wertens zu stärken, empfiehlt es sich, internationale Vergleiche zu ziehen. Schon ein Vergleich mit dem österreichischen Recht oder mit dem Recht der Schweizer Kantone kann erhellend sein. Wenn es um Wertungen geht, scheint P. Kirchhof nicht sonderlich von Skrupeln und Zweifeln belastet zu werden. Sein Rohbau sieht so aus: Die Erbschaft- und Schenkungsteuer ist als solche gerechtfertigt. Wenn ich es richtig verstehe, soll über die Frage, was Erbschaft, was Schenkung ist, nicht mehr ziviljuristisch, sondern steuerjuristisch entschieden werden. Jedenfalls sind die üblichen Bezugnahmen auf zivilrechtliche Vorschriften entfernt worden. Das mag nicht die Rechtssicherheit fördern, wohl aber kann es zur Gleichbelastung Lücken schließen. P. Kirchhof hält die Ehe und die Lebenspartnerschaft für Erwerbsgemeinschaften. Daraus wird die Befreiung des überlebenden Partners von der Erbschaftsteuer abgeleitet. Was die Freibeträge und den Tarif betrifft, kann niemand für sich beanspruchen, er kenne die allein richtige Lösung. 77 P. Kirchhof gewährt den Kindern einen Freibetrag von 400 000 Euro, allen anderen Erwerbern einen Freibetrag von 15 000 Euro. So wie er für die Einkommensteuer einen einheitlichen Steuersatz von 25 v. H. vorsieht, schlägt er für die Erbschaft- und Schenkungsteuer einen einheitlichen Steuersatz von 10 v. H. der Bemessungsgrundlage vor. Was eine solche Steuer einbringt, wissen wir nicht. Wir wissen aber: Wenn ein Kind zwei Millionen Euro erbt, schuldet es nach Abzug des Freibetrages von 400 000 Euro 160 000 Euro; das ist eine Belastung von 8 v. H. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, dass die Sozialparteien sich gegen eine solche Belastung eines Millionenerben wenden werden. Wir wissen auch, dass eine Steuer, die nicht mehr einbringt, als die Kosten der Verwaltung, wohl nicht bloß fiskalisch sinnlos ist. Die Bewertung des vererbten oder geschenkten Vermögens war immer eine Krux sowohl der Erbschaft- und Schenkungsteuer als auch der Vermögensteuer. Daran wird keine seriöse Reform etwas ändern, es sei denn, man suchte das Heil der Vereinfachung in Typisierungen der Grundstücksbewertung und in unwiderlegbaren Vermutungen. 8.3 Zur Umsatzsteuer Mit der Umsatzsteuer befasst sich nur der Kirchhof-Entwurf. Das ist deshalb erstaunlich, weil der deutsche Bundesgesetzgeber in Sachen Umsatzsteuergesetzgebung nicht souverän ist. Die Gesetzgebungskompetenz liegt zwar beim Bund; der Inhalt des nationalen Umsatzsteuerrechts wird aber im besonderen Maße durch das EU-Gemeinschafts77 Und ist es wirklich angebracht, erst Befreiungen auszusprechen (§ 77) und erst danach die persönliche Steuerpflicht anzuordnen (§ 79).
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recht geprägt. Nach Art. 113 AEUV sind die Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuer innerhalb der EG zu harmonisieren, soweit dies für das Funktionieren des Binnenmarktes notwendig ist. Die Harmonisierung geschieht durch Bestimmungen des Rates auf Vorschlag der Kommission. Nach Art. 288 AEUV können zur Erfüllung der Aufgaben u. a. Verordnungen und Richtlinien erlassen werden. Seit 1977 sind mehrere Richtlinien zum Umsatzsteuerrecht ergangen. Das alles weiß natürlich auch P. Kirchhof. Dass er gleichwohl eine Umsatzsteuererneuerung vorschlägt, begründet er so: „Im Gesamtkonzept eines Bundessteuergesetzbuches wird zunächst ein nationales Umsatzsteuergesetz vorgestellt. Dieses Umsatzsteuergesetz ist jedoch als Reformvorschlag an den europäischen Rechtsetzer gerichtet. Daher ist es so konzipiert, dass es in einem europäischen Rechtsakt aufgenommen werden kann …“ Idealziel bleibt, das 4. Buch des Steuergesetzbuches als unmittelbar geltendes Recht in der gesamten europäischen Gemeinschaft zur Anwendung zu bringen. Nur eine solche einheitliche umsatzsteuerliche Rechtsordnung könnte den Gedanken des Binnenmarktes verwirklichen.“ 78
P. Kirchhof will nicht weniger als einen Paradigmenwechsel weg von der Allphasen-Mehrwertsteuer. Auch wenn sich darüber diskutieren lässt, auch wenn das Vorteile hätte, es erscheint geradezu ausgeschlossen, dass die Verordnungs- und Richtliniengeber in Brüssel P. Kirchhof folgen werden. Hält er sich selbst für den Herakles (Herkules), dem es nicht nur gelingt, den deutschen Bundessteuergesetzgeber, sondern auch den Verordnungs- und Richtliniengeber in Brüssel auf seine Seite zu bringen? Dass es zu EU-Plänen gegen Steuerbetrug per „Karussel“ kommt, ist immerhin möglich. 8.4 Besondere Verbrauchsteuern Wiederum nur P. Kirchhof hat sich mit besonderen Verbrauchsteuern befasst, nicht die Reformkommission der Stiftung Marktwirtschaft. Obwohl die Umsatzsteuer die allgemeine Verbrauchsteuer ist, spricht P. Kirchhof nicht von besonderer Verbrauchsteuer oder besonderen Verbrauchsteuern. Seine Überschrift zu § 7 des Entwurfs lautet: „Umsatzsteuer und Verbrauchsteuer“, als ob die Umsatzsteuer keine Verbrauchsteuer wäre. P. Kirchhof fasst die Steuer auf Heiz- und Kraftstoffe, auf Strom, auf Alkohol und auf Tabak zu einer „Verbrauchsteuer“ zusammen. Diese Steuern werden herkömmlich – auch im Ausland – als Lenkungsteuern bezeichnet. Da P. Kirchhof alle Lenkungsteuern aus seinem Kodex entfernen will, musste er sich wohl entschließen, seiner „Verbrauchsteuer“ einen neuen Zweck zu unter78 Bundessteuergesetzbuch, Grundgedanken zur Umsatzsteuer, S. 819.
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schieben. Belastungsgrund soll nunmehr sein, dass der Verbrauch der erfassten Güter „Gemeinlasten verursachen kann“ (§ 3 IV des Entwurfs). Gemeinlasten können danach nur vier enumerierte Güter verursachen. P. Kirchhofs abstrahierendes Verallgemeinerungstalent hat hier offenbar kapituliert. Eine konkretisierende Verallgemeinerung ließ sich offenbar nicht finden. P. Kirchhof führt zur „Auswahl der zu besteuernden Güter“ aus: „Der Reformvorschlag wählt die zu besteuernden Güter nach den durch ihre Verwendung entstehenden Kosten aus? Ist ein umweltschädliches oder (dritt-)schädigendes Verhalten nicht hinnehmbar, ist es grundsätzlich zu unterbinden. Ist ein solches Verhalten noch hinnehmbar, kann durch Verteuerung des Produkts dem Marktteilnehmer die Entscheidung für oder gegen dieses – noch tolerierbare – Verhalten überlassen, aber ein finanzieller Ausgleich hierfür verlangt werden.“ 79 Mir scheint es nicht vorstellbar, dass es nur vier Güter geben soll, deren Verwendung die Umwelt oder sonst Dritte gemeinwohlschädlich belasten kann. Wie verhält es sich zum Beispiel mit Ölgesellschaften, die mit Riesentankern die Weltmeere befahren und bei Havarien Meere und Strände in großem Ausmaß verschmutzen. Wie verhält es sich mit dem Intensivtourismus, der in der Natur irreparable Schäden anrichtet? Wie verhält es sich mit Umweltbelastungen durch Lärm? Im Übrigen: Auch wenn ein neuer Steuerrechtfertigungsgrund unterschoben wird: Es bleibt dabei, dass die „Verbrauchsteuer“ – wie alle Steuern, einen Lenkungseffekt behält. Man wird versuchen, sie – wie jede andere Steuer – zu vermeiden. Denkt man die Lenkung aber weg, so heißt das: Verbraucht so viel Heiz- und Brennstoffe, so viel Strom, so viel Alkohol und Tabak wie ihr wollt; nur gebt dafür etwas an den Fiskus ab. Was hat aber das geschädigte Gemeinwohl, insbesondere die geschädigte Umwelt davon? M. E. ist die Lenkungsidee der Idee von P. Kirchhof überlegen. P. Kirchhof hofft, von seinem Verbrauchsteuer-Konzept auch die „Europäer“ in Brüssel überzeugen zu können. 80 8.5 Zur Reform der Kommunalsteuern Beide Entwürfe möchten die Gewerbesteuer und die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern abschaffen.
79 Bundessteuergesetzbuch, Leitgedanken, S. 35 f. 80 Bundessteuergesetzbuch, Leitgedanken, S. 36 f.
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Schlechte Chancen privater Steuergesetzbuchentwürfe
P. Kirchhof will stattdessen eine kommunale Zuschlagsteuer zur Einkommensteuer einführen. Sie soll das in der Gemeinde erwirtschaftete Einkommen belasten; die Gemeinden sollen ein Hebesatzrecht erhalten (§§ 65–72 des Entwurfs). Die Gemeinden sehen darin keine ausreichende Finanzausstattung. Wir wissen in der Tat nicht, was der Kirchhofsche Plan den Kommunen bringen würde. Viel ausgreifender, breiter angelegt sind die Ideen der Reformkommission der Stiftung Marktwirtschaft. Diese Kommission hat das Konzept einer so genannten Vier-Säulen-Lösung entwickelt. Die erste Säule belastet den Faktor Grundbesitz durch eine Grundsteuer, die zweite Säule belastet den Faktor Wohnen durch eine Bürgersteuer und die dritte und vierte Säule belasten den Faktor Wirtschaft durch eine kommunale Unternehmensteuer und die Beteiligung der Kommunen am Lohnsteueraufkommen. Dadurch sollen autonome, handlungsfähige und lebendige Kommunen gewährleistet werden. Jedoch sind die Kommunen und ihre Lobby auch auf diesen Zug nicht aufgesprungen. Sie lassen sich durch keinerlei Argumente von der Gewerbesteuer abbringen. Und es ist niemand zu sehen, der es schaffen könnte, diese „heilige Kuh“ der Kommunen vom Eis zu bringen. Wer um keinen Preis der Vernunft überzeugt werden möchte 81, den kann auch niemand überzeugen. Die Gemeinden brauchen gar nicht zu argumentieren, sie können schlicht darauf verweisen, dass die Gewerbesteuer als Realsteuer durch das Grundgesetz geschützt ist, dass sie als solche verfassungsmäßig ist.
9. Schlechte Chancen privater Steuergesetzbuchentwürfe, Bundestag und Bundesrat zu erreichen Die Realisationschancen privater Entwürfe werden unterschiedlich beurteilt. P. Kirchhof und J. Lang waren notorische Reformrealisations-Optimisten. Ohne ihren Optimismus hätten sie ihre mühevolle Arbeit wahrscheinlich gar nicht erst aufgenommen. Der Pessimist, der Skeptiker erarbeitet keine Gesetzentwürfe (auch wenn er die Kompetenz dazu hätte), weil er nicht vergeblich arbeiten will. Dass P. Kirchhof sich seinen Optimismus trotz der schlechten Erfahrungen mit der Politik erhalten hat, ist bereits vermerkt worden. Einige weitere Belege für den Optimismus sind hinzugekommen. 2006 schrieb er: „Heute stehen wir vor den großen Kodifikationen des Steuerrechts, des Sozialrechts und des Arbeitsrechts . . . Es fehlt aber noch 81 Dazu R. Seer: Eine Bürgersteuer wäre besser als Sauna- und Sexsteuern, FAZ v. 19. 10. 2011, S. 19. – Nicht mehr ausgewertet worden ist: J. Wieland (Hrsg.), Kommunalsteuern und -abgaben, DStJG Bd. 35 (2012).
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der Napoleon, der Herakles, der den Kodex gegen Stände und Besitzstände, gegen die Mächtigen des Geldes und der Medien durchsetzt. Die Stadt wartet auf ihren Herakles. Er ist schon in ihren Mauern, doch die Bürger wissen das noch nicht . . .“ 82 An anderer Stelle stellt P. Kirchhof fest: „Die Zeit ist reif für eine kraftvolle Politik, die das Steuerrecht nicht in kleinräumiger Enge, sondern in einem großen Zukunftsentwurf erneuert. Diesen großen Wurf müssen wir heute angehen. Er ist Pflicht, nicht Wunsch. Würden wir zögern, verlören wir Bürgerstolz, Mut und Freiheit. Doch wir sind längst im Aufbruch zum Garten der Freiheit.“ 83 In einer Schrift von 2009 stellt P. Kirchhof fest: „Die Tür zur Grundsatzreform steht offen.“ 84 P. Kirchhof kommt uns mit griechischer Mythologie und mit erhabenen, erbaulichen Appellen. P. Kirchhof vergleicht unser Staatswesen mit der zwölfköpfigen Hydra, einem griechischen Fabelwesen, und lässt uns wissen: „Die Hydra hat viele Köpfe. Einige wirken in den Organen des Staates und erdrücken uns in einer Flut von Normen, Steuern, Subventionen und Schulden. Andere sitzen in den Verbänden und versuchen dem Gesetzgeber die Feder zu Privilegien und Vergünstigungen zu führen.“ P. Kirchhof fragt: „Gibt es einen Herakles (Herkules), der der Hydra gewachsen ist?“ 85 Er benennt uns zwölf Schwerter gegen die Hydra, u. a. das Schwert gegen die Normenflut, das Schwert gegen den Interessenten, der dem Gesetzgeber die Feder führt, das Schwert gegen ein verwirrendes und widersprüchliches Steuerrecht, das Schwert gegen die Staatsschuld. 86
Aber wo ist der Herakles, der das Bundessteuergesetzbuch durchsetzt? F. Merz ist als Herakles doch ausgefallen. Sehen wir den Herakles nicht, weil wir keine Visionäre sind? Sieht P. Kirchhof sich selbst als Herakles? Und wo ist der Kodex des Sozialrechts, der Kodex des Arbeitsrechts oder auch nur des Arbeitsvertragsrechts zu sehen? Und hat die Steuerpolitik die Tür zur Grundsatzreform nicht eher versperrt? Wenn wir an P. Kirchhofs Wirklichkeitssinn zweifeln, so heißt es durchaus nicht, die große Leistung zu verkennen, die in seinem Steuergesetzbuchentwurf steckt. P. Kirchhof greift gern auf Kodifikationen zurück, die in früheren Jahrhunderten gelungen sind, so auf das Beispiel des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794. Dessen Entstehung zur Zeit Friedrichs II. (des Großen) von Preußen beschreibt er so: Das Preußische Allgemeine Landrecht ist durch . . . Sachverstand sorgfältig vorbereitet worden. Der Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches wurde von 82 83 84 85 86
P. Kirchhof, P. Kirchhof, P. Kirchhof, P. Kirchhof, P. Kirchhof,
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Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 31. Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 296. Das Maß der Gerechtigkeit, 2009, S. 192. Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 11, 12. Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 335, 336, 341.
Schlechte Chancen privater Steuergesetzbuchentwürfe einer kleinen Gruppe von Gelehrten – Carmer, Svarez und Klein – verfasst. Diese Gelehrten wurden von der öffentlichen Meinung in Berlin zwar als radikal zurückgewiesen, weil sie das Licht der Aufklärung in die preußischen Amtsstuben scheinen lassen und die Monarchie beunruhigen wollten. Sie waren auch verdächtig, weil sie aus Schlesien kamen, Svarez und Klein sogar selbst Schlesier und erst kurze Zeit zuvor preußische Untertanen geworden waren . . . Weil die Reformer als Eindringlinge aus der Berliner Gesellschaft fern gehalten wurden, nahmen Svarez und später auch Klein ihre Wohnung in dem von Carmer gemieteten Palais, lebten dort für 15 Jahre in einer Reformgemeinschaft. Die drei Gelehrten arbeiteten gemeinsam, philosophierten, speisten und fuhren zusammen spazieren. Die räumliche Nähe begründete eine Klausur des Reformdialogs, eine fast klösterliche Hingabe an das gemeinsame Werk.“ 87 Dazu sei angemerkt: Graf v. Carmer war preußischer Justizminister unter Friedrich II., mehr juristischer Fachmann als Politiker. Svarez und Klein waren Rechtsprofessoren. Die Gesetzgebungsarbeit wurde unter den Bedingungen des aufgeklärten Absolutismus geleistet. Das sind Bedingungen, die mit denen einer parlamentarischen Demokratie unserer Zeit nicht zu vergleichen sind. 88
J. Lang geht nicht so weit zurück wie P. Kirchhof. Er verweist aber gern auf die erfolgreichen Reformen unter J. v. Miquel und M. Erzberger. Jedoch waren die politischen Bedingungen zur Wirkungszeit dieser Reformer auch andere als in unserer Zeit. M. Erzberger agierte gleich nach dem verlorenen 1. Weltkrieg sozusagen in einer Stunde null. Aus manchen Reformoptimisten sind inzwischen Pessimisten geworden. Jochen Thiel hat in seiner aktiven Zeit als Leiter der Steuerabteilung in Düsseldorf Erfahrungen auch in Gesetzgebung sammeln können, und er hat an den Entwurfsarbeiten sowohl von P. Kirchhof als auch von J. Lang teilgenommen. Im November 2010 äußerte er im Rahmen eines Symposiums sinngemäß, er habe an den Reformerfolg geglaubt, habe den Glauben aber verloren. H.-J. Pezzer, Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, arbeitete in der Reformkommission der Stiftung Marktwirtschaft mit; er stellte 2010 ernüchtert fest: „Die Diskussion und die verschiedensten Reformvorschläge füllen inzwischen Regalwände, ohne dass Aussicht auf eine grundlegende Remedur bestünde. Auch der . . . Vorschlag der Stiftung Marktwirtschaft hat bei realistischer Einschätzung wohl keine Realisierungschance. Die Politik scheint das Interesse an diesem Entwurf verloren zu haben . . .“ 89
87 P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 51. 88 Mit der Entstehung des Preußischen Allgemeinen Landrechts befasst sich auch F. Wieacker. Er würdigt die Auftragsarbeit des Triumvirats als Muster aufgeklärter Kodifikationskunst in Europa (Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S. 330, 333 ff.). 89 H.-J. Pezzer, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 494.
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Schon 2008 schrieb Wolfgang Schön einen längeren Beitrag zu unserem Thema und wählte die Überschrift „Steuerpolitik 2008 – Das Ende der Illusionen?“ 90 Darin heißt es u. a.: „Die steuerpolitischen Ideale unserer Zeit – so scheint es 91 – sind in Wahrheit steuerpolitische Illusionen. Der ‚Garten der Freiheit‘, in den uns eine Grundlagenreform des Steuerrechts führen soll, erscheint uns heute so fern wie das biblische Paradies . . . in der Politik scheint das Interesse an Grundlagenreformen vollständig erlahmt zu sein . . .“ 92 Die zur Zeit der Steuerpolitik von P. Steinbrück geschwundenen oder verschwundenen Steuerrechtsreformaussichten haben sich in der Tat bis heute (2012) nicht gebessert. J. Langs Optimismus scheint tiefer Enttäuschung gewichen zu sein, während der Enthusiasmus P. Kirchhofs nur einen Dämpfer bekommen zu haben scheint. Der Kirchhof-Entwurf präsentiert ein Muster an Transparenz – allein schon durch die Reduzierung auf einige wenige Steuern und durch die proportionalen Einheitssteuersätze für die Einkommensteuer und die Erbschaftsteuer. Die Gesamtsteuerlast lässt sich ohne Schwierigkeiten erkennen. Das pflegt aber nicht im Sinne von Haushaltsministern zu sein. Sie wissen, dass die Steuerpflichtigen durchweg darauf aus sind, möglichst wenig Steuern, nicht möglichst viel Steuern zu bezahlen. Daher rührt das Bemühen, die Gesamtsteuerlast auf möglichst viele Steuern und Nebensteuern zu verteilen sowie in einer komplizierten Bemessungsgrundlage zu verstecken, auf diese Weise den Steuerwiderstand zu mäßigen. Schon J. B. Colbert, Finanzminister Ludwig XIV., sah die Besteuerungskunst darin, die Gans so zu rupfen, dass sie ohne viel Gezische möglichst viele Federn abgibt. 93 Zur Integration der Körperschaftsteuer in die Einkommensteuer merkt J. Thiel zutreffend an: Sie „gelingt nur wegen des einheitlichen Steuersatzes für Kapitalgesellschaften und natürliche Personen. Auch sonst hat der Einheitssatz viele Vorteile . . . Dennoch ist zu bezweifeln, dass sich die revolutionäre flat tax in Deutschland durchsetzen wird . . . Es ist schwer vorstellbar, dass die Tradition der (sozialstaatlichen) progressiven Einkommensteuer jetzt enden soll, zu einem Zeitpunkt, in dem der Staat unter einer gewaltigen Verschuldung leidet und viele Geringverdiener aus Haushaltsgründen Opfer bringen 90 Beihefter zu DStR 2008, Heft 17, S. 10 ff. 91 Das soll wohl nicht heißen, sie seien nur scheinbar Illusionen. Was nur scheinbar ist, ist nicht wirklich, und was wirklich ist, ist nicht scheinbar. 92 Beihefter zu DStR 2008, Heft 17, S. 11 re. W. Schön spricht dort auch von „unerreichbaren Utopien“. 93 Dazu S. 1380. Es heißt zwar, als Politiker beliebt zu sein und Steuern zu verlangen, sei genauso ausgeschlossen wie zu lieben und vernünftig zu sein. P. Steinbrück aber scheint diese Weisheit – jedenfalls vorübergehend – außer Kraft gesetzt zu haben. Er war vier Jahre lang Bundesfinanzminister und steht heute (2010) gleichwohl an der Spitze des Politbarometers.
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müssen.“ 94 Eine Partei, die vor der Wahl die flat tax propagiert, hat die Wahl wohl schon verloren. Da die deutsche Steuerpolitik die flat tax nicht will, wird es auch die Integration der Körperschaftsteuer in die Einkommensteuer nicht geben. P. Kirchhofs Steuersätze, auch die Bestimmung einer Obergrenze der Gesamtbelastung dürften bei der Steuerpolitik, auch bei den Sozialbürgern (die von den Steuern anderer leben) nicht ankommen. Die Politik hat sich doch daran gewöhnt, erst den Bedarf von Staat und Kommunen zu bestimmen, statt zunächst nach der Leistungsfähigkeit der Steuerbürger zu fragen. In Deutschland ist eine Mehrheit wieder staatsgläubig genug, diese Sicht zu akzeptieren. Chancen hätte P. Kirchhof aber wohl bei den Republikanern der USA. P. Kirchhof will alle Steuern bis auf vier abschaffen. Die Steuern, die er abschaffen will, werden aber von Art. 105, 106 GG erfasst und sind nach einer Lehre von Staatsrechtlern (der sich das Verfassungsgericht angeschlossen hat) verfassungsmäßig. Steuerpolitik und Steuergesetzgeber brauchen P. Kirchhofs Abschaffungsbestrebungen nur entgegen zu halten, man sehe keinen Grund, verfassungsmäßige Steuern abzuschaffen. Diese Begründung lässt sich auch zur Verteidigung der Gewerbesteuer (die P. Kirchhof und die Reformkommission der Stiftung Marktwirtschaft abschaffen wollen) einsetzen. Selbst wenn der deutsche Steuergesetzgeber von P. Kirchhofs Umsatzsteuer-Reformbuch zu überzeugen wäre, er ist an die Vorgaben aus Brüssel gebunden. Sowohl P. Kirchhof als auch J. Lang wollen sämtliche Steuervergünstigungen abschaffen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie sich rechtfertigen lassen oder nicht. Das trifft die Steuerpolitik der Parteien und der mit ihnen verbandelten Interessenverbände am Nerv. Politiker werden Lobbyisten und Lobbyisten werden Politiker. Daher werden Parteien und Interessenverbände all ihre Macht aufbieten, den „Vergünstigungs-Kahlschlag“ zu verhindern. Sicher würden die Parteien und Verbände auch versuchen, die Medien für sich einzuspannen. Schon die Bareis-Kommission hatte erleben müssen, dass der Finanzminister Th. Waigel ihr Gutachen unverzüglich als politisch unbrauchbar verwarf – wegen der Vorschläge zur Abschaffung von Steuerprivilegien. Auch P. Kirchhofs Eingriff in das objektive Nettoprinzip missfällt vielen. Von Bedenkenträgern könnte gegen den Kirchhof-Entwurf auch sein hoher Abstraktionsgrad (mit der Folge großer Unanschaulichkeit) bemängelt werden. Da der Kirchhof-Entwurf sich ziemlich weit vom geltenden Recht entfernt, würde er von komplizierten Übergangsvorschriften begleitet 94 StuW 2005, 343 li.
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werden müssen. Sie sind bisher nicht erarbeitet worden. Die Übergangsvorschriften von geltendem Gesetzesrecht bis hin zum KirchhofKodex müssten u. U. länger ausfallen als das Kirchhof-Gesetzbuch selbst. Diese Arbeit ist wohl der Steuerabteilung des Finanzministeriums zugedacht. Nach einer solchen Arbeit wird man sich dort aber wohl nicht sehnen. Die Übergangsprobleme würden wohl ein großes Arbeitsbeschaffungsprogramm für die Rechtsprechung darstellen. P. Kirchhof wird nicht müde, den Vorzug der Kürze seines Entwurfs herauszustellen. Wenn er sich auf Friedrich den Großen beruft, denkt er wohl vor allem auch an dessen Vorliebe für Gesetzeskürze. Mit „Kürze, Kürze über alles“ ist es jedoch nicht getan. Unter der Kürze kann auch die Verständlichkeit leiden. Es darf jedenfalls nicht dahin kommen, dass die Finanzämter und Finanzgerichte die Folgen eines allzu mageren Textes durch Ergänzungen ausbaden müssen. P. Kirchhof hat auch die Befürchtung der Praxis nicht ausgeräumt, sein Kodex enthalte große fiskalische Risiken. Was er dagegen vorbringt, räumt die Bedenken nicht aus. Mit dem Hinweis auf die vielen wegfallen sollenden Ausnahmen (Vergünstigungen, Privilegien) ist es nicht getan. Sie müssten im Einzelnen aufgelistet und quantifiziert werden. Dazu wären kompetente Schätzer erforderlich. Auch soweit P. Kirchhof das Problem eher darin sehen will, dass das Steueraufkommen sich aufgrund seines Kodex erhöhen statt ermäßigen würde: Das ist bloße Spekulation. 95 Es ist auch ungewiss, wie sich ein 10 v. H.-Erbschaftsteuersatz auf den Haushalt auswirken würde. Von Illusionen der Entwurfsverfasser könnte man wohl wirklich sprechen, wenn diese annehmen würden, Bundestag und Bundesrat würden einen Professoren-Entwurf – zumal einen nicht erbetenen – unverändert übernehmen und auch gegen die Lobby durchsetzen. Eine andere optimistische, m. E. aber unrealistische Erwartung von Reformern besteht darin: Mit zunehmender Verwahrlosung oder Chaotisierung der Steuergesetze werde der Reformdruck so groß werden, dass – sozusagen qua Evolution – der Gesetzgeber der Reform nicht länger ausweichen könne. Wir kennen freilich aus der Kulturund Zivilisationsgeschichte Fortschritte – bis hin zur Durchsetzung von Meinungs- und Religionsfreiheit, zur Abschaffung von Folter, Scheiterhaufen und Zensur. Aus Untertanen sind in zivilisierten Ländern Bürger geworden, aus Frauen gleichberechtigte Menschen. Aber im Steuerwesen der parlamentarischen Demokratien ist ein Fortschritt hin zu mehr Gerechtigkeit und mehr Vereinfachung kaum zu spüren. 95 Nach unveröffentlichten Schätzungen, die die Finanzminister des Bundes und der Länder veranlasst haben, muss anfänglich allein aufgrund des Kirchhofschen Einkommensteuermodells mit Ausfällen in Höhe bis zu 43 Milliarden Euro gerechnet werden. Das mag zu hoch gegriffen sein.
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Antiquierte Steuern werden – wie selbstverständlich – weiter mitgeschleppt, und stolz werden sie von Fiskalisten mit ihrer Jahrhunderte alten Tradition „gerechtfertigt“. Wegen des Zustands der Steuergesetze werden hierzulande Steuerbürger weder revoltieren 96 noch eine „friedliche Revolution“ anzetteln. Man revoltiert nicht wegen einer rechtsrationalen Steuerreform. Steuerlaien wissen gar nicht, was das ist. Fast jeder versucht, irgendwie durchzukommen. Die Grundfrage, ob die parlamentarische Demokratie mit ihren Gesetzgebungsgepflogenheiten überhaupt zu Kodifikationen in der Lage sei, ob sie kodexfähig sei, wird offenbar nicht gern erörtert. Der Kodex ist ein Gesetzbuch, das einen Rechtsstoff möglichst vollständig (mithin lückenlos) erfasst, und zwar nicht kunterbunt, sondern systematisch geordnet, folgerichtig und widerspruchsfrei. 97 Eine bloße Sammlung von Gesetzen, etwa des Verwaltungsrechts, des Strafrechts, des Zivilrechts, des Steuerrechts ist kein Kodex. Mit dem Kodex wird auch die Idee einer gewissen Bestandsfestigkeit, Dauerhaftigkeit oder gar Endgültigkeit 98 in Verbindung gebracht. Der Zivilrechtslehrer Friedrich Kübler meinte schon 1969, man solle sich eingestehen, dass die Krise der Gesetzgebung nichts anderes sei als die Normalität einer demokratisch verfassten Industriegesellschaft. Jede Kodifikationsarbeit werde durch die Mechanismen des Parlamentarismus erschwert. Die Gesellschaft habe heute ein steigendes Bedürfnis nach fortgesetzter Anpassung bestehenden Rechts. Die langfristigen Ordnungsaufgaben würden zunehmend von Maßnahmen des Krisenmanagements in der krisenanfälligen Industriegesellschaft verdrängt. 99 J. Esser, ebenfalls Zivilrechtslehrer, stellte die Gegenwart einer vergangenen Kodifikationszeit gegenüber. Der Rationalitätsbegriff habe sich gänzlich geändert. Auch hinter der Gesetzesflut könne die Kraft der Planung stecken. Der Ruf nach Vereinfachung sei heute eine „anachronistische Forderung romantischer Art“. 100 96 S. aber K. Vogel, Rechtfertigung der Steuern . . . Zugleich zur ‚heimlichen Steuerrevolte‘ . . ., Der Staat, 1986, S. 481 ff.; Chr. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung, 1997, S. 2. Auch Waldhoff spricht von „heimlicher Steuerrevolte“. 97 Ähnlich Th. Mayer-Maly, Kodifikation und Rechtsklarheit in der Demokratie, in: Rechtstheorie, 1982, Beiheft 4, S. 208. Ausführlich zur Kodifikation und ihrem Wesen J. Behrend, Die neueren Privatrechts-Kodifikationen, in: F. v. Holtzendorff, Encyklopädie Rechtswissenschaft3, 1876, S. 307 ff. 98 DER SPIEGEL berichtete vor einigen Jahren, P. Kirchhof arbeite am endgültigen deutschen Steuergesetzbuch. 99 JZ 1969, 645 ff., 650 f. 100 J. Esser, Gesetzesrationlität im Kodifikationszeitalter und heute, in: Vogel/Esser, 50 Jahre oberste deutsche Justizbehörde, 1977, S. 13 ff., 19.
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Richtig ist, dass der ständige Wechsel der Zusammensetzung von Regierungen und Parlamenten aufgrund von Wahlen häufig zu Gesetzesänderungen führt, was der Kodifikationsidee nicht entspricht. Jede neue Regierung kommt mit einem neuen Programm oder mit einer Koalitionsvereinbarung, will etwas Eigenes vorzeigen. Der Gesetzgeber der parlamentarischen Demokratie agiert dynamisch. Er wird von Regierungs- und Oppositionsparteien angetrieben. Nach jedem Regierungswechsel, nach jeder Wahl bekommt die Dynamik einen neuen Schub. Die kontinentaleuropäische Kodifikationsidee dürfte unseren Steuerpolitikern überhaupt fremd sein. P. Kirchhofs Kodex-Entwurf ist – wie ich oben zu zeigen versucht habe – aus meiner Sicht auch nicht ohne Fehl und Tadel. Die Vorschriften zum Allgemeinen Teil bringen aus meiner Sicht keine wesentlichen Verbesserungen. Die Auslagerung in das Verwaltungsverfahrensgesetz und andere Gesetze verkürzen zwar den Kodex, erschweren aber die Gesetzesanwendung statt sie zu erleichtern. Der Versuch, eine Belastungsobergrenze einzuführen, hat gegen Etatisten und Fiskalisten leider keine Chance. Die Chancen der Entwürfe der Reformkommission der Stiftung Marktwirtschaft sind ebenfalls – jedenfalls zurzeit – nicht gut. Allenfalls die Vorschläge zur Reform der Einkommensteuer könnten separat umgesetzt werden. Wer steht aber hinter einer wegen der Ausnahmevorschriften ebenfalls komplizierten Allgemeinen Unternehmensteuer? Und ohne Abschaffung der Gewerbesteuer stirbt auch der vernünftige Plan der Reform der Kommunalfinanzen, den die Reformkommission der Stiftung Marktwirtschaft ausgearbeitet hat. Nur einflussreiche, durchsetzungsfähige Politiker können dafür sorgen, dass Gesetze in und durch den Bundestag gebracht werden. Die Kanzlerin ist seit dem enttäuschenden Wahlausgang von 2005 schon nicht mehr auf der Seite von P. Kirchhof, CDU und CSU sind es auch nicht. Sie fürchten: Mit P. Kirchhof und seinem Kodex kann man die nächste Wahl nur verlieren. Finanzminister W. Schäuble hält einen Einheitssteuersatz von 25 Prozent offenbar für politisch unweise und kontraproduktiv. Den Kirchhof-Kodex nennt er wohlwollend „akademisch interessant“, er gehe aber „an der Realität unserer Gesellschaft vorbei“. 101 Der Sprecher der Unionsfraktion tritt für einen progressiven Tarif ein und bezweifelt die Aufkommensneutralität des Entwurfs. Der SPD-Finanzexperte J. Poß bezeichnet die von P. Kirchhof behauptete Tarifgerechtigkeit als „eine Schimäre“. Kirchhofs Einfachsteuerentwurf, so nimmt er an, werde der komplizierten Wirklichkeit nicht gerecht. Auch die Gewerkschaft der Steuerbeamten hat sich von P. Kirchhof abgesetzt. Ihr Vorsitzender Th. Augenthaler äußerte 101 Der SPIEGEL 27/2011, S. 72.
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süffisant: „Das sind Vorschläge, die an einem Lehrstuhl entstanden sind . . . Das sind gut gemeinte Vorschläge, die nicht zu realisieren sind . . . Die Finanzbeamten, die das Modell gutheißen, kenne ich nicht.“ (Es fragt sich allerdings auch, ob viele Steuerbeamte den Kirchhof-Entwurf kennen?, d. V.) Steuerbeamte könnten über den Entwurf nur schmunzeln. Der Präsident der Steuerberaterkammer H. Vinken hält den Entwurf für „nicht durchsetzbar“. 102 Auch wenn das nur Pauschalurteile sind, so wirken sie politisch doch negativ. Der Entertainer Harald Schmidt spottet: „Wer durch ehrliche Arbeit 20 Millionen pro Jahr macht, ist künftig mit fünf Millionen Abzügen pauschal fein raus und kann 15 Millionen in griechische Anleihen investieren.“ 103 Auf der Seite von P. Kirchhof stehen wohl nur noch einige politisch ziemlich ohnmächtige FDP-Mitglieder und Führungskräfte des Bundes der Steuerzahler. So ist es nicht recht vorstellbar, wie es gelingen könnte, den Kirchhof-Kodex ins Bundesgesetzblatt zu bringen. Aber Fundamentalreformer können sich damit trösten, dass es ihnen ohnehin nicht gelungen wäre, es allen recht zu machen. Das Gesetzgebungsverfahren wäre eine einzige Strapaze geworden. Wie immer wären die Oppositionsparteien und die Interessenverbände auf den Plan getreten und hätten versucht, die Medien für sich einzuspannen. Die Reformer hätten vielleicht lesen müssen: „Gerechtigkeits- und Vereinfachungs-Jahrhundertreform als Farce“; „Wirtschaftsfremde Steuerrechtswissenschaftler würgen die Wirtschaft ab“; „Steuerreform ohne Vergünstigungen ist Augenwischerei“; „Professoren-Jahrhundertreform als politischer Reinfall“; „Steuerreform politischer Dilettanten – Stück aus dem Tollhaus“; „SteuervergünstigungsKahlschlag wirtschaftsfremder Steuerrechtswissenschaftler würgt die Wirtschaft ab“; „Blinde Steuerreform aus dem Zylinder ohne politisches Augenmaß“ „zerschlägt den Sozialstaat“; „Demontage des Sozialstaates durch gleiche Steuer für Krankenschwestern und Chefarzt-Millionäre“; „Professoren wollen verfassungsmäßige Steuern abschaffen“; „Professoren wollen den Kommunen die bewährte, verfassungsmäßige Gewerbesteuer wegnehmen“; „Abschaffung aller Steuervergünstigungen größter Wahnsinn seit dem 2. Weltkrieg“; „Große Enttäuschung und Verbitterung über Professoren-Steuerreform“. Solche oder ähnliche Schlagzeilen könnten auch noch nach der Verkündung des Gesetzes laufend erscheinen, wenn der neue Kodex seine praktische Bewährung nicht umgehend bestehen würde. Würden Entwurfsverfasser, die solche oder ähnliche Schlagzeilen lesen müssten, sich nicht wünschen, ihr Entwurf wäre besser als theoretisches Modell in der Schublade geblieben? Oder er wäre besser zunächst nur der Wissenschaft zur Kritik überlassen worden? 102 Zitate nach FAZ v. 25. 7. 2011. 103 Focus 27/2011.
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Da Kampf und Streit um materielle Sonderinteressen in der parlamentarischen Demokratie einen Dauerzustand darstellen, kann es in ihr eine große Steuerreform von Dauer nicht geben. Gleichwohl wäre es zweckmäßig (jedenfalls im Steuerrecht), wenn in Abständen von etwa 30 Jahren die Gesetze entschlackt, entrümpelt, entchaotisiert würden. Als Muster dafür würde sich der unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft zustande gekommene J. Lang-Entwurf m. E. besonders empfehlen. Aber ganz entscheidend ist doch: Die parlamentarische Demokratie ist eine Staats- und Regierungsform des Wandels und Wechsels, was sich auch in der Gesetzgebung niederschlägt – als Wandel und Wechsel statt Stetigkeit. Da erstaunt es, dass nicht nur Rechtswissenschaftler, sondern auch nicht alle Politiker und Journalisten sich dessen bewusst waren oder sind. Finanzminister Alex Möller sprach Anfang der 1970er Jahre von einem Reform-Jahrhundertwerk und steigerte sich sogar zur Idee eines „neuen Systems mit relativem Ewigkeitswert“ (s. S. 1786 f.). Auch Steuerreform-Bundeskanzler Helmut Kohl und sein Finanzminister G. Stoltenberg versprachen eine Supersteuerreform (S. 1794). Abgesehen davon, dass die Konzepte für eine solche Reform nicht taugten: Gegen eine blockierende starke Opposition kann ohnehin kaum etwas gelingen. Selbst Großen Koalitionen, die nur vier Jahre regieren, gelingt keine Große Reform, geschweige denn ein Kodex. DER SPIEGEL informierte seine Leser Anfang 2000 darüber, dass P. Kirchhof am „endgültigen Deutschen Steuergesetzbuch“ schreibe. Aber endgültige Gesetzbücher gibt es nicht, in der dynamischen parlamentarischen Demokratie schon gar nicht. Die Gesetzgebung der unrestringierten parlamentarischen Demokratie ist erfahrungsgemäß unruhig, sie ist „unstet und flüchtig“. Wer etwas anderes annimmt, gibt sich Illusionen hin; bei Politikern kann auch Zweckoptimismus im Spiel sein. Steuerpolitik und Steuergesetzgebung interessieren sich nicht für Prinzipien und Regeln der Steuergerechtigkeit; sie fragen: Was ist politisch oppertun, was ist politisch machbar? Das ist ein erheblicher Unterschied. Es ist gefragt worden, ob es nicht effizienter gewesen wäre, wenn P. Kirchhof und J. Lang kooperiert hätten. Einigkeit mache doch stark, jedenfalls stärker. Die Antwort, die man dazu hören konnte: Eine Zusammenarbeit sei nicht in Frage gekommen, weil der Dogmatiker P. Kirchhof allein seinen Entwurf für richtig halte, sich von abweichenden Lösungen nicht überzeugen lasse. Jedenfalls haben beide Entwurfsverfasser die Kooperation wohl nicht gesucht, aus welchen Gründen auch immer. P. Kirchhof hat sich keinen Namen als Pluralist gemacht. Und bei einer Kooperation hätte J. Lang wahrscheinlich einige Kröten schlucken müssen. 1876
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Sind die Realisierungschancen also aus einer Reihe von Gründen schlecht und käme eine Vollübernahme eines Entwurfs durch den parlamentarischen Gesetzgeber ohnehin nicht in Betracht, so muss noch die Frage beantwortet werden, ob der weithin von der Lobby abhängige Gesetzgeber der parlamentarischen Demokratie überhaupt kodexfähig wäre. Das soll an anderer Stelle erörtert werden (s. S. 1896 ff.). Abgesehen davon: Den steuerpolitischen Herakles, der in der realexistierenden parlamentarischen Demokratie einen – zumal dauerhaften – Steuerrechtskodex durchsetzen könnte, sehe ich nicht. 104
104 Nicht mehr berücksichtigt werden konnte der Beitrag von F. W. Wagner, Warum der ‚große Wurf‘ weder möglich noch nötig ist, FR 2012, 653 ff. und die Erwiderung von P. Kirchhof, Warum eine grundlegende Steuerreform verfassungsrechtlich geboten und politisch notwendig ist, FR 2012, 701 ff. Zu P. Kirchhofs Beitrag nur so viel: Der Text passt nicht zum Titel des Aufsatzes. Im Text wird weder dargelegt oder abgeleitet, dass eine Steuerreform, der „große Befreiungsschlag“, verfassungsrechtlich geboten noch dass er politisch notwendig sei. Im Text gibt es zwar unter III. die Überschrift „Das verfassungsrechtliche Ziel einer Reform“, aber Gebotensein und Ziel sind zweierlei. Im ganzen Text kommt die Verfassung, kommen Ableitungen aus Verfassungsvorschriften nicht vor. Ein Aufsatz wie der in FR 2012, 701 ff. wird die Realisierungschancen des KirchhofEntwurfs m. E. nicht erhöhen. Es ist doch gerade das Verfassungsgericht, das Lenkungsvorschriften von Anfang an zugelassen hat. Wie kann es dann verfassungsrechtlich geboten sein, sie abzuschaffen?
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Teil VII Schluss § 39 Blick nach vorn: Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft 1. Einführung . . . . . . . . . . . . 1879 .. 2. Worin besteht das Wissenschaftliche des Steuerrechts? . . . . . . . . . . . . . . . 1880 .. 3. Zukunftsaufgaben der Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . 1881 .. 4. Disharmonie zwischen Steuerpolitik (Steuergesetzgebung) und Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . 1884 .. 5. Unterschiedliche Vorstellungen über Gesetzgebung als Ursache der Disharmonie?. . 1885 .. 5.1 Steuergesetzgebungsvorstellungen der Steuerpolitik. . . . . . . . . . . . . 1885 .. 5.2 Steuergesetzgebungsvorstellungen von Steuerrechtswissenschaftlern . 1890 .. 5.21 Die wohl herrschende Meinung . . . . . . 1890 ..
5.22 Wertung abweichender Meinungen . . . 1892 .. 5.23 Ergebnis: Steuerpolitik und Steuerrechtswissenschaft können in Sachen „Steuergesetzgebung“ nicht harmonieren. . . . . . . . . . 1896 .. 6. Auf der Suche nach einer Konfliktlösung durch Verfassungsänderung . . . . . . . . . 1898 .. 6.1 Das Konzept von F.A. von Hayek . . . . . . . . . . 1898 .. 6.2 Der Vorschlag von Cay Folkers . . . . . . . . . . . . 1900 .. 6.3 Stellungnahme . . . . . . . 1901 .. 7. Abhilfe durch das Verfassungsgericht wäre möglich – ist aber eine Resthoffnung . . 1903 .. 8. Zusammenfassendes Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . 1906 ..
1. Einführung Zunächst: Der Blick zurück erlaubt uns die Feststellung, dass die Steuerrechtswissenschaft sich trotz immer noch dünner Personaldecke in den letzten Jahrzehnten erstaunlich gut entwickelt hat. Der Erkenntnisfortschritt schlägt sich insbesondere nieder in den Steuerrechtslehrbüchern K. Tipke/J. Lang und D. Birk, ferner in dem Lehrbuch zum Internationalen Steuerrechts von H. Schaumburg. Dass akademische Lehrbücher zu einzelnen Rechtsdisziplinen auf die Frage der Wissenschaftlichkeit ihrer Disziplin eingehen, ist eher die Ausnahme als die Regel. Als Ausnahme kann zum Beispiel das Lehrbuch von U. Haltern zum Europarecht genannt werden. Einen wesentlichen Beitrag zum Erkenntnisfortschritt im Steuerrecht hat die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft geleistet. Ihr Wirken wird in einer 1879
§ 39 Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft
Schriftenreihe dokumentiert. Weitere wissenschaftliche Schriftenreihen kommen hinzu. In der steuerwissenschaftlichen Zeitschriftenliteratur geht die „Steuer und Wirtschaft“ voran. Aber Artikel wissenschaftlichen Gehalts werden auch von anderen Steuerzeitschriften veröffentlicht. Der Erkenntnisfortschritt kulminiert einstweilen in der Erarbeitung mehrerer Einkommensteuergesetzentwürfe, zweier Steuergesetzbuchentwürfe und mehrerer Teilentwürfe (s. S. 1821 ff.)
2. Worin besteht das Wissenschaftliche des Steuerrechts? Es gibt ziemlich viele Juristen, die sich Rechtswissenschaftler nennen, aber keine Antwort auf die Frage parat haben, worin das Wissenschaftliche ihrer Tätigkeit besteht. Auch Steuerrechtswissenschaftler können sich mit einer Antwort schwer tun. Die Annahme, dass Steuerrecht als Wissenschaft betrieben werden könne, ist auch keine Selbstverständlichkeit, weil das Steuerrecht es mit Wertungen zu tun hat. Und über die Frage, wie zu werten ist, lässt sich trefflich streiten. Soll nicht ein Wertungschaos entstehen, so muss eine Wertungslogik (Normlogik, Rechtslogik) entwickelt werden, basierend auf Prinzipien und Regeln, konkretisierend umgesetzt durch Unterprinzipien in Regeln sowie durch die Gebote der Verallgemeinerung (horizontale Folgerichtigkeit), der (vertikalen) Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit. Der Verfasser hat dazu im Teil I dieses Bandes ausführlich Stellung genommen und braucht sich hier nicht zu wiederholen. (Hinweis auf S. 1238, 1247 ff., 1251 ff.). Aber „die“ Steuerrechtswissenschaft gibt es nicht. Niemand sollte sich anmaßen, sie allein repräsentieren zu wollen. Die Diskussion über das Thema „Steuerrecht als Wissenschaft“ steht noch ganz am Anfang. An dieser Diskussion sollten sich möglichst viele Kollegen beteiligen. Es kann nicht befriedigen, dass wir uns Steuerrechtswissenschaftler nennen, aber keine Antwort auf die Frage haben, was das Wissenschaftliche des Steuerrechts ausmacht. Wir sollten uns nicht Steuerrechtswissenschaftler nennen, wenn wir in Wirklichkeit ohne Kompass unterwegs sind. Das können sich gerade die Vertreter einer „Gerechtigkeitswissenschaft“ (K. Vogel), also einer Wertungswissenschaft, nicht leisten. Gerechtigkeit darf eben nicht bloß als irrationales, subjektives Gefühl verstanden werden; sie muss rational und intersubjektiv begriffen werden, rechtslogisch. Sonst kann man mit dem Gerechtigkeitsbegriff nicht wissenschaftlich umgehen. Gerade das Gerechtigkeitsurteil braucht Maßstäbe und für deren Konkretisierung Gebote der Wertungs- oder Rechtslogik. Auch wer der Meinung ist, dass das Steuerrecht als Wissenschaft wertlos sei, mag seine Gründe dafür darlegen. Wer die Möglichkeit der Wissenschaftlichkeit verneint, braucht sich natürlich um die Zukunft des Steuerrechts als Wissenschaft keine Sorgen zu machen. 1880
Zukunftsaufgaben der Steuerrechtswissenschaft
3. Zukunftsaufgaben der Steuerrechtswissenschaft Folgt man den Wissenschaftlichkeitsvorstellungen des Verfassers, so würde die Hauptzukunftsaufgabe zunächst nicht darin bestehen, weitere Gesetzentwürfe zu erarbeiten, sondern erst einmal alle existierenden Steuergesetze darauf zu prüfen, ob sie mit ihrer Bemessungsgrundlage dem Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit entsprechen. Weiter müsste dann geprüft werden, inwieweit die Steuern, das Leistungsfähigkeitsprinzip konkretisierend, den Geboten der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit entsprechen. Dazu müsste auch geklärt werden, ob das Steuerrecht eine rechtliche Einheit darstellt (was P. Kirchhof in seinem Steuergesetzbuchentwurf von 2011 annimmt) oder ob den Artikeln 105, 106 GG zu entnehmen ist, dass das deutsche Steuerrecht ein Konglomerat separater Steuern mit je eigenen Wertungen und nicht steuerübergreifenden Geboten der Rechtslogik darstellt. Wir hätten es dann mit einer separierten Wertungslogik zu tun, nicht mit einer einheitlichen Steuerrechtsordnung. Viel hängt davon ab, wie das Bundesverfassungsgericht sich künftig in diesen Fragen entscheidet. Einstweilen beharrt das Bundesverfassungsgericht noch darauf, dass jede einzelne durch Art. 105, 106 GG erfasste Steuer verfassungsrechtlich tabu sei, als solche gar nicht am Gleichheitssatz gemessen werden dürfe. M. E. stellt es die Verfassungsprüfung auf den Kopf, wenn die Steuern nicht am Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit gemessen werden, sondern das Leistungsfähigkeitsprinzip so zurechtgebogen wird, dass es den Steuern im Sinne der Art. 105, 106 GG entspricht. Die noch herrschende Art. 105, 106 ff.-Theorie widerspricht dem Gebot der Verallgemeinerung des Leistungsfähigkeitsprinzips auf das ganze Steuerrecht. Entweder entspricht eine Steuer dem Leistungsfähigkeitsprinzip oder sie ist als ungerecht aus dem Steuerrecht zu entfernen. Es gibt zahlreiche Ausnahmevorschriften, die das Leistungsfähigkeitsprinzip, aber auch die Gebote der Rechtslogik durchbrechen. Meinen Vorstellungen entspricht es nicht, alle Ausnahmevorschriften ohne sorgfältige Prüfung im Einzelnen radikal zu streichen. Ausnahmen sind immer Ausnahmen von etwas, nämlich von Prinzipien und Regeln. Nicht nur die Ausnahmen, sondern auch die Regeln, die von Ausnahmen durchbrochen werden, sollten aufgelistet werden. Ausnahmen können gerechtfertigt sein oder nicht. Auch M. G. Singer nimmt an, dass es exemptions gibt, die durch strong special grounds gerechtfertigt sind. 1 1 Generalization in Ethics, New York 1971, S. 87, 90, 257. Auch P. Kirchhofs Bundeseinkommensteuergesetzentwurf lässt Ausnahmen zu, z. B. den Ab-
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§ 39 Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft
In der Rechtfertigungsfrage sind m. E. bisher auch noch nicht durchgehend befriedigende Antworten gefunden worden. Je unbeschwerter, lockerer Ausnahmen als gerechtfertigt angesehen werden, desto mehr leidet die Steuergerechtigkeit, die doch im Rechtsstaat einen besonders hohen Wert darstellen sollte (s. S. 1248). Viele Ausnahmen sind das Werk der Lobby, die nicht auf Steuergerechtigkeit aus ist, sondern auf Privilegien für ihre Klientel. G. Crezelius hat die Konsequenzen im Zusammenhang mit so genannten Rück-Ausnahmen untersucht – quer durch Tatbestände der besonderen Steuergesetze. 2 Die Einsicht, die er dabei gewonnen hat, könnte das deutsche Steuerrecht – ohne dass es einer großen Steuerreform „bedürfte“ – zur Entrümpelung des Steuerrechts beitragen. Durch eine gründliche Arbeit über „Regeln und Ausnahmen im Steuerrecht“ könnte für Erkenntnisfortschritt gesorgt werden. Auch Änderungsnormen können Ausnahmevorschriften sein. Gegen die Änderungsnormen besteht durchweg zunächst der Verdacht, dass sie nicht gerechtfertigt sind. Es kann nicht nach Opportunität heute dies und morgen das Gegenteil gerecht sein. Daher sind alle Änderungsvorschriften laufend darauf zu prüfen, ob sie Ungerechtigkeiten schaffen oder beseitigen. Schon gar nicht haben die Änderungsvorschriften allerdings die Vermutung für sich, für mehr Gerechtigkeit und Vereinfachung im Steuerrecht zu sorgen. Auch die Steuervereinfachung ist uns als Rechtsproblem aufgegeben. Nach Art. 3 I GG sind entsprechend dem Gleichheitssatz gleiche Fälle gleich zu behandeln. Die Ungleichbehandlung gleicher Fälle bedarf der Rechtfertigung. Auch das internationale Steuerrecht muss durch Gerechtigkeitskonzepte unterfüttert werden. Insoweit besteht noch viel Nachholbedarf. Abkommenspolitik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung muss ebenfalls Gerechtigkeitspolitik sein. K. Vogel bemerkt zur Doppelbesteuerungsproblematik: „Die Frage nach der gerechten Aufteilung der Besteuerung wird im Allgemeinen nur oberflächlich diskutiert. Meist wird ein einzelnes Argument herausgegriffen, das für sich allein die gerechte Aufteilung der Besteuerung entscheiden soll. Gerechtigkeitsfragen sind aber vielschichtig . . . Was die internationale Aufteilung der Besteuerung angeht, sind sowohl für die Erörterung der individuellen Gerechtigkeit wie für die Gerechtigkeit unter Staaten die Gesichtspunkte der Legitimation, der Gleichbehandlung und der ‚Stimmigkeit‘ (integrity; Dworkin) zu unterscheiden.“ 3 Es wäre zug gemeinnütziger Spenden von der Bemessungsgrundlage sowie den Erlass von Steuern wegen unzumutbarer Härte. 2 FR 2009, 881 ff. 890 re. 3 K. Vogel/M. Lehner, Doppelbesteuerungsabkommen, Kommentar4, 2003, Einleitung Rz. 26.
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Zukunftsaufgaben der Steuerrechtswissenschaft
erfreulich, wenn die Jahrestagung 2012 der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft in Linz/Österreich zum internationalen Steuerrecht auch Erkenntnisfortschritt in der Gerechtigkeitsfrage bringen würde. Wissenschaftler, die sich – zumal ohne Auftrag – daran machen, ein deutsches Musterabkommen zu entwerfen, müssen allerdings damit rechnen, dass die Abkommenspolitik ihnen die kalte Schulter zeigt. Vernachlässigt worden ist bisher auch der internationale Steuerrechtsvergleich, auch schon mangels steuerrechtswissenschaftlichen Personals. Oder wollen wir durch Gesetzentwürfe nur das – zumal europäische – Ausland belehren? Meinen wir, von anderen nichts lernen zu können – außer dass ihre Steuergesetze noch verworrener sind als unsere? 4 Die Steuerrechtswissenschaft hat durchaus auch die Aufgabe, empirische Fragen zu beantworten. Sie kann insoweit bisher wenig vorzeigen, weniger als die Finanzwissenschaft und die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre. Das hängt unter anderem, aber nicht nur mit fehlenden personellen Ressourcen zusammen. Selbst die Aufklärung der Steuergesetzgebungswirklichkeit, der Steuervollzugswirklichkeit und der Wirklichkeit der Steuerstrafverfolgung kommt zu kurz. So müsste u. a. aufgeklärt werden: Welche Wirkungen lösen steuerliche Entscheidungen des Gesetzgebers aus, welche Wirkungen insbesondere steuerliche Lenkungsvorschriften? Wie ist es um die Wirklichkeit der Anwendung von Verständigungsvorschriften bestellt? Wie hoch ist die Steuerhinterziehungsquote, wie hoch die Rückfallquote? Wie viele Steuerstraftäter sind allgemein-strafrechtlich unbescholten? Das sind auch Fragen, die die Kriminologie angehen. Sie hat sich damit bisher aber nicht beschäftigt, und es ist auch nicht damit zu rechnen, dass sie es in Zukunft tun wird. Die Kriminologen machen um Steuern einen Bogen. Überhaupt muss Wissenschaft zwischen theoretischen Idealen und Wirklichkeit unterscheiden. Die Frage, ob und inwieweit die Steuerrechtsordnung „erfüllt“ ist, ist an der Rechtswirklichkeit zu messen, unbeeinflusst durch Ideologie und Interessen. Auch die Wirklichkeit des Steuervollzugs im europäischen Ausland, insbesondere in der Eurozone müsste dringend untersucht werden. Es geht darum, ob die deutschen Steuerzahler im Verhältnis zu den Steuerzahlern etwa in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal die Dummen sind? Auch das müsste unbefangen und unabhängig von politischen Interessen geklärt werden. Der internationale Rechtsvergleich bloß papierener Ge4 Ein bemerkenswertes Buch ist das von V. Thurony, Tax Law-Design and Drafting, International Monetary Fund Vol. 1 von 1996, Vol. 2 von 1998 (dazu Verf., StuW 2002, 150 f.).
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setze hilft allein nicht weiter. Je weniger wir wirklich wissen, desto mehr müssen wir glauben, desto mehr sind wir auf das angewiesen, was man uns aus Interesse glauben machen will. 5 Hinterzogene Steuern werden auch nicht nach Brüssel gemeldet. Sie erzeugen dort Papierarmut.
4. Disharmonie zwischen Steuerpolitik (Steuergesetzgebung) und Steuerrechtswissenschaft Die Beziehungen der Steuerrechtswissenschaft zur Finanzverwaltung sind intakt. Die Steuerrechtswissenschaft zeigt durchaus Verständnis für die schwierige Situation der Finanzverwaltung, insbesondere der Finanzämter, anders als die Steuerpolitik. Die Beziehungen der Steuerrechtswissenschaft zur Finanzgerichtsbarkeit darf man gut und besser nennen. Die Beziehungen zur Steuerpolitik sind leider nicht erfreulich, sie sind eher disharmonisch, soweit man überhaupt von Beziehungen sprechen kann. Individuell kann allerdings auch etwas anderes gelten. Die angewandte Steuerpolitik, die in Steuergesetzgebung mündet, kann der Steuerrechtswissenschaft offenbar wenig abgewinnen. Es mag auch Steuerpolitiker geben, die die Steuerrechtswissenschaft als hinderlich oder gar als entbehrlich ansehen. Wie dem auch sei: In einem freiheitlichen Staat kann man Wissenschaft nicht verbieten, sie ist frei. Es gibt auch keine Bestrebungen, daran etwas zu ändern. Dass Steuerpolitik und Steuerrechtswissenschaft nicht in wünschenswerter Weise harmonieren, ist offensichtlich. J. Hey sieht es so: „Finanzminister sind zu allererst Haushaltsminister mit wenig Interesse an einem gleichheitssatzkonformen Steuerrecht. Als Sparminister in der ersten Hälfte der Legislaturperiode, als Spendierminister wählerwirksamer Wohltaten in der zweiten Hälfte, stets steht die Aufkommenseite im Vordergrund. An einem Regulativ im Parlament fehlt es; die in den Finanzministerien entwickelten Gesetzesvorschläge werden hier nicht auf ihre steuersystematische Konsistenz und rechtliche Zulässigkeit, sondern allenfalls im Hinblick auf die Verwirklichung von Gruppeninteressen einer Überprüfung unterzogen. Neu ist jedoch, mit welchem Nachdruck sich der Steuergesetzgeber gegen die Forderung nach der Bewahrung der steuerlichen Systematik verwahrt und die Fesseln des Verfassungs- und Europarechts abzustreifen versucht. Grundfesten wie das objektive Nettoprinzip werden offen in Frage gestellt und an 5 Ein Grieche berichtet über Griechenland: „Die Steuerpflichtigen . . . zahlen einfach nicht. Die reichen Grundbesitzer, also die einflussreichsten Personen, finden leicht die Methoden, den Staat zu hintergehen, indem sie die Beamten entweder kaufen oder einschüchtern. Die Beamten sind schlecht bezahlt, ohne sichere Zukunft . . . sie haben nicht das Interesse des Staates im Auge . . .“ (www.faz.net/aktuell/wirtschaft/griechenland, 17. 2. 2012).
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Unterschiedliche Vorstellungen über Gesetzgebung zentralen Stellen. . . zurückgedrängt, ohne dass viel Mühe auf eine Rechtfertigung verwendet wird. Beim Gesetzgeber scheint sich eine Mentalität des ‚anything goes‘ breit zu machen. Insbesondere hinsichtlich der Gestaltungsspielräume bei der Ausgestaltung der Bemessungsgrundlage stehen sich Steuerpolitik und Steuerwissenschaft zunehmend uneins gegenüber. Die Fronten sind verhärtet. Steuerpflichtige und Wissenschaft sind in ihrer Machtlosigkeit darauf angewiesen, dass die Gerichte den Steuergesetzgeber, wenn schon nicht an die ökonomische Vernunft, so an die Schranken von Verfassung und Europarecht erinnern.“ 6
Wenn die Steuerpolitik Steuergesetzentwürfe der Wissenschaft übergeht, verschmäht, dann ist das unbefriedigend. Auch wenn die Steuerrechtswissenschaft noch andere Aufgaben hat als Steuergesetze zu kritisieren und Steuergesetzentwürfe zu produzieren: Wir müssen zunächst nach einer Antwort auf die Frage suchen, warum Steuerrechtswissenschaft und Steuerpolitik sich nicht zum allgemeinen Wohl ergänzen. Natürlich wäre es das gute Recht von Steuerpolitikern und ihren Gesetzgebungsgehilfen im Ministerium darzulegen, dass die geltenden Gesetze besser seien als die vorgelegten Entwürfe, dass sie gerechter, verständlicher und einfacher seien. Aber ein Gedankenaustausch über Gesetzgebungsqualität findet nicht statt. Abgesehen davon, dass der Finanzausschuss zu seinen Anhörungen auch Steuerwissenschaftler einlädt, bestehen keine ständigen Kontakte zwischen Steuerpolitik und Steuerrechtswissenschaft. An den oben erörterten privaten Gesetzentwürfen besteht offenbar kein steuerpolitisches, wohl auch kein staatliches Interesse. Die Verfasser dieser Entwürfe haben mehr getan als ihre Pflicht, aber der Undank der Politik scheint ihnen gewiss zu sein. Die Steuerpolitik zeigt der Steuerrechtswissenschaft die kalte Schulter. Sie verweigert den Diskurs. Wer Wert darauf legt, dass sich dieser Zustand in Zukunft verbessert, muss nach den Ursachen der Disharmonie fragen. In der Steuerabteilung des Bundesfinanzministeriums fehlen der Steuerwissenschaft die Diskussionspartner, was Steuerreformideen betrifft. Es ist, als hätten andere oder sie sich – in der Sphäre der Politik lebend – selbst durch vorauseilenden Gehorsam in Sachen Steuerreform einen Maulkorb verpasst. Oder?
5. Unterschiedliche Vorstellungen über Gesetzgebung als Ursachen der Disharmonie? 5.1 Steuergesetzgebungsvorstellungen der Steuerpolitik Was ist Politik, was ist Steuerpolitik? Die Meinungen darüber, was Politik sei, gehen erheblich auseinander. Die Frage kann für die ver6 J. Hey, FR 2008, S. 1033 f.
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schiedenen Arten von Politik auch nicht einheitlich beantwortet werden. Steuerpolitik besteht in der Entwicklung von Steuerideen (theoretische Steuerpolitik) sowie in Maßnahmen zur Umsetzung von Steuerideen in Gesetze (angewandte Steuerpolitik). Steuergesetze dienen dem Zweck, mit Steuern die Tätigkeit der öffentlichen Hand zu finanzieren. § 3 I letzter Satz AO lässt allerdings in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht zu, dass die Erzielung von Steuereinnahmen Nebenzweck sein kann, dass Lenkungszwecke also sogar im Vordergrund stehen dürfen. Wie in der Politik überhaupt, so spielt auch in der Steuerpolitik das Ziel der Machterhaltung oder des Machterwerbs eine wesentliche Rolle. 7 Die Steuergesetze sind ein besonders geeignetes Instrument, auf Wähler zum Zwecke des Machterwerbs oder der Machterhaltung einzuwirken. Die als Steuerpolitiker agierenden Parlamentarier müssen sich in Abständen von vier oder fünf Jahren den Wählern stellen. Bei Wahlen zum Parlament werden die Wähler zwar nicht steuerpolitisch befragt, im Wahlkampf kann die Steuerpolitik aber eine erhebliche Rolle spielen. Gegenüber Steuerlaien eignet sich die Steuerpolitik vorzüglich zum Stimmenfang. So ist die Steuerpolitik besonders wählerspekulativ, verständlicherweise oder gar notwendigerweise. Für Steuerpolitiker pflegt die Steuerpolitik eine Politik wie jede andere zu sein, eine weitgehend frei gestaltbare Politik. Steuerpolitiker gehen vom Primat der Steuerpolitik statt vom Primat der Steuergerechtigkeit aus. Steuerpolitiker und andere Politiker pflegen nicht zu unterscheiden zwischen gerechtigkeitsfernen Politiken (wie Außenpolitik, Umweltpolitik, Verkehrspolitik) und Gerechtigkeitspolitiken (wie Steuerrechtspolitik, Sozialrechtspolitik). 8 „Die“ Steuerpolitik gibt es nicht. Jede Partei, jeder Interessenverband betreibt eine eigene Steuerpolitik, setzt jedenfalls eigene Akzente. Die Politik ist pluralistisch. E. Wiesendahl, der sich mit dem Tätigkeits- und Anforderungsprofil von Politikern befasst, nennt die Berufspolitiker eine „merkwürdige Spezies“. Ihnen fehle „vom Qualifikationshintergrund her aber auch alles, was normalerweise einen Führungsberuf auszeichnet.“ Und wörtlich: „Dies beginnt mit der Besonderheit, dass man durch Wahl zum Politiker wird und nicht durch nachgewiesene Eignung. Bei der Wahl zum Politiker spielen weder die Vorausbildung, irgendwelche Lehrjahre oder Eingangstests noch Schulabschlussoder Examensnoten eine Rolle. Dieses charakteristische Fehlen an normaler Zutrittsbeschränkung, Eignungsbeschränkung und Aufgabenstrukturierung 7 Dazu Max Weber: „Wer Politik treibt, erstrebt Macht – Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele – idealer oder egoistischer – oder Macht um ihrer selbst willen: um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen“ (M. Weber, Politik als Beruf6, Nachdruck 1977, S. 8 f.) 8 Dazu K. Vogel, Steuerrechtswissenschaft als Gerechtigkeitswissenschaft, JZ 1993, 1128; K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 1 Rz. 34.
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Unterschiedliche Vorstellungen über Gesetzgebung macht Politik gewissermaßen zu einem ungelernten Beruf mit diffusem Berufsbild. Berufseinsteiger sind da ‚letztlich Autodidakten‘.“ 9
Politiker pflegen Generalisten zu sein, nicht Spezialisten. Spezialwissen kann sogar kontraproduktiv sein. Die Breite und Fülle der Aufgaben von Abgeordneten ist weithin bekannt. Ihnen obliegt insbesondere: der Einsatz im Parlament (Mitwirkung in Fraktion und Ausschüssen), der Einsatz im Wahlkreis (mit Kontaktpflege zu Wählern, Medien, Vereinen und Verbänden) sowie die Wahrnehmung von Verpflichtungen gegenüber der Partei. Wer nicht um die Gunst der Wähler, der Journalisten, der Verbände und Vereine bemüht ist, muss um seine Wiederwahl bangen. Um mit Intrigen, Kontroversen, Konflikten fertig zu werden, müssen Politiker robuste Nerven haben. Um nicht ständig anzuecken, müssen sie rhetorisch gewandt sein und sich wenn nötig einer inhaltsleeren, unverbindlichen Sprache mit Deutungsspielraum für den eventuellen Rückzug bedienen. Sie müssen Vertrauen erwecken können. Mit Steuertheorie pflegen Praktiker der Steuerpolitik sich nicht aufzuhalten. Sie spielt auch in den Parteien keine wesentliche Rolle. Das gilt auch für Mitglieder des Finanzausschusses. Wie das Gros ihrer Wähler, so befassen sich auch Steuerpolitiker kaum mit steuerwissenschaftlicher oder sonstiger Fachliteratur. Sie sind Pragmatiker und leiden nicht unter Visionen oder Utopien. Notfalls steht ihnen der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages zur Verfügung. Über die Steuermentalität und die Steuerwünsche (wenigstens in ihrem Wahlkreis) pflegen die Politiker aus Erfahrung besser informiert zu sein als Steuerwissenschaftler. Da die Wähler steuertheoretisch anspruchslos sind 10, können es auch die Steuerpolitiker sein. Für Talkshows sollte das Wissen allerdings reichen. Im Wahlkampf genügt die Präsentation von Dreimastern wie „Niedrig, einfach, gerecht“ oder „sozial, umweltbewusst, weltoffen“, in welcher Reihenfolge auch immer. Im Übrigen reichen aus kernige Sprüche wie „Die starken Schultern müssen mehr tragen als die schwachen“, „Die Regierung macht den Reichen Steuergeschenke, indem sie auf die Vermögensteuer verzichtet und auf eine wirksame Einkommensteuerprogression“, „Die X-Partei propagiert die soziale Kälte“, „Die reichen Steuerhinterzieher sind Sozialschmarotzer oder Sozialparasiten“, „Das Steuerrecht ist nur deshalb so kompliziert, weil die modernen Lebensverhältnisse so kompliziert sind“. „Freiheit, Freizeit, Unbekümmertheit wäre zwar für viele Wähler auch eine wirklichkeitsnahe (zugleich zur Vermeidung der Vermögensteuer geeignete) Devise, wird von den Parteien aber verschmäht. 9 E. Wiesendahl, Zum Tätigkeits- und Anforderungsprofil von Politikern, in: Festschrift für H. H. v. Arnim, 2004, S. 170. – Die Diäten von Landtagsabgeordneten können höher sein als die Gehälter junger Professoren. 10 Dazu Bd. III1, 1993, S. 1467 f.
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Nach der Alltagsmeinung wollen Wähler ein möglichst sorgenfreies Leben oberhalb des Existenzminimums führen. Für sich selbst möchten sie möglichst niedrige Steuern zahlen. Auch Steuervergünstigungen werden nicht verschmäht. „People prefer privileges“, meint der niederländische Steuerrechtler Arie Rijkers. 11 Davon gehen wohl auch die meisten Steuerpolitiker aus. Daher setzten sich viele auch zum Zwecke des Stimmenfangs dafür ein, dass ihre Wählerklientel Steuervergünstigungen erhält. Wenn es richtig ist, dass Wähler Privilegien wünschen, handeln Steuerwissenschaftler, die alle Steuervergünstigungen abschaffen wollen, nicht nur dem Willen von Steuerpolitikern entgegen, sondern auch dem egoistischen Wählerwillen zuwider. Auch die Parteiprogramme sollen möglichst viele Wähler einfangen. Den Wählern wird versprochen, den Grundfreibetrag und die Kinderfreibeträge zu erhöhen, die Tarifbelastung für die reiche Minderheit zu verschärfen und für alle anderen zu senken. Ohne Folgerichtigkeit wird ständig am Tarif herumgebastelt. Schon zwei Jahre vor der Wahl 2013 melden die Medien: „Schäuble will die ‚kalte Progression‘ abschaffen“ (allerdings erst vor der Wahl 2013). Auf „Steuergerechtigkeit“ berufen sich als schmückendes, positiv besetztes Beiwort auch Politiker gern. Wenn sie den Begriff aber konkretisieren sollen, geraten die meisten ebenso in Verlegenheit wie ihre Wähler. Viele Wähler halten Steuergesetze für gerecht, nach denen sie selbst nur wenig Steuern zu zahlen haben und die Steuern von anderen verlangen. Für sehr viele gilt: „Gerecht ist, was mir nützt.“ Steuerpolitiker pflegen in Steuersachen über alles ein Urteil zu haben; Aufklärung durch P. Kirchhof meinen sie nicht zu benötigen; einen Ethikrat über Steuern vermissen sie ebenfalls nicht. Dass sie im Allgemeinen nicht Prinzipien und Regeln folgen, nicht den Geboten der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit, verwundert nicht. Der Durchschnittssteuerpolitiker möchte die Steuergesetze im Interesse ihrer Wählerklientel frei gestalten, so als handele es sich beim Steuerrecht nicht um Gerechtigkeitsrecht, sondern um eine gerechtigkeitsferne Materie. Sie wollen „politisch entscheiden“, d. h. politisch opportun. „Wir haben die Mehrheit“ ist das „durchschlagende Argument“. Das gilt auch für Verbände, die unter Verstoß gegen die erwähnten Gebote der Rechtslogik Sondervorteile für ihre Klientel erstreben. Mitgliederstarke Verbände beschränken sich nicht selten darauf, bildlich mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Argumente ersetzt das nicht, auch nicht, wenn es um die Steuerfreiheit der Sonntags- und Nachtarbeitszuschläge für eine bestimmte Gruppe geht. Aber um Argumente geht es eben nicht.
11 A. Rijkers, Ability to pay principle and privileges, StuW 2005, 327, 329.
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Unterschiedliche Vorstellungen über Gesetzgebung
Für die österreichische Steuerpolitik und -gesetzgebung stellen die Steuerrechtswissenschaftler W. Doralt und H. G. Ruppe fest: „Die Entwicklung des Steuerrechts wird in erster Linie von tagespolitischen Gesichtspunkten bestimmt. Fiskalischer Bedarf, gruppenspezifische Wünsche, wirtschaftspolitische Erfordernisse oder gesellschaftspolitische Ziele sind die bestimmenden Faktoren der legistischen Entwicklung. Systematische Erwägungen treten dabei in den Hintergrund . . .“ 12 Diese Feststellung gilt auch für andere Demokratien, wobei die Wählerabhängigkeit eine tragende Rolle spielt. Die Methoden, mit denen Wählerstimmen eingefangen werden, kennen Politiker besser als Steuerrechtswissenschaftler. Daher brauchen sie dazu nicht deren Rat. Es gibt allerdings einige Beispiele dafür, dass Oppositionsparteien die Regierung mit einer geradezu musterhaft steuerwissenschaftlichen Begründung zu einer durchgreifenden Einkommensteuerreform auffordern. 13 Solche Eingaben dürften aber nur der Versuch sein, die Regierung in Verlegenheit zu bringen. Wenn nämlich die antragstellenden Opponenten wieder selbst in der Regierung sind, denken sie nicht daran, sich an ihre eigenen Eingaben aus der Oppositionszeit zu halten. Das gilt für alle Parteien. Der mächtigste Steuerpolitiker ist ein durchsetzungsfähiger Finanzminister. Wenn er den Daumen senkt, werden die Gesetzentwürfe von Steuerwissenschaftlern für die Steuerpolitik zur Makulatur. Die Folgen der beschriebenen Steuerpolitik kann man an ihren Früchten erkennen. An die Stelle systematischer Durchdringung der Steuergesetze tritt Stück- und Flickwerk, bald so, bald so. Prinzipien, soweit sie noch existieren, werden nicht folgerichtig zu Ende gedacht und nicht folgerichtig und widerspruchsfrei konkretisiert. Fast beliebig werden sie durchbrochen. Dadurch werden die Gesetze immer unübersichtlicher und komplizierter. Sie können selbst von Fachleuten nicht mehr beherrscht werden. Loseblattsammlungen produzieren mit jeder neuen Lieferung Datenfriedhöfe. Das Versicherungsrisiko der Steuerberater wächst. Die Steuerberater werden ebenso wie die Steuerbeamten ohne Selbststudium schon nach wenigen Jahren mehr oder weniger zu Steuerignoranten. Die Lehr- und Lernbarkeit des Stoffes wird durch seine Kompliziertheit und Unübersichtlichkeit unnötig erschwert. Die unzusammenhängenden Details überfluten das Gedächtnis und verlieren sich schnell aus ihm, auch wenn der Stoff gepaukt und gebüffelt wird. Viel lernen und wenig verstehen oder 12 W. Doralt/H. G. Ruppe, Steuerrecht Bd. I9, Wien 2007, S. 1 f. 13 BT-Drucks. 13/3701 und 13/3874. Der wesentliche Inhalt der BT-Drucksachen ist abgedruckt in K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuer-Wirrwarr!?, 2006, S. 46 ff. Der Antrag wurde abgelehnt (s. BT-Drucks. 13/6859). S. auch in diesem Band S. 1813 ff.
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einsehen, ist lernunökonomisch. Mit dem immer weiter anwachsenden Konfliktstoff wächst die Notwendigkeit der Spezialisierung. Dadurch entfällt dann allerdings das Denken vom Ganzen her. Man fragt sich, ob die für die Steuergesetzgebung Verantwortlichen sich der Schwierigkeiten bewusst sind, die sie den Gesetzesanwendern bereiten. Offenbar stecken sie in politischen Zwängen, die Abhilfe nicht zulassen. Auch die Klagen der Finanzämter über die Vollzugsschwierigkeiten wegen der unnötig komplizierten Steuergesetze mit der Folge vieler falscher Steuerbescheide bewirken jedenfalls nichts. Der Zustand der Steuergesetze kann nicht anders sein wie er ist, wenn „Tagespolitik“ in die Gesetze eingebracht wird, wenn schwankender fiskalischer Bedarf berücksichtigt wird, wenn Parteien und Verbände ständig mit wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Anliegen kommen, wenn es darüber hinaus zu Kompromissen kommt und zu sachfremden Kopplungen. Es ist gesagt worden, die Ausgewogenheit der Lobby sorge für Steuergerechtigkeit. Die Lobby ist aber nicht ausgewogen; sie ist unsymmetrisch. Im Übrigen darf nicht vergessen werden: Die Wähler sind nicht „unschuldig“ an der Gesetzgebungsmisere; sie erwarten ständig Verbesserungen ihrer (unterschiedlichen) Situation. Das führt zu Aktion und Dynamik der Steuerpolitik. Vor allem vor Wahlen häufen sich die Wählerbeglückungsversprechungen, die zum Teil auch noch vor der Wahl in Gesetze umgesetzt werden. Da die Finanzbehörden dadurch in Anwendungsnot geraten, sehen sie sich gezwungen, die Sachaufklärung zu vernachlässigen, sowie zu Verständigung oder Absprache zu greifen, um die Gesetze irgendwie in den Griff zu bekommen. Für die Finanzgerichtsbarkeit wird die Einführung der „Mediation“ (nicht zu verwechseln mit „Meditation“) angestrebt. Auch ein „iteratives“ Verfahren wird neuerdings empfohlen. Bevor man dieses Fremdwort übernimmt, empfiehlt sich ein Blick in das Fremdwörterlexikon. Mit Fremdwörtern soll wohl vernebelt werden, dass Art. 20 III GG (nach dem vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind) immer mehr in den Hintergrund gerät. Moralphilosophen haben keine Chance, Steuergesetze zu begreifen. Das hindert sie daran, sich mit „Besteuerungsmoral“ zu befassen. 5.2 Steuergesetzgebungsvorstellungen von Steuerrechtswissenschaftlern 5.21 Die wohl herrschende Meinung Geisteswissenschaften sind in einem freiheitlichen Staat pluralistische Wissenschaften, anders in einem totalitären Staat. Die freie Wissenschaft wird selbstredend nicht von einem unfehlbaren Papst diri1890
Unterschiedliche Vorstellungen über Gesetzgebung
giert, der bestimmt, wie und was Wissenschaftler zu denken haben. Wolfgang Schön hat allerdings zutreffend festgestellt, dass die folgenden Grundsätze jedenfalls in der Steuerrechtswissenschaft nahezu überall auf Zustimmung stoßen: p Text und Inhalt der Steuergesetze sind zu vereinfachen; p die Bemessungsgrundlagen sind durch Beseitigung von Ausnahmevorschriften und Lenkungstatbeständen zu bereinigen; p gleichzeitig sind die Steuersätze aufkommensneutral herabzuführen, die Einkommensarten und Vermögensgruppen sind gleichmäßig zu behandeln; p nicht legitime und verzerrende Sondersteuern sind abzuschaffen – diese Forderung gilt vor allem für die Gewerbesteuer; p Bürger und Finanzbehörden sind von überflüssiger Verwaltungsarbeit zu entlasten; p die steuerhoheitlichen Zuständigkeiten des Bundes und der Länder sind klar zuzuordnen; p diese Leitlinien gelten unabhängig von der Höhe angemessener Steuersätze und damit von der Höhe staatlichen Steueraufkommens. 14
Ich möchte hinzufügen: Im Rechtsstaat geht es darum, die Gesamtsteuerlast gerecht und nicht bloß der politischen Macht entsprechend oder dem politischen Gutdünken entsprechend auf die leistungsfähigen Bürger zu verteilen. Die Steuerrechtswissenschaft wird daher auch als „Gerechtigkeitswissenschaft“ bezeichnet. 15 Augustinus hat bekanntlich gefragt: „Was sind Reiche ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden?“ 16 Der Papst hat in einer Ansprache, die er im Herbst 2011 im Deutschen Bundestag gehalten hat, an diesen Satz des Augustinus erinnert. Offenbar war er der Meinung, dass gerade Abgeordnete es nötig hätten, mit diesem Satz konfrontiert zu werden. – Konkretisiert auf Steuern: Nimmt man die Gerechtigkeit weg, so wird aus Steuerrecht bloßes Steuerwesen, bloße Steuerräuberei. Steuergerechtigkeit wird im Steuerrecht vor allem durch Gleichbelastung realisiert. Das entspricht dem Gleichheitssatz, der wie alle Grundrechte vom Gesetzgeber zu beachten ist (Art. 1 III GG). Der Gleichheitssatz wird als Magna Charta des Steuerrechts bezeichnet. Steuergerechtigkeit durch Steuergleichbelastung muss systematisch auf Prinzipien und Regeln aufbauen. Dem Gleichheitssatz entspricht das Leistungsfähigkeitsprinzip als sachgerechter Vergleichsmaßstab. Das Leistungsfähigkeitsprinzip muss verallgemeinert, es muss folgerichtig und widerspruchsfrei konkretisiert werden. Durch diesen Vor14 Vom Gottesstaat IV 4; s. auch W. Schön, Beihefter zu DStR 2008, Heft 17, S. 10. 15 K. Vogel und J. Lang (Fußn. 8). 16 Hans Maier u. a. (Hrg.), Klassiker des politischen Denkens, 1. Band 1968, S. 109.
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gang der Rechtsrationalität oder Systemrationalität entsteht eine wissenschaftlich fundierte Steuergerechtigkeitsordnung oder Steuerrechtsordnung. Wird das Leistungsfähigkeitsprinzip verallgemeinernd und folgerichtig konkretisiert, so werden Gesetzeslücken vermieden; es werden auch Fälle erfasst, an die der Gesetzgeber noch nicht gedacht hat. 17 5.22 Wertung abweichender Meinungen Der Steuerrechts- und Zivilrechtslehrer Wolfgang Schön verteidigt die Steuerpolitik und den Gesetzgeber, mahnt uns zu mehr Respekt vor dem Gesetzgeber. In seiner Kritik an den Kritikern der Gesetzgebung moniert er: „Es gehört zu den routinemäßigen Bauelementen eines steuerpolitischen Kongressvortrags, nach Herzenslust auf die Defizite der in der Politik handelnden Personen hinzuweisen und insbesondere die Abgeordneten in Bundestag und Landtagen sowie die Minister und ihre Ressortmitarbeiter mit Vorwürfen zu belegen. Dabei gebietet es der ‚gute Ton‘ (?) auch, den schädlichen Einfluss organisierter und nicht organisierter Interessengruppen hervorzuheben. Die Mängel unserer Gesetzgebung (und besonders der Steuergesetzgebung) werden vielfach darauf zurückgeführt, dass die falschen Personen an den maßgeblichen Stellen sitzen, dass eine ungesunde Mischung aus fehlender Sachkenntnis und kurzsichtiger Wahltaktik die gesetzgeberischen Entscheidungen beherrscht und eine nicht enden wollende Flut lobbygetriebener Eingaben die Politik davon abhält, sich auf die überzeugenden Grundzüge des Steuersystems zu besinnen. Wer so argumentiert, stellt sehr viel mehr in Frage als nur die Qualität unserer Steuergesetzgebung; er bestreitet im Kern die Funktionsfähigkeit unserer parlamentarischen Demokratie. Und er stellt dieser interessegeleiteten Wahldemokratie das Ideal einer an Vernunft und Objektivität orientierten Herrschaft der Experten gegenüber. Dieses Ideal hat jedoch einen wesentlichen Mangel. Wer entscheidet denn darüber, was die Vernunft gebietet? Welcher . . . – ‚benevolente Diktator‘ soll denn der steuerpolitischen Tugend zum Durchbruch verhelfen? In unserem demokratischen Rechtsstaat muss, wer seinen Mitbürgern gesetzliche Vorschriften machen will, allgemeine, gleiche, geheime und freie Wahlen gewinnen (Art. 38 Abs. 1 GG). Die Politiker, deren steuerpolitischen Unverstand viele beklagen, haben diese Wahlen gewonnen. Und wer das Ergebnis dieser Wahlen bedauert, überzieht letztlich das Wahlvolk mit dem Vorwurf der Unmündigkeit.“ 18
17 Die juristische Systemrationalität hat zwar mit Wertungen zu tun, sie ist aber relativ einfach, wenn man bedenkt, welche Probleme der Ethik sonst aufgegeben werden, man denke z. B. an Abtreibung, Sterbehilfe, Stammzellenforschung, Tierquälerei als Religion usw. Da das Steuerrecht als Wertungswissenschaft keine exakte Wissenschaft sein kann, kann es durchaus zu Fehlkonkretisierungen kommen, auch zu mehreren vertretbaren Konkretisierungen. 18 Beihefter zu DStR 2008, Heft 17, S. 11 f.
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Unterschiedliche Vorstellungen über Gesetzgebung
Vor der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft nimmt W. Schön seinen Faden wie folgt wieder auf: „Welches Verhältnis hat der Steuerjurist zum Gesetz und welches Verhältnis hat er zu dessen Schöpfer, dem Gesetzgeber? Beide haben einen schlechten Ruf. Das Steuergesetz selbst gilt als verworren und prinzipienlos, als unverständlich und unsystematisch. Der Steuergesetzgeber gilt als naiv und kurzsichtig, als getrieben von wahlpolitischem Kalkül, ausgeliefert der raffinierten Lobbyarbeit der Verbände und dem Herrschaftswissen der Ministerialverwaltung . . . Bedarf . . . das Steuergesetz nicht der Hilfe und Fürsorge der ‚Gebildeten unter seinen Verächtern‘, nämlich der Sachverständigen in Gerichtsbarkeit, Wissenschaft, Verwaltung und Beratung? Ist das Steuergesetz mehr als das fragmentarische und verzerrte Protokoll einer ad hoc formulierten Beschlusslage, dem gegenüber wir Steuerjuristen aufgefordert sind, Struktur und System, Gerechtigkeit und Effizienz, Vollziehbarkeit und Billigkeit zu gewährleisten. Darf der Bürger auf ein solches Gesetz und seine Aussagen vertrauen, wenn er weiß, unter welchen sachlichen und zeitlichen Pressionen dessen Formulierungen entstanden sind? . . . Der Gesetzgeber . . . unterscheidet sich von uns, den Steuerfachleuten in einem wichtigen Punkt: Das Volk hat ihn gewählt. Der Souverän, der nach Art. 20 Abs. 2 GG seine Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen ausübt, besetzt den Bundestag und die Landtage, denen nach Maßgabe von Art. 105 GG die Befugnis zur Steuergesetzgebung zukommt. Dieser demokratische Legitimationsakt verleiht den Steuergesetzen, die nach Art. 82 Abs. 1 GG vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet werden, eine Autorität, die keinem juristischen Systemgedanken und keinem ökonomischen Effizienzmodell zu eigen ist: die demokratische und rechtsstaatliche Autorität, in das Eigentum der Steuerbürger einzugreifen und ihnen Jahr für Jahr und in großem Stil wesentliche finanzielle Opfer abzuverlangen. Das Anliegen meines Vortrags besteht darin, diese besondere Autorität und Legitimität des Gesetzgebers und seines Produkts, des Steuergesetzes, verstärkt ins Bewusstsein zu rufen in allen Fragen der Steuerrechtsanwendung . . . wird man immer wieder zu der einen Grundfrage zurückgeführt: Wie ernst nehmen wir das Gesetz? Welches Maß an Bescheidenheit zeigen wir gegenüber dem staatlichen Akt . . ., an dessen Verbindlichkeit wir . . . nicht zweifeln können, ohne die demokratischen Grundlagen unseres Staats- und Steuerwesens in Frage zu stellen . . .“ 19
Man muss Wolfgang Schön dankbar sein für die Freimütigkeit, mit der er seinen Standpunkt vorträgt. Ich werde ihm ebenso freimütig antworten: Wer die Gesetzgebung aufgrund von Maßstäben kritisiert, die aus der Rechtsstaatlichkeit folgen, stellt nicht die parlamentarische Demokratie in Frage. Es geht nicht um die Herrschaft einer Expertokratie, sondern um die Herrschaft von Recht und Gerechtigkeit, die der Herrschaft der Partikularinteressen Grenzen setzen muss. Was die Demokratie betrifft, so halte ich es mit Winston Churchill’s Quotation: „It has been said, that Democracy is the worst form of government except all 19 DStJG Bd. 33 (2010, 30 f.).
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§ 39 Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft those other forms that have been tried from time to time.“ 20 Dem gegenüber ist die Diktatur – auch die des „benevolenten Diktators“ (von dem W. Schön spricht) – die schlechteste, unzivilisierteste aller Staatsformen, weil sie die Bürger zu Untertanen erniedrigt und der Totalitarismus des Diktators vorschreibt, was gedacht und geäußert werden darf, während die rechtsstaatliche Demokratie freie Wahlen kennt sowie freie Meinungsäußerung und ein Zensurverbot. Nur muss gerade Wissenschaft zwischen Idealen und Wirklichkeit unterscheiden, sie darf den Kopf nicht vor der Wirklichkeit in den Sand stecken (auch nicht, um sich die Illusion zu erhalten, die Wirklichkeit entspreche perfekt den Idealen). Die DDR nannte sich Volksdemokratie, aber der Spitzelstaat DDR kannte keine freien Wahlen, keine freie Meinungsäußerung, aber Zensur. Da die Demokratie von Menschen praktiziert wird, läuft in ihr auch nicht alles perfekt. Auch in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion können wir beobachten, wie sich die politische Wirklichkeit leider immer wieder von den vereinbarten Idealen entfernt. Was unser Thema „Gesetzgebung“ betrifft, so geht es nicht um „Kritik um jeden Preis“ (wie die parlamentarische Opposition sie nur zu oft zu üben pflegt), auch nicht um von Partikularinteressen motivierte Kritik, sondern um Kritik aufgrund von ethischen und rechtlichen Maßstäben. Die Mehrheit der Wähler, auch die Mehrheit der Abgeordneten entscheidet nicht immer weise; sie hat nicht immer Recht. 21 Es sind egoistische Wähler und die von ihnen gewählten Politiker (die ihnen unverantwortlich viel versprochen haben), die verantwortlich sind für die extrem hohen Staatsschulden. W. Schön scheint ein „Weichzeichner“ der Wirklichkeit zu sein, um nicht zu sagen: ein Schönfärber. Abgeordnete verdienen keinen „Heiligenschein“, weil sie gewählt worden sind. Sie werden durch die Wahl nicht weiser, erleuchteter, vernünftiger als sie vor der Wahl waren. Auch die Notwendigkeit einer Schuldenbremse in der Verfassung zeigt, wie schnell die Vernunft von Wählern und Abgeordneten an Grenzen stößt. Die Verschuldung folgt dem Wettbewerb der Versprechungen zwischen Regierung und Opposition. In der parlamentarischen Wirklichkeit nehmen die Abhängigkeiten und die damit verbundenen Zwänge zu, trotz Art. 38 I 2 der Verfassung. Die Fraktion bestimmt sogar, wer zu welcher Zeit im Plenum sprechen darf. Abgeordnete sind durchweg parteiisch. Dass sie unparteiische, unabhängige „Vertreter des ganzen Volkes“ zu sein haben, steht auf dem Papier des Grundgesetzes. Viele treiben Klientelpolitik. Würden nur vom Volk gewählte Abgeordnete sich der Steuergesetzgebung annehmen dürfen, so würde wohl wenig Brauchbares dabei herauskommen. Tatsächlich spielen aber doch Nichtgewählte die Hauptrolle in der Gesetzgebung, nämlich die Vorarbeiter im Ministerium und die Interessenvertreter. Ohne diese sachverständige Mitwirkung, wäre es um die „Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie“ (W. Schön) in Sachen Gesetzgebung tatsächlich schlecht bestellt. Man müsste sich auch fragen: Macht es Sinn, dass die, die Gesetze geben, keine Vorbildung für diese Tätigkeit benötigen, während die Gesetzesanwender (Steuerbeamte, Steuerberater, Steuerrichter) Prüfungsleistungen vorweisen müssen? Im Übrigen wird jede Politik nur von 20 Dictonary of Quotations3, Ed. C. Robertson, 1998, S. 83. 21 Damit hat sich in der Zeit der Weimarer Republik bereits der Staats- und Steuerrechtslehrer Albert Hensel auseinandergesetzt (s. in diesem Band S. 1353).
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Unterschiedliche Vorstellungen über Gesetzgebung Wenigen bestimmt, die Mehrheit der Abgeordneten besteht jeweils aus Mitläufern. Viele sind durch die Wahl berufen, „aber nur Wenige sind auserwählt“. Gewählte Parteiführer, obwohl Steuerrechtslaien, halten sich für allkompetent. Wie sie arbeiten, zeigt das Beispiel auf S. 1815 ff. Warum bedienen die Parteioberen sich nicht des Sachverstands der BMF-Steuerabteilung? Indirekt verharmlost W. Schön das Lobbying. Er ironisiert die Lobbykritik. Ist es aber ideal, wenn Politik und Lobbys fest miteinander verbandelt sind, wenn Lobbyisten Politiker werden und Politiker Lobbyisten, wenn Politik und Lobbying, auch wenn es um Steuerpolitik geht (die Gerechtigkeitspolitik sein sollte), wenn Steuerpolitik weitgehend nur noch aus Klientelpolitik, aus Lobbying besteht. Das Verfolgen von nicht zu rechtfertigenden Partikularinteressen ist nicht harmlos. So wie allerdings Beteiligte eines Gerichtsverfahrens ein Recht auf Gehör haben, sollte das auch für von der Gesetzgebung Betroffene gelten. Ein Recht auf Gehör ist aber etwas anderes als das Wirken von pressure groups und das Erwirken von Steuervergünstigungen mit Hilfe von Parteispenden. Die Lobby und ihre Verbindungen zur Politik sind zum Nachteil des demokratischen Rechtsstaates undurchsichtig. In meinem Urteil über das Lobbying mag ich mit W. Schön nicht übereinstimmen, eher wohl mit dem (überparteilichen?) Realpolitiker Peer Steinbrück. Als Finanzminister machte P. Steinbrück seinem Ärger über die Lobbyisten in einem FAZ-Artikel Luft „Lobbyisten in die Produktion“. 22 Warum übergeht W. Schön Art. 1 III GG? Will er zurück nach Weimar, hinter Albert Hensel zurück? Wir dürfen doch nicht übergehen, dass das Grundgesetz keine Demokratie will, in der die Mehrheit des Parlaments immer Recht hat. Es gilt eben nicht: „A parliament can do anything but make a man a woman and a woman a man.“ Art. 1 III GG ordnet die Bindung des Gesetzgebers an die ethisch fundierten Grundrechte an. Das Grundgesetz will eine ethisch fundierte, ethisch veredelte Demokratie. Gerechtigkeitsethik aber ist ohne Prinzipien und Regeln der Vernunft, ohne die Gebote der Wertungslogik nicht denkbar. Es ist eben nicht so, dass der „demokratische Legitimationsakt“ uns dem Willen oder der Willkür der von uns Gewählten ausliefert. Unter grundrechtlich-ethischem Aspekt ist es auch nicht richtig, dass die durch die Wahl verliehene Autorität jedem juristischen Systemgedanken überlegen ist. Die gewählten Abgeordneten sind an die Grundrechte gebunden, die Grundrechte nicht an den Willen der gewählten Abgeordneten. Was die Abgeordnetenmehrheit beschließt, steht „nicht höher als alle Vernunft“, nicht höher als die Wertungslogik. Da Parlamente sich immerhin an die mathematische und naturwissenschaftliche Logik halten, warum soll die Rechts- und Wertungslogik im Meer des weiten Beurteilungs- oder Gestaltungsspielraums versenkt werden? Andere Kritiker – Staatsrechtslehrer und Steuerrechtslehrer – kommen mit dem Vorwurf, der dem Gesetzgeber zustehende Spielraum werde durch ein stringentes Gleichheitsverständnis, insbesondere durch das rechtslogische Gebot der Folgerichtigkeit zu sehr eingeengt. Darauf bin ich an anderer Stelle bereits kritisch eingegangen (S. 1347 ff., 1569). Man kann durchaus Verständ22 FAZ v. 12. 1. 2006. – Der Artikel ist in diesem Band in Auszügen wiedergegeben auf S. 1812 ff. – Zu dreistes Vorgehen kann sich politisch kontraproduktiv auswirken. Das mussten F. J. Strauß und G. Stoltenberg erfahren, als sie die Hobbyflieger begünstigten, ebenso die FDP, als sie eine Vergünstigung für das Hotelgewerbe durchsetzte.
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§ 39 Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft nis dafür haben, dass jüngere Kollegen nicht bloß in den Fußstapfen der Alten wandeln, sondern eine Art Paradigmenwechsel wollen. Nur, ein solcher Wechsel „um jeden Preis“ führt von der Wissenschaftlichkeit weg, nicht zu ihr hin. J. Hey erwähnt kritisch die parlamentarische Maxime „Anything goes“. „Anything goes“ erlaubt Beliebigkeit und Willkürlichkeit und entbehrt jeder Suche nach Objektivität und Gerechtigkeit. Wie kann man Art. 1 III GG aber als „Anything goes“ verstehen und praktizieren? Was den Ton der Juristenkritik an der Steuergesetzgebung betrifft (W. Schön spricht ihn mit Fragezeichen an): Der Ton ist doch moderat im Vergleich zu dem rauhen, wenig sachlichen Ton, der in Parlamentsdebatten herrscht. Derbheiten, Bosheiten und Bissigkeiten kann man als störend unsachlich empfinden. Von Wählern, die Sachlichkeit schätzen, wird die gegenseitige Verunglimpfung, Anpöbelung und Herabsetzung, das Unterstellen von Böswilligkeit und Dummheit (bis hin zum Schwachsinn) mit Steigerungen im Wahlkampf von vielen als demokratieunwürdig empfunden. Im Wahlkampf, in dem alles behauptet werden darf, kommt man ohne den Vorwurf der „Umverteilung von unten nach oben“ nicht aus. Als es 2010 um das Thema „Sponsoring von Parteien“ ging, bezeichneten sich Abgeordnete als Heuchler, Pharisäer, ja sogar als Verbrecher. 23 Wenn unsere Abgeordneten etwas von der Goldenen Regel (s. Bd. I2, 2000, S. 275) gehört haben: Sie praktizieren sie jedenfalls nicht. Es gehört zu den großen Vorteilen der freiheitlichen Demokratie, dass in ihr Schwächen nicht verheimlicht werden müssen, sondern kritisiert werden dürfen. In der Diktatur ist Kritik am Diktator hingegen gesundheitsgefährlich. Man darf nicht einmal feststellen, dass man in einer Diktatur lebt. In der Demokratie dürfen Missstände kritisiert werden, solche Kritik darf nicht als Ruf nach einer Diktatur missverstanden werden. Die Steuergesetze werden nicht nur von Steuerrechtswissenschaftlern und Steuerpraktikern kritisiert, unter den Kritikern finden sich auch Verfassungsrichter und sogar Bundespräsidenten. Moderate Kritik findet man auch in Veröffentlichungen von W. Schön.
5.23 Ergebnis: Steuerpolitik und Steuerrechtswissenschaft können in Sachen „Steuergesetzgebung“ nicht harmonieren Die Steuerpolitik der „interessegeleiteten Wahldemokratie“ (W. Schön) und das Gros der Steuerrechtswissenschaftler harmonieren in Sachen Steuergesetzgebung offensichtlich nicht, und sie können es wohl auch nicht. Der Interessenkampf um materielle Vorteile im Machtinteresse und das Ziel der Steuergerechtigkeit durch Gleichbelastung lassen sich nicht zusammenbringen. Das Streben nach Gruppenwohl führt nicht zum Gemeinwohlziel der Steuergerechtigkeit für alle. Die Legislaturperioden mit ständigem Wechsel der Regierungen und Regierungskoalitionen mit ihrer je eigenen Steuerpolitik lassen das Steuerrecht nicht zur Ruhe kommen. Der Ruf nach Steuersystematisierung und Steuervereinfachung verhallt, weil Systematisierung und Verein-
23 FAZ v. 4. 3. 2010.
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fachung sich mit dem permanenten Interessenkampf nicht vereinbaren lassen. Wenn Gerechtigkeitssuche und -findung nur durch Wertungs- oder Rechtsrationalität ermöglicht wird, lässt sich Gerechtigkeit, auch Steuergerechtigkeit, nicht dadurch finden, – dass eine Parlamentsmehrheit nach dem politischen Gefühl oder entsprechend den von ihr vertretenen Interessen entscheidet, – dass Politiker durch Wahlversprechen und Wahlgeschenke möglichst viele Wähler für sich einnehmen (Stimmenfangpolitik), – dass die Opposition mit den üblichen politischen Mitteln statt mit rechtsrationalen Argumenten Blockadepolitik betreibt, – dass die Parlamentsmehrheit schlicht „politisch entscheidet“, d. h. entsprechend politischer Opportunität, – dass gekungelt, gefeilscht, „geschachert“ (F.A. v. Hayek) statt rechtslogisch argumentiert wird. Wenn wir nach der Gerechtigkeitskompetenz, insbesondere der Parlamentarier, der Steuerrechtswissenschaftler und der Verfassungsrichter fragen, müssen wir zunächst bedenken, was Moralphilosophen lehren. Danach setzt die Entscheidung von Gerechtigkeitsfragen voraus, dass der Entscheidende unabhängig, unparteiisch und unbefangen ist. Danach haben die Parlamentarier (Politiker) schlechte Karten. Sie sind abhängig von ihrer Partei und von ihrer Fraktion (entgegen Art. 38 I GG). „Vertreter des ganzen Volkes“ sind sie nur auf dem Papier der Verfassung. Dass Abgeordnete auch in eigener Sache und auch bei Befangenheit mit entscheiden dürfen, verdanken sie sich selbst als Gesetzgeber. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass es auch unter den Politikern moralphilosophisch Gebildete gibt. Die Mehrheit jedoch geht von einem „Primat der Politik“ aus, nicht von einem Primat der Steuergerechtigkeit und der Rechtsstaatlichkeit, die sich in Art. 1 III GG ausdrückt. Die Mehrheit dürfte Art. 1 III GG-vergessen sein. Allerdings lässt Art. 79 III GG es nicht zu, dass das Parlament Art. 1 III GG abschafft. Immerhin lässt sich die Bedeutung dieses Artikels minimalisieren – auch unter Berufung auf die vielen Staaten, die keine Vorschrift wie Art. 1 III GG kennen. Steuerrechtswissenschaftler mögen im Durchschnitt unabhängiger und unparteiischer sein als Politiker. Moralphilosophische Kompetenz dürfte die Mehrheit von ihnen aber wohl auch nicht für sich in Anspruch nehmen wollen. Im Übrigen haben Steuerrechtswissenschaftler keine Rechtsmacht, ihre Gerechtigkeitsideen durchzusetzen. Unter den Verfassungsrichtern gibt es sicher moralphilosophisch Gebildete; aber nicht jeder kann diese Bildung abrufen, wenn er kaum steuerrechtliche Kenntnisse hat. Aber nicht nur um die Gerechtigkeitsbemühungen des Parlaments ist es schlecht bestellt; es spricht 1897
§ 39 Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft
auch alles dafür, dass der parlamentarische Gesetzgeber weder kodexfähig noch kodexwillig ist. Darüber sollten sich auch Wissenschaftler Klarheit verschaffen, die es noch immer danach gelüstet, dem Parlament kodifizierte Gesetzbuchentwürfe zu präsentieren, für die dieses kein Verständnis hat. Alles, was Rechtswissenschaftler mit der Rechtskodexidee verbinden – Zusammenfassung des Stoffes in einem kohärenten, konzisen, übersichtlichen Gesetzbuch, Orientierung an Prinzipien und Regeln sowie Beachtung der Gebote der Rechtslogik, keine Regeldurchbrechungen durch Privilegien – alles das stört erfahrungsgemäß den parlamentarischen Gesetzgeber. Er möchte sich nicht durch Prinzipien und Regeln, nicht durch Gebote der Rechtslogik binden lassen, sondern so frei gestalten können, wie in jedem anderen Rechtsgebiet. Die Abhängigkeit von Wahlperioden führt zu ständigem Wechsel und Wandel, nicht zu Beständigkeit und Stetigkeit. Obwohl die Demokratie idealiter privilegienfeindlich ist, verwenden Politiker sie gern als Wahlgeschenke. Daher muss man wohl – wertungsfrei – feststellen: Der rechtswissenschaftliche Steuerkodex passt nicht zur real existierenden parlamentarischen Demokratie.
6. Auf der Suche nach einer Konfliktlösung durch Verfassungsänderung 6.1 Das Konzept von F.A. von Hayek Der Nobelpreisträger der Ökonomie F.A. von Hayek ist der Meinung, dass die zeitgenössische Demokratie westlicher Prägung Schwächen habe, die gerechte Lösungen verhindern. Seine Mängelbeseitigungsvorschläge hat er in einem dreibändigen Werk publiziert. 24 F. A. von Hayek sieht das eigentliche Übel in der positivistischen Lehre vom unbeschränkten Willen der Parlamentsmehrheit. Danach dürfe der Gesetzgeber jede Einzelfrage auf jede beliebige Weise lösen, wenn sich dafür eine Mehrheit finde. Auf diese Weise verfehle man aber die Regeln oder Prinzipien der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit basiere auf einem Korpus oder System konsistenter, widerspruchsfreier Regeln oder Prinzipien. Durch das Mehrheitsprinzip könnten keine Regeln der Gerechtigkeit gefunden werden. Werde jede Maßnahme, für die sich eine Mehrheit finde, als gerecht angesehen, so verliere der Begriff der Gerechtigkeit jeden Sinn. Daher sei es erforderlich, dass die Regeln oder Prinzipien der Gerechtigkeit den Willen der 24 Law, Legislation and Liberty, University of Chicago Press, 1973–1978. Deutsch: Recht, Gesetzgebung und Freiheit, 1980/81.
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Konfliktlösung durch Verfassungsänderung
Majorität einschränken. Entscheidungen, die nicht auf Regeln gerechten Verhaltens beruhen, seien willkürlich. Die Parlamentarier verfolgten Partikularinteressen von politischer Bedeutung. Politisches Schachern mit den Interessenverbänden beherrsche die zeitgenössische Demokratie und ihre Gesetzgebung. Der Gruppenegoismus sei Hauptursache für Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft, er sei zugleich ihre Hauptbedrohung. Statt dem Gemeinwohl zu dienen, seien Politiker ständig damit beschäftigt, Sondergruppen zufrieden zu stellen oder zu beschwichtigen. Die Macht der Politik werde nicht durch Regeln begrenzt, sondern durch die Notwendigkeit des Stimmenfangs oder Stimmenkaufs sowie durch das Schmieren und Belohnen von Sonderinteressen bestimmt. Unvermeidbares Attribut unbeschränkter, omnipotenter Herrschaft sei eine inhärente Korruption, unterstützt von zahlreichen Interessengruppen. F.A. v. Hayek spricht vom „Erpressungs- und Korruptionssystem“ der Politik. Erlaubt sei alles, was dem Stimmenfang diene. Eine Regierung könne sich nur halten, wenn sie eine hinreichend große Zahl von pressure groups befriedige. Dieses Verhalten sei nicht den Politikern anzulasten, es sei systemimmanent. Thesen von F.A. von Hayek 25: „Freiheit kann nur erhalten werden, wenn man Prinzipien folgt, und sie wird zerstört, wenn man der Zweckmäßigkeit folgt.“ „Abstrakte Regeln fungieren als höchste Werte, weil sie unbekannten besonderen Zielen dienen.“ „Eng verknüpft mit den Kriterien der inneren Konsistenz als eines Mittels, ein System von Verhaltensregeln weiterzuentwickeln, sind die Fragen der Verallgemeinerung (Generalisierung).“ „Ein isolierter Zwangsakt ist immer ein ungerechter Akt, weil er unternommen wird, ein bestimmtes Resultat zu erzielen, ohne sich darauf festzulegen, denselben Akt in allen Fällen zu wiederholen, in denen die durch eine Regel definierten Umstände dieselben sind.“ „Es gibt eine zwingende Notwendigkeit, von einer Mehrheit zu verlangen, ihre Entscheidung unter Beweis zu stellen, indem sie sich auf die universale Anwendung der Regeln festlegt, in denen sie in einem Einzelfall handelt.“ „Die Zwangsgewalt der Mehrheit sollte auf die Durchsetzung von Regeln beschränkt werden, auf die sie willens ist, sich selbst festzulegen.“ „Die Wähler einer ‚Legislative‘, deren Mitglieder hauptsächlich damit beschäftigt sind, sich die Stimmen bestimmter Gruppen dadurch zu sichern und zu erhalten, dass sie ihnen besondere Vergünstigungen verschaffen, werden sich kaum um das sorgen, was andere erhalten und ausschließlich damit beschäftigt sein, was sie selbst bei der Feilscherei gewinnen.“ „Vorzugeben, dass die demokratischen Legislativen alle die Subventionen, Privilegien und anderen Wohltaten, deren sich so viele Sonderinteressen heutzutage erfreuen, deshalb gewährt haben, weil sie sie für gerechtfertigt hielten, wäre selbstverständlich einfach lächerlich.“ „An einer ‚Schacher‘-Demokratie, die Spielball von Gruppeninteressen ist, scheitert das demokratische Ideal.“ „Trotzdem ist die gesamte Praxis der öffentlichen Finanzen in dem Bestreben entwickelt worden, den Steuerzahler zu überlisten und ihn zu veranlassen, mehr zu zahlen, als ihm bewusst ist
25 F.A. v. Hayek pflegt seine Thesen des Öfteren zu wiederholen, nicht immer mit dem gleichen Wortlaut.
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§ 39 Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft . . .“ „Um ihre Funktion zu erfüllen, müssen Regeln auf Dauer angelegt werden.“ „Gesetzgebung durch Parteien führt zum Zerfall der demokratischen Gesellschaft.“ „Nicht Einzel-, sondern Gruppenegoismus ist die Hauptbedrohung.“ „Eine ‚Schacher‘-Demokratie ist der Spielball von Gruppeninteressen.“ „Wenn keine höhere richterliche Autorität die Legislative daran hindern kann, bestimmten Gruppen Privilegien zu gewähren, dann findet die Erpressung, der die Regierung sich unterworfen sieht, keine Schranken.“
F.A. von Hayek erwartet nun nichts davon, den Parlamenten ins Gewissen zu reden, sie möchten endlich Regeln gerechten Verhaltens folgen. Er verwirft völlig die unbeschränkte, durch keine Verfassung gebundene Demokratie (wie die englische), aber hält auch nichts von der „harmlosen Waffe“, einer gerichtlichen Verfassungskontrolle (wie die amerikanische oder deutsche), die es nicht vermöge, den Gesetzgeber an Regeln des gerechten Verhaltens zu binden und ihn immun zu machen gegen die Forderungen der Interessengruppen. Vielmehr verlangt er zwei repräsentative Körperschaften, nämlich – die Legislative Versammlung: Sie soll die Gesetzgebung in engerem Sinne besorgen, d. h. für von Hayek universale, einheitliche Regeln gerechten Verhaltens für eine unbekannte Zahl künftiger Fälle festlegen, insbesondere auch verallgemeinernd die Prinzipien der Besteuerung. Da diese Versammlung unparteiisch für Gerechtigkeit eintreten soll, ohne Rücksicht auf die Auswirkung auf bestimmte Individuen oder Gruppen, soll die Versammlung sich zusammensetzen aus wirtschaftlich unabhängigen, aber auch parteiunabhängigen Personen reifen Alters (zwischen 45 und 60 Jahren) in respektabler Position; – die Regierungsversammlung: Sie soll die eigentlichen Regierungsgeschäfte ausüben. Ihr Hauptgeschäft soll von einem Exekutivausschuss besorgt werden (der eigentlichen Regierung, Kabinett), aber gebunden an die von der Legislativen Versammlung fixierten Regeln gerechten Verhaltens. Die Regierungsversammlung, auf Parteienbasis gebildet, soll unter der Kontrolle und Kritik der Opposition arbeiten. 6.2 Der Vorschlag von Cay Folkers Der Finanzwissenschaftler Cay Folkers stellt in einem Beitrag, der überschrieben ist mit „Eine Einkommensteuer für die Demokratie“ 26 folgende Diagnose: Steuerreformen folgen Wahlgesichtspunkten . . . Die Gründe . . . liegen im politischen Prozess der Steuerreformen und stellen jenseits aller parteipolitischen Interessengegensätze generelle Defekte der politischen Entscheidungsmechanismen dar. Im Zuge der Reformhektik spielen Prinzipien gerechter und effizienter Besteue26 In: Festschrift für P. Bareis, 2005, S. 89 ff.
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rung kaum eine Rolle; es wird nahezu alles zur Disposition gestellt und wieder zurückgenommen. Anstelle grundsätzlicher Entscheidungen erfolgen Maßnahmen nach partikulären Interessen. Die zunehmende Beliebigkeit steuerpolitischer Maßnahmen ergibt ein steuerliches Chaos als Ergebnis der Geschichte früherer Steuerreformen . . . Erneut geht es allein um Steuerausfälle und Gruppeninteressen, nicht jedoch um steuerpolitische Grundsätze. Steuerpolitik ist . . . zu einer Politik nach Interessen, nicht nach Prinzipien verkommen. Steuerpolitik macht aus der Notwendigkeit einer von allen Bürgern akzeptierten Finanzierung ihrer gemeinsamen Anliegen eine großangelegte Maschine zur wechselseitigen Begünstigung bzw. Diskriminierung unterschiedlicher Gruppen. Generelle Grundsätze, die für alle gleichermaßen und nicht diskriminierend gelten, sind immer weniger vermittelbar, die Strukturen werden zunehmend beliebig und die entscheidenden Argumente für Reformen drücken Opportunismus aus. Die Folge: „Diese Entwicklung ist . . . auch als Problem des Rechtssystems und der Demokratie insgesamt von Bedeutung . . . Die Logik steuerpolitischer Entscheidungen in der Mehrheitsdemokratie bedeutet für die Bürger hohe politische und ökonomische Instabilität und Ineffizienz ohne Aussicht auf Durchsetzung einer nach irgendwelchen Kriterien als gerecht anzusehenden Besteuerung . . .“ (S. 100 f.). C. Folkers möchte eine prinzipiengerechte Besteuerung durch die Verfassung herbeiführen, die Verfassung also ergänzen. Er macht dazu aber keinen konkreten Formulierungsvorschlag. 6.3 Stellungnahme F.A. von Hayek und C. Folkers geben die Wirklichkeit der Gesetzgebung in der parlamentarischen Demokratie m. E. zutreffend wieder, während nicht Wenige die Wirklichkeit leugnen, verdrängen oder schönfärben. Auch gibt es den Versuch, dem Faktischen Normativität zu unterschieben. Da fast alle Abgeordneten Parteigänger sind, nicht unparteiisch sind, kann aus ihrem Interessenkampf keine Gerechtigkeit entstehen. Sie sind in der Wirklichkeit nicht „Vertreter des ganzen Volkes“ (Art. 38 I 2 GG), sondern Vertreter der Interessen ihrer Wählerklientel. Anders als Beamte und Richter dürfen sie sogar straflos korrupt sein, weil die Abgeordnetenmehrheit es so will oder zulässt. F.A. v. Hajek geht an die Wurzeln. Er sieht die Ursache für die mangelhafte Gesetzgebung in der parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung. Da sie auch Willkürentscheidungen der Parlamentsmehrheit zulässt, tritt er für eine Reform der Demokratie ein. Sein Vorschlag, eine „legislative Versammlung“ einzuführen, lässt sich m. E. jedenfalls auf absehbare Zeit nicht realisieren, isoliert in 1901
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Deutschland schon gar nicht. Jedenfalls sehe ich nicht solche Chancen. Das Konzept von F.A. v. Hayek ist in der Literatur zwar nicht unfreundlich aufgenommen worden, aber kein Politiker hat sich daran gemacht, es in der Politik umzusetzen. Auch die Politikwissenschaftler sind – ob aus Überzeugung oder nicht – im main stream geblieben. Da die Umsetzung in der Verfassung erhebliche Ergänzungen bzw. Änderungen verlangen würde, wäre die Gründung einer Partei erforderlich, die diese Umsetzung mit Erfolg betreiben müsste – wie Martin Luther die Reformation betrieben hat. Alles in allem will auch F.A. von Hayek Gerechtigkeit durch Regeln oder Prinzipien hergestellt wissen. Aber unsere Abgeordneten werden sicherlich ganz überwiegend an den Praktiken der real existierenden parlamentarischen Demokratie festhalten wollen, zumal sie überwiegend wohl nicht die Voraussetzungen erfüllen, die von Hayek an die Mitglieder seiner „legislativen Versammlung“ stellt. Wir können davon ausgehen, dass unsere Abgeordneten sich nicht selbst abschaffen wollen, sondern ihren Besitzstand erhalten wollen. Da das Modell der „legislativen Versammlung“ unerprobt ist, weiß man nicht, ob diese sich in der Praxis tatsächlich bewähren würde. Auch die Mitglieder der „legislativen Versammlung“ würden menschliche Schwächen haben und unterschiedliche Auffassungen über Prinzipien der Gerechtigkeit. 27 Der Herakles oder Herkules, der die Vorstellungen von F.A. v. Hayek von einer besseren Demokratie politisch durchsetzen könnte, ist weit und breit nicht zu sehen, auch ein Martin Luther der Demokratiereform nicht. Auch der Vorschlag von C. Folkers, das Grundgesetz zu ändern, dürfte keine Realisierungschancen haben. Unsere Abgeordneten haben zwar dafür gesorgt, dass sie nicht wegen Bestechlichkeit bestraft werden können, auch das gruppeninteressierte Wirken der vielen Interessenverbände ist ganz offensichtlich. Gleichwohl dürften unsere Politiker leugnen, dass wir eine „Schacher“-Demokratie hätten. Und fast alle Politikwissenschaftler sind Apologeten der gegenwärtigen Form der Demokratie. Vom Bundespräsidenten ist auch nicht zu erwarten, dass er das Gegenwartssystem der westlichen Demokratie, insbesondere das Treiben der Interessenverbände, kritisiert. Eher ist anzunehmen, dass das Thema „Freiheit und Verantwortung“ so hoch angesetzt wird, dass die real existierenden Mängel, die W. Churchhill nicht leugnete, nicht berührt werden. Immer muss man damit rechnen, dass Kritik am herrschenden System als „politische 27 Zum Konzept von F.A. von Hayek haben auch Staatsrechtslehrer kritisch Stellung genommen, z. B. W. von Simson, Der Staat 1979, 404 ff.; H.-H. Rupp, Zweikammersystem und Bundesverfassungsgericht, in: Festgabe für F.A. von Hayek, 1979, S. 95 ff. Hinweis auch auf Eike von Hippel, in: Festschrift für H. H. von Arnim, 2004, S. 84. – Eigene Stellungnahme in StuW 1983, 1, 8 f.
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Abhilfe durch Verfassungsgericht
Inkorrektheit“ behandelt wird. Der Zivilrechtslehrer und Rechtsphilosoph Johann Braun musste erleben, dass in Bayern gegen ihn ein Disziplinarverfahren eröffnet wurde, weil er die innere politische Verfassung Deutschlands kritisiert hatte. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Abgeordneten der Regierungsparteien und der Oppositionsparteien – den Idealen der Demokratie entsprechend – sachlich miteinander umgehen und aufeinander eingehen würden. Das tun sie leider zu selten. Der frühere SPDVorsitzende und Oppositionsführer Rudolf Scharping hat einmal geäußert: „Wir als Opposition haben nicht die Aufgabe, ‚den Mist der Regierung zu parfümieren‘.“ Wenn auf der anderen Seite die Regierung auf dem Standpunkt steht, sie habe nicht die Aufgabe, den von der Opposition „eingebrachten Mist zu parfümieren“, sind wir von einer im Sinne des Gemeinwohls idealen Demokratie leider ziemlich weit entfernt. Viele Politiker nehmen offenbar an, dass Schmähungen und Abwertungen des Gegners beim Durchschnittswähler ankommen und die Aussichten der Wiederwahl erhöhen. Aber wie ist es zu erklären, dass das Ansehen der Verfassungsrichter ganz erheblich höher ist als das Ansehen der Politiker?
7. Abhilfe durch das Verfassungsgericht wäre möglich – ist aber eine Resthoffnung Von der real existierenden „interessegeleiteten“ Parteien- und Verbändedemokratie können wir als Realisten nach den Erfahrungen in den letzten 50 Jahren kein gerechteres, rechtsrationaleres, einfacheres, rechtsstaatlicheres Steuerrecht erwarten. Alle Hoffnungen darauf müssen Realisten fahren lassen. Nicht ohne Grund wird von Illusion und Utopie gesprochen. Deutschland hat allerdings – abweichend von anderen (nicht von allen anderen) Demokratien – den Vorzug, ein Verfassungsgericht als Hüter der Verfassung zu haben. Aber obwohl die Anwendung der Grundrechte der Verfassung die Fortsetzung der (Steuer-)Politik mit notwendigerweise juristischen Mitteln ist: Wie auch das Beispiel von Verfassungsgerichten anderer Staaten zeigt, kann ein Verfassungsgericht sich durch iudicial self restraint – ausgelöst etwa durch den Vorwurf, das Verfassungsgericht treibe Politik oder Ersatzgesetzgebung – rechtsstaatlich zur lame duck machen. Auch der Vorwurf, das Verfassungsgericht nehme der Steuerpolitik und dem Steuergesetzgeber zu viel Gestaltungsspielraum, kann diese Wirkung haben. Von einem Gericht, das sich durch solche Kritik beeindrucken lässt, können wir kaum Besserung der Gesetzgebungssituation erwarten, auf ein solches Gericht können wir wenig Hoffnung setzen. 1903
§ 39 Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft
Das Bundesverfassungsgericht muss wirksam dafür sorgen, dass der (Steuer-)Gesetzgeber Art. 1 III GG beachtet, d. h. für das Steuerrecht, dass das Verfassungsgericht den Gesetzgeber in die Maßstäbe und Schranken eines rechtsstaatlich verstandenen Gleichheitssatzes (der Ausfluss der Steuergerechtigkeit ist) verweist. Es nimmt sich indessen oft schon zu Beginn seiner Begründung durch den Kernsatz zurück, der Gesetzgeber habe einen weiten Gestaltungs- oder Beurteilungsspielraum. 28 Mit diesem unbestimmten Leitsatz kann man fast ein „Anything goes“ erreichen, aber eben keine Steuergerechtigkeit. Wer akzeptiert, dass das Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit das Basisprinzip der Steuergerechtigkeit ist, der verletzt das Gebot der Folgerichtigkeit, wenn er es zulässt, dass der Gesetzgeber die Steuergegenstände frei auswählen darf. Zu dieser Inkonsequenz ist das Bundesverfassungsgericht wohl verleitet worden, weil es sich der Wacke/Vogel-Lehre angeschlossen hat, wonach alle in Art. 105 f. GG aufgeführten oder erfassten Steuern verfassungsgerichtlich tabu seien. Den Anschluss an diese Lehre sollte das Verfassungsgericht aufgeben. Mit ihr werden wir z. B. die gänzlich verkorkste Gewerbesteuer (sowie die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern) nie los, weil die Kämmerer und die Lobby der Kommunen weit davon entfernt sind, rechtslogisch zu denken. Sie denken einseitig fiskalisch und sind von Reformern nicht davon zu überzeugen, dass es gerechtere Steuern gibt, mit denen die Kommunen finanziell nicht schlechter, eher besser gestellt werden könnten. 29 Die Wacke-Vogel-Lehre schützt in Wirklichkeit antiquierte, verfassungswidrige Steuern und ihren Bestand – ein sicher ungewolltes rechtsstaatliches Eigentor. Der Gesetzgeber muss das Leistungsfähigkeitsprinzip folgerichtig und widerspruchsfrei konkretisieren. Obwohl das Konkretisieren dem Gesetzgeber durchaus Wertungsspielraum belässt, würde ich den Wertungsspielraum nicht als Gestaltungsspielraum bezeichnen. Konkretisieren ist kein freies Gestalten. Wie ist es mit dem Spielraum bei der Festlegung des Tarifs bestellt? J. Hey bemerkt dazu: „Keinem Zweifel unterliegt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Festlegung der Steuersätze. Es handelt sich geradezu um das Herzstück politischer Gestaltungsmacht.“ 30 M. E. sollte man diese Feststellung nicht 28 Dazu in diesem Band S. 1562 ff. Hinweis auch auf J. Hey, Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und Sicherung des Steueraufkommens, FR 2008, 1033 ff. 29 Dazu aus jüngerer Zeit H. O. Solms, Die Erhebung der Gewerbesteuer (k)eine unüberwindbare Hürde für eine große Steuerreform?, in: Festschrift für J. Lang, 2010, S. 439 ff.; R. Seer, Eine Bürgersteuer wäre besser als Sauna- und Sexsteuern, FAZ v. 19. 10. 2011, S. 19. Es scheint so, als ginge eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass die „Kamele“ in den kommunalen Spitzenverbänden sich von der Gewerbesteuer trennen. 30 FR 2008, 1034 li.
1904
Abhilfe durch Verfassungsgericht
missverstehen. Wenn man davon ausgeht, dass der Steuergesetzgeber vom Staatsbedarf her denken dürfe, nicht von der Leistungsfähigkeit der Bürger ausgehen müsse, darf der Gesetzgeber den Spitzensatz eines progressiven Tarifs zwar weitgehend frei (ohne verfassungsjuristische Einschränkungen) bestimmen, er verletzt aber die Steuergerechtigkeit, wenn er den Tarifverlauf aufgrund von fiskalischen Motiven nicht linear verlaufen lässt, sondern mit fiskalisch motivierten Ausbuchtungen arbeitet. Der Zustand der Steuergesetze beweist hinreichend, wie viel Gestaltungsspielraum das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber bisher belassen hat und auf welche Weise der Gesetzgeber diesen Spielraum genutzt hat. Ich verstehe die Motive der Kollegen nicht, die dem Verfassungsgericht die Rechtsmacht beschneiden wollen, den Auswirkungen von Gruppenegoismus oder Lobbyismus auf die Gesetzgebung Grenzen zu setzen. Fachfremde, die vom „Abwürgen der legislativen Gestaltungsfreiheit im Steuerrecht“ sprechen, wissen vielleicht nicht, was sie tun. Soll man ihnen zurufen: „O, si tacuisses . . .?“ Vom Bundesverfassungsgericht kann man keine grundlegenden steuerrechtlichen Innovationen erwarten, etwa den Ersatz des Leistungsfähigkeitsprinzips durch ein anderes grundlegendes Prinzip. Welches Prinzip könnte es denn überhaupt sein? Das Verfassungsgericht muss sich aber nicht mit Floskeln begnügen, es sollte Maßstäbe setzen. Es sollte zeigen, wie das Leistungsfähigkeitsprinzip sich rechtslogisch konkretisieren lässt. Mit anderen Worten: Das Bundesverfassungsgericht kann zwar keine große Steuerreform herbeijudizieren, aber es kann kraft seiner Gerechtigkeitskompetenz rationale Maßstäbe setzen und vorgeben, statt sich mit einem weiten Gestaltungsoder Beurteilungsspielraum aus Problemen herauszureden. Nach J. Lang stellt sich die „deutsche verfassungsrechtliche Theorie und Praxis wohl als die strengste der Welt“ dar. Aber alles ist relativ. 31 Leider ist zu befürchten, dass die Berufung auf weite Spielräume noch zunehmen wird, wenn es keine Verfassungsrichter mehr geben wird, die sich wirklich auch als Steuerrechtsexperte bezeichnen können. Verfassungsrichter müssen Experten (1) im Verfassungsrecht und (2) im verfassungsrechtlich zu überprüfenden Fachrecht sein 32. Das heißt nicht, dass alle Details beherrscht werden müssen, die Richter müssen aber das System des anzuwendenden Fachrechts entwickeln und aufzeigen können. Sie müssen in Steuersachen auch mit den wirtschaftsbezogenen Problemen des Unternehmensteuerrechts, mit 31 DStJG Bd. 24 (2001), 54 f. – In vielen Ländern gibt es in der Tat keine oder allenfalls eine schwache richterliche Kontrolle des Gesetzgebers, ist eine Vorschrift wie Art. 1 III GG unbekannt. 32 Weil unsere Moralphilosophen steuerrechtlich inkompetent sind, befassen sie sich verständlicherweise nicht mit der Steuergerechtigkeit.
1905
§ 39 Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft
Bilanz- und Bewertungsproblemen (die in der juristischen Ausbildung stark vernachlässigt werden) fertig werden können. Die ungelösten Grund-Kernfragen des Unternehmensteuerrechts sind Gerechtigkeitsfragen. Je weniger das Verfassungsgericht seine Aufgabe wahrnimmt, rationale Maßstäbe zu setzen, desto mehr werden Prinzipienund Regellosigkeit, damit auch Unwissenschaftlichkeit sich entfalten, desto mehr werden sich Ungerechtigkeiten einstellen sowie Reibungsverluste im Gesetzesvollzug. Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt Konkretisierungsspielräume. Ich würde z. B. nicht ableiten, dass nur das Splitting eine gerechte Ehegattenbesteuerung sei, nicht aber die Individualbesteuerung. Das Problem des Homosexuellen-Splitting würde sich dann gar nicht stellen.
8. Zusammenfassendes Nachwort (1) Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob Steuerrecht wissenschaftlich gehandhabt werden kann, bin ich davon ausgegangen, dass Steuerrechtswissenschaft hauptsächlich „Gerechtigkeitswissenschaft“ (K. Vogel) sein muss. Daher war ich stärker gerechtigkeitsethisch orientiert, als grundrechtsorientierte Staatsrechtslehrer es zu sein pflegen – mit dem Ergebnis, dass die Steuerrechtswissenschaft, die als Gerechtigkeitswissenschaft Wertungswissenschaft ist, keine exakte Wissenschaft sein kann – wie die empirischen Naturwissenschaften es sind. Die Steuerrechtswissenschaft als Gerechtigkeitswissenschaft muss sich aber der Rechts- oder Wertungslogik bedienen. In der Gerechtigkeitsethik ist allgemein anerkannt, dass Gerechtigkeit auf Prinzipien und (oder) Regeln gegründet werden muss, dass gerecht handeln oder belasten heißt: entsprechend Prinzipien und Regeln handeln oder belasten. Die Prinzipien und Regeln müssen durch das Gebot der Verallgemeinerung (horizontale Folgerichtigkeit) zu Ende gedacht und durch die rechtslogischen Gebote der (vertikalen) Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit konkretisiert werden. Steuerpolitik und Steuergesetzgebung, die keinen Prinzipien und Regeln folgen, sich nicht an die Gebote der Rechtslogik halten, sondern opportune Politik betreiben, können auf die Dauer das Steuerrecht nur entwissenschaftlichen und entrechtlichen. (2) Auch Steuerrechtswissenschaft muss von der Wirklichkeit ausgehen, darf diese nicht verdrängen oder schönreden. Daher war es geboten zu untersuchen, inwieweit die Wirklichkeit der Steuergesetzgebung, des Steuervollzugs und der Handhabung des Steuerstrafrechts mit den ihnen zugrunde liegenden Rechts- und Gerechtigkeitsidealen übereinstimmen. Das Ergebnis dürfte nicht erstaunen: Rechts1906
Zusammenfassendes Nachwort
wirklichkeit und Rechtsideale fallen mehr oder weniger weit auseinander, mit anderen Worten: Die Besteuerungsmoral des Staates lässt zu wünschen übrig. (a) Die Steuergesetzgebung beachtet zu wenig Art. 1 III GG, der die Gesetzgebung an die Grundrechte bindet, an den Gleichheitssatz zumal. Es wird zu wenig beachtet, dass Deutschland eine rechtsstaatliche, eine grundrechtsgebundene Demokratie ist, keine Demokratie, in der die Mehrheit der Abgeordneten kraft Fiktion immer gerecht entscheidet. (b) Steuergesetzgebung und Steuervollzug müssen zusammenwirken, aufeinander abgestimmt sein. Steuergerechtigkeit verlangt nach einem effizient-gleichmäßigen Steuervollzug entsprechend dem unterschiedlichen Kontrollbedürfnis. Die Ungerechtigkeiten, die Ungleichbelastungen, die die materiellen Steuergesetze auslösen, können allerdings nicht dadurch ausgeräumt werden, dass diese Gesetzesmängel im Steuervollzug gleichmäßig umgesetzt werden. Es gibt legislative und administrative Vollzugsmängel. Die legislativen Mängel sind im letzten Dezennium weitgehend, wenn auch nicht umfassend, beseitigt worden. Die Steuerpolitik strebt gar den „steuergläsernen Bürger“ an. Zu ihm passen aber undurchsichtig-ungerechte Steuergesetze nicht. Die oberste Realmaxime des Steuervollzugs lautet: Die Veranlagungen periodischer Steuern müssen innerhalb eines Jahres abgewickelt sein – auch um den Preis ungleichmäßiger Besteuerung. Dieser Besteuerungsmangel ist zwar nicht den Finanzbehörden vorzuwerfen, wohl aber dem Staat zuzurechnen. Der Vollzugsmangel kann nur dadurch überwunden werden, dass die Kontrollintensität dem individuellen Kontrollbedürfnis angepasst wird. Das Kontrollbedürfnis muss an sachgerechten Kriterien orientiert werden. Die Verwaltungsvorschriften für den Steuervollzug müssen der Kontrolle nach dem Kontrollbedürfnis angepasst werden. Dass zurzeit drei unabgestimmte und unübersichtliche Verwaltungsvorschriften zu den §§ 85, 88 AO nebeneinander existieren, ist unbefriedigend und unnötig. Solange die Betriebsprüfungsordnung nicht dem Prüfungsbedürfnis angepasst ist, sondern Prüfungen entsprechend der Betriebsgröße vorsieht, verletzt sie den Gleichheitssatz. Die Abgabenordnung sieht nicht vor, dass Steuerlaien sich bei einem Steuerberater informieren müssen. Das hat zur Folge, dass die Steuererklärungen von Steuerlaien durchweg unrichtig sind. Die Finanzbehörden nehmen diesen Missstand hin. Seine Beseitigung durch den Gesetzgeber wird offenbar nicht als politisch opportun angesehen. (c) Zum Rechtsstaat gehört wirksamer Rechtsschutz. Er darf nicht durch übertriebenen, sinnlosen Formalismus unterlaufen werden. 1907
§ 39 Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft
Das gilt sowohl für die Fachgerichte als auch für das Verfassungsgericht. Die Qualität des Rechtsstaates hängt nicht von sinnlosen, die Bürger überfordernden Formalien ab. Eine bedeutende Rechtsschutzlücke besteht darin, dass Bürger durch Klage oder Verfassungsbeschwerde nicht die Abschaffung von Privilegien Dritter erreichen können, weil angenommen wird, dass der Kläger dadurch keine Verbesserung seiner eigenen materiellen Situation erreichen könne. Darauf kommt es m.E. nicht an. Was hilft es zu postulieren, die Demokratie sei privilegienfeindlich, wenn in der politischen Wirklichkeit unbekümmert Privilegien eingeführt statt abgeschafft werden und es keine Institution gibt, die das verhindert. Auch gegen Verstöße gegen Art. 33 II und Art. 38 I GG vermag keine Institution etwas auszurichten. Steuerrechtswissenschaftler können sich für Steuergerechtigkeit einsetzen, sie können sie aber nicht durchsetzen, wenn das Bundesverfassungsgericht sich nicht in ihrem Sinne einsetzt. Wenn der Gesetzgeber seine Aufgabe, für Steuergerechtigkeit zu sorgen, nicht wahrnimmt, müsste das Verfassungsgericht diese Aufgabe übernehmen. Es hat sich aber so restringiert, dass es die Aufgabe, „Hüter der Steuergerechtigkeit“ zu sein, nur sehr eingeschränkt wahrnehmen kann. Steuern, die von Art. 105 f. GG erfasst werden, sollen als solche nicht an Grundrechten gemessen werden dürfen, auch dann nicht, wenn sie aus einer Zeit stammen, in der es keine verbindlichen Grundrechte gab. So werden ungerechte Sondersteuern wie die Gewerbesteuer und örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern trotz massiver rechtslogischer Mängel unter Berufung auf Art. 105 GG weitergeschleppt. Kraft seines „Steuererfindungsrechts“ soll der Gesetzgeber berechtigt sein, bestimmte Steuerquellen anzuzapfen, andere vergleichbare Steuerquellen aber nicht anzuzapfen, wenn er dafür politische Gründe hat. Politische Gründe sind erfahrungsgemäß wohlfeil. Wenn das hohe Gut der Gerechtigkeit leichthin durch irgendwelche politischen Gründe vom Sockel gestoßen werden kann, ist es um die Steuergerechtigkeit schlecht bestellt. Der Primat der Steuergerechtigkeit wird dann durch den Primat der Politik verdrängt. Die „Gestaltungsfreiheit“ des Gesetzgebers soll erst dort enden, wo sie nicht mehr mit einer „am Gerechtigkeitsdenken orientierten Betrachtungsweise“ vereinbar ist; das ist eine Leerformel. Worin besteht denn eine „am Gerechtigkeitsdenken orientierte Betrachtungsweise“? Wissenschaftlichkeit und Gerechtigkeit werden durch Leerformeln und Leerfloskeln nicht gefördert. Nach einem anderen Leitsatz soll der Gesetzgeber die Steuergegenstände grundsätzlich frei auswählen dürfen; es muss aber darum gehen, dass die Bemessungsgrundlage einer Steuer dem Leistungsfähigkeitsprinzip entspricht. Auch die Grund- und Kernfragen des Unternehmensteuerrechts sind Gerechtigkeitsfragen. Das Verfassungsgericht hat sich mit ihnen aber noch kaum befasst. Ist der Eindruck 1908
Zusammenfassendes Nachwort
falsch, dass der Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers von der Kompetenz der Verfassungsrichter abhängt? (d) Was Steuersachen betrifft, ist die Lage von Strafrichtern der von Verfassungsrichtern nicht unähnlich. Steuerstrafrichter beherrschen das Steuerrecht durchweg nicht so wie Steuerbeamte, Steuerrichter und Steuerberater. Sie haben die Besteuerungsmoral des Gesetzgebers, die auch die Steuermoral der Bürger beeinflusst, nicht im Blick. Wenn Steuergerechtigkeit in den Strafgerichtssälen keine Rolle spielt (F. Salditt), so passt das besser zu einem autoritären Staat als zu einem Rechtsstaat. Abgesehen davon, dass sich Strafgerechtigkeit noch weniger realisieren lässt als Steuergerechtigkeit: An ungerechte Steuern lassen sich keine gerechten Strafen knüpfen. Der Rechtsstaat sollte seine primäre Aufgabe darin sehen, Steuerstraftaten zu verhüten, statt Steuerstraftäter als „Verbrecher“ zu produzieren. Bei der Strafzumessung sollen die Motive des Täters berücksichtigt werden. Das geschieht aber nicht hinreichend, pflegt jedenfalls in den Urteilsgründen nicht ausführlich dargelegt zu werden. Es dient der Objektivität der Strafrichter nicht, wenn Politiker eine Art von Klassenkampf zwischen Reich und Arm schüren. Wer die Steuerhinterziehung als besonders verwerfliche oder abscheuliche Straftat ansieht, sollte nicht vergessen, ihren moralischen Unwert mit dem Unwert anderer Straftaten zu vergleichen. M. E. wird die Steuerrechtsordnung gegen leichte „Steuervergehen“ hinreichend, wenn nicht gar besser – besser abschreckend zumal – geschützt, wenn statt durch Strafen durch empfindliche Steuerzuschläge sanktioniert wird. Mit Staats- und Steuerverdrossenen lässt sich kein Staat, auch keine Politik machen. Mit denen, die am Tropf des Staates, d. h. der Steuerzahler, hängen, ebenfalls nicht. Sozialhilfeempfänger haben keinen Grund, sich etwas darauf einzubilden, dass sie keine Einkommensteuer hinterziehen. Wer kein Vermögen bildet, obwohl er es könnte, hat keinen Grund, sich etwas darauf einzubilden, dass er keine Vermögensteuer hinterzieht. Ein Beamter hat keinen Grund, sich etwas darauf einzubilden, dass er keine Gewerbesteuer hinterzieht, eine Sondersteuer, die u. a. hinterzogen wird, weil die Hinzurechnungen zum Gewinn dem Nettoprinzip und damit dem Leistungsfähigkeitsprinzip widersprechen. Da Deutschland die Möglichkeit hatte, und hat, mit anderen Rechtsstaaten Abkommen über die Behandlung von Steuerflüchtlingen abzuschließen, muss es mit Datendieben nicht paktieren, sich nicht auf deren unmoralische Ebene begeben. Verständigungen im Steuerstrafrecht sind unter dem Gerechtigkeitsaspekt keine optimale Lösung, sie sind aber aus der Aufklärungsnot heraus zu erklären und zu rechtfertigen. Ein Konflikt mit § 244 II StPO besteht m. E. nicht. 1909
§ 39 Reflexionen über die Zukunft der Steuerrechtswissenschaft
(3) Die Politik lässt sich auf Steuerreformentwürfe aus der Steuerrechtswissenschaft nicht ein. Sie will sich offenbar nicht an Prinzipien und Regeln, nicht an die Gebote der Rechtslogik binden lassen. Sie will offenbar im Bereich „Steuern“ genauso frei schalten und walten dürfen, wie in anderen Bereichen der Politik. Sie will auch für das Steuerrecht den Primat der Politik anstelle des Primats der Steuergerechtigkeit. Sie will weiterhin eng mit den Interessenverbänden, mit denen sie verbandelt ist, nach ihrem politischen Gutdünken zusammenarbeiten, ungestört von Rechtslogik, Vergünstigungen und andere Ausnahmen gewähren dürfen. Die Politik möchte Gesetze jederzeit ändern dürfen. Die Steuerpolitik ist nicht nur lobbyabhängig, sie ist vor allem auch wählerabhängig. Die Politik möchte ihrer Wählerklientel opportune Versprechen machen, auch um den Preis, dass der Steuerstaat zum Schuldenstaat wird. Eine solche Politik kann nicht daran interessiert sein, dass der Gleichheitssatz aktiviert wird, dass rechtslogische Bindungen eingeführt werden und dass die Lobbytätigkeit reguliert, wenn nicht gar durch Abschaffung aller Steuervergünstigungen ausgetrocknet wird. Fest steht, dass sich infolge des unvermeidlichen ständigen Wechsels von Mehrheiten und Regierungen im Anschluss an Wahlen Kontinuität und Stetigkeit nicht erreichen lassen. Das macht die Steuerpolitik unvermeidlich dynamisch. Die Parteien treiben keinen Wettbewerb um Steuergerechtigkeit, sondern einen Wettbewerb um Machterwerb und Machterhaltung. Wenn die Steuerpolitik auf diese Weise zutreffend beschrieben worden ist, so ist es natürlich, dass sie weder kodexwillig noch kodexfähig ist. Daher gibt sie Kodexvorschlägen keine Chance. Der Umsetzung der ausformulierten Entwürfe aus der Steuerrechtswissenschaft steht u. a. im Wege, dass diese Entwürfe so tun, als gäbe es keinen Wertungspluralismus. Monistisch wird jeweils nur eine Lösung als „allein richtig“ angeboten. Jedoch erscheint es demokratieund parlamentarismusfremd anzunehmen, ein Parlament werde monistische Entwürfe ohne Änderungen und Ergänzungen übernehmen, sozusagen 1:1 umsetzen. Regierungen und Parlamente beachten selbstverständlich die Logik der Mathematik und der Naturwissenschaften. Sie würden auch die Rechtslogik des Steuerrechts akzeptieren, wenn das Bundesverfassungsgericht es verlangen würde – in dem Bewusstsein, dass die Durchsetzung von Rechtslogik Durchsetzung von Recht ist, nicht Politik. Welchen Weg das Verfassungsgericht künftig gehen wird, bleibt abzuwarten. Die Richter sind m. E. keine Gefahr für die rechtsstaatliche Demokratie, sie sind aber unentbehrlich als Bewahrer der rechtsstaatlichen Komponente der Demokratie, auch als Hüter der Steuergerechtigkeit. 1910
Zusammenfassendes Nachwort
Der Kampf um Steuergerechtigkeit wird weitergehen, auch in den Reihen der Steuerrechtswissenschaftler. Diskurs ist angesagt. Und es wäre unnatürlich, wenn alle der gleichen Meinung wären. M. E. führt unkritische Anpassung an die bestehenden Zustände und Abläufe allerdings nicht weiter. Es muss auch gefragt und untersucht werden, wodurch die Gesetzesmängel verursacht werden, statt es für unziemlich zu halten, Ross und Reiter zu nennen. Als man sich 2005 in den USA wieder einmal an einer Steuerreform versuchte, listete man alle bestehenden Mängel vollständig auf, vermied es aber, auch dort den Ursachen nachzugehen. Warum wohl? Wer Zustände und Abläufe in der real existierenden parlamentarischen Demokratie kritisiert, tut es doch nicht, weil er sich die primitive Staats- und Regierungsform der Diktatur wünscht, sondern eine idealere Demokratie. Am Schluss mag man nochmals Fragen stellen, zumal Fragen mehr bewirken können als Antworten. Augustinus fragte bekanntlich: Was sind Staaten ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden? Konkreter kann man fragen: Was sind Staaten ohne Steuergerechtigkeit anderes als Räuber? Und noch kokreter: Was sind Staaten, die nur eine Berufsgruppe, nämlich die Gewerbetreibenden, mit einer Sondersteuer, der Gewerbesteuer, belasten, anderes als Räuber, und was sind Staaten, die in den Einkommensteuertarif nur aus fiskalischen Gründen einen „Mittelstandsbauch“ einbauen, anderes als Räuber? So könnte man weiter fragen.
1911
Sach- und Namenverzeichnis (erfasst sind nur Namen aus dem Text, nicht Namen aus den Fußnoten)
A Abgeordnete, s. auch Demokratie – und Einkommensteuer 1263 – Fremdbestimmtheit 1388 – Vorrechtsbewusstsein 1545, 1546 – verstoßen gegen Art. 38 I 2 GG – folgen nicht Goldener Regel 1896 Abgeordneten-Privileg – Kostenpauschale – Rechtsschutz Dritter gegen Selbstprivilegierung 1543 ff. Absprache, s. Verständigung Adenauer, Konrad 1393, 1783 Altehoefer, K. 1386 Anwendungserlasse zur AO 1417 f., 1440 ff. Anwendungsvorschriften zur AO 1456 ff. Apel, Hans 1392, 1790, 1791, 1792, 1795, 1799 Augenthaler, Th. 1874 Augustinus 1248, 1891 Auslegung – Methoden der – Grenzen der – 1624 – und Präjudizien 1626 – durch wirtschaftliche Betrachtungsweise 1629 ff. Ausnahmevorschriften – Rechtfertigung 1881 Ausschlussfristen – Scheitern an – 1518 ff. B Bacon, Francis 1313
Balke, Michael 1498 f. – Mut zu Remonstration 1438 Ball, K. 1280, 1284, 1290, 1291 Bareis-Kommission 1801, 1802, 1805, 1871 Becker, Enno 1282, 1290, 1485, 1597, 1617, 1633 – Verfasser der Reichsabgabenordnung 1282, 1293 Begriffe, s. Rechtsbegriffe Begriffsjurisprudenz 1595 f. Beisse, H. 1626, 1632 Besteuerungsmoral 1417, 1720, 1729 – Begriff existiert für Steuerpolitik und Steuergesetzgeber nicht 1754 – besteuerungsmoralischer Unwert durch Verletzung des Gleichheitssatzes 1755 Betriebsprüfungsordnung 1457, 1464 Beusch, M. 1329 Bierdeckelrede 1834 Birk, D. 1300, 1309 ff., 1850, 1879 Blüm, Norbert 1795 Böckenförde, E. W. 1553 Brähler, G. 1728 Brandt, Willy 1786, 1790 Braun, Joh. 1395, 1561, 1584, 1601, 1903 Bühler, Ottmar 1284, 1287, 1289, 1436 Bundesminister der Finanzen – schwört, Gerechtigkeit zu üben 1379 ff. – ist in erster Linie Haushaltsminister 1380 1913
Sach- und Namenverzeichnis
Bundesministerium der Finanzen – Schreiben 1413 f. – Steuerabteilung in Sachen Gesetzgebung politikabhängig 1383 Bundesrat – Zustimmung des – 1331 – Blockade durch – 1391 Bundesrechnungshof 1481, 1798 – zum Steuervollzug 1459, 1470 f. Bundessteuergesetze – sollten vom Bund vollzogen werden 1471 Bundesverfassungsgericht – rechtsunlogischer Aufbau der Verfassungsmäßigkeitsprüfung 1357 f. – zum Steuervollzug 1407 – Hüter des Gleichheitssatzes im Steuerrecht 1554 – formale Rechtsschutzhürden 1556 ff. – Kritik am – als einzige Kontrolle 1559 – benutzte Klischees, Stereotypen, Standards – Kritik 1357, 1562 ff. – lässt Gesetzgeber großen, unbestimmten Spielraum 1562 ff. – Präventivmittel in der Sache 1562 ff. – Entscheidungsmöglichkeiten in der Sache 1566 f. – und Steuerrecht 1576 ff. – und Rechtswissenschaft 1585 – als Resthoffnung 1903 ff. Bürger, H. 1286 Büroversehen 1529 f. Busch, Wilhelm 1711 Bydlinski, F. 1244, 1595, 1598, 1669 C Canaris, C. W. 1243 f., 1600 1914
Carmer, Graf v. 1869 CD mit Steuerdaten – Ankäufe 1770 ff., 1774 ff. – Anstiftung zum „Datenklau“ verwerflich 1775 Chancen privater Gesetzbuchentwürfe – das Gesetzgebungsverfahren zu erreichen 1867 ff. Churchill, Winston 1893 Coing, H. 1248, 1746 Colbert, J. B. 1380, 1870, 1871 Compliance-Strategie 1474 f., 1478, 1481 Crezelius, G. 1300, 1303, 1882 D Dahlgrün, Rolf 1785 Däubler-Gmelin, Herta 1339 Deal, s. Verständigung Demokratie – Gleichheit als Wesenselement 1249, 1349, 1554 – rechtsstaatliche, keine Diktatur der Mehrheit 1347 – Gesetzgeber darf nicht entrechtlichen 1347 – ist privilegienfeindlich 1349, 1390, 1545 – soll keine „Standesvorrechte“ an Abgeordnete gewähren 1545, 1546 – nur wenige bestimmen in der – über Steuerpolitik 1553 – Gleichheitssatz Essenz der – 1249, 1554 – rechtsstaatliche – 1555 – Inhalt des Steuergesetzes der – 1555 – und Staatsverschuldung 1320 Denunziantentum – als Aufklärungsmittel? 1770 ff. Desens, M. 1534
Sach- und Namenverzeichnis
Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft 1242, 1299, 1879 Doralt, W./Ruppe, H. G. 1329, 1889 Dorn, Herbert 1200, 1201, 1202, 1293 Dregger, A. 1799 Drittbetroffenheit – ethische Auffassungen 1534 ff., 1548 f. Drüen, K.- D. 1251, 1328, 1436, 1441, 1471, 1598 Dürig, Günter 1323 Dummensteuer 1727 E Eckhoff, R. 1454 E-Government 1473 f. 1477, 1479, 1481 Eichel, Hans 1339, 1810, 1817, 1825, 1826 Elicker, M. 1821 Englisch, J. 1251, 1260, 1261, 1300, 1355, 1363, 1533 Eppler, Erhard 1787 Erzberger, Matthias 1869 Etzel, Franz 1784 Europäische Union – Vorgaben für nationales Steuerrecht 1359 f. Europäischer Gerichtshof – Zweckauslegung 1599 F Faltlhauser, Kurt 1798, 1799 Fleiner, F. 1275, 1280, 1286 Finanzausgleich – der Länder 1331 ff. Finanzausschuss 1335 f. Finanzgerichtsbarkeit – Verhältnis zur Steuerverwaltung und zur Steuergesetzgebung 1492 ff.
– Rechtszug der – 1496 ff. – Kritik der Zweistufigkeit 1496 ff. – Vorwurf der Kassenjustiz unberechtigt 1496 Finanzminister des Bundes, s. auch Bundesminister der Finanzen – mächtigster Steuerpolitiker 1889 Finanzministerium, s. Bundesfinanzministerium – Steuerabteilung 1336 Fischer, Peter 1498 Fiskalismus 1387, 1396, 1556, 1648, 1699, 1813, 1904 – und Nichtanwendungserlasse 1446 Flume, W. 1302 f. Folgerichtigkeitsgebot 1255 ff., 1265 ff., 1349, 1542, 1554 f., 1566, 1569, 1579, 1580, 1581, 1584, 1729, 1743, 1814, 1880, 1889, 1891 – entgegen BVerfG steuerübergreifend anwendbar 1268 Folkers, Cay – tritt für Verfassungsergänzung ein 1900 f. Formalismuskritik 1512 ff., 1515 ff., 1522 Formnichtigkeit 1650 Freirechtsschule 1596 Friedrich II. (der Große) 1341, 1869 Fristenpedanterie 1522 Funke, Andreas 1462, 1463, 1571 G Gabriel, Sigmar 1748 Gattermann, H. 1335 Gebende Hand – und nehmende Hand 1311 f. Gebühren 1308 ff. 1915
Sach- und Namenverzeichnis
Geißler, H. 1795 Geltung der Gesetze 1362 f. Generationengerechtigkeit 1255, 1321, 1389 Gerechtigkeit, s. auch Steuergerechtigkeit – und Gleichheit (Gleichbehandlung) 1249 – durch Rationalität 1242 ff. – rational und intersubjektiv zu begreifen 1880 Gerechtigkeitsentscheidungen – verlangen Unparteilichkeit, Abwesenheit von Selbstbetroffenheit, Unbefangenheit 1242, 1389 Gesetzesauslegung, s. auch Methodenlehre der Gesetzesanwendung – objektive, subjektive Theorie 1600 ff. – verfassungskonforme – 1615 Gesetzesimpuls 1335 Gesetzesinitiative 1335 Gesetzeskürze 1858, 1872 – das kürzeste Gesetz muss nicht das verständlichste sein 1341 Gesetzeslücken – ihre Ausfüllung 1637 ff. Gesetzessprache 1386, 1607, 1622, 1625,1739, 1790, 1844 ff. Gesetzgeber – Spielraum für – 1562 ff. – als Gestalter der Steuergesetze 1307 ff. Gesetzgebung – föderative Vorgaben des Grundgesetzes 1307 ff. Gesetzgebungshoheit 1322 ff. – des Bundes 1325 – der Länder 1327 – und Gemeinden 1327 f. Gesetzgebungsverfahren – korrekter Ablauf garantiert nicht für steuergerechte Gesetze 1336 1916
– kein Diskurs, wenig Argumentationsaustausch 1390 – führt nicht zu Steuerrechtsordnung 1391 Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers – Einengung durch Rechtslogik, s. Rechtslogik – Einengung durch Schuldenund Zinslast 1320 Gewerbesteuer 1260 Gewissensanspannung – führt nicht zur Erkenntnis des Inhalts der Steuergesetze 1736 Gleichartigkeit von Steuern 1327 ff. Gleichbehandlung – braucht Maßstab 1250 Gleichheit – als Wesenselement der Demokratie 1249, 1349, 1554 – und Gerechtigkeit 1249 Gleichheit im Unrecht 1407, 1462, 1534, 1568 f. Gleichheitssatz – gegen ihn verstoßen Klientelpolitik, Sonderinteressenpolitik, Privilegienpolitik 1349 – Essenz der Demokratie 1349, 1554 – Magna Charta des Steuerrechts 1249, 1358, 1361, 1412, 1554, 1572 – kein Neidgrundrecht 1570 f. Gleichheitssatz-Rechtsschutz – verlangt nicht materielle Besserstellung des Klägers 1571 f. Grabower, Rolf 1290, 1291, 1297 Grossfeld, B. 1300 Grundrechtsethik – ihre Anwendung ist nicht Politik 1349 Grundrechtsschutz – wird durch Art. 105, 106 GG nicht unterbunden (gegen h. M.) 1354 ff.
Sach- und Namenverzeichnis
Grundsteuer 1260 H Hackert, Chr. 1728 Häfele, H. 1796 Haft, F. 1627 Halbteilungsgrundsatz 1351 f. Haller, Heinz 1787, 1788 Hayek, F. A. v. 1347, 1371, 1381, 1897, 1898 ff. – sein Demokratiekonzept 1898 ff. – Stellungnahme 1901 ff. Heck, Philipp 1243 Heichel, St. 1347 Heimliche Progression 1381 Hellmann, U. 1700 Helsper, Helmut 1341, 1400 Hennrichs, J. 1585 Hensel, Albert 1284, 1287, 1291, 1293, 1353, 1357, 1358, 1548, 1551, 1552, 1666 Herakles (Herkules) 1865, 1868 f. Herzig, Norbert 1832 Herzog, Roman 1339 Heun, W. 1557, 1558 Hey, Johanna 1256, 1272, 1300, 1412, 1453, 1464, 1466, 1582, 1669, 1896, 1884, 1904 Hilferding, R. 1292 Höffe, O. 1248, 1249 Homo oeconomicus 1706 ff. Höpker-Aschoff, H. 1354, 1469, 1552 Huber, Hans 1344 Hüttemann, R. 1300 I Induktion 1642
Informationspflicht – besteht weder nach AO noch nach Steuerstrafrecht 1737 ff., 1741 f. Interessenverbände 1367 ff., 1500 – ist rechtsrational entgegenzutreten 1373 – Anhörung im Gesetzgebungsverfahren 1335 Internationale Sachaufklärung 1426 f. Internationaler Rechtsvergleich 1883 Irrtum im Steuerstrafrecht – Tatsachenirrtum 1731 f. – Verbotsirrtum 1731 f. – Steuerrechtsirrtum als Verbotsirrtum 1732 ff. Isensee, J. 1249, 1297, 1300, 1406, 1678, 1725 J Jachmann, M. 1300 Jellinek, Walter 1284, 1286, 1291 Jenetzky, J. 1407 Jeschek, H.-H. 1745 Juchum, G. 1345, 1830 K Kaffeesteuer 1260, 1562, 1578, 1743 Kahn, O. 1291 Kant, Immanuel 1248, 1364, 1398 f., 1548, 1746, 1756 Kanther, M. 1375 Kanzler, H. J. 1626 Karlsruher Entwurf 1822 Kategorischer Imperativ – für die Opposition 1379 Kaufmann, Erich 1284 1917
Sach- und Namenverzeichnis
Kirchhof, Ferdinand 1317, 1738, 1760 Kirchhof, Paul 1248, 1254, 1255, 1257, 1259, 1261, 1268, 1273, 1300, 1301 f., 1309, 1321, 1329, 1334, 1337, 1338, 1340, 1342, 1349, 1351, 1352, 1359, 1362, 1371, 1392, 1435, 1436, 1480, 1490, 1500, 1569, 1570, 1576, 1581, 1599, 1603, 1634, 1645, 1648, 1658, 1666, 1667, 1673, 1739, 1782, 1811, 1821, 1822 f., 1824 ff., 1833, 1834 f., 1837 f., 1840 f., 1842, 1844 f., 1846 ff., 1867 ff., 1881, 1888 Kirchmann, Julius v. 1240, 1241 Kischel, U. 1268, 1569 Klageformalien – überspannte – 1504 ff. Klageinhaltsformalismus, übertriebener 1512 Klein, E. 1558 Knobbe-Keuk, Brigitte 1298, 1299, 1691 Kodexfähigkeit – parlamentarischer Gesetzgeber nicht kodexfähig 1897 f. Kodexidee der Steuerreformer 1838 Kohl, Helmut 1792, 1793, 1794 Köhler, Horst 1339 Komplexitätsvermeidung – durch Prinzipien 1396, 1398 (Kant) Konkurrentenklage 1533 Kontrolle entsprechend Kontrollbedürfnis 1408, 1460 f., 1657 Kontrollmängel – Folgen 1461 ff. – verführen zur Steuerhinterziehung 1463 f. Kontrollmitteilungen 1429 f. Kreditaufnahme – als Mittel der Staatsfinanzierung 1319 f. 1918
Kriele, M. 1548, 1596 Krüger, Herbert 1548 Kruse, H. W. 1355, 1454, 1580, 1617 Kübler, Friedr. 1873 Kürze eines Gesetzes, s. auch Gesetzeskürze – Wert und Unwert 1341 L Lafontaine, Oskar 1808, 1809, 1810 Laien, s. Steuerlaien Landessteuerverwaltung – für Bundesgesetze schwerfällig 1472 Lang, Joachim 1244, 1253, 1261, 1272, 1298, 1300, 1301, 1302, 1345, 1355, 1385, 1446, 1578, 1807, 1809, 1821, 1822, 1830 ff., 1867, 1869, 1870, 1871, 1874 f., 1876 f., 1905 Larenz, K. 1244, 1600, 1604, 1644 Leisner, Walter 1435 Leissner-Egensperger, A. 1300 Leistungsfähigkeitsprinzip 1578, 1579, 1580 – als grundlegender Steuergerechtigkeitsmaßstab 1251 ff., 1350 – kein Axiom 1252 – weltweit anerkannt 1252 – alternativlos 1253 und ff., 1256 – Konkretisierung durch Gebote der Rechtslogik 1258 ff., 1266 f. – als Prinzip der Stetigkeit 1272 ff. Lenkungsteuer 1314, 1315 Lepsius, O. 1347, 1553 Lion, M. 1290, 1291 Lobby Control 1374 Lobbyismus 1367 ff. – kann Rechtlichkeit an der Wurzel bedrohen 1370
Sach- und Namenverzeichnis
– müsste dringend reguliert und restringiert werden 1374 Lobbyisten – stehen hinter Vergünstigungen und Privilegien 1370 – streben nicht nach Verwirklichung des Gleichheitssatzes 1369 – sind keine Rechtssystematiker, keine Rechtslogiker 1369 Loose, M. 1510 Loritz, K.-G. 1300 Lösel, Chr. 1728 Lucas, J. R. 1548 Lücken, s. Gesetzeslücken
– des Steuerliberalen 1711 f. – des Staatsverdrossenen 1712 ff. – des Verschwendungsverdrossenen 1713 ff. – des aus wirtschaftlicher Not Handelnden 1718 – des Gerechtigkeitssensiblen 1719 ff. – des Verführten 1724 – des Nebenverdieners 1724 – des Steuerlaien 1725 Muscheler, K. 1625
M
Nachschau 1429 Nationalsozialismus – Steuerrecht unter dem – 1295 ff. Nawiasky, H. 1282, 1283, 1284, 1286, 1291 Nawrath, Axel 1401, 1452, 1813 „Neidklage“ 1534 Nettoprinzip 1581, 1660 Neumann, St. 1666 Nichtanwendungserlasse 1446 f. Nichtanwendungsgesetze 1434 Normenkontrolle des Verfassungsgerichts – Rechtsschutzhürden 1557 f.
Mackscheidt, K. 1719 Matteotti, R. 1274, 1689 Matthäus-Maier, I. 1803, 1806 Matthöfer, Hans 1792, 1793 Mayer, Otto 1280, 1286, 1314 Meincke, J. P. 1300, 1332 Merkel, Angela 1811, 1824, 1825, 1828, 1833 Merz, Friedrich 1586 ff., 1816, 1824, 1832, 1833, 1834, 1868 Methodenlehre der Gesetzesanwendung 1588, 1599 ff. Miquel’sche Steuerreform 1281, 1869 Missbrauchsabsicht 1682 ff. Mitschke, J. 1301 Mitwirkungspflichten 1421 ff. – Folgen von Verletzungen 1422 f. Möller, Alex 1785, 1786, 1787 Mössner, J. M. 1394, 1618, 1832 Motive der Steuerhinterziehung – des homo oeconomicus 1706 ff. – des ökonomischen Aufrechners 1708 ff. – des moralischen Aufrechners 1710 ff.
N
O Obergrenze der Steuerbelastung 1351, 1352 Opposition 1392 – Kategorischer Imperativ für die – 1379 – und Steuergesetzgebung 1376 ff. Oppositionsvorschläge von SPD und Grünen 1803 ff. 1919
Sach- und Namenverzeichnis
Organisationsmängel 1529 f. Organschaft 1648 P Papier, H. J. 1399, 1400 Paqué, K.-H. 1379 Parlament – Marginalisierung, Grenzen 1388 ff. – wird von wenigen gesteuert 1388 Parteien – Beitrag aller – zum Steuerchaos 1395 Perleman, Ch. 1248, 1249 Petersberger Steuervorschläge 1807 Pezzer, H.-J. 1384, 1511, 1515, 1518, 1869 Politikersprache 1825 ff. Popitz, Johannes 1278, 1280, 1288 f., 1293 – Widerstandskämpfer 1292, 1294 – als Mitherausgeber VJSchrStuFR 1293 Popper, R. 1364, 1814 Popularklage 1531 Poss, Joachim 1544 Preußisches Allgemeines Landrecht von 1794 – Entstehung 1868 ff. Primat der Steuerpolitik – statt Primat der Rechtsstaatlichkeit und der Steuergerechtigkeit 1897 – besteht nicht im Rechts- und Verfassungsstaat 1347, 1886 Prinzipien und Regeln 1245 f. Prinzipien- und Regellosigkeit – Folgen der – 1396 ff. – ist Willkür, ist ungerecht 1250 1920
– als Systemträger 1245 – notwendiges Fundament für Gerechtigkeit 1246 – reduzieren Komplexität 1396, 1398 (Kant) Privilegien Dritter – Rechtsschutz 1534 ff., 1548 f. – Verfassungsrechtsschutz 1567 ff. Prognosefähigkeit – verfassungsgerichtlicher Entscheidungen durchweg nicht möglich 1583 Puhl, Th. 1535 Q Quellenabzugsverfahren 410, 1430 f. – und Haftung 1465 f. – Abzugsverpflichtete schlechter gestellt als Finanzbeamte – Abzugsverpflichtete können keinen Personalmangel geltend machen 1468 – Effizienzunterschiede zum Veranlagungsverfahren 1467 ff. R Radikalreform 1832, 1841 f. Raupach, A. 1345, 1500, 1616 Reagan, Ronald 1794 Rechtfertigungsfrage 1882 Rechtsanalogie 1642 Rechtsbegriffe 1592 – wertausfüllungsbedürftige – 1592 ff. – Typusbegriffe 1593 ff. – sind mehr- oder vieldeutig 1606 Rechtsbewusstsein 1273, 1735
Sach- und Namenverzeichnis
Rechtsfreier Raum 1637, 1641, 1643, 1644 Rechtsgefühl 1645 Rechtsgewissen 1735 Rechtsgut – zu schützendes – im Steuerstrafrecht 1697 ff. Rechtsirrtum, s. auch Verbotsirrtum, Steuerrechtsirrtum – und Wiedereinsetzung 1527 f. Rechtslogik 1245, 1251, 1258, 1265, 1273, 1275 f., 1340, 1584, 1585, 1814, 1880, 1895 – Durchsetzung 1271 ff. – ihre Anwendung ist nicht Politik 1349 – und Pluralismus1555 Rechtsrationalität 1892 Rechtsschutz – verlangt nicht materielle Besserstellung des Klägers 1471 f. – gegen Privilegien Dritter 1534 ff. – Drittbetroffener 1548 f. Rechtsschutzbedürfnis – fehlendes – 1505 Rechtsschutzhürden – des Bundesverfassungsgerichts 1556 Rechtsstaat – formeller (der Weimarer Verfassung) und materieller – 1357 f. Rechtsverletzung (in seinen Rechten verletzt) – durch Selbstbetroffenheit 1531 ff. – des Umsatzsteuerträgers 1531 f. Rechtswissenschaft, s. auch Steuerrechtswissenschaft – darf und muss sich mit der Gesetzgebung befassen 1344 f. Rechtswissenschaftliches Denken – als rechtslogisches Denken 1275 ff
Reformbedarf – P. Kirchhof dazu 1834 ff. – Kommission Stiftung Marktwirtschaft dazu 1836 ff. – des AO-Besteuerungsverfahrens mit Vorschlägen 1482 ff. Reformgutachten 1971, 1785 f. Reformideen – zum Steuerstrafrecht 1777 ff. – zum Steuervollzugsrecht 1469 ff. – zum Steuerrecht 1821 ff. Reformüberlegungen – zur Wiedereinsetzung 1530 f. Regelbegriff 1245 f., 1251 Reich, M. 1436, 1599 Reichsabgabenordnung von 1919 – Kritik und Bewährung 1282 ff. Reichsfluchtsteuer 1296 Reinach, H. 1291, 1292 Reinhardt, Fritz – NS-Staatssekretär im RFM 1295 ff. – und RFH 1296 Remonstration 1437, 1560 Revision der Steuergesetze – rechtslogische – 1841 f. Revisionshürden – des Bundesfinanzhofs 1513 ff. – Hürde Nichtzulassungsbeschwerde 1514 Rheinstrom, H. 1291, 1292 Risikomanagement 1460, 1473, 1477, 1478 Rockerbanden – Unwertvergleich mit Steuerhinterziehern 1755 f. Röhl, K. u. H. 1241, 1244, 1390, 1598, 1601, 1850 Ruh, H. 1248, 1249 Ruppe, H. G. 1433 f., 1652 Rüthers, B. 1244, 1263, 1396, 1598, 1601, 1603, 1625 1921
Sach- und Namenverzeichnis
S Salditt, F. 1697, 1698, 1699, 1702, 1703, 1704, 1712, 1721, 1778, 1909 Schäffer, Fritz 1310, 1784 Schankerlaubnissteuer 1564 Scharping, R. 1803, 1903 Schäuble, Wolfgang 1302, 1552, 1814 ff., 1874 Schaumburg, Harald 1300, 1879 Scheingeschäfte 1655 f. Schenke, R. 1626 Schiller, Karl 1787, 1788 Schleußer, H. 1770, 1774, 1776 Schmidt, E. 1457, 1481 Schmidt, Helmut 1788, 1789 Schmidt, Ludwig 1398 Schmidt-Aßmann, E. 1438 Schmiergeld-Paragraf (ˇ 160 AO) – sollte abgeschafft werden 1488 Schmitt, Michael 1411, 1471 Schmölders, Günter 1705 Schneider, Hans 1344 Schneider, Uwe H. 1350 Schön, Wolfgang 1300, 1679, 1870, 1891, 1892, 1893, 1894, 1895, 1896 Schröder, Gerhard 1809, 1825, 1827 Schuld – als Strafvoraussetzung 1730 ff. Schuldenstaat 1321 f. Schulze-Osterloh, G. 1300 Schünemann, B. 1751 Schwedhelm, R. 1428, 1772 Seer, Roman 1300, 1330, 1419, 1422, 1426, 1428, 1442, 1448, 1456, 1457, 1476, 1477, 1478, 1479, 1490, 1511, 1513, 1515, 1536, 1558, 1700, 1701, 1702, 1704, 1726, 1732, 1733, 1779 ff. – sein Steuervollzugs-Reformkonzept 1475 ff. 1922
Seiler, Chr. 1566, 1568, 1569 Selbstveranlagung – ist Laien nicht möglich 1479 Sieker, Susanne 1666 Singer, M. G. 1881 Sloterdijk, Peter 1286, 1311 f., 1313, 1458 Söhn, H. 1300 Solidaritätszuschlag 1316 Solms, H. O. 1832 Sonntags- und Nachtarbeit 1888 – Begünstigung verletzt Verallgemeinerungsgebot 1263 – Klage gegen Privilegierung der – 1536 ff., 1539 ff. Spengler, Oswald 1705 Spindler, Wolfgang 1399, 1446 Spitaler, Armin 1393, 1821 Sprache, s. Gesetzessprache, Politikersprache Steichen, A. 1244, 1346, 1387, 1390, 1599 Steinbrück, Peer 1312, 1346, 1387, 1390, 1411, 1452, 1751, 1770, 1811 ff., 1825, 1827, 1834 f., 1839, 1895 Stendhal, M. 1844 Stetigkeit – Wertungsprinzip der – 1272 ff. Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) – in der Weimarer Republik 1293 – ab 1971 Zeitschrift für die gesamte Steuerwissenschaft 1298 Steuerbegriff 1311 Steuerberater – unentbehrlich für Steuervollzug 1448 ff., 1451 – verdienen besonderes Vertrauen der Finanzbehörden 1449 – als Organ der Rechtspflege 1449 f. – und Steuerplanung 1450 Steuerchaos 1247, 1325, 1351, 1394 f., 1400, 1555, 1556, 1836
Sach- und Namenverzeichnis
Steuererklärung 1420 f. Steuerfahndung 1427 ff., 1515, 1695, 1765, 1771 ff. Steuergegenstand – muss zusammen mit der Bemessungsgrundlage dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechen (gegen BVerfG) 1357 ff. Steuergerechtigkeit, s. auch Gerechtigkeit – als ethischer Wert 1248, 1891 – kein Thema in Strafgerichtssälen 1704 Steuergeschenk 1316, 1887 Steuergesetzbuch Entwurf P. Kirchhofs – Allgemeiner Teil 1846 ff. – Besonderer Teil 1859 ff. Steuergesetzbuch-Entwürfe 1300 f. Steuergesetze – schlechter Zustand 1393 ff., 1885 ff. – Verständlichkeit 1337 ff. – zur Geltung 1362 f. – müssen im Rechtsstaat begründet werden (bestr.) 1342 f. – Einheit oder Vielheit? 1881 Steuergesetzgeber – hat Erstverantwortung für Verfassungsmäßigkeit 1349 Steuergesetzgebung – Verfahrensablauf 1335 f. – Verfahren nach dem Grundgesetz 1334 – Vorgaben des Grundgesetzes 1345 ff. – ist wählerabhängig 1364 – Abhängigkeit von Interessenverbänden 1367 ff. – und Opposition 1376 ff. – Qualitätsmaßstab 1393 ff. – ohne steuerwissenschaftliches Fundament 1397
– und Steuervollzug gehören zusammen 1469 Steuergleichheit – als Magna Charta des Steuerrechts 1249, 1304, 1358, 1361, 1412, 1554, 1572 Steuergruppierung 1316 ff. Steuerhinterziehung – komparativer Unwert 1754 – Delikt sui generis 1757 Steuerhinterziehungsmotive, s. Motive der Steuerhinterziehung Steuerjuristen jüdischer Herkunft – in der Weimarer Republik 1291 ff. Steuerkodex – passt nicht zur realen parlamentarischen Demokratie 1838, 1898 Steuerlaien 1759 f. – und Gesetzesverständlichkeit 1337 f. – keine Konsultationspflicht 1480 – nicht fähig zur Selbstveranlagung 1479 – kein Doppelrecht für beratene und nicht beratene Steuerpflichtige 1486 Steuern – oder Gebühren/Beiträge 1257 f. – und andere Abgaben 1308 ff. – nur Geldleistungen? 1314 Steuerplanung – und Verwaltungsvorschriften 1447 – durch Steuerberatung 1450 Steuerpolitik 1348 f.,1396, 1815 f. – Konflikt mit Steuerrechtswissenschaft 1345 ff. – ist gedachte oder geplante Steuergesetzgebung 1348 1923
Sach- und Namenverzeichnis
– ist grundrechtsgebunden 1348 f. – ist an den Gleichheitssatz und die in ihm fundierten Gebote der Rechtslogik gebunden 1349 – muss Gerechtigkeitspolitik sein 1349 – Wählerabhängigkeit 1364 f. – Abhängigkeit von Interessenverbänden 1367 ff. – Medienabhängigkeit 1374 – Verfassungsanwendung ist keine – 1551 – auch in der Demokratie bestimmen nur wenige über sie 1553 – muss Gerechtigkeitspolitik sein, Gleichgerechtigkeit schaffen 1554 – Beziehungen zur Steuerrechtswissenschaft disharmonisch, 1884 ff. – Ursachen der Disharmonie 1885 ff., 1896 ff. – Begriff 1885 f. – dient dem Machterwerb oder der Machterhaltung 1886 – frei gestaltbar? 1886, 1888 – Praxis 1887 Steuerprozess, s. auch Steuerrechtsschutz – hat keinen formalistischen Selbstzweck 1503 – ist Laienprozess 1513 Steuerquelle – gespeichertes Einkommen als einzige – 1328 Steuerrecht 1394 f. – schlechter Zustand 1873 – das für alle verständliche – ein Traum 1340 – und Bundesverfassungsgericht 1576 ff. 1924
– Zweck im – 1616 ff. – als Wissenschaft 1237 ff. – Disput um die Wissenschaftlichkeit des Rechts 1239 ff. – von A–Z 1301 Steuerrechtsirrtum – im Steuerstrafrecht 1732 ff. Steuerrechtsschutz 1492 ff. – durch Verfahren 1501 f. Steuerrechtswissenschaft, s. auch Wissenschaft – als Geistes- oder Kulturwissenschaft 1239 – keine exakte Wissenschaft 1240 – als Wertungswissenschaft 1240 f. – durch Systemrationalität 1242 ff. – Entwicklung bis 1933 1276 ff. – Entwicklung seit 1970 1297 ff. – Denkschulen 1302 ff. – und Steuerpolitik 1345 ff. – Beziehungen zur Steuerpolitik disharmonisch 1884 ff. – Ursachen der Disharmonie 1885 ff. – herrschende Meinung 1890 f. – abweichende Meinungen 1892 ff. Steuerreform – misslungene, gescheiterte – 1783 ff. – Schlagwörter, Schlagzeilen dazu 1791 f., 1795 f. Steuerreformideen – zum Steuerrecht 1783 ff. – zum Steuervollzug 1469 ff., 1482 ff., 1777 ff. Steuerschichten – historische – 1317 Steuerstaat 1315 – kooperativer statt konfrontativer Steuerstrafe – als ultima ratio 1694
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– ist sie unverzichtbar? 1742 f. Steuerstrafgerechtigkeit – gibt es sie? 1776 f. – Handel mit – 1770 Steuerstrafrecht 1693 ff. – empirische Lücken 1696 – zu schützendes Rechtsgut 1697 f. – zwei Schutzrichtungen (gegen BGH) 1699 – Zweiklassen – 1779 Steuerstrafrichter – müssen Hüter der Steuergerechtigkeit sein 1695 – haben kein SteuerpflichtenErfindungsrecht 1757 ff. Steuerstrafsachen – Finanzgericht nicht zuständig 1493 Steuertatbestandslehre 1318 Steuerträger – Stellung muss verrechtlicht werden 1319 Steuerumgehung – und Steuervermeidung 1663 – methodische Einordnung 1664 ff. – und Analogieverbot 1668 – besondere Lückenausfüllungstechnik zur Bekämpfung der – 1670 ff. – Tatbestand 1674 ff. – durch Missbrauch 1676 ff. – durch unangemessene Gestaltung 1677 ff. – gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil 1681 ff. – Umgehung 1684 – strafrechtliche Folgen 1685 – steuerliche Folgen 1685 – Nachweis außersteuerlicher Gründe 1686 f. – Konkurrenzen 1687 f. Steuerverfahrensvorschriften – der Abgabenordnung 1415 ff.
Steuervermeidung, legalistische 1727 Steuerverschwendung 1713 ff. Steuervita 1477, 1479, 1485 Steuervollzug 1403 ff. – Terminologie 1403 f. – Ideal und Realität 1404 ff. – Bundesverfassungsgericht zum – 1407 f. – gegenwärtiger Rechtszustand 1412 ff. – Anwendungserlasse 1417 f., 1440 ff. – braucht Besteuerungsmoral 1417 – internationaler Informationsaustausch 1425 f. – Beitrag der Steuerberater zum – 1448 ff. – Mängel und ihre Folgen 1453 ff. – Verantwortung der Finanzverwaltung 1455 f. – Bundesverfassungsgericht zum – 1461 ff. – Reformideen 1469 ff., 1482 ff. Stier-Somlo, F. 1291 Stiftung Marktwirtschaft – Reformentwurf unter dem Dach der – 1831 ff., 1836 ff. Stoltenberg, Gerhard 1392, 1793, 1796, 1798, 1800 Strafe, s. auch Steuerstrafe – als Rechtsgüterschutz 1694 f. Strafzumessung – zwischen Härte und Milde 1748 ff. – Klimawandel 1748 – Steuerhinterzieher „hinter Gitter“? 1757 Strafzwecktheorien 1745 – Schuldabgeltungstheorie 1745 – Vergeltungsgedanke 1745, 1746 1925
Sach- und Namenverzeichnis
– Sühne 1746 Strauß, Franz-Josef 1785 Streck, Michael 1502, 1751, 1752, 1756 Strutz, Georg 1290 ff. Sündenböcke 1702, 1710, 1722, 1730, 1756, 1777 System – getragen von Prinzipien und Regeln 1245 – Vernachlässigung durch Gesetzgeber 1395 f. Systemlosigkeit – Folgen 1397 ff. Systemrationalität 1242 ff. T Tammelo, I. 1249, 1273 Teleologische Reduktion 1641 Telosermittlung 1614, 1644 f. Thiel, Joachim 1667, 1869, 1870 Towfligh, E. V. 1338, 1339 Tradition – kein Steuerrechtfertigungsgrund 1330 Trittbrettfahrer 1319, 1460, 1698, 1700, 1707 Typusbegriffe 1593 f. U Uelner, A. 1345, 1346, 1348, 1383 f., 1394, 1606 Uldall 1799, 1802, 1803, 1808 Umgehung, s. Steuerumgehung Unabhängigkeit, richterliche 1498 Unterschriftsformalismus – übertriebener im Steuerprozess 1505 ff. Unwirksame Rechtsgeschäfte 1649 ff. 1926
V v. Arnim, Hans Herbert 1391 Verallgemeinerungsgebot 1255 ff., 1259 ff., 1264 ff., 1273, 1349, 1429, 1540, 1542, 1554 f., 1565, 1579, 1642, 1657, 1725, 1729, 1743, 1814, 1880, 1889, 1891 Veranlagungsverfahren 1418 ff. – Effizienzunterschiede zum Quellenabzug 1467 ff. Verbände, s. Interessenverbände Verbrauch- und Aufwandsteuern, örtliche 1261, 1327 f., 1563, 1742 – entbehren jeder Rechtslogik 1329 f. Verfahrensvorschriften – Folgen von Verletzungen durch Finanzämter 1423 f. Verfassungsbeschwerde – Verfahren 1561 Verfassungsgerichtsbarkeit – Grenzen 1551 ff. – unentbehrlich für rechtsstaatliche Demokratie 1555 Verfassungsgerichtspositivismus 1559 Verführung zur Steuerhinterziehung – durch Kontrollmängel 1468 Vergünstigungen „auf Pump“ 1320 Verhüten – geht vor Bestrafen 1756 Vermittlungsausschuss 1332 f. Verschwendung, s. Steuerverschwendung Verständigung im Steuerstrafrecht 1760 ff. – unterschiedliche Einstellung zur – 1763 ff. – abhängig vom Verhandlungsgeschick des Verteidigers 1768
Sach- und Namenverzeichnis
Verständlichkeit von Steuergesetzen 1337 ff. Vertreterverschulden – und Wiedereinsetzung 1529 f. Verwaltungsvorschriften 1431 ff. – Gesetzeskonformität 1434 f. – Bindungswirkungen 1436 ff. – zur Sachverhaltsermittlung 1440 ff. – drei unabgestimmte zur AO 1441 – gesetzesauslegende – 1443 – ermessensleitende – 1444 f. – konkurrierende – 1447 f. – und Steuerplanung 1447 – zum Steuervollzug 1456 ff. Vinken, H. 1875 Vogel, Klaus 1297, 1300, 1302, 1304, 1400, 1562, 1617, 1618, 1718, 1882 Volkssteuergesetzbuch – nicht möglich 1340 Volkssteuergesetzgebung 1324 f. Vollzugsföderalismus – schafft Reibungsverluste 1411 W Wacke, G. 1297, 1354, 1355, 1562 Wähler – bevorzugen Parteien, die viel versprechen 1325 Wählerbeglückungsversprechungen 1320, 1890 Wahlkampf – ist Wettbewerb ohne Regeln, ohne Goldene Regel zumal 1365 ff. Waigel, Theodor 1365, 1392, 1799, 1801, 1806, 1808 Waldecker, L. 1278, 1283, 1284, 1286, 1291, 1297 Waldhoff, Chr. 1302, 1304 f., 1309, 1342, 1356
Walz, R. W. 1300, 1618 Warburg, M. 1291 Weber-Grellet, H. 1446, 1618 Weigend, Th. 1745 ff., 1765 ff., 1781 Wernsmann, R. 1401 Wertungsjurisprudenz 1596 f. Wertungslogik – s. auch Rechtslogik 1251 ff., 1258 ff. Wertungspluralismus – braucht Wertungslogik 124 Widerspruchsfreiheit, s. auch zu Folgerichtigkeit – Gebot der – 1268 ff., 1555, 1579, 1729, 1743, 1814 – gilt steuerübergreifend 1270 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 1519 ff. – gegen übermäßige Fristenstrenge 1519 f. – überanstrengter Verschuldensbegriff 1521 ff. – exemplarische Verschuldensfälle 1524 ff. – bei Vertreterverschulden 1529 f. – Überlegungen de lege ferenda 1530 Willeke, U. 1251 Wirtschaftliche Betrachtungsweise 1647 ff. – und gesetzwidriges, sittenwidriges Verhalten 1657 Wissenschaft, s. auch Steuerrechtswissenschaft – Steuerrecht als – 1237 ff. Wissenschaftlichkeit des Steuerrechts – durch Rechts- oder Wertungslogik 1251 Woerner, L. 1642 Z Zinssteuerurteil 1568 1927
Sach- und Namenverzeichnis
Zitieren – Sinn des – 1628 Zivilcourage 1438
1928
Zumwinkel, K. 1748, 1771 Zurechnung von Wirtschaftsgütern 1689 f.