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German Pages 686 Year 1918
Die soziale Frage Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf Von Gustav Schmoller
Duncker & Humblot reprints
Die soziale Frage. Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf.
Gustav Schmoller Die soziale Frage Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkamps
München und Leipzig Verlag von Duncker Äumblot 1918 kv
A l l e Rechte vorbehalten
Altenburg Pierersche Sofbuchdruckerei Stephan Geibel K Co.
E e i t Iahren hatte mein verewigter M a n n geplant, die im ersten und zweiten Bande seines Grundrisses der allgemeinen Volkswirtschaftslehre getrennt enthaltenen sozialpolitischen Abschnitte zusammenzufassen und gesondert erscheinen zu lassen. Der notwendig werdende Neudruck des zweiten Grundrißbandes und die Anregungen des großen Krieges haben den P l a n zur Ausführung gebracht. Eine teilweise Amarbeitung und die Fortführung bis zu den jüngsten Ereignissen haben den Verstorbenen in den letzten Lebensmonaten beschäftigt, und bis auf geringfügige Reste ist die Sonderausgabe von ihm selbst besorgt. Berlin, l. Oktober 1918.
Lucie Schmoller.
Inhaltsübersicht. Leite
Erstes Buch. D i e soziale Klassenbildung E r s t e s K a p i t e l . Die Arbeitsteilung Wesen und Entstehung der Arbeitsteilung 2. D a s Priester- und Kriegertum 3. Die Händler 4. Der Arbeiterstand, Sklaverei und Leibeigenschaft 5. Der freie Arbeiterstand 6. Die Scheidung von Landbau und Gewerbe. Die landwirtschastliche und die gewerbliche Arbeitsteilung 7. Die Arbeitsteilung der liberalen Berufe; die räumliche Arbeitsteilung 8. Die Beurteilung der Arbeitsteilung und ihre statistische Erfassung 9. Die Ursachen und Bedingungen der Arbeitsteilung 10. Die gesellschaftlichen und individuellen Folgen der Arbeitsteilung
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Z w e i t e s K a p i t e l . D a s Eigentum und seine Verteilung 1. Wesen des Eigentums. D a s Eigentum der Jäger- und Kackbaustämme 2. D a s Sklaven- und das Vieheigentum der älteren Ackerbauern und Äirten 3. Die ältere Grundeigentumsverfassung der Äirten- und Ackerbauvölker 4. Die Ausbildung des neueren europäischen kleinen und großen Grundeigentums im Mittelalter 5. D a s heutige Grundeigentumsrecht und die Richtungen der heutigen Landpolitik 6. D a s städtische Grund- und das Äauseigentum überhaupt. . . . 7. D a s bewegliche Eigentum der Kulturvölker 8. D a s Erbrecht 9. Die Ergebnisse der geschichtlichen Betrachtung der EigentumsVerteilung 10. Die Eigentumsdefinitionen und die Eigentumstheorien
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D r i t t e s K a p i t e l . Die gesellschaftliche Klassenbildung 1. Begriff, Wesen und sozialpsychologische Ursachen der Klassenbildung 2. Die wichtigsten Einzelursachen der Klassenbildung: Nasse, Berufsteilung, Vermögens- und Einkommensverteilung 3. Die Vereins-, Kasten-, Korporationsbildung der sozialen Klassen 4. Die Beseitigung der ständischen Gesellschaftsgliederung, die sozialen Klassen und der Rechtsstaat, das Vereinsrecht 5. Schlußbetrachtung über soziale Klassenbildung
Zweites Buch. Der heutige Arbeiterstand der Kulturstaaten E r s t e s K a p i t e l . Die rechtliche und wirtschaftliche Lage des Arbeiterstandes 1. Die Entstehung des freien Arbeiterstandes 2. Die verschiedenen Elemente des heutigen A r b e i t e r s t a n d e s . . . .
44 59 65 71 79
87 90 93 98 106 112 116 122 126 134 142 142 150 162 173 183
191 191 191 197
Inhaltsübersicht.
VIII
Seite
3. Der heutige freie Arbeitsvertrag 204 4. Die verschiedenen heutigen Rechtsformen zur Ordnung des Arbeits210
Verhältnisses
5. Der Inhalt des Arbeitsvertrages: Zeitdauer und Kündigungsrecht, Formen des Vertragsabschlusses, Kontraktbruch, Arbeitszeit, Natural- und Geldlohn 6. Der Inhalt des Arbeitsvertrages: Die Bemessungsmethoden des Geldlohns 7. Die tatsächliche Lohnhöhe: Geschichte des englischen und französischen Geldlohns 8. Die tatsächliche Lohnhöhe: Geschichte des deutschen Geldlohns und vergleichende Lehren 9. Die älteren Lohntheorien 10. Die heutige Lohntheorie: Die Lebenshaltung und die Wirkung von Angebot und Nachfrage 11. Lohnbewegung und Lohnsystem. Ergebnisse Zweites Kapitel. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
Die wichtigsten neuen sozialen Institutionen . . .
E r s t e s K a p i t e l . Die Klassengeschichte der Vergangenheit 1. Die ältesten Klassenverhältnisse 2. Griechische Klassengeschichte und Klassenkämpfe 3. Die römische Sozialgeschichte
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Das Armenwesen, seine Entstehung und allgemeine Bedeutung . Die Ausführung der Armenpflege Das Versicherungswesen im allgemeinen. Seine Entstehung . . Die Lebensversicherung als Vorläuferin der Arbeiterversicherung Wesen und Probleme aller Versicherung Die Arbeiterversicherung; ihre wirtschaftlichen Voraussetzungen Die Durchführung der Arbeiterversicherung im allgemeinen und speziell in England und Frankreich bis gegen 1890—1900 . . . Die Durchführung der deutschen Arbeiterversicherung. Ursprung. Die Krankenversicherung Die Durchführung der deutschen Arbeiterversicherung: die Unfallund Invalidenversicherung Urteil über die deutsche Arbeiterversicherung; die neuesten Reformen anderer Länder Die Arbeitslosigkeit, der Arbeitsnachweis und die Arbeitslosenversicherung Die Entstehung der Gewerkvereine, die Koalitionsgesetzgebung, die Gewerkvereine in den verschiedenen Staaten Die Verfassung und Politik der Gewerkvereine, die Arbeitseinstellungen, Boykotts, Strasmittel der Vereine Die Llnternehmerverbände, die Einigungskammern und die Schiedsgerichte Schlußergebnis des zweiten Buches
Drittes Buch. Der Klaffenkampf in Geschichte und Gegenwart
221
326 337 353 358 363 367 378 389 400 413 426 450 468 487 503 515
517 517 521 - 528
Inhaltsübersicht.
IX Seite
Z w e i t e s K a p i t e l . Die Klassengeschichte der neueren Kulturvölker. . 1. Die mittelalterliche Klassengeschichte bis ins 15. Jahrhundert . . 2. Die neuere Geschichte der agrarischen Klassen 3. Die gewerbliche Klassengeschichte. Bourgeoisie und industrielle Arbeiter, ihre Organisationen und ihre Kämpfe 4. D a s Wesen der Klassenkämpfe und Klassenherrschaft überhaupt, ihre Überwindung
542 542 554
D r i t t e s K a p i t e l . Die soziale Gesamtentwicklung 1. Der gegenwärtige Stand und Ausblick in die nächste Zukunft. .
634 634
Personenverzeichnis Sachverzeichnis
655 662
598 619
Verzeichnis der gebrauchten Abkürzungen. A. d. pol. Ökon. Archiv der politischen Ökonomie und Polizeiwissenschaft. B d . 1—5, 1835—1843. Herausgegeben von H. R a u . Neue Folge der ganzen Reihe B d . 6—15, 1843—1853. Herausgegeben von H. R a u und G. Hanssen. A. f. soz. G. Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. B d . 1—17, 1888 bis 1903. Herausgegeben von v r . Heinrich B r a u n , seit B d . 19, 1904 ff., herausgegeben von Sombart, Weber, I a f f 6 als Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. A. f. E. ^ Archiv für Eisenbahnwesen. 1878 ff. Arb. F r . Der Arbeiterfreund. Zeitschrift f ü r die Arbeiterfrage. Organ des Zentralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen. B d . 1—10, 1863 -1872, herausgegeben von K. Brämer, B d . 11 ff-, herausgegeben von V . Böhmert. Bluntschli, S t . W . I . E. Bluntschli und K. B r a t e r , Deutsches Staatswörterbuch. 11 Bände, 1856-1870. D. V . I . Deutsche Vierteljahrsschrift. 1838 ff. D . Z. f. Gesch. W . ^ Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Herausgegeben von L. Quidde. 1889ff. F . z. br. u. pr. Gesch. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. B d . 1—4, 1888—1891, herausgegeben von R . Koser, B d . 5—9, 1892—1897, herausgegeben von A. Naud6, B d . 10ff., 1898ff., herausgegeben von O. Hintze. Historische Zeitschrift. Begründet von H. v. Sybel, herausgegeben Hist. Zeitsch. von F . Meinecke. 1859 ff. H. W . Iff. u. Sup. 1,2---Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Herausgegeben von I . Conrad, L. Elster, W . Lexis, Ed. Loening. 6 Bde. 1890—1894. 2 Supplemente, 1895-1897. 2. Aufl. seit 1898 ff., 3. Aufl. seit 1909 ff. I . f. G. V. 1877 ff. — Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche. Jahrgang 1—4, 1877—1880. Herausgegeben von F . von Holtzendorff und L. Brentano. Jahrgang 5 ff., von 1881 an herausgegeben von G. Schmoller. Z . f . N . I . F . 1,1863ff.; 2. F . 1,1880ff.; 3. F . 1,1891 ff. ^ Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. 1. Folge, B d . 1—34, 1863—1879; 2. Folge, B d . 1—21, 1880-1890; 3. Folge, B d . 1, 1891 ff. Begründet von B r u n o Hildebrand. Herausgegeben von I . Conrad, L. Elster, Ed. Loening, W . Lexis. K. d. G. Die Kultur der Gegenwart. I h r e Entwicklung und ihre Ziele. Herausgegeben von P a u l Hinneberg. B d . 1, 1906 ff. P r . I . 1, 1858ff. ^ Preußische Jahrbücher. R.A.Bl. Reichs-Arbeitsblatt. Herausgeg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt, Abteilung f ü r Arbeiterstatistik, seit 1903. Röscher, Ansichten d. V . W . Wilhelm Röscher, Ansichten der Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte. 3 Auflagen, 1861 und 1878. Rümelin, R . A. 1, 2 u. 3 Gustav Rümelin, Reden und Aussätze. 3 Bde. 1875, 1881, 1894.
Verzeichnis der gebrauchten Abkürzungen.
XI
Schmoller, Gesch. d. Kleingew. Gustav Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Statistische und nationalökonomische Untersuchungen. 1870. Schmoller, Lit. Geschichte Gustav Schmoller, Zur Literaturgeschichte der Staatsund Sozialwissenschaften. 1888. Schmoller, Soz. u. Gew. P . Gustav Schmoller, Zur Sozial- und Gewerbepolitik der Gegenwart. 1890. Schmoller, Grundsr. Gustav Schmoller, Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre. 1898. 2. vermehrte Auflage 1904. Schmoller, 5l. U. Gustav Schmoller, Llmrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, besonders des preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert. 1898. Schönberg, 5>. d. p. Ö. ^ Handbuch der politischen Ökonomie. Herausgegeben von G. v. Schönberg. 3 Bde. 4. Aufl. 1896—1898. Stat. Monatsschr. ^ Statistische Monatsschrift. Herausgegeben von der k. k. statistischen Zentralkommission. Wien. 1875 ff. S . V. f. S. ^ Schriften des Vereins für Sozialpolitik. Bd. 1—125. 1873—1908. V. I . Sch. f. Soz. u. W. Gesch. ^ Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Herausgegeben von St. Bauer, G. v. Below, L. W. Hartmann. 1903 ff. V. I . Sch. f. V. W. u. K. G. Vierteljahrsschrift für Volkswirtschaft und Kulturgeschichte. Herausgegeben von Iul. Faucher u. a. 1863—1893. W. V. 1 u. 2 ^ Wörterbuch der Volkswirtschaft. Herausgegeben von L. Elster. 2 Bde. 1898. Z. d. pr. st. V. - Zeitschrist des königlich preußischen statistischen Bureaus. 1861 ff. Z. f. d. g. H. ^ Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht. Herausgegeben von L. Goldschmidt u. a. 1858 ff. Z. f. Soz. W. ^ Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Herausgegeben von I . Wolff. 1898—1909, Neue Folge, fortgef. von Ludwig Pohle 1910 ff. Z. f. St. W. 1844 ff. Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Herausgegeben von A. v. Schaffte. 1844—1903, seit 1904 von K. Bücher. Z. f. Völkerpsych. Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Herausgegeben von M. Lazarus und H. Steinthal. 20 Bde. 1860—1890. Z. f. V. W. Soz. u. V. ^ Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Herausgegeben von E. v. Böhm-Bawerk, K. Th. v. Inama-Sternegq, E. v. Plener. 1, 1892 ff.
Druckfehlerverzeichnis. S.
60 Zeile 4 von oben lies statt „Burkhardt" Burckhardt.
S . 173 fehlt hinter dem letzten Wort auf der Seite „Berg-" ein Komma. S . 251 ist die 20. und 21. Zeile zu streichen. S . 272 Zeile 15 von unten lies statt „diesem" meinem. S . 277 Zeile 6 von oben lies statt „Maculloch" Macculloch. S . 287 Zeile 8 von unten lies statt „englichen" englischen. S . 319 Zeile 5 von unten lies statt „Philoppovich" Philippovich. S . 324 Zeile 5 von unten lies statt „ R . A . B l . IV. 1906" (Vgl. R . A . B l . IV 1906 S . 1110). S . 420 Zeile 6 von unten lies statt „Llnterstützungskafsen und Gewerkvereine" . . . lassen der Gewerkvereine. S . 463 Zeile 8 von unten lies statt „Lasalle" Lassalle. S . 495 Zeile 17 von unten lies statt „Iointed Committees" joint cvmmittees. S . 496 Zeile 17 von oben lies statt „Lautenschläger" Lautenschlager.
Erstes Buch. Die soziale Klassenbildung.
S c h m o l l e r , Klassenbtldung, Arbeiterfrage, Klassenkampf.
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Erstes Kapitel.
Die Arbeitsteilung. 1. Wesen «nd Entstehung der Arbeitsteilung. Wir treffen in älterer Zeit die Stämme und Völker in sich nach Geschlechtsverbänden, bald auch nach Nachbarschaftsbeziehungen, Ortsgemeinden gegliedert. Mit einer gewissen Höhe der Kultur tritt teils an Stelle, teils neben dieser Gliederung eine solche nach Berufsarbeit und Eigentumsverteilung. Dem liegt das große Prinzip der Arbeitsteilung zugrunde, das wir im weitesten Sinne des Wortes fassen, das nicht bloß wirtschaftliche, sondern viel allgemeinere Folgen für alles menschliche und gesellschaftliche Leben hat, aber vor allem durch die Differenzierung der Gesellschaft volkswirtschaftlich gestaltend wirkt. Wir werden dieses Prinzip nur dann richtig fassen, wenn wir, von der gesellschaftlichen Natur des Menschen, von den verschiedenen Arten gesellschaftlicher Verbindung, von den gemeinsamen Gefühlen und dem gemeinsamen Handeln der Menschen ausgehen. Aus den vorhandenen Gemeinsamkeiten geht alles hervor» was wir Teilung der Arbeit nennen. Nur das tatsächlich oder in der Vorstellung der Menschen Gemeinsame kann in seiner Scheidung als etwas Geteiltes aufgefaßt werden. — Seit die denkenden Griechen die Berufsgliederung in ihren rasch zu hoher Kultur gelangten Gemeinwesen beobachtet sowie die weitgehende gewerbliche Arbeitsteilung Ägyptens als eine Ursache des dortigen Wohlstandes erkannt hatten, bildet die Betrachtung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ein Element aller gesellschaftlichen Theorien. Adam Smith hat dann, sich an Ferguson anschließend, die Arbeitsteilung in den Handwerksstätten und Manufakturen seiner Zeit studiert, hat aus diesen Erscheinungen allgemeine Schlüsse gezogen, die technische und die tauschwirtschaftliche Arbeitsteilung zum Mittelpunkte seines Systems gemacht. Mit merkwürdiger Gedankenarmut haben seine Nachfolger an seinen Beispielen und Sätzen festgehalten, bis Marx die Beobachtungsreihen erweiterte, die Arbeitsteilung in der heutigen Fabrik der Werkstattarbeitsteilung des 18. Jahrhunderts entgegensetzte. Einen weiteren Anstoß hat die Lehre neuerdings durch die Biologie erhalten. Sie begann Pflanzen und l»
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l. Buch. Die soziale Klassenbildung. 1. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
Tiere unter dem Bilde eines Zellenstaates zu betrachten, der durch Differenzierung der Zellenindividuen höhere Formen des Daseins erreiche ; sie lehrte, daß eine Art Arbeitsteilung die besonderen Organe der Körperbedeckung, der Ernährung, der Fortpflanzung, die besonderen Nervenzellen und Muskelzellen geschaffen habe; sie wies nach, daß die niedrigstehenden Wesen eine geringe, die am höchsten stehenden die entwickeltste Zellenverschiedenheit aufzeigen; sie lenkte unsere Aufmerksamkeit weiter auf die Arbeitsteilung der Tierstaaten hin; hauptsächlich Herbert Spencer und Schäffle haben diese Gedankenreihen staatswissenschaftlich zu verwerten, durch Vergleichungen und Analogien Anregung zu geben gesucht; sie haben aber auch da und dort den großen Unterschied zwischen dem Zellenstaate und der menschlichen Gesellschaft übersehen, der darin besteht, daß selbst der niedrigste und roheste Mensch in ganz anderem Maße Selbstzweck bleibt als die Pflanzen- oder Tierzelle. Jedenfalls ist es zunächst Aufgabe der sozialen Wissenschaften, die gesellschaftliche Arbeitsteilung für sich zu betrachten, sie nach allen Seiten richtig zu beschreiben, die hieher gehörigen Erscheinungen zu klassifizieren und daraus die für unsere Wissenschaft brauchbaren Schlüsse zu ziehen. Einen solchen Versuch habe ich 1889 veröffentlicht. Bücher ist 1893 mit einer Untersuchung der gewerblichen Arbeitsteilung und ihrer Unterarten gefolgt. Simmel und Dürkheim haben die Frage vom soziologischen und moralischen Standpunkte aus behandelt. Wir versuchen, im folgenden zuerst eine Übersicht der hieher gehörigen Tatsachen zu geben, dann die wichtigsten allgemeinen Schlüsse daraus zu ziehen. Wir müssen aber vorher doch über Begriff und Entstehung der Arbeitsteilung ein paar Worte sagen. Die Arbeitsteilung ist eine und vielleicht die wichtigste Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens, sie trennt und verknüpft die Menschen politisch, geistig, wirtschaftlich, und zwar in dem Maße, wie die Kultur steigt, die gesellschaftlichen Körper größer und verschlungener werden. Die Stämme roher, primitiver Menschen zeigen wenig körperliche und geistige Verschiedenheit; jeder lebt, nährt sich wie der andere, stellt seine Kleider und Geräte wie der andere her; auch der Häuptling führt alle die kleinen Verrichtungen für seinen eigenen Bedarf aus wie der letzte Stammesgenosse; selbst M a n n und Frau unterscheiden sich nicht viel in ihrer wirtschaftlichen Lebensfürsorge, so lange jedes auf sich angewiesen ist. Sobald nun zu gewissen Arbeiten mehrere zusammentreten, sei es der Geselligkeit, sei es der Größe und Krafterfordernis der Aufgaben wegen, entsteht eine gewisse Vergesell-
1. Wesen und Entstehung der Arbeitsteilung.
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schaftung,- die Sippen in ihrer Tätigkeit, auch die Familien, später Nachbarn und Arbeitsgenossenschaften, die ältere Kriegsverfassung, manche Arbeiten, die mit der Feldgemeinschaft sich ergeben, führen zu solcher Gemeinschaft der Arbeit; Bücher hat diese Formen neuerdings zu beschreiben und zu klassifizieren gesucht. Aber sie erzeugen zunächst nur die Gemeinsamkeit der gleichen, oft im Rhythmus verrichteten Arbeit, die nicht differenziert, meist nur vorübergehend die Menschen in Beschlag nimmt. Sobald aber einer befiehlt, die anderen gehorchen, sobald die Frau den Hackbau treibt, der M a n n jagt, sobald ein Teil der Männer Eisen schmilzt und Geräte fertigt, der andere den Acker baut, sind die Anfänge der Arbeitsteilung und eine höhere Form der Organisierung der gesellschaftlichen Gruppen vorhanden. Alle Arbeitsteilung knüpft an gewisse geistige, moralische, kriegerische, technische Fortschritte an. Aber nicht jeder solche Fortschritt erzeugt sofort Arbeitsteilung. Die meisten Verbesserungen menschlichen Tuns, menschlicher Arbeitsmethoden fügen sich zunächst in die hergebrachte Lebensweise der Betreffenden so ein, daß sie zu einer zeitweise geübten Funktion ihres täglichen Lebens und Treibens werden. D a s Feuer, die Werkzeuge, die Tierzähmung, die Künste des Kochens, Spinnens und Webens sind Jahrtausende lang von allen oder den meisten Gliedern unzähliger Stämme so ausgeübt worden, ohne zu einer Arbeitsteilung Anlaß zu geben. Jahrhunderte lang war der römische Bauer zugleich Soldat, der römische Großgrundbesitzer nebenher Priester, Jurist, Offizier und Kaufmann. Die ausgebildete Haus- und Eigenwirtschaft der indogermanischen und semitischen Völker umfaßte lange Ackerbau, Viehzucht und gewerbliche Künste aller Art, wie heute noch die der norwegischen und anderer isolierter Bauern. B i s in die Gegenwart bleibt überall ein Teil alles wirtschaftlichen und Kulturfortschrittes auf das Ziel gerichtet, in den Tätigkeitskreis der Individuen und Familien so weitere Einzelheiten und Verbesserungen einzufügen, die mit der bestehenden Lebensweise sich vertragen. Die Arbeitsteilung setzt erst da ein, wo ein Teilstück der Lebenssphäre so anwächst, daß es nicht mehr Glied derselben bleiben kann, daß es seinen eigenen M a n n fordert, wo die Einfügung neuer Operationen und Tätigkeiten ins hergebrachte Leben nicht geht, nicht die erstrebten Resultate liefert, wo man für die neue Tätigkeit einen freiwilligen oder erzwungenen Vertreter und eine ernährende Lebensstellung für ihn findet oder eine solche schaffen kann. D a s Leben derer, für die der arbeitsteilig Tätige nun eine Arbeit
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1. Buch. Die soziale Klassenbildung, l. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
übernimmt, wird meist nicht allzuviel verändert, es wird nur an einzelnen Punkten entlastet. Aber der, welcher den Teilinhalt nun zu seiner Lebensaufgabe macht, muß seine Lebensweise gänzlich umgestalten. Zwar muß auch er für seine und seiner Familie Wirtschaft und Lebenszwecke eine gewisse Zeit und Kraft behalten, denn bestimmte unveräußerliche Eigenzwecke kann niemand aufgeben, aber sie werden eingeschränkt, müssen sich mit seiner neuen Tätigkeit für andere vertragen. Jeder Fortschritt der Arbeitsteilung verläuft so in Kompromissen zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen der bisherigen Vielseitigkeit der Arbeit und der Spezialisierung. W a s früher allgemein und selbstverständlich in der Wirtschaftsführung der Familie, der Gemeinde, einer Unternehmung verbunden war, ist nun eine getrennte Funktion von zweien oder mehreren, und wenn sich diese Scheidung eingelebt hat, so erscheint sie von diesem Standpunkte aus als etwas, dessen Verbindung, wo sie noch besteht, überrascht, als rückständig gilt. Und doch hatte die ältere Verbindung oft moralische und politische, ja auch große wirtschaftliche Vorteile. Noch heute stellt jede Familienwirtschaft solche Kombinationen dar, aus der durch Arbeitsteilung dies und jenes (z. B . das Bereiten der Mahlzeiten) unter Umständen auszuschalten wäre. Die Kleinbauern und Tagelöhner, die Maurer und Zimmerleute, die im Winter weben und schnitzen, können für bestimmte Verhältnisse heute ebenso am Platze sein, wie vor 40l) Iahren der Schuster, der zugleich Gerber war. Da und dort kann freilich auch die Not zu heterogenen Verbindungen führen, welche nicht hergebracht, sondern, aus Not neu erdacht und geübt, technisch geringe Leistungen zum Ergebnis haben. W o unter bestimmten Verhältnissen technische Funktionen, die anderwärts längst getrennt sind, noch in einer Person sich vereinigen, könnte man von halber Arbeitsteilung reden, während wir unter der ganzen Arbeitsteilung diejenigen spezialisierten Tätigkeiten verstehen, welche die Lebensarbeit der Betreffenden ganz oder überwiegend ausmachen. Wir werden so die A r b e i t s t e i l u n g definieren können als die ü b e r w i e g e n d e und dauernde Anpassung der menschlichen A r b e i t s k r ä f t e an bestimmte spezialisierte A u f g a b e n und Tätigkeiten, welche der einzelne nicht für sich, sondern für mehrere, für viele, für das Volk oder auch für Fremde ausübt. Ist das Neue von Anfang an so eigentümlich, bedeutsam, zeit- und kräfteraubend, daß es gar nicht in den Kreis der alten Hauswirtschaft und Lebensweise eingefügt wird, sondern gleich besondere Kräfte und Geschäfte fordert, wie z. B . heute die Photographie, die Produktion
I. Wesen und Entstehung der Arbeitsteilung.
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von Gas, Elektrizität, Lokomotiven, so sprechen wir doch ebenso von Arbeitsteilung, wie wenn das Spinnen und Weben aus der Familienwirtschaft ausgeschaltet wird. Und ebenso wenn zwei bisher fremde Stämme ihre Waren und Produkte tauschen, die sie bisher nicht kannten. Unser Sprachgefühl, welches Derartiges Arbeitsteilung nennt, fingiert dabei nicht, daß früher das Getrennte in einer Hand gelegen habe, sondern es will nur sagen: eine rechtlich und gesellschaftlich irgendwie geordnete nationale oder internationale Gemeinschaft hat Teile ihrer gemeinsamen Bedürfnisse einzelnen zu befriedigen, übertragen oder überlassen. Die Resultate, welche mit der Arbeitsteilung erreicht werden, können historisch nicht ihre Ursache sein, denn sie konnten in ihrem ganzen Umfange nicht vorausgesehen werden. Auch ein angeblicher Tauschtrieb kann nicht, wie Adam Smith meint, der kausale A u s gangspunkt sein, denn es gibt eine umfangreiche Arbeitsteilung ohne Tausch, z. B. im Geschlecht, in der Familie, und die primitiven M e n schen haben eher eine Abneigung gegen den Tausch, wie sie eine Abneigung gegen jede Änderung hergebrachter Lebensgewohnheiten besitzen. Diese mußte überwunden werden, so oft ein Schritt der Arbeitsteilung gelingen sollte und deshalb war jeder Fortschritt schwierig und langsam; er hing stets an der nie leicht gelingenden Ausbildung neuer Sitten und Institutionen. Doch wirkt diesen Hindernissen entgegen, was allen Fortschritt bedingt: die Lust am Neuen, der tastende Sinn nach Verbesserung, die Not des Lebens, die zu Versuchen treibt, über die Schwierigkeiten der Existenz besser Herr zu werden, der Spürsinn, der nach verbesserter Leistung sucht, die dämmernde Einsicht in das kräftesparende Prinzip der Arbeitsteilung. Vielfach nötigte die wirtschaftliche Einsicht eines Herrschenden die ihm untergebenen Kräfte zur Arbeitsteilung, so der Familienvater die Familienglieder und die Sklaven, der Grundherr seine Hörigen, der Fabrikbesitzer seine Arbeiter. Überall gab die Verschiedenheit der menschlichen Kräfte gleichsam eine stillschweigende Anleitung zur Arbeitsteilung. Freilich hat oft auch erst sie die Kräfte nach und nach differenziert. Und bei allen Stämmen niedriger Kultur ist die Verschiedenheit der Individuen ja noch unerheblich, oder wird sie nicht bemerkt. Aber mindestens der Unterschied des Alters gab Anlaß zu zeitweiser, der des Geschlechtes zu dauernder verschiedener Tätigkeit. Außerdem: gewisse Verschiedenheiten der Kraft, des Fleißes, der Klugheit hat es stets gegeben, und sie traten stärker hervor, wenn der Vater seinen Söhnen dauernd verschiedene Aufgaben zuwies; sie zeigten sich deut-
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1- Buch. Die soziale Klassenbildung, l. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
lich, wenn große technische oder wirtschaftliche Fortschritte in Frage standen, denen die einen gewachsen waren, während die anderen sich als unfähig zeigten, sie mitzumachen. Jedenfalls aber waren, seit es verschiedene Rassen gab, seit die verschiedenen Stämme teils im Gebirge, teils in der Ebene, teils am Wasser lebten, seit so verschiedene Arten der Ernährung, der Lebensweise, der Geschicklichkeit sich ausbildeten, die Individuen der einzelnen Rassen und Stämme durch einen Jahrtausende umfassenden Prozeß natürlicher Beeinflussung und eigentümlicher erblicher Entwicklung so weit differenziert worden, daß fast jede Rasse und jeder Stamm einzelne Fertigkeiten und Güter besaß, die dem anderen mangelten. Und je stabiler und unbiegsamer in Lebensweise und Sitte, je unfähiger zur Aneignung neuer Künste alle primitiven Rassen, ja selbst heute noch breite soziale Schichten unserer Kulturvölker sind, desto größeren Einfluß auf die langsam beginnende Arbeitsteilung mußten diese ethnischen Verschiedenheiten haben. Wie ein roter Faden geht es durch alle Kulturgeschichte hindurch, daß Fremde die neuen Künste und Fortschritte bringen; noch heute rekrutieren sich bei dem Durcheinanderwohnen verschiedener Rassen immer wieder dieselben Berufe aus den verschiedenen ethni' schen Elementen. — Bei den folgenden Darlegungen wird die Schwierigkeit sein, die Arbeitsteilung, losgetrennt von ihren Ursachen und ihrer praktischen Ausgestaltung in der Gesellschaft, von den konventionellen Ordnungen und Institutionen, in welchen sie allein Leben gewinnt, vorzuführen. Wollte man diese Scheidung nicht vornehmen, so würden wir hier die ganze volkswirtschaftliche Organisation und alle ihre Ursachen darlegen müssen. Eine isolierende Untersuchung der Arbeitsteilung ist an sich berechtigt und hier angezeigt, da wir die Arbeitsteilung wesentlich als Vorstufe der gesellschaftlichen Klassenbildung darlegen wollen. Immer aber ist der große weltgeschichtliche Entwicklungsprozeß der Arbeitsteilung anschaulich nur zu geben mit Ausblicken auf Ursachen und Folgen, mit da und dort eingestreuten kurzen Darlegungen der gesellschaftlichen Einrichtungen, welche der Arbeitsteilung ihre bestimmte historisch wechselnde Form gaben. Den Stoff gliedern wir nach gewissen in sich zusammenhängenden Teilen oder Gebieten, innerhalb derselben nach historischer Folge. Die Arbeitsteilung auf jedem der von uns unterschiedenen Gebiete ist eine in sich zusammenhängende Kette von Erscheinungen. Daneben hat jedes Volk für sich seine Geschichte der Arbeitsteilung, die aber in ihren einzelnen Teilen der Gesamtentwicklung der Menschheit an-
l. Wesen und Entstehung der Arbeitsteilung.
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gehört. Wenn die verschiedenen Völker im ganzen eine einheitliche Entwicklungsreihe uns zeigen, so liegt es teils darin, daß immer wieder dieselben Ursachen selbständig zur selben Scheidung führten, teils darin, daß die Gepflogenheiten einer älteren Arbeitsteilung häufig im Zusammenhang mit einer gewissen Technik oder mit gewissen I n stitutionen auf die jüngeren Völker durch Nachahmung übergingen. D a s erste wichtige Gebiet, das uns bei einer Scheidung der hieher gehörenden Erscheinungen entgegentritt, ist die A r b e i t s t e i l u n g in der F a m i l i e , die zwischen M a n n und Frau, zwischen den dienenden Gliedern derselben. S i e hat in der patriarchalischen Großfamilie ihre Hauptausbildung erhalten, spielt aber heute noch eine erhebliche Rolle. Für alle spätere und weitere Arbeitsteilung ist vor allem die Tatsache wichtig, daß die vollen Konsequenzen derselben wohl für die Familienväter, nicht aber ebenso für die Hausfrauen und deren Gehülfinnen gezogen werden. Alle hauswirtschaftliche Frauentätigkeit ist zwar von der Produktion der Güter im großen heute getrennt, stellt jedoch in sich die universalste Vielgestaltigkeit ungetrennter Arbeitsfunktionen dar. Wir müssen uns versagen, auf dieses ganze Gebiet hier einzugehen, da dieser erste Schritt der Arbeitsteilung die gesellschaftliche Klassenbildung nicht so beeinflußt, wie die späteren. A l s ein zweites großes Gebiet der Arbeitsteilung stellt sich uns die Erhebung der Priester, Krieger und Häuptlinge in der älteren Zeit, der Händler in der späteren über die Masse des übrigen Volkes dar. Ihr steht als Gegenstück die Entstehung einer Schicht handarbeitender Kreise, der Sklaven, der Hörigen, der freien Lohnarbeiter gegenüber. E s handelt sich auf diesem Gebiete um die Scheidung der höheren von der niederen, der geistigen von der mechanischen Arbeit; es ist das Stück Arbeitsteilung, welches aristokratische, herrschende Klassen und daneben untere, dienende, beherrschte erzeugt. Ich bezeichne sie als die soziale und berufliche A r b e i t s t e i l u n g ; sie ist es zuerst, welche die Scheidung in Klassen und Berufsstände herbeiführt. D a s dritte Gebiet, das wir betrachten, betrifft die S c h e i d u n g der Gewerbe von der H a u s - und Landwirtschaft, sowie die Arbeitsteilung in der letzteren und in den Gewerben. Die gewerbliche Arbeitsteilung erfolgt einerseits nach den Geschäften und Unternehmungen, andererseits innerhalb der Betriebe. Wir fügen dann einige Worte über die Entstehung der Arbeitsteilung innerhalb der l i b e r a l e n B e r u f e bei, die gleichsam die modernen Nachfolger der Priester, in gewissem Sinne auch der Häuptlinge und Krieger sind.
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l. Buch. Die soziale Klassenbildung
1. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
Alle diese Teile der Arbeitsteilung gehören mehr der neueren Entwicklung an,stellen Entwicklungsvorgänge dar, die mehr in ihren Gesamtergebnissen a l s in ihren Einzelheiten klassenbildend wirken, die vorhandenen drei Hauptgruppen, Aristokratie, Mittelstand, untere Klassen weiter scheiden, vielfach aber auch nur im Mittelstande Platz greifen. Wir schließen die Tatsachenschilderung mit einigen Bemerkungen über die räumliche A r b e i t s t e i l u n g und über die Versuche einer allgemeinen Beurteilung und zahlenmäßigen Erfassung der Arbeitsteilung, um dann ihre allgemeinen Ursachen und Folgen im Anschluß an diese Vorführung der Tatsachen zu erörtern.
2. Das Priester- und Kriegertum. Häuptlinge, Priester und Krieger sind die Berufsarten, die zuerst mit der Ausbildung der Stammesverfassung und des geistigen Lebens sich von der übrigen Menge abheben. Ihre Entstehung ist oft eine gleichzeitige; doch scheinen Zauberer und Priester da und dort vorhanden zu sein, wo besondere Krieger noch fehlen, die Häuptlinge noch wenig Bedeutung haben. Auch bei sehr rohen Stämmen, ja wir können sagen, bei den meisten, die man bis jetzt näher kennen gelernt hat, findet man Zauberer und Heilkünstler; in Nordasien sind sie unter dem Namen der Schamanen, in Amerika als Medizinmänner, in Afrika als Gangas, in der Südsee unter verschiedenen Namen bekannt. Ihre Tätigkeit entspringt dem Glauben, daß die Seele des Menschen nach dem Tode sich da oder dort in einem Gegenstande, einem Tiere, einem Steinbilde, einem Grabe niederlasse, dem Menschen Verderben bringe, wenn man ihr nicht opfere, daß überhaupt ein Heer von Geistern den Menschen umgebe und all sein Glück oder Unglück beherrsche, daß alle Krankheit auf die Geister zurückzuführen sei, daß daher die Beschwörung dieser Geister, ihre Versöhnung durch immer weiter sich steigernde Kultakte, Blutdarbringungen, Fasten, d. h. Enthaltungen zu ihren Gunsten, und Opfer aller Art das dringlichste Bedürfnis sei. Männer, in die scheinbar die Geister gefahren, wie Epileptische, Nervöse, mit Veitstanz Behaftete, Kränkliche, die sich nicht wie die gewöhnlichen Wilden ernähren können, haben sich wohl zuerst als die der Geister Kundigen oder als Vermittler ihren Stammesgenossen angeboten; sie erziehen ihre Kinder oder andere Schüler abseits in der Einsamkeit, im Walde, unter allen möglichen Kasteiungen und Plagen zu ähnlichem Berufe. Und so entsteht eine Klasse von Zauberern, Priestern und Ärzten,
2. Das Priester- und Krtegertum-
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welche, durch Zucht und Selbstbeherrschung gestählt, durch Kenntnisse und Übung aller Geisteskräfte den anderen überlegen, im Besitze von scheinbar wunderkräftigen Fetischen, d. h. von mit Zauberkraft durch Geister ausgestatteten Gegenständen sich befinden; es sind Männer, welche mit Hilfe der ihnen zugänglichen Geister gegen Geschenke und Bezahlung unter allen möglichen Formeln, ekstatischen Erregungen, Beschwörungen und Vermummungen, bei Feuerlicht und Musik die bösen Geister vertreiben, die Kranken heilen, Regen machen, die Bösewichter entdecken; daneben kundschaften sie die Feinde aus, tragen ihre Fetische in Kriegszügen als siegbringende Götter mit, leiten die Gottesurteile, werden so halb und halb die Richter und Polizeiorgane in ihrem Kreise, kurz, erringen eine immer angesehenere, oft das ganze soziale Leben der Stämme beherrschende Stellung. Um die Grabdenkmäler der Häuptlinge, die zu Tempeln und Gotteshäusern werden, sammeln sich dann später die mit regelmäßigen Geschenken und Zehnten, mit Land, Vieh und Sklaven ausgestatteten Priesterscharen. Sie sind ursprünglich nach Geschlechts-, Lokal- und Gaukulten gespalten, oft auch nach den verschiedenen Krankheiten, die sie heilen können, nach den Fetischen und Geistern, über die sie verfügen, wie wir das heute in Afrika selbst bei recht niedrigstehenden Negern sehen. Aber aus der Gemeinsamkeit der Fetische, der Zauberformeln und der Lehre bilden sich größere Kultbünde und Genossenschaften. Und oft gerade im Zusammenhang mit großen nationalen und religiösen Fortschritten entsteht aus den Kämpfen der kleinen Priestergruppen ein einheitlich organisierter Bund der Priester des ganzen Volkes, der die freien Zauberer und die alten lokalen Priesterzünfte zu unterdrücken sucht. Wellhausen hat uns gezeigt, wie so der Bund der Leviten, um den Iehovakultus und die Priesterherrschaft zu befestigen, sich unter Aufzeichnung der Geschlechtsregister einheitlich organisierte, die Abstammung aller seiner Glieder von einem Stammvater lehrte, die priesterlichen Satzungen definitiv fixierte. Ähnlich wird es anderwärts, in Ägypten, Indien, Mexiko und Peru gegangen sein, während bei den Griechen und Römern das Priestertum mehr als Nebenwürde der Häuptlinge und des weltlichen Adels erscheint, bei den Kelten die Herrschaft der Druiden durch die römische Eroberung gebrochen wird, bei Slaven und Germanen eine abschließende Sonderbildung der Priester noch nicht vollzogen war, als das Christentum eindrang. Die christliche Kirche des Mittelalters ruht auf einer internationalen Priesterzunft, die zwölf Jahrhunderte lang an der Spitze der europäischen Menschheit steht.
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1. Buch. Die soziale Klassenbildung. 1. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
Die ganze Entwickelung ist in ihrem Höhepunkte ebensosehr Ständebildung wie Arbeitsteilung, aber ihre Kraft ruht ausschließlich auf der speziellen Ausbildung der sittlichen und geistigen Kräfte bei den Zauberern und Priestern und den hiedurch ihnen allein möglichen Leistungen. Kein späterer Schritt der Arbeitsteilung und Ständebildung hat tiefer eingegriffen als dieser: die Geisterfurcht des Naturmenschen und das unklare Gefühl der Abhängigkeit von den dahingegangenen Geschlechtern wird das große Instrument, die Millionen für Jahrhunderte und Jahrtausende in eine fast sklavische Abhängigkeit von einer kleinen Priesterschar zu bringen; die Erfüllung der endlosen, alles Leben auf Schritt und Tritt begleitenden, teilweise tiefsinnigen und wohldurchdachten, teilweise aber auch sinnlosen Kulthandlungen wird eine psychische und wirtschaftliche Last, die auf die Individuen und die Gesellschaft mit nie ruhender Qual drückt. Ein Drittel und mehr alles Bodenertrages und aller Arbeitskraft nimmt die Priesteraristokratie und der Kult in den alten Priesterstaaten und im Mittelalter in Anspruch, als Gegengabe die ganze Leitung der Stämme übernehmend, geistigen Trost spendend und auf das Leben im Jenseits verweisend. Furchtbare Mißbräuche, roher Betrug, gemeine Übervorteilung knüpfen sich da und dort an die Priesterschaft, zumal in ihren späteren Stadien. Für diese späteren Phasen der priesterlichen Standesentwickelung ist es auch nicht falsch, sie teilweise auf den Vermögensbesitz zurückzuführen, obwohl stets die Erziehung die wichtigste Ursache ihrer Macht blieb. Für alle ältere Zeit ist es eine Umkehr des ursächlichen Zusammenhanges, wenn man die Stellung der Priester aus ihrem Besitz ableiten will. Ihre geistigen Kräfte waren die Ursache ihres Ansehens, ihrer Macht; die priesterliche Führung war doch für alle Kulturvölker die Bedingung ihrer ersten großen Erhebung; nicht umsonst sind Jahrhundertelang die Priesterstaaten die Träger des Fortschrittes, die reichsten und gebildetsten Gemeinwesen. Die Arbeitsteilung, die mit dem Priestertum platz griff, war eben in der Hauptsache doch nichts anderes als ein Sieg der edleren und klügeren Elemente über die rohe Kraft der Masse. D a s Vertrauen der großen Menge auf die scheinbar übernatürliche Kräfte besitzenden Priester bezeichnet Herbert Spencer a l s unentbehrliches Hilfsmittel des gesellschaftlichen Zusammenfassens der Kräfte auf primitiver Kulturstufe. Indem die Priester mit Orakeln, Kultvorschriften und Gesetzen die Menge bändigten und ordneten, schoben sich allmählich in die rohen Vorstellungen über Befriedigung der Toten und der Geister die sitt-
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lichen Gebote eines höheren sozialen Daseins ein. A u s der Vorstellung, daß Opfer, Fasten und Geschenke die Götter beschwichtigen, wurde die edlere, daß die Zauberformel des heiligen Wortes und das Gebet die Hauptsache sei; aus der Vorstellung, daß gerecht sei, wer viel Kühe den Priestern darbringe, wurde die edlere, daß gerecht sei, wer seine Eltern ehre, nicht stehle, nicht lüge, nicht ehebreche, den Witwen und Waisen beistehe. Die Priester waren für unendlich lange Zeiträume die Pfadfinder und Bahnbrecher auf den Wegen der sozialen Zucht und der steigenden sittlichen Erkenntnis, des Tempelund Hausbaues, der Zeit- und Kalenderbestimmung, der Schriftkunde und unzähliger anderer Fortschritte. S i e waren für Jahrhunderte die politischen und wirtschaftlichen Organisatoren, die ersten Sammler großer Schätze, die ersten Bankiers, die ersten Techniker und Leiter großer gemeinnütziger Wasser- und Strombauten. Die Priester lebten ursprünglich von Bettel, Geschenk und Gaben, teilweise blieben sie auch Hauswirte und Ackerbauer; bei manchen Völkern ging die Priesterschaft aus den Familien der Häuptlinge und des Adels hervor, schied sich erst später von diesen Kreisen; in diesem Fall hatte sie eine ähnliche wirtschaftliche Grundlage wie jene; wo eine eigentliche Priesterherrschaft und feste kirchliche Organisation entstand, erwarb sie nach und nach eine, wie schon erwähnt, mit Vermögen und Einkommen aller Art ausgestattete Stellung. Die Priester vereinigten in älterer Zeit alle höhere geistige Bildung, sie sind zu gleicher Zeit die Ärzte, die Kenner des Rechtes, die Jugenderzieher und Lehrer; sie sind Astronomen, alle feinere Kunst und Technik liegt in ihren Händen. Auf dem Höhepunkte ihrer Herrschaft haben sie sich selbst in eine Hierarchie höherer und niederer, arbeitsgeteilter Berufe und Beschäftigungen geschieden. Die schreibende, buchführende Verwaltung hat Jahrhunderte lang da und dort in ihren Händen gelegen. Ihr hohes Einkommen haben sie ursprünglich zur Sammlung von Familienvermögen, später, zumal wo das Zölibat herrschte, wie in der mittelalterlichen Kirche, zur Anhäufung von Tempel- und Kirchenvermögen verwendet. Die Nachwirkungen dieser Institutionen und dieser Vermögensverteilung sind in den meisten europäischen Staaten heute noch vorhanden. Die Priesterherrschaft aber ist fast allerwärts beseitigt oder zurückgedrängt durch die Konkurrenz der selbständigen geistig-sittlichen Kräfte, die in den gesamten höheren und mittleren Klassen sich entwickelten, hauptsächlich heute in den verschiedenen liberalen Berufen sich finden. Ein großer Teil dieser letzteren ist direkt oder in-
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1- Buch. Die soziale Klassenbildung, l. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
direkt aus den Einrichtungen und Traditionen der Priester hervorgegangen. Der Typus von Personen, die durch ausschließliche oder überwiegende geistige Kraft und Arbeit sich eine höhere oder besondere Stellung erwerben, ist seit den Tagen des Priesterberufes nicht mehr verschwunden. Alle spätere Aristokratie hat sich ihre Stellung in dem Maße erwerben und behaupten können, wie sie, ähnlich den einstigen Priestern, sich durch Bildung und Kenntnisse, geistige Kraft und moralische Zucht auszeichnete. Manche Naturforscher glauben, die höheren geistigen Leistungen beruhten physiologisch auf der viel stärkeren Zuleitung des Blutes zum Gehirn, wie die mechanischen auf der zu den Muskeln, und es sei ausgeschlossen, daß große Fähigkeiten nach der einen oder anderen Seite möglich seien ohne diese physiologische Einseitigkeit. E s dürfte dies eine Übertreibung sein, die nur teilweise wahr ist,- es liegt sicher die Möglichkeit einer harmonischen Ausbildung der körperlichen und der geistigen Kräfte vor; sie ist nur praktisch, je weiter die Arbeitsteilung voranschreitet, um so viel schwieriger, d. h. nur bis zu einem gewissen Grade durch immer kompliziertere Gesellschafts- und Erziehungseinrichtungen herbeizuführen. — Neben den geistlichen haben die meisten Stämme und Völker eine Gruppe von weltlichen Aristokraten, H ä u p t l i n g e n , P r i n z i p e s , A d e l i g e n und K r i e g e r n frühe entstehen sehen, die wohl von Anfang an auch durch Klugheit und moralische Eigenschaften, in der Hauptsache und vor allem aber als große Jäger, kühne Kämpfer, als Viehzüchter und Tierbändiger, als Anführer von Beutezügen, als kraftvolle imponierende Persönlichkeiten sich auszeichneten, oft als Abkömmlinge von Göttern betrachtet wurden, teilweise auch höheren Rassen mit glänzenden Eigenschaften angehörten. Sie waren diejenigen, die am frühesten sich zahlreiche Weiber und Kinder, großen Vieh- und Sklavenbesitz zu verschaffen wußten, die in Zusammenhang mit ihrer Stellung, mit ihrem Menschen- und Viehbesitz später auch den größeren Landbesitz erwarben. W i r kommen darauf zurück, müssen aber hier schon betonen, daß wir die Zurücksührung der kriegerischen und politischen Fähigkeiten und Leistungen aller älteren weltlichen Aristokratie auf ihren größeren Grundbesitz oder auch Viehbesitz für unrichtig halten; dieser Lehre scheinen uns die vorhandenen historischen Zeugnisse zu widersprechen. Die letzte Ursache ihres Besitzes waren ihre persönlichen Eigenschaften' durch diese stiegen sie unter den Volksgenossen empor, durch diese erhielten sie die Richter-, die Häuptlings-, die Anführerstellen,
2. Das Priester- und Kriegertum.
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die Ämter. Die Tapferkeit (virtus) galt nicht bloß bei den Römern als die einzig wahre Tugend, sie war für alle älteren Zeiten eben die für die Stämme und Sippen, ihre Existenz, ihre Kämpfe wichtigste, um sich zu behaupten. Und darum erwies man ihr eine Ehrfurcht, die heute kaum mehr vorhanden sein kann, nur etwa in der Stellung unseres Offizierstandes noch nachklingt. Die kriegerischen Aristokratien gingen a u s diesen Tapferen und ihren Gefolgschaften hervor. Freilich ist die Entstehung eines besonderen Kriegerstandes bei den tüchtigsten und kühnsten Stämmen nicht der Anfang ihrer Militärverfassung. Besonders einzelne Stämme mit Viehbesitz, mit kräftigen Rasseeigenschaften, durch Klima, Schicksale und Wanderung auf stete Kämpfe hingewiesen, haben unter der Leitung begabter Führer eine Perfassung ausgebildet, nach der jeder erwachsene M a n n zugleich Krieger war. Die bedeutendsten indogermanischen Völker, Griechen, Römer, Germanen, sind hieher zu rechnen, welche in ihren Wandertagen und auch noch später in ihrer Gesamtheit Hirten, Ackerbauer und Krieger zugleich waren. Allerdings waren auch bei ihnen bald gewisse Modifikationen der allgemeinen Kriegspflicht nötig. M a n bot jahres- oder zeitweise nur die Hälfte der M ä n n e r auf, während die anderen für diese arbeiteten. M a n ließ zu kleineren Zügen nur die Jugend oder die Altersklassen bis zum 30., 40., 43. J a h r e ausrücken; man begann, die schwere Last der Ausrüstung und eigenen Verpflegung wie den Kriegsdienst selbst nach der Größe des Grundbesitzes oder Vermögens abzustufen. N u r bei einem sehr niedrigen Grade der wirtschaftlichen Kultur, bei kleinen Stämmen, bei steter Bedrohung oder Wanderung konnten alle M ä n n e r Krieger sein. Die wirtschaftliche Last des Unterhaltes fiel dabei überwiegend auf die Weiber, die Jugend, die alten Leute, die Knechte. A l s die höchste kriegerische Leistung rechnet man heute, daß 23 o/o eines Stammes, die Gesamtheit der erwachsenen M ä n n e r , in den Krieg zogen; für gewöhnlich werden 13—20 o/o schon eine außerordentlich große Leistung gewesen sein. Jeder Fortschritt im Landbau und in der Seßhaftigkeit, jede friedliche Kultur, jede Vergrößerung des Stammgebietes drängte zu einer Arbeitsteilung, welche einen Teil der erwachsenen M ä n n e r vorübergehend oder dauernd von der kriegerischen Arbeit entlastete. E s geschah in der Weise, daß kriegerische Stämme durch Eroberung und Unterwerfung sich zum Kriegsadel eines größeren Gebietes machten, wie in Sparta, oder so, daß nur die Besitzer größerer Landlose noch Kriegsdienste taten, wie in Athen oder in Deutschland mit Einführung des Reiter-
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1- Buch. Die soziale Klassenbildung,
l. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
dienstes und Lehenswesens. Die indische, ägyptische, japanische Kriegerkaste waren Ergebnisse einer ähnlichen Entwickelung. W o die Kriege seltener wurden, der Kriegsschauplatz ferner lag, auf die Grenzen sich beschränkte, da genügte ein kleiner Teil des Volkes für die kriegerische Verteidigung. Aber es war der angesehene, meist der mit erheblichem Grundbesitz ausgestattete. Die Entwöhnung des Bauern von der Führung des Schwertes bedeutete für ihn ein besseres wirtschaftliches Fortkommen, aber allerdings auch eine tiefere soziale Stellung. Die Scheidung des Volkes in einen kriegerischen und nicht kriegerischen Teil war zugleich eine solche in einen befehlenden und einen gehorchenden; denn die Kriegeraristokratie kam neben den Priestern ebenso an die Spitze des Staates, den sie allein nach außen verteidigte, wie lokal an die Spitze der Selbstverwaltung, da sie allein Ruhe und Ordnung in jenen gewalttätigen Zeiten aufrecht erhielt. Ein heroisches Zeitalter ritterlicher Kultur knüpft sich an die Tage ihrer Herrschaft: für Jahrhunderte zerfielen die Völker in die drei Hauptgruppen der Priester, der Krieger, der Bauern und Bürger, wobei jedoch die zwei ersten herrschenden Klassen nur einen mäßigen Bruchteil ausmachten, die Masse des übrigen Volkes häufig in eine untergeordnete, abhängige Stellung kam. M i t der Zeit aber geht ein wachsender Teil der Amtsgeschäfte der Kriegeraristokratie auf das neuere Beamtentum, ein immer größerer Teil ihrer militärischen Tätigkeit auf die mittleren und unteren Klassen über. Die größeren technischen Ansprüche in beiderlei Richtung erzwingen diese weiteren Schritte der Arbeitsteilung. M i t dem Vordringen der Geldwirtschaft und des beweglichen Besitzes, mit der dichteren Bevölkerung, die ihren Unterhalt auf dem besetzten Boden immer schwieriger findet, mit der Umwandlung des Kriegsadels in einen Grundbesitz- und Amtsadel, mit der Schwierigkeit, die Ritterschaft stets schlagfertig und kriegstüchtig zu erhalten, sie auf entferntere Kriegsschauplätze zu führen, beginnt der Kriegsdienst gegen Geldsold, in den erst die Söhne der Ritter und die verarmten Adligen, dann die unteren Klassen des eigenen Volkes, endlich Fremde, zuletzt die besitzlosen Proletarier von überallher eintreten. An den dauernden Solddienst knüpfen sich die großen technisch-militärischen Fortschritte: das Heer wird stehend, der Soldatenberuf ein ausschließlicher Lebensberuf. Nicht nach Familie, Heimat, Grundbesitz werden die Leute mehr gruppiert, sondern nach Fähigkeit, Bewaffnung und Ausbildung; es entstehen die administrativen und taktischen Einheiten des Heeres, die Waffenspezialitäten, die hierarchische Ordnung von
17 Ober-, Unteroffizieren und Mannschaften. Ein gut geschultes stehendes Heer von wenigen Prozenten der Bevölkerung reicht jetzt für die größten Staaten aus. Die stehenden Heere machen heute (nach Zahn) zwischen 0,1 /(i (Vereinigte Staaten) und 3/1 o/o (Frankreich) der Erwerbtätigen a u s ; in Großbritannien sind es 1 »/o, in Deutschland 2,8 « o. Von der Gesamtbevölkerung wären es noch wesentlich niedrigere Bruchteile. S o ist der historische Fortschritt, welcher in der Einschränkung des Waffendienstes in den letzten 2—3000 I a h r e n liegt, etwa in dem Zahlenverhältnis auszudrücken: wo einst 23 °/o der Bevölkerung, 33—40 v/o der Erwerbtätigen, zum kriegerischen Schutze nötig waren, da reichen heute etwa 0/1—1,12 «/» der Bevölkerung, 1—3 o/o der Erwerbtätigen aus. Die reinen Soldheere, die im Altertume schon etwa 400 v. Chr. beginnen, auch in Rom unter M a r i u s die alten Bauernsoldaten verdrängen, in der neueren Zeit vom 1 4 . - 1 8 . Jahrhundert vorherrschen, am frühesten und ausschließlichsten reichen Handelsstaaten eigen sind, führen aber zuletzt zu den größten politischen und sozialen Mißständen. Während das übrige Volk in Feigheit und Genußsucht verweichlicht, setzt sich der Soldatenstand mehr und mehr a u s den rohesten Elementen, barbarischen Fremden, Soldatenkindern, Tunichtguten, Verbrechern zusammen; ohne sittlichen Zusammenhang mit den Volksund Staatsinteressen, die er verteidigen soll, ergibt er sich Usurpationen, erhebt seine Führer zur Diktatur, fordert unerschwingliche Summen für seinen Unterhalt oder seine Bestechung und schützt zuletzt so wenig vor innerer Auflösung wie vor äußeren Feinden. Die zu weit getriebene Arbeitsteilung macht bankerott. Daher ist die neuere Zeit zu einem gemischten System zurückgekehrt: lebenslängliche Offiziere sowie Unteroffiziere, die 8 bis 13 J a h r e dienen und dann in eine Zivilstellung übergehen, geben den Rahmen für ein stehendes Heer, für das die M ä n n e r vom 17. bis in die 40 er J a h r e (18 o/» der Bevölkerung) kriegspflichtig sind, in dem die körperlich tüchtigen M ä n n e r der ganzen Nation in einer Übungszeit von einigen Monaten oder I a h r e n kriegerisch ausgebildet werden, um dann ihrem anderen dauernden Berufe zurückgegeben, nur im Kriegsfalle je nach Bedarf bis zu 7, 8 und 9 o/o der Bevölkerung zur Fahne gezogen zu werden. I m Offiziersdienste verjüngt sich der alte Grundbesitzadel, indem er neue Pflichten auf sich nimmt; er kann es aber nur, indem er selbst zugleich die höhere geistige Bildung der liberalen Berufe erwirbt und sich mit diesen gleichsam verschwistert. Die allgemeine Wehrpflicht der übrigen S c h m o l l e r , Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf.
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l- Buch- Die soziale Klassenbildung.
1. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
Klassen ist die stärkste Korrektur der sonstigen so weit gehenden, teilweise übertriebenen Arbeitsteilung überhaupt, ein Erziehungsmittel für die ganze Nation, sowie ein sicheres Gegenmittel gegen die Mißbräuche der Klassenherrschaft.
3. Die Händler. Ein gewisser Handel und Tauschverkehr hat sich sehr frühe entwickelt. Wir kennen kaum Stämme und Völker, die nicht irgendwie durch ihn berührt würden. Die verschiedene technische und kulturelle Entwicklung schuf in der allerfrühesten Zeit bei einzelnen Stämmen bessere Waren und Werkzeuge; die Natur gab verschiedene Produkte, welche bei den Nachbarn bekannt und begehrt wurden. Und überall hat sich die Tatsache wiederholt, daß der Wunsch nach solchen Waren und Produkten Jahrhunderte, oft Jahrtausende früher lebendig wurde als die Kunst, sie selbst herzustellen; für viele war dies ja an sich durch die Natur ausgeschlossen. Der erste Handel und Tauschverkehr war nun aber lange ein solcher ohne Händler. Schon in der Epoche der durchbohrten Steine gelangen Werkzeuge und Schmucksachen von Stamm zu Stamm auf Tausende von Meilen. Ein sprachloser, stummer Handel besteht noch heute am Niger; auf den Stammgrenzen kommt man zusammen, legt einzelnes zum Austausch hin, zieht sich zurück, um die Fremden eine Gegengabe hinlegen zu lassen, und holt dann letztere. Innerhalb desselben Stammes hindert lange die Gleichheit der persönlichen Eigenschaften und des Besitzes jedes Bedürfnis des Tausches. Auch auf viel höherer Kulturstufe finden wir noch einen Handel ohne Händler, wie z. B . zwischen dem Bauer des platten Landes und dem Handwerker der mittelalterlichen Stadt lange ein solcher Austausch der Erzeugnisse stattfindet, ein Handel zwischen Produzent und Konsument. Zwischen verschiedenen Stämmen gaben die Häuptlinge und Fürsten am ehesten die Möglichkeit und den Anlaß zum Tausch. Daher sind lange diese Spitzen der Gesellschaft die wesentlich Handeltreibenden. I n Mikronesien ist heute noch dem Adel Schiffahrt und Handel allein vorbehalten; die kleinen Negerkönige Afrikas suchen noch möglichst den Handel für sich zu monopolisieren. Ahnliches wird von den älteren russischen Teilfürsten berichtet; die Haupthändler in Tyrus, Sidon und Israel waren die Häuptlinge und Könige. Nur bei solchen Stämmen, die, entweder am Meere lebend, Fischfang und Schiffahrt frühe erlernten, oder als Hirten mit ihren Herden zwischen verschiedenen Gegenden und Stämmen hin und herwander-
3. Die Äändler.
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ten, wie bei den Phönikern und den arabisch-syrischen Hirtenstämmen, konnten sich der abenteuernde Sinn, die kühne Wagelust, der rechnende Erwerbsinn entwickeln, die in etwas breiteren Schichten der Stämme Handelsgeist und Handelsgewohnheiten, sowie Markteinrichtungen nach und nach schufen. Ihnen steht die Mehrzahl der anderen Stämme und Rassen mit einer zähen, Jahrhunderte lang festgehaltenen Abneigung gegen den Handel gegenüber; sie dulden Generationen hindurch eher, daß fremde Händler zu ihnen kommen, als: daß sie selbst den Handel erlernen und ergreifen. S o ist bei den meisten, besonders den indogermanischen Völkern, der Handel durch Fremde und Fremdenkolonien nur sehr langsam eingedrungen. Die Phöniker, Araber, Syrer und Juden waren Hie Lehrer des Handels für ganz Europa. Die Araber sind es noch heute in Afrika, wie die Armenier im Orient, die Malaien und Chinesen vielfach in Ostasien. B i s auf den heutigen Tag sind in vielen Ländern einzelne Handelszweige in den Händen fremder Volksangehöriger, wie z. B . in London der Getreidehandel wesentlich von Griechen und Deutschen, in P a r i s das Bankgeschäft hauptsächlich von Genfer Kaufleuten und deutschen Juden begründet wurde, in Manchester noch heute ein erheblicher Teil des Baumwollwarenhandels in fremden Händen liegt. I n Indien kann der Krämer und Händler des Dorfes noch heute nicht Gemeindemitglied sein (Maine). I m Elsaß wohnt der jüdische Vermittler nicht in dem Dorfe, das ihm von seinen Freunden stillschweigend als Geschäftsgebiet überlassen ist. Am Handel klebt so sehr lange die Vorstellung, daß es sich um ein Geschäft mit Fremden handle. Bei keinem Schritte der Arbeitsteilung ist es so sichtbar, wie beim Handel, daß eigentümliche Rassen- und persönliche Eigenschaften die Voraussetzung seiner Ausbildung waren. E s scheint uns daher für den Händler noch falscher als für Priester und Krieger, seine Entstehung aus Vermögensbesitz zu erklären. E s ist auch psychologisch ganz undenkbar, daß Vermögen an sich kaufmännische Eigenschaften gebe, wenn auch dann bei bestimmten, rassemäßig für den Handel begabten Völkern und an Orten, die dem Handel günstig waren, Grundbesitzer an ihm teilnahmen, zuerst die Fürsten und Häuptlinge ihn in der Hand hatten. Die ältesten Händler sind Wanderer, die mit Karren, Lasttieren und Schiffen von Ort zu Ort, von Stamm zu Stamm, von Küste zu Küste ziehen; sie sind meist Groß- und Kleinhändler, Frachtführer und Warenbesitzer, oft auch technische Künstler und Handwerker zugleich, Die wertvollsten Waren, mit ihren großen örtlichen Wert2*
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1. Buch. Die soziale Klassenbildung,
l. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
differenzen, Vieh und Menschen, Salz, Wein und Gewürze, Edelsteine, Metalle und Werkzeuge sind die Lockmittel jenes ersten Verkehrs. Von dem römischen Weinhausierer, dem Oaupo, stammt das Wort Kaufmann. E s ist ein Handel, der stets Gefahren mit sich bringt, Verhandlungen mit fremden Fürsten und Stämmen, ein gewisses Fremdenrecht, Beschenknng und Bestechung der zulassenden Häuptlinge oder auch Bedrohung und Vergewaltigung derselben voraussetzt. Leichter erreichen die Händler ihr Ziel, wenn sie in gemeinsamen Schiffs- und Karawanenzügen, unter einheitlichem Befehle, mit Waffen, Gefolge und Knechten auftreten. S o wird die Organisation dieses Handels in die Fremde vielfach eine Angelegenheit der Fürsten oder gar des Stammes, jedenfalls der Reichen und Angegesehenen; Stationen und Kolonien werden nicht bloß für die einzelnen Händler, sondern für das Mutterland erworben; die Händler desselben Stammes treten draußen, ob verabredet oder nicht, als ein geschlossener Bund auf, der nach ausschließlichen oder bevorzugten Rechten strebt. An der Spitze solcher Handelsunternehmungen stehen Männer, die als Diplomaten, Feldherren, Koloniegründer sich ebenso auszeichnen müssen wie durch ihr Geschäftstalent. S i e streben stets nach einer gewissen Handelsherrschaft und suchen mit Gewalt ebenso oft wie durch gute Bedienung ihrer Kunden ihre Stellung zu behaupten. Von den phönikischen und griechischen Seeräuberzügen und den Wikingerfahrten bis zu den holländisch-englischen Kaper-, Opium-, Gold- und Diamantenkriegen klebt List und Betrug, Blut und Gewalttat an diesem Handel in die Fremde, dessen Formen außerhalb Europas heute noch vielfach vorherrschen. Meist leben diese älteren Kaufmannspioniere nicht ausschließlich von Handel und Verkehr; sie sind zu Hause Grundbesitzer, Aristokraten, Häuptlinge, oft auch Priester; der römische Handel tritt uns bis in die Kaiserzeit als eine Nebenbeschäftigung des Großgrundbesitzers entgegen; der punische Kaufmann ist Plantagenbesitzer, der mittelalterliche vielfach zugleich Brauer und städtischer Grund-, oft auch ländlicher Rittergutsbesitzer. Aber wo der Handel dann eine gewisse Blüte erreicht hat, da sind es die jüngeren Söhne, die Knechte und Schiffer, die Träger und Kamelführer, die nach und nach mit eigener Ersparnis und auf eigene Rechnung anfangen zu handeln; so entsteht ein Kaufmannsstand, der ausschließlich oder überwiegend vom Handelsverdienst lebt, soweit die betreffenden nicht, wie ihre Prinzipale, wieder durch ihren Besitz zugleich in die höhere Klasse der Grundbesitzer und Aristokraten einrücken.
3. Die Kändler.
Der ältere Kaufmann ist so im ganzen wie der Priester und der Krieger eine aristokratische Erscheinung. Der Handel größeren S t i l s bietet noch leichter Möglichkeiten des Gewinnes a l s diese Berufe; er ist lange ein Monopol bestimmter Stämme, Städte, F a m i l i e n ; er fordert Talent, M u t , Charakter, er bietet Gelegenheit zu List, Gewalt und Herrschaft; daher ist der Merkur der Gott der Kaufleute und der Diebe. Für die naive ältere Auffassung ist der Kaufmann der stolze, hochmütige, zungenfertige, sprachkundige, weltbürgerliche, von der Heimat losgelöste Völkervermischer, welcher Kultur, Luxus, höhere Gesittung, aber auch Auflösung der bestehenden Sitten und allerlei Laster bringt. Neben dem aristokratischen Kaufmann, der in die Fremde zieht, stehen nun aber teils von Anfang an, teils bald darauf weitere arbeitsteilige Glieder von Handel und Verkehr, die mehr dem Mittelstande oder gar den unteren Klassen angehören. Schon die kleineren Hausierer, die teils im Gefolge des großen Kaufmannes, teils selbständig mit etwas höherer wirtschaftlicher Entwickelung entstehen, gehören hieher. — Ehe wir nun aber auf den Handel und seine Arbeitsteilung in der späteren Entwickelung eingehen, noch ein Wort über die Art, wie der Handelsgeist und die Handelsgewohnheiten sich von den wenigen Entstehungspunkten der Erde a u s verbreiteten. Diese Verbreitung hing ab von der Art, der Dauer, der Festsetzung der eindringenden fremden Händler, von den Rasseeigenschaften und der wirtschaftlichen Kultur der besuchten Stämme und Völker, von den natürlichen und sonstigen wirtschaftlichen Vorbedingungen, welche Klima, Gewässer, Land und Bodenprodukte dem Handel boten. W i r treffen daher sehr verschiedene Arten der Handelsausbildung und -arbeitsteilung; auch die ent- und bestehenden Rechts- und Wirtschaftsinstitutionen, z. B . das Gilde- und Zunftwesen, das Marktwesen wirkten wesentlich mit. Wir können das Thema nicht erschöpfen, können nur einige A n deutungen geben. Manche Stämme und Völker haben in ihrer Gesamtheit eine besondere Anlage, den Handelsgeist und die Handelsübungen zu entwickeln, so die Indianer, die Araber, die M a l a i e n , die Chinesen; bei solchen Eigenschaften wird sich mehr eine Handelstätigkeit aller Glieder eines Volkes in der Form der Nebenbeschäftigung a l s ein arbeitsteiliger Handel entwickeln. Die eindringenden Fremden höherer Kultur, die den Handel bringen, werden in der Regel Händler, Schiffer, Fischer sein, oft sind es auch Seeräuber, wie die Nordgermanen, oft auch Priester, wie z. B . die römisch-katholischen in ganz
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1. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
Südamerika. Von den Juden hat nach Herzfeld zuerst — neben den Kriegern — der an der Küste sitzende Stamm Sebulon Handel getrieben; im übrigen herrschte der Ackerbau bei ihnen vor, bis das assyrische und babylonische Exil, noch mehr später die griechische Herrschaft einen steigenden Teil des Volkes in die Kreise der semitischen Handelsgewohnheiten hineinzog, und die große Auswanderung unter den Makkabäern dann jüdische Händler in den weiten Mittelmeerlanden verbreitete. Jesus Sirach erwähnt jüdische Groß- und Kleinhändler, Getreide- und Gewürzhändler, Krämer und Makler. Wir treffen unter den jüdischen Händlern auch zahlreiche Schriftgelehrte, ähnlich wie der griechische Philosoph Plato bei seinem Aufenthalt in Ägypten vom Olhandel lebte. Die Verbindung des Handels mit anderen Berufen, mit Besitz aller Art, kommt, wie schon erwähnt, fast überall in alter Zeit vor. Auch in der deutschen und sonstigen neueuropäischen Entwickelung spielt diese Verbindung eine Rolle. Über die Entstehung eines deutschen Handelsstandes von dem Eindringen der griechischen und römischen Händler, später der Juden und Lombarden, sowie der schiffahrenden und handeltreibenden Friesen bis ins 12.—13. Jahrhundert sind wir nur schlecht unterrichtet. Daß aber in dem Jahrtausend von 200—1200 n. Chr. sich schon Erhebliches geändert hatte, ist sicher. Sind doch die deutschen Kaufleute vom 12. und 13. Jahrhundert an gegenüber den Nordgermanen die überlegenen. Immerhin hat man die ältere Handelsentwicklung der Deutschen lange überschätzt. Die der Urkunden von 900 bis 1100 sind wohl nur zum kleinen Teil Händler, sondern vielfach Ackerbauer, Handwerker und andere, die auf dem Markt einkaufen und verkaufen. Klöster und Grundherrschaften, sowie ihre Beamte haben sicher vielfach nebenher Handel getrieben, später auch die reicheren Grundbesitzer der Städte neben den Juden und anderen Fremden, die zeitweise oder dauernd sich in den Städten als twspitW und Bürger einfanden. Aber es scheint mir diese Tatsache doch weit zu übertreiben, wenn Bücher und Sombart auf die städtischen patrizischen Grundbesitzer und ihren Erwerb mobilen Kapitals durch Grundrenten den ganzen älteren mittelalterlichen Handel zurückführen; letzterer sagt sogar: in der Regel wurden alle bedeutenden Handelsoperationen von Nichtkaufleuten ausgeführt. Below sucht wenigstens einen eigentlichen deutschen Großhandel vor dem Ende des Mittelalters zu leugnen; der Großhandel ist ihm ein Nebengeschäft des Detaillisten. Auch das ist ganz unhaltbar, wie Keutgen nachgewiesen hat.
3. Die Händler.
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Keutgen zeigt für das 13. Jahrhundert für Augsburg und andere Städte Großhändler, Gewandschneider, Krämer und Höker als vier klar sich abhebende Gruppen von Kaufleuten; sie fielen teilweise zusammen (so hauptsächlich die Großhändler und Gewandschneider). Dann fallen auch die Großbrauer und patrizischen Grundbesitzer, die Reeder in der Hansestadt vielfach mit den Großkaufleuten zusammen. Die Großhändler und Gewandschneider werden vielfach die Nachkommen friesescher Kaufleute gewesen sein, die feinere Tuche erst periodisch zuführten, dann dauernd holten; auch die Krämer waren in den großen Städten Großhändler, d. h. sie holten Pfeffer, Safran, Ingwer im Großen aus Venedig. Wahr bleibt von all den neuerdings betonten Einschränkungen nur, daß alle die größeren seßhaft gewordenen Kaufleute bis gegen 1500 das lokale Detailgeschäft mit dem Besuch der nächsten Märkte und dem Holen der Waren aus der Ferne verbanden. Die Ulmer sogenannten Marner holten Eisen, Eisenwaren und Salz in Osterreich, Tuch in den Niederlanden; das war doch Großhandel, ob sie nebenbei auch ein Ladengeschäft hatten oder Grundrente bezogen. Hamburg hatte 1376 84 Flandernfahrer, 35 Englandfahrer, 126 braxatorss ä« ^.mstrsäam, 40 Lübeckfahrer, 53 biiZ-xatorek ä(? Stavia, 19 Gewandschneider, die alle als Großkaufleute anzusprechen sind. Wenn dagegen Frankfurt a. M . nach Bücher 1387 nur 15 Großhändler, 70 Kleinhändler, 30 Personen im Transportgewcrbe und 100 Personen in den Ossizialgewerben hatte, so beweist das nur den geringen Umfang des damaligen Frankfurter Großhandels, nicht den des deutschen. Köln hatte schon 1247 23 Händler mit ganzen Tuchen, 23 Leinwandhändler, 56 Gewandschneider. Die Krämerei des Mittelalters verband in der Regel den Spezereihandel mit der Mercerie (den Nürnberger Waren aus Holz, Horn, Metall und Leder) und dem Ausschnitt der nicht wollenen Gewebe. Charakteristisch ist, wie groß, nach der Frankfurter Zahl, das offizielle Marktpersonal der Marktmeister, Makler, Warenprobierer, Messer und Träger war. Besondere Münzer und Geldwechsler treffen wir zuerst als Fremde, dann vom 12.—14. Jahrhundert als patrizische Hausgenossen korporativ organisiert. A u s den Geldwechslern geht in Italien im 13. und 14. Jahrhundert schon ein Großbankierstand hervor. I n Nordeuropa bleibt das Bankgeschäft lange überwiegend ein Nebengeschäft des Großwarenhändlers, in England der Goldschmiede, deren Oberschichte seit 1500 freilich große Kaufleute waren. I n seiner vollen Selbständigkeit hat sich das Bankgeschäft erst seit hundert Iahren entwickelt. Auch das seit dem 14. Jahrhundert in Italien sich ein-
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1- Buch. Die soziale Klassenbildung,
l. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
bürgernde Versicherungsgeschäft bleibt bis gegen 1700 überwiegend Nebengeschäft großer Kaufleute. — Wir verfolgen diese Entwickelung hier nicht weiter. Wir wollen nur noch feststellen, daß allerdings vom 16. Jahrhundert an der Großhandel vielfach den Detailhandel abstieß und ein anderer wurde durch den Handel nach den Kolonien, durch die entstehenden Posten mit ihren Nachrichten und ihrem Briefverkehr; das sich ausbildende Meßund Zahlungsgeschäft, die Loslösung des Verkehrsgeschäftes vom Handel und anderes wirkten da mit. D a s Verkehrsgeschäft ist bei allen Völkern sehr lange Sache des reisenden Kaufmannes selbst geblieben. Er verpflegt sich unterwegs oder nimmt Gastfreundschaft in Anspruch, er besitzt eigene Schiffe, Pferde und Wagen, er oder seine Diener begleiten die Waren selbst. I m Orient kehrt er noch heute in der von den öffentlichen Gewalten hergestellten Karawanserei ein, die ihm nur leere Räume bietet. Gasthäuser sind erst langsam im Mittelalter aufgekommen, noch im achtzehnten Jahrhundert mußte die preußische Verwaltung sich bemühen, sie durch besondere Vergünstigungen ins Leben zu rufen, während heute das Gasthaus, die Bank und die Poststelle die ersten Häuser einer städtischen Neugründung in Amerika sind und die europäische Gasthausindustrie eine der großartigsten, technisch und auch arbeitsteilig vollendetsten ist. Die Entstehung eines besonderen Frachtgewerbes haben wir am Wasser zu suchen. Der Schiffer, der freilich lange zugleich Fischer bleibt, auch einzelne Zweige des Handels, so hauptsächlich den Getreide- und Holzhandel mit seinem Frachtgewerbe verbindet, nimmt den Kaufmann und seine Waren schon bei den Phönikern und im Altertume auf; aber daneben bleiben vielfach die Großkaufleute der Seestädte Reeder und Schiffsbesitzer bis heute. Viel langsamer entwickelt sich ein besonderes Frachtfuhrgeschäft auf dem Lande. Das Altertum hat nur Spuren davon; die neueren Zeiten haben es vom 14.—18. Jahrhundert langsam entstehen sehen; die Metzger und Bauern an den Hauptstraßen beschäftigen lange ihre Pferde nebenher in dieser Weise, bis das regelmäßige Frachtfuhrgeschäft als selbständiges Gewerbe sich lohnte. Eine Post im Dienste der kaiserlichen Verwaltung hat das Altertum gekannt, aber nicht im Dienste des Verkehrs; erst aus den städtischen und fürstlichen Botenkursen des 15.—17. Jahrhunderts sind die Posten unserer Tage als selbständige, dem Brief-, Personen- und Frachtverkehr dienende Institute erwachsen. An sie knüpfen sich als große Privatunternehmungen oder
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Staatsinstitute unsere heutigen Eisenbahnen, Telegraphenanstalten, Postdampferlinien, Telephoneinrichtungen mit ihrem arbeitsteiligen Personal von Tausenden von Personen. Alle diese Institutionen zusammen haben vom 16.Jahrhundert an unseren Handel und seine Einrichtungen in den zivilisierten Staaten und zwischen ihnen gänzlich umgestaltet. N u n konnte der Kaufmann zu Hause bleiben, durch Briefe und Frachtgeschäfte, welche andere besorgten, seinen Handel abmachen; er brauchte nicht mehr in gleichem Maße wie früher allein oder in Genossenschaft sich eine Stellung in fremden Ländern zu erkämpfen; derartiges nahm ihm, wenigstens teilweise, die Staatsgewalt ab. Selbst die Warenlagerung und das Vorrätehalten ging zu einem Teil auf besondere Geschäfte und Organisationen, wie die öffentlichen Lagerhäuser über; das Spekulieren, das Ein- und Verkaufen auf der Börse, durch den reisenden Kommis, durch Korrespondenz trat in den Vordergrund der großen, das Ladengeschäft in den Vordergrund der kleinen Geschäfte. Aber weder damit, noch mit der Scheidung der Handels- von den Verkehrsgeschäften und -organen, noch mit der Ausbildung der besonderen Kredithändler, der Banken, ist die neuere Arbeitsteilung im Handel und Verkehr erschöpft, die Stellung des neueren Händlertums charakterisiert. M a n wird sagen können, vom 15. und 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart habe der Handelsstand erst seine selbständige höhere Ausbildung und Teilung erreicht, sei er erst der Beherrscher und Organisator der Volkswirtschaft geworden. Erst von da an hat die Güterzirkulation, der Absatz, die interlokale und internationale Teilung der Arbeit so zugenommen, daß sie überall des Handels und seiner Teilorgane bedürfte. Erst jetzt entstand in großem Umfang und auch im mittleren und nördlichen Europa für einzelne Handwerkswaren ein Absatz in die Ferne durch den Kaufmann; der Handel schuf die Hausindustrie, wie er später hauptsächlich die Großunternehmung ins Leben rief. Die großen Messen gehören der Zeit von 1500—1800, die größeren Börsen der von 1800—1900 an. Beide sind Ergebnisse des Handels. Die ganze privatwirtschaftliche, spekulative Seite der heutigen Volkswirtschaft hing 1500—1900 mehr und mehr am Handel, lag in den Händen der Kaufleute, war von der arbeitsteiligen Handels- und Verkehrsorganisation abhängig, welche sich immer einflußreicher, komplizierter gestaltet hat; sie beherrscht Industrie und Landwirtschaft, den großen Teil der wirtschaftlichen Produktion und die Verteilungsgeschäfte, welche die Güter den einzelnen zuführen bis in die neuere Zeit.
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Allerdings zeigen die Handels-, Versicherungs-, Verkehrs- und Beherbergungsgewerbe in unserer heutigen B e r u f s - und Gewerbestatistik entfernt nicht die Spezialisierung wie die Industrie. Aber in der deutschen Zählung von 1882 sind doch für den Handel mit Tieren 32, mit landwirtschaftlichen Produkten 121, mit Brennmaterialien 33, mit Metallen 51, mit Kolonial-, Eß- und Trinkwaren 121, mit Schnittwaren 126, mit Kurz- und Galanteriewaren 51 Spezialitäten von Geschäften verzeichnet. Die Anpassung der Verkaufsgeschäfte an die Bedürfnisse der verschiedenen Klassen und Orte hat Magazine und Läden jeder Art, von den kleinsten bis zu den Riesenbazaren geschaffen. Die verschiedensten Formen des Verkaufs stehen nebeneinander: Hausierbetrieb, Wochen-, Jahrmarkts-, Markthallenverkauf, Auktionsgeschäfte, W a n d e r - und stehende städtische Verkaufslager. Die Linien zwischen Produktion und Konsumtion werden durch Makler, Agenten, Kommissionäre, Groß- und Kleinhändler aller Art verlängert. Und so sehr an vielen Stellen die Zunahme und Verbesserung der Verkehrsmittel früher notwendige Mittelglieder des Handels ausmerzt, da und dort entstehen wieder neue. Und jedenfalls ist die Macht und der Einfluß des Händlertums immer noch eher im Wachsen, so verschiedenartig Stellung und Einfluß der Elemente sind. Die kleinen Ladenhalter, Höker, Hausierer, d a s Personal der Markthelfer, Packer, Träger, Dienstmänner, das subalterne Personal aller Verkehrsanstalten steht mit dem gelernten und ungelernten Arbeiter auf einer Stufe, die kleinen Ladengeschäfte mit dem Handwerker, die großen Ladengeschäfte rechnen zum höheren Mittelstände; ihre Tausende von Kommis und sonstigen Gehilfen gehören teils ihm, teils dem höheren Arbeiterstande an. Über all dem stehen die höhere Geschäftswelt, die Großhändler, die Direktoren und Leiter der Aktiengesellschaften, Kartelle, Banken und ähnlicher Geschäfte; sie bilden die Spitze der kaufmännischen Welt. S i e werden nicht mehr Fürsten, wie einst die Medici oder heute noch glückliche arabische Händler in Afrika, aber sie überragen an Reichtum, Macht und Einfluß doch da und dort alle anderen Kreise der Gesellschaft, beherrschen in einzelnen S t a a t e n Regierung und Verwaltung nicht minder als einst in Karthago, Venedig und Florenz. N u r wo eine alte, starke Monarchie, eine gesunde und große Grundaristokratie, eine ausgebildete Heeres- und Beamtenverfassung ist, existieren noch starke Gegengewichte, welche ihren monopolartigen Einfluß in der Volkswirtschaft und Gesetzgebung, sowie im Staatsleben im ganzen hemmen, ihren großen Gewinnen gewisse Schranken setzen.
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Die höhere Schicht der kaufmännischen Welt stützt sich auf ihren beweglichen Kapitalbesitz, wie die Grundaristokratie auf ihren Grundbesitz. Dieser Kapitalbesitz hat das Händlertum emporgehoben, seine Macht und seinen Einfluß gesteigert. Aber es ist eine sehr schiefe Auffassung, aus dem Kapital an sich alles heute abzuleiten, was Folge der technischen, geistigen und moralischen Eigenschaften der Kaufleute, was das Ergebnis ihrer Marktkenntnis und -beherrschung, ihrer Organisation, ihres teilweise vorhandenen Monopolbesitzes der Geschäftsformen und Geschäftsgeheimnisse ist. Ihre Stellung in der modernen Volkswirtschaft hat man lange von der günstigsten Seite, neuerdings unter dem Eindrucke gewisser Mißbräuche und Entartungen, auch unter dem Einflüsse sozialistischer Theorien vielfach überwiegend zu ungünstig be- und verurteilt. Gewiß kann der habsüchtige Handelsgeist entarten, in herrschsüchtiger Monopolstellung für Volkswirtschaft und Staat große Gefahren bringen. Aber nie sollte man dabei übersehen, daß die arbeitsteilige Ausbildung des Handelsstandes ein wichtiger Fortschritt ist, der unsere moderne Volks- und Weltwirtschaft wesentlich mit schaffen half. Und stets sollte man sich klar sein, daß dieser Handelsgeist je nach den Menschen, ihren Gefühlen und Sitten, ihrer Moral und Rasse etwas sehr Verschiedenes sein kann. Eine fortschreitende Verfittlichung der Geschäftsformen kann die Auswüchse des egoistischen Handelsgeistes abschneiden; ein reeller Geschäftsverkehr, eine steigende Ehrlichkeit und Anständigkeit in Handel und Wandel kann Platz greifendurch Staats- und Kommunalbanken, durch Genossenschaften und Vereine, die wirtschaftliche Funktionen übernehmen, teilweise auch durch das Aktienwesen und seine Beamten kommt in einen Teil des Geschäftslebens ein anderer, zugleich auf Gesamtinteressen gerichteter Geist. Die großen Organisationen der Industrie und der Landwirtschaft haben sich teilweise schon von der Vorherrschaft des Händlertums durch Kartelle und Genossenschaften zu befreien gesucht. Die Gefahren wucherischer und monopolistischer Ausbeutung der übrigen Volksklassen und des Staates durch die Händler werden in dem Maße zurückgedrängt, wie das ganze Volk die modernen Handels- und Kreditformen erlernt und beherrscht. Für das Verständnis der neueren politischen und volkswirtschaftlichen Entwickelung der Kulturvölker ist es eine Erscheinung von größter Bedeutung, daß von den drei bisher geschilderten, durch Arbeitsteilung entstandenen aristokratischen Gruppen der Gesellschaft die beiden ersteren, die Priester und Krieger, wenn nicht verschwunden,
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so doch ihrer Übermacht entkleidet sind; ihre Berufe dauern in wesentlich anderen gesellschaftlichen Formen heute fort. W o h l gibt es noch S t a a t e n mit starker Priesterschaft; aber die höher zivilisierten, besonders die protestantischen, haben eine Geistlichkeit, einen Lehrerstand ohne wirtschaftliche Vorrechte und Übermacht. W o h l gibt es noch Militärstaaten, wie Preußen, aber der Offizierstand herrscht nicht, er stammt a u s allen Kreisen der Gebildeten; die allgemeine Wehrpflicht hat d a s proletarische Söldnerberufsheer mit seiner einseitigen Arbeitsteilung abgelöst. Die Handelsaristokratie der Gegenwart konnte und kann nicht ebenso verschwinden, weil ihre arbeitsteilige Funktion, die Leitung und Regulierung der wirtschaftlichen Produktion, die Verteilung der Güter erst in den letzten 2—3 Jahrhunderten entstand und heute unentbehrlich ist. W ä r e der Handel aller Kaufleute so entbehrlich, wie die Sozialisten meinen, verdienten die kaufmännischen Fabrikleiter ihre Gewinne nur mit demselben Rechtstitel wie die Jungen, die über die M a u e r steigen, um Äpfel zu stehlen (Kautsky), dann wäre diese Handelsaristokratie auch schon verschwunden. S i e wird bleiben, so lange sie am besten große und wichtige Funktionen der Volkswirtschaft versieht. Aber ihre einseitige Herrschaft wird, wo sie besteht oder droht, mehr und mehr durch entgegenwirkende Einrichtungen und Organisationen zurückgedrängt und beschränkt werden. Große politische und wirtschaftliche Bewegungen sind in unserer Zeit im Gang, um dies zu bewirken. —
4. Der Arbeiterstand, Sklaverei und Leibeigenschaft. Die drei Gruppen der Gesellschaft: Priester, Krieger, Händler bleiben die Grundtypen aller Aristokratie. Die betreffenden I n d i viduen und Gesellschaftsgruppen steigen durch eigentümliche Kräfte und Vorzüge empor, erreichen durch sie die größere Ehre, die größere Macht, d a s größere Einkommen und Vermögen. S i e steigen in harten Daseinskämpfen auf, denen Gewalt, Betrug, Mißbrauch so wenig fehlen kann wie allem Menschlichen. Die Priester haben Dokumente gefälscht, um ihren Besitz zu mehren, die Ritter haben widerrechtlich Bauern von ihren Hufen vertrieben, die Händler haben mit List und Betrug, mit Wucher und oft auch mit Gewalt ihren Besitz vergrößert. S i e alle haben stets gesucht, ihre Stellung um jeden P r e i s zu befestigen, sie haben die übrige Volksmasse herabgedrückt, sie ihrer Leitung und Gewalt unterstellt. Diese Unterstellung war aber ein unabweisbares Bedürfnis der gesellschaftlichen Organisation. Größere
4. Der Arbeiterstand, Sklaverei und Leibeigenschaft.
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politische und wirtschaftliche Körper konnten nur entstehen, indem die führenden und gehorchenden Kreise sich schieden. Auch die künftige Emporhebung und Erziehung der Massen konnte nur so vorbereitet werden, obwohl zunächst damit Härten und Mißbildungen aller Art eintraten. Die erwähnten aristokratischen Gruppen werden meist nur einige Prozente der Völker ausgemacht haben; die Masse lebte zunächst in hergebrachter Weise weiter, als kleine Ackerbauer, Hirten, Waldbewohner, in den Städten nach und nach als Handwerker. Diese Gruppen der Gesellschaft, aus denen dann der Mittelstand sich zusammensetzte, treten uns bald allein, bald auch in Verbindung mit einer unter ihnen stehenden Schichte entgegen. Der Mittelstand kommt teilweise in Abhängigkeit von den aristokratischen, führenden Teilen der Gesellschaft, teilweise behauptet er eine gewisse Freiheit. Dabei stellt er einen Teil der Gesellschaft dar, der mehr die alte Zeit, Technik, Wirtschaftsweise, als die neue repräsentiert, aus dem heraus viel weniger als aus den aristokratischen der Fortschritt entspringt. Jedenfalls aber bedurften die führenden Elemente der direkten mechanischen Hilfe von dienenden, den Familien und Betrieben angegliederten Kräften. W o Großes geschehen soll, muß der Kluge und Kräftige befehlen und der, welcher über gute Arme verfügt, gehorchen. Nur so können, vollends bei primitiver Kultur, erhebliche politische und wirtschaftliche Erfolge erzielt werden. Die Arbeitsteilung zwischen geistiger und mechanischer Arbeitskraft ist ein unentbehrliches Glied auf der Bahn der gesellschaftlichen Differenzierung und des wirtschaftlichen Fortschrittes. Diese Arbeitsteilung war zunächst überall durch die patriarchalische Familienverfassung gegeben: die Frauen, die jüngeren Söhne und Töchter, oft auch verheiratete Kinder, ältere unverheiratete Geschwister und Verwandte, die Knechte und Mägde waren in ihr die ausführenden Kräfte. Soweit die patriarchalische Familie Platz griff, entstand so eine Arbeitsteilung teils für Jahre, teils fürs Leben, die nur eine mäßige Zahl Befehlender kannte. Die kleine, moderne Familie schuf diese Stellung für eine etwas größere Zahl. Aber auch sie beließ zunächst den größeren Teil der 12—30 jährigen in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis bei ihren Eltern oder in anderen Familien, in Kleinbetrieben; ihre Stellung war auch in letzteren vielfach die von Familiengenossen, welche Wohnung, Unterhalt und Kleidung, daneben einige Geschenke, auch etwas Geld erhielten. Wir werden unten darauf zurückkommen, welch großer Teil der heute in der
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1. Buch. Die soziale Klassenbildung.
1. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
Statistik aufgeführten Arbeiter noch Familienmitglieder oder Leute sind, welche, ohne dem Arbeiterstande anzugehören, bis zum 25. oder 3V. Jahre in einer dienenden Arbeitsstellung sind. Aber wo die herrschaftlichen Organisationen sich ausdehnten und befestigten, reichten die Familienglieder und jungen, freien Leute nicht aus. S i e haben wahrscheinlich auch da, wo sie sich nicht aus verschiedenen Rassen und Völkern heraus entwickelten, mit ihrer Entstehung und Ausbildung häufig dazu geführt, daß die Stämme und Völker sich in befehlende und arbeitende Glieder, in Aristokratien und Hörige schieden. Noch mehr mußte das eintreten, wo verschiedene Rassen und Völker sich bekämpften, die einen die anderen unterwarfen, wo dann verschiedene Rassen durcheinander wohnten; hier ergaben sich noch stärkere Abhängigkeitsverhältnisse, a l s da, wo die Arbeitsteilung innerhalb desselben Stammes gewisse Individuen und Gruppen emporhob. E s entstanden so besondere Klassen mechanisch dienender Kräfte als die notwendigen Ergänzungsglieder der aristokratischen Kreise und ihrer Organisationen. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage dieser Kreise fand ihren rechtlichen Ausdruck in den drei großen Institutionen der Sklaverei, der Leibeigenschaft, der freien Arbeit. Die erstere knüpft in ihrer Entstehung rein an die Familie an, wird aber dann mit der Entstehung der Unternehmung etwas wesentlich anderes; die Leibeigenschaft knüpft teils an die Arbeitsteilung innerhalb der Stämme, teils an die Unterwerfung ganzer Stämme an und wird das ergänzende Glied der Grundherrschaft; die persönlich freie Lohnarbeit ist das Ergebnis der modernen persönlichen Freiheit, des Rechtsstaates und der Geldwirtschaft und bildet das ergänzende untere Glied der modernen Unternehmung. D i e S k l a v e n . Die Wurzeln der Sklaverei liegen, wie erwähnt, in einer Art Nachahmung der herrschaftlichen Familienverfassung. W o bisher der Kannibalismus geherrscht, d. h. wo man jeden Stammfremden als rechtlos betrachtet, ihn getötet und verzehrt hatte, da war es ein großer Fortschritt der Menschlichkeit und der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit, wenn man den Gefangenen nicht mehr tötete oder den Göttern opferte. Wie man Frau und Kinder damals als verkäufliches Eigentum in der Regel betrachtete, so begann man ebenso die erbeuteten oder erkauften Knechte und Mägde zu behandeln; man schonte sie, um sie zur Arbeit zu gebrauchen, man sah in ihnen nur die Arbeitskräfte; aber in ähnlicher Schätzung standen auch die Weiber und Kinder. Gewisse Fortschritte in der Familienverfassung
4. Der Arbeiterstand, Sklaverei und Leibeigenschaft.
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und in der Technik, welche folgsame Arbeitskräfte als wünschenswert erscheinen ließen, mußten vorhanden sein, um die Sklaverei entstehen zu lassen. Meist nur Hirten- und Ackerbaustämme (neben wenigen hochstehenden Fischern) und meist nur kriegerische haben die Institution ausgebildet; sie wurde für lange Zeiträume die große mechanische Arbeitsschule der Menschheit. Da sie in der älteren Zeit fast regelmäßig nur durch Krieg und Beutezüge entsteht, so sind es die schwächeren, weniger gut organisierten, weniger klugen Stämme und Rassen, welche ihr unterliegen. I n dieser Rassendifferenz sah man im Altertume und bis in die neuere Zeit ihre Rechtfertigung: wie das Kind, so hieß es, bedarf der niedriger stehende Erwachsene der herrschaftlichen Leitung und Zuchtrute, des Zwanges zur Arbeit; er ist zur mechanischen Arbeit brauchbarer als zur geistigen. Er läßt sich Leitung und Herrschaft nicht nur gefallen, er liebt seinen Herrn, gibt sich ihm in Treue und Gehorsam völlig hin. Daß von dieser Regel manche Ausnahme vorkommt, wie z. B . viele griechische Sklaven ihren römischen Herren an Rasse, Farbe und Begabung nicht nachstanden, daß in Afrika heute noch viele Herren und Sklaven sich gleichstehen, ist gewiß richtig, hebt aber die weltgeschichtliche Tatsache der ethnischen Unterschiede nicht auf. E s heißt alle Geschichte des Sklaven- und des Rassenwesens auf den Kopf stellen, wenn man im Interesse sozialistischer Gleichheitstheorien sagt: „Herr und Knecht waren in den Anfängen wenig von einander verschieden." Der Sklave ist Eigentum des Herrn; er wird von ihm unterhalten und muß diejenigen Leistungen verrichten, die ihm befohlen werden; das sind bei einzelnen auch höhere Arbeiten aller Art, bei den meisten aber handelt es sich um die mühevollen mechanischen Dienstleistungen in Haus und Hof, in Wald und Acker, später im Bergwerke, auf den Schiffen, in den Handwerken und Fabriken. Die Sklaverei erzeugt so nicht sowohl einen bestimmten Beruf, als in aller Tätigkeit die Scheidung zwischen der leitenden, befehlenden und der mechanischen, ausführenden Arbeit. Der Sklave ist das unterste Glied der Hauswirtschaft; die bisher den Frauen zugemuteten schwersten Arbeiten werden nun ihm auferlegt; er hat keine eigene Wirtschaft, meist keine Familie; auch wenn die Sklaven massenweise erbeutet wurden, hat man sie einzeln dem König, den Häuptlingen, einem Tempel, den Familienvätern zugewiesen. Ihre Rechtsstellung ist ursprünglich mit der Familienverfassung gegeben; sie sind nicht gänzlich rechtlos, solange sie als Familienmitglieder behandelt werden. Noch heute heiraten in Afrika viele
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I. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
Sklaven dic Töchter ihrer Herren; der I s l a m hat stets eine Sklavenbehandlung angestrebt, die mit der Freilassung endigt. Aber wo der Familiensklave übergeht in den Plantagen- und Bergwerkssklaven, wo der Sklave nicht mehr in persönlicher Berührung mit dem Herrn steht, nicht mehr in der Familie mit dem Herrn lebt, wo er von ihm nur noch als eine Erwerbsquelle angesehen wird, wo an Stelle des Krieges der Sklavenhandel und die eigene Sklavenzüchterei die Hauptquelle der Sklaverei wird, wo ein hartes Schuldrecht die eigenen Volksgenossen der Sklaverei ausliefert, da entsteht jenes unbarmherzige, harte Sklavenrecht, das im Bewußtsein der Gegenwart häufig als dessen einzige Form erscheint. E s war eine Institution, die sich da notwendig zeigte, wo mit einfacher Technik große oder gar riesenhafte Leistungen nötig waren: nur mit harter Disziplin und unbarmherziger Behandlung ließen sich streng geschulte Arbeiterkompagnien aus den meist auf tiefster Stufe stehenden Rasseelementen herstellen. Die Verschärfung des Sklavenrechtes war vielfach die Voraussetzung, Großes und technisch Besseres als bisher zu leisten. Aber dieses verschärfte Sklavenrecht vergiftete mit seinen Folgen ebenso das Familienleben der Sklaven wie das Verhältnis zum Herrn; es führte ganz entmenschte Verhältnisse, barbarische Mißhandlungen der oft gefesselten Sklaven herbei. Die Unternehmungen, die ganze Gesellschaft wurde durch die zunehmenden Reibungen und Kämpfe gelähmt, kam an den Abgrund unhaltbarer, sich immer weiter vergiftender gesellschaftlicher Zustände. Die Sklaverei, wie sie in der späteren römischen Republik und im Anfange des Prinzipals, neuerdings in den Sklavenplantagen der europäischen Handelsvölker bestand, war die härteste Form der Arbeitsteilung und das höchste M a ß von ausbeutender Herrschaft des Menschen über den Menschen. Ohne jedes Eigentum, oft ohne jede Familienfreude, ohne jede Aussicht auf die Zukunft, ohne jeden strafrechtlichen Schutz, oft schlechter als das Vieh ernährt und behaust, wurde der Sklave gerade so viel geschlagen und zur härtesten Arbeit gezwungen, wie man rechnete, den größten Gewinn mit ihm zu machen. M a n kalkulierte in den Vereinigten Staaten, ob es billiger sei, einen Negertrupp von achtzehnjährigen in 7 oder in 14 Iahren aufzubrauchen, to uso up. Die barbarische Strenge ist auf diesem Standpunkte so richtig und konsequent, wie das strenge gesetzliche Verbot jedes Unterrichtes an die Sklaven. Haben doch noch englische Manchesterleute im 19. Jahrhundert den Schulunterricht der Arbeiterkinder als einen Verstoß gegen die Arbeitsteilung bezeichnet.
4. Der Arbeiterstand, Sklaverei und Leibeigenschaft
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Alle Sklaverei, die ältere milde und die spätere harte, leidet an dem Grundfehler, daß der arbeitende gar kein Interesse an dem Erfolge der Arbeit hat, was um so mehr dann sich geltend machen mußte, wenn das Selbstbewußtsein in diesen Kreisen erwachte. A l s vollends der innere Kampf und die Erbitterung sich immer weiter steigerten, mußte die Erkenntnis durchdringen, daß das Rechtsverhältnis ebensoviel wirtschaftlichen wie sittlich-politischen Schaden stifte. E s trat teils eine sukzefsive Milderung, teils eine plötzliche Aufhebung ein, wie ja auch schon während des Bestehens der Sklaverei Hunderte und Tausende der höher stehenden Sklaven durch Freilassung in eine bessere Lage übergingen, freie Arbeiter, Kleinunternehmer oder was sonst wurden. Die langsame Umbildung der antiken Sklaverei durch die kaiserliche, von Stoa und Christentum beeinflußte Gesetzgebung in den Kolonat und andere Mischformen der Unfreiheit, die Fortsetzung dieses Prozesses durch die Kirche des älteren Mittelalters ist eine der anziehendsten sozialen historischen Erscheinungen. Wir haben sie so wenig wie die modernen Aufhebungen der Sklaverei hier darzustellen, wohl aber zu betonen, daß auch im günstigsten Falle als die Nachwirkung des älteren Zustandes eines übrig bleibt: die tief in allen Gewohnheiten und Sitten des wirtschaftlichen und sozialen Lebens wurzelnde Tatsache, daß eine Minorität von höher Gebildeten und Besitzenden die mechanische Arbeit der weniger Gebildeten und Besitzenden leitet, so sehr auch der Gegensatz gemildert, die Rechtsformen des Verhältnisses verbessert sind. D i e verschiedenen F o r m e n der Halbfreiheit, welche begrifflich zwischen der Sklaverei und der freien Arbeit liegen, historisch oftmals auch vor ihr und neben ihr entstanden, werden gewöhnlich unter dem Begriffe der Hörigkeit zusammengefaßt. S i e haben einen dreifachen Ursprung: 1. kriegerische Unterwerfung ganzer Stämme und Einverleibung solcher zahlreicher stammfremder Elemente in das Gemeinwesen zu minderem Rechte; 2. die Emporhebung früherer Sklaven und ganz Unfreier zu einer besseren Rechtsstellung und 3. die Herabdrückung früher freier Volksgenossen zu minderem Rechte, wie im Mittelalter die der zahlreichen freien Bauern zu Vogtei- und Zinsleuten. M a n hat früher die erstgenannte Ursache zu allgemein für die wichtigste gehalten. M a n betont neuerdings mit Recht (z. B . Lacombe), daß die letztgenannte wohl die Hauptsache sei. M a n nimmt jetzt vielfach an, im alten Orient, in Griechenland und in Italien habe derartiges stattgefunden. M a n will den Kolonat der späteren Kaiserzeit aus älteren derartigen Zuständen ableiten. W o Königsgewalten, S c h m o l l e r . k t a f s e n b i l d u n g , Arbeiterfrage, Klafsenkamps.
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Aristokratien, großer priesterlicher Besitz anzutreffen sei, so sagt man, sei es naturgemäß dahin gekommen, daß die Masse des Volkes erst Naturalabgaben habe geben, dann auch allerlei Dienste habe leisten müssen. Und diese auf Sitte und Herkommen beruhende Abhängigkeit habe dann auch zu einer gewissen Fesselung an den Boden, zu Zwangsarbeit geführt. Natürlich kann auch Eroberung und Unterwerfung zu ähnlichen Zuständen Anlaß gegeben haben. W o ganze Stämme, Landschaften und Länder erobert und unterworfen werden, wo gar Sprach- und Rassenverwandtschaft zwischen Siegern und Besiegten besteht, da können die Unterworfenen nicht alle zu Sklaven gemacht, den Hauswirtschaften der Sieger einverleibt werden; man läßt ihnen ihren Ackerbesitz, ihre selbständige Hauswirtschaft; die Sieger nehmen nur, teils für die Staatsgewalt, teils für die einzelnen Bürger eine Art Obereigentum am Grundbesitz und ein Recht auf gewisse Abgaben und Dienste der Unterworfenen in Anspruch. Der Halbfreie entbehrt der politischen Rechte, darf häufig keine Waffen führen, ist in der Wahl des Aufenthaltes und Berufes häufig beschränkt, als Ackerbauer zum Teil an die Scholle gefesselt; aber er ist strafrechtlich gegen Unrecht, oft auch gegen Überlastung mit Abgaben und Diensten geschützt, er hat das Recht der Familiengründung und ein beschränktes Eigentumsrecht, kann Prozesse führen, hat an halbfreien Gemeinden, Gilden und Vereinen vielfach einen Rückhalt; er ist von den staatlichen Militär-, Gerichts- und anderen Diensten der Freien vielfach ganz oder zum Teil befreit; oft hat er Anspruch auf Zuweisung einer Ackerstelle oder einer anderen Erwerbsgelegenheit gegenüber seinem Herrn. Die Verhältnisse sind sehr mannigfaltig; es kommen Halbfreie in älterer Zeit auch in Städten und gewerblichen Betrieben vor, wie z. B . die griechischen Periöken, dann die römischen Freigelassenen, die amerikanischen Dienstleute des 17. und 18. Jahrhunderts eine solche Klasse darstellen; überwiegend aber sind die Halbfreien kleine Ackerbauer in Ländern einer sparsamen Bevölkerung ohne Geldwirtschaft, die Hintersassen des feudalen Grundund Gutsherrn. E s handelt sich um eine Rechtsform, die in sehr viel breiterer und umfangreicherer Weise die ältere soziale Schichtung beherrschte, als die Sklaverei. E s handelt sich bei dem Verhältnis dieser Halbfreien ebensosehr um eine Verfassungs- und Verwaltungseinrichtung wie um die Ordnung des Arbeitsverhältnisses. Niedriger stehende Rassen konnten mit höher stehenden ursprünglich nicht in anderer Form ein einheitliches Gemeinwesen bilden als in der von freien und halbfreien
4. Der Arbeiterstand, Sklaverei und Leibeigenschaft.
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Klassen; die Staats- und Kirchengewalt, die kriegerische Verfassung, die lokale Verwaltung konnte, so lange es keine Steuern gab. nicht anders organisiert werden, als durch Zuweisung von Land und Arbeit an diejenigen, welche die höheren Dienste für die Gesamtheit übernahmen. Auch wo im Anfang der Fürst, der Priester, der Ritter eine Ackerwirtschaft ähnlich wie der unterworfene Hörige führte, war der letztere doch zu gewissen Abgaben und Diensten verpflichtet, und mehr und mehr mußte es dahin kommen, daß die höheren Klassen, um ihren Pflichten zu genügen, von der mechanischen Acker- und Hausarbeit ganz entlastet, diese ausschließlich den Hörigen aufgebürdet wurde. S i e mußten Straßen und Kanäle, Kirchen und Burgen bauen, die Fuhren für die öffentliche Verwaltung und die Großen übernehmen, ihnen den Acker bestellen, die Kinder ihnen für Jahre zum Gesindedienst ausliefern. Die Aristokratie war so vom Drucke mechanischer Arbeit und Lebensnot befreit, die große Masse der Hörigen mußte ackern und fronen, damit bei dem damaligen Stande der Technik der Staat, die Kirche, sowie die höheren Klassen als Träger der Kultur bestehen konnten. E s war eine tiefgreifende Arbeitsteilung, die trotz gewisser Härten und Mißbräuche, die sie erzeugte, für ihre Zeit so notwendig war, wie jede andere. E s war ein System, das viel höher stand als die Sklaverei, weil es dem Halbfreien immer eine beschränkte Sphäre individueller Freiheit und persönlichen Eigentums sicherte; da wo der Druck nicht zu groß war, konnte eine gewisse Freude am eigenen Erwerbe, am Familienleben, am Vaterlande entstehen. Aber oft auch war die Belastung eine so schwere, daß Stumpfheit und Gleichgültigkeit die Folge war, jedes Interesse an der Arbeit erlahmte. E s war für den Fortschritt der Kultur ein zu rohes Rechtsverhältnis und eine zu rohe Art der Arbeitsteilung; die Hörigkeit mußte zurücktreten und verschwinden in dem Maße, wie die Gefühle, Rechtsanschauungen und sozialen Einrichtungen sich veredelten, wie bessere und feinere Arbeit gefordert wurde, wie die dichtere Bevölkerung, der größere Verkehr, die Geldwirtschaft und die fortschreitende Technik bessere Formen der Arbeitsteilung ermöglichten. Wie im Altertum und Mittelalter die begabteren Unfreien und Halbfreien, die mit spezialisierte?, höher geschätzter Tätigkeit Befaßten vielfach zur persönlichen Freiheit, ja zur Aristokratie aufstiegen — ich erinnere an die Freigelassenen Roms, an die ritterlichen unfreien Ministerialen, an die ursprünglich unfreien Handwerker und Kaufleute in den mittelalterlichen Städten —, so hat in späterer Zeit auch die gesamte ländliche hörige Bevölkerung die persönliche Freiheit erreicht. Vom 15. bis
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I. Buch. Die soziale Klassenbildung,
l. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
19. Jahrhundert haben die Hörigen Europas sich losgekauft oder sind durch Ablösungsgesetze befreit worden; ein Teil derselben wurde damit in einen Stand kleiner Grundeigentümer, ein anderer in freie Lohnarbeiter verwandelt. E s ist klar, daß die Nachwirkung dieser älteren Zustände heute noch nicht verschwunden sein kann. Die Mehrzahl unserer europäischen Lohnarbeiter sind Nachkommen von Hörigen; in unseren Einrichtungen und Sitten sind noch zahlreiche Nachklänge der älteren Unfreiheit. Die Zahl der Sklaven im Altertume und in den heutigen Staaten und Kolonien ist nie so umfangreich gewesen wie die der Hörigen. Nach den neuesten Forschungen betrugen erstere in Griechenland und Italien seinerzeit nicht leicht irgendwo mehr als die Hälfte der Freien, wozu freilich noch mannigfach Halbfreie, Metöken, Freigelassene kamen. Die Leibeigenen schätzt Grimm schon für das 8.—1V. Jahrhundert auf die Hälfte der Bevölkerung, später haben sie wohl vielfach vier Fünftel derselben ausgemacht, wie neuestens noch in Rußland. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß diese Leibeigenen a l s Klasse mit den Sklaven gar nicht vergleichbar sind. Ein großer Teil von ihnen stand viel höher, repräsentierte trotz seiner Lasten und Pflichten eine Art Mittelstand, ging später in diesen über. Nur die tiefer stehenden Leibeigenen und die, welche, stark überlastet mit Arbeitspflichten, ein festes Besitzrecht nicht gehabt hatten, mit der Freiheit besitzlos wurden, können mit den Sklaven in Vergleich gezogen werden.
5. Der freie Arbeiterstand. D a s große Problem unserer Tage ist die Entstehung eines breiten Standes mechanischer Lohnarbeiter, die auf Grund freier Verträge ganz oder überwiegend von einem Geldlohn leben, den sie durch ihre Arbeit in den Unternehmungen, Familien oder in wechselnder Stellung verdienen. Wir fragen: wie kommt es, daß mit dem Siege der persönlichen Freiheit nicht bloß in den Ländern der alten Kultur, sondern auch in den europäischen Kolonien mit ihrem Bodenüberfluß die alte Zweiteilung der Gesellschaft sich erhielt: in eine leitende M i norität, die überwiegend geistige, und in eine ausführende Majorität, die überwiegend mechanische Arbeit versieht? Wer alle Menschen für gleich, das Prinzip der persönlichen Freiheit für ein magisches Mittel zur raschesten Entwickelung aller Körper- und Geistesgaben der Menschen hält, wer die Vorstellung hat, eine allgemeine Besitzausgleichung hätte, mit der Erteilung der persönlichen Freiheit verknüpft, für immer die Klassengegensätze beseitigt, wer, von den Wun-
5. Der freie Arbeiterstand.
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dern der heutigen Technik berauscht, annimmt, es wäre wirtschaftlicher Überfluß für alle Menschen bei richtiger Verteilung und demokratischer Organisation von Staat und Volkswirtschaft vorhanden, der kann natürlich die große historische Tatsache des modernen Arbeitsverhältnisses nicht richtig verstehen. Wer die Dinge historisch auffaßt, wird die Wucht der überlieferten Klassen- und Besitzverhältnisse, die Bevölkerungsbewegung, die Notwendigkeit herrschaftlicher Organisationsformen bei der Entstehung der modernen Institution des freien Arbeitsvertrags mit in Rechnung ziehen und begreifen, daß allerdings seine Ausbildung besser und schlechter gelingen konnte, da und dort verschiedene Resultate erzeugte ; der wird verstehen, daß die freie Lohnarbeit, obwohl von Anfang an ein großer prinzipieller Fortschritt, doch erst langsam und durch mancherlei Reformen zu einer befriedigenden Einrichtung werden konnte; der wird es aber für eine kindliche Täuschung erklären, wenn die Lehre aufgestellt wird, ausschließlich böse, brutale Menschen oder der blutaussaugende Kapitalismus hätten es dahin gebracht, daß einige wenige sich der Arbeitsmittel und des Bodens bemächtigt und so die Masse der Bevölkerung enterbt, zu besitzlosen, mechanischen Arbeitern gemacht hätten. Schon die Nachwirkung der Leibeigenschaft, in den Kolonien die der Sklaverei, die großen Schwierigkeiten der Durchführung der allgemeinen Schulpflicht, die Unmöglichkeit, bei der Aufhebung der feudalen Agrarverfassung alle Hörigen mit Besitz auszustatten, schuf, wie wir schon sahen, breite Schichten wirtschaftlich, technisch und geistig niedrigstehender Menschen, welche mit der Freiheit auf irgendeine mechanische Lohnarbeit angewiesen waren. S i e besaßen nicht die Fähigkeit, auf dem Boden der neuen Technik isoliert oder genossenschaftlich gewerbliche oder agrarische Betriebe zu schaffen; auch wo Bodenüberfluß war, wie in den Kolonien, zogen viele, wenn nicht die meisten, Lohnarbeit dem Leben des Squatters im Urwald vor. Die große Menge kleiner Handwerker und Hausindustrieller war ebenfalls nicht recht fähig, sich aktiv an der neuen Organisation des wirtschaftlichen Lebens zu beteiligen. W o sie verkümmerten, waren sie wie die besitzlosen, ländlichen Tagelöhner auf Arbeit bei der nicht zu großen Zahl von Unternehmern angewiesen, welche nach ihren persönlichen Eigenschaften und ihrem Besitz den technischen und organisatorischen Fortschritt in die Hand nehmen konnten. Die gesamten westeuropäischen Staaten waren 1730—1850 wieder in eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs gekommen; aber die überlieferten
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1- Buch. Die soziale Klassenbildung, l. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
Klassenabstufungen waren nicht plötzlich zu beseitigen. Die Bevölkerung blieb nach Rasse, Abstammung, Lebenshaltung, Arbeitsgewöhnung, Begabung stark differenziert; die einen waren zu geistiger, die anderen zu mechanischer Arbeit brauchbarer. Die Leute, die vom Gebirge nach der Ebene, vom Lande nach der Stadt kamen, waren und sind härter, machen geringere Lebensansprüche, sind aber meist auch zunächst zu feinerer Arbeit weniger tauglich. Die Bevölkerung wuchs teilweise seit dem 16. Jahrhundert, noch mehr seit 1750,- sie war fast überall seither über ihren Nahrungsspielraum hinausgewachsen; für überflüssige Hände Arbeit zu schaffen, war das Losungswort der merkantilistischen Politik. Die Hausindustrien haben großenteils ihre Wurzel in einem Überangebot ländlicher oder städtischer Arbeitskräfte, wie auch ihre neueste Zunahme (z. B. in der Konfektion usw.) darauf zurückgeht. Auch wo keine Großindustrie, keine große Gutswirtschaft in Betracht kam, mußte die Bevölkerungszunahme auf die Bildung besitzloser Arbeiter hinwirken. Nehmen wir a l s einfachsten F a l l die Geschichte eines freigebliebenen Bauerndorfes mit fester Gemarkung. W o 1300 noch 20 Vollhufner saßen, lebten vielleicht 1500 noch 6 Vollhufner, 12 Viertelshufner, einige Kossäten und Tagelöhner und im Jahre 1800 waren daraus 2 oder 3 Vollhufner, 20—30 Viertelshufner, 30 Kleinstellenbesitzer und ebenso viele grundbesitzlose Tagelöhner geworden, die in den Wirtschaften der Bauern, in Forst-, Berg-, Straßenarbeit, in der Hausindustrie einen Verdienst suchen mußten. Überall wo nicht Platz und Gelegenheit mehr für neue innere Kolonisation war, sah sich ein Teil der wachsenden ländlichen Bevölkerung auf Lohnarbeit in der intensiver werdenden Landwirtschaft oder im städtischen Gewerbe angewiesen. W o gar die Zahl der Bauern durch Bauernlegung oder aus anderen Gründen abnahm, steigerte sich der Arbeit suchende Bevölkerungsüberschuß. Wandte er sich den Gewerben zu, so war die Frage, ob und in welcher Stellung diese ihn aufnehmen können. D a s Handwerk hat stets, gerade wenn es blühte, in 2—3 Generationen durch die zunehmende Lehrlingszahl die drei- und mehrfache Zahl von Kandidaten für die meist nicht stark zunehmende Zahl von Meisterstellen erzeugt; sie fanden von 1500 bis 1700 in den aufkommenden Söldnerheeren, in Schreibstuben und Beamtenstellungen, dann auch in Hausindustrie und Fabrik ihren Unterhalt. W o vollends die neuere Großindustrie erblühte und exportierte, wuchs die Menschenzahl in der Regel noch rascher als vorher; es schien sich jetzt so ileicht eine schrankenlose Erwerbsmöglichkeit zu eröffnen, und man beeilte sich,
5. Der freie Arbeiterstand.
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von 1789—1870 die alten etwa noch bestehenden Schranken der Niederlassung und Eheschließung zu beseitigen. Alle Schichten der Gesellschaft nahmen rasch zu und wer nicht als Bauer oder Meister, als Künstler oder Beamter, als Kaufmann oder Krämer eine Stellung fand, oem blieb keine andere Wahl, denn als Lohnarbeiter sich eine solche zu suchen. D a s Geldlohnverhältnis für ältere verheiratete Leute war nun nicht etwa seit 175» etwas ganz neu sich Bildendes. W o schon in früherer Zeit auf Grund der Geldwirtschaft etwas größere Betriebe sich gebildet hatten, da hatte sich neben dem Lehrling und Gesellen auch ein verheirateter, geldgelohnter Arbeiterstand gebildet, dessen Glieder nur ausnahmsweise noch Meister oder Unternehmer werden konnten. Die Berg- und Salinenarbeiter und die Matrosen sind frühe Beispiele von Gruppen von Arbeiterfamilien, die durch Generationen Arbeiter blieben. Gerade sie waren ursprünglich zu einem großen Teil Glieder primitiver Arbeitsgenossenschaften gewesen, sie hatten sich aber in dieser Form nicht dauernd ordentlich ernähren können; die Genossenschaften wie die einzelnen Arbeiter waren unfähig, das von ihnen hergestellte ungeteilte oder geteilte Produkt zu verkaufen, aus ihrer Genossenschaft ein lebensfähiges Unternehmen zu machen; der Verdienst war zu ungleichmäßig; es war für die Leute ein großer Fortschritt, wenn besitzende Unternehmer sich fanden, die imstande waren, ihnen, so lange das Geschäft dauerte, aber unabhängig davon, ob es' gut oder schlecht ging, einen fortlaufenden Geldlohn zu zahlen. Und als in neuerer Zeit eine immer erheblichere Zahl von größeren Betrieben und Anstalten der dauernden Arbeitskräfte bedürfte, da haben sie wohl auch noch, wie seither die kleinen Betriebe, jüngere Leute beschäftigt; sie haben sogar teilweise übermäßig Kinder und Frauen herangezogen, „Lehrlinge gezüchtet", — aber im ganzen war doch damit die Notwendigkeit gegeben, die brauchbaren Arbeiter Zeit ihres Lebens oder wenigstens bis ins W., 50. Jahr im Dienst zu behalten; der Geselle konnte immer seltener Meister werden. Ein breiterer Stand älterer verheirateter gewerblicher Arbeiter mußte in der Stadt mit dem Großbetrieb entstehen, wie auf dem Lande der Stand verheirateter Tagelöhner mit dem Großbauern- und Großgutsbetrieb. Insofern ist es wahr, daß die größeren Unternehmer und ihr Besitz den heutigen Arbeiterstand schaffen halfen; man muß aber hinzufügen, die Leute waren schon da, sie entschlossen sich lange Jahrzehnte hindurch ungern und schwer genug, in die Fabrik einzutreten.
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1. Buch. Die soziale Klassenbildung.
1. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
A u s dem Zusammenwirken der neuen Technik, des neuen Rechtes, der persönlichen Freiheit, der vordringenden Geldwirtschaft, der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse, der Bevölkerungszunahme ergab sich das neuere Arbeitsverhältnis, der moderne Stand von Lohnarbeitern, seine Basierung auf den freien Arbeitsvertrag. Das Wesentliche ist dabei folgendes. Nicht mehr bloß jüngere Leute stehen in abhängigen dauernden Arbeitsstellungen, sondern auch verheiratete Familienväter und F r a u e n ; ein großer Teil der Arbeitenden hat keine Hoffnung, wie es früher vielfach der F a l l war, mit den Iahren an die Spitze eines Kleinbetriebes zu kommen; die Mehrzahl der Arbeitenden verkauft nicht einzelne Arbeitsleistungen, wie die Dienste leistenden Handwerker, sondern sie verrichten in einem wenn auch löslichen, doch festen und ihre Lebensführung beherrschenden Arbeitsverhältnis für einen Arbeitgeber täglich bestimmte, gleichmäßig sich wiederholende Dienste und Arbeiten. Aber dafür ist auch für die Mehrzahl der Arbeiter durch eine gleichmäßig fortgehende Einnahme die Existenz wenigstens einigermaßen gesichert; eine erbliche oder lebenslängliche Berufsbindung, wie früher, besteht nicht; jeder kann seiner Fähigkeit entsprechend sich seinen Verdienst suchen wo und wie er will. Darin lag eben der wesentliche Fortschritt. Der Arbeiter ist selbst für sein Schicksal mitverantwortlich gemacht; und wenn erst langsam das rechte Gefühl dieser Verantwortlichkeit sich bildete, wenn es zunächst nur eine Elite haben konnte, die übrigen ohne die alten Gängelbande teilweise zurückgingen, der Segen der Freiheit trat doch nach und nach ein, zeigte sich in dem Maße, wie der Arbeitsvertrag sich richtig ausgestaltete, der Arbeiterstand sich hob. Auch wo der größere Teil der Arbeitenden erhebliche andere wirtschaftliche Mittel der Existenz nicht hat als den täglich verdienten Lohn, der nur bei den höheren Stufen sich in Iahresgehalte mit dauernder Anstellung verwandelt, konnten Reformen aller Art das Arbeitsverhältnis verbessern, wie wir an anderer Stelle sehen werden. Hier seien nur noch die Ursachen kurz berührt, welche bei der Entstehung des modernen Arbeitsverhältnisses (1770—1870) die gesunde Ausgestaltung desselben zuerst erschwerten. Zahlreiche der älteren Gruppen lebenslänglicher Arbeiter, wie z. B. die Berg- und Salinenarbeiter, auch ein Teil der älteren städtischen und ländlichen Arbeiter hatten bisher eine ihre Lebensstellung einigermaßen sichernde korporative Verfassung; oft schützte sie eine obrigkeitliche Lohnregulierung; das hörte nun plötzlich
5, Der freie Arbeiterstand.
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mit der neuen wirtschaftlichen Freiheit auf. Fast alle ländlichen, aber auch ein Teil der städtischen Arbeiter und kleinen Leute hatten noch im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Stückchen Garten, einen Anteil der Allmende; sie hatten noch eine kleine naturale Eigenwirtschaft, konnten eine Kuh halten, Schweine und Hühner füttern, hatten damit eine einigermaßen gesicherte Ernährung. Aber das hörte 1770^1870 für einen erheblichen Teil auf. Die Arbeiter sollten, plötzlich in die Geld- und Marktwirtschaft gestellt, nun alles bezahlen, was sie brauchten; das konnten sie nur in Generationen erlernen. Erst die langsam sich bildenden gänzlich anderen geld- und marktwirtschaftlichen Gewohnheiten, dann die Gewerkschaften, Genossenschaften, Arbeitervereine gaben ihnen wieder eine bessere Stellung, gaben ihnen den Rückhalt, den sie einst in ihren Korporationen, ihren Gemeinden gehabt hatten; erst sehr langsam konnte an die Stelle des alten Haus- oder Gartenbesitzes das Sparkassenbuch, der Anteil an einer Genossenschaft, der Rückhalt einer Versicherung treten. Wir kommen auf die einzelnen Seiten des heutigen Arbeitsvertrags in unserem zweiten Buche zurück. Hier hatten wir nur die Entstehung des freien Arbeiterstandes klarzulegen als ein Glied in der Kette der gesellschaftlichen Arbeitsund Berufsteilung. S o Verschiedenes er umfaßt, wie einst die Sklaverei und die Hörigkeit, alle, welche wir zu ihm rechnen, stehen nicht bloß unter einer ähnlichen Rechts- und Wirtschaftsinstitution, sondern zeigen auch den übereinstimmenden Zug, daß sie die mehr ausführende, die mehr mechanische Arbeit arbeitsteilig zu leisten haben, daß sie durch diese Teilung an ihre Arbeitgeber gekettet sind, daß beide zusammen eine gesellschaftliche Organisation darstellen. Wir gehen hier nur noch mit einigen Worten auf die Frage ein, wie groß dieser Lohnarbeiterstand sei und aus welchen einzelnen Elementen er sich zusammensetze. S o wenig sicher die statistischen Grundlagen hiefür sind, so geben sie doch einigen Anhalt. Für den alten preußischen Staat möchte ich folgende, freilich weder erschöpfende noch ganz sichere Angaben wagen. E s gab etwa (für 1867 ist das alte Preußen gemeint): 1802 1816 1846 1867 Fabrikarbeiter 0.16 Mill., 0,3S MM,, 0,55 Mill., 1,14 Mill., Gesellen und Lehrlinge . , ? „ 0,18 „ 0,38 „ 0,60 „ landwirtschaftliche Arbeiter ? „ 0,8 „ 1,4 „ 2,19 I,Z3 Mill., 2,33 Mill-, 3,93 Mill.
Also ohne Dienstboten von 1816—67 eine Zunahme von 1,3 auf 3,9, mit ihnen von etwa 2,3 auf 4,9 M i l l . ; in Prozenten der ganzen
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l- Buck, Die soziale Klassenbildung.
1. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
Bevölkerung ein Wachstum von 13 auf 19, mit den Dienstboten von 22 auf 24 v/o; der ganze preußische Staat dürfte 1867 etwas über 5, mit Dienstboten etwas über 6 Mill. Arbeiter gehabt haben; im Jahre 1895 zählte Preußen in Landwirtschaft, Industrie und Handel 7,5 Mill. Arbeiter, 1907 10,8 (ohne Dienstboten). D a s Deutsche Reich hatte nach den Berufszählungen von 1882 10,7, von 1895 12,8 Mill. Arbeiter in diesen Produktionszweigen (ohne 0,6 Mill. höhere Angestellte, 0,4 Mill. wechselnde Lohnarbeiter und 1,3 Mill. Dienstboten, auch ohne die Post und die Eisenbahn); das waren 1882 23 «/o, 1895 25 »/o der Gesamtbevölkerung. I m Jahre 1907 waren es 17,8 Mill. oder 29 "/« der Bevölkerung. Auf die entsprechenden Zahlen der anderen Staaten kommen wir unten. Eine große Zunahme der Arbeiterbevölkerung ist also von 1800 bis heute sicher eingetreten; immer erreicht sie auch heute noch nicht die relative Zahl der Sklaven oder gar der Hörigen früherer Zeiten. Die verschiedene Zunahme der Zahl der Lohnarbeiter in den einzelnen Volkswirtschaften wird davon abhängig sein, wie früh und rasch der kleine Bauern- und Handwerkerstand abnahm, der Großbetrieb zunahm; im Süden und Osten Europas wird der Arbeiterstand also weniger umfangreich sein als in England, wo die frühe Vernichtung des Bauernstandes ihn schon vom 16.—18. Jahrhundert anschwellen ließ. M a g die Erhaltung des Bauernstandes für jedes Land, da und dort auch die Erhaltung des kleinen Handwerkers ein Glück sein, im übrigen darf die Zunahme des Lohnarbeiterstandes nicht unter allen Umständen als ein ungünstiges Symptom, als eine Vernichtung des Mittelstandes, auch nicht bedingungslos als eine Zunahme abhängiger Existenzen gedeutet werden. Sie ist an sich ein Zeichen moderner Technik und Betriebsverhältnisse, kann proletarisches Elend, aber auch je nach Zusammensetzung, Lohn, Arbeitseinrichtungen eine neue Füllung des Mittelstandes, gesunde Verhältnisse der unteren Klassen bedeuten. D a s Verhältnis der Lohnarbeiterzahl zur Gesamtbevölkerung gibt überdies auch statistisch noch keinen erschöpfenden Aufschluß über die Bedeutung derselben gegenüber den Unternehmern und über die unter ihnen und in den Hauptberufszweigen stehenden Arbeiterfamilien. Darüber noch einige Worte und Zahlen. Äm Jahre 1907 kamen in Deutschland in den drei großen Gebieten der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels sowie in Lohnarbeit sonstiger Art, in den freien Berufen und im öffentlichen Dienst mit Ausnahme des Heeres nach der Berufszählung:
43 auf die
Erwerbstätige allein
A?n AnWr,?en
Selbständigen 22,1 " o 17,4 Mill. od. 31,1°/» Angestellten (Beamten) . . 1,6 „ „ 5,8 „ 3,7 „ „ 6,6 „ Lohnarbeiter und Dienenden 15,5 „ „ 56,5 „ 30,5 „ „ 54,4 „ Mithelfenden Angehörigen. 4,3 „ „ 15,6 „ 4,4 „ „ 7,9 >, Zusammen 27,4 Mill. od. 100,0°/» 56,0 Mill. od. 100,0°/°
Lohnarbeiter und Dienstboten machen also unter den Erwerbstätigen 36,5 »/o aus. Ein Teil der mithelfenden Angehörigen gehört zur Arbeiterklasse, ein großer Teil zur Selbstäudigenschicht. Von den 4,3 Mill. mithelfenden Familienangehörigen sind 34 «/o ledig, 39 »/o jüngere Leute unter 30 Iahren. Verheiratete männliche Lohnarbeiter sind vorhanden: 5,2 Mill. oder 49 «/», ledige ebenfalls 5,2 Mill. oder 49 o/o, verheiratete weibliche nur 0,7 Mill. oder 13,7 o/o gegenüber 3,8 Mill. oder 78 o/o ledigen, zusammen verheiratet 5,9 Mill. (von den 15,5 Mill. Arbeitern); es werden also, da wohl viele der verheirateten Männer und Frauen derselben Familie angehörten, nicht viel über 5 Mill. Arbeiterfamilien in Deutschland 1907 auf die 13 Mill. Familien des Reiches existiert haben. Von den männlichen Lohnarbeitern waren 3,6 Mill. oder 53 »/o, von den weiblichen 3,5 Mill. oder 71 o/o unter 30 Jahren. Wenn man männliche und weibliche Arbeiter trennt, dann überwiegen bei den männlichen Lohnarbeitern die ledigen die verheirateten nicht; beide machen je 49 o/o (1907) aus, der Rest (2 o/y) sind Verwitwete und Geschiedene; 1895 waren von allen männlichen Lohnarbeitern 52 o/o ledig. Wir sehen zugleich daraus, daß unter den Gesamtzahlen unserer Arbeiter auch heute noch die jungen, ledigen Leute, die unverheirateten, überwiegen, daß unter ihnen viele Tausende sind, die später in Unternehmer- oder andere Stellungen einrücken, dem Mittelstand, teilweise den höheren Klassen angehören, sich in andere Kreise verheiraten. Unsere heutige Statistik muß den Millionärssohn, der als Kommis in einem Geschäfte arbeitet, die Tochter des Bauern, die irgendwo dient, ebenso zum Arbeiterstande rechnen, wie den letzten proletarischen Arbeiter. Auf die Scheidung des Lohnarbeiterstandes in gelernte und ungelernte Arbeiter, in eine Hierarchie von Kreisen, deren obere Beamtenqualität haben oder sich ihr nähern, den liberalen Kreisen, dem Mittelstand angehören, ebenso sehr geistige wie mechanische Arbeit verrichten, haben wir nicht hier, sondern im zweiten Buche einzugehen. Diese Differenzierung des Arbeiterstandes selbst ist aber eine der wichtigsten und auch der erfreulichsten Erscheinungen der neuesten volkswirtschaftlichen Entwickelung.
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l- Buch. Die soziale Klassenbildung,
l. Kapitel. Die Arbeitsteilung.
6. Die Scheidung von Landbau und Gewerbe. Die landwirtschaftliche und die gewerbliche Arbeitsteilung. Einzelne Stämme sind seit urdenklichen Zeiten je nach Rasse, Klima und Boden, nach Wohnsitz, nach Flora und Fauna ihres Landes bloße Jäger, bloße Fischer oder bloße Viehzüchter, bloße Bananen- oder Maisesser geblieben, haben ihre agrarische Wirtschaft nicht zu der vielseitigen Gestalt ausgebildet wie die Indogermanen und Semiten, teilweise auch andere Rassen in den gemäßigten Zonen mit ihrer Verbindung von Ackerbau, Viehzucht, Forstnutzung und mancherlei Nebengewerben. Diese höheren Rassen haben mit ihrer Haus- und Familienwirtschaft den Hack- zum Ackerbau entwickelt, ihn mit der Viehzucht, mit der Flachs- und Wollverarbeitung, mit der Herstellung von Werkzeugen und Waffen in mancherlei Art verbunden. Die häusliche familienartige Arbeitsteilung wies M a n n und Frau, den einzelnen Söhnen und Töchtern, den männlichen und weiblichen Sklaven je besondere Tätigkeiten zu. E s war eine vom Familienvater geleitete Arbeitsteilung, die je nach der Größe der Familie und dem Hilfspersonal schon ziemlich weit gehen konnte und erhebliches leistete, sich bei vielen Völkern lange in ihren traditionellen Geleisen erhielt. Die antike Großfamilie mit Dutzenden, ja Hunderten von Sklaven, die mittelalterlich grundherrliche Fronhof-, Kloster-, Abtei-, Fürstenwirtschaft war ein hauswirtschaftlicher Großbetrieb mit einer erheblichen Zahl Hausämter für Kriegsrüstung, Stall, für Vorratshaltung in der Kammer, für Küche und Keller, mit einer Anzahl Werkstätten und technischen, unfreien Arbeitern. I n den großen Patrizierhäusern, großen Gutswirtschaften, fürstlichen Haushaltungen dauert bis heute eine solche weitgehende Arbeitsteilung fort. I n dem Haushalt des Sultan Abdul Asis waren in unseren Tagen noch 6124 Personen arbeitsteilig beschäftigt, 359 allein für den Küchendienst. a) Die S c h e i d u n g von L a n d b a u und Gewerbe. Die letzten Jahrhunderte haben diese Großsamilienwirtschaften mehr und mehr auch bei den höheren Klassen beseitigt; die Geld- und Marktwirtschaft löste sie auf; die Arbeitsteilung in der neuen Unternehmung zwischen den führenden und den arbeitenden Kräften und die berufliche Arbeitsteilung traten an die Stelle. Die neuere Kleinfamilie kauft mehr und mehr fertige Produkte, beschäftigt einzelne Handwerker auf Tage und Stunden. E s scheiden sich Landbau und Gewerbe als große Berufsgruppen und in ihnen
6. Die Scheidung von Landbau und Gewerbe.
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die Betriebe und die beschäftigten Personen. Wir sprechen hier hauptsächlich von der Arbeitsteilung in diesen zwei Gruppen. Vorher sagen wir je ein Wort von der Scheidung der landwirtschaftlichen und gewerblichen Tätigkeit im Allgemeinen. Diese Scheidung vollzog sich in der Hauptsache so, daß aus den viel früher vorhandenen großen ländlichen Wirtschaften einzelne Arbeitskräfte, die bisher innerhalb der großen Haushalte tätig waren, nun ausschieden, auf dem Markte auch für andere Arbeit übernahmen. E s ist fast der wichtigste Scheidungsprozeß in der modernen Volkswirtschaft, der diese zwei Gebiete der Produktion als besondere gesellschaftliche und wirtschaftliche Gruppen, je mit engen Sonderinteressen nebeneinander gestellt hat. Die heutige komplizierte volkswirtschaftliche Organisation hat ihren Hauptzweck darin, durch Handel, Markt und Verkehr diese zwei getrennten Hälften doch in rechte Verbindung, zu glattem Zusammenwirken zu bringen. Der Scheidungsprozeß zwischen den zwei Gebieten ist übrigens auch heute noch lange kein vollständiger und wird es nie werden; die Scheidung ist ja nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, das nur dort sich einstellt, wo die Produktion dadurch erleichtert, verbessert wird. S i e kann sich nicht einstellen, wo der Verkehr fehlt: der amerikanische Farmer, der alpine Hofbauer, der schwedische Bauer ist heute noch zugleich Jäger, Baumeister, Tischler, Backsteinbrenner, Weber, Gerber und sonst noch einiges. S i e vollzieht sich aber auch da nicht, wo der kleine Bauer nicht recht von seiner Ackerstelle allein leben kann, wo ein gewisser Absatz von gewerblichen Produkten der Hauswirtschaft—wo der sogenannte Hausfleiß — sich entwickelt, auch wo später der ländliche Handwerker nicht vom Ertrage seines Gewerbes allein bestehen kann. I n den osteuropäischen und asiatischen Ländern ist so eine große gewerbliche Produktion in den bäuerlichen Familien noch heute vorhanden. Achtzig Prozent der Bauern in der Umgebung Moskaus verrichteten noch Ende des 19. Jahrhunderts gewerbliche Nebenarbeit. I n Mittel- und Westeuropa hat im 19. Jahrhundert mit der Zulassung der Gewerbe auf dem platten Lande der Handwerksbetrieb als Nebenbeschäftigung hier am meisten, viel mehr als in den Städten zugenommen! Für einen thüringischen Bezirk weist Hildebrand (1868—78) auf 3577 landwirtschaftliche 11 752 gemischte Betriebe nach, und für Württemberg berichtet Rümelin (1860), daß von 117 000 landwirtschaftlichen Familien etwa 99 000 irgendeinen Nebenerwerb haben. Nach der deutschen Berufszählung von 1907 haben von den Erwerbtätigen im Hauptberuf 1,8 M i l l . in der
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I- Buch. Die soziale Klassenbildung.
1. Kapitel- Die Arbeitsteilung
Landwirtschaft, 1,7 Mill. in der Industrie, 1,7 in allen Berufen 6 Mill. Nebenberufe, und damit ist ihre Zahl entfernt nicht vollständig erfaßt. Von den deutschen Müllern haben (1907) 84, den Brauern 60, den Grobschmieden 67, den Stellmachern 64, den Maurern und Zimmerleuten 62, den Bäckern 46 o/) Für England haben wir in den Untersuchungen von Rogers, Cunningham, Hewins, Toynbee, Arthur Doung, in der amtlichen Lohnstatistik des 19. Jahrhunderts, vor allem heute in den drei Bänden von Gustav Steffen (Geschichte der englischen Lohnarbeiter. 1901—1905) eine bessere Grundlage a l s für irgendein anderes Land. Wir gehen aus von den Lohnberechnungen Steffens, geben seine Tagesweizenlöhne in Quarterdezimalen auf Wochenlohn und Kilogramm Weizen ausgerechnet hier wieder. Zunächst einen Blick auf die Löhne bis zur Geldentwertung des 16. Jahrhunderts. Der Wochenlohn war in Kilogramm Weizen: 5«^ für einen ... . für einen Land-und ! Land-und Ämmermann Grobarbeiter Zimmermann (Hrobai'beiter 1261—70 72,20 — ! 1391—1400 96,00 — 1291—IZ00 46,9S IS,69 ! 1401—10 I0S,42 70,45 1321-30 52,84 15,69 ; 1451-60 117,98 83^8 1341-50 64,74 23,28 ! I49I-I500 129,23 96,92 1351-60 67,23 ! 1531-40 99,01 5ö,6Z Den Landarbeiterlöhnen für die ganze Zeit von 1260—1540 messen wir freilich keine so erhebliche Bedeutung zu, weil es sich bis 1350, jedenfalls aber auch später noch vielfach um halbhörige Bauernsöhne
246 2. Buch. Der heutige Arbeiterstand. I.Kap. Seine rechtl. u-wirtschaft!. Lage,
handelt, beziehungsweise um ländliche Familien mit einer sie nährenden Eigenwirtschaft. Wenn im 15. Jahrhundert die ländlichen Löhne das Vier- und Mehrfache der Zeit vor 1350 betragen, so spricht sich darin vor allem auch das Vordringen der persönlichen freien Landarbeiter aus, neben der günstigen Marktlage für alle Arbeiter dieser Epoche. Immerhin erreichen die Landarbeiter auch im 15. Jahrhundert 1491—1500 nur 96 kx, also das, was wir als eben ausreichenden Lohn bezeichneten. Rogers nimmt für die Epoche von 1260—1350 das Iahresverdienst eines Landarbeiters, das er im ganzen dem eines Bauern noch gleichsetzt, auf 4 — 5 F im Anfang, auf 6,9 F am Ende an. Steffen faßt die Geldtagelöhne in damaliger Münze für zwei längere Epochen mit stabiler Höhe so: I2S0—1Z1V für den Zimmermann Z ci, für den Feldarbeiter I 6. 1410-1530 „ „ „ 6 6, „ . . 46,
Die Ursachen, welche das wirtschaftliche Leben und die Lohnbewegung in den beiden Epochen 1261—1350 und 1351—1540 beherrschten, wird man so zusammenfassen können: Die normannische Eroberung hatte höhere wirtschaftliche Kultur und Verkehr mit Nordfrankreich und den Niederlanden gebracht. Die Geldwirtschaft drang von 1300 an rasch vor; Gutsbesitzer und Bauern heben sich, städtischer Markt und Gewerbe beginnt; zahlreiche Bauern kaufen sich frei; Gesinde fürs Herrenhaus, Arbeiter für den Ackerbau sind stark begehrt; so sehr noch die bisherige Hörigkeit bis 135(l einwirkt, die Selbständigkeit der unteren und mittleren Klassen wird durch die Bettelmönche gehoben. Die Regierung der Könige erhält im Parlament ein Gegengewicht; die Kriegszüge nach Frankreich im 14. Jahrhundert beleben das nationale Selbstgefühl. Die Zimmermannslöhne schwanken, sind 1291—1310 niedriger als 1270, aber sie steigen dann wieder bis 1350, die ländlichen sind an sich niedrig, heben sich aber auch bis 1350 ziemlich bedeutend. Die Einwirkung des schwarzen Todes mit der Richtung auf ein vermindertes Angebot von Arbeitern ist vorhanden, aber nicht sehr groß. Die Hauptsteigerung der Reallöhne tritt 1391—1400 ein. Und die Löhne bleiben steigende bis 1500, gehen nicht sehr weit zurück bis 1540. Auch bis dahin bleibt der ländliche Lohn teilweise noch eine Nebeneinnahme für ländliche Familien und ihre Söhne, die durch eine naturale Eigenwirtschaft sich nähren; dafür sind 70,83, 96 relativ reichliche Löhne. Die Regierung steht seit 1350 mit ihren statutes ok lÄboursrs auf
7. Geschichte des englischen und französischen Geldlohns.
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Seite der Herrschaften; die Steigerung der Löhne wird, wie überall in primitiven Wirtschaftszuständen, nicht verstanden und daher als Unrecht betrachtet; der Grundherr möchte die freien Leute wieder zur Arbeit zwingen. Daher der Aufstand von W a t Tyler, die religiösdemokratische Bewegung von 1381. Die Bauern, die vor London ziehen und dem König ihre Forderungen vorlegen, rufen, sie seien frei, wollten es bleiben für ihre Erben und ihren Boden. D a s Leben ist dabei noch billig; die erste Blüte der Wollindustrie steigert von 1450—1550 die Nachfrage nach gewerblichen Arbeitern, wie die gute landwirtschaftliche Entwicklung sie 1350—1450 für die Landarbeiter gesteigert hatte; trotz eines gewissen Druckes von oben hat der Arbeiterstand bis gegen Mitte des 16. Jahrhunderts eine aufwärtsgehende gute Stellung, teilweise zusammenhängend mit den reichen Ernten und billigen Preisen des 15. Jahrhunderts. Anders nun in der folgenden Periode von 1540—1660. Die Epoche wird durch große sich folgende Mißernten eingeleitet, 1545 -1536, dann folgen ähnliche Reihen von Mißernten von 1630—1661. Die Wochenlöhne stellen sich wieder in Kilogramm Weizen: 1541-50 IS7I-82 1K0Z-12 1633-42 1653-62
für den Zimmermann 71,54 75,21 37,40 37,01 41,59
für den Land- u. Grobarbeiter 47,21 51,53 30,08 29,43 27,72
Die gewöhnliche Meinung ist, daß die Geldwertssteigerung den ?keallohn (den Weizenlohn) herabgedrückt habe, da die Geldlöhne nicht so gestiegen seien, wie die Lebensbedürfnisse. D a s hat wohl von 1560 an etwas mitgewirkt; ebenso die Münzverschlechterung von 1560. Aber die Hauptursachen lagen anderswo. Die Kaufkraft der Löhne sank erst 1600—1662 so sehr. Bei den Landarbeitern war sie 1653—1662 41,3 °/° geringer als 1541—1550. Die Bevölkerung war 1550—1650 viel rascher gestiegen als 1400 bis 1500, dabei sank die Nachfrage nach ländlichen Arbeitern durch die Einhegungen; die Ersetzung der Getreide- durch die Wollproduktion wirkte in diesem Sinne und erzeugte die Bauernunruhen von 1536, 1537, 1549. Steffen sagt: Mitte des 16. Jahrhunderts ist die wirtschaftliche Kraft und Unabhängigkeit der englischen Kleinbauern für immer gebrochen. Die übermäßige Wanderung des Landarbeiters zur städtischen Industrie beginnt. Die Tudors sind keine Adelskönige mehr, sondern Könige der Großbürger und Handelsherren. M i t dem vollendeten Siege der Geldwirtschaft und der Auflösung des feu-
2 4 8 2. Buch. Der heutige Arbeiterstand. I.Kap. Seine rechtl. u. wirtschaft!. Lage.
dalen Systems entsteht die große Begünstigung der Handels- und Monopolgesellschaften. Die merckant iiävenwi-ei-s beherrschen die Wirtschaftspolitik. Und doch wird man nicht sagen können, die Politik des Tudors sei durchaus den Arbeitern ungünstig gewesen. Die zahlreichen Armengesetze von 1536—1601 und 1662 sind doch erheblich vom Geiste der Pariser Nominalisten und des großen Armenreformators Vives erfüllt, der drei Jahre am Hofe Heinrichs VIII. lebte. Das Statut der Elisabeth, das vorschreibt, einer ländlichen Arbeiterfamilie zu ihrer meist rentenfreien Kate vier Acres Land zuzuweisen (Toynbee), hat bis zu seiner Aufhebung (1775) sozial gut gewirkt. Aber von der rohen Tendenz der zahlreichen swwws ok lildourvrs, die von 1359 an einsetzten, lebt auch jetzt noch viel fort, ja sie erreicht in dem Arbeits- und Lehrlingsgesetz von 1562 einen gewissen Höhepunkt. Immer kehrt der Gedanke wieder, daß man die Arbeiter zur Arbeit zwingen müsse, daß die Forderung höherer Löhne ein Unrecht sei; immer wieder sucht man das Abwandern, das häufig seine Ursache im Aufsuchen höherer Löhne, nicht in der Vagabundage hat, zu hindern; die Freizügigkeit wird immer wieder beschränkt, ja verhindert. Die Friedensrichter können nach dem Gesetz von 1562 in a l l e Lohnbildung eingreifen und haben es vor allem 1559—1659 getan, im Sinne der damals wie nach 1359 für unerlaubt gehaltenen Lohnsteigerung. Die Strafen der Arbeiterstatute des 16. Jahrhunderts sind so hart (Ohrenabschneiden, Aufbrennen von Zeichen auf die Stirne, Tod nach zweimaligen Durchgehen), daß Toynbee sagen konnte, sie seien mit Blut geschrieben. D a s Jahrhundert von 1663—1762 zeigt wieder ein etwas freundlicheres Gesicht für die Arbeiter und ihre Löhne. Die Berechnungen nach den Zahlen von Steffen geben einen Wochenweizenlohn in Kilogramm 1663-72 1693—1702 1723—32 I7S3-62
für den Zimmermann SS,32 53,96 82,14 8S.93
für den Land- u. Grobarbeiter 37,40 34,00 37,93 3S,63
Steffen bezeichnet die Löhne dieser Zeit im ganzen als stillstehend» Er sagt: es ist eine Zeit der Windstille nach dem Sturm von 1559 bis 1669 und vor dem Sturm von 1769—1839. Die Revolution von 1649—1669 war vorbei; die Bevölkerung nahm ganz langsam zu; 1791—1751 zum Beispiel 3 pro M i l l e jährlich (während sie 1811 bis 1829 um das Sechsfache, um 18 pro Mille stieg). E s ist das erste
7. Geschichte des englischen und französischen Geldlohns.
249
Jahrhundert des siegenden Merkantilismus, der Besiegung Spaniens und Hollands, der ersten wertvollen Kolonieerwerbungen, der für England so günstigen, für Frankreich so schädlichen Kriege 1690 bis 1713. E s ist daneben von 1710—1762 eine lange Epoche reicher Ernten und billiger Lebensmittelpreise; die Lebenshaltung verbessert sich. Adam Smith hat noch den Eindruck, daß die Löhne gestiegen seien. Defoe sagt zu Anfang des Jahrhunderts: es fehlt nicht an Beschäftigung, aber an Bewegungsfreiheit für den Arbeiter. Die Festsetzung der Löhne durch die Friedensrichter kommt („eine Folge des gesunden Menschenverstandes") außer Übung, ebenso das Arbeits- und Lehrlingsgesetz von 1562. Die klassenegoistische Herrschaft, die damals ihre Hauptblüte hatte, schadete weder der Volkswirtschaft im ganzen, noch den Arbeitern viel, weil der Gesamtwohlstand und die Macht Englands so sehr stieg, kein Überangebot von Arbeitern vorhanden war, die zahlreichen ländlichen Hausindustriearbeiter, wie fast alle ländlichen Arbeiter noch ihre Lebensmittel überwiegend selbst erzeugten. Aber allerdings blieben unter der Oberfläche schlimme Übelstände vorhanden: so die mangelnde Freizügigkeit, die wachsende Entartung des Armenwesens. Die Epoche von 1760—1830 ist diejenige, in welcher England seine monopolistische Welthandelsherrschaft vollendet, für die Napoleonischen Kriege seine Finanzen maßlos anstrengen muß, zur modernen intensiven Landwirtschaft unter agrarischen Hochschutzzöllen übergeht, das Fabriksystem begründet; mehr und mehr wird das Handwerk und die Hausindustrie zurückgedrängt. Jahre großen Wechsels der wirtschaftlichen Lage, der Preise, der Löhne; ungeheures Steigen der Getreidepreise: der Ouarter Weizen kostet in dem Jahrzehnt 1781—1790 47 sk 11 ä, 1791—1800 63 sk 5 6, 1801-1810 83 sk 11 (i. 1811—1820 87 sk 6 ä,- 1801 stand er 119 sk. 1812 126 sk 6 ä ; erst 1833 wieder 39 sk. Die Löhne stiegen wohl etwas, schwankten teilweise entsprechend den außergewöhnlichen Getreidepreisschwankungen ; es entstand der Anschein, das sei ein ganz regelmäßiger notwendiger Zusammenhang, während nur eine langsam meist erst nach mehreren Iahren erfolgende teilweise Anpassung des Lohnes an die Preise vorhanden war. Das Gesamtresultat war immerhin Stabilität des Reallohnes: der Landarbeiter verdiente 1761—1770 35,31 kx Weizen, 1801—181l> 31,26 kx, 1821—1830 31,13 kx; den Zimmermannslohn gibt Steffen so a n : 1753-1762 85,93 kx. 1831-1840 86,19 kF. D a s Wichtigste war die teilweise ganz fehlende Beschäftigung, die Überweisung großer
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Arbeitermassen an die Armenkasse; das Sinken der Lebenshaltung, selbst da, wo der Geldlohn stieg; die großen Wechsel des Lohnes mit den jähen Konjunkturveränderungen. Die ländlichen Geldtagelöhne waren von zirka 1 sk 3 ä auf 2 sk 1781—1790 bis 1801—1810 gestiegen, fielen dann wieder 1821—1830 auf 1 sti 5 6. Ein Baumwollhandwerker verdiente in der Woche 1797 30 sk, 1800 36 sti, 1808 18 sk, 1824 10 sk. Ein 30 jähriger Weber sagte 1832 aus, daß er 1798 12 sk, 1832 24 sk verdient, etwa noch dieselbe Nahrung habe, aber sonst, an Wohnung usw. sich sehr verschlechtert habe. Toynbee meint wohl etwas übertreibend, die Hälfte der Löhne sei durch die damaligen Steuern in Anspruch genommen worden. I n dieser Epoche verschwindet die Sitte, daß der ländliche Arbeiter vier Acres Landes erhält; Landlords und Pächter zerstören ihre Hütten auf der Allmende, um „nicht Bettlerbrut im Kirchspiel groß zu ziehen"; die fortschreitenden Einhegungen der Allmende berauben die Armen zahlreicher Hilfsmittel und Naturaleinnahmen. Eden und Arthur Voung sagen, man hätte jedem der benachteiligten Landarbeiter wenigstens 1—2 Acres Landes lassen sollen. Die Farmer standen dem entstehenden Arbeiterelend verständnislos gegenüber; sie erklärten: „hohe Löhne und freie Arbeiter richten uns zugrunde". Die jährliche Miete für eine Kate mit Garten war 1780 noch 30 sli, nach den Kriegen 100—200 sli. Die Zuschüsse der Armenkasse zum Lohn proletarisierten die Arbeiter in den mittleren und südlichen Grafschaften, das harte Fabriksystem mit seiner Kinder- und Frauenarbeit, mit seiner Verlängerung des Arbeitstages, mit seinen hohen Geldstrafen, mit seinem Trucksystem, mit seiner periodischen Arbeitslosigkeit der Arbeiter in den nördlichen Grafschaften. Dabei war die englische Bevölkerung von 1750 mit 6,3 Millionen, 1800 auf 8,8 Millionen, 1821 auf 11,2 Millionen gestiegen. D a s untere Drittel der englischen Bevölkerung war 1800—1840 geistig und körperlich entartet, verkümmert, proletarisiert. Sittenverderbnis, Trunksucht, Unterernährung waren die Begleiterscheinung der englischen Welthandelsherrschaft; eine starke revolutionäre Gefahr war 1795—1848 vorhanden. Alle edlen Geister wie Carlyle schrien nach Reform, wie der Chartismus nach sozialem Umsturz; langsam beginnt die Einsicht in die Notwendigkeit großer Reformen durch Sitte, Recht, Verfassung, soziale Einrichtungen. Zunächst tröstete man sich mit törichten, falschen, pessimistischen Lohntheorien; gegen das Sinken der Löhne gebe es nur die Hilfe der Kapitalbildung; die jähen Krisen von 1815—1857 vermehrten immer
7. Geschichte des englischen und französischen Geldlohns.
251
wieder die Arbeitslosigkeit und die Proletarisierung, und schufen neue Lohnsenkungen. Und doch ist nun die Epoche der englischen Lohnbewegung von 1830 bis 1900 und bis heute eine wesentlich erfreulichere als die ganze Zeit von 1550 an bis 1830. D a s Leben ist seit der großen Zollreform von 1846—1860 billiger geworden; so sehr die Bevölkerung stieg und somit das Angebot der Arbeiter sich vermehrte, so nahm doch auch die Nachfrage nach Arbeit immer wieder durch Englands Industrie und A u s fuhr zu. Dabei wanderten 1846—1882 3,5 Millionen Engländer aus. freilich dafür auch zahlreiche Jrländer ein. I m ganzen war ein Steigen der Löhne möglich. Nimmt man den Durchschnitt der ländlichen Wochenlöhne für 1821 bis 1830 zu 10,1880—1890 zu 14 sli, so kaufte man damals damit 31, jetzt 70—80 KZ Weizen; der englische Zimmermann erwarb 1831 bis 1846 86, 1881—1890 186 k? Weizen in der Woche. Den Wochenverdienst der Lancashirer Baumwollspinner hat man 1804 auf 58, 1827 auf 105,1837 auf 133,1891 auf 200 kK an Weizenmehl berechnet. Booth nimmt 1890 an, daß in London 9 v/o der Arbeiter auf 40—45 sli, je 20 v/o auf 20—25,25—30, 30—35 sk kommen; 35 sk sind 1912 einem Booth nimmt 1890 an, daß in London 9 "/o der Arbeiter auf 40—45 s, je 20 o/o auf 20—25, 25—30, 30—35 s kommen; 35 s sind 1912 einem Ouarter oder 218 Kx gleich, 20 sk etwa 120 Kx. I n den Iahren 1903 bis 1912 kostete der Quarter Weizen 31 sti, also waren die Geldlöhne von 20—35 sk gleich 120—218 kK. — Ich füge gleich hier noch eine Berechnung des durchschnittlichen Reallohnes nach Wood 1850—1900 bei: Der Lohn von 1 9 0 1 — 1 9 0 5 ^ 1 0 0 gesetzt, war 1 8 5 0 — 1 8 6 0 5 0 , 1 8 6 1 - 1 8 7 0 - - 5 5 , 1 8 7 0 - 1 8 8 0 6 5 , 1 8 8 1 - 1 8 8 5 - ^ 6 6 , 1885—1890 ^ 8 9 , 1 8 9 1 - 1 8 9 5 ^ - 9 0 , 1896—1900^95. Also Verdoppelung der Löhne im Durchschnitt Englands in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Die Lebensmittelpreise sind dann allerdings 1895—1911 etwa um 21,6 v/o (Ashley) gestiegen; die Löhne nicht in gleicher Weise, daher die soziale Mißstimmung der letzten Jahre. Da aber solch allgemeine Durchschnitte noch nicht allzuviel beweisen, gehen wir auf das Einzelne noch etwas ein. Die Löhne sind zeitlich nicht gleichmäßig gestiegen; die Hausseperioden hoben sie, in den Baisseperioden sanken sie; sie stiegen 1850 bis 1857, 1860—1866, am meisten 1868—1873; in den achtziger Iahren starker Rückgang, stärkste Arbeitslosigkeit; dann wieder die Höhepunkte 1898—1901, 1907—1911; dazwischen Senkungen. Auf die Epochen der Arbeitslosigkeit kommen wir zurück. I m allgemeinen hier nur die Bemerkung, daß die Zahl der Gewerbe mit starken schwankenden Kcmjunkturlohnen eher abnahm, und ebenso der prozentual«
2 5 2 2. Buch. Der heutige Arbeiterstand, l. Kap. Seine recht!, u. wirtschaft!. Lage.
Umfang der einzelnen Schwankung. Und dann noch die weitere B e merkung, daß die tägliche Arbeitszeit im ganzen doch wesentlich abnahm, in den wichtigsten Industrien von 60 auf 48—50V» Stunden in der Woche. Die ländlichen Löhne sind erheblich tiefer a l s die gewerblichen und städtischen. Dabei ist freilich nicht zu vergessen, daß infolge der billigen Mieten, des einfacheren Lebens vielfach ein ländlicher Lohn von 15 einem städtischen von 20—25 sk gleichsteht. Die tiefsten Löhne hat I r land, die höchsten Schottland; man nahm in den sechziger Iahren a l s Landlohndurchschnitt pro Woche a n : Irland 7, Schottland 12—13, England 11V» sk. Auch in den englischen Grafschaften starke Unterschiede ; 1900 in Suffolk 15 sk 10 6, in Durham 22 sk 4 cl. Die städtischen Grobarbeiter Englands läßt Steffen 1831—1890 von 14Vz auf 20V» sk steigen (1871—1880 verdienten sie 22 sk), den Handwerkerlohn von 1871—1890 von 25 auf 30Vz sk (1871—1880 33 Vs). Die Lohnsteigerung nach den einzelnen englischen Industrien berechnet Wood für 1860—1891 (1860 zu 100 gesetzt) so: Wolle 115, Eisen 125, Maschinen 106, Baugewerbe 128, Seeschiffahrt 143, Bergbau 150, Baumwolle 156. Die Webbs sagen 1894—1897: in der Trade-Unionswelt liegen die Löhne zwischen 24 und 72 sk die Woche. Vor allem wichtig ist nun, wie in der Industrie sich die hohen Löhne (35 sk und mehr) zu den mittleren (20—35 sk) und zu den niedrigen (unter 20 sk) verhalten. Nach einer Erhebung von 1886 hatten im Stahlschiffsbau 24,5 0/0 hohe, 56,6 o/g mittlere, 18,9 0/0 niedrige Löhne; das ist wohl auch die höchst gelohnte Industrie. Unter den W o l l arbeitern hatten 28,8 »,o niedrige und nur 6 0/0 hohe Löhne; unter den Bergarbeitern 20,4 0/0 niedrige, nur 0,4 0/0 hohe Löhne. Der optimistische Giffen schätzt für 1883 die ganze englische Lohnarbeiterschaft so ein: hohe Löhne 6,2, mittlere 69,6, niedrige 24,6 0,0. I m ganzen wird angenommen: der Schwerpunkt der Löhne sei 1820—1850 bei 13—16 sk, neuerdings bei 20—35 sk gelegen. A u s den Erhebungen von 1905 sei noch angeführt, daß in der Maschinenindustrie für das ganze Reich nach den vorherrschenden Arbeitergruppen die wöchentlichen Löhne folgende waren: Former 30—34 sk, Monteure 26—32 sk, Dreher 27—33 «K, Schmiede 28 sk 6 ci bis 33 sk, Modelltischler 25 sk 6 ä bis 30 sk, Tagelöhner 18—22 sk. A u s der Bewegung der Löhne im 19. Jahrhundert und dem Vorherrschen erst gewisser einseitiger Schulmeinungen und dann der vordringenden methodischen Forschung ist es erklärlich, daß Steffen mit Recht drei Perioden der englischen lohnstatistischen Beurteilung un-
7. Geschichte des englischen und französischen Geldlohns.
25Z
terscheidet: die pessimistisch-sozialistische bis in die fünfziger und sechziger Jahre, die manchesterlich-optimistische (hauptsächlich Gissen) bis in die achtziger Jahre, die objektiv-historische seither, hauptsächlich seit den großen methodischen Arbeiten des Handelsamtes. Noch ein Wort über die Kaufkraft der gestiegenen Löhne im 19. Jahrhundert. Daß die große Verbilligung der Ernährung in England die Kaufkraft im ganzen sehr hob, erwähnten wir schon eingangs; es ist das die erheblichste Tatsache der ganzen Entwicklung. Daher auch die großen Klagen, daß 1900—1911 die Geldlöhne stabil geblieben, die Preise aller Bedürfnisse in England um 8—10 » o gestiegen seien. Die noch wichtigere Frage aber ist: was erlangt der Arbeiter mit 35, mit 20, eventuell mit 14 sk Wochenlohn? Und ebenso bedeutsam die andere Frage: hat der Lohn und sein Steigen oder haben andere I n stitutionen dem Arbeiter, ob er etwas besser oder schlechter lebt, die Sicherheit der Existenz gegeben, die bis gegen 1750 der Land-, der Heim-, der kleinstädtische Arbeiter durch seine Kate, sein Gärtchen oder Ackerstück, seinen Allmendeanteil, der Zunft- und städtische Arbeiter durch sein patriarchalisches respektive korporatives Arbeitsverhältnis hatte? Sidney Webb sagt bezüglich der Gegenwart noch: mehr als zwei Millionen Menschen leben auch heute in England in einem Zustande chronischen Mangels. Ein großer Teil der Landarbeiter, Heimarbeiter, Gelegenheitsarbeiter, aber auch viele gewerbliche gehören dahin. F ü r London rechnet Booth 37 o/o der Arbeiterbevölkerung als im tiefsten Elend begriffen. Die Kaufkraft der ländlichen Arbeiter, die 18—21 sii die Woche pro Familie verzehren, geht iioch an, aber die Hälfte der ländlichen Arbeiter soll mit 13 sti Z cl oder weniger auskommen. I n diesen ganzen Schichten ist wohl der M a n n ausreichend ernährt, F r a u und Kinder aber nicht. Die Reste der Naturalzahlung sind gering. Die nordenglischen und schottischen sind besser daran, die irischen und südenglischen um so schlimmer. Mangel an Wohnungen und schlechte Wohnungen sind heute noch nicht überall beseitigt, als Überlebsel des „Krieges gegen die Hütten". Auch der Lohn der gewerblichen und städtischen Lohnarbeiter von 18—21 sti ist zu niedrig, obwohl ihre Ernährung so viel besser geworden ist und die Bildung, das Wohnen, die allgemeine Gesittung gewachsen ist. Die Zahl derer, die wöchentlich 30—40 und mehr Schilling zu verzehren haben, ist nicht so gewachsen, wie es erwünscht wäre. Die Frauen- und Kinderarbeit ist heute noch viel zu umfangreich und bedroht die Zukunft zahlreicher Arbeitergruppen. Die Unsicherheit der
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Existenz wegen wechselnder Arbeitsgelegenheit ist vermindert, aber doch noch viel zu groß. Kurz, bei großem Fortschritt doch noch kein normaler Zustand. Und daher der Kampf um weitere Erhöhung des Lohnes und noch bessere soziale Institutionen ganz natürlich. D a s letztere scheint sast noch wichtiger als das erstere: Vollendung der Armenreform, Hebung des Volks- und anderen Schulwesens, der hygienischen Einrichtungen, des Arbeitsnachweises, des Arbeiterversicherungswesens, des friedlichen Zusammenwirkens der organisierten Unternehmer und Arbeiter, innere Kolonisation, Neuschaffung eines Bauern- und besitzenden Landarbeiterstandes. England hat früher als andere Staaten die Geldwirtschaft, größere Pachtungen und größere ländliche Betriebe, früher Manufaktur, Fabrik- und Großindustrie ausgebildet. E s hat früher als andere Staaten dem Arbeiter Kate und ländliche Eigenwirtschaft genommen, ihn zum reinen Geldlohnarbeiter gemacht. Ein hartes Klassenregiment beginnt 1350 und vollendet sich bis ins 17. und 18. Jahrhundert. Die schützende Hand des Königtums im 16. und 17. Jahrhundert weiß das Armenwesen so wenig richtig zu entwickeln, als beizeiten die Gewerbe aus der Zunftverfassung in den staatlichen Arbeiterschutz überzuführen: die Regierung versteht nicht, die friedensrichterliche Lohnsetzung direkt in moderne Schiedsgerichte umzubilden. Dafür bringt das freie Verfassungsleben die Arbeiterschaft in eine gesunde moderne Organisation; aus den freien Lohn- und Jnterefsenkämpfen erwächst ein Gewerkschafts- und Genossenschaftswesen, ein billiges Lohnpaktieren und mit Hilfe der immer noch vorhandenen und zuletzt ausschlaggebenden wirtschaftlichen Blüte des Landes ein normales Lohnsteigen. b) Auch Frankreich hat brauchbare historische Lohnuntersuchungen hauptsächlich von Mantellier, D'Avenel und Levasseur. Wir teilen aus ihnen im folgenden das wichtigste mit. Die erste wirtschaftliche Blütezeit Frankreichs fällt mit der Herrschaft der kapetingischen Könige 996—1328 zusammen: eine einheitliche festbegründete Monarchie trotz der Selbständigkeit der großen Vasallen, erhebliche Städte und Märkte, ein Vordringen der Geldwirtschaft sind im 13. Jahrhundert vorhanden; die Bevölkerung ist von 9 Millionen im 10. Jahrhundert auf 22 gegen 1300—1350 (Levasseur) angewachsen. D'Avenel gibt bis 1350 die Tagelöhne in Liter Weizen wie folgt a n ; wir fügen die Umrechnung nach Wochenlohn und Kilogramm bei:
7. Geschichte des englischen und französischen Geldlohns. 1201-25 1226-50 1251—75 1276-1300 IZVl-25 1326-50
14,20 I pro Tag
12,10 I 8,60 I 9,20 I 7,72 I
255
63,90 KZ pro Woche 54,45 k? -
12,00 I
Der Hektoliter Weizen war von 1296—1325 von 3,80 Fr. auf 8,66 heutigen Geldes gestiegen. Die Zahl der von D'Avenel gesammelten Lohnnotizen ist eigentlich für sichere Schlüsse zu klein; er glaubt für einen Bauarbeiter im 13. Jahrhundert etwa 1 Fr., für einen ländlichen Arbeiter 0,67 Fr. heutiger Münze angeben zu können. Die Veränderungen in seiner Tabelle gehen auf sinkende Kaufkraft bei hohen Getreidepreisen 1251—1325 zurück. Ob und wieweit schon reine Geldlohnzahlung damals vorherrschte, darüber wird nichts gesagt; neben dem geldgelohnten männlichen Landarbeiter mit 0,67 Fr. erwähnt der Autor 0,30 für einen, der die Nahrung bekommt. Die Rückkehr zu besseren Löhnen 1326—1350 entspricht der allgemeinen guten wirtschaftlichen Lage der Zeit. D a s Jahrhundert 1351—1450 ist die Epoche des hundertjährigen Kampfes mit England um eine Reihe französischer Provinzen; es ist eine Epoche der Verwüstung, des wirtschaftlichen Stillstandes, der Abnahme der Bevölkerung und zwar um so mehr, je länger die Stockung, die innere Auflösung dauerte. D'Avenel rechnet, daß der Iahresgelöhnte 1301—1325 nur 19,1351—1375 42til Weizen kaufen konnte (wohl Folge steigenden Geldlohnes bei sinkendem Getreidepreis); von 1375—1450 sinkt die Iahreseinnahme in Getreide wieder auf 24 kl. Die Tageslöhne in Liter bis gibt D'Avenel so an: 1351—75 1376-1400 1401-25 1426-50 1451-75
10,00-Wochenlöhne in Kilogramm Weizen 16,80 . . 9,70 . . . . 9,60 18,40
45,00 75,60 43,65
43^0
82,80
Ob die Unterschiede in dieser Tabelle mehr Folge der verschiedenen Getreidepreise oder mehr Folge der wechselnden Geldlöhne sind, müssen wir dahingestellt sein lassen. Jedenfalls zeigen die Zahlen für 1450—1475 den Beginn einer besseren Zeit; die englischfranzösischen Kriege sind zu Ende; eine geordnete monarchische Verwaltung beginnt wieder. M i t den Regierungen von Karl VI. und Ludwig XI. folgt die Wiederherstellung der Monarchie, der Ordnung, der Wiederaufschwung des wirtschaftlichen Lebens; an die Versuche Frankreichs, auf Teile Italiens die Hand zu legen, schließt sich gegen 1500 die
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Heranziehung italienischer Künstler. Geschäftsleute, Handwerker, und damit eine erhebliche Blüte des wirtschaftlichen Lebens, die freilich wieder durch die Religionswirren und Kämpfe von 1562—1389 gestört wird, unter der segensreichen friedenbringenden Regierung Heinrichs IV. aber sich fortsetzt (1589—161V). I n diese Zeit greifen zugleich die Geldentwertung durch das Silber und mancherlei Münzverschlechterungen in die Preisbildung ein. Die Tageslöhne gestalten sich nach D'Avenel und Mantellier folgendermaßen; zuerst die Zahlen D'Avenels. 1451—7S 1476-1500 1501-25 1526-50 1551—75 1576—1600 1601-25
18,401 bis ^ Wochenlohn in Kiloqramm Weizen 14,501 . 14,601 . ^ 10,001 . 6,25 I d I 6 ^ . . . . 3,901 - ^ . 5^01 . ^ . -
82,80 65,25 65,70 45,00 28,12 17,55 2ZF5
D'Avenel fügt bei, daß er die Iahreskaufkraft des Lohnes setze: 1401—1450 auf 24, 1451—1500 auf 46, 1 5 0 0 - 1 5 2 5 auf 36, 1575 bis 1600 auf 9 ^ Kl. I n die Zeit der religiösen Kämpfe kamen zu der Kaufdem starken Steigen aller Preise, das den Lohn auf 30 kraft von Anfang des Jahrhunderts herabdrückte, die Folgen der kirchlichen Kämpfe, die Verödung der Dörfer, die Vernichtung des Viehstandes, der Rückgang der Gewerbe. Ich stelle daneben die Resultate von Mantellier aus Orleans:
in den Iahren
Tagelohn in heutigem Gelde
Preis einer Mine Getreide (d!6) in dems.
1400-75 1476-1500 1501-75 1576-1600 1600-76 1851-60
0.81 0,69 0,50 1,09 1,16 2,25
2,09 1,97 2,25 5,92 3,18 6,63
D a die M i n e - - 3 3 1 , so war ein Tagelohn: ein Wochenlohn: Liter --- Kilogramm 12,79 11,55 7,33 6,07 12,04 11,20
> ! ! i ! '
57,55 51,97 32.98 27,31 54,18 50,40
Nach Levasseur stieg der Getreidepreis in Frankreich im 16. Jahrhundert auf das Fünffache, der Lohn auf das Dreifache in damaliger M ü n z e : in heutiger stieg er nur 20 «/o. Die öffentliche Verwaltung suchte jedes Steigen zu hindern. Dazu die Wirkung der inneren Kämpfe. Erst die ausgezeichnete Verwaltung Heinrich IV. brachte wieder religiösen Frieden und wirtschaftliches Gedeihen. Aber es Hielt nicht an. Die Regierung Richelieus, Mazarins und die Zeit
7. Geschichte des englischen und französischen Geldlohns.
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Ludwig XIV. bis zum Eintritt Colberts war dem Arbeiterstand nicht günstig. Die Kaufkraft des gewöhnlichen Tagelohnes, die 1601 bis 1625 5,301 war. sank 1626—1650 wieder auf 3,80 (fast wie 1576 bis 1600). um dann 1651—1675 (Colberts Zeit) auf 5, 1676—1700 auf 5,901 zu steigen; in den ersten 25 Iahren des 18. Jahrhunderts sank sie auf 4,501. M a n hat bei den meisten dieser Änderungen den Eindruck, daß es mehr die politisch-kriegerischen Ereignisse als die wirtschaftlichen Ursachen sind, die dem Arbeiter schlechtere oder bessere Tage brachten. Die Orleanssche Statistik ergibt Getreidelöhne 1601-25 1626-50 1651—75 1676-1700 1701-25
Tagelöhne in Liter
5^0
3,80 5,00 5,90
4^0
Wochenlöhne in Kilogramm
23,85 17,10 22,50 26,55 20,25
Von den ländlichen Löhnen und der Lage der ländlichen Arbeiter erfährt man aus den vorhandenen Untersuchungen nicht viel; man wird annehmen können, daß das Vorherrschen kleiner und mittlerer bäuerlicher Pächter und Eigentümer, die allerlei schwere Fronen und Lasten trugen, einen breiteren reinen Geldlohnarbeiterstand noch kaum aufkommen ließ; diese ländliche Klasse war zugleich von schwerer staatlicher Fron und Steuern gedrückt. I m städtischen Zunftgewerbe wie in der neuen Manufaktur- und in der Hausindustrie bleibt der französische Arbeiter bis ins 18. Jahrhundert und zwar in steigendem Maße durch die Wucht der Ordnungen und Regelungen aller Art gehindert, seine Interessen geltend zu machen: Lohnsatzungen durch Zunft und Obrigkeit, hohe Strafen überhaupt und besonders für Kontraktbruch, Bindung an das Arbeitsbuch, immer neue Kämpfe gegen die Gesellenorganisation sind für das 16.—18. Jahrhundert charakteristisch. E s war ein liberaler Fortschritt, den 1762—1766 durchzusetzen viel Mühe kostete, daß man endlich die Weberei auf dem platten Lande zuließ. Große Geister wie Colbert klagen wohl über zu niedrige Löhne, ebenso nach 1700 Trudaine. Aber der alternde Merkantilismus sah in niedrigen Löhnen eine Vorbedingung wirtschaftlichen Fortschrittes. Vergeblich wollte Turgot dem Arbeiterstande etwas mehr Freiheit schaffen. S o ist es natürlich, daß von 1715—1789 wohl manche wirtschaftliche Fortschritte in Frankreich stattfanden, aber kaum ein Steigen des Lohnes. D'Avenel gibt die Löhne im heutigen Gelde so an: S c h m o l l e r , Klassenbildung. Arbeiterfrage, Klassenkampf
17
2 5 8 2. Buch. Der heutige Arbeiterstand. I.Kap. Seine rechtl. u. wirtschaft!. Lage.
1701-25 1725-50 1751—75 1776-90
Ländl. Tagelohn ohne Essen Fr. 0,70 - 0.68 - 0,75 - 0F2
Maurer ohne Essen Fr. 0.98 - 0.94 - 0,90 - 1.15
Zimmermann ohne Essen Fr. I M . 0.9« . 0,92 . IM
Moreau de Ionnss und Foville berechnen für ländliche Arbeiterfamilien : Die Iahreseinnahme zu Kosten der nötigen 15 KI Weizen Verhältnis des Lohnes zu den 15 KI . .
I70S Fr. 180 283 - 0.63
1789 Fr. 200 - 240 - 0^3
18IZ Fr. 400 - ZI5 - 1.27
Die Zahlen zeigen, wie schlecht im 18. Jahrhundert die Lage und die Ernährung der untersten ländlichen Bevölkerungsschichten sein mußte. Arthur Poung nimmt an, die Löhne seien 1750—1790 nur etwa 20 o/o im Geldbetrag gestiegen, während der Kornpreis um 37 «/» in die Höhe ging. Er setzt den Tagelohn für Männer auf dem Lande 1790 auf 19 Sous (--- 0,95 Fr.), in der Stadt auf 26 Sous, für die Frau auf 15 Sous. Ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung, 83 o/o aller Männer, 73 o/o aller Frauen (Levaffeur), konnte 1789 noch nicht lesen und schreiben. Armut und Elend war weit verbreitet und stieg mit der zunehmenden Teuerung: der Hektoliter Weizen kostete 1741/50 10,63 Fr. heutigen Geldes, 1781/90 15,92 Fr. Die Bevölkerung war 1715/89 von 18 auf 26 Millionen gestiegen (Levasseur). Manche Gewerbe waren vorangekommen und forderten etwas mehr Arbeit; aber das Angebot war wohl noch mehr gestiegen; die ganze Organisation der Volkswirtschaft war rückständig, die unteren Klassen in schlechtester Lage; Armut und Not, wo man hinblickte. Das war der Hintergrund, auf dem die Revolution, äußerlich durch die Unfähigkeit der Finanzleitung bedingt, sich erhob. — Die französische Revolution und die Epoche Napoleons I. haben durch die Befreiung der unteren Klassen, durch die Vollendung des geordneten modernen Verwaltungsstaates, durch den Aufschwung der stark geförderten Industrie trotz der großen Schwankungen und den» schweren Blut- und Geldsteuern die Löhne sehr gehoben. Die Angaben von Moreau de Ionnss darüber haben wir oben schon gesehen. Nach Sah stiegen die Löhne unter Napoleon: eines Maurers von 2,75 Fr. auf 3,50 Fr., eines Stellmachers von 0,60 Fr. auf 1,20 Fr. Die Löhne der Bergarbeiter in Aniche werden so angegeben fürs J a h r : 1780 230 Fr., 1789 260 Fr., 1812 346 Fr., 1827 346 Fr., 1835 487 F r . Trotz aller Kriege, aller finanziellen Belastung des Landes hatten
7. Geschichte des englischen und französischen Geldlohns.
die große Umwälzung und die Impulse des Kaisers den unteren Klassen bessere Tage gebracht. M a n wird zweifeln können, ob sich von der Verwaltung der Bourbonen bis 1830 und Louis Philipps bis 1848 Gleiches oder Besseres sagen lasse. Unter den Bourbonen stritt man über die Wiederherstellung der Zünfte, über die Traditionen der Revolution und des Kaiserreiches, für hohe Schutzzölle; man erörterte sozialistische Ideale und liberale Wirtschaftsideen. Große Fortschritte machte das wirtschaftliche Leben nicht. Die Löhne stiegen wohl in den großen I n dustrien, im Bergbau etwas, auch in den großen Städten, aber nicht sehr erheblich und nicht im übrigen Lande. Unter dem Iulikönigtum vollendet sich der einseitig überwiegende Einfluß der großen Fabrikanten und der großen Grundbesitzer; sozialistische und Arbeiteraufstände begleiten die Bourgoisherrschast. Die große Verbesserung des Volksschulwesens durch Guizot in den dreißiger Iahren konnte seine Folgen nicht sofort äußern. Die soziale Gesetzgebung bleibt im übrigen rückständig. Die Löhne steigen 1830/48 etwas mehr als 1813/30: aber die Not in den Fabrikdistrikten und großen Städten wächst. Der Brot- und Fleischkonsum nimmt in P a r i s und sonst ab; das Leben wird teuerer; das Lohnsteigen in bestimmten Gewerben und Orten um 10—30 o/o will nicht viel sagen. Vorsichtige Enqueten, wie die von Villerms, scheinen die Anklagen der Sozialisten zu bestätigen. Die Revolution bringt Napoleon III. ans Regiment (1848/70), der mit einem großen Programm volkswirtschaftlichen Fortschrittes und sozialer liberaler Fürsorge im Gegensatz zum Bourgeoisregiment beginnt. Die Wendung zu liberalen Handelsverträgen, zum Eisenbahnbau und den großen Stadtumbauten, die neuen Wege des Bankwesens fördern die große Industrie, heben die ganze Volkswirtschaft und die wirtschaftliche Aktivität; auch die Löhne steigen und zwar wesentlich mehr als 1814/48. Die große Preissteigerung, die sich an das kalifornisch-australische Gold anschließt, gibt den Anstoß zur Hebung der Preise und der Löhne. Ob die einen oder anderen mehr steigen, ist vielfach zweifelhaft. I m ganzen scheint doch die Lohnsteigerung zu überwiegen. Den Verdienst einer ländlichen Arbeiterfamilie schätzt Foville 1840 auf 500 Fr., 1852 auf 550 Fr., 1862 auf 720 Fr., 1870 auf 800 Fr. Die durchschnittlichen Iahresverdienste der Bergarbeiter in Aniche stiegen von 1835 487 F r . auf 1845 593 Fr., 1855 781 Fr., 1875 1231 F r . Eine offizielle Statistik faßt die Lohngeschichte Frank17 *
260 2. Buch. Der heutige Arbeiterstand, l. Kap. Seine rechtl. u. wirtschaft!. Lage,
reichs so zusammen: 1 8 0 6 1 0 0 , 1830-^107,5.1850^121,5, 1870 --163, 1900-^-215, 1906--220. Nach den Untersuchungen des Handelsministeriums von 1853/71 sind die Lohnerhöhungen in verschiedenen Zweigen und Orten 32, 41, 51, 105 Und doch waren die Zustände in Frankreich nach den deutschen Siegen und nach Begründung der dritten Republik auch sozial ungünstig. Die Löhne gingen eher zurück; erst 1880/82 und dann wieder 1887/92, sowie 1893—1900 stiegen sie wieder. Frankreich ist noch heute kein Land der großen Betriebe, der großen Industrie: Klein- und Mittelbauern, Handwerker, mittlere Geschäfte, die kleinen Rentiers überwiegen. Die Lohnfrage hat nicht die Bedeutung wie in England, Deutschland, Nordamerika. Die Bevölkerung ist seit langem fast stabil. E s hat eine sehr späte Entwicklung der Volksschule; erst seit Guizots Gesetz wird sie etwas weiter verbreitet. Sein Armenwesen ist zurückgeblieben wie sein Sparkassenwesen und seine soziale Gesetzgebung. E s hat den Vorteil, daß noch mehr Arbeiter als anderwärts ein Häuschen, einen kleinen Garten oder Ackerwirtschaft haben. Dafür auch den Nachteil, daß die Arbeiter zwar für Demokratie, Syndikalismus, Sozialismus schwärmen, aber wenig und schlecht gewerkschaftlich organisiert, nicht für den Lohnkampf geeignet sind. Die Demokratie hat gesiegt, aber weder besondere Jndustrieblüte gebracht noch viel anderen Reichtum, als der Boden und die Sonne geben; sie hat nicht gehindert, daß Frankreich mehr "und mehr ein Rentnerland wird, in dem die meisten mit der kleinsten Rente aufhören zu arbeiten und die ersparten Kapitalien mehr ins Ausland geschickt werden, als im Inland den wirtschaftlichen Fortschritt fördern und die Löhne heben. I n solchem Zusammenhang sagt ein neuerer Schriftsteller, D. Levin: „Frankreich ist das Beispiel eines Landes mit tiefem Stande der Geburtenziffer und zugleich nt niedrigem Niveau des Arbeitslohnes und bedeutender Sterbeziffer." 8. Die tatsächliche Lohnhöhe: Geschichte des deutschen Geldlohns und vergleichende Lehren. it) Die deutschen Untersuchungen über Lohngeschichte sind viel beschränkter als die englischen und französischen; immerhin haben wir einiges. S o die Untersuchungen von Wiebe und Kulischer über die Geldlohn- und Reallohnbewegung von 1450—1700; wir fügen sie bei unter Vergleichung mit englischen Löhnen :
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8. Geschichte des deutschen Geldlohns und vergleichende Lehren.
in den Iahren 1451—1500 1551-1570 1571-1602 1603-1652 1653-1702
Elsässer Löhne
Englische Löhne
Geldlohn ^ ReallohnGeldlohn Reallohn 100 88 103 121 108
! z > ^
100 55 53 40 45
100 98 120 146 206
100 60 51 40 54
in den Iahren 1447—1500 1501-1520 1521—1550 1551—1560
Münstersche Löhne Geldlohn Reallohn 100 89 91 96
100 80 87 78
Dann sei aus Beißels Untersuchung über die Baugeschichte der Xantener Kirche folgendes angeführt (die Xantener Denare sind ^ 2,7 heutige deutsche Pfennige):
1356 1450-1499 1550-15Y9 1600-1649 1650-1679 1882
^.agewyn sur Meister Säger ZZ cl 25 cl Ztt c! 25 6 72 cl 75 cl 166 cl 155 6 200 cl 189 cl 820 cl 600 6
in einer Woche konnten mit dem Lohn-Kilogramm Weizen, Roggen, Gerste gekauft werden vom Meister 150 IM 98 66 78 78
D a s Sinken des deutschen Reallohnes im 16. Jahrhundert hat ähnliche Ursachen wie in anderen Ländern: Änderung des Geldwertes und der Münzen, Nichterkennung dieser Ursache, Versuch der öffentlichen Gewalten und der Arbeitgeber, den alten Nominallohn zu erhalten. Aber daneben auch besondere Ursachen: die deutsche Volkswirtschaft, 1450—1560 im Aufstieg, kommt in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts in Stagnation, von 1600 an in Rückgang. Für Sachsen berechne ich für die Zeit gegen 1600 den Wochenverdienst ländlicher Tagelöhner auf 40—50kx. Der Ruin der Gewerbe, der Städte, auch des platten Landes von 1618—1648, mußte den Lohn eher noch Herabdrücken. Ob nach 1648 mit der Wiederherstellung des Friedens der Lohn wenigstens da und dort wieder etwas besser wurde, ist bei dem kümmerlichen Material für diese Zeit schwer zu sagen; das Steigen der Geld- und Reallöhne in Xanten für 1650/78 (gegen 1606—1649) scheint auf die lokale Möglichkeit der Besserung hinzuweisen. I . I . Becher (2. Hälfte des 17. Jahrhunderts) sagt wohl, der arme M a n n sei in Deutschland nicht so schlimm daran, wie in Italien, Polen, Schweden und Frankreich; aber fügt er doch bei: die Menge der Handwerker macht, daß sie fleißig und wohlfeil arbeiten, der Arbeit nachlaufen und doch kaum ein Stück Brot verdienen. I m 18. Jahrhundert und in großen Teilen Deutschlands (auch in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts) wird der land-
262 2. Buch. Der heutige Arbeiterstand, l. Kap. Seine rechtl. u. wirtschaft!. Lage.
liche Arbeiter a l s Inste, Heuerling (Gärtner) noch überwiegend in natura bezahlt und hat infolge hiervon ein einfaches, rohes, aber auskömmliches Leben, wenigstens da, wo es an Menschen eher fehlt, und die Hörigkeit nicht durch weitere Maßregeln und herrschaftliches I n teresse ungünstig gestaltet worden war. W o das der Fall war, oder wo schon mit übermäßiger Bodenparzellierung die Bevölkerung sich sehr vermehrt hatte und wo dürftig bezahlte hausindustrielle Lohnarbeit diese Tendenzen vermehrte, da treffen wir die kümmerlichsten und sehr schwankenden Löhne, wie sie zum Beispiel Troeltsch für die Wollspinner in der Umgegend Calws für das 18. Jahrhundert aufweist: 3, 3, 8 Kr. täglich, die nur in glänzendsten Geschäftsjahren auf 13—17 Kr. hinaufgehen. D a s sind Löhne für Hausindustrielle, die neben der Ackerarbeit für den Verleger tätig waren. Der städtische und gewerbliche Arbeiter hat schon überwiegend reinen Geldlohn und einen in den besser regierten Staaten, in wachsenden Städten steigenden. Gasser (1729) rechnet wohl für Berlin oder Halle a. S . den Maurertaglohn auf 7 Gr., also die Woche auf 42 Gr. ( ^ 70 k? Roggen bei einem P r e i s von 24 Gr. für den Scheffel, bei einem von 10—12 Gr. das Doppelte). Garve berechnet gegen 1790, der Wollspinner in Breslau verdiene wöchentlich 12—18 Gr.; das ist freilich nicht viel. Aber sonst war in Deutschland der gewöhnliche Tagelohn in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts doch gestiegen, in vielen besseren Gegenden auf 4, 5 und 5^/z Gr. Auch die Gesindelöhne stiegen. A u s dem Osten sind 13—18 Gr., im Westen 30 Gr. als ländliche Wochenlöhne überliefert; in den Städten mit aufblühender I n dustrie 30—48 Gr.; ja es kommen da schon Wochenlöhne von 3—5 Taler vor. Natürlich sind nun auch die Einkaufspreise höher. Immer geben 48 Gr. oder 2 Taler, auch bei einem Roggenpreis des Scheffels von 1 Taler, 80 kx; 4 Taler Wochenlohn sogar 100 Icx; freilich viel weniger, wenn der Preis iVs Taler pro Scheffel beträgt. Für das Stuttgarter Baugewerbe läßt Troeltsch die Löhne 1655—1795 um 100 0/0, die Getreidepreise aber allerdings um 300 °/o steigen. I n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich die Löhne nicht viel verändert; man wird sie im ganzen für den Osten auf 40—50, für den Westen auf 70 P f . täglich auf dem Lande annehmen können; in den notleidenden Gewerben der Spinnerei und Weberei sinken sie noch viel tiefer, in anderen aufblühenden steigen sie über dieses Maß. A u s der guten Untersuchung von vr. Anna Neumann über die preußischen Löhne ländlicher freier (nicht gebundener) geldbezahlter Arbeiter sei das Hauptresultat für die Männer (-») daneben
8. Geschichte des deutschen Geldlohns und vergleichende Lehren.
263
(b) einige von Prof. Neumann gegebene Zahlen über Forstarbeiterlöhne nach Regierungsbezirken mitgeteilt: s> P r e u ß i s c h e W o c h e n - M ä n n e r l ö h n e : in Geld in Kilogr. Roggen 1801-10 Mk, 4,28 ^ 100 2S,5 ^ 100 1811-20 - 4,65 ^ 109 34^ ^ 135,3 1821—30 - 3,98 93 45,1 ^ 174,8 1831-40 - 4,11 96 39,2 ^ 153^ 1841—50 - 4,25 100 33,9 ^ 136,4 d) T a g e l ö h n e in P f e n n i g e n , von F o r s t a r b e i t e r n nach R e g i e r u n g s bezirken: 1810/19 1820/29 1840-49 1850/53 Gumbinnen- . 5 1 55 57 89 Breslau . . . . 61 61 62 69 Merseburg . . . 61 62 74 80 Arnsberg. . . . 70 74 104 120 Köln 60 75 98 120
Bei ländlichen Löhnen von 3 Mk. (30 Pf. täglich) verdiente der Arbeiter noch 40 k? beim Scheffelpreis von 2,5 Mk., nur noch 201c? beim Preis von 4 Mk. Gewerbliche Löhne von 1,8 Mk. täglich, 10,8 Mk. wöchentlich gaben bei entsprechendem Preise 108 respektive 160 kK. Als 1840—1860 die Lebensmittel rasch teuerer wurden, die Löhne aber nicht entsprechend stiegen (zumal 1843—1855), wurde die Arbeiterlage in Stadt und Land, zumal in Gegenden der Zausindustrie, des proletarischen Kleinbauerntums vielfach recht schlecht. Ein Wochenlohn von 10,8 Mk. gab bei dem damaligen Preise 50—60 kx, ein solcher von 3 Mk. nur noch 8—10 k?. E s waren die Zeiten, da der Hungertyphus auf dem deutschen Mittelgebirge und in Oberschlesien so wütete, daß man bei längerer Dauer ein Aussterben ganzer Gegenden befürchten mußte. Immer traf dieses Schicksal nur bestimmte Gegenden und Gewerbe. Die Chemnitzer gewerblichen.Wochenlöhne gibt Dörstling für 1847 so an: Baumwollweber 7—10,5 Mk., Strumpfwirker 7,5 Mk., Maschinenbauarbeiter 21 Mk. Württembergische Löhne betrugen für 1830—1839 und 1850—1859 täglich: Wollspinner 42 und 55 Kr., Tuchfabrik 40 und 55 Kr., Zimmerleute 40 und 54 Kr., Schuster 30 und 47 Kr. Iacobi setzt das Steigen der niederschlesischen Löhne von 1848—1866 auf ein Drittel, bei Stabilität des Roggen- und Kartoffelpreises; die Löhne von 1840, fügt Iacobi bei, waren niedriger, aber das Leben sehr viel billiger. Straßburger berechnet die Berliner Zigarrenarbeiterlöhne für 1000 Zigarren 1836—1847 1 Taler 5 Gr., 1848 1 Taler 20 Gr., 1860 2 Taler. Ein recht erhebliches Steigen
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der Löhne trat um 1 8 6 0 - 1 8 7 5 ein. Und es hielt im ganzen vor, freilich stets wieder unterbrochen durch die Depressionsperioden 1874—1880. 1882—1887.1891—1893,1900-1902,1905—1908,1911 bis 1913, aber gehoben durch die 1875—1912 billigere Ernährung gegenüber der Zeit von 1850—1875. Suchen wir zunächst festzustellen, was die agrarischen Lohnuntersuchungen 1849, 1873 und 1892 uns sagen. Die Wochenlöhne der freien ländlichen Arbeiter in den sechs östlichen Provinzen lassen sich in Geld und Kilogramm Roggen so zusammenfassen: 1800 1841 1873 1892
Mk. -
2,4 3,0—4,2 ca. 30 kx Roggen 4,8-7,2 ca. 4S KZ 7,(1—9,0 ^ ca. 60 kA
Nach Goltz verdiente 1873 in Pommern. Mecklenburg. Oldenburg, Ober- und Niederbayern, auch in Württemberg, der Pfalz und Rheinpreußen der ländliche Tagelöhner in der Woche 54—69 Kx, in Schlesien aber nur 30 kx, in Posen, Unterfranken und der Oberpfalz 36—45 KZ Roggen; das heißt relativ besserer Reallohn einerseits da, wo noch vielfach althergebrachte gebundene Arbeitsverfassung ist, andererseits da, wo die Geldbezahlung vollständig gesiegt hat. Dagegen tiefer Lohn in Schlesien und Posen wegen der tiesstehenden halb polnischen Bevölkerung, und in Unterfranken und Oberpfalz wegen der überdichten Bevölkerung und der proletarischen Kleinwirtschaft. Für die Instenfamilie des Ostens wird man einen Iahresverdienst von 300 Mk. für 1849, von 660 Mk. für 1872—1875, von 700—1000 Mk. für 1892 annehmen können. Ihre Einnahmen sind im Nordosten höher als die der freien ländlichen Arbeiter; letztere stellen im Nordosten im ganzen einen niedrigen Arbeitertypus dar, während im Südwesten (Württemberg, Baden) die freien Lohnarbeiter ohne Grundbesitz doch denen mit kleinem eigenen Besitz (nach der Goltzschen Statistik) sehr nahestehen. Die Abwanderung ländlicher Arbeiter nach den Städten und dem Westen hat es im Osten neuerdings dahin gebracht, daß Vz—1 Million außerdeutscher ländlicher Arbeiter jährlich für den Sommer zuwandert. Eine an sich unerwünschte Erscheinung, aber ein Beweis, wie sehr jetzt der ländliche Arbeitsmarkt im Osten den Arbeitern günstig, den Arbeitgebern ungünstig steht. E s ist eine Ergänzung dieser Erscheinungen, daß die deutsche A u s wanderung von 1820 bis Mitte der fünfziger Jahre stark anwuchs, dann bis 1866 zurückging, noch ein paarmal 1862—1869 und 1880
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8. Geschichte des deutschen Geldlohns und vergleichende Lehren.
bis 1890 etwas stieg, um dann fast zu verschwinden; es werden 1826 bis 1906 etwa 5 Millionen Seelen Deutschland verlassen haben, weitaus die Mehrzahl vor 1870. Von da an wächst die innere Nachfrage nach Arbeit zu sehr, hauptsächlich im Gewerbe und in den großen Industrien, um noch eine Auswanderung zu gestatten. Entsprechend stiegen die Löhne. Darüber nur einige Beispiele. Der Schriftsetzer in Jena erhielt für eine Million n zu setzen: 1717 bis 1847 ziemlich gleichmäßigen Lohn, der lange beständig 24—26 Scheffeln Roggen entsprach; er verdiente aber mit derselben Leistung 1866 48,1871 schon 83 Scheffel, was einem Wochenlohn von 26,5 Mk. und 100 Kx Roggen entspricht. Der Wochenlohn eines Setzers ist nach Kuczynski 1909—11 auf 31,35 Mk. in Berlin, auf 30 Mk. in Leipzig, auf 31,25 in Hamburg gestiegen: der Stundenlohn war in Berlin 1870 34 Pf., 1874 76 Pf., 1903 56 P f . Die Berliner Maurer verdienten durchschnittlich wöchentlich 1871 18 Mk., 1886 30 Mk., 1906 40 Mk. I n Hamburg stieg der Maurerlohn 1871—1908 um fast 200 o/o. Der Iahresverdienst des Häuers im Dortmunder Oberbergamtsbezirk war 1886 886 Mk., 1893 1084 Mk., 1907 1871 Mk.. 1912 1586 Mk.: von 1886—1907 eine Verdoppelung, seither ein nicht unerheblicher Rückgang. Natürlich ist die Steigerung der Löhne 1870—1912 je nach den Gewerben sehr verschieden; aber vorhanden ist sie in der Großindustrie fast überall, vielfach aber auch im Kleingewerbe. Ich führe noch! einige Jahresdurchschnitte in Mark aus der Statistik der Berufsgenossenschaften an, die alle hoch und niedrig bezahlten Arbeiter der Industrie, die höher gelohnten mit gewissen Abzügen umfaßt: Rheinisch-westfälische Hüttenindustrie. Chemische Industrie Rheinische Textilindustrie Nahrungsmittelindustrie Brauerei Sächsisches Baugewerbe Straßenbahngewerbe
1886 . 952 . 765 . 618 . 687 . 860 . 383 . 399
1895 1079 843 688 702 909 620 956
1905 1413 1036 821 700 1169 760 1194
1911 1604 1218 927 833 1305 952 1375
Zur Ergänzung dieser Zahlen füge ich bei, daß die Münchener Maschinenfabrik im Durchschnitt aller ihrer Löhne jährlich zahlte: 1867 668 Mk., 1870 742 Mk., 1875 1024 Mk., dann Senkung; erst 1890 wieder 1051 Mk., 1900 1180 Mk., 1906 1252 Mk. (E. Günther). Nach den Untersuchungen von I o l l o s waren in der Berliner Metallindustrie 1907 Iahreslohneinnahme von 1600—2600 Mk. für die besseren Arbeiter vorherrschend.
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Diesen Durchschnittsangaben mögen noch einige über die prozentuale Abstufung von Lohnklassen folgen; so die Zahlen über M ü n chener Fabriklöhne 1890 und 1910: Es verdienten wöchentlich weniger als Mk. IS (hauptsächlich Frauen und Zugendliche) . Es verdienten wöchentlich IS—24 Mk über 24 - . . . .
1890
1910
Der Iahreslohn ist bei 50 Wochen
40 o/o 45 v/o 15o/o
28°/o 19/0 53o/o
750 756—1400 über 1400
I n folgenden Ortskrankenkassen mit Arbeitern der verschiedensten Lohnhöhen machten 1913 je die Klasse mit 4—5 Mk. Tageslohn a u s : in Düsseldorf 54,6 o/o, in Lübeck 34,5 o/o, in Karlsruhe 53,5 o/o, in Plauen 52,3 o/, in Straßburg 34,8 o/o. Und um noch eine Arbeiteraristokratie zu nennen: von den Handwerkern auf den Kaiserlichen Werften verdienten 1910 bis 5,60 Mk. 1882 Arbeiter, 5,60 Mk. bis 6 Mk. 3957, 6—6,40 Mk. 4093, über 6,40 Mk. 925 Arbeiter. Die größte Zahl, die von 6—6,40 Mk., hatte also Wochenlohn von 36—39,60 Mk., Iahreseinnahme von 1800—1980 Mk. (R.-A.-Blatt.) Sind so die deutschen Löhne von 1860—1912 unzweifelhaft sehr bedeutend gestiegen und ist von 1875—1890 das Leben in Deutschland unzweifelhaft im ganzen für die Arbeiterklasse eher billiger als teurer geworden, so ist das für die neuesten Aufschwungsperioden nicht ebenso unzweifelhaft. Nach Untersuchungen aus dem Ruhrgebiet allerdings stellt sich der Lebensaufwand (die Preise von 1886 —100 gesetzt): a) die Verteuerung des Lebens im ganzen und k) Steigerung der Bergarbeiterlöhne folgendermaßen: 1886 1890 189S
s 100,00 113,IS 104,9S
b 100,00 138,21 12S,39
^ i !
1900 190S 1909
s 1 09,00 114^2 122,76
d 172,54 ISZ,63 174,87
Hiernach übertrifft die Lohnsteigerung die Verteuerung um 52,11 oL. Vor allem aber ist seit 1909—1913 noch eine große Verteuerung eingetreten, und außerdem ist die Lohnsteigerung der Ruhrbergleute sehr viel größer a l s die der meisten übrigen Löhne, so daß ein allgemeiner Schluß aus diesen Zahlen nicht statthaft ist. Wenn ich nach den obigen Iahreslöhnen von 1000 Mk. und 1500 Mk. und den Berliner Roggenpreisen von 1892—1899 (100 13,3—14,6 Mk.) berechne, wie hoch der Wochenlohn in Kilogramm für diese zwei .Roggen war, so ergeben sich zirka 100 und 146 Lohnklassen; lege ich aber die Preise von 1903—1912 zugrunde (100^x^132,3—185,8 Mk.), so ergeben sich entsprechend geringere
8. Geschichte des deutschen Geldlohns und vergleichende Lehren.
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Beträge in Kilogramm für dieselben. Und die Löhne der neunziger Jahre waren doch schon nicht allzu hoch. M a g man sich also damit trösten, Löhne von 1000—1500 Mk. jährlich seien in Deutschland ein mittlerer Ausdruck unserer Verhältnisse, so ist die Sache doch zweifelhaft, wenn der wöchentliche Roggenlohn wesentlich unter 100 und 146 kg herabgeht. Daher auch seit der Verteuerung der letzten Jahre eine steigende Unzufriedenheit mit den Löhnen in Deutschland wie in anderen Staaten. Wollen wir die deutsche Entwicklung der Löhne zusammenfassen, so ist der Rückgang der Reallöhne seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und der Stillstand, ja Verfall der ganzen deutschen Volkswirtschaft bis 1700 respektive 1815 ein Hauptmoment ungünstiger Art. Dagegen stehen die Erhaltung eines breiten Bauern- und Handwerkerstandes, die gute monarchische und Beamtenverwaltung in den großen Territorien von 1650—1850, die frühe Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht und dann auch der Wehrpflicht als günstige Bedingungen für die Lebenshaltung der Arbeiter; dazu kommt die Bauernbefreiung, die frühe Einführung der Freizügigkeit (Preußen seit 1805). Die Erschöpfung durch die napoleonischen Kriege hemmte dann freilich die rasche wirtschaftliche Entwicklung bis 1840, aber erzeugt mancherlei Reformeifer, so die Ansätze zur Gewerbefreiheit, das gute preußische Zollgesetz von 1818, den Zollverein 1834, die Bildungsbestrebungen aller Art, die Polytechniken, die Vollendung des Volksschulwesens. Trotz der noch vorhandenen politischen Zerrissenheit beginnt 1840—1870 ein großer volkswirtschaftlicher Aufschwung, der 1870—1912 unter dem Einfluß der deutschen Reichsbildung und der liberalen Gesetzgebung von 1867 an zu dem raschesten und großartigsten in ganz Europa sich ausbildet. Daher die Möglichkeit der großen Lohnsteigerung. b) Wir schließen unsere Mitteilungen mit einer kurzen Übersicht über die tatsächlichen Lohnverschiedenheiten nach Ländern, Gewerben, Stellung der einzelnen im Betriebe. Zu allen Zeiten hat man jungen Leuten von 12—18 Iahren geringeren Lohn bezahlt als älteren, den Leuten in untergeordneter Stellung geringeren als denen in höheren. Die Unterschiede sind historisch gewachsen mit der wachsenden Differenzierung der Menschen und Klassen. Zu Polybius Zeiten erhielt der römische Hauptmann den Doppelsold des Soldaten; im 16. Jahrhundert erhielt der Landsknecht
2 6 8 2-Buch. Der heutige Arbeiterstand. I.Kap. Seinerechtl.u.wirtschaft!.Lage.
monatlich der Feldwebel 12, der Hauptmann W, der Obrist W0 Goldgulden; im 17. Jahrhundert waren diese Unterschiede geringer; heute werden sie wieder größer sein. Tocqueville erzählt, daß gegen 1833 im amerikanischen Schatzamt die Gehälter von 3700 F r . auf 32 000 F r . , im französischen Finanzministerium von 1500 bis 80 000 F r . gingen; die französische Republik hat die hohen Gehälter reduziert, die niedrigen erhöht. Aber selbst die Pariser Kommune blieb 1870 bei einer S p a n n u n g der Gehälter von 1:10. Die heutige Sozialdemokratie hat in ihrer großen M a j o r i t ä t auch geduldet, daß ihre Führer bis zu 8000—10 000 Mk. Einnahme erhielten, während die Arbeiter 1—2000 Mk. haben. D a s S t a t u t der Zeiß-Stistung in J e n a verfügt, daß der erste Direktor das Zehnfache des guten männlichen Arbeiters erhalten soll. I n einer Berliner Zeitungsdruckerei verdienten 1887 die Lehrlinge 1,10 Mk., gewöhnliche Arbeiter 2—3 Mk., die Setzer 3—7 Mk. und bis zu 12 Mk., der Maschinenmeister 11, 12 Mk. täglich. Levasseur erzählt von französischen Fabriken, in denen die Löhne von 0,50 F r . aus 15 F r . hinaufgehen. Die Frauenlöhne sind fast überall die Hälfte bis zwei Drittel von denen der M ä n n e r , wobei fraglich ist ob die geringere Leistung bei gleicher Art der Tätigkeit oder traditioneller Einfluß die Hauptsache ist; überwiegend ist doch wohl die Ursache, daß den F r a u e n eine leichtere Tätigkeit zugewiesen wird, sowie daß sie an vielen Stellen sich in größerer Zahl anbieten und außerdem sich dem Lohndrucke weniger widersetzen. Die Verschiedenheit der Sommer- und der Winterlöhne auf dem Lande liegt in dem natürlich verschiedenen Arbeitsbedarf, die Verschiedenheit der ländlichen und gewerblichen Löhne an dem billigen Leben und der einfacheren Arbeit auf dem Lande. Die wichtigsten Unterschiede liegen aber innerhalb der gewerblichen Berufe selbst, der verschiedenen Gegenden, der verschiedenen Länder. Über diese letzteren Verschiedenheiten haben wir dadurch heute ein sehr viel besseres M a t e r i a l a l s früher, daß von 1880 an, noch mehr von 1890 die Regierungen die Arbeitsämter und die arbeitsstatistischen Ämter schufen und diese mehr und mehr eine wissenschaftlich brauchbare Arbeitslohnstatistik lieferten. Auch die Arbeitervereine selbst haben mehr und mehr derartiges M a t e r i a l gesammelt und veröffentlicht. Victor Leo hat darüber im R.-Arbeitsblatt V, VII und X und in dem Artikel „Arbeitslohnstatistik" (H.-W.-Buch 3. Auflage) übersichtlich berichtet. Ich führe zuerst einige Beweise über die Löhne verschiedener Ge-
269
8. Geschichte des deutschen Geldlohns und vergleichende Lehren.
werbe an. Eine Erhebung der Berliner städtischen Gewerbedeputation für 1891 gibt folgende Wochenlöhne in M a r k : für Gesellen
Gewerbeklassen
für Arbeiter
Zeitlohn Stücklohn Zeitlohn Stücklohn 20,20 21,00 22,18 22,70 23,46 26,83 29,18 30,83
Chemische Industrie . Maschinen, Werkzeug Metalle Äolz- und Schnitzstoffe Papier und Leder. . Äeiz- und Leuchtstoffe Baugewerbe Druckereigewerbe. . .
28,61 26,32 23,56 27,13 28,35 34.40 34.41
15,76 17,44 17.98 18,72 17.99 17,78 18,68 18,43
22,76 20,33 21,00 22,42 24,10 20,20 14,00
Ich stelle daneben eine Erhebung von Iollos aus der Berliner Metallindustrie aus dem Jahre 1910—1911, Wochenlöhne a) für Zeit- und b) für Akkordlohn. k Meister und Vorarbeiter . Lagerarbeiter Galvaniseure Lehrlinge jugendliche A r b e i t e r . . . .
40,— 20,— 19,— 11,15 7,7V
Mk. -
Schlosser Gußputzer Schleifer Former
27,— 24,42 22,60 27,—
Mk. -
Die provinzielle und örtliche Lohnverschiedenheit mache ich anschaulich durch die erste Feststellung der ortsüblichen Tageslöhne für Männer, wie sie nach Erlaß des Krankengesetzes von den Ortsbehörden 188^ festgestellt wurden: Ostpreußen 1,17 Mk., Brandenburg 1,30 Mk., Rheinprovinz 1,77 Mk., Berlin 2,49 Mk., Bremen 2,70 Mk.; Städte mit über 100 000 Seelen 2.16 Mk., mit 5 0 - 1 0 0 0 0 0 2,06 Mk., mit 20—40 000 1,17 Mk., mit unter 20000 1,44 M k . ; die äußersten örtlichen Extreme von 0,75 Mk. und 3 Mk. Die ländlichen Tagelöhne hat Goltz für 1875 nach Geld und Kilogramm Roggen so berechnet: Schlesien 0,82 Mk. — 5,15 kK, Ostpreußen 1,07 Mk. 7,6 kx, Mittelfranken 1,13 Mk. ^ 7,7 ks, Brandenburg 1,31 Mk. ^ 8,35 kx, Rhein9,05 ks, Württemberg 1,62 Mk. ^ 10 kx, Oberpreußen 1,58 Mk. bayern 1,63 Mk. 11,15 ks. Bayrisch Schwaben 1,70 Mk. --- 11,5 Icx. Erhebliche Gegensätze der Rasse, der Lebenshaltung, der Arbeitsfähigkeit, der Elemente des Arbeitsmarktes sprechen sich in diesen Zahlengegensätzen aus. Wie sehr die Rasse mitspielt, sei noch durch die eine Tatsache belegt, daß 1892 auf demselben Gute in Posen und bei derselben Arbeit
2 7 g 2. Buch. Der heutige Arbeiterstand. I.Kap. Seine rechtl. u. wirtschaft!. Lage.
der deutsche Arbeiter täglich 6 - 8 Mk., der Pole 2,05-3,05 Mk., der Russe 1,05—2 Mk. verdiente. Sie werden noch viel größer, wenn wir ganze Lander vergleichen; und da einheitliche Durchschnitte ganzer Länder versagen, wählt man zur Veranschaulichung besser die Verschiedenheit der Länder in Kombination mit bestimmten Berufen. E. Engel glaubte schon 1879 die folgende Tabelle von Wochenlöhnen in deutschem Gelde aufstellen zu können: für
Maurer
Bäcker
Belgien. . Dänemark. Frankreich. Deutschland Italien . . Spanien. . England. . Schottland Neuyork . Chicago. .
3417,83
17,-
2 0 -
17,17 1 6 -
19,17 32.67 33.68 48,72 48,80
! schiede ! Schuster ^ Schmiede
27,17 14,— 15,58
17,58 15,58 21,83 14,17 15,82
2626,42 20,32 32,48
32,50 28,40,56 36,48
17,58
13,17 19,-
I2F0
17,53 14,58 29,42 29,42 4X,72 36,72
18,S8
21F8
1 Pfd.Brot kostete 0,19
16,42 20,42 14,17 17,17 14,58 29,17
0,12 0,21 0,25
0^9
0,17 0,17 0,19 0,19
28 —
40,72 24,72
Statistische Lohnangaben für ganze Länder sind naturlich stets etwas anfechtbar; manche dieser Zahlen wirken auch überraschend: so zum Beispiel die fast durchaus höheren italienischen Löhne gegenüber den deutschen. Aber im ganzen dürften doch die Unterschiede der Wirklichkeit entsprechen. Ich füge zum Vergleich einige Angaben aus der amerikanischen Statistik von 1903—1905 bei, die Heiß in deutschem Gelde macht; es sind Stundenlöhne in Mark und Pfennigen für: in
Schmiede Maurer >
den Ver. Staaten . . Großbritannien . . . Deutschland Frankreich
1,06 0,66 0,47 0,59
1,73 0,70 0,44 0,51
Setzer ! ^ !
1,09 0,68 0,41 0,62
! ! ! j
1,59 0,63 0,43 0,48
Normer Sewöhnl. Former ^ ^beiter l,02 0,67 0,40 0,41
! ^ ^
0,60 0,38 0,26 0,39
Die geographisch vergleichenden Stundenlöhne, die neuestens (1913) Kuczynski angibt, stimmen teilweise mit diesen überein oder stehen ihnen nahe. Immer ist die direkte Vergleichbarkeit der Löhne aus verschiedenen Ländern und Erdteilen manchen berechtigten Zweifeln unterworfen. Aber außerordentlich groß sind die Unterschiede. I n Ländern alter Kultur mit dichter Bevölkerung, einem seit länger mehr herabgekommenen als gestiegenen Arbeiterstand, vollends in warmem Klima
8. Geschichte des deutschen Geldlohns und vergleichende Lehren.
271
treffen wir sehr tiefe Löhne. S o in Indien, China, Japan. I n solchen Ländern verbindet sich aber oft große Bedürfnislosigkeit mit bedeutendem Fleiß; große Geschicklichkeit in einzelnen Berufen kommt dabei vor. Italienische, russische, teilweise auch österreichische Löhne waren lange sehr niedrig, sind jetzt aber auch gestiegen. Noch tiefer waren bisher die indischen, die japanischen Löhne; letztere sind aber neuerdings auch sehr gestiegen, im Zusammenhang mit dem Eindringen europäischer Technik und Geschäftsformen, mit dem großen volkswirtschaftlichen Aufschwung. Umgekehrt stehen die Löhne in den Vereinigten Staaten, in Australien, in Neuseeland viel höher, im ganzen doppelt so hoch a l s in Westeuropa. Wo reicher und überflüssiger Boden jedem kräftigen Arbeiter eine selbständige Existenz sichert, wo europäische Technik und Geschäftsformen, überwiegend auch europäische Rasseneigenschaften eine rasche Zunahme des Wohlstandes in allen Klassen ermöglichen, müssen die Löhne sehr hoch sein. Oft wird freilich der Unterschied zwischen den Löhnen der Vereinigten Staaten und Westeuropa überschätzt. Groß ist er. Schoenhoff hat schon 1884 den Unterschied der technischen Leistungsfähigkeit in der Baumwollindustrie so geschätzt: Vereinigte Staaten 100, Großbritannien 67, Deutschland 27,5. Den Wochenlohn setzt er in Massachusetts für Männer auf 34 Mk., in Großbritannien auf 29 Mk., in Deutschland auf 14 Mk. Gould fetzt für 1888 den Iahresverdienst eines Kohlenarbeiters in den Vereinigten Staaten auf 2 0 5 5 Mk., in Großbritannien auf 1 9 7 4 Mk., in Belgien auf 1337 Mk., in Deutschland auf 1154 Mk. Nach den amerikanischen .Erhebungen von 1 9 0 3 / 0 5 berechnet Heiß, daß von 24 402 Arbeiterfamilien 4,50 °/o unter 1200 Mk. verdienten, 8,37 »/o 1 2 0 0 - 1 6 0 0 Mk., 1 6 , 7 9 °/o 1 6 0 0 - 2 0 0 0 , also doch fast 3 0 «/° nicht mehr als 2 0 0 0 Mk.; je zirka 1 7 — 1 8 /o der Gesamtzahl (je 4 3 6 0 , 4 3 5 9 und 6 1 1 9 Familien) hatten Familienverdienste, welche von 2 0 0 0 — 2 4 0 0 , 2 4 0 0 — 2 8 0 0 und 2 8 0 0 — 3 2 0 0 betrugen; also 5 2 , 6 1 °/o der Familien bewegten sich in Einnahmen, die auch in Deutschland vorkommen; nur 17,83 o/o (je 1506, 1502, 1317 Familien) hatten Iahresverdienste von je 3 2 0 0 — 3 6 0 0 , 3 6 0 0 — 4 0 0 0 , über 4 0 0 0 . Hier erscheint der Unterschied der amerikanischen von der europäischen Lohnhöhe sehr viel gemäßigter als sonst. M a n darf außerdem nicht übersehen, um wieviel teuerer heute das Leben dort ist, wie viele große Pausen und Wechselfälle des Auf- und Abgehens der Lohnverdienst hat. Schäffle meinte vor 30 Iahren, der amerikanische Geldlohn sei dreimal, der
2 7 2 2. Buch. Der heutige Arbeiterstand. I.Kap. Seine rechtl-u. wirtschaft!. Lage.
Reallohn höchstens zweimal so hoch wie der deutsche. Böhmert fand dies noch zu hoch. Ich nahm 1906 an, der Geldlohn verhalte sich wie 1 zu 2, der Reallohn wie 1 zu 1,5. Eines darf bei mancher neueren vergleichenden Lohnuntersuchung Amerikas und Englands, so viel Gutes in ihnen steckt, nicht übersehen werden, daß sie häufig mit Rücksicht auf die Zölle der verschiedenen Länder gemacht und von einer vielleicht unbewußten Tendenz nicht ganz frei zu sprechen sind. Ich möchte zuletzt kurz einen Vorzug der amerikanischen Lohnstatistik noch erwähnen; sie hat in viel breiterer Weise, als die meisten deutschen Lohnuntersuchungen, das Arbeitseinkommen des Mannes, das der Frau und der Kinder und das übrige Einkommen der Familie aus Haus- und Vermögensbesitz, Zimmervermietung usw. zu fassen gesucht. Derartiges fehlt auch in Deutschland nicht, zum Beispiel in dem Buche von Wörishosfer über die soziale Lage der Fabrikarbeiter in Mannheim, ebenso in manchen Aufnahmen von Haushaltungsbudgets. Aber in Amerika ist es systematischer in Angriff genommen und die Resultate zeigen, wie lehrreich das ist. Schon die Arbeiten Goulds aus den 80 er Iahren enthalten solche Erhebungen: die Zuschüsse der übrigen Einnahmen außer dem Lohne des Mannes sind meist ein Drittel bis ein Viertel des ersteren; es verbinden sich damit wichtige Folgerungen; zum Beispiel Schlüsse über die Mitarbeit von Frauen und Kindern und deren ungünstige Folgen. Noch mehr gehen die amerikanischen Erhebungen von 1903/05 darauf ein (vgl. Heiß, in diesem Jahrbuch 1906, S . 770^772). S o wenig diese historischen, geographischen und beruflichen Lohnangaben ein volles Bild der Wirklichkeit geben, so sehr sind sie mit der Absicht gemacht, ihm nahe zu kommen und eine Grundlage zu bilden 1. für das Verständnis der älteren Lohntheorien, die ja alle mehr oder weniger auf Abstraktion aus gewissen begrenzten historischen und geographischen Lohntatsachen beruhen, 2. für eine vollkommenere Theorie, wie sie heute endlich auf einer viel breiteren Tatsachenkenntnis möglich erscheint. 9. Die älteren Lohntheorien. Sie haben sich teils schon früher, hauptsächlich aber von Ad. Smith an ausgebildet; häufig haben sie zu ihrem Hintergrunde gewisse geschichts-philosophische Vorstellungen über die Ursachen und den Gang der sozialen Klassengeschichte, dann gewisse Ideale, die den Verfassern für die Zukunft vorschweben; erst nach und nach trat die Volkswirt-
273
9. Die älteren Lohntheorien.
schaftliche Ursachenerklärung der Lohntatsachen in den Vordergrund. And sehr lange waren die zugrunde liegenden Tatsachen geographisch und geschichtlich so eng begrenzt, daß die Abstraktion aus ihnen nur unvollkommene Theorien ergeben konnte. a) Zuerst — vor 1750 — handelt es sich meist um mythologische oder religiöse Vorstellungen, die irgendwie die Tatsache einer handarbeitenden untersten Volksschicht erklärlich machen und rechtfertigen sollten. Wie die deutsche Heldensage die Klassen entstehen läßt durch Zeugung des Gottes Heimdal mit verschiedenen Weibern, so haben religiöse Vorstellungen in älterer Zeit überall das Urteil bestimmt. Bemerkt sei dabei, daß vom 14.—18. Jahrhundert im Volksbewußtsein noch gar kein gesonderter Lohnarbeiterstand existierte; die kleinen' Bauern, die Heimarbeiter, die Handwerker und die um Lohn Arbeitenden werden zusammen meist als „die armen Leute" bezeichnet. Noch Ad. Smith spricht so von den „tabouiinA poor". Ein eigentlicher Lohnarbeiterstand bildete sich ja auch erst nach und nach in Mittel- und Westeuropa vom 13.^19. Jahrhundert. Das öffentliche Bewußtsein und die Wissenschaft kümmerten sich bis ins 18. Jahrhundert wesentlich nur um die oberen Klassen; ihr Aufsteigen erschien als das gesellschaftlich Wichtige; die beginnende Bettlerplage führt zu den Armengesetzen, das Sinken der Lebenshaltung der unteren Klassen wird lange nicht bemerkt; soweit die Geldlöhne steigen, sieht man darin häufig nur eine Unbotmäßigkeit, die womöglich durch Lohntaxen zu bekämpfen sei. Die Armen, die Tagelöhner, die Bauern werden als „Pöbel" verachtet, in den rohen Äußerungen ihrer Leidenschaften gefürchtet. Die allerdings meist träge, unwissende und oftmals gewalttätige Masse im Zaum zu halten, erscheint als die Hauptaufgabe von Staat und Kirche. Immerhin gab es seit dem 13.—16. Jahrhundert in Mittel- und Westeuropa eine steigende Zahl von Lohnarbeitern. Die katholische Kirche und dann der Protestantismus lehrten, daß es so Gottes Gebot sei. Calvin hat den Ausspruch getan, daß nur, wenn das Volk arm sei, es Gott gehorsam bleibe. Die puritanisch-asketische Ethik, die mit dem volkswirtschaftlichen Aufschwung von Holland, England und Schottland im Zusammenhang steht, hat dann die oberen und mittleren Klassen auf angestrengte Erwerbsarbeit, aber auch auf die Verwendung des Reichtums zur Ehre Gottes hingewiesen. Sie haben — nach ihr — darin ihren Beruf, wie die Arbeiter in treuer Lohnarbeit bei niedrigen Löhnen den ihrigen ( M . Weber). Der aufgeklärte R a tionalismus des 18. Jahrhunderts brachte diese Gedanken dann in S c h m o l l er, Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf
18
274
2. Buch. Der heutige Arbeiterstand.
I.Kap. Seine rechtl. u. wirtschaft!. Lage.
eine Art philosophisch-wirtschaftliches System. Mandeville lehrt, es sei das Interesse aller reichen Nationen, daß die große Masse unwissend und arm bleibe; Kenntnisse machten unzufrieden, ein mäßiger Arbeitslohn hindere Verzweiflung und Kleinmütigkeit, ein zu hoher erzeugte Faulheit. „ I n einer freien Nation, wo Sklaverei nicht erlaubt ist, besteht der sicherste Reichtum aus einer Menge arbeitsamer Armer." Die bedeutendsten Schriftsteller der Zeit vor Ad. Smith stimmten mit solchen Ausführungen überein. Schon Petty hatte geklagt, billiges Getreide sei ein Unglück, weil dann der Arbeiter nicht bei der Arbeit bleibe. Locke, Cantillon, Ouesnay und Franklin dachten ähnlich. Temple, de Witt, A. Voung schlugen Lebensmittelsteuern vor, um Fleiß zu erzeugen. Eine tiefstehende Klasse von Arbeitern erschien als die selbstverständliche und unabänderliche Begleiterscheinung eines Kulturvolkes. Noch I . B . S a y fügt bei, die gedrückte Lage der arbeitenden Klasse sei für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes ein besonders günstiger, die Produktion verbilligender Umstand. — Diese Gedanken des 18. Jahrhunderts sind teils die Nachwirkung religiöser Lehren, teils die Folge realistischer Erkenntnis der Staatsmänner und Aufklärungsphilosophen, die einerseits noch im Bannkreis der Interessen der oberen Klassen stehen, andererseits die Erhebung der unteren fürchteten. D a s große Ideal, daß jeder einzelne Mensch, daß jedenfalls auch die unteren Klassen als Selbstzweck, nicht bloß als Mittel zum Zweck zu betrachten seien, hatte die öffentliche Meinung noch nicht für sich gewonnen. b) Bei den edleren Charakteren der philosophischen Aufklärung verbanden sich nun aber mit Vorstellungen, wie die eben geschilderten, doch die Empfindungen des Mitleides und die Zweifel, ob nicht ein Unrecht, die Möglichkeit einer Änderung vorliege, und eine andere Auffassung denkbar sei. Turgot hatte 1769 betont, daß der niedrige Lohn die Folge der Konkurrenz der Arbeiter sei, daß er deshalb mir die notwendigen Unterhaltungskosten decke. Necker schrieb 1775: das Leiden des armen Volkes ist der Reichen Werk; die kleine Zahl der Reichen hat die Macht, sie kann ihr Gesetz den zahlreichen unter sich konkurrierenden Arbeitern auferlegen; er spricht von der Härte und Grausamkeit dieses Zustandes. Auch Ad. Smith beginnt mit einem unklaren rechtsphilosophischen Stoßseufzer: wenn es nie ein Bodenund Kapitaleigentum gegeben, hätte der Lohn stets das ganze Produkt der Arbeit ohne Abzug umfaßt, wäre er stets den Fortschritten entsprechend der Produktivität gestiegen. S o aber habe die zahlreiche unter sich konkurrierende Lohnarbeiterschaft stets den Nachteil, einer
9. Die älteren Lohntheorien.
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kleinen Zahl von Meistern gegenüberzustehen, die sich leicht stillschweigend verständigten. Aber — und damit geht er von der Pessimistischen in die optimistische Stimmung über — in dem notwendigen Lebensunterhalt für die Arbeiterfamilie liege die Schranke für das mögliche Mindestmaß des Lohnes, und häufig stehe er höher, zumal in fortschreitenden Nationen, während bei stabilem Zustande der Volkswirtschaft die Lage eine kümmerliche, bei rückgehendem eine sehr traurige sei; da wachse die Bevölkerung, während die Arbeitsgelegenheit abnehme. M i t Hinweis auf das England seiner Tage betont er nun die Möglichkeit einer sich bessernden Lebensunterhaltung, die mit steigendem Lohn den Arbeiter zugleich besser genährt, fleißiger, energischer, brauchbarer mache; und im übrigen tröstet er sich mit dem mechanischen Spiel einer sich selbst regulierenden Menschenzahl. Die Nachfrage nach Menschen reguliere, wie jede andere, die Produktion von solchen; je nach dem größeren oder geringeren Bedarf an Arbeitern nehme die Bevölkerung zu oder ab. — Wir sehen, es handelt sich um die optimistische Vorstellung, das Uhrwerk der wirtschaftlichen Gesellschaft sei von einer gütigen Vorsehung so eingerichtet, daß es durch das Spiel der Marktvorgänge stets die rechte Zahl von Waren und Menschen liefere. Die in England 1630—1770 steigenden Löhne bilden den Hintergrund der Auffassung Ad. Smiths. Deren Druck von da bis 1850 beherrscht seine nächsten Nachfolger, die wie er an der ausschließlichen Erklärung der Löhne durch Marktquantitäten festhalten, jeden Eingriff in dieses freie Spiel der Kräfte verurteilen. Hatte Ad. Smith von einem freien Standpunkt aus versucht, eine naturrechtliche Lohnlehre zu -formulieren, so tut es Ricardo von engerem Gesichtskreis aus, aber mit dem ihm eigenen logischen Geschick präziser Zusammenfassung. Er steht unter dem Eindruck des damaligen Arbeiterelends, der Malthusschen Theorie und der Teuerung durch die agrarischen Schutzzölle. Die letzteren bekämpft er als falsche Grundrentensteigerung, die die Kapitalbildung, den Profit der Unternehmer und die Arbeiter schädige. Den Durchschnittslohn, der nichts für Steuern und Ersparnisse übrig lasse, bezeichnet er als den natürlichen; er schließt sich damit doch noch der älteren pessimistischen Beurteilung des Lohnes an. „Die Löhne der niedrigsten Art", sagt er» „bleiben niemals hoch über dem Satz, den Natur und Gewohnheit für den Unterhalt der Arbeiter fordern." I m ganzen bleibt er aber bei dem Gedanken einer einheitlichen Arbeiterklasse mit einheitlichen Löhnen stehen. Über den Einfluß der Getreidepreise hat er zwei Theorien: in der 18»
276
2. Buch. Der heutige Arbeiterstand,
l. Kap. Seine rechtl. u. Wirtschaftl. Lage.
Regel und in längeren Perioden paßt sich der Lohn den Preisen an (Paralleltheorie),- zeitweise aber, zum Beispiel nach Mißernten, geschieht das nicht, Preise und Löhne bewegen sich konträr (Konträrtheorie). Er hofft auf bessere Zeiten, da das Kapital wieder stärker wachse a l s die Bevölkerung. Er wünscht mit den Freunden der menschlichen Gesittung, daß die Arbeiter dann ihre Lebenshaltung erhöhen, Geschmack für Wohlbehagen und höhere Genüsse bei langsamer Vermehrung ihrer Zahl bekommen. Er hat lebendigen S i n n für die Förderung des Sparsinns, begründet selbst eine Sparkasse; auch Verständnis für die Berechtigung ihrer freieren Bewegung; er berät die Beantrager der Bill von 1824 für Aufhebung der Koalitionsverbote. Aber er kommt im Kerne seiner Gedanken nicht über den hergebrachten Pessimismus und sozialen Quietismus hinaus. Ersteres zeigt er in dem Satze: „in der n a t ü r l i c h e n Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hat der Arbeitslohn ein Streben zu sinken, soweit er von Angebot und Nachfrage bestimmt wird". Den letzteren zeigt er in dem Ausspruch: „gleich allen anderen Verträgen sollte der Arbeitslohn dem gerechten und freien Wettbewerb überlassen bleiben". Der freie Wettbewerb ist ihm schlechthin das Gerechte. Ricardo fehlt jede historische Bildung; er schematisiert, sucht einfache naturrechtliche Axiome, die er mechanisch anwendet; die Kapitalbildung ist ihm der Mittelpunkt alles Fortschrittes; Gewinn und Lohn bewegen sich nach ihm in entgegengesetzter Richtung; er steht im Bann der Zeitereignisse und des Dogmas von der freien Konkurrenz. Er übt auf die ganze folgende Generation, die bürgerlichen wie die sozialistischen Schriftsteller, eine unwiderstehliche Wirkung aus. Neben der glatten Darstellung und scheinbar sicheren Logik merkte man lange nicht, welche Widersprüche seine Lohnlehre verbarg, wie wenig sie einer breiteren historischen und geographischen Wirklichkeit gerecht wurde. Unter den im ganzen unbedeutenden direkten englischen Nachfolgern von Ad. Smith und Ricardo ragt John S t . M i l l hervor, der auch annimmt, daß die Bevölkerung rascher wachse als das Kapital, daß dies die Ursache der vorhandenen niedrigen Löhne sei; aber er macht doch für eine Gewöhnung an höhere Lebenshaltung und die Erreichung langsamer Bevölkerungszunahme bestimmte Vorschläge; er verlangt ein ganz anderes System der Erziehung und eine große staatliche Kolonisation; beides zusammen soll höherstehende Menschen schaffen, den Arbeitsmarkt entlasten, den Lohn heben. I m übrigen hängt er lange der Lohnfondstheorie an, die er dann aber unter Thorntons Einfluß Ende der sechziger Jahre widerruft.
9. Die älteren Lohntheorien.
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I n Deutschland sind Büsch, Rau, Röscher, Mangold. Schönberg und die meisten sonstigen bürgerlichen Schriftsteller mehr oder weniger den Spuren Smiths und Ricardos bis in die siebziger Jahre gefolgt. Eine Spielart der bürgerlich liberalen Nationalökonomie ist die Lohnfondstheorie, die in England an Ad. Smith und Ricardo sich anschließt, hauptsächlich von James Mill, Maculloch und Senior ausgebildet wurde. Letzterer gab ihr die beste Form. Diese Theorie geht von der Vorstellung aus, es gäbe für jedes Volk in bestimmter Zeit eine durch volkswirtschaftliche Ursachen, wie Gewinnsatz und -teilung der Gesamtproduktion zwischen Kapitalisten und Arbeitern fest bestimmte Kapitalsumme, die in Verbindung mit der Zahl der Arbeiter den Lohn bestimme. Diese Summe reguliere die Lohnhöhe unerbittlich, so daß die Organisation der Arbeiter und ihre Forderungen, zwecklos seien; höchstens könne ein Teil der Arbeiter auf Kosten anderer mehr erhalten. Diese Lehre suchte die Arbeiter zu überreden, daß hoher Gewinn und niedriger Lohn ihren Interessen entspreche, weil so der Lohnfonds wachse. Die Theoretiker, die annahmen, daß die Kapitalbildung rascher als die Bevölkerung zunehme, trösteten die Arbeiter damit. Einzelne behaupteten sogar, die Verzinsung vermehre das Kapital rascher, als die Geburten die Bevölkerung, also seien die Arbeiter die gewinnenden. Die Lohnfondstheorie ist in ihrem Kerne entstanden zu einer Zeit des Handwerks und der Hausindustrie; jede günstige Konjunktur forderte, wenn sie genutzt werden sollte, mehr Kapital zur Bezahlung! von Arbeitern (Bernstein). Ferner handelte es sich zur Zeit ihrer Ausbildung bis 1850 meist eher um Kapitalmangel als ^Überfluß; der wirtschaftliche Fortschritt erschien als durch ersteren gehemmt (Spiet-hoff). Beides änderte sich 1850—1880. Jetzt klagte man nicht mehr über Kapitalmangel, sondern darüber, daß die Maschine dem Arbeiter den Verdienst raube, was den einen Anstoß zur Marxschen Lohntheorie gab. Jetzt schien die Lohntheorie widerlegt, wenn man betonte, in letzter Instanz bezahle ja der Konsument den Lohn (Hermann. Thornton, Brentano), wenn man darauf hinwies, in vielen Ländern werde der Lohn noch in natui-a, und oft erst nach Verkauf des Produktes bezahlt (Walker). Auch der Hinweis auf die Möglichkeit für jeden tüchtigen Unternehmer, Kapital auf Kredit zur Lohnzahlung zu erhalten, erschien jetzt a l s Argument gegen die Theorie, wenn es auch wahr ist, daß jeder Kredit Kapital voraussetzt. Jedenfalls sind seit den letzten 50 Iahren im ganzen, abgesehen von den Krisen, in den fortschreitenden Ländern keine Schwierigkeiten der Kapitalbeschaffung für
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2. Buch. Der heutige Arbeiterstand,
l. Kap. Seine rechtl. u- wirtschaft!. Lage.
Lohnzahlung und Lohnsteigerung vorhanden gewesen. Und es ist eine schiefe Rettung der Lohnfondstheorie, wenn man sagt, eine extreme große Lohnerhöhung würde zuletzt doch Schwierigkeiten auf dem Kapitalmarkt begegnen. Um solche handelt es sich eben in der Regel nicht; jede Lohnsteigerung ist eine im ganzen langsam erfolgende. o) Die ältere bürgerliche Lohntheorie endete mit dem scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz: der Lohn sinkt im System der freien Konkurrenz; aber an dieser darf nicht gerüttelt werden. Die Weisheit, daß Angebot und Nachfrage den Lohn bestimme, war nicht falsch, aber ungenügend. Die dämmernde Einsicht, daß die Verbesserung der Lebenshaltung den Lohn heben könne, war ein Fortschritt. Aber es war ein pharisäischer Trost, wenn man dem Arbeiter sagte: die Hebung liegt also in deiner Hand. Von Ad. Smith zu Ricardo, von diesem bis zu seinen Nachfolgern war in der Lehre eher Rückschritt als Fortschritt zu verzeichnen. E s war natürlich, daß zuerst schüchterne Menschenfreunde und konservative Politiker sowie kirchliche Schriftsteller, dann mehr und mehr die Halb- und Ganzsozialisten andere Lohntheorien entwarfen. Wenn die freie Konkurrenz das Arbeiterelend bringt, hieß es, so schafft an ihrer Stelle ein anderes volkswirtschaftliches System. Wir können hier auf alle derartigen, zunächst nicht allzu erheblichen Anläufe nicht eingehen. Vielfach werden nur moralisch-kirchliche Forderungen erhoben oder Staatseingriffe verlangt, deren Durchführbarkeit zweifelhaft war. Von Bedeutung aber war es, daß die tzalbsozialisten, wie Sismondi, Droz, Villeneuve erschütternde Gemälde des Arbeiterelends entwarfen und mit Nachdruck auf den Einfluß der Machtfrage hinwiesen. D a s Wesentliche sei die Überlegenheit des Unternehmers auf dem Markte über die Arbeiter. Die Ganzsozialisten stellten teils mit, teils ohne praktische Lebenskenntnis Gesellschaftsideale auf oder entwarfen Bilder, wonach in kausaler Folge aus dem Elend von heute die vollendete Volkswirtschaft der Zukunft entstehen sollte. ä) Zwei halbsozialistische Schriftsteller, Thünen und Rodbertus, gehören schon in dieses Gebiet, entwarfen Pläne einer Lohnerhöhung, eines gerechten Lohnes. Thünen beklagt, daß der Arbeiter nicht an der steigenden Produktivität der Unternehmung teilnehme und will dem durch einen gerechteren Lohn abhelfen. Der Lohn soll die Quadratwurzel einer Summe darstellen, die sich aus der Multiplikation der Bedürfnisse (zum Beispiel 8l)v) und dem Wert des Arbeitsprodukts (zum Beispiel 1099) ergebemw ^ zirka 891. Ein
9. Die älteren Lohntheorien.
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ganz utopischer P l a n , schon weil der Anteil des Werts, der vom Arbeiter geschaffen wird, niemals klar zu fassen ist. — Rodbertus klagt ähnlich, daß der Lohn durch die übermäßige Konkurrenz der Arbeiter so leicht herabgedrückt werde und deshalb nicht entsprechend der zunehmenden Produktivität der Volkswirtschaft zunehme, einen immer kleineren Teil des Gesamtprodukts ausmache. Er ruft den Staat und staatliche Preisnormierung zu Hilfe. S o soll das Ziel erreicht werden, daß stets vom nationalen Gesamtprodukt dem Staate ein, dem Kapital, der Grundrente und den Arbeitern je drei Teile von zehn zukommen. S o hofft er dem Äbel abzuhelfen, daß der Arbeiter nicht den vollen Wert seiner Arbeit erhalte und doch zunächst Grundrente und KapitalGewinn noch bestehen bleibe; ihre Beseitigung könne erst in ferner Zukunft erfolgen. Zunächst soll der Staat ein Arbeitsgeld schaffen, in dem alle Löhne bezahlt, die Darlehen gegeben, die fertigen Waren vom Magazine bezahlt, gegen das diese weiter an die Konsumenten verkauft werden. Auf eine Kritik ist hier nicht einzugehen; nur das sei betont, daß die Verteilung des ganzen Nationaleinkommens in zehn Teile, wovon die Arbeiter drei erhalten, jeder festen Grundlage und jeder Ausführungsmöglichkeit entbehrt. Proudhon hat vieles mit Rodbertus gemein. Wir gehen nicht näher auf ihn ein. Rodbertus gehört zu den Theoretikern, die von dem Ideal ausgehen, den Arbeitern gehöre „der volle Arbeitsertrag". I n den ersten drei Vierteln des 19. Jahrhunderts werden die drei Rechtsideale, das Recht auf Existenz, das Recht auf Arbeit und das Recht auf den vollen Arbeitsertrag so vielfach erörtert und bilden so häufig die Grundlage auch für die Lohntheorien, daß wir hier ein paar Worte über sie sagen müssen. D a s Recht auf Existenz tritt gleichsam als Reserve für den nicht vorhandenen oder zu kümmerlichen Lohn auf. E s hat eine gewisse Anerkennung gefunden seit vom 16. Jahrhundert an die moderne Armengesetzgebung sich entwickelte. A l s aber der extreme Liberalismus alle Armenunterstützung für falsch erklärte, weil der Arme an seiner Armut selbst schuld sei, und die staatliche erzwungene Armenhilfe nur Indolenz und Trägheit fördere, mußte diese Abweisung a l s «ine brutal-egoistische Härte erscheinen. D a s neuere Arbeiterversicherungswesen, das zuerst in den Händen freier, dann in denen staatlicher Zwangsgenossenschaften entstand, war die Folge der UnVollkommenheit des ganzen älteren Armenwesens und der Niedrigkeit der Löhne: es stellt sich dar als ein verbesserter Versuch, den kranken, invaliden, alten oder arbeitslosen Arbeitern, die infolge von Anglück
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und natürlicher Behinderung keinen Lohn haben, ihn zu ersetzen. Auch die neueren Versuche, irgendwie auf ein Lohnminimum hinzuwirken, können unter das sogenannte Recht auf Existenz eingereiht werden. — D a s Wesentliche ist, daß dieses sogenannte Recht auf Existenz als ein allgemeines vages Ideal nur Sinn und Berechtigung gewinnt in den begrenzten Versuchen einer Ausbildung konkreter Hilfen für bestimmte Fälle, in denen das moderne Geldlohnsystem versagt. D a s Recht auf Arbeit ist ein engeres Ideal als das auf Existenz; es will besagen: der Staat oder die Gesellschaft ist verpflichtet, den Arbeitsfähigen und -willigen, die im Augenblick keine Stelle mit Lohn finden, eine solche zu schaffen. Der aufgeklärte Despotismus hat ein solches Recht, zum Beispiel im preußischen Allgemeinen Landrecht anerkannt. Und darauf hat sich noch Bismarck berufen. Der manchesterliche Liberalismus, der optimistisch auf das freie Spiel der Kräfte bedingungslos rechnet, hat es negiert. Die Armenpflege hat es sich, soweit sie existiert, zum Ziele gesetzt, den Arbeitsfähigen bezahlte Arbeit zu schaffen. Die neuere Entwicklung hat zu Notstandsarbeiten, welche Staat und Gemeinde organisieren sollten, gegriffen. Die Ausführung ist deshalb so schwierig, weil jeder Arbeiter zunächst Arbeit in seinem Berufe verlangt. Die ist unmöglich zu schaffen, wenn es sich um ein verschwindendes oder stark rückgängiges Gewerbe handelt, oder sie setzt Verpflanzung des Arbeiters an andere Orte voraus. I n England erstrebt man neuerdings gewerbliche Erziehung der ^Arbeitslosen für Berufe, die der Arbeiter bedürfen. I m ganzen handelt es sich hierbei um das große Problem des Arbeitsnachweises, der Arbeitslosenversicherung, der eventuellen Arbeiterauswanderung. Können wir von den zwei besprochenen Idealen sagen, sie hätten beide einen berechtigten Kern, es lasse sich aber aus ihnen und ihrer abstrakten Fassung gar nicht im einzelnen ableiten, was konkret da und dort möglich und durchführbar sei, und wie die so ins Leben gerufenen Hilfsaktionen nun das Lohnsystem ergänzen, seine Lücken ausfüllen können, so ist die dritte der erwähnten Jdealformeln viel abstrakter und nebelhafter. Sie ist in der Hauptsache unausführbar, wenn sie auch den berechtigten Kern enthält, daß das sittliche Rechtsgefühl dahin strebt, der gezahlte Lohn solle möglichst ein gerechter sein. W a s will das sogenannte Recht auf den vollen Arbeitsertrag? E s hat S i n n und Verstand für einen ganz individuellen Fall der Arbeit: wenn im Urwald ein auf dem Boden liegendes Stück Holz vom Wilden gefunden, ergriffen und in tagelanger Arbeit zu Werk»
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zeug oder Waffe umgeschaffen wird. Aber wie wäre es auszuführen in unserer alten Kulturwelt mit ihrem Eigentums- und Erbrecht, mit ihrer Arbeitsteilung, ihrer überwiegenden Arbeit an fremdem Stoff, auf fremdem Boden? Über all diese Schwierigkeiten aber sah der radikale Idealismus hinweg, erklärte Grundrente, Kapitalzins und Unternehmergewinn für ungerechte Abzüge von dem den Arbeitern gebührenden vollen Arbeitsertrag. Der Arme, sagte Charles Hall 1805, arbeitet von acht Stunden eine für sich, sieben für die höheren Klassen. William Thomson, der Freund Owens, bezeichnet dann 1825 das den Arbeitern entgehende, unrechtmäßiger Weise an die Grund-, und Kapitaleigentümer gelangende Ergebnis der Arbeit als surplug value, Mehrwert; er schuf damit die Gedanken und Worte, deren sich dann Rodbertus, Marx und seine Schüler bedienten. Ohne jede nähere Untersuchung über die Verursachung der Entstehung der realen Güter und ihrer Werte, ohne Erörterung, welch frühere Arbeit in Boden, in den Maschinen, in den Plänen und Vorarbeiten eines Geschäftsstecke,wird angenommen, die mechanische Arbeit von heute habe allein oder überwiegend die Güter und ihren Wert geschaffen. Viel mehr als ein Recht auf Arbeit haben Fichte, S t . Simon, Considerant, Fourier nicht gefordert; S t . Simon verlangte Bezahlung eines jeden nach seinen Werken; den sogenannten vollen A r beitsertrag fordert Godwin, Ensantin, Proudhon, Lassalle, Marx. Der Historiker des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag A. Menger wünscht (1887), daß wenigstens möglichst kein neues arbeitsloses Einkommen geschaffen werde, verwirft aber die gesetzliche Aberkennung des bestehenden. — Wir kommen zu Lassalle und Marx. e) Lassalles wissenschaftliche Bedeutung liegt darin, daß er den rechtshistorischen Nachweis zu führen suchte: ererbtes, arbeitsloses Einkommen dürfe der S t a a t jederzeit durch Gesetz beseitigen. Jnk übrigen hat er sich nur an den Ricardoschen Gedanken über die Lohnbewegung angeschlossen und durch eine oberflächliche Benutzung der preußischen Statistik Beweise für die Verelendung der Arbeitermassen zu liefern gesucht. Er ruft: „Die Beschränkung des durchschnittlichen Arbeitslohnes auf die in einem Volke zur Fristung der Existenz uni> zur Fortpflanzung erforderliche Lebensnotdurft, das ist das eherne und grausame Gesetz, welches den Arbeitslohn unter den heutigen Verhältnissen beherrscht." Den Beweis hierfür sah er in der Annahme einer Bevölkerungszunahme bei jedem Lohnsteigen, also in einem angeblich stets eintretenden Überangebot von Arbeitern als Folge steigender Löhne.
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Die Lehre Lassalles ist die schroffe Zuspitzung der Ricardoschen Lohnlehre im Sinne der Behauptung des wahrscheinlichen Zurücksinkens des Lohnes auf das Existenzminimum. I m ganzen haben auch Marx und Engels an diesen Gedanken festgehalten bis zur „großen wissenschaftlichen Entdeckung der Marxschen Mehrwertlehre". I m kommunistischen Manifest von 18^t7, das die beiden verfaßt, wird Aufhebung des Eigentums, der Lohnarbeit und der bürgerlichen Familie gefordert. I m sozialdemokratischen Programm von 1869 setzten die Lassalleaner durch: Abschaffung der jetzigen Produktionsweise (Lohnsystem) durch genossenschaftliche Arbeit, den vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter; im Programm von 1875 ähnlich: die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit. Über die Durchführung seiner Ideale machte sich Lassalle kein Kopfzerbrechen; daß seine Louis Blanc entlehnten Produktivgenossenschaften egoistische Körper würden, die untereinander um Gewinn und Lohn zu kämpfen hätten, überlegte er nicht. Die Revolution, die Demokratie, das allgemeine Stimmrecht, die Diktatur Lassalles, das schienen ihm genügende Rezepte. Er hatte keinen Sinn für die tieferen Probleme der psychologischen Umbildung und Erziehung der Arbeiter, wie sie doch die Voraussetzung jeder gelingenden sozialen Reform oder Revolution, wie schon jeder dauernden Lohnerhöhung sind. k) Marx knüpft seine Lohntheorie an seine Kapitallehre an. Das Kapital ist irgendwo und irgendwann durch historische Umstände entstanden. E s wird dann mit der kapitalistischen Produktion, mit der Warenerzeugung das Instrument des Mehrwertes für den Kapitalisten, das Ausbeutungsmittel, das dem Arbeiter einen Teil seiner Arbeit wegnimmt. Die Epoche der ursprünglichen Akkumulation und die der modernen kapitalistischen Ausbeutung haben in der Darstellung von Marx nichts miteinander zu tun. Jene wird im vorletzten Kapitel des ersten Bandes des „Kapitals" nachträglich eingeschaltet, nachdem der kapitalistische Prozeß vorher bereits dargestellt ist. Wir führen, der historischen Entwicklung entsprechend, die ursprüngliche Akkumulation hier zuerst vor. Der Ausgangspunkt der modernen Lohnarbeit, meint Marx, sei die Knechtschaft der Arbeiter. Er verweilt aber dabei nicht, sondern spricht gleich von der Zeit, da vom l^t.—18. Jahrhundert große Arbeitermassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen, als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert worden seien. Die Verwandlung der englischen Leibeigenen in freie
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Arbeiter, die Enteignung vieler Bauern durch die Einhegungen und die vordringende Vieh- und Wollwirtschaft, die Entstehung des englischen Landbauproletariats werden drastisch im Anklageton geschildert. Ähnlich die harte Blutgesetzgebung in bezug auf die freien Arbeiter, die die Arbeitslöhne herabdrückte, sowie die Genesis der kapitalistischen Pächter. S o war Platz und innerer Raum im Staate für die Industrie und ihre besitzlosen Arbeiter; „das durch Wucher und Handel gebildete Geldkapital, das bisher durch die Feudalverfassung auf dem Lande, die Zunftverfassung in den Städten an seiner Verwandlung in industrielles Kapital gehindert war", konnte nun im Seehandel, in den Gold- und Silberkolonien, in der Sklavenjagd und im Sklavenhandel, in den Handelskriegen Riesengewinne machen. Die wirtschaftliche Verfassung und Blüte Spaniens, Portugals, Hollands, Frankreichs und Englands beruhte so zum Teil auf brutaler Gewalt. „Die Gewalt ist die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht, sie selbst ist eine ökonomische Potenz." Die Mißhandlung der Kolonien, die Auspressung ihrer Bevölkerung, die Handelsmonopole, die Staatsschulden und das mit ihnen entstehende Kreditsystem, endlich das künstliche Protektionssystem schufen nun die Anfänge der kapitalistischen Ära; der Arbeiter ist jetzt besitzloser Proletarier; die Expropriation der unmittelbaren (kleinen) Produzenten wird mit schonungslosestem Vandalismus und unter dem Trieb der infamsten, schmutzigsten, kleinlichst gehässigen Geldgier vollbracht. „Das Privateigentum, das auf Arbeit beruhte, wird verdrängt durch das Privateigentum, welches auf Exploitation fremder, aber formell freier Arbeit beruht." I n diesem historischen Kapitel ist sehr viel Wahres; aber das meiste ist stark übertrieben vorgetragen. Die Erscheinungen werden nicht aus ihrer Zeit heraus, sondern pessimistisch vom Standpunkt eines späteren Zeitideals und einer idealistischen Ethik verurteilt. Der materialistische Gesichtspunkt tritt nicht ganz, aber doch vielfach zurück. Hauptsächlich das Unrecht der höheren Klassen gilt es, an den Pranger zu stellen. Im modernen kapitalistischen Arbeitsprozeß, den Marx im übrigen ersten Band des Kapitals an der Hand der Zahlen und Erfahrungen darlegt, die ihm sein Freund Engels aus den Baumwollfabrikdistrikten und aus der Zeit von 1850—67 mitgeteilt hat, folgt er zunächst R i cardo. „Der Wert der Arbeitskraft ist bestimmt durch den Wert der gewohnheitsmäßig notwendigen Lebensmittel des Durchschnittsarbeiters." Der Preis kann gelegentlich über diesen Wert steigen,
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aber nie unter ihn sinken. Dann geht er im Anschluß an Hall und Thomson über zu dem, was er die Mehrwertbildung nennt. Wie erwähnt, hatten die Sozialisten die Anklage erhoben, daß die Arbeiter mehr Stunden für den Unternehmer als für sich arbeiteten. M a r x erinnert sich, daß in früherer Zeit der hörige Arbeiter nur 3 bis 4 Tage für den Herrn, 2—3 Tage für sich gearbeitet; in der Gegenwart sei die Arbeitszeit in den Fabriken maßlos ausgedehnt worden. E s beherrscht ihn außerdem die technisch-physiologische Annahme, der Arbeiter allein schaffe in der Fabrik den ganzen Wert des Produktes. Und so kommt er zu der „Unterstellung", die alle seine weiteren Schlüsse beherrscht: der Baumwollarbeiter erhalte 3 sk Tagelohn; dies sei sein natürlicher Lohn, der seinen Lebensbedürfnissen entspreche. Er schaffe aber mit der durchschnittlichen Technik und der durchschnittlichen Geschicklichkeit der Zeit, mit der sogenannten gesellschaftlich notwendigen Leistung tatsächlich einen Wert von 6 sk; die zweiten 3 sk ziehe der Unteniehmer für sich ein. D a s sei der Mehrwert, der so durch die durchschnittliche, gesellschaftlich normale Arbeitstätigkeit entstehe: der Arbeiter schaffe also die halbe Zeit für sich, die andere halbe für den Unternehmer. W a n n und wodurch der Arbeiter dazu gekommen, statt 6 Stunden 12 zu arbeiten, das wird an dieser Stelle gar nicht erörtert, ja es wird hier nicht einmal als Unrecht hingestellt: „es ist ein besonderes Glück für den Käufer (den Unternehmer) aber durchaus kein Unrecht für den Verkäufer (den Arbeiter)". An anderer Stelle freilich wird nun auf Grund dieser Tatsachen der Unternehmer der „Exploiteur" genannt, der unbezahlte Arbeit aus den Arbeitern auspumpt. Durch die Verlängerung der Arbeitszeit, heißt es, „wird a u s dem Austausch von Äquivalenten die Aneignung von unbezahlter Arbeit". „Plusmacherei bleibt das Gesetz der kapitalistischen P r o duktionsweise". Zwei Seelen reden so stets in M a r x ; der Materialist, der jede Gewaltwirkung nur unter dem Kausalgesetz ansehen will, und der idealistische Ethiker, der voll Mitleid mit den Arbeitern nicht genug jede Gewalt als Unrecht brandmarken kann. I m Zusammenhang mit diesem Zahlenbeispiel steht es nun, daß M a r x das Kapital für Lohnzahlung als das allein wertschaffende ansieht. Die Arbeit der Menschen (und dabei wird fast nur an den Arbeiter gedacht, der Unternehmer fällt in der Regel unter den Tisch, nur ab und zu wird höhere Arbeit als mehrfache der gewöhnlichen zugegeben) ist von seinem realistischen Standpunkte aus das zwecksetzende alleintätige Element; sie schafft allein Werte. Daher wird
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das für Lohn ausgegebene Kapital als variables bezeichnet; es schafft ja den Mehrwert. D a s für Maschinen ausgegebene Kapital nutzt sich ab: die Abnutzungsrate geht in den Wert des Produktes über, sonst nichts: dieses Kapital ist also konstant, ist nicht wertschaffend. Bei dieser Betrachtung, die nun weiter eine große Rolle spielt, wird von dem realen Wertbildungsprozeß, der kein technisch-physiologischer, sondern ein psychologischer ist, mit der Ausgleichung der Bedürfnisse gegenüber der Menge nützlicher Arbeit und nützlicher Dinge sich vollzieht, natürlich ganz abgesehen. Die sittlich-historischen Ursachen, die in der Lehre von der ursprünglichen Akkumulation in den Vordergrund gerückt sind, und die auch jetzt überall durch die Zeilen hindurch mit Anklagen und Donnerwettern durchbrechen, werden bei der Mehrwertlehre im ganzen als nicht vorhanden angesehen; es wird nur gesagt, es muß einstens irgendwo und -wann durch Unrecht Kapital akkumuliert worden sein; in unserer Zeit entsteht aber das Kapital in der Hand der Unternehmer als Mehrwert. Und daran knüpfen sich nun die weiteren traurigen Folgen der kapitalistischen Epoche. Nicht bloß an sich der Reichtum der Wenigen und die Armut der Vielen. „ M i t der durch die Arbeiter selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eigenen relativen Überzähligmachung"; die industrielle Reservearmee entsteht. Daneben steigt der Kapitalgewinn durch größere extensive und intensive Exploitation der individuellen Arbeitskräfte (Verlängerung der Arbeitszeit, Frauen- und Kinder- statt Männerarbeit). Die Abnahme der Nachfrage überhaupt nach Arbeit versucht Marx aus den Zensuszahlen für 1851 und 1862 zu beweisen. Dazu kommen dann noch die schwankenden Konjunkturen. Große Menschenmassen werden plötzlich brotlos oder in andere wirtschaftliche Sphären geworfen. Der Kapitalist versucht ein bestimmtes Arbeitsquantum aus einer immer kleineren Arbeiterzahl herauszupressen. „Im großen und ganzen sind die allgemeinen Bewegungen des Arbeitslohnes ausschließlich reguliert durch die Expansion und Kontraktion der industriellen Reservearmee, welche dem Periodenwechsel des industriellen Zyklus entspricht. Sie sind also nicht bestimmt durch die Bewegunng der absoluten Zahl der Arbeiterbevölkerung, sondern durch das wechselnde Verhältnis, worin die Arbeiterklasse in aktive Armee und Reservearmee zerfällt". Ist diese Darstellung wesentlich der Leidensgeschichte der Arbeiterschaft in Lancafhire 1813—1866 entnommen und fügt Marx mit dem
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Wahrheitssinn, der ihn bei aller Leidenschaft und allem Haß nie ganz verläßt, immer auch einige Lichtpunkte hinzu, zum Beispiel die Wirkung der Fabrikgesetzgebung: im ganzen hat er doch den festen Glauben, hier nicht sowohl eine bestimmte, nämlich die englische Jndustriegeschichte, als vielmehr den naturgesetzlich feststehenden Werdegang aller kapitalistischen Entwicklung vorzutragen. Seine materialistische Weltanschauung nötigt ihn hierzu, wie der felsenfeste Glaube an seinen Seherblick, mit dem er die vollendete Erkenntnis und das vollendete Schauen in die Zukunft zu besitzen glaubt. Wir verfolgen nicht, wie Marx seine Lohntheorie, die auf dem sogenannten Mehrwert basiert, weiter benutzt, um die Zunahme und Verstärkung der Krisen, die steigende Verelendung der Volksmassen, die immer größere Anhäufung des Kapitals, den Untergang des Mittelstandes, zuletzt den Zusammenbruch der gegenwärtigen Volkswirtschaftsordnung und den Übergang zu einer sozialistischen Wirtschaftsverfassung daraus ableitet. E s ist hier nur auf diese Schlußakkorde seiner Lehre hinzuweisen, um zu zeigen, wie wenig die Lohnuntersuchung um ihrer selbst willen von Marx geführt ist. S i e bildet nur die Grundlage für eine visionäre Offenbarung der von ihm erwarteten besseren sozialen Zukunft. Trotz allen teleologisch-idealistischen Grundes seiner Lohnlehre, trotz aller materialistischen Illusionen, trotz aller Widersprüche, an denen seine Theorie so reich ist, bleibt diese Lohntheorie das Werk eines großen Beobachters, der neben seinen Idealen viel von der Wirklichkeit sah und sie glänzend darstellte; er hat freilich mehr mit Augen des fanatischen Hassers, als mit dem des Historikers oder Staatsmannes gesehen; er war immer ein falscher Prophet. Wir sehen jetzt aus seinem Briefwechsel mit Engels, wie er immer wieder bei jeder trüben Marktlage aus die Krise, ihre Steigerung zum allgemeinen Zusammenbruch mit fast kindlichem Optimismus jubelnd rechnet. Er hat den Wagen der sozialen Bewegung auf ein falsches, totes Geleise gefahren, auf das der Revolution, des Neides, der rohen Gewalt des Klassenkampfes statt auf das der vermittelnden Reformen. E s hat ihm aller realistische S i n n für die staatlichen Notwendigkeiten, Einrichtungen und Ordnungen der höheren Kultur gefehlt. Aber dabei ist sein Verdienst, daß er den Einfluß der Machtverhältnisse, der Gewalt, des Unrechts auf das Verteilungsproblem, daß er in der Unsicherheit des heutigen Lohnverhältnisses, in dem zeitweisen Anschwellen der Beschäftigungslosen die große, gefährliche Wunde unserer heutigen Sozialverfassung erkannt hat. E s war nicht falsch, daß
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er die Arbeiterschaft lehrte, für ihre Interessen sich zu organisieren und zu kämpfen. E s war nur falsch, daß er die Lohnarbeiter zu Gebietern der Gesellschaft und des ganzen Staates machen wollte. Ein großer Teil seines Pessimismus, seiner übertreibenden Anklagen ist auf fein Schicksal zurückzuführen. Er hat den ersten Band seines Kapitals unter den schrecklichsten Qualen schwerer Krankheit und dem herzzerreißendsten häuslichen Elende geschrieben, in einer Lage, in der sein ohnedies galliger, schwarzseherischer Sinn sich bis zum krankhaften Haß gegen die oberen Klassen steigerte, die ihn nach seiner Empfindung aus der Heimat ins Elend gejagt hatten. — Von seinem Tode an haben die begabtesten unter den gebildeten Sozialdemokraten eine seiner übertriebenen Lehren nach der anderen fallen lassen. Seine praktische Gesamtwirkung wurde dadurch aber nicht kleiner. Er war und wird bleiben einer der großen Propheten der modernen Arbeiterklasse. — ?) Der Liberalismus hatte in seiner Lohntheorie Bankerott gemacht, weil er über den Abgrund zwischen dem Arbeiterelend und dem Imssei-tÄiie keine Brücke fand. Der Sozialismus hatte in mystischen Visionen und revolutionären Idealen geendet, er entbehrte des gesunden Menschenverstandes und der empirischen, psychologischen und historischen Sachkenntnis. Von 1840 an hatten religiös und ästethisch gerichtete Geister, wie Earlyle und Ruskin, staatswissenschaftliche Gelehrte wie Lorenz Stein mit seiner Theorie des sozialen Königtums, katholische und protestantisch-kirchliche Sozialpolitiker neue Wege gesucht. Erst mit dem großen Aufschwung Preußens und Deutschlands entstand aber hier eine neue Schule der Volkswirtschaftslehre, die auf historisch-psychologischem Boden, mit gelehrter Forschung ebenso wie mit praktischem Sinne die rechte Brücke zwischen Sozialismus und Liberalismus auch in der Lohnfrage fand, in der Bildung des Vereins für Sozialpolitik sich eine Verfassung gab und durch ihre Schriftenpublikation langsam aber sicher das öffentliche Leben Deutschlands und bald auch der übrigen Länder beeinflußte, in den englichen Fabiern und der nordamerikanischen ok ?c>Iitical anä Soeial Seisnes ihre Nachfolger fand. Sie war durch die drei historisch gerichteten deutschen Nationalökonomen Röscher, Hildebrand und Knies vorbereitet worden und ebenso durch die historischsozialen Untersuchungen, die in England und Frankreich längst eingesetzt hatten, dort aber viel weniger auf die allgemeine Theorie zurückwirkten als dann in Deutschland die historischen Studien. Der Ausgangspunkt der neuen Lohnlehre war die Auseinander-
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setzung der bestehenden wissenschaftlichen Theorie mit dem Sozialismus, der mit Lassalle und Marx auf dem Kontinent doch viel wuchtiger als bisher aufgetreten war. Dann wirkte die Umwälzung der Industrie, welche die Arbeiter nun auch auf dem Kontinent, wie vorher in England, in ganz andere, zunächst vielfach in schlechtere Lage brachte. Die historischen Studien wiesen darauf hin, daß die Lohnfrage überall mit den letzten großen Fragen der staatlichen und wirtschaftlichen Verfassung zusammenhänge. E s genügte nicht mehr die Lohnfrage als eine Marktfrage, als eine Größenuntersuchung von Angebot und Nachfrage zu behandeln. M a n sah jetzt, daß in ihrem Hintergrund die ganze soziale Entwicklung mit ihren Kämpfen, mit den großen Institutionen des volkswirtschaftlichen Lebens stehe. M a n sah, worauf ja schon Ad. Smith hingewiesen, jetzt deutlicher, daß die volkswirtschaftliche Gesamtentwicklung jedes Staates, ja der ganzen Erde auf die Lohnbewegung und Arbeiterlage Einfluß habe. M a n begriff jetzt endlich den S i n n der sozialistischen Lehre, daß für die Lohn- und die ganze Arbeiterlage die politischen Macht- und die sozialen Organisationsfragen ausschlaggebend seien; man bemerkte, wie die Epochen großer, starker monarchischer Regierungen zugleich die der Hebung der unteren Klassen gewesen waren, während in Staaten mit schwachen Regierungen, mit einem Klassenregiment der besitzenden oberen Stände häufig die unteren Klassen herabgedrückt worden waren. Kurz, man behandelte jetzt die Lohnfrage auf einem größeren Hintergrund als früher. Und die Unabhängigkeit der Lehrer deutscher Hochschulen und die reichlichere Anstellung von Nationalökonomen an ihnen, a l s in anderen Ländern, schuf von 1860 bis heute gerade in Deutschland einen breiten Kreis sozialpolitisch angeregter und unabhängig forschender Männer, die bei aller Verschiedenheit im einzelnen doch so ziemlich alle nach einer höheren Synthese zwischen dem veralteten Dogmatismus der klassischen Nationalökonomen und dem Sozialismus strebten, die so ziemlich alle die sozialistischen Lohntheorien ablehnten, aber zugleich das Berechtigte in ihnen anzuerkennen suchten. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten über soziale Dinge haben nicht bloß eine große Wirkung auf das damals heranwachsende Geschlecht, sondern auch auf die deutsche Politik, speziell auf Bismarck ausgeübt; sie haben den deutschen Staatswissenschaften von 1860—1914 ihren Stempel in der Hauptsache aufgedrückt. Ich selbst habe in meinen drei Artikeln über die Arbeiterfrage (1864 Preuß. Jahrb.) versucht zu zeigen, wie die neueren sozialen
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Institutionen auf die Erhöhung der Lebenshaltung der Arbeiter hinwirken; ich stellte die moralische und wirtschaftliche, die allgemeine und gewerkschaftliche Erziehung des Arbeiterstandes in den Mittelpunkt und suchte in allen meinen späteren wissenschaftlichen Arbeiten zu zeigen, daß in unseren deutschen Beamtenstaaten der Monarchie und dem Beamtentum die führende Rolle in der Sozialpolitik zufalle. D a s praktische Leben ist dann diese Wege, vor allem durch Bismarcks Initiative, gegangen. Später habe ich versucht, diese Ideen durch eine allgemeine Theorie der sozialen Klassenbildung zu unterbauen. Lujo Brentano ging von der Arbeiterorganisation, von der Selbsthilfe der Arbeiter aus, die er in England kennen gelernt hatte. Sein Buch über die englischen Arbeitergilden wurde bis zu den Schriften der Webbs (1894) das Evangelium der durch die Gewerkvereine bewirkten sozialen Reform weit über Deutschland hinaus. Dem galligen Pessimismus von Marx und dem luftigen P l a n e von Louis Blanc und Lassalle, durch staatlich geförderte Produktivgenossenschaften zu helfen, trat er mit dem Siegesbewußtsein entgegen: die Gewerkvereine bringen den Lohn zum Stehen und zum Steigen, sie sind zugleich die Vollendung des großen Prinzips der wirtschaftlichen Freiheit. Und daß er damit die wichtigste praktische Maßregel für die damalige soziale Reform traf, zeigt der Beifall, den er bei den Gebildeten, der Haß und die Verdächtigung, die er bei einem großen Teil der Arbeitgeber und den Marxisten fand, denen damit die Zirkel gestört waren. I n den Büchern über das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Rechte (1877) und über die Arbeiterversicherung gemäß der heutigen Wirtschaftsordnung (1879) sowie in dem Abschnitt von Schönbergs Handbuch über „die gewerbliche Arbeiterfrage" (I, 1882), gab er zu seinen praktischen Vorschlägen ein in sich geschlossenes System der liberalen Wirtschaftsordnung und der Gewerkvereine, das er bis heute konsequent festgehalten hat. Und zugleich hat er in diesen Schriften und sonst die neuere Lohnbewegung unter dem Einfluß der Gewerkvereine und der Arbeitszeitverkürzung im einzelnen untersucht) zahlreiche seiner Schüler haben diese Arbeiten weiter fortgeführt. Sie stimmen meist in seinem Kulturideal der freien Wirtschaftsordnung, der demokratisierenden Gleichheit, aber unter strenger Aufrechterhaltung von Erbrecht und Eigentum überein. I n erster Linie sind hier Herkner und Schulze-Gävernitz zu nennen. Die übrigen neuen deutschen wissenschaftlichen Nationalökonomen Schäffle, Ad. Wagner und andere gingen ähnliche Wege. Viele haben S c h m o l l e r , Klassenbildung, Arbeiterfrage. Klassenkampf.
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durch Spezialarbeiten über Lohntheorien und Lohnbewegung die Frage gefördert, so zum Beispiel Fr. I . Neunrann (Lehre von den Lohngesetzen und zur Geschichte der Lehre von der Gravitation der Löhne nach gewissen Kostenbeträgen), Zwiedineck-Südenhorst durch sein Buch über Lohnpolitik und Lohntheorie, Diehl durch seine Arbeiten über Ricardo. Die Engländer und Franzosen haben 1860 bis heute kaum neue Wege in der Lohntheorie eingeschlagen. Ich fasse meinen Überblick über die Entwicklung der Lohntheorie dahin zusammen: Unvollkommene, im Dienst der Mittelklassen geschaffene, naturrechtliche Lohntheorien wurden mit Notwendigkeit abgelöst durch sozialistische, teilweise revolutionäre im Dienst der Arbeiterschaft stehende Ideale. Aus dem Kampf dieser zwei Richtungen entstanden historisch-psychologische Lohnuntersuchungen, deren Ausgestaltung im Abschluß zur wirklich wissenschaftlichen Lohntheorie, wie zu einer großen Reform des ganzen Arbeitsverhältnisses hinführen konnten. — 1V. Die heutige Lohntheorie: Die Lebenshaltung und die Wirkung von Angebot und Nachfrage. a) Auf Grund der vorstehenden Erörterungen können wir nun versuchen, unsere Kenntnisse über die neuere Lohnhöhe und Lohnbewegung in folgender Weise theoretisch zusammenzufassen. Wir gehen dabei von dem aus, was wir im 1. Abschnitte dieses Buches über die Entstehung des modernen Lohnverhältnisses gesagt haben. E s unterscheidet sich von den mehr vereinzelten Geld- und Naturallohnverhältnissen älterer Zeiten hauptsächlich dadurch, daß die Geldlöhnung mit dem Siege der Geldwirtschaft und der modernen Technik, im Zusammenhang mit der neueren Klassenbildung und der ganzen neueren Einkommens- und Vermögensverteilung die wirtschaftliche Lebensgrundlage eines immer größeren Teiles der modernen Völker geworden ist. Überwiegend von Gehalt und Lohn leben heute in Deutschland etwa 20 Millionen Menschen von 63. Die alte Gebundenheit der Sklaven und Leibeigenen ist ebenso abgestreift, wie die alte korporative und die obrigkeitliche Ordnung der Bergarbeiter, Zunftgesellen, Heimarbeiter vom 14.—18. Jahrhundert. Die neuere soziale Entwicklung vollzog sich unter der rechtlichen Ordnung freier individueller Verträge, aber zugleich unter der tatsächlichen Steigerung der Klassengegensätze zwischen Unternehmer und Arbeitern. Soviel aus
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den älteren Verhältnissen an Sitten, Lebenshaltung. Gewohnheitsrecht und Lohnhöhe nachwirkte, die Gestaltung der Dinge vollzog sich doch überwiegend auf dem Boden des Marktes und der Anschauung, daß freie Bewegung, freie Konkurrenz und freie Verträge das Richtige seien. Immer wieder betonte man von feiten der liberalen Doktrinäre und der Unternehmer, in das freie Spiel von Angebot und Nachfrage dürfe kein Gesetz, keine Organisation eingreifen. M a n übersah, daß man nicht bloß äußerlich Angebot und Nachfrage als Größenverhältnisse zählen und messen, sondern auch a l s soziale Menschengruppen nach ihren Gefühlen, Ansichten, Zusammenhängen untersuchen, ihre Machtverhältnisse studieren müsse, um ihre Wirkungen kennen zu lernen. M a n übersah, daß dort, wo harte Gewinnsucht die Unternehmer zu einseitig beherrscht und die Arbeiter zu wenig Einsicht, Kraft und Energie haben, ihre Interessen zu verteidigen, a u s dieser Freiheit Druck, Mißbrauch und Mißhandlung entstehen könne, ja müsse. Indem der Sozialismus aus die Machtverhältnisse, auf die Klassengegensätze, ihre notwendigen Reibungen und Kämpfe, auf die physische und geistige Entartung eines Teiles der Arbeiter hinwies, eröffnete er damit gewiß ein tieferes Verständnis als die haben konnten, die auf dem Lohnmarkt nur ein Feilschen gleicher Kräfte sahen. Aber der Sozialismus übertrieb seine Formulierungen, indem er nicht bloß die Machtgegensätze studierte, sondern sie zu erweitern, sie in brutale wirtschaftliche, ja in revolutionäre Kämpfe um die politische Gewalt zu verwandeln suchte. Die Lohnbewegung der letzten zwei Jahrhunderte bei den Kulturvölkern vollzog sich so unter doppelt ungünstiger Beeinflussung) man meinte zuerst, der Markt, seine Nachfrage und sein Angebot, seine Größenverhältnisse seien die einzig bedeutsame Ursachengruppe; und man hatte damals nicht einmal einen organisierten Markt, ebensowenig die Mittel, auch nur die Größenverhältnisse jederzeit klar zu übersehen. Und der Sozialismus lehrte, alle Lohnverhältnisse beruhten auf ungerechter Klassenbildung, auf Klassenherrschaft; diese müsse beseitigt werden. Und man hatte noch keine Wissenschaft, die lehrte, w a s wirtschaftliche, was politische Klassenherrschaft sei, wie sie sich zueinander Verhalten; statt dessen erhielten törichte utopische Theorien verhängnisvollen Einfluß. Die Macht der Tatsachen, die Logik des praktischen Lebens aber rang sich zwischen den beiden einseitigen, unvollkommenen Auffassungen doch nach und nach durch. Eine wirkliche Erkenntnis der Lohnhöhe und der Lohnbewegung entstand nach und nach durch die empirische, historisch-statistische 19»
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Forschung. Und man begann begrifflich die Lohnhöhe, die Leistungsfähigkeit der Arbeiter und die Lebenshaltung zu unterscheiden, die letztere als die wichtigste Ursache der beiden ersteren Begriffe. Wir kommen einleitend zu der wichtigen Frage, wie verhalten sich Lohnhöhe, Leistungsfähigkeit und Lebenshaltung zueinander, wie wirken sie aufeinander? Die drei genannten Begriffe wollen getrennte Seiten eines einheitlichen sozialen Lebensprozesses bezeichnen, die in intimster Wechselwirkung stehen, aber doch wieder a l s selbständige Erscheinungen der sozialen Gruppen sich zeigen. Dauerndes Steigen der Löhne bestimmter Schichten von Arbeitern ist heute in der Regel mit größerer Leistungsfähigkeit verbunden; und sie erhalten sich da, wo sie zugleich durch höhere Lebenshaltung befestigt sind. Schon die Theorien seit Ricardo wiesen auf die Lebenshaltung a l s den eigentlich maßgebenden inneren Regulator der Löhne hin, gaben damit den Einfluß der moralischen und institutionellen Ursachen auf die Lohnbewegung zu. Nur fehlte lange die volle Erkenntnis der Bedeutung dieses Zusammenhanges. Machen wir uns klar, was wir unter Lebenshaltung verstehen, und wie sie wirkt. Unter der Lebenshaltung einer Arbeitergruppe verstehen wir den herkömmlichen, durch Überlieferung und Gewohnheit befestigten I n begriff der körperlichen und geistigen Lebensansprüche derselben; zunächst in Nahrung, Wohnung und Kleidung; dann kommen die kirchlichen Erziehungs-, geistigen, Unterhaltungsbedürfnisse in Betracht, mit denen zugleich der ganze geistig-moralische Horizont der Gruppe gegeben ist. Die Lebenshaltung ist stets etwas Historisches, durch Generationen hindurch Entstandenes. S i e hat eine konservative Tendenz, widerstrebt mehr oder weniger der Herabsetzung; sie verbessert sich unter der Einwirkung besserer Lebenslagen, wenn das Vorbild höherer Klassen erziehend wirkt, wenn die Klasse ein gewisses M a ß intellektueller und moralischer Kraft erreicht hat. Die Lebenshaltung ist vom Klima, der Art des Familienlebens, der Wohnungsverhältnisse bedingt; sie steht unter dem Einfluß der Klassenbildung, der sozialen Institutionen, der staatlichen und kirchlichen, der Schul- und geselligen Einwirkungen. Jede Stufe der Lebenshaltung entspricht einer gewissen Höhe der Intelligenz, der Rührigkeit, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. D a s M a ß der wirtschaftlichen Tugenden (Fleiß, Sparsamkeit, Reinlichkeit), wie das M a ß der wirtschaftlichen Laster (Trägheit, Trunksucht, Verschwendung) steht in nahem Zusammenhang mit der Lebenshaltung. Sind die Individuen einer
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Gruppe natürlich auch individuell verschieden, so haben sie doch in der Regel durch Vererbung, Erziehung, Nachahmung im ganzen einen einheitlichen T y p u s der Lebenshaltung. Die wirtschaftliche Lage der Gruppe — in unserem F a l l der Lohnhöhe muß natürlich die Hauptursache der Lebenshaltung sein. Dauernd erhöhter Lohn oder dauernd verminderter Lohn muß mehr oder weniger einwirken. Aber wie das geschieht, wie andere Ursachen daneben wirken, d a s ist d a s wichtige.Problem. Richten wir unseren Blick zunächst aus die Folgen der Lohnsteigerung, zumal einer solchen von gewissem Umfang und gewisser Dauer. Der Unbefangene wird sagen müssen, sie kann die vernünftigen, aber auch die unvernünftigen Bedürfnisse steigern. S i e kann die Geburtenzahl rasch vermehren oder nicht, den Zuzug rasch steigern oder nicht. Eine große Zahl verschiedener Umstände wirkt ein, vor allem aber entscheidet die Kulturhöhe der betreffenden Klasse, die Rasse, die E r ziehung, die Intelligenz der Betreffenden. E s ist für rohe, faule M e n schen niedriger Kultur das Gewöhnliche, daß sie mit größerer E i n nahme die Arbeitstage oder Arbeitsstunden einschränken. Noch heute trifft das bei den niedrigen Rassen in den Tropen in der Regel zu. Noch heute legt man dem Neger Steuern auf, damit er regelmäßig zur Arbeit komme. Daher im 18. Jahrhundert noch die weitverbreitete A n nahme, hoher Lohn und billige Lebensmittelpreise wirkten ungünstig, das heißt steigerten die Faulheit. Und noch heute kann dies da und dort zutreffen. I n Australien will man konstatieren, daß die enormen Löhne und die kurze Arbeitszeit der Bergarbeiter bei diesen Trunk und Spiel übermäßig befördert haben. D a s ein Lohnsteigen stets die Ehefrequenz, die Kinderzahl vermehre, oder Verschwendung, ein Leben in den Tag hinein erzeuge, nahm die Wissenschaft vielfach noch 18W—70 an. Heute wird man für die obere Hälfte der westeuropäischen und nordamerikanischen Arbeiterfamilien behaupten können, daß die Epochen der Lohnsteigerung für sie stets Anläufe bedeuteten, besser zu essen, besser zu wohnen, ihre Kinder besser zu erziehen, mehr für Hygiene und Bildung zu tun. S i e heiraten trotz höheren Lohnes eher später und vorsichtiger, ihre Kinderzahl wächst etwas langsamer, sie kämpfen gegen proletarischen Zuzug. Diese gegen früher veränderte Wertung der Lohnerhöhung hängt davon ab, daß die Vorstellungswelt der Betreffenden nun eine höhere, daß ihre Willensimpulse geordneter, weitsichtiger geworden, daß sie heute unter der Herrschaft etwas höherer Gedanken stehen. Alle I n stitutionen, alle sittlich-geistigen Beeinflussungen durch S t a a t , Kirche,
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Schule, Presse, Vereinsorganisation erscheinen so beteiligt an dem so wünschenswerten Hebungsprozeß der Lebenshaltung. Gewiß ist in Westeuropa und Nordamerika, weniger in Süd- und Osteuropa, großen Arbeitergruppen derartiges gelungen. Aber es ist hier, wie in Westeuropa, doch auch heute noch oft eine starke Einwanderung tieferstehender Arbeiter hinderlich für die Erhöhung der' Lebenshaltung gewesen. Und oft haben Epochen starker Lohnsenkungen ungünstig eingegriffen. Wir haben allgemein zu untersuchen, wie diese überhaupt wirken. E s ist bekannt, daß fast alle etwas höherstehenden Gesellschaftsgruppen der Herabsetzung der Lebenshaltung einen erheblichen Widerstand entgegensetzen. D a s gesellschaftliche Ehrgefühl wirkt daraufhin: e s gibt aristokratische Kreise, die eher sterben, a l s auf niedrige Gesellschaftsstufen herabsteigen. Aber auch der Bauer alten Schlages, der Zunftmeister, der frühere Bergmann hat gegen jede Verschlechterung der Lage energisch gekämpft. S e i es durch wirtschaftspolitische Maßregeln, sei es durch Abwanderung, Übergang zu anderen Berufen, fei es durch spätere Heirat, geringere Kinderzahl, Ehelosigkeit. E s sind die stärksten Motive der etwas höherstehenden Menschen, die diesen Kampf hervorrufen. Schon die Rücksicht auf Nachbarn und Standesgenossen drängt die Menschen dazu. Auch der heutige Arbeiter, besonders der organisierte, hat begonnen, seine Lebenshaltung zu verteidigen. J e höher der heutige Arbeiter technisch und wirtschaftlich, moralisch nnd geistig steht, destomehr wird er es tun. Aber sinkende proletarisierende Arbeiterschichten versagen da auch heute koch. Der Heimarbeiter, der in die Stadt gezogene Tagelöhner, die niedrigen Schichten der Fabrikarbeiter lassen sich bei schlechter Konjunktur die Lohnherabsetzung noch oft gefallen. Bei der ganzen Umbildung der heutigen Volkswirtschaft von 1750—1850 fehlte dem aus der ländlichen Naturalwirtschaft in die städtische Geldwirtschaft versetzten Arbeiter oft schon der Maßstab. Er lebte in neuen Verhältnissen, in neuer U m g e b u n g e s fehlte ihm der Rückhalt, den er früher am Geistlichen, an Verwandten, an Nachbarn harte. Diese sehen es ja nicht, wie schlecht er jetzt wohnt, sich kleidet. Er braucht sich in seiner Einsamkeit nicht seiner kümmerlichen Lage zu schämen. Solche. Ursachen haben zumal in den Übergangs- und Krisenjahren, als selbst der M u t nnd das Geld zur Auswanderung nach Amerika fehlte, viel mitgewirkt, die Lebenshaltung da und dort sinken zu lassen. D a s Wichtigste ist gewonnen, wenn und wo die Unternehmer endlich so weitsichtig werden, daß sie die Gefahr und den Schaden sinkender Lebens-
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Haltung einsehen, wenn und wo das soziale Ehrgefühl der Arbeiter durch Organisation, durch wachsendes Selbstbewußtsein, steigende Bildung so geweckt ist, daß sie mit Bewußtsein und Energie gegen die Verschlechterung der Lebenshaltung kämpfen. Wir sehen so, daß die Lebenshaltung an sich, der Kampf für ihre Hebung und gegen ihre Senkung eigentlich der letzte Regulator der Löhne ist. Aber es ist kein mechanischer Regulator, sondern ein solcher, der im Geschlechts- und Ehe-, im Familien- und Vereinsleben der Arbeiter, in allen Imponderabilien des moralischen und geistigen Lebens seine Wurzeln hat. Diese Imponderabilien zu schaffen, beziehungsweise günstig zu beeinflussen, ist neben der Größengestaltung von Angebot und Nachfrage der eigentliche Kernpunkt für die Lohnentwicklung. Nach diesen einleitenden Bemerkungen fassen wir die Wirkung des Arbeitsangebots und der Arbeitsnachfrage je gesondert ins Auge. d) D a s Arbeitsangebot besteht aus den Personen, die eine lohnbringende Arbeitsstelle in Familie, Staat, Gemeinde, Korporation, in aller Art von Unternehmungen suchen. Die historisch jeweilige Größe dieses Angebots bestimmt sich durch das Verhältnis der Bevölkerungsbewegung einschließlich der Wanderungen zu den Fortschritten in der Arbeitsteilung und sozialen Organbildung, die zu einem steigenden Bedarf ausführender Lohnkräfte führen. Hauptsächlich also die Bevölkerungsbewegung beherrscht das Angebot; der volkswirtschaftliche Fortschritt die Nachfrage; dessen Größe läßt dasselbe Angebot bald a l s reichlich, bald als zu gering erscheinen. Machen wir uns zunächst eine Vorstellung, wie das gesamte Arbeitsangebot in den europäischen Hauptkulturstaaten von 1500 bis heute sich entwickelt hat. Wir haben uns zunächst zu erinnern, daß diese Staaten in der genannten Zeit ihre innere friedliche Konsolidation erreicht haben, daß im Zusammenhang damit ihre Bevölkerung auf gleicher oder wenig vermehrter Gesamtfläche außerordentlich stieg: zum Beispiel in England von 2,3 auf 33 Millionen, in Frankreich von 10 auf 39 M i l l i onen, in Deutschland von 12 auf 63 Willionen. Nahm auch das bebaute Ackerland noch gewaltig zu, forderten Gewerbe, Handel, öffentliche Dienste immer größere Massen von Geschäftsleitern, B e amten And Arbeitern, im ganzen ist doch wahrscheinlich, daß lange die Teile der Bevölkerung, die auf Verdienst durch Arbeit angewiesen waren, eher stärker a l s die Arbeitsgelegenheit wuchsen. Die Bevölvölkerungspolitik der meisten Staaten war 1300—180t) eben deshalb
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überwiegend eine hemmende, und diese tzemmungstendenzen wuchsen noch von M a l t h u s ' Einfluß an gegen 1800—1840. Eine große Ausund Einwanderung gab es damals nur an wenigen Punkten, unter ganz besonderen Verhältnissen. Erst von 1830—1900 wurde die Aus- und Einwanderung freier und erheblicher, wurde auch mit der inneren, endlich durchgesetzten Freizügigkeit der Ausgleich zwischen Gegenden und Provinzen mit Mangel und Überschuß der Arbeitskräfte ein etwas leichterer. B i s ZNitte des 19. Jahrhunderts fehlte es aber an diesem Ausgleich außerordentlich, zumal in England, das durch seine den Interessen der Grnndaristokratie angepaßten Armen- und Niederlassungsgesetze in den Gegenden mit bestem Boden den Abfluß der Arbeitskräfte künstlich gehemmt hatte; sagt doch F . A. Walker: „kein anderes Gesetz in irgendeinem kontinentalen Lande hat so den Pauperismus befördert, wie das englische Armenrecht seit dem 17. Jahrhundert". Als die Malthusschen Gedanken zurücktraten, die freie Bewegung der Arbeitskräfte im Lande und über den Grenzen in den meisten Staaten mehr oder weniger gestattet wurde, fiel diese Hemmung. Aber seither hat die Bevölkerung auch noch viel mehr als bis 1800 oder 1840 zugenommen. Die Zunahme wurde 1820—1880 eine stärkere, als sie wohl je das menschliche Geschlecht irgendwo erlebte. Und wenn sie seither zuerst in Frankreich, dann auch in England, Norwegen und Schweden, neuerdings auch in Deutschland etwas nachgelassen hat, so hat diese Abnahme der Geburtenzahl, bei der gleichzeitigen Verlängerung der durchschnittlichen Lebensdauer und starker Abnahme der Kindersterblichkeit doch auf den Arbeitsmarkt und das Arbeitsangebot noch kaum vermindernd gewirkt. Also in S u m m a : von 1500—1800 ein mäßig steigendes Arbeitsangebot infolge der Volkszunahme, dem aber kaum eine gleich große und gleichmäßig steigende Nachfrage gegenüberstand. Seit den letzten hundert oder siebzig Iahren ein noch viel stärker wachsendes Angebot; aber nun auch der Aufschwung der Technik, des Verkehrs, eine wirtschaftliche Blüte ohnegleichen von 1840, noch mehr von 1880 an, das heißt eine Nachfrage nach Arbeit, die eher und dauernder das Angebot überholte als früher. Aber das Kleben, am hergebrachten Wohnort erhielt sich noch lange nach eingeführter Freizügigkeit. Cliffe Leslie glaubt nur so die großen Unterschiede der ländlichen Löhne in England erklären zu können. Auch in Deutschland sind trotz stark zunehmender innerer Wanderungen die Unterschiede der ländlichen Löhne verschiedener Gegenden noch größer, a l s
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daß man sie allein aus der verschiedenen Leistungsfähigkeit erklären könnte. Auch andere speziellere Ursachen haben übrigens früher und teilweise bis tief ins 19. Jahrhundert das Lohnsteigen gehemmt, auch wo allgemeinere Ursachen für ein Steigen vorhanden gewesen wären. Die sich heranbildende Lohnarbeiterschaft rekrutierte sich zunächst aus den überzähligen Bauernsöhnen, die auf dem Lande keine Stelle fanden, aus den städtischen Gesellen, die nicht Meister wurden, früher auch aus den Landsknechten, die dauernd mit höherem Alter beschäftigungslos wurden. Die Form des Gewerbes, die den Überschuß aufnahm, war zunächst hauptsächlich die Hausindustrie) vor allem die Spinnerei und Weberei; teils auf dem Lande als Nebenarbeit von der zu sehr angewachsenen bäuerlichen Bevölkerung geübt, teils in den Städten ansässig, wo lange, zum Beispiel in den Niederlanden und in den großen italienischen Städten, diese Arbeiter sich neben dem Heimarbeitsverdienst durch den Bettel unterhielten. E s waren wohl meist die minderwertigen Elemente, die so den ersten Kern des reinen Geldlohnarbeiterstandes bildeten; die, deren Lebenshaltung schon vorher niedrig war und nun leicht noch mehr sank, in neuen Verhältnissen, oft nach erschöpfendem Wanderleben. ^— Lange hat die neu sich bildende Großindustrie überwiegend mit einem sehr geringen Arbeitsmaterial sich begnügen müssen. A l s ich im Jahre 1864 zum ersten M a l e nach Koburg kam und eine ortskundige Persönlichkeit fragte, ob die Stadt auch schon etwas von Fabriken besitze, sagte sie: unsere Bürger und unsere Bauern der Umgegend sind noch nicht soweit heruntergekommen, um zur Fabrikarbeit sich herzugeben. Für viele Gegenden mit heute gehobener Arbeiterbevölkerung war eine durch die Krisen der Hausindustrie 1730—1860 proletarisierte Heimarbeiterbevölkerung der ursprüngliche Stamm der in den Fabriken Beschäftigten. An anderen Orten ist es der Niedergang des Handwerks, der das Menschenmaterial lieferte, in wieder anderen Gegenden kamen verarmte Kleinbauern, verkümmerte proletarische Einwanderer in Betracht; wie in England die Irländer. EK lag in der Natur der Sache, daß nur, wer keine Meisterstelle, kein Bauerngütchen, keine Schreiber- oder Soldatenstelle fand, auf eigentliche Lohnarbeit ging. Und es lag ebenso in der Natur dieser älteren Ergänzung des Arbeiterstandes, daß die Lebenshaltung derselben keine hohe war, ja daß die Arbeiter oft nicht einmal ihre bisherige behaupten konnten. Wir werden so a l s ziemlich allgemein vorkommende Tatsache es annehmen können, daß in den Ländern der alten europäischen Kultur
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längere Epochen hindurch, da und dort, überwiegend von 1550—1830, das Arbeitsangebot eher größer war als die Nachfrage, daß die Lebenshaltung nicht leicht eine steigende, vielfach eine sinkende war, daß der moralisch-geistige Fortschritt, der ein Sinken der Lebenshaltung später hinderte, noch fehlte. Und daß nur vorübergehend früher, allgemein erst von 1830—1850 an, das umgekehrte Verhältnis vorwaltete, daß auch erst von da an große und starke Auswanderungsbewegungen, wie in Irland, England, Deutschland, neuerdings in Italien, in Österreich das starke und zu starke Angebot von Arbeitskräften erheblich einschränkten und so Veranlassung zu Lohnerhöhungen boten. Auch die inneren Wanderungen in den einzelnen Ländern waren lange gehemmt durch Fesselung der ländlichen Bevölkerung an den Boden, durch die Zunft- und Stadtverfassungen, durch die Kleinstaaterei in Deutschland. D a s wirkte in Städten und Gegenden mit besonderem Aufschwung wohl da und dort lokal lohnerhöhend, sonst aber lohnerniedrigend. Und wo ersteres stattfand, hemmten lange andere rechtliche Ursachen das Lohnsteigen. M a n betrachtete früher das Lohnsteigen infolge der Geldwertserhöhung, weil man sie nicht verstand, a l s Unbotmäßigkeit und suchte es zu hindern durch Lohntaxen und sonstwie; man suchte durch kirchlich-religiöse und nationalökonomische Lehren es a l s heilsam und wirtschaftlich nützlich hinzustellen, daß die Löhne niedrig blieben. Die bäuerliche, durch die Grund- und' Gutsherren diktierte Gesetzgebung, die den Gesindezwangsdienst 1550 bis 1750 eingeführt, die bäuerlichen Lasten erhöht, die bäuerliche Rechtsstellung verschlechtert hatte, wirkte ebenfalls in vielen Ländern jedem Lohnsteigen entgegen. D a s neue Bergarbeiter- und Heimarbeiterrecht, die Ordnungen der neuen Großindustrie waren nur in wenigen Staaten vor 1800 zugleich im Sinne des Arbeiterschutzes erlassen; vielfach waren sie bis 1800 von einseitigen Arbeitgeberinteressen diktiert. Daß ein Proletarisierungsprozeß da und dort begonnen habe, bemerkten Menschenfreunde und große Staatsmänner wohl vereinzelt von Mitte des 18. Jahrhunderts an; im übrigen gingen auch der Wissenschaft, dem beginnenden Sozialismus und einigen englischen und deutschen Staatsmännern die Augen darüber erst 1800—1850 etwas auf. Und soweit sie den Nationalökonomen aufgingen, hofften sie doch von Ad. Smith an bis gegen 1860 überwiegend, das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte werde alles heilen; Gewerbefreiheit, Niederlassungsfreiheit, Auswanderungsfreiheit werde von selbst überall das Arbeitsangebot richtig dem Bedarf anpassen. Ob solch optimistische Hoffnung zutreffe, konnte man da.
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wo diese Freiheiten noch fehlten oder erst seit ein paar Iahreslustren eingeführt waren, schwer richtig beurteilen. M a n bemerkte lange nicht, daß diese Freiheiten, auch wo sie eingeführt waren, nicht rasch den Lohn erhöhten, die Sitten der meisten Arbeiter änderten. Erst wo dichte Eisenbahnlinien, riesenhafte Konjunkturen, geschäftsmäßige Auswanderungsunternehmungen, die neue Presse die weitesten Kreise aufgerüttelt hatten, konnten Massenabwanderungen, wie die irische der vierziger Jahre, die neuere ostdeutsche Landflucht, die neuere italienische Auswanderung erheblich auf ein Lohnsteigen wirken. D a s Arbeitsangebot blieb so bis vor ein oder zwei Generationen vielfach eine mehr lokale als nationale oder gar internationale Erscheinung. Und bis zur Gegenwart hat sich davon viel erhalten. Noch heute hat der Smithsche Satz: der Mensch sei das unbeweglichste Gepäckstück, eine gewisse Wahrheit. Immer aber ist seit den modernen Verkehrsmitteln, seit dem heutigen Nachrichten- und Arbeitsnachweiswcsen eine viel größere örtliche Ausgleichung eingetreten als früher. — Neben der örtlichen Verteilung des Angebots steht nun die nach Berufen. Nur zu geringer Tätigkeit kann man Arbeiter ohne bestimmte Berufsausbildung brauchen; sie bilden eine Klasse, und zwar die unterste der Arbeiter für sich. Die große Mehrzahl der Arbeiter, besonders der gewerblichen, ist durch ihre Tätigkeit vom 10.—13. Jahre an, durch Berufswahl und Lehrlingschaft überwiegend oder ganz ausschließlich für eine bestimmte Tätigkeit als Metall- oder Holzarbeiter, a l s Bäcker, Fleischer, Schuster, als Techniker oder Händler in bestimmter Art vorgebildet und sucht, soweit es irgend geht, Beschäftigung im gelernten Spezialberuf. Daran hat auch die Tatsache nicht allzuviel geändert, daß der wechselnde Bedarf und ungünstige Schicksale heute eine steigende Zahl von Arbeitern zu Berufswechseln nötigt, ja, daß man vielfach darauf hinarbeitete, solche Berufswechsel durch eine mehr universelle gewerbliche Vorbildung zu erleichtern. Fragen wir, was die einzelnen jungen Leute zur Berufswahl bestimme, so hat natürlich mehr und mehr die Größe der Nachfrage in den einzelnen Berufen, die Einträglichkeit bestimmter Berufe, ebenso die leichtere oder schwerere Erlernbarkeit, es haben die Kosten der Vorbildung, das soziale Ansehen der einzelnen Berufe, die Unannehmlichkeit oder Annehmlichkeit derselben eine maßgebende Wirkung ausgeübt. Aber neben diesen natürlichen und vernünftigen Überlegungen der jungen Leute und ihrer Eltern und Vormünder, stehen tiefgreifende, mehr irrationelle Beeinflussungen oder mischen sich mit bewußten oder unbewußten anderen Gründen. M a n hat beobachtet,
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daß, wo allerlei Rassen auf demselben Boden sitzen, jede einzelne sich traditionell dem oder jenem Berufe zuwendet; man sagt in den Vereinigten S t a a t e n : der Norweger und Schwede gehe znm Ackerbau, der I r e und Franzose zum Textil- und Bekleidungsgewerbe, der Deutsche in die M ö b e l - und Bauindustrie. Sitte und Beruf der Eltern bestimmen in weiten Kreisen die Berufswahl; viel wirkt der Aufenthaltsort der Eltern ein; junge Leute wollen das Gewerbe ergreifen, das sie in ihrer Umgebung gesehen. J e tiefer die intellektuelle Bildung der Eltern noch ist, je mehr sie die großen Kosten des einen oder anderen Berufes für ihre Kinder scheuen, desto mehr entscheidet auch heute noch der Zufall, oft auch eine halb oder ganz falsche Vorstellung über Bedarf und Verdienst im gewählten Beruf. Daher die neueren Bemühungen durch die Schule und die Lehrer, durch die! Arbeitsnachweise, durch besondere Vereine für Lehrlingsunterbringung günstig auf die Berufswahl zu wirken. Aber was bisher in dieser Beziehung geschehen ist, das scheint noch in keinem Lande irgendwie zu genügen, die M ä n g e l der W a h l durch deu Vater zu beseitigen. J e tiefer der Lohn und die Intelligenz der Eltern steht, desto erwünschter ist daher die Tätigkeit etwas besser unterrichteter Zuweisestellen. Und jede Zuweisung der jungen Leute zu einer bestimmten Berufsausbildung hat noch damit zu kämpfen, daß sie von den Löhnen und der Konjunktur der Gegenwart ausgehen muß, aber nicht wissen kann, wie die Nachfrage sein wird, wenn der jetzt 15jährige 3 0 - 4 5 Jahre alt sein wird, ja nicht einmal, wie die Nachfrage, die heute zum Beispiel durch eine Hochkonjunktur beeinflußt ist, schon nach 2—5 Iahren sich gestaltet haben wird. — Die Gesamtheit der Ursachen, die das Arbeitsangebot beherrschen, sind tief im ganzen Volksleben wurzelnde, wie die Bevölkerungsbewegung, die A u s - und Einwanderung, die Geburten- und Todeszahlen; dann die wirtschaftliche Entwicklung der betreffenden Volkswirtschaft im ganzen und im einzelnen. Die Wirkung dieser Kausalitätsketten erstrecken sich über Jahrzehnte; ein bestimmtes vorhandenes Quantum des Angebots ist durch Ehefrequenz, Geburten, A u s - und Einwanderung nie schnell, meist erst nach vielen Iahren zu ändern. Und diesen sehr langsam sich umbildenden Angebotsgrößen steht nun eine viel beweglichere Nachfrage gegenüber, die von Ursachen beherrscht wird, die in M o n a t e n und Iahren rasch wechseln. Ich erinnere nur an die Konjunkturenwechsel, die Krisen, an die Einwirkung von Krieg und Frieden, ja an die Folgen einer bloßen M o b i l machung. W o die Zahl der Wanderarbeiter heute innerhalb der
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Staaten und über die Landesgrenzen hinaus auf Zehn- und Hunderttausende gestiegen ist, kann man freilich auch das Arbeitsangebot bei guter Organisation dieser Wanderarbeit rasch vermehren beziehungsweise vermindern; aber nicht ohne die große Gefahr, daß doch einmal aus besonderen Ursachen die Wanderarbeiter ausbleiben. Wo, wie im agrarischen deutschen Osten, die ganze Landwirtschaft an einem viel zu geringen ansässigen Arbeitsangebot leidet, ist die Schwierigkeit, das heimische Angebot zu vermehren, hauptsächlich darin begründet, daß man durch Kolonisation, Ansiedlung von LandArbeitern, Wohnungsbeschaffung für sie wohl für eine Zukunft in 10—20 Iahren, aber niemals rasch helfen kann. o) Die Nachfrage nach Lohnarbeit setzt sich a u s zwei Teilen zusammen, die von überwiegend verschiedenen, nur teilweise gleichen Ursachen beherrscht sind. Diejenige nach persönlichen Dienern und Gesinde, nach Unterbeamten, Soldaten, geht von den Familien, P e r sonen, Korporationen aus, welche der Arbeit hauptsächlich für persönliche Zwecke und für öffentlichen Dienst bedürfen. Dieser Teil der Nachfrage charakterisiert sich durch eine erhebliche Dringlichkeit und eine relative Gleichmäßigkeit, ändert sich nur langsam. E s ist aber der kleinere Teil der Nachfrage, umfaßte zum Beispiel in Deutschland 1895 etwa 2—3 Millionen gegen die 12,8 Millionen Lohnarbeiter, die in Unternehmungen der drei Hauptberufsgruppen tätig sind, 1907 2,5 Millionen gegen 17,8 Millionen. Von der Gesindezahl läßt sich sagen, sie sei in Zeiten und Ländern mit reicher Aristokratie, niedrig stehenden Volksmassen, roher Kultur und primitiver Technik sehr zahlreich, gehe aber mit höherer Kultur, Arbeitsteilung und höherer Unternehmungsform relativ zurück. Absolut kann sie deshalb doch noch wachsen, zumal wenn man die niedrigen Arbeitsgehilfen von Staat, Gemeinde, Korporationen hinzurechnet. Die Gesindelöhne der im Familiendienst der höheren Klassen stehenden Personen sind neuerdings stark und rasch gestiegen, einmal weil die begehrten, gutgeschulten Leute nicht sehr zahlreich sind, dann weil die Nachfragenden sehr hohe Löhne zahlen können, ohne sich dadurch beschwert zu fühlen. Aber auch die übrigen Gesindelöhne sind stark gestiegen, weit sie früher abnorm niedrig waren und weil ein großer Teil dieser Leute heute in Industrie und Handel besser bezahlte und teilweise auch leichtere, kürzere Arbeit mit mehr persönlicher Freiheit findet. Der andere Teil der Nachfrage geht von den Unternehmern aus, welche der Lohnarbeit bedürfen, um Waren und Leistungen auf den
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Markt zu bringen. Er ist der weitaus größere und wichtigere Teil der Arbeitsnachfrage; er ist nicht so gleichmäßig, so dringlich; er hängt vom Markt, von der Konjunktur, vom Absatz ab; die Unternehmung fragt nach, je nachdem der Bedarf wächst oder zurückgeht. Wir fassen zuerst den Absatz im ganzen ins Auge, dann erst die spezielle Arbeitsnachfrage. E s ist klar, daß alle Ursachen, welche die Nachfrage überhaupt beeinflussen, mehr oder weniger auch die Arbeitsnachfrage bestimmen; die Arbeit spielt unter den Produktionsfaktoren stets eine kleinere oder größere Rolle. Wir werden sagen können, die Nachfrage nach Waren und Leistungen hänge in jedem Lande a) von seinem Wohlstände, seiner Konsumtionskrast, seinem Einkommen und dessen Verteilung ab; d) von der Aus- und Einfuhr und allen Ursachen, die sie beherrschen, also von seiner Handels- und Kolonialpolitik, seiner Schiffahrt, seinem kaufmännischen Geiste. Schon Ad. Smith bemerkte, daß Blüte, Stabilität oder Rückgang der ganzen Volkswirtschaft das Entscheidende für die Lohnhöhe sei. Wir fügen bei: keine andere Klasse der Gesellschaft habe deshalb an Blüte oder Rückgang ein solches Interesse, wie die Arbeiter; selbst die Unternehmerklasse, im übrigen die meistbeteiligte, könne ungünstige Veränderungen noch eher aushalten als die Arbeiter, da sie im Durchschnitt viel mehr Reserven haben. Die neuere Hebung der Arbeiterklasse hat auch die Folge gehabt, daß sie die Gesamtveränderungen der Nachfrage nachhaltig mit dem lebendigsten Interesse verfolgt. E s ist eine verwandte Formulierung dieser Zusammenhänge, wenn man sagt, die jeweilige Produktivität der Volkswirtschaft und ihrer Zweige beherrsche die Lohnhöhe. Unter Produktivität der Volkswirtschaft, beziehungsweise ihrer Zweige, verstehen wir einen Tatsachenkomplex dahingehend, daß sie über reiche und zahlreiche Naturkräfte, über gutgeschulte und organisierte, kluge und technisch hochstehende Menschen (Unternehmer, Beamte, Arbeiter), verfügt. W o diese Bedingungen zutreffen, besteht die Wahrscheinlichkeit reichlicher Versorgung, steigender Produktion und Konsumtion, wachsender Nachfrage nach Arbeit. Daher in Ländern mit reichem, noch überflüssigem Boden, auf dem eine hochstehende Kulturrasse kolonisiert, der höchste Lohn; daher in allen Kulturländern auf gutem Boden (alles übrige gleichgedacht) höhere Löhne als aus schlechtem; daher mit steigender Leistungsfähigkeit der Unternehmer und Arbeiter durchschnittlich guter, steigender Lohn als Folge des blühenden Gewerbes, des wachsenden Handels. Wo die Volkswirtschaft stabil bleibt, stockt leicht die Ar-
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beitsnachfrage; noch mehr, wo sie zurückgeht. W o sie stockt, die Bevölkerung noch wächst, die Grundrente noch steigt, die Monopolgewinne der organisierten Geschäftsaristokratie noch wachsen, beobachten wir gedrückte Löhne. Wir kommen auf diese Zusammenhänge zwischen Lohn und Gesamtentwicklung der Volkswirtschaft nachher da zurück, wo wir von den großen Schwankungen und Veränderungen der Nachfrage sprechen. Haben wir im bisherigen angenommen, steigende und fallende Nachfrage nach Gütern bedeute steigende und fallende Nachfrage nach Lohnarbeit, so haben wir jetzt zu konstatieren, daß das bis auf einen gewissen Grad, aber nicht überall und jederzeit richtig sei. Die Lohn> arbeit ist ein Element der Produktion neben a n d e r e n ; die Lohnarbeit ist teilweise ersetzbar durch K a p i t a l , durch M a W i n e n . Und wir haben so nach den Ursachen zu fragen, die, innerhalb des Rahmens der bisher geschilderten Vorgänge, die relative Stärke der Nachfrage nach Lohnarbeit gegenüber der Nachfrage nach anderen Produktionselementen bestimmen. Fassen wir diese zusammen unter dem Begriff des Kapitals, so wird man sagen können, es frage sich, ob jeweilig mehr Produkte des Kapitals oder mehr Produkte der Arbeit begehrt werden, ob Kapital oder Arbeit unter den Produktionselementen stärker wachse; nach der relativen Größe dieser Begehrungen, sowie nach den disponiblen Mengen von Arbeit und Kapital bestimme sich die Nachfrage und der Wert der Lohnarbeit, wenigstens in den Ländern der kapitalistischen Großunternehmung, welche in der Regel imstande ist, an die Stelle der Arbeit Kapital, respektive Maschinen zu setzen. Aber mit dieser abstrakten Formel ist das Problem so wenig ganz aufgeklärt, wie mit der an sich richtigen Bemerkung, daß überall da, wo technisch sowohl Arbeit a l s Kapital für denselben Zweck angewandt werden kann, die Höhe des Zinsfußes oder des Lohnes die Bevorzugung des einen oder anderen Produktionselementes bestimme; allerdings erklärt es sich durch letzteren Satz, daß in einem Lande der billige Lohn zum Beispiel Garten- und Handelsgewächsbau, im anderen der billige Zinsfuß zum Beispiel Viehzucht und feine Textilgewerbe hervorruft oder begünstigt. Aber nm ganz klar zu sehen, müßte man für lange Zeiträume genau verfolgen können, wie in den einzelnen Zweigen der Volkswirtschaft sich die Nachfrage nach Kapital und Arbeit verschoben hat, und wie derselbe Prozeß sich für die Gesamtheit der nationalen Produktion stellt. M a n müßte zugleich nach beiden Richtungen verfolgen, wie mit der Veränderung der Betriebsformen die frühere Arbeit des
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Bauern, Handwerkers, Kleinhändlers sich nach und nach zum Teil in Geldlohnarbeit, für die eine Nachfrage auf dem Markt stattfindet, umsetzt; man mühte für jeden Zweig und die ganze nationale Produktion jederzeit das Arbeits- und das Kapitalangebot kennen. Vielleicht ist heute eine solche Untersuchung vollständig zu machen noch unmöglich. Wohl aber werden wir folgendes sagen können. Die technisch und betriebsmäßig vollendetsten Produktionen der großen maschinell ausgebildeten Stapelindustrien haben sicher seit 100 Iahren immermehr an Arbeit gespart an Kapital angewandt. Die Löhne machen heute zum Beispiel in der nordamerikanischen Wollindustrie nur noch 16, in der dortigen Baumwollindustrie noch 23 vom Verkaufswert der Produkte aus, während das Verhältnis vor 50—100 Iahren wahrscheinlich das drei- und mehrfache war. Anders steht es in anderen Industrien; zum Beispiel machen in den schlesischen Kohlenindustrien die Löhne heute noch 4 6 — 5 0 °/o aus. Es früge sich, wie diese Relation in allen Produktionszweigen sich geändert hat. Es früge sich dann aber weiter, wieviele Prozente des Einkommens und der nationalen Nachfrage zum Beispiel auf Textilwaren fällt, bei denen die Arbeit wesentlich durch Kapital ersetzt wurde, wieviele auf andere Waren und Leistungen, wo das nicht der F a l l ist; zum Beispiel im Baugewerbe, in der Landwirtschaft, in vielen Nahrungsgewerben wird das Kapital nicht so vorgedrungen sein. Und daneben steht die steigende Arbeitsnachfrage für das Verkehrs- und Gastwirtschaftsgewerbe, den Lehrer- und Beamtenstand usw. W i r werden so annehmen können, daß der abnehmenden Arbeitsnachfrage in vielen hochstehenden Industrien doch in den volkswirtschaftlich voranschreitenden Staaten eine wachsende Gesamtnachfrage nach Arbeit gegenübersteht. Ich führe zum Beweise für sie nur folgende Zahlen an. Preußen zählte 1816 1,3, 1867 3,9, Deutschland 1882 10,7, 1895 12,8, 1907 17,8 Millionen in Unternehmungen tätige Lohnarbeiter; Gissens Rechnung für das vereinigte Königreich geht dahin: 1836 9 Millionen, 1886 13,2 Millionen Lohnarbeiter mit 171 und 550 Millionen Gesamteinkommen und 19 und 41^/z Pfd. St. jährlichen Kopfeinkommens. Auch aus den Berechnungen, welchen Anteil am Gesamteinkommen der Nation die Löhne in verschiedenen Zeiten und Ländern ausmachen, kann man Rückschlüsse darauf machen, ob die zunehmende Kapitalanwendung dauernd in den letzten 200 Iahren die Nachfrage nach Lohnarbeit absolut oder relativ eingeschränkt habe. Aber es würde das hier zu weit führen.
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l l . Lohnbewegung und Lohnsystem. Ergebnisse.
N. Lohnbewegung und Lohnsystem. Ergebnisse. a) Haben wir uns im bisherigen klarzumachen versucht, wie im ganzen die dauernde Größe von Angebot und Nachfrage auf den Arbeitslohn wirke, so lohnt es sich, zur Ergänzung hier noch zu untersuchen, wie die großen Veränderungen der Volkswirtschaft an sich! den Lohn, beziehungsweise das Angebot und die Nachfrage der Arbeitskräfte beeinflussen. Wir denken dabei an die Folgen 1. der Geldwertsänderungen, 2. der Ernte- und Konjunkturschwankungen und 3. an den historischen Aufstieg und Niedergang der einzelnen Volkswirtschaften im Laufe der Geschichte überhaupt. E s handelt sich um die Wirkungen großer Ereignisse, teils bloß wirtschaftlicher, teils halb politischer und halb wirtschaftlicher Art, die von Jahr zu Jahr, mehr noch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahrhundert zu Jahrhundert sich vollziehen, und zwar zum überwiegenden Teil so, daß Individuum und Einzelwirtschaft nicht viel dagegen zu tun imstande sind; selbst die Regierungen und die leitenden Organe der Volkswirtschaft können nur in beschränkter Weise eingreifen, wenn auch gute oder schlechte Gesamtleitung von Staat und Volkswirtschaft immerhin für eine Anzahl der großen Veränderungen mitverantwortlich sind. Wenn man die Geldwertsänderungen und ihre Rückwirkung auf Preise und Löhne untersucht, so wird man finden, daß das Sinken des Geldwertes 1500—1650 die Arbeiter schädigte, wie das Steigen des Geldwertes (die sinkenden Preise der meisten wirtschaftlichen Güter) 1875—1896 sie begünstigte. I n der ersteren Epoche war der Arbeiter wenig fähig, entsprechend den höheren Preisen sich einen höheren Lohn zu erkämpfen; er hatte bei gleichbleibendem Nominallohne einen geringeren Reällohn. Die Geldwertsänderungen von 1650—1850 waren nicht so stark und nicht so allgemein, um sie hier in Betracht zu ziehen; sie waren vielfach mehr Geldwertsausgleichungen zwischen verschiedenen, bisher durch keinen großen Verkehr verbundenen Gegenden. Für die Zeit von 1850—1875 nimmt man im allgemeinen ein Sinken des Geldwertes, 1875—1896 ein Steigen, dann eine gewisse Stabilität an; von 1905—1914 eher wieder ein mäßiges Sinken. Die Preissteigerung von 1850—1875 hat dem Arbeiter nicht soviel geschadet, weil er in den meisten Ländern und Gewerben infolge des sonstigen allgemeinen Geschäftsaufschwunges fähig war, seine Löhne zu steigern. A l s dann von 1875 bis gegen 1896 die meisten Preise sanken, ohne entsprechendes Sinken der Löhne in den Hauptkultur» S c h m o l l e r , Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klafsenkampf.
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staaten, wurde diese große Tatsache die tzauptursache für die Verbesserung der Lebenshaltung der unteren Klassen, für eine Erhöhung des Reallohns. Umgekehrt verhielt es sich von 1896—191Ä: die Lebensmittelpreise stiegen etwas mehr als die Löhne; wohl stritt man sich darüber, was die Ursache dieser Erscheinung sei; aber daß sie den Arbeiterstand schädige, sah man allgemein ein. — Die großen Erntewechsel erzeugten früher übermäßig billige und übermäßig teure Jahre, jene waren für den Bauern, diese für den Arbeiter schädlich. Häufig folgten sich früher Zyklen von zehn und mehr Iahren, in denen sich ununterbrochen gute oder schlechte Ernten folgten; die ersteren wirkten für die unteren Klassen wie eine Lohnerhöhung, die nachher plötzlich wieder verschwand, die letzteren wie eine Lohnverkürzung. Die Hausse- und Baisseperioden der neueren Zeit sind wie für das ganze volkswirtschaftliche Leben, so hauptsächlich auch für den Arbeiterstand, von großer Bedeutung. Die Hausseperiode steigert die Löhne, aber meist nicht dauernd; in der Baisseperiode nimmt die Nachfrage nach Arbeit ab, so daß die Arbeitslosigkeit sich bedenklich steigert, am meisten da, wo ohnedies große Wechsel der Beschäftigung stattfinden. I n den Vereinigten Staaten gibt es zahlreiche Industrien, in denen regelmäßig ein großer Teil der Arbeiter ein Viertel des Jahres brotlos ist. Aber auch in England und Deutschland greifen die Konjunkturwechsel sehr stark in die Existenz der Lohnarbeiter ein. Dabei wirkt der Wechsel der Nachfrage nicht so stark auf die gewöhnlichen Konsumwaren, wie auf die Produktivmittel: Kohle, Eisen, Maschinen. Die notwendigsten Konsumartikel werden auch in der Krise begehrt, wenn auch etwas weniger infolge des geringeren Einkommens. Die Nachfrage nach Produktivmitteln kann aber in großen Krisen fast ganz aufhören. Die in diesen Zweigen der Volkswirtschaft Tätigen werden also am härtesten betroffen. Wir werden bei der Erörterung des Arbeitsnachweises, der Arbeitslosenversicherung darauf zurückkommen. Diese dem Wechsel der Konjunktur folgenden Veränderungen der Arbeitsnachfrage gehören zu den dunkelsten Punkten unserer neuen sozialen Entwicklung. — W i r fügen noch ein allgemeines Wort der Würdigung über Stabilität und Schwanken der Löhne bei. Eine gewisse Stabilität der Löhne ist in dem Maße erwünschter, je prekärer die Lage der Arbeiter an sich ist. I n früheren Zeiten, zumal in denen der Naturalwirtschaft war der Arbeiter viel gesicherter: schon die althergebrachten festen Naturalbezüge gaben ihm eine gleichmäßige Existenz. Bauern- und Gesindeordnungen, ferner die Zunftverfassungen wirkten auf eine ge-
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wisse Stabilität, ebenso Sitte und Billigkeit. W o Lohntaxen bestanden, war ihr Hauptzweck, auf eine gewisse Erhaltung der hergebrachten gewohnten, oft allzusehr für gerecht und normal gehaltenen Löhne zu wirken. Ersr als die ältere Normierung der Löhne mit dem Siege der liberalen Freiheitslehren zurücktrat, die moderne Konkurrenz sich ausbildete, die älteren patriarchalischen Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiter verblaßten, entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts der harte Lohnkampf mit seinen Schwankungen und Bitterkeiten. Der Arbeiter erfuhr erst jetzt, wie leicht ihn die tägliche Entlaßbarkeit zum Bettler machen könne, was es bedeute, wenn die Löhne in wenigen Iahren um viele Prozente, ja ums Doppelte steigen und wieder fallen. E s wird berichtet, bei den englischen Schiffskesselbauern habe der Iahresverdienst zeitweise zwischen 50 und 300 P f d . S t . geschwankt. Immer sind diese Schwankungen nur in wenigen, hauptsächlich in Exportgewerben so groß; die Baugewerbelöhne, die Löhne der M a trosen sind entsprechend den großen Konjunkturschwankungen in diesen Berufen auch sehr erheblich. I m ganzen hat aber die Einsicht in die großen Schäden dieser Schwankungen nach Hilfsmitteln dagegen gedrängt, wie sie zum Beispiel in den gleitenden Lohnskalen liegen, auf die wir gleich zurückkommen. Die Gewerkvereine haben mit Energie gegen die Schwankungen gekämpft. Der unbedingte Glaube an den Segen der freien Konkurrenz auf dem Lohnmarkt ist fast verschwunden. Die Löhne sind seit den letzten dreißig Iahren in Europa wieder stabiler geworden als 1800—1875. D a s englische Arbeitsamt berichtet, die starken Lohnschwankungen beschränkten sich heute mehr und mehr auf die Berg-, Maschinen- und Schiffsbauarbeiter. Immer wird man sagen können, eine Beseitigung aller Lohnschwankungen sei nicht möglich und auch volkswirtschaftlich und sozialpolitisch nicht eigentlich erwünscht. Diese Schwankungen sind die Regulatoren der Arbeiterwanderungen, des Zuflusses und der Abwendung der jungen Arbeiterkreise zu und von bestimmten Berufen. Sie wirken in gewissem Sinne erziehend: die Arbeiter lernen in der günstigen Konjunktur für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, in der ungünstigen für Erhaltung der bestehenden zu streiten. Wir kommen endlich zum wichtigsten Punkt, den wir schon öfter berührten, soeben noch bei Erörterung der Nachfrage: zur Gesamtentwicklung der Volkswirtschaft. Der ganze Inhalt der Abschn. 7. u. 8. über die Geschichte der Löhne ging dahin: die Löhne steigen bei rasch 20*
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voranschreitender Blüte der ganzen Volkswirtschaft, zum Beispiel in England 1300—1370. während sie 1570-1660 sinken. 1660—1770 wieder steigen; 1770—1830 stabil bleiben oder sinken, 1830—1910 für die oberen zwei Drittel der Arbeiter wieder steigen. I n Deutschland sinken die Löhne im 16. Jahrhundert, bleiben im 17., 18 und Anfang des 19. im ganzen stabil, um von der Entstehung des Zollvereins an bis heute bald mehr, bald weniger zu steigen. Die hohen amerikanischen Löhne gehen aus den beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung der Vereinigten Staaten zurück. Natürlich wirken neben der großen Gesamtbewegung viele spezielle Ursachen teils lohnsteigernd, teils lohnsenkend mit. Aber diese treten doch zurück gegenüber der Hauptsache. Von ihr a u s können wir auch am ehesten die ganze europäische Lohngeschichte, das Sinken der Löhne 1500—1650 und von 1760—1840, das Steigen 1840 bis heute erklären. Westeuropa hatte 1400—1600 eine stark wachsende Bevölkerung und stand veralteten agrarischen und städtischen Institutionen gegenüber: der Bauer erlag feudalem Druck, die alte Stadtwirtschaft, das alte Zunftrecht, die alten Verkehrsformen paßten nicht mehr. Geldwirtschaft, Kreditverkehr, Großhandel wollten vordringen. Aber nur wenige Staaten fanden rasch ihre nationale Einheit, die neuen nötigen Wirtschaftsformen, den Reichtum spendenden Kolonialbesitz, während die Bevölkerung von 1500 noch gewaltig anwuchs. Daher nur in einzelnen Staaten eine Wohlstandssteigernng, die auch den sich bildenden neuen Geldarbeiterstand emporhob. Vielfach trat von 1750 bis 1840, in der Zeit der defenitiven Staatenbildung, des Sieges der freien Konkurrenz, der Rücksichtslosigkeit der wirtschaftlichen Politik gegen die Lohnarbeiter, eine Senkung oder ein Stillstand des Lohnes ein. Erst nachdem diese Schwierigkeiten überwunden waren, die neue Technik und der Welthandel, die neue Kredit- und Geldwirtschaft sich durchgesetzt, eine vernünftige Sozialpolitik sich endlich mit der: sonstigen richtigen Wirtschaftspolitik verbunden hatte, sehen wir den .Arbeiterstand wenigstens in seinen oberen Schichten sich wesentlich im Lohne heben. b) Nach diesen kurzen Bemerkungen über die Wirkung der großen volkswirtschaftlichen Zusammenhänge auf die Löhne kommen wir zur psychologischen Frage: wie wirkt die Lohnhöhe auf die Gefühle, das Denken und das Wollen der einzelnen Lohnempfänger und der menschlichen Gemeinschaften, und wie entstehen daraus Urteile und Hand-
1l. Lohnbewegung und Lohnsystem. Ergebnisse.
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lungen der Individuen nicht bloß, sondern auch der Gemeinschaften, die auf den Lohn zurückwirken. Wie jede wirtschaftliche Tatsache, Erscheinung, Institution erzeugt der Lohn, je nach seiner Höhe und Wirkung Gefühle und Urteile der Billigung oder Mißbilligung, Gedanken, das Bestehende sei gerecht oder ungerecht. S o hat ja jederzeit die ganze bestehende Einkommensverteilung gewirkt. Ich habe in meiner Abhandlung über die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft (Jahrbuch 1880; Zur Sozial- und Gewerbepolitik 1890) darüber eingehender gehandelt, habe in m. Grdrß. Z 33 diese Gedanken in Kürze angedeutet, in §§ 173—173 ihre Anwendung auf die Wert- und Preislehre dargelegt. Ich wiederhole hier nur: es gibt kein Besoldungssystem, kein gesellschaftliches Bewußtsein von Lohnverhältnissen, wobei nicht starke Gefühle und Urteile über die Gerechtigkeit der Gehälter und Löhne im ganzen und untereinander stets wieder mit Notwendigkeit sich auslösten und gesellschaftliche Folgen hätten. Wo gleiche Leistung ungleich bezahlt wird, wo die höhere Leistung nicht mehr erhält als die geringe, wo Gehalt und Lohn in Mißverhältnis zum Klassenrang, zur Leistung, zum notwendigen Lebensbedarf stehen, da bilden sich mißbilligende, nach Abhilfe rufende Gefühle und Urteile. Und stets haben sie in älterer Zeit zu gesellschaftlichen M a ß nahmen, eventuell zu Lohntaxen, zu Gemeinde- und Staatseingriffen geführt. Als die optimistische Naturlehre der Volkswirtschaft die Beseitigung aller derartigen gesellschaftlichen und staatlichen Eingriffe 1750—1860 verlangte und durchsetzte, glaubten die einen, eine gerechte Verteilung des Einkommens trete stets von selbst ein, die andern hofften so die Unfähigen auszumerzen und damit wieder durch das freie Spiel der Kräfte zu gerechten Löhnen zu kommen. E s War begreiflich, daß man zu solchen Versuchen der freien Lohnbildung gekommen war, nachdem die unendliche Schwierigkeit einer guten Durchführung der älteren Lohntaxen und des älteren Armenwesens sich in der Zeit ungeheurer wirtschaftlicher Veränderungen so offensichtlich gezeigt hatte. Aber bald offenbarte sich doch wieder, daß man damit nur einen individuellen und gesellschaftlichen geistigen Bankerott angemeldet hatte, und daß man zu neuen analogen Versuchen wie früher kommen müsse, auch wenn sie noch so große Schwierigkeiten böten; so entstanden die Versuche der Armenreform, des Versicherungswesen und ähnlicher Einrichtungen, die das unvollkommene Lohnsystem ergänzen sollten; wovon wir weiter unten zu sprechen haben; und dann die
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Versuche einer gewissen gesellschaftlichen Einwirkung auf die Festsetzung der Löhne; das beschäftigt u n s hier. Alle solchen gesellschaftlichen Einwirkungen können vernünftigerweise nie den Zweck haben, eine ideale Gerechtigkeit, über die niemals alle Menschen einig sind, ohne Rücksicht auf Angebot und Nachfrage, auf Leistungsfähigkeit, auf bestehende Klassenordnung durchzuführen. Nie können immer nur im Anschluß an die bestehende Sitte, die bestehenden persönlichen Eigenschaften (Leistungsfähigkeit), an die bestehenden Angebots- und Nachfrageverhältnisse die gröbsten Härten und Ungerechtigkeiten beseitigen oder mildern, sowie auf eine künftige Umbildung der Menschen und der Marktverhältnisse in dem Sinne gerechterer Löhne und im Sinne der Beseitigung der schlimmsten Mißstände wirken. Dabei muß nicht sowohl ein fernes und abstraktes I d e a l Hand und Kopf der Reformer leiten, sondern die Einsicht in die gesellschaftliche Schädlichkeit der ungenügenden und ungerechten Löhne. Und die Reformer werden zwar langsam, aber in dem Maße Liegen, wie sie die öffentliche Meinung aller Klassen davon überzeugen, daß unterernährte, hungernde Menschen nicht bloß schlechte Arbeiter sind, sondern auch, daß ihre Kinder und Enkel noch mehr durch Armut und Arbeitslosigkeit an Arbeitsfähigkeit, als an allen bürgerlichen Tugenden verlieren. Gesellschaftliche Armut in weiten Kreisen macht dumm, nachlässig, faul, verbrecherisch und schädigt zuletzt am meisten die Arbeitgeber. I n den Vereinigten Staaten besteht das Sprichwort: die intelligentesten Arbeitgeber suchen immer die höchstbezahlten Arbeiter an sich zu ziehen. Die Schwierigkeiten des Problems liegen darin, daß der einzeln handelnde Arbeitgeber teilweise die Zusammenhänge gar nicht übersieht, teilweise, auch wenn er sie übersieht, nicht handeln kann, wie er will; ferner darin, daß so vielfach die Folgen sozialpolitisch richtigen Handelns, weil in der Zukunft liegend, nicht so deutlich den heute Lebenden wie der folgenden Generation zugute kommen. Daher die Notwendigkeit gesellschaftlicher Agitation der Weitsichtigen für die Reform, teilweise auch des staatlichen Zwanges, oder wenigstens langer vorsichtiger Versuche, die für die betreffenden Unternehmer und Arbeiter richtigsten Lohnbestimmungsmethoden zu schaffen. I n erster Linie stehen die Versuche der organisierten Arbeiter auf die Löhne einzuwirken, sei es durch Arbeitseinstellungen, sei es durch Verhandlungen und Tarifverträge. D a s Urteil über dieses Eingreifen ist heute noch ein vielfach gespaltenes; viele Unternehmer glauben noch heute, derartiges sei eine törichte Störung naturgesetzlich verlaufender
II. Lohnbewegung und Lohnsystem. Ergebnisse.
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Prozesse; fast alle glauben, daß vielfach töricht gestreikt werde, wobei Arbeiter und Unternehmer gleichmäßig geschädigt würden. Die Folgen der ganzen Einwirkung der organisierten Arbeiter aus die Lohnverhältnisse werden erst langsam und in dem Maße heilsam, «als die Gewerkvereinsorganisation eine vollkommenere wird, die Gewerkvereine und ihre Führer von volkswirtschaftlicher Einsicht geleitet werden. Die Tarifverträge werden erst in dem M a ß e segensreich, als man von beiden Seiten mit Verträglichkeit und Versöhnlichkeit a n sie herantritt, und a l s es gelungen ist, sozialpolitisch vollkommenere .Methoden der Verhandlung, des Einigungs- und Schiedsgerichtswesens herauszubilden und zur allgemeinen Anerkennung zu bringen. W i r handeln von diesen Vorbedingungen guter Einwirkung der organisierten Arbeiter und Unternehmer auf die Löhne erst im folgenden Kapitel. Hier beschäftigt uns nur die allgemeine Wirkung dieses sozialen Prozesses auf die Löhne. Die hierher gehörigen Tatsachen aus England, Frankreich und Deutschland wird man kurz so zusammenfassen können. I n England erhielt sich bis zur Ausbildung der Gewerkvereine 1824—1851 in manchen Gewerben die alte amtliche Lohnregulierung. Da, wo sie schon 1750—1814 aufgehört hatte, entstanden die Gewerkvereine im Zusammenhang mit den sinkenden Löhnen und der Arbeiternot. S o sehr die allgemeine wirtschaftliche Lage damals die Löhne herabdrückte, so sehr haben soziale Mißbräuche, das Trucksystem, die harten Fabrikstrafen und ähnliches mitgewirkt. Gewalttätigkeiten der organisierten und Nichtorganisierten Arbeiter hörten 1790—1867 nicht auf. M i t der Ausbildung von etwas besser organisierten Gewerkvereinen entstanden aber neben den Streiks doch auch mancherlei billige Lohnabkommen, hauptsächlich 1860—1880 in der Kohlen-, Eisen- und Maumwollindustrie die Verträge über die gleitenden Lohnskalen: die Löhne sollten entsprechend dem Steigen und Fallen der Verkaufspreise herauf- und herabgesetzt werden; man nahm an, daß so Löhne und Gewinne entsprechend sich änderten. Da aber vielfach die Gewinne nicht den Verkaufspreisen entsprachen, waren manche Unternehmerkreise, und da die Herabsetzung der Löhne in der Krise manche Urbeiterkreise sehr hart trafen, waren viele Arbeitergruppen auch mit diesem System unzufrieden. E s verschwand teilweise wieder zum Beispiel im Bergbau, erhielt sich aber für etwa 200 000 Arbeiter, vor allem in der Eisen- und Baumwollindustrie. I m ganzen hat es doch viel Gutes gewirkt; es hat die Möglichkeit vernünftigen gemeinsamen Kaktierens gezeigt, weite Unternehmer- und Arbeiterkreise erziehend
Z12 2. Buch. Der heutige Arbeiterstand. I.Kap. Seine rechtl. u> wirtschaft!. Lage. beeinflußt. E s hat daneben die Forderung immer weiterer Arbeiterkreise ausgelöst : ihre Löhne müßten stets zum Leben auskömmlich bleiben (livinZ nages). Die Forderung erscheint nicht unerfüllbar, wenn die Arbeiter dafür in der Hausse entsprechend auch etwas weniger erhalten, a l s der reinen Konjunktur und den Machtverhältnissen entspräche. Die Formel der liviriA hat dazu beigetragen, bei zahlreichen Gewerkvereinen und bei sonstigen Arbeitern das Schwören auf Angebot und Nachfrage sowie auf freie Konkurrenz in den Hintergrund zu rücken. Die Geschäftsstockungen von 1873—1889, die große Arbeitslosigkeit der 80 er Jahre, das Versagen vieler Einigungsverhandlungen, die Vergrößerung vieler Gewerkvereine, das Eintreten der ungelernten Arbeiter in die Bewegung und deren vielfache Unbotmäßigkeit gegen die Führer erzeugten 1875—1912 teilweise wieder schwerere Arbeitskämpfe, sowie die Gegenorganisation der Arbeitgeber,' das Gesetz von 1896 suchte das Einigungswesen staatlich zu fördern. Die Hoffnungen auf gute Folgen der Gewerkvereine schienen getrübt. A l s vollends 1900—1914 die Löhne nicht so stiegen, wie die Lebensmittelpreise, traten mit der vergrößerten Organisation beider Teile so schwere Kämpfe ein, daß vielfach die Regierung vermittelnd eingriff, um Stillstände der ganzen englischen Volkswirtschaft zu beschwören. Aber diesen zunehmenden Schwierigkeiten traten trotz allem doch ebenso große Erfolge zur Seite: so die wachsende Erkenntnis, daß Einigung besser a l s Streik sei, daß die Löhne in allen Gewerben steigen, wo das Einigungswesen am besten ausgebildet ist, während sie in den streiklustigsten Industrien fallen, infolge der wachsenden Kraft und Gefchicklichkeit der Unternehmer (Snoväen). M a n sieht jetzt mehr und mehr ein, daß Streiks ohne Gewinnung der öffentlichen Meinung nicht zum Ziele führen. Eine steigende Staatstätigkeit ist der der Gewerkvereine zur Seite getreten. Die parlamentarische Arbeiterpartei hat seit 1896 Großes erreicht, weil sie dem Sozialismus entgegentritt, praktische Ziele verfolgt. M a n sieht jetzt allgemein in England ein, daß Herbert Spencer doch mit seinem Urteil recht hat: so wenig die Gewerkvereine den Markt ganz beherrschen können, sie helfen doch im ganzen in der wirtschaftlichen Blütezeit die Löhne steigern, sie hindern sie in der Baisse allzu stark zu sinken. Für Frankreich möchte ich sagen, die geringe Zahl gut organisierter Gewerkvereine sei mit eine der Ursachen, daß die Löhne im ganzen 19. Jahrhundert dort nur so mäßig stiegen.
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I n Deutschland kann das mäßige Lohnsteigen bis 1870, das große von 1870—1895 natürlich nicht auf die Gewerkvereine zurückgeführt werden, die vor 1890 kaum vorhanden waren. D a s Argument aber, man sehe aus dem deutschen Lohnsteigen dieser Epoche, daß stets wesentlich andere Ursachen als die Gewerkvereine wirkten, ist töricht. Denn kein vernünftiger Mensch hat je behauptet, daß die Gewerkvereine allein die Löhne steigern können; auch das Steigen der ländlichen und der Gesindelöhne ohne jeden Druck von Gewerkvereinen ist kein durchschlagender Beweis gegen die Wirkung der Gewerkvereinc an anderer Stelle. Von 1890 bis heute sind auch die deutschen Gewerkvereine und die Einigungsverhandlungen ein wichtiger Faktor in eben dem Sinne geworden, wie wir ihn eben als Urteil Spencers anführten. M a n erinnert jetzt mit Recht in Deutschland an die Worte von Engels und Marx. Ersterer sagte: die Gewerkvereine sind ohnmächtig gegenüber den großen, aber mächtig gegenüber den kleinen Ursachen; letzterer: die Gewerkvereine heben die Konkurrenz der Arbeiter unter sich auf. Wenn dagegen Kautsky die Gewerkvereinsarbeit eine Sisyphusarbeit nennt, und ebenso die Sekretäre und Journalisten der Unternehmer in ihr nur Unsinn, Gewalttat, Störung sehen, so beweisen solche Stimmen aus entgegengesetzten Parteilagern wenig. Ich möchte erläuternd hinzufügen: überall ist es nicht der Gewerkverein an sich und nicht die Einigungsbehörde an sich, was mit ihren meist kleinen Korrekturen auf die Löhne verbessernd wirkt, sondern es ist wesentlich der innere Fortschritt in der Vereinsorganisation. Die Fortschritte in der Erziehung der Vereinsmitglieder zu volkswirtschaftlichem Urteil, der steigende Gehorsam gegen tüchtige Führer, die Ausbildung fähiger und kluger Leiter, die fortschreitende Vervollkommnung der Verhandlungsmethoden sind das, was in den unvermeidlichen Kämpfen nicht sowohl stets Arbeitersiege, als richtigere, gesündere Lohnverhältnisse erzeugt, den Arbeiterorganisationen den ihnen neben den Unternehmern gebührenden Einfluß bei den Entscheidungen verschafft. Die analogen Eingriffe der Gemeinde und des Staates in die Lohnfestsetzung, wie sie seit dem letzten Menschenalter üblich wurden, lassen sich so klassifizieren: 1. Regierung und Gemeinde verpflichten alle Unternehmer, die für sie arbeiten, lebensauskömmliche, anständige (kair) Löhne, Gewerkschaftslöhne zu zahlen. 2. Sie weisen bei S u b missionen von Bau- oder anderen Arbeiten alle Bieter ab, die sich nicht zu solchen Löhnen verpflichten; damit ist zuerst >in England, dann auch anderwärts eine erhebliche Wirkung auf bessere Löhne, eine Ver-
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ringerune des bei Submissionen so häufigen Versuchs, durch Schmutzlöhne und damit mögliche Untergebote zu siegen, erzielt worden. 3. Die Regierung entschließt sich für einzelne Industrien, vor allem für Hausindustrien mit Hungerlöhnen direkt oder durch einzelne Lohnämter Minimallöhne einzuführen, die nicht den Zweck allgemeiner Lohnerhöhung haben, sondern nur den, die Durchschnittslöhne der anständigen Unternehmer allgemein zu machen. D a s wichtigste Beispiel hierfür ist die australische Kolonie Viktoria, die 1895—1896 mit Lohnämtern für einige sogenannte Schwitzindustrien begann, nach und nach dieselben auf 39 Gewerbe mit 67 VW Personen ausdehnte; es wurden von diesen Gewerben Minimallöhne eingeführt. Die Löhne sind etwas durch die Regelung gestiegen, aber hauptsächlich entsprechend der Lebensverteuerung; der Durchschnittslohn ist im ganzen in den geregelten Gewerben kaum höher a l s in den ungeregelten; zahlreiche Ausnahmen vom festgesetzten Minimallohn werden für gebrechliche, schwache Arbeiter gemacht. Die Löhne sind stabiler geworden; bei der Festsetzung wird die Erhaltung und Ausdehnung des Marktes im Interesse der Geschäfte berücksichtigt. „ I m letzten Grunde sind keine anderen Faktoren dabei lohnbildend, als bei der ungeregelten Lohnleistung." Nur hat die Überzeugung und Einsicht des Richters einen gewissen Einfluß, „der Lohnbildungsprozeß steht unter einer gewissen öffentlichen Kontrolle" (Boehringer). — England hat diese Viktorianischen Lohnämter 19V9 für einige Hausindustrien nachgeahmt und das Gesetz von 1909 schon in den folgenden Iahren auf einige weitere Industrien ausgedehnt: der Erfolg ist nur Lohnerhöhung bis zu dem Niveau der Löhne, die bisher schon bessere Unternehmer zahlten. D a s Experiment scheint gut gelungen, weil eine energische Aufklärungsarbeit vorausging, weil man beide Teile zur Organisation heranzog, die letzte Entscheidung aber überwiegend in die Hände des Vorsitzenden der Lohnämter legte. Lloyd George erklärte 1914: das Verdienstund die Lebenshaltung von ietwa 15l)—2l)0 0l)l) Arbeitern hat sich gehoben; die Arbeitgeber sind jetzt für das Gesetz. J a die Gefahr eines riesenhaften Bergwerkstreiks hat 1912 die englische Regierung veranlaßt, da ihre anderweiten Vermittlungsversuche versagten, für die Kohlenarbeiter einen Minimallohn einzuführen, welchen Distriktskommissionen festsetzen, mit der Tendenz jedem „tüchtigen" Kohlenhäuer, wenn er ohne seine Schuld auf schlechtem Gestein in der Schicht nicht den lokalen, bisher üblichen Lohn verdient, einen solchen zu garantieren. E s ist ein Gelegenheitsge--
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setz, das sich erst in der Praxis zu bewähren hat. Aber immer ein Schritt vorwärts auf der Bahn reformierender staatlicher Lohnpolitik. — Weitere ähnliche Schritte sind in verschiedenen Staaten in Vorbereitung. Natürlich hat es bei all diesem Vorgehen der Gewerkvereine, der Einigungsämter, der Lohnämter, der Kommunen und Regierungen an Mißgriffen und Klagen der Unternehmer, zumal im Anfang, nicht fehlen können. Aber mehr und mehr sind die größten und vernünftigsten Unternehmer für diese Reformen gewonnen worden. Die öffentliche Meinung kontrolliert alles derartige; Lohnerhöhungen gegen die Marktlage durchzusetzen, wird auch den stärksten Gewerkvereinsorganisationen immer schwerer. Die berechtigten Klagen in Australien gehen nicht gegen die Löhne der Lohnämter oder die Schiedsgerichte, sondern gegen den Zwang, nur Unionisten anzustellen und ähnliches. Bei allen Lohnfestsetzungen der Tarifverträge, der Einigungsämter, wie bei den Minimallöhnen kommunaler und staatlicher Behörden und Lohnämter handelt es sich natürlicherweise nicht um ein oder ein paar Sätze, die unterschiedslos auf die verschiedenen Arbeiter des Berufs angewandt werden sollen, sondern um lange Tarife von Zeitund Stücklöhnen, mit Zuschlägen nach Orts- und Preisverhältnissen; sie sind schematisch untereinander abgestuft, wie die Besoldungen der Staats-, Gemeinde- und Aktiengesellschaftsbeamten. Aber immer wieder erhebt sich doch der falsche Vorwurf, die Sätze sollten schablonenhaft auf verschiedene Arbeitskräfte angewandt werden; schwächere Arbeitskräfte würden durch sie ausgeschlossen, da sie dem Durchschnitt der Leute oder gar den besseren Arbeitern angepaßt seien. Einige Goldbergwerke in Westaustralien hätte man wegen der festgesetzten Lohnsätze verlassen müssen; hausindustrielle Betriebe seien eingegangen. Gewiß kann derartiges an einzelnen Punkten eintreten und als nachteilig empfunden werden; aber einerseits hat man immer, wie erwähnt, Ausnahmen zugelassen, andererseits ist die Beseitigung parasitärer Industrie erwünscht, wie die Verdrängung der ganzen Schmutzkonkurrenz. Die besten australischen Unternehmer vieler Branchen betonen heute, daß diese Reformen allerlei Fortschritte, wie ununterbrochene Beschäftigung, Regelung der Bezahlung für Überstunden, Regulierung der Lehrlingszahl und ihrer Bezahlung gebracht hätten (Schachner); die Unternehmer sähen ein, daß kürzere Arbeitszeit und bessere Löhne meist zugleich bessere Produktion und stärkeren Absatz bedeuteten.
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e) W i r sind am Ende unserer lohntheoretischen Untersuchung. W a s lehrt sie u n s , welchen Ausblick eröffnet sie? Vom 13. bis i n s 19. Jahrhundert sind die oberen Klassen emporgestiegen; die mittleren teilweise auch, teilweise stillgestanden. A u s ihnen entstand nach und nach der moderne Lohnarbeiterstand auf Grund des Lohnvertrags: die Institution konnte zuerst nur eine unvollkommene sein; die Löhne sind vielfach und lange gesunken : die Leistungsfähigkeit nahm teilweise ab, die Lebenshaltung sank zeitweise, d a s Volk schied sich im 19. Jahrhundert da und dort in zwei feindliche, sich bekämpfende Hälften. Aber a u s Not und Elend entsprang neben der Entartung und dem Siechtum die Reaktion dagegen, die wissenschaftliche und praktische Erkenntnis; es entstanden falsche und wahre Theorien, an letztere anschließend auch gesunde Reformen: die Reform des Armenwesens setzt ein; die Blütezeiten der Volkswirtschaft, ihrer Technik und ihrer Organisation heben alle Klassen, auch die untersten, die Arbeiter. Allerlei neue soziale Einrichtungen entstehen; die Epochen der Lohnhebung, der Verbesserung der Lebenshaltung werden häufiger und länger. — Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt sowie die Lohnhöhe werden zunächst in grober Weise durch die großen elementaren Tatsachen der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung, durch die Bevölkerungsbewegung, die politischen Schicksale beeinflußt und bestimmt. A l s unüberwindliche Mächte erscheinen zeitweise diese Ursachenreihen; man zweifelt, ob Menschenwitz und Politik da viel eingreifen könne. Die ungünstigen Epochen des Lohnes werden a l s Naturprozesse betrachtet. Aber diese Schicksalsmächte sind zeitweise auch den Arbeitern günstig. Und noch günstiger sind ihnen die neuen Institutionen des Arbeiterschutzes, der Arbeiterversicherung, der Arbeiterorganisationen. Neben den törichsten, extrem sozialistischen und klassenkämpferischen Theorien und Versuchen erhebt sich das ganze System der sozialen Reform, d a s staatliche Verantwortlichkeitsgefühl, d a s begreift, daß die ganze innere, moralische, geistige und technische Hebung des Arbeiterstandes die Voraussetzung der dauernden Besserung unserer sozialen Zustände sei, daß höhere Löhne allein es nicht machen. Reform unserer ganzen sozialen Institutionen und Hebung der ganzen unteren Klassen auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnis hygienischer, pädagogischer, sozialer Art, das ist die Losung, die heute siegen wird. Die Hebung der Menschen und die Verbesserung der
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sozialen Institutionen muß Hand in Hand gehen. Wir fügen darüber noch einige Worte bei. Die Eingewöhnung der noch halb an der Naturalwirtschaft klebenden Arbeiter in die Geld- und Kreditwirtschaft ist ein so schwieriger Prozeß, daß ein großer Teil daran zunächst scheitern mußte, daß sehr viele Arbeiter zunächst zu einem Objekt der schädigenden BeWucherung herabsinken mußten. Aber sie lernten doch nach und nach überlegen, zählen und rechnen, dank der Volksschule, dank der Verbesserung der Kreditgesetze und der Entstehung von Kreditorganen, die ihnen angepaßt wurden, wie Sparkassen, Konsumgenossenschaften, Kreditvereine. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht war eine Hauptstütze der Besserung; aber wie langsam entstand ein gutes staatliches Schulwesen; in Deutschland noch am frühesten, in Frankreich erst unter Guizot in den 30 er Iahren, in England erst vor einem M e n schenalter Diese große Institution und ihre gute Durchführung war die Hauptsache für die geistige Hebung. Die Menschen wurden andere nach allen Seiten; freilich nicht bloß hierdurch, sondern auch durch andere Ursachen; aber sie wurden eben nach und nach fähig für die Eingliederung in die Geld- und Kreditwirtschaft. Ihre Leistungsfähigkeit stieg weiterhin durch die viel später als die Volksschule einsetzenden Fortbildungs-, Gewerbe-, landwirtschaftliche Schulen. Die ungelernten Arbeiter wurden fähig, angelernte zu werden; die Eltern konnten mehr Kinder den gelernten Berufen zuführen. D a s Familienleben anch dieser Kreise hob sich, auch in sie drang ein Strahl des neuen pädagogischen Lichtes. Weiterhin war es ein besseres Wohnwesen; es schuf nach nnd nach andere, höherstehende Menschen; aber dazu gehörten allerlei wohnpolitische Maßnahmen und Institutionen. Die allgemeine Wehrpflicht ist zugleich ein großes Erziehungsinstitut für die ganze Nation; unser deutscher Unteroffizierstand wird durch allen möglichen Unterricht gehoben; viele Tausende aus ihm gehen wesentlich gehoben jährlich ins praktische Leben über. Wir können hier nicht alle neuen Institutionen, die auf die Hebung der unteren Klassen wirken, erschöpfen; auf einige besonders wichtige kommen wir im nächsten Kapitel, eben wegen ihres engen Zusammenhanges mit der inneren Hebung der arbeitenden Klassen, nämlich auf das Armen- und Niederlassungs-, auf das Arbeiterversicherungswesen, auf den Arbeitsnachweis und die Arbeitslosenversicherung, auf die Gewerkvereine auf das Einigungswesen und die Arbeiterschieds-
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gerichte. Die Lohnpolitik der Gewerkvereine, der Gemeinden und des Staates haben wir eben schon als Mittel der Lohnerhöhung oder -stabilisierung betrachtet. Neben diesen sozialen Institutionen ist noch an die politischen Veränderungen des letzten Jahrhunderts zu erinnern. Der Arbeiter, der lesen, schreiben, rechnen gelernt, begann Zeitungen zu lesen, er erhielt Wahl-, Vereins-, Versammlungsrecht. Die neuen politischen Rechte hoben sein Selbstgefühl; die Arbeiter organisierten sich wirtschaftlich und parteipolitisch; sie wurden eine Macht. S i e haben diese Macht unter falscher Führung da und dort viel und stark mißbraucht; aber ohne diese politischen Freiheiten wäre auch ihr sonstiger geistiger Aufstieg nicht möglich gewesen. Die Berufsvereine der Arbeiter wurden zugleich eine moralische und wirtschaftliche Erziehungsschule derselben; sie wurden ein Widerstandsmittel gegen Lohnherabsetzung, ein Kampfmittel für höhere Löhne; mögen sie im einzelnen noch so oft gesündigt und auch geschadet haben, sie waren unvermeidlich. S i e haben die Gegenverbände der Unternehmer und schwere soziale Kämpfe erzeugt. Aber in Summa ist mit diesen Kämpfen auch erst ein klarer Überblick über Angebot und Nachfrage entstanden und damit sind die Wege der Reform auf gerechten Lohn gewiesen worden. Damit hat sich eine andere Wirkung des Angebots und der Nachfrage aufeinander ausgebildet; erst nun konnten langsam die neueren sozialen Friedensinstitutionen sich entwickeln, zum Heile der Unternehmer und der Arbeiter. — Jede Hebung der Löhne ist dann nicht bloß heilsam für den Arbeiter, sondern auch für die Gesamtheit, wenn sie verknüpft ist mit wachsender Leistungsfähigkeit, höherer Lebenshaltung, innerem Fortschritt in den betreffenden Kreisen. Lohnsenkungen sind in rückgängigen Volkswirtschaften nicht zu vermeiden: auch in stabilen oder fortschreitenden können sie zeitweise vorkommen; sie werden aber vorübergehender Art sein und in dem Maße, a l s vollkommenere soziale Institutionen vorhanden sind, als der Arbeiterstand einigen Besitz hat, richtig organisiert ist, werden sie erträglicher sein als sie es früher waren. Die Erkämpfung höherer Löhne und besserer sozialer Institutionen wird nirgends ganz leicht und glatt gelingen, auch nicht, ohne das der Kampf auf das politische Gebiet übergreift, von den politischen Parteien, ihren Herrschaftstendenzen beeinflußt wird. I n der Gegenwart ist dieser Kampf stets zugleich ein solcher um eine gewisse Demokratisierung des Staates und der Volkswirtschaft geworden.
Literatur.
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W i r d der soziale Kampf u m Lohn und Einkommen aber ein a u s schließlich politischer, g e w i n n e n dabei die utopischen Hoffnungen d e s R a d i k a l i s m u s und der Sozialdemokratie die Oberhand, so kann er mehr schaden a l s nützen, durch dauernde S t ö r u n g d e s sozialen Friedens, durch vorübergehende revolutionäre S i e g e , durch systematische M i ß h a n d l u n g und A u s b e u t u n g der höheren Klassen. Diese Entartung des K a m p f e s erzeugt dann starke Reaktionen, wird leicht eine einseitige Klassenherrschaft des großen Kapitals unter der M a s k e der Demokratie, eventuell der Diktatur willensstarker T y r a n n e n herbeiführen. Daher wird man jedenfalls für Deutschland behaupten können: die I n i t i a t i v e zur sozialen R e f o r m liege besser in den Händen einer weitblickenden Monarchie mit einem gesunden, hochstehenden B e amtentum, das, über den kämpfenden Klassen stehend, mit ihnen u n d den politischen P a r t e i e n im P a r l a m e n t durch geschicktes Paktieren die rechten Institutionen schaffen kann.
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Z w e i t e s Kapitel.
Die wichtigsten neuen sozialen Institutionen. I. Das Armenwesen, seine Entstehung und allgemeine Bedeutung. Zur Ergänzung dessen, was wir im letzten Kapitel über das Arbeitsverhältnis und den Arbeitslohn ausgeführt haben, müssen wir jetzt die wichtigsten sozialen Institutionen, welche die Entwicklung und die ganze Zukunft des Arbeiterstandes mitbestimmen, ins Auge fassen. Zuerst das Armenwesen. E s hat sich als soziale Institution langsam und spät entwickelt. I n den Zeiten primitivster Kultur hat in der Regel die Mutter für die unerwachsenen Kinder gesorgt; später das Elternpaar. Wie man in alter roher Zeit alle überflüssig erscheinenden Kinder tötete, so hat man die Alten umgebracht, dahinsterbende Kranke auf den Wanderzügen sich selbst überlassen. Die wirtschaftliche Fürsorge war lange eine überwiegend individuelle. Der rohe Naturmensch ist mitleidslos und unbarmherzig. Es bedeutete einen großen sozialen Fortschritt, daß mit der Entstehung der Gentilverbände und der patriarchalischen Familie wohl in Zusammenhang mit dem Hackbau, der Viehzähmung, dem Ackerbau und anderen technischen Fortschritten soziale Gruppen entstanden, deren sympathische Gefühle stark genug, deren Mittel reich genug waren, um naturalwirtschaftliche Fürsorge für alle Glieder der Gens oder der Familie im Falle von Krankheit und Not eintreten zu lassen. Die in dieser Zeit in Sippe und Familie entstandenen Sitten der gegenseitigen Unterstützung haben sich auch auf die kleinen agrarischen Gemeinden und Genossenschaften der Folgezeit sowie auf die Grundherrschaften als vergrößerte Familien, dann auch auf die Gilden und Zünfte als die Nachbildungen der Gentilverbände, endlich auch da und dort auf kleinere Stämme und primitive Staatsgebilde bis auf einen gewissen Grad übertragen. Das gemeinsame Grundeigentum, wie die theokratische Vorstellung von einem Eigentum Gottes, das allen — also auch den Armen - zugute kommen müsse, die religiösen Vorschriften über Armenunterstützung, wie sie bei den höheren Rassen schon in den Zeiten einfachen nomadischen und agrarischen Lebens sich ausbilden, sind mit eine Folge der damaligen Geschlechtsverfassuug, ihrer Gefühle und Vorstellungen, ihrer ganzen sozialen Einrichtungen.
1. Das Armenwesen, seine Entstehung und allgemeine Bedeutung.
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Dabei ist aber nicht zu vergessen, daß es nur innerhalb der Familien und kleinen Verbände eine Unterstützung in Krankheit und Not gab, und zwar meist um den Preis gänzlicher Unter- oder Einordnung der einzelnen in sie. Immer lösten sich viele von ihnen aus Familie und Verband ab oder wurden ausgestoßen; ganze Abteilungen wurden immer wieder, wie im vsi- saerum der Römer, hinausgeschickt, sich selbst eine Existenz zu erkämpfen oder unterzugehen. Und die größeren, höher entwickelten Gemeinschaften, die Gemeinde- oder Kantonstaaten, noch mehr die größeren Staaten, wenn sie eine oder mehrere Millionen Seelen umfaßten, waren nicht mehr von gleich starken Gemeingefühlen beherrscht, hatten weder die Mittel noch die Einrichtungen, für die nicht von den Ihrigen unterstützten Armen, Kranken, Alten, Verwitweten, Waisen und Arbeitslosen zu sorgen. S o entstand in dem Maße, wie die Gemeinwesen größer und komplizierter wurden, wie die alte patriarchalische Familie, die alten kleinen Verbände sich lockerten und auflösten, wie die Naturalwirtschaft zurücktrat und die Geldwirtschaft vordrang, die Klassengegensätze stiegen und die Bevölkerung wuchs, ohne daß sofort die entsprechenden technischen und organisatorischen Fortschritte der Volkswirtschaft und der Staatsverfassung das Wachstum begleiteten, ein Massenelend, das uns im Altertum wie in der neueren historischen Entwicklung in bestimmten Staaten und Zeiten fast erschreckend entgegentritt. Wo es solchen Umfang erreicht hat und zum allgemeinen Bewußtsein gekommen ist, da ist von Armut im heutigen Sinne die Rede; das heißt, da gibt es zahlreiche Menschen, welche sich weder selbst mehr erhalten können, noch von ihren Verwandten und nächsten Genossen unterhalten werden, da fühlen sich die Armen als Klasse, als Stand durch die bewußte Gemeinsamkeit ihres Elends. Da entsteht das Problem, sie unschädlich zu machen und zu unterstützen, und in irgendwelcher Form tritt die Forderung hierzu an die Wohlhabenden, an die Organe der Kirche, der Gemeinde, des Staates heran, für die Bettelnden zu sorgen, sie ohne Gegenleistung zu unterstützen. Die Armut ist ohne Zweifel in den größeren reich gewordenen antiken Staaten nach dem Siege individualistischer Wirtschaftsinstitutionen noch viel größer gewesen als in den neueren vom 14. Jahrhundert an bis in das 19. Man hatte im Altertum noch nicht die Gegengewichte und Einrichtungen, wie sie in den letzten Jahrhunderten sich entwickelten. Freilich, wo ein solches Massenelend als Klassenerscheinung auf-
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2. Buch. Der heutige Arbeiterstand. 2. Kap. Die neuen soz. Institutionen.
trat, mußten nach und nach Gegenbewegungen entstehen. E s erwuchs erst in kleineren, dann in weiteren Kreisen das Mitleid; es entstanden Versuche aller Art, der Not zu steuern. Wir sehen z. B. in Athen Ansätze zu einer Armenpflege für die Vollbürger, wir sehen in vielen antiken Städten die Kolonisation sich mit der Fürsorge für die ärmeren Bürger verbinden; wir sehen die römischen Aristokraten und den Prinzipat geschäftig, für billiges Brot oder gar für kostenlose Ernährung der Armen, wenigstens in den Hauptstädten, zu sorgen. Seit Kaiser Nerva begegnen wir Stiftungen zur Erziehung armer Kinder. Bei den Juden wird früh die Barmherzigkeit gepriesen, und das nachexilische Judentum hat das Almosengeben ausgebildet, das auf das Christentum übergeht. Dieses hat die Pflicht der Armenunterstützung am tiefsten erfaßt; es hat in den Zeiten der sich auflösenden egoistischen antiken Welt mit der ganzen Wucht seiner sittlichen Überzeugung diese Pflicht gepredigt und sie auch in den ersten kleinen Christengemeinden praktisch in glücklicher Weise durch die Diakonentätigkeit in sorgfältiger Individualisierung durchgeführt. Nachdem freilich das Christentum Staatsreligion geworden war, hat es zwar mit Energie an dem Gedanken, für die Armen zu sorgen, festgehalten; es wurde verfügt, daß ein Drittel oder ein Viertel des kirchlichen Einkommens zur Armenpflege verwendet werde; der ganzen Folgezeit christlicher Kultur wurde das Prinzip der Armenpflege so überliefert. Aber die Durchführung geschah schon im römischen Reiche in einer Weise, die fast mehr zur Förderung als zur Linderung der Armut beitrug. Die vergrößerten Gemeinden fanden in ihren Bischöfen und übrigen Klerikern nicht mehr die brauchbaren Organe wie ehedem. Tausende und Abertausende von Armen wurden ohne rechte Kritik und individuelle Untersuchung in die kirchlichen Armenlisten eingetragen. E s entstanden große Stiftungen, Armen-, Waisen-, Krankenhäuser, kirchliche Brotverteilung und ähnliches, wozu man sich drängte. Die bessere Ordnung des Armenwesens! durch Karl d. Gr. hatte keinen Bestand. Immerhin reichte im älteren Mittelalter die Unterstützung auf Grund des Gedankens der Solidarität aller Christen vor Gott durch Familie, Sippe, Gilde, Wirtschafts- und Herrschaftsverband, sowie die Tätigkeit der Kirchen und Klöster einigermaßen aus. Vom 13. und 14. Jahrhundert an erlahmte aber die Tätigkeit der Kirche; die alten Verbände lösten sich auf; privates und kirchliches Almosengeben wurde ungeregelter, vermehrte die Bettlerscharen stärker als sie zu vermindern. Vom 14. bis 16. Jahrhundert werden
1. Das Armenwesen, seine Entstehung und allgemeine Bedeutung.
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die herumziehenden Scharen der Unbeschäftigten, der Bettler und Räuber zu einer wahren Landplage. Die vordringende Geldwirtschaft verminderte die Zahl der naturalwirtschaftlich Gesicherten. Die innere Kolonisation war zum Abschluß gekommen; wir hören immer mehr von der Übersetzung des Handwerks, der Schließung der Städte und Dörfer, von der Zunahme der Armut. Die weltlichen Gewalten, die emporkommenden Königs- und Fürstengeschlechter, die Räte der großen Städte müssen sich der Frage annehmen, sie verhandeln mit der Kirche, suchen deren zersplitterte Einrichtungen zu übernehmen. Die weltlichen Verwaltungsmaßregeln, Gesetze und Anstalten dringen vor. Meisterhaft z. B. sind die Ordnungen Augsburgs von 1459—1512. Hier waltet der Geist Conrad Peutingers: Verhinderung des Bettels, Konzentrierung aller städtischen Armenstiftungen, Kontrolle aller Unterstützten wird erstrebt; gediegene Sachkenntnis und realistische Kommunalpolitik beherrscht diese Ordnungen. I n blühenden großen, gut regierten Städten wie Augsburg hatte man noch einen klaren Überblick über die Menschen und die Verhältnisse; man verstand die verschiedenen Hilfen, die man als Almosen bezeichnete, richtig ineinander zu passen: Darlehen an arme Handwerker, Getreideabgaben aus den städtischen Speichern zur Teurungszeit, Arbeitsbeschaffung für Beschäftigungslose, kleine geheim gehaltene Gaben an verschämte Arme, offene Geldund Naturalunterstützung an die notorisch Verarmten; man untersuchte alle Fälle und führte genau Listen. Mehr und mehr ist es das weltliche Regiment — statt der Kirche, — das sich der Armenreform in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, England bemächtigt. Die geistige Führung haben die die Scholastik bekämpfenden Nominalisten in P a r i s und jener Humanismus, der seinen Höhepunkt in Erasmus und in dem großen Humanisten I . L. Vives hat; dieser wurde, in den Niederlanden und England, in Oxford und am Hofe Heinrichs VIII. lebend, mit seiner S c h r i f t äo Subvention« paupsrum (1326) der größte Sozialpolitiker
und Pädagoge seiner Zeit. Die Armenordnungen der größten niederländischen Städte sind sein Werk; ebenso die belgisch-niederländische Armenordnung Karls V. von 1331; auf einzelne deutsche Städte und Länder wirkte er durch seine Anhänger Bugenhagen, Hedion, Rhegius. Wo Luther und sein Geist vorherrschte, fehlte der Sinn für diese Reformen, während der Kalvinismus gerade für die sozialen Fragen Verständnis hatte und in seinen Diakonen richtige Organe der Armenpflege auszubilden verstand. Wo die katholische
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Reaktion mit dem Tridentinum siegte, wurden die bis 1548 erreichten Reformen rückgängig gemacht; so wird die belgische Armenordnung Karls V. (1556) aufgehoben; mit Leidenschaft versuchte man die kirchliche Armenpflege wiederherzustellen, die weltliche zu beseitigen. M i t dem Erfolg, daß die Übelstände des Mittelalters neu auflebten, daß Bettel und schlecht verwaltete Hospitäler die Signatur der Arml'nvzrwaltung bestimmten. Die seit dem 14. Jahrhundert vordringenden Bettelverbote wurden 1550—1600 als schlechte Erfindungen des Protestantismus verdächtigt. Und doch drang der Grundgedanke der großen Zeit von 1450 bis 1550, der Grundgedanke der großen Humanisten und Gesetzgeber dieses Jahrhunderts mit der Zeit immer wieder durch. Zunächst mehr in den protestantischen, als in den katholischen Staaten: neue einheitliche weltliche Staatsgesetzgebung über die Armenpflege, möglichste Übertragung der Ausführung an die Gemeinden, Einführung von Armensteuern, soweit Stiftungen und freiwillige Beiträge nicht reichen. Der Zweck ist nicht mehr, durch Almosengeben das Seelenheil zu fördern, sondern durch richtig gewährte, die Armen möglichst hebende Unterstützung die äußerste Not zu beschwören, die Unbeschäftigten, aber Arbeitsfähigen zu Arbeit und Verdienst zu bringen. Freilich blieb das Problem in sittlicher, wirtschaftlicher und administrativer Hinsicht so unendlich schwierig, daß die bestgemeinten Versuche, wie z. B. die englische Armengesetzgebung von 1572 bis 1834 zeigt, teilweise mehr schadeten als nützten, daß man sich von 1650—1850 oftmals fragte, ob nicht besser alle Staats- und Gemeindearmenpflege durch ein System freiwilliger Gaben ersetzt werden solle. Vor allem Malthus hatte seine gewichtige Stimme gegen alle Staatsarmenpflege erhoben: sie erzeuge ungesunde proletarische Volksvermehrung, Trunk, Frechheit und Faulheit. An ihre Stelle sollen freiwillige Gaben treten, gegeben durch edle Menschenfreunde, welche persönlichen Einfluß gewännen; man sehe in Schottland, wie viel besser das wirke als in England die Staatsarmenpflege. Solche Gedanken paßten in das System des ökonomischen liberalen Optimismus des 18. Jahrhunderts. Sie siegten aber auch in England nicht, sondern schufen nur die große Armengesetzreform von 1834 bis heute.. Die Opposition gegen die staatlich-gemeindliche Armenpflege von 1600—1850 war natürlich, weil die Schwierigkeit des Problems zu groß war, sie zu bewältigen: an Tausende und Hunderttausende von Armen sollten unvollkommene Organe schematisch Armenunterstützung
I- Das Armenwesen, seine Entstehung und allgemeine Bedeutung.
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geben; der gemeinde-bureaukratische Apparat war lange so roh und so unvollkommen, wie früher der kirchliche. E s gelang unendlich schwer Hilfe zu geben, die zugleich erzog und erhob; so wie sie gegeben wurde, raubte sie leicht die Selbstachtung, drückte den Empfänger noch tiefer hinab. Der Apparat reichte so wenig aus. daß kirchliche und private Unterstützung im weitesten Umfang sich daneben erhielt und so ein falsches Neben- und Gegeueinanderwirken der verschiedenen Organe entstand. Vor allem war aber die rechtliche Ordnung darüber, welche Gemeinde den einzelnen Armen zu unterstützen habe, so schwer richtig zu treffen, daß ihre UnVollkommenheit vielfach ebensoviel oder mehr schadete, wie die Armenunterstützung nützte. Erst im Laufe der letzten hundert Jahre ist es gelungen, einigermaßen über diese Schwierigkeiten Herr zu werden. I n den gut regierten protestantischen Staaten hat die staatliche Ordnung des Armenrechts und die Ausführung durch die Gemeinden Hand in Hand mit der Verbesserung im einzelnen sich bis heute erhalten. I n den katholischen Staaten mit kirchlicher und freiwilliger Organisation hat man sich (wie in Frankreich und Italien) der deutschen und englischen Ordnung des Armenwesens im 19. Jahrhundert immer mehr genähert. M a n kann so zusammenfassend sagen: mehr und mehr habe sich 1300—1900 die staatlich geordnete Armenpflege der Kulturstaaten entwickelt; sie bilde heute einen wichtigen Bestandteil der sozialen Ordnung, wie der Volkswirtschaft und der Staatsverwaltung; sie habe die privatrechtliche Unterstützungspflicht der Verwandten und Dienstherren so wenig beseitigt, wie die kirchliche, vereinsmäßige und private Armenunterstützung; aber sie habe doch überall große staatliche Gesetze und Einrichtungen zum Kern und Mittelpunkt des Armenwesens gemacht. Die heutige Armenpflege kann definiert werden als die große wirtschaftliche und rechtliche Institution, als die Summe zusammengehöriger, t^ils freigesellschaftlicher, t e i l s staatlicher Einrichtungen, welche den Zweck haben, die Verarmten ohne Gegengabe durch Unterstützungen vor der äußersten N o t zu bewahren, und zwar in der Weise, daß die aufgebrachten Mittel vom Armen nicht als sein klagbares Recht gefordert, sondern ihm von den gesellschaftlichen Organen als eine humane und öffentliche Pflicht dargereicht werden und so, daß immer mehr Staat und Gemeinde mit ihrer öffentlichen Armenpflege nach festen Verwaltungsgrundsätzen eintreten und der freien Privat-, Vereins- und kirchlichen Armenpflege nur noch bestimmte ergänzende Funktionen
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2. Buch. Der heutige Arbeiterstand. 2. Kap. Die neuen soz. Institutionen.
überlassen. Die Gemeinde und die ihr zunächst übergeordneten Selbstverwaltungsorgane sind die Hauptträger der Armenpflege, der Staat aber ordnet rechtlich die Ansprüche und die Organe und tritt für einzelne Zwecke ganz, für andere unterstützend ein. — M a n hat, um die neuere Institution des Armenwesens zu rechtfertigen, sich bemüht, verschiedene allgemein theoretische, rechts- und wirtschaftsphilosophische Gründe anzuführen; z. B. daß der Staat das Eigentum nur schützen, die Rechtsordnung nur aufrechterhalten könne, wenn er jeden vor äußerster Not bewahre, daß er so das zu geringe Einkommen der unteren Klassen ergänzen müsse, daß gegenüber Zufällen und Schicksalsschlägen die Gesellschaft die Pflicht einer Gesamthaftung habe, daß die unteren Klassen das Recht auf Existenz hätten. Solche Theorien sind nicht falsch, aber sie sagen nicht mehr, als daß im heutigen Staate und in der heutigen Volkswirtschaft eine den wirtschaftlichen Zusammenhängen entsprechende soziale und staatliche Verpflichtung zur Armenhilfe vorhanden sei. Als historische Ursache der Armenpflege hat man das Christentum und die Reformation genannt, als wirtschaftliche die moderne Produktionsweise; auch das ist nicht falsch, aber zu generell, so daß nur eine konkrete Ausführung die volle Wahrheit enthüllt. Wir haben in den einleitenden Worten schon unsere Ansicht über die Ursachen angedeutet. Wir vervollständigen das Gesagte kurz mit einigen Worten. Die christliche Weltanschauung ist der sittliche Boden, auf dem das Armenwesen der westeuropäischen Kulturvölker sich entwickelte; der Bankerott des mittelalterlichen gedankenlosen Almosengebens und die Bettlerplage bilden den Anstoß zu den Reformen, die seit 1500 Platz griffen. I n den seit 1500 sich bildenden einheitlichen Staaten und Marktgebieten mußte, weil eben jetzt das Elend so stieg, weil es aus den immer enger sich knüpfenden sozialen Zusammenhängen, aus der komplizierter werdenden Gesellschaftsverfassung entsprang, weil auf Gemeinde und Staat damals mancherlei bisher kirchliche Pflichten übergingen, zumal in den protestantischen Staaten, die moderne, durch Gesetze geordnete weltliche Armenpflege entstehen. Die wirtschaftliche Nötigung zu ihr aber lag in den damaligen großen Fortschritten der Arbeitsteilung, der Geldwirtschaft, in dem Zurücktreten der Natural- und Eigenwirtschaft der Familie. > Damals begannen sich die gesellschaftlichen Kreise zu bilden, die von einem reinen Geldeinkommen leben sollten, das aber nicht regelmäßig war und nicht regelmäßig sein konnte: die Heimarbeiter, die Tagelöhner, die Söldner,
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spater die Manufaktur- und Fabrikarbeiter. Sie verloren die alte Eingliederung in die naturalwirtschaftlichen Sippen-, Familien-, Gemeinde- und grundherrlichen Verbände; sie waren noch lange nicht fähig, für die Zeiten des mangelnden Geldverdienstes zurückzulegen. Wirtschaftliche Umwälzungen, wie das Bauernlegen, die Entstehung der neuen gewerblichen Betriebsformen, die Folgen des neuen Verkehrs, trafen sie unvorbereitet; noch halb naiv und gedankenlos, halb roh und wirtschaftlich unerzogen, dem Tage lebend, sanken sie in der neuen Wirtschaftswert zunächst eher herab, als daß sie stiegen; Trunkund Genußsucht, Spielsucht und Faulheit nahmen in diesen Kreisen erschreckend zu. Das Leben vom Tag zum Tage blieb das alte, während die neue Wirtschaftsverfassung Vorsorge für Wochen, M o nate, Jahre forderte. Das Wesentliche war, daß die unteren Klassen die Lebensgewohnheiten und Sitten, welche die Voraussetzung leidlicher wirtschaftlicher Existenz in der neuen Geldwirtschaft waren, noch Generationen und Jahrhunderte lang nicht so erlernten wie die Mittelund oberen Stände. S o verfielen immer wieder nicht bloß Einzelne, sondern erhebliche Teile ganzer Gesellschaftsklassen leicht in dem gesteigerten Daseinskampfe jener äußersten Not, welche zu Versuchen geordneter Armenpflege nötigte. E s ist lehrreich, daß noch die beste neuere Statistik über den sozialen Stand der Verarmten, die schwedische von 1834—1885, uns zeigt, wie wenige Personen des Bauernstandes bis herab zu den kleinen Häuslern der Armenpflege verfallen, wie die reinen Geldlohnarbeiter die acht- bis zehnfache Zahl der übrigen Klassen zum Heer der Armenunterstützten stellen. Jede Ansässigkeit, jede Eigenwirtschaft macht die Verarmung unwahrscheinlicher. E s war der erste Eintritt in die moderne Wirtschaftsverfassung, der die Bettlerheere, das Lohnsinken und die Entstehung der öffentlichen Armenpflege im modernen Sinne zwischen 1500 und 1650 schuf. E s war natürlich, daß der volle Eintritt in diese Wirtschaftsverfassung von 1750—1900 die Armut noch mehr steigerte, aber auch die armenpflegerifchen Reformen zu einem gewissen Abschluß brachte, die von 1650—1800 gestockt hatten, ja eine Reihe von Institutionen (wie Sparkassen-, Genossenschafts-, Versicherungs-, Arbeitervereinswesen) begründete, die über die öffentliche Armenpflege hinausführten. E s war jetzt erst das volle Verständnis erwachsen, daß die öffentliche Armenpflege in ihrem bureaukratisch-kommunistischen Charakter Schattenseiten habe, die bekämpft werden müßten, daß die Erziehung, die moralische und geldwirtschaftliche, den unteren Klassen
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allein dauernd Besserung bringen, die Quellen der Massenarmut verstopfen könne. Vom Standpunkt dieses historischen Überblickes verstehen wir auch einigermaßen die zahlenmäßigen Nachrichten über die unterstützten Armen zu verschiedener Zeit, in verschiedenen Ländern und Landesteilen. I n England war die Zahl schon im 16. Jahrhundert sehr groß wir wissen, daß sie von 1650—1700 noch stieg, von da bis 1750 sank, um dann gewaltig anzuwachsen, bis 1803 auf 12 »/o der Bevölkerung, 1815 bis auf 15 o/o; dann trat der Rückgang bis 1842—1846 auf 8 o/o. bis 1906 auf 2,7 o/o (1901—1905 713 208 Personen) ein. während in Irland 1891—1895 nur 2,25, in Schottland 2,31 gezählt wurden, in Irland 1871—1875 gar nur 1,46; das reichere England hat trotz seiner großen Armenabgabe noch mehr Arme als die anderen ärmeren Königreiche, die eben nicht so dicht bevölkert und nicht so in die heutige Geld- und Weltwirtschaft verflochten sind. I n Frankreich zählte man 1881- 1885 3,98, 1894 4,49 o/o, in dem viel ärmeren Österreich 1881—1885 nur 1,20 o/o. I n den Niederlanden hat dichte Bevölkerung, früherer großer Reichtum und ein starker Rückgang 1750—1815 sowie ein Übermaß von Armenstiftungen es gegen 1800 dahin gebracht, daß in den größeren Städten 17, 25, ja 50 o/o der Einwohner irgendeine Armenunterstützung bekamen, während die Zahl für das ganze Land sich neuerdings dort auf 5,30 o/o ermäßigte. Norwegen zählte 1895 8,3, Schweden 5,2, Dänemark 1890 3,39, die Schweiz 1870 4,3,1890 3,7 o/y Arme. I n Preußen war die Zahl sicher bis 1840 viel niedriger, dann aber stieg sie in den ungünstigen Iahren 1846—1849 auf 5 o/o (776 822). Nach der deutschen Reichsarmenstatistik von 1885 zählte man auf 46,8 Millionen Seelen 886571 direkt und 705815 Mitunterstützte, zusammen 1,59 Millionen oder 3,4 o/o; in Preußen waren es 3,3, in einigen der kleinen Staaten 1,7, in den Städten über 100 000 Einwohner 6,91 (Hamburg 9,6, Straßburg 12,1 Metz 15,9), in den ländlichen Gemeinden nur 2,16 o/o. Gewiß bleibt fraglich, ob diese Zahlen alte vergleichbar sind, ob sie, auch aus demselben Staat und derselben Zeit stammend, nicht wegen verschiedener Reichlichkeit der Unterstützung mehr auf die Unterschiede der Armenpflege hindeuten als auf Größe der Armut. Ein ungefähres Gesamtbild geben sie aber doch. Und es vervollständigt sich, wenn wir hinzufügen, daß einige neu kolonisierte Staaten der nordamerikanischen Union noch gar keine Armen, der Staat Neuyork aber schon eine sehr hohe Armenziffer, die Oststaaten neuerdings zeitweise förmliche Bettler- und Vagantenheere hatten, welche vorübergehend
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zu einer ebenso schlimmen Gefahr wurden wie die der europäischen Staaten im 16. Jahrhundert. Die Armeneinkünfte des Staates Neuyork wurden 1895 auf 3 M i l lionen Dollar für die öffentlichen und 14 Millionen für die privaten Anstalten beziffert, auf 4 Dollar zusammen pro Kopf angegeben; ein Berichterstatter glaubt, es seien mit der privaten Wohltätigkeit 6, das heißt 25,2 Mark pro Kopf der Bevölkerung. Die englische Armensteuer zeigt folgende Bewegung: 1750 0,5 Millionen L, 1801 4,0. 1818 7,8, 1860 5,4,1891—1895 9,2; der gesamte öffentliche Armenaufwand war 1871-1875 durchschnittlich 12 Millionen, 1901-1905 28 Millionen L, mit der privaten Tätigkeit sicher über 40, das heißt 560 beziehungsweise 800 Millionen Mark. Für Frankreich werden 1885 184 Millionen Franken als Ausgabe der Armenanstalten angegeben, wovon auf die Spitäler 111, auf den Staat 7,5, die Departements 43,4, die Gemeinden 28,3 Millionen Franken fielen. I n Italien gaben 1880 die Opere pie 135, die Provinzen 20 und die Gemeinden 63 Millionen Lire für die Armen aus. I n Schweden wurden 1884 auf 4,6 Millionen Einwohner 9—10 Millionen Kronen (gleich 10—11 Millionen Mark) Armenaufwand berechnet. Für den überwiegenden Teil Deutschlands, welcher dem Gesetz von 1870 über den Unterstützungswohnsitz untersteht, beträgt der öffentliche Armenaufwand 1885 78 Millionen Mark, für das Reich 92,4 Millionen Mark; es dürften heute sicher über 100, mit der Vereins-, kirchlichen und privaten Wohltätigkeit 140—150 Millionen sein. Der Stadt Berlin kostete das Armenwesen 1806 0,22 Millionen, 1861 1,8 Millionen, 1898 16,2 Millionen Mark. Die öffentliche Armenlast pro Kopf der Bevölkerung ist in den meisten Staaten gegenwärtig 2—4 Mark, in Deutschland etwa 3, in England etwa 6; mit der privaten, kirchlichen und Vereinstätigkeit steigen die Ausgaben teilweise um die Hälfte, teilweise aufs Doppelte und mehr. Auf den unterstützten Armen gab die öffentliche Pflege in Deutschland 1885 40—57 Mark, in Schweden 87, in Norwegen 42 Mark aus. Mit der privaten, kirchlichen usw. Unterstützung wird man auch wesentlich höher kommen. W a s sagen uns alle diese Zahlen? Wenn wir uns auf einen optimistischen Standpunkt stellen wollten, so könnten wir sagen, 2—5 o/o der Bevölkerung sei eine mäßige Zahl, und sie hätte ja vielfach abgenommen. Wir könnten, was die Lasten betrifft, anführen, daß» wenn nach Giffen das englische Einkommen 1885 ^ 435 Millionen, die öffentliche Armenlast im gleichen Jahre L 15 Millionen betragen habe, das immer etwa nur 3—4 "/ ausmache. Aber wir dürfen dabei
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doch nicht vergessen, welch furchtbares Elend, welche Verzweiflung, welchen Hunger, welche degenerierende Lebenshaltung und Roheit die 10—12 Millionen öffentlich Unterstützter in Europa (3 °/o von etwa 357 Millionen 1890) umschließen; wir dürfen nicht vergessen, daß neben diesen die doppelte oder dreifache Zahl von Menschen steht, die der öffentlichen Armenunterstützung nahe sind. Und wir müssen hinzunehmen, daß die Mittel der Unterstützung doch noch recht kümmerliche für die vorhandene Not sind, daß es Jahrhunderte bedürfte, bis man sie zu regelmäßiger Hebung brachte, bis man halbwegs die richtigen Formen für die Finanzierung und Verwaltung des Armenwesens fand. Mäßig gegenüber dem Nationaleinkommen, ist der Armenaufwand doch sehr groß und sehr drückend für die Gemeinden, die teilweise an der äußersten Grenze der Leistungsfähigkeit angekommen sind. E s ist also nicht zu viel, wenn wir die der Armenpflege zu Grunde liegenden Tatsachen als eine große und furchtbare Wunde unseres sozialen Körpers betrachten. Die Ankläger unserer Gesellschaftsordnung sehen darin mit Recht das Zugeständnis ihrer UnVollkommenheit, das moralische und wirtschaftliche Defizit unseres sozialen Mechanismus. Andererseits aber liegt in den Bemühungen, eine Armenpflege zu organisieren, durch sie die Armut zu lindern und ihr vor-, zubeugen, die nun seit 2 0 0 0 Iahren im Gange, seit 4 0 0 Iahren energisch von Gemeinde und Staat in Angriff genommen sind, doch der erste große systematische Versuch, über das Problem Herr zu werden, mag es auch bis jetzt entfernt nicht ganz gelungen sein. Die führenden Kulturvölker haben in ihren Religionssystemen den Punkt gefunden, von dem aus sie korrigierende Handlungen und Einrichtungen schufen. Und das Reformationszeitalter hat mit dem Prinzip einer staatlichen Rechtsordnung der Armenpflege und der Forderung an die Selbstverwaltungskörper, als Träger derselben zu fungieren, einen großen weltgeschichtlichen Fortschritt herbeigeführt; es hat mit dieser Reform den Prozeß der Übertragung der Hilfe für Verunglückte und Verarmte von den engsten und kleinsten und deshalb unzureichenden sozialen Organen auf die größeren und leistungsfähigen zu einem gewissen Abschluß gebracht. E s wurde damit den großen öffentlichen Organen eine ganz neue Art der Verantwortung und der sozialen Pflichterfüllung auferlegt. Es handelt sich dabei um eine der großen, Staat und Volkswirtschaft von Grund aus umgestaltenden Institutionen, um eine der wichtigsten Verstaatlichungsmaßregeln wirtschaftlicher Einrichtungen. Die Ausführung mochte
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noch so schwierig sein, sie mochte zeigen, wie schwer Staat und Gemeinde, bezahlte Beamte und gewählte Gemeindevertreter solche Pflichten gut erfüllen können, sie mochte von Anfang an darauf hinweisen, daß wir durch noch bessere Einrichtungen (wie sie zum Beispiel im Versicherungswesen liegen) über die bisherige Armenpflege hinauskommen müssen. Aber die Bahn großer sozialer, vom Staate herbeigeführter, durch das öffentliche Recht geordneter Reformen war doch mit der Armenpflege und ihrem Prinzipe eröffnet. Erst nachdem sie begründet, nachdem man jahrhundertelang sich bemüht hatte, sie zu verbessern, sie richtig einzufügen in den Mechanismus der Volkswirtschaft und der öffentlichen Verwaltung, nachdem man hierdurch die letzten psychologischen und wirtschaftlichen Ursachen der Armut erkannt hatte, konnte man die Einrichtungen so verbessern, wie es neuerdings wenigstens da und dort gelang, konnte man hoffen, noch Besseres an ihre Stelle zu setzen. Und auch in aller ihrer UnVollkommenheit hat die öffentliche! Armenpflege doch seit vielen Generationen unendlich viel Gutes geschaffen, hat zahllose Menschen gerettet, in Gemeinde und Staat höhere Triebe eingepflanzt, in das roh egoistische Wirtschaftsgetriebe des Marktes und der Geldwirtschaft sympathische Gefühle und Handlungen eingefügt, die schlimmsten Härten und Dissonanzen der neueren Volkswirtschaft abgemildert und versöhnend ausgeglichen. Das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir unser Armenwesen als ein integrierendes Glied unserer Volkswirtschaft richtig beurteilen wollen. 2. Die Ausführung der Armenpflege. Wollen wir nun die Ausführung der neueren Armenpflege etwas näher kennen lernen, so handelt es sich zunächst "um die Frage: 1. wer sind die Armen, was ist die Ursache ihrer Armut, und wie sind sie deshalb zu behandeln; 2. woher kommen die Mittel zur Armenunterstützung, und 3. wer sind die Träger und Organe der Armenpflege. Daran knüpfen wir 4. die Erörterung der offenen und geschlossenen Armenpflege und 3. der Ordnung des Armenrechts. 1. Über die Ursachen der Armut gibt a) die sächsische Statistik von 1880 und b) die deutsche von 1833 folgendes Bild. Es wurden Prozente der Armen unterstützt wegen: S c h m o l l e n , Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf.
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Tod des Verletzung GeAlters Ernährers und Krankheit brechen schwäche s) d)
5,11 18,1
18,55 Z0,Z
10,23 12,4
17,70 14F
Arbeitslostgkeit 19,9k 7,2
18,52 6,0
^?etts^fachen S,4S 11^
Wir sehen, daß zwar erhebliche Abweichungen vorkommen, und sie würden, wenn wir eine ähnliche Statistik für verschiedene Länder und Zeiten hätten, noch mehr hervortreten; aber wir sehen andererseits doch, daß in der Regel die Witwen und Waisen, die alten Leute, die Gebrechlichen und Kranken das Gros der Armenunterstützten ausmachen, zu welchen zeitweise die Arbeitslosen kommen. Aus der bayrischen Statistik von 1891- 1895 sehen wir, daß von 183 28V Unterstützten 112 641 dauernd und 7(1639 vorübergehend Bedachte sind, und daß von ersteren 59 820 erwachsen, 52 821 jugendliche waren. I n England wurden im Lause des Jahres 1892 1,57 Millionen Personen unterstützt, 0,55 unter 16, 0,40 über 65, 0,62 16 65 Jahre alt: also Kinder und Alte machen 0,95 Millionen aus. Nach der deutschen Reichsstatistik von 1885 wärest von den 1,59 Millionen 0,88 die Selbstunterstützten, 0,70 die mitunterstützten Familienglieder. Nach diesen Angaben sehen wir schon, daß es sich um sehr verschiedene Arten von Armen handelt, daß das Bedürfnis und die Art der Unterstützung sehr verschieden sein müssen. Und der wichtigste Unterschied, der uns entgegentritt, ist der, das gewisse Arten von Armen (zum Beispiel die vorübergehend in Not Befindlichen, die Leichtkranken, die Witwen mit ihren Kindern, die noch etwas verdienen) am besten so unterstützt werden, daß man sie in ihrer Familien- und Hauswirtschaft beläßt und diese ihnen nur durch gewisse Gaben erleichtert, daß man aber andere (zum Beispiel die Schwerkranken, die Irren, die Blinden, die ganz alleinstehenden alten Leute) in besondere hierzu eingerichtete Anstalten bringt. S o ist der praktische und begriffliche Gegensatz der sog. offenen und der geschlossenen Armenpflege entstanden; er besteht seit Jahrhunderten. Die Abgrenzung der Personen, welche man der einen und der anderen Art der Pflege zuweist, hat stets geschwankt je nach der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Möglichkeit, gute Anstalten mit guter Verwaltung zu schaffen, je nach dem Wohlstand und der Technik der für die einzelnen Armenarten nötigen Hilfe. Die Hausunterstützung (offene Pflege) ist das ältere, einfachere, billigere System; es stellt den geringeren Eingriff in die hergebrachte Organisation der Gesellschaft dar. Die Unterstützung durch Unterbringung in Anstalten setzt die
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teure Herstellung und Verwaltung von solchen voraus, hebt für die Betreffenden die Familienexistenz auf. kann aber eben dadurch sie unter Bedingungen bringen, die für ihre Heilung, Pflege, Besserung günstiger sind. Wir werden unten zu erörtern haben, wann und wo das zutrifft, wie die neuerdings empfohlene Verstärkung der Anstaltspflege doch bald an ihren Grenzen ankam, zu schwierig wurde; wir werden sehen, daß die Vorliebe des radikalen Sozialismus für die Anstaltspflege sich falschen Hoffnungen hingab. D a s prinzipiell Wichtige an dem Streit zwischen offener und geschlossener Pflege, Familien- und Anstaltspflege ist es, daß er zugleich einen Streit um die großen Organisationsprinzipien der Volkswirtschaft darstellt. B i s auf einen gewissen Grad gilt dies auch von der Kontroverse, ob man die Armen in N a t u r a l i e n oder in G e l d unterstützen soll. Die Hauspflege kann Geld- und Naturalunterstützung sein, die Anstaltspflege ist in ihrem Wesen naturalwirtschaftlich. Ist die Geldunterstützung das modernere, so ist ihre Zunahme doch keineswegs überall erwünscht. Naturalunterstützung im Hause wie in der Anstall bedeutet patriarchalische Behandlung der Unterstützten, Bevormundung und eine geringere persönliche Freiheit; sie hindert Mißbrauch und Verschwendung der Unterstützten. Aber der unterstützte Arme soll ja erzogen und bevormundet werden; wer nicht auf sich mehr stehen kann, der hat vielfach die Fähigkeit verloren, Geld richtig zu gebrauchen. Sehr häufig ist auch Lieferung von Holz, Kartoffeln, Arznei usw. billiger, a l s wenn man die Armen diese Dinge kaufen läßt. Die Geldunterstützung läßt sich in den Städten und in der offenen Armenpflege nicht vermeiden; sie ist aber unbedingt nur da von Segen, wo die Unterstützten noch auf einer gewissen wirtschaftlichen und moralischen Höhe stehen. I n England besteht die Vorschrift, daß die Hälfte der Gaben in der offenen Pflege aus Naturalien bestehen soll. Die französischen LuikAux äs bikukitisanov, die in den Städten unter der Stadtverwaltung stehenden Organe der freiwilligen Armenpflege, haben die Anweisung, möglichst nur Naturalien bei ihrer Unterstützung an die Familien zu geben. 2. und 8. Die wirtschaftlichen M i t t e l , mit welchen die Armen unterstützt werden, bestehen a) aus den freiwilligen Gaben einzelner Bemittelter; b) aus den Beiträgen und dem Vermögen von Vereinen, die sich allgemeine oder spezielle Armenunterstützung zum Ziel gesetzt haben; < ) aus Dotationen und Stiftungen, welche zu diesem Zwecke gemacht sind; w oc-uMtion. jetzt bei dem demokratischen Stimmrecht vielfach auch Arbeiter; ihr Eintreten in dieselben wird als heilsam gerühmt. Die Armenbeamten werden jetzt fast ganz von der Grafschaftskasse bezahlt,- sie werden vom Board gewählt, von der Zentralarmenbehörde bestätigt, welche auch die Höhe der Gehälter und ihre etwaige Entlassung bestimmt; dadurch ist die schädliche Abhängigkeit von Lokalinteressen beseitigt. I n den Ver-
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einigten Staaten sind die analogen Armenbeamten fast ganz die Beute der Parteistellenjägerei geworden und daher von recht zweifelhafter Brauchbarkeit. M a n strebt jetzt, sie mehr und mehr zu beseitigen und Beamte mit spezieller Berufsbildung anzustellen. Gegenüber dieser mehr bureaukratischen Ausführung hat man in den größeren deutschen Gemeinden mehr und mehr eine ehrenamtliche bevorzugt, wie sie 1852 in Elberfeld, wohl in Anlehnung an Chalmers glückliche Versuche in Glasgow und Edinburg, durchgeführt wurde. Unter Magistrat und Stadtverordneten, welche die Oberleitung haben, steht eine kollegialische Armendeputation, die unter Zuziehung von Geistlichen, Ärzten und anderen Gemeindegliedern aus einigen Mitgliedern des Magistrats und der Stadtvertretung besteht; unter diesen bewilligen, nach Bezirken oder Distrikten eingeteilt, die ehrenamtlichen Armenpfleger die Unterstützungen; jedem solchen Armenpfleger sind nur einige arme Familien zugeteilt, die er regelmäßig alle 14 Tage besucht und kontrolliert; er soll der Freund und Berater der Armen werden und sein, ähnlich wie die urchristlichen und die reformierten Diakonen des 16. Jahrhunderts. So ist eine heilsame Dezentralisation und Individualisierung der Armenpflege erreicht, wie sie der geldbezahlte Beamte, durch dessen Hände Dutzende und Hunderte von Gesuchen gehen, nicht leisten kann; so ist eine menschliche Teilnahme der übrigen Bürger an den Armen herbeigeführt, die kein anderes System erreicht. März 1899 waren in Berlin 3310 Personen ehrenamtlich in der offenen Armenpflege tätig, daneben 1778 Waisenräte, wovon 433 Frauen waren. Nicht bloß in Deutschland, sondern bereits auch in Österreich und der Schweiz hat sich dieses System verbreitet. Das System ist aber nicht überall einführbar, zum Beispiel da nicht, wo Reiche und Arme in ganz verschiedenen Stadtteilen wohnen, wo es überhaupt an Personen fehlt, die bedeutsame Amtslasten unentgeltlich übernehmen können, wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten. Sie sowohl als England haben daher mehr und mehr zu bezahlten Berufsbeamten greifen müssen. Diese entbehren natürlich gewisser Vorzüge der Elberfelder Armenpfleger, aber wo man sie in besonderen Schulen berufsmäßig vorbildet und möglichst ehrenhafte Elemente aussucht, hat man doch auch mit ihnen gute Erfolge erzielt. Neuerdings hat die Teilnahme von Frauen in der Armenverwaltung viel Gutes gestiftet; und zwar in den Kollegien als Armenpflegerinnen, wie als angestellte Gemeindeschwestern, Krankenpflegerinnen, Zauspflegerinnen usw. Für die Anstalten handelt es sich darum, ein
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gut geschultes, aufopferungsfähiges Beamtenpersonal männlichen oder weiblichen Geschlechts zu schaffen; religiöse Stimmung und Verpflichtung ist für die meisten Menschen in solchen Stellungen ein wesentliches psychologisches Förderungsmittel. Ohne starke Disziplinarmittel, formale Kontrollen, mechanische Bureaukratisierung kommt man in allen größeren Anstalten nicht aus. Aber die bloße Disziplin reicht nicht hin; sie erzeugt den Unteroffizierston, über den man in vielen deutschen Anstalten klagt. I m übrigen ist das Problem ein ähnliches wie in allen Staats- und Gemeindebetrieben. h Wir sind damit wieder bei dem Gegensatz zwischen offener und geschlossener Armenpflege angelangt, dessen neueste Gestaltung wir noch ins Auge zu fassen haben. Zwei Ursachengruppen haben die Anstaltspflege, welche von 1500—1700 wegen ihrer hohen Kosten, ihrer Mißbräuche, ihrer meist lässigen und schlechten Verwaltung mehr als billig in Verruf gekommen war, neuerdings wieder in so viel günstigerem Lichte erscheinen lassen. Einmal konnten alle möglichen technischen Fortschritte in der Krankenbehandlung, dann aber auch in Heizung, Beleuchtung, Nahrungsmittelbereitung, sowie im Unterricht, in der Reinlichkeit nur in großen Anstalten leicht durchgeführt werden. Ferner können gewisse soziale und wirtschaftliche Ziele nur oder viel leichter in Anstalten erreicht werden: so die Beschäftigung der Arbeitsfähigen — seit dem 18. Jahrhundert schwärmte man für Arbeits- und Armenhäuser und ließ die Insassen spinnen —; nur im Armenhaus hat man die Leute ganz unter Kontrolle, kann hindern, daß sie daneben Almosen heischen, kann sie durch scharfe Disziplin und harte Behandlung dahin bringen, daß sie möglichst wieder sich auf eigene Füße zu stellen suchen, kann die unliebsame Konkurrenz des Almosenempfängers mit den Arbeitern des freien Marktes hindern. Das englische Allowancesystem hatte seit 1782 den Arbeitern, die. mit vielen Kindern gesegnet, nicht mit ihrem Lohn ausreichten, LohnZuschüsse bezahlt, und so die ganze englische Arbeiterklasse herabgedrückt. I m Gegensatz hierzu verlangte man möglichste Verweisung in Armenhäuser. Der Bau von solchen, in die man die Armen verwies, hatte in England 1698—1750 die Armenlast da und dort ermäßigt, teilweise bis auf die Hälfte. Die Armenreform von 1834 wollte nun das Arbeitshaussystem ganz, möglichst konsequent, durchführen. Später hat man auch in Sachsen-Meiningen, Ostfriesland in ähnlicher Weise durch möglichst weitgehende Internierung der Armen abschreckend zu wirken gesucht und dies Ziel bis auf einen gewissen Grad erreicht, die Armenzahl vermindert.
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Aber unendlich weit blieb man überall davon entfernt, alle Armen in Anstalten unterbringen zu können. Es waren 1880 in Sachsen doch nur 40 °/o; in Deutschlands Gemeindearmenpflege 1885 20 »/», in England 1881- 1885 23 24 "/«. 1891 1895 2 1 - 2 2 °/». Selbst die arbeitsfähigen Armen, für die man vor allem das englische da geplant, wurden 1871 -1875 nur zu V«>, 1891 1895 nur zu untergebracht, obwohl von 1876 an ein neuer Anlauf in dieser Richtung gemacht wurde. Alle Anstaltspflege ist unendlich viel teurer. Nach Berechnungen aus der Berliner Armenstatistik der zehn Jahre 1888- 1898 kommt in der offenen Armenpflege ein regelmäßig Unterstützter jährlich auf 143—190 Mark, ein Kind auf etwa 75 Mark, ein Krankheitsfall auf 4—7 Mark, ein in Familienpflege untergebrachtes Waisenkind aus 108 -216 Mark; in der geschlossenen Armenpflege dagegen kommt der vorübergehend Erkrankte auf 55 bis 60 Mark, der Alte jährlich auf 300 400 Mark, der Sieche auf 180 bis 600 Mark, der Irre auf 730 Mark (in der Familienkost 438 Mark), das Waisenkind auf 200- 400 Mark. Natürlich sind die in Anstalten befindlichen Armen zugleich die schweren Kranken, die schwieriger zu behandelnden Waisen usw. Aber so viel machen die Zahlen doch wahrscheinlich, daß die Unterbringung aller heutigen Hausarmen in Anstalten wohl das Doppelte kosten würde, was ihre offene Unterstützung fordert. Wenn Berlin 1898 je 8 Millionen Mark für die offene und geschlossene Pflege ausgab, so ist die große Frage, ob die Verpflegung aller offen Unterstützten durch Abschreckung wieder so viel ersparte, wie die Mehrkosten der kasernierten Unterbringung von 30—40 000 Almosenempfängern, 50—60 000 Hauskranken, 4 bis 5000 in Familien untergebrachten Waisen betragen würden. Außerdem aber ist die Anstaltspflege häufig mit großen sittlichen Schäden verbunden, auch wenn Beamte, Hausordnung und Disziplin noch so gut sind. Das Laster ist ansteckend. Daß die Mehrzahl der Waisenkinder besser und viel billiger in guten Familien auf dem Lande erzogen werden als in großen Waisenhäusern, gibt man jetzt auch in den Ländern zu, welche bisher, wie England und die Vereinigten Staaten, letztere bevorzugt haben; die Praxis hat durchaus für die Familie entschieden, außer wenn es sich um kranke oder ganz verworfene Kinder handelt. Am ungünstigsten hat die Armenkasernierung da gewirkt, wo man, wie zuerst im englischen Workhouse, alle Arten von Armen durcheinander aufnahm und gemeinsam verpflegte. Auch in England hat man mehr und mehr die Kranken, die Kinder, die Gebrechlichen, die Alten, die Arbeitsfähigen in den Anstalten von-
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einander getrennt. D a s war ein Fortschritt, machte die Sache aber wieder viel teurer. Auch die Arbeitsbeschaffung für die Arbeitsfähigen macht, seit die Spinnmaschine das Spinnen im Arbeitshaus als jederzeit lohnende Beschäftigung wegnahm, Schwierigkeiten, wenn auch nicht so große wie für die nicht kasernierten Arbeiter. Wöchnerinnenasyle für alle gebärenden armen Frauen sind grundfalsch: viel besser ist, ihnen Hauspflegerinnen für ihre Familienwirtschaft zu stellen - nur diejenigen armen Frauen, bei deren Geburten besondere Gefahren bestehen, gehören in Asyle. D a s G e s a m t r e s u l t a t ist, daß man hauptsächlich für ganz spezielle Arten von Armen, wo die Technik und die eigentümliche Behandlung es fordern, größere gut geleitete Anstalten schafft, im übrigen aber bei der Hauspflege bleibt. Wir sind entfernt nicht reich und nicht tugendhaft genug, um uns in der Armenpflege ganz auf den Boden des sozialistischen Zukunftsstaates und seiner Kasernierung aller M e n schen zu stellen. Und vor allem solange der Schwerpunkt unserer Armenpflege in den Gemeinden ruht, muß die Anstaltspflege zurücktreten; die Zweige der Armenpflege, welche man Provinzen, Departements, überhaupt großen Bezirken übergibt, wie zum Beispiel überwiegend die Irrenpflege, werden von diesen größeren Organen mit Recht mehr in Anstaltsform betrieben, weil diese Organe leichter die großen Mittel aufbringen können und für die Hauspflege nicht das rechte Personal haben. 5. Dies führt uns schließlich zum Heimatrecht und A n t e r stützungswohnsitz und zu ein paar Worten über das Verhältnis der Gemeindearmenpflege zur Rolle der größeren Verbände, der Kirche und der Privaten im Armenwesen. Der Rechtssatz, daß die Gemeinde ihre Armen unterstützen solle, war in älterer Zeit beschränkt auf diejenigen Bürger, welche feierlich aufgenommen waren oder durch Geburt das Bürgerrecht erworben hatten. Wenn nur der Bürger Grundeigentum erwerben, ein Gewerbe treiben, Wahlrechte ausüben, die Allmende genießen durfte, so war es natürlich, daß auch er nur Armenunterstützung erhielt. A l s man vom 15. und 16. Jahrhundert an Schutzgenossen und Beisassen mindern Rechtes wohl zuließ, ihnen aber vielfach das Bürgerrecht und die Teilnahme an dessen Nutzungen versagte, da entstand die Frage, ob man ihnen im Verarmungssall Unterstützung gebe oder nicht, ob man sie in solchem Falle nicht ausweisen solle. W o freilich die Zahl solcher Zuzügler gering war, wurde die Frage nicht sehr praktisch. Aber anders stellte es sich vom 17. Jahrhundert an in größeren
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Städten, überhaupt in Gegenden mit wachsender und regelmäßiger Zu- und Abwanderung. Eine harte Ausweisung der Nichtbürger wurde vielfach wegen Armut oder gar schon wegen ihrer Wahrscheinlichkeit üblich; die reicheren Orte glaubten nur so sich eines Zuzuges erwehren zu können, der hauptsächlich ihrer besseren Armenunterstützung wegen erfolge. D a s englische Heimatgesetz von 1662 gab den Ortsbehörden ein weitgehendes Recht in diesem Sinne. Diese lokalreaktionäre Maßregelungsmöglichkeit wurde in England bis 1795 immer engherziger gestaltet; erst von 1846 ab hat man die Abschiebung der Verarmenden nach und nach erschwert, den Erwerb eines Heimatrechtes, welches das Recht auf Unterstützung gibt, erleichtert. Auch in den kontinentalen Staaten überwog lange dieselbe Tendenz und verschärfte sich teilweise noch im 19. Jahrhundert. Österreich, das 1754 eine liberale Erwerbung des Heimatrechtes eingeführt, kehrte seit 1804, vollends seit 1849 und 1863 zum engherzigsten Lokalgeist zurück, milderte erst durch das Gesetz vom 5. Dezember 1896 diese Härte einigermaßen. Än den Schweizerkantonen herrscht meist heute noch der Grundsatz, daß nur der nutzungsberechtigte Vollbürger ein Recht auf Armenunterstützung habe, daß er dieses auch an anderen Orten, ja im Ausland in Anspruch nehmen könne, daß der bloße Einwohner höchstens freiwillige Gaben erhalte. D a s Prinzip steht freilich mit der heutigen Beweglichkeit der Bevölkerung so sehr im Widerspruch, daß es mehr und mehr wichtigen Einschränkungen auch in der Schweiz unterlag. Die moderne Rechtsauffassung mußte also dazu kommen, das Armenrecht vom alten örtlichen Bürgerrecht und seinen übrigen Konsequenzen zu trennen, das Armenunterstützungsrecht den Einwohnern der Gemeinde a l s solchen zuzuerkennen, wie man auch zum Erwerb des Grundeigentums, zum Gewerbebetrieb, zu örtlichen Wahlen die Staatsbürge: zuließ, die ein Bürgerrecht an anderen Orten hatten. Der Sieg der Volks- über die Stadtwirtschaft forderte dies. Aber die Ausführung dieses neuen Standpunktes konnte nun recht verschieden geschehen. D a s bayrische Heimatrecht, das auf den Gesetzen von 1868—1896 beruht, ist für die Mehrzahl der Bayern ein von den Eltern erworbenes Unterstützungsrecht in deren Heimatgemeinde, es geht nur durch Erwerb eines neuen Heimatrechtes verloren, dieses wird dem Nachsuchenden verliehen, wenn er volljährig 4 7 Jahre ohne Unterstützung im neuen Heimatort sich aufgehalten hat. Aber auch der Nichtheimatberechtigte muß im Verarmungsfall in der Aufenthaltsgemeinde vorläufig unterstützt werden,- diese hat nur unter be-
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stimmten Voraussetzungen Erstattungsansprüche an die Heimatgemeinde oder den Staat. In den meisten anderen Ländern hält man nicht mehr an diesem vererblichentzeimatrechtfest, das Leuten ein Anrecht auf Unterstützung gibt, die nicht bloß 25—50 Jahre aus der Heimat weg sind, sondern auch solchen, die sie nie gesehen haben, die also weder durch sittliche noch durch wirtschaftliche Bande mit ihrer sogenannten Heimat verknüpft sind. D a s weitergehende Prinzip des sogenannten Unterstützungswohnsitzes hat mehr und mehr gesiegt, wonach das Recht auf Armenunterstützung einfach durch mehrjährige Abwesenheit verloren und mehrjährige Anwesenheit von bestimmtem Alter an erworben wird. Besonders der preußische Staat hat dieses, die Zugehörigkeit zum Staate, nicht die zur Gemeinde betonende Prinzip frühe aufgestellt und energisch durchgeführt; schon das Armengesetz vom 28. April 1748, dann das Landrecht, die königliche Verordnung vom 4. September 1804 näherten sich dem Ziele. Das Gesetz vom 31. Dezember 1842 und das diesem nachgebildete deutsche Bundesgesetz vom 6. Juni 1870 proklamierte ein die Freizügigkeit möglichst begünstigendes Recht auf Armenunterstützung für jeden Staatsbürger; und zwar seit 1870 für jeden, der sich freiwillig, ununterbrochen zwei Jahre lang ohne Armenunterstützung, ursprünglich vom 24., seit 1894 vom 18. Jahre an in einem Ortsarmenverbande aufgehalten hat; zweijährige Abwesenheit beendigt die Pflicht des Ortsarmenverbandes, die Kosten zu tragen. Da es hiernach manche Leute geben wird, welche an einem Ort das Recht verloren, am andern es noch nicht wieder erworben haben, so ist ihre Unterstützung besonderen größeren Verbänden, den sogenannten Landarmenverbänden (Provinzen, Regierungsbezirken, Großstädten) auferlegt. Eine vorläufige Fürsorgepflicht liegt dem Ortsarmenverband auch für die anwesenden Verarmten ob, die den Unterstützungswohnsitz noch nicht erworben haben; er erhält aber die Kosten von dem eigentlich verpflichteten Orts- oder Landarmenverband erstattet. Man hat viel gestritten, ob dieses Prinzip richtig, ob die Frist von zwei Jahren, das Alter von 24 oder 18 Iahren richtig sei. E s ist nicht zu leugnen, daß mit diesem System viel Streit zwischen den Gemeinden über den Ablauf der Termine und die Verpflichtung der Kostenerstattung und -tragung entsteht. I n den außerdeutschen Ländern hat man teilweise andere Zahlen gewählt: in Belgien hat die Gesetzgebung zwischen 'i, 8, 5 und 3 Iahren Aufenthalt geschwankt; in Frankreich
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2. Buch. Der heutige Arbeiterstand. 2- Kap. Die »euen soz. Institutionen
gilt, soweit ein Rechtsanspruch auf Armenpflege überhaupt existiert, ein Jahr Aufenthalt vom 21. Jahre an, in Österreich (Gesetz vom 5. Dezember 1896) 10 Jahre vom 25. Jahre an; in England hat man die Ausweisung nach 3 jährigem Aufenthalt 1846 verboten und neuerdings sie so erschwert, daß die Beseitigung der Ausweisungsbefugnis überhaupt bald zu erwarten ist. Alle Härten lassen sich bei keiner Art dieser Normierung beseitigen : irgendwelche Grenzziehung ist nötig, solange Freizügigkeit existiert, und die Gemeinden a l s solche die verpflichteten Träger der Armenlast bleiben; die Gründe hierfür haben wir kennen gelernt. Die Herabsetzung des Alters und kurzer Aufenthalt wird von den Gemeinden gewünscht, die stark überwiegende Abwanderung haben, für ihre Abgewanderten nicht jahrelang vertretungspflichtig bleiben wollen. Soweit durch das immer weiter vordringende Prinzip des Unterstützungswohnsitzes Härten entstehen, sind sie nicht durch Rückkehr zum alten Recht, sondern durch Teilnahme der größeren Verbände oder des Staates an den Lasten der Gemeindearmenpflege oder durch Übernahme einzelner Zweige der Armenpflege seitens dieser Organe zu beseitigen. Der Staat muß, außer daß er das Armenrecht ordnet, dasselbe einheitlich kontrollieren, wie es am weitestgehenden in England mit seinem Zentralarmenamt, seinen Armeninspektoren und Armenrechnungsrevisoren, neuerdings auch in manchen Staaten der nordamerikanischen Union geschehen ist; die zunehmende Tätigkeit dieser Organe hat nur günstig gewirkt. Der Staat kann wie in Belgien gewisse Armenanstalten direkt in die Hand nehmen, so die Anstalten für 'Arbeitsscheue, für Alte und Gebrechliche, für die Zwangserziehung verwahrloster Jugend (letztere in Dänemark). Er wird überall, wo die Gemeindemittel und die der anderen größeren Selbstverwaltungskörper nicht ausreichen, mit Zuschüssen eingreifen müssen. Diese letzteren übernehmen am besten die Pflege der Geisteskranken, wie in Frankreich die Departements, in Preußen teilweise die Landarmenverbände; oft so, daß die Gemeinden für ihre Untergebrachten gewisse Zuschüsse geben; in Frankreich tritt das Departement auch für die verlassenen Kinder ein. Auch für Blinde, Taubstumme, Idioten, Sieche sorgen teilweise besser größere Bezirke. Die ganze Tendenz, größeren Verbänden und dem Staate eine intensivere Rolle im Armenwesen zuzuweisen, ist in England, Frankreich, Belgien, Dänemark, der Schweiz, selbst in den Pereinigten Staaten weiter entwickelt als in Deutschland.
2. Die Ausführung der Armenpflege.
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Die Vereins- und kirchliche Armenpflege muß, wo die öffentliche Armenpflege normal entwickelt ist, sich darauf beschränken, die Lücken dieser auszufüllen; wenn die öffentliche Pflege die äußerste Not nach festen Regeln unterstützt und beseitigt, so muß die private nach Prüfung der Personen, mit noch größerer Individualisierung, nach Lage der Verhältnisse und stets in Kenntnis der öffentlichen Unterstützungen das tun, was nun noch fehlt, um den Armen zu helfen und sie wieder emporzurichten. S i e muß den noch nicht ganz Verarmten, welche keine öffentliche Unterstützung erhalten können, beispringen, die verschämten Armen über Wasser halten. W o die verschiedenen Organe nicht zusammenwirken, entsteht Unheil, wird die Bettelei groß gezogen. A u s den Niederlanden wird geklagt, daß in jeder Stadt 4 - 6 verschiedene Organe, Stiftungen, Vereine usw. bestehen, die ganz unabhängig voneinander vorgehen. Je größer die Mittel der Privaten, Vereine, Stiftungen sind, desto schlimmer wirkt solche Zersplitterung. I n England und Deutschland hat man neuerdings vielfach geholfen. 1. indem man dieselben Personen an die Spitze der öffentlichen und der übrigen Armenpflege brachte, 2. indem man alle Organe zu einer Zentralarmenbehörde örtlich vereinigte oder 3. wenigstens durch Meinungsaustausch, gemeinsame Auskunftsstellen für gegenseitige Kenntnisnahme des Geschehenden sorgte. — M i t all dem ist man auch heute noch weit entfernt von einer guten, vollendeten, in ganzen Staaten gleichmäßigen Armenpflege, so große Fortschritte auch gemacht wurden. I n Italien herrschen noch mittelalterliche Zustände; in Frankreich ist man die Bettlerplage nie los geworden; die englische Armenpflege ist in manchem musterhaft, aber sie ist bureaukratisch, wirkt nicht erziehlich, ist zu sehr zersplittert. Die englische Armenpflege lag 1834—1848 ausschließlich in den Händen der Boards of G u a r d i a n s der U n i o n s ; 1848 traten neben sie die lokalen Gesundheitsämter mit wachsenden Aufgaben, 1879 die lokalen Schulbehörden, die zum Beispiel jetzt für die Ernährung armer Kinder in der Schule Sorge tragen; dazu kommen dann lokale Behörden für die Überwachung der Geisteskranken und besondere Notstandskomitees, sowie die wachsende Tätigkeit der Privatarmenvereine. Eine Vereinheitlichung dieses Wirrwarrs von Organen muß erfolgen, ist in der seit 1903 tagenden Armenrechtskommission als dringlich allgemein anerkannt worden. I n einer Reihe von Ländern findet heute noch eine falsche Verwendung überreicher Stiftungsmittel statt. D a s ganze Problem bleibt ein unsagbar schwieriges, was in der Natur der Armenunterstützung und ihrer gesellschaftlichen Organisation liegt. Die
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Armenunterstützung soll nur !in der äußersten Not gegeben werden; sonst vernichtet sie die Selbstverantwortlichkeit, das Ehrgefühl, die Energie. Der gesellschaftliche Makel, der an ihr haftet, wirkt auch heute noch vielfach moralisch ungünstig. Die Gabe soll stets so gegeben werden, es sollen ihr solche Nachteile (Verlust des Wahl- und anderer Ehrenrechte, Entbehrungen» wie sie das Armenhaus auferlegt) anhaften, daß der Tüchtige strebt, sie wieder los zu werden, daß der freie gesunde Arbeiter nie auf den Gedanken kommt, er könnte auch Armenhilfe nachsuchen, könnte seine Kinder einer Armenanstalt übergeben. E s soll gegenüber den Hunderten und Tausenden, welche um Unterstützung bitten, gerecht, gleichmäßig streng, sparsam verfahren werden. E s handelt sich also um eine große Summe schwieriger, diskretionärer Entscheidungen von Hunderten von Beamten, Behörden, Organen, welche in möglichster Übereinstimmung erfolgen sollen. Helfen die Organe der Armenpflege zu leicht, so wächst die Last ins Ungemessene und Unerträgliche, und man zerstört zugleich die moralischen Eigenschaften der Unterstützten, zieht ein Proletariat von Bettlern heran. Ist man zu strenge, haftet zu drückende Disziplin, Ehrverlust usw. an der erhaltenen Unterstützung, so erhalten nur die schamlosen Querulanten, nicht die besseren Armen, was sie brauchen. Zwischen diesen zwei Klippen wird nur eine besonders tüchtige Armenverwaltung mit ausgezeichnetem Personal, mit guten Instruktionen, mit guter, einheitlicher Kontrolle von oben leidlich hindurchkommen. Das letzte Ziel muß sein, durch Sparkassen-, Genossenschafts-, Hilfstassen-, Versicherungswesen die gesamten weniger bemittelten Schichten der Gesellschaft so weit zu bringen, daß sie der Armenunterstützung nicht mehr bedürfen. Wir stehen mitten im Kampfe um die Erreichung dieses großen Zieles. Vieles ist schon geschehen, zum Beispiel gerade durch das Versicherungswesen, wie wir gleich sehen werden. Wenn trotzdem zunächst seit 30 Iahren die Armenlast stark gewachsen ist, so liegt die Ursache darin, daß einerseits die neuen sozialen Hilfen noch nicht ausreichen, und daß andererseits die Ansprüche der Armen und das humanitäre Verantwortlichkeitsgefühl der Gesellschaft bedeutend gewachsen sind, daß man Kranke, Irre, verwahrloste Kinder heute unendlich besser behandelt als vor 30 und 100 Jahren. Jedenfalls aber sehen wir, daß kein zivilisierter Staat heute ohne komplizierte Armeneinrichtungen auskommt, daß der Gemeinde große wirtschaftliche Aufgaben hier erwachsen sind, daß die manchesterliche Vorstellung von einer freien Volkswirtschaft, die nur auf Leistung und
z. Das Versicherungswesen im allgemeinen- Seine Entstehung.
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Gegenleistung beruhte, schon durch unser Armenwesen widerlegt wird-
3. Das Versicherungswesen im allgemeinen. Seine Entstehung. D a s kirchliche und öffentliche Armenwesen ist viele Jahrhunderte alt. D a s Versicherungswesen reicht in seinen ersten Anfängen auch bis ins spätere Mittelalter zurück, gehört im ganzen aber erst dem 18- und 19. Jahrhundert, in seiner höheren Ausbildung erst den letzten 50 Iahren an. E s knüpft in seiner einen Wurzel wie das Armenwesen an die 'Unterstützungseinrichtungen der Geschlechtsgenossenschaften und Gilden an, ist dann aber wesentlich andere Wege a l s die Armenpflege gegangen. Diese verweist den in N o t Befindlichen auf die Hilfe der Gemeinde, der Kirche, der Wohlhabenden, welche dem Armen wie ein höheres Schicksal entgegentreten. Die neuere Geldwirtschaft und der Individualismus verweist den Armen auf die Sparkasse, in die er in guten Tagen einlegen soll. Die Versicherung wählt einen Mittelweg. S i e verlangt von ganzen Gruppen, daß sie sparen und das Gesparte zusammenlegen, damit die in N o t Befindlichen a u s den gemeinsam gesammelten Mitteln unterstützt werden können. Auf dem Boden der Geld- und Kreditwirtschaft und des modernen Privatrechts erwachsen- hc.ben sich eine Reihe von Geschäften, Kassen, Genossenschaften. Korporationen gebildet, deren g e m e i n s a m e s M e r k mal e s ist, von I n d i v i d u e n sozialer G r u p p e n rechtlich f i x i e r t e B e i t r ä g e zu erheben u n d zu s a m m e l n und den v o n gewissen S c h ä d e n oder N a c h t e i l e n B e t r o f f e n e n d a f ü r rechtlich f i x i e r t e Entschädigung zu zahlen. Alle derartigen Einrichtungen rechnen wir zum n e u e r e n V e r s i c h e r u n g s w e s e n ; es kann sich je nach seiner Ausbildung im einzelnen dem Armen- wie dem Sparkassenwesen nähern, ist aber ein ganz selbständiger und wichtiger Zweig unserer Volkswirtschaft geworden. Ob Private das Versicherungsgeschäft treiben oder Genossenschaften und Korporationen oder der S t a a l , der Kern des Verhältnisses ist stets derselbe: Gruppen von Individuen sind durch Zahlungen, die sie selbst oder andere für sie in eine gemeinsame Kasse inachen, zusammengefaßt, so daß jeder Selbständige Rechte für bestimmte Schadens- oder Unglücksfälle hat, als Glied der Gruppe in diesen Fällen unterstützt wird; stets erhalten dabei einzelne vom Schicksal Getroffene mehr als sie zahlten, andere vom Schicksal Bevorzugte zahlten mehr, als sie erhalten. E s handelt sich wie beim Arinenwesen um soziale Gemeinschaftseinrichtungen, aber mit besserer S c b m o l l e ? . Klafsenbildung, ^lrboiterfraqe, Klasscuk unpf
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Verknüpfung der Individual- und Gesamtinteressen, mit gerechter individueller Abwägung der Beiträge und der Schadensansprüche,' die kommunistische Gemeinschaft des Armenwesens ist hier eine rechtlich geordnete, dem modernen Wirtschaftsleben, seinem Erwerbstrieb und Privatrecht, der Idee von Leistung und Gegenleistung angepaßte. Ganz durchwachsen von Sympathiegefühlen und sozialer Pflichterfüllung, ist das Versicherungswesen doch durch geschäftsmäßige und kaufmännische Formen groß geworden und muß auf diesem Boden bleiben. Die Gefahren der Seeschiffahrt, der Feuersbrünste, die Hilfe für Krankheit, Alter und andere Not sind der Ausgangspunkt und heute noch der Hauptgegenstand aller Versicherung. Wir werfen einen kurzen Blick auf seine zwei Hauptwurzeln und lernen damit zugleich die Phasen seiner Entwicklung bis ins 19. Jahrhundert kennen. Diese beiden Wurzeln sind: die älteren häufig schon mit Beitrittszwang verbundenen Genossenschaftseinrichtungen und das kaufmännische Geschäftsleben einschließlich des Darlehnsvertrags. Die Sitte, sich gegenseitig in aller Not zu helfen und zu unterstützen, machte das Lebensprinzip der Geschlechtsverbände aus, wie wir oben und bei Erörterung der Anfänge des Armenwesens sahen. Von da ging sie auf die älteren Gilden, die Genossenschaften, Zünfte und andere ähnliche kleine Vereine, teilweise auch auf Land- und Stadtgemeinden über, wie auf die Gemeinschaft der in einem Seeschiff Fahrenden, der unter einer Admiralschaft Segelnden, der in einer Gegend Bergbau Treibenden. I n einzelnen ging die gegenseitige Hilfe verschieden weit, bestand in Eideshilfe, Wergeldzahlung, tätiger Unterstützung beim Bau des abgebrannten Hauses, Tragen der Leiche, später auch in Geldunterstützung in Krankheits- und Todesfall, in Hilfe für Witwen und Waisen. Diese alten Geflogenheiten haben sich in abgelegenen Dorfgenossenschaften, zum Beispiel für den Hausbau, noch bis heute erhalten. Vielfach aber traten die alten Unterstützungsformen mit der modernen Geldwirtschaft und dem Individualismus zurück oder verschwanden. Die alten Verbände lösten sich auf, die rohe Art der Verteilung der Last paßte nicht mehr recht in die komplizierten sozialen Verhältnisse; eine neuere bessere Art war nicht sofort überall zu finden. Immer aber erhielten sich einzelne der alten Einrichtungen: so zum Beispiel viele geistliche Bruderschaften des 12.—17. Jahrhunderts mit ihrem Zweck der Krankenunterstützung und der Begräbnishilfe, dann die Knappschaften der Bergleute, die seit dem 16. Jahrhundert hauptsächlich in Deutschland weit verbreitet waren, die Un-
z. Das Verficherungswesen im allgemeinen. Seine Entstehung.
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terstützungskassen der Handwerksmeister und der Gesellen. Und als Nachahmungen dieser Einrichtungen entstehen im 17. und 18. Jahrhundert die Freimaurerorden, die zum Beispiel in England mit ihren Unterstützungseinrichtungen den Kern für die besseren späteren Hilfskassen abgaben, dann lokale gesellige Vereine mit Unterstützungszwecken, Begräbniskassen und Vereine von Geistlichen, Lehrern und Beamten zur Unterstützung von Witwen und Waisen. Die Staatsgewalt beginnt vom 16.—18. Jahrhundert Gnadengehalte an ausgediente Beamte, Offiziere, Soldaten zu zahlen und erhebt bald auch Beiträge hierfür von den Beteiligten. Die Hausbesitzer von London und Paris bilden 1530 und 1545, manche norddeutsche Stadteinwohner vom 15.—17. Jahrhundert an Brandgilden, die Dorfbewohner der Weichselniederung traten 1623—1670 zu wohltätigen Unterstützungsvereinen für den Fall des Brandunglücks und für Ernteund Viehschäden zusammen. Und die im Läufe des 18. Jahrhunderts bald für größere Orte, bald für ganze Landschaften, in Deutschland meist von der Regierung mit Zwangsbeitritt gebildeten Feuerkassen, welche im Falle des B r a n d t die Mittel zum Wiederaufbau des Hauses liefern sollen, sind nichts als die Übertragung des Gedankens der gegenseitigen genossenschaftlichen Hilfe auf größere Verbände. Viele dieser alten Einrichtungen genossenschaftlicher Art nannten sich noch nicht „Versicherung" und wandten nicht die Form privatrechtlicher Versicherungsverträge an, wobei der eine Gefahr Befürchtende den Versicherungskassen oder dem Versicherungsgeschäft gegenüber eine feste Zahlung oder eine Anzahlung solcher verspricht und sie leistet und dafür den privatrechtlichen Anspruch auf die ausbedungene Versicherungssumme oder die Summen als Gegenleistung erhält. Dieser privatrechtliche Versicherungsvertrag wurde als Rentenvertrag und Seeschiffahrtsvertrag ausgebildet. Das erstere geschah wohl zunächst in der Form, daß mit einem Kapital bei den Stadtkassen des späteren Mittelalters R e n t e n auf Lebenszeit gekauft wurden; häufig versprach die Kasse 10°/» des Kapitals an eine Witwe oder an eine sonstige Person in der Weise zu zahlen, daß die lebenslängliche Rente die Verzinsung und die Tilgung des Kapitals darstellte; indem sie viele solcher Verträge schloß, gewann sie bei den einen, was sie bei den anderen verlor. Sie hatte gegenüber den sogenannten Ewigrenten den Vorteil einer sicheren Endigung ihrer Verpflichtung; die Käufer der Lebensrenten waren für ihr Leben gesichert, ob sie lang oder kurz noch lebten. 23'
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I n den Mittelmeerländern entstand vom 14. Jahrhundert an die Seeversicherung zuerst in Anlehnung und in Verbindung mit einem gewährten Darlehen, so daß der Darlehen Gebende zugleich gegen höhere Entschädigung die Gefahr, welche Schiff und Ladung liefen, ganz oder zum Teil trug. Verschiedene Versicherungsformen kamen vor, das Seedarlehen, die eommonä-i, die tnlon»» usw., welche den Gedanken einer Versicherung von Schiff und beförderten Waren nebenbei enthielten. Von 1339 1500 begannen Kaufleute zuerst als Neben-, dann als Hauptgeschäft durch zahlreiche selbständige Verträge die Versicherung der Schiffe und ihrer Ladung gegen eine bestimmte Prämie zu übernehmen, das heißt sie zahlten im Falle eines Verlustes die Versicherungssumme und erhielten dafür die Prämien von soundsoviel Prozenten des versicherten Wertes. Auch hier war das Versicherungsgeschäft nur dem möglich, der als Geschäftsmann zählreiche ähnliche Verträge schloß, die untereinander den Zufall ausglichen, ihm die Mittel lieferten, die Verträge zu erfüllen und dabei noch einen Gewinn zu machen. An der Hand einer systematischen Gesetzgebung bildete sich die Seeversicherung vom 15. 17. Jahrhundert schon sehr genau und fein aus. Die Praxis kannte bereits die verschiedenen Größen der Gefahr je nach dem Meere, je nach Art der Schiffe, stufte danach die Höhe der Beiträge, der Prämien gegenüber den Versicherungssummen ab. Aber es zeigte sich doch im Lause des >7. Jahrhunderts, daß der Umfang der Versicherungsgeschäfte des einzelnen Kaufmanns, der Versicherungsverträge abschloß, viel zu gering sei, um ihn nicht häufig bankerott werden zu lassen und die Versicherten um ihre Entschädigung zu bringen. Und daher bildeten sich neben den privaten Versicherern mehr und mehr von 1690 - 1800 große Kompagnien für das Geschäft, teilweise bereits mit ausschließender Berechtigung. Diese mit Gewinnabsicht gebildeten, kaufmännisch verwalteten Kompagnien für Seeversicherung, hauptsächlich in England und den Nordseehäfen im ^8. Jahrhundert zu Hause, wurden hier auch das Vorbild für ähnliche Kompagnien, die nun die Versicherung von Häusern, später auch von Hauseinrichtungen gegen Brandgefahr übernahmen, und für solche, welche auf Grund von Absterbetafeln die Auszahlung von Witwengehalten, Waisengeldern, Alterspensionen und Kapitalbeträgen für den Todesfall gegen einmalige oder sich wiederholende Einzahlungen gewährleisteten (Lebensversicherungsanstalten). Auf dem Kontinent sind ähnliche Anstalten hauptsächlich erst von Ansang des >9. Jahrhunderts an entstanden, zuerst mehr in der Form so-
3. Das Versicherungswesen im allgemeinen. Seine Entstehung.
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genannter Gegenseitigieitsgesellschaften, wobei die Versicherten als Träger des Geschäfts fungieren, auf die Spitze der Verwaltung einen gewissen Einfluß haben, bei Verlust nachzahlen müssen, bei Gewinn einen Teil der gezahlten Beiträge zurückerhalten; später mehr in der Form der Aktiengesellschaft, die feste Prämien erhebt, den Gewinn als Dividende an die Aktionäre verteilt. Für die Gegenseitigkeitsgesellschaften fehlte in Deutschland und anderwärts lange eine ihre Verfassung regelnde Gesetzgebung. S i e konnte in der älteren Zeit entbehrt werden, da ihre Gründer, von Humanitären Absichten und sozialen Idealen ausgehend, die Geschäfte sehr solide führten. Später bemächtigten sich aber Spekulanten, ja teilweise auch Schwindler dieser Geschäftsform, wodurch große Mißbräuche entstanden, eine sie bekämpfende, ihre Verfassung ordnende Spezialgesetzgebung nötig wurde. Die S e e - , F e u e r - und Lebensversicherung hatte sich von 1700 1840 in England langsam entwickelt, auf dem Kontinent waren bis 1840 erst die bescheidensten Anfänge vorhanden. Von 1840 an setzte ein erheblicher Aufschwung auch Hier ein. Von 1833 -1857 wurden in Deutschland 50 Versicherungsgesellschaften mit über 189 Millionen Mark gegründet. Von da bis zur Gegenwart erreichte das Versicherungswesen seine volle wirtschaftliche Bedeutung, zunächst in den genannten Zweigen und dann auch darüber hinaus. E s bildeten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Versicherung gegen Hagelschaden, gegen Viehsterben und Viehkrankheiten; es wurden Versuche gemacht, die Schäden zu versichern, welche durch Zerbrechen von Spiegelscheiben, durch Gas- und Wasserleitungsschäden, durch Einbruch, durch Unfälle aller Art, durch falsche Kreditierung und tzypothekengeschäfte entstehen. E s entstand die Rückversicherung, am großartigsten in Deutschland; sie wurde deswegen so wichtig, weil sie die sehr viel leichtere Ausdehnung der Versicherung auf ihre gefährlichen Zweige so sehr ermöglichte. D a s sozial Wichtigste aber war, daß die bestehenden Kranken- und Sterbegelderkassen der unteren und mittleren Klassen sich von 1840—1900 zu einer großartigen Arbeiterversicherung auswuchsen. Der volle Sieg der Geld -und Kreditwirtschaft ermöglichte einerseits und nötigte andererseits zu dieser weitgreifenden Ausgestaltung des Versicherungswesens. Die stark wachsende Kompliziertheit der modernen Technik wie des neueren Geschäftslebens, die Unsicherheit der wirtschaftlichen Lage der meisten Geschäfte, Familien und Individuen ließ die Versicherung gegen alle möglichen Schäden und Unglücksfälle
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2. Buch. Der heutige Arbeiterstand. 2. Kap. Die neuen soz. Institutionen.
als etwas immer dringlicheres, besonders in den letzten fünfzig Jahren, erscheinen. Es kann nicht im Zwecke dieses Buches liegen, alle einzelnen Zweige der heutigen Versicherung so darzustellen, wie es in den Lehrbüchern der praktischen Volkswirtschaftslehre und der Versicherungswissenschaft geschieht. Wir wollen nur die wichtigste Art der Versicherung, die hauptsächlich die oberen und mittleren Klassen betrifft, die Lebensversicherung ganz kurz und dann die Arbeiterversicherung so weit charakterisieren, daß ihre allgemeine Bedeutung für die Volkswirtschaft und die soziale Entwicklung zutage tritt. Das Eigentümliche aller Versicherung als Geschäft ist, daß die Masse der Versicherten vom Geschäft und seinen Bedingungen meist wenig versteht, daß Übervorteilung und BeWucherung leicht bei freier Privatwirtschaft eintritt. Daher wurde überall eine weitgehende Spezialgesetzgebung, fast überall eine gewisse staatliche Kontrolle nötig; es trat vielfach eine Übertragung der Versicherung auf öffentliche Organe ein. So wurde das Gebiet der wirtschaftlichen Versicherung ein Hauptfeld des Streites der großen wirtschaftlichen Organisationsprinzipien, des Kampfes zwischen Erwerbsgeschäft und öffentlicher Fürsorge. Ähnlich wie die Neugestaltung der Kreditorganisation hat die der Versicherung mehr und mehr in das Bild der modernen Volkswirtschaft neue Züge der Vergesellschaftung, der sozialen Fürsorge, der Staatstätigkeit eingefügt. 4. Die Lebensversicherung als Vorläuferin der Arbeiterverficherung. Die englischen Gesellschaften für Witwen- und Waisenversorgung sowie für Lebensversicherung begannen 1696 -1721 ihre Geschäfte; in Frankreich, Deutschland, den Vereinigten Staaten traten ähnliche Einrichtungen erst 1820—1840 ins Leben und blieben bis 1850 in ihrer Wirksamkeit unbedeutend. Eine wirklich große Entwicklung trat überall erst 1870—1900 ein und blieb bis jetzt, von kleinen Anfängen anderwärts abgesehen, auf die reichen Staaten beschränkt. Das Geschäft wurde ursprünglich nur von Aktiengesellschaften betrieben, in Deutschland dann zuerst, wie wir sahen, von soliden gemeinnützigen Gegenseitigkeitsgesellschaften. I n England, Frankreich, den Vereinigten Staaten blieb es stets ganz überwiegend in Aktienhänden, wurde rein spekulativ kaufmännisch betrieben; auch in Deutschland traten seit 1830 -70 die Aktiengesellschaften mehr in den Vordergrund.
4. Die Lebensversicherung als Vorläuserin der Arbeiterverficherung,
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Zu Staats- und Korporationsanstalten ist man vor 1880—1900 nur ganz beschränkt gekommen, es handelte sich um die Alterskassen in England und Frankreich, die den unteren Klassen dienen sollten, aber kaum benutzt wurden, in Preußen um die Provinzialinstitute der östlichen Provinzen. Das Lebensversicherungsgeschäft stellte sich bis 1870—1880 wesentlich nur in den Dienst der mittleren und höheren Klassen. E s handelt sich darum, durch einmalige größere, meist aber durch wiederholte kleinere jährliche, vierteljährliche oder gar wöchentliche Einzahlungen an die Versicherungsgesellschaft sich ein Recht zu erwerben, im Todesfall, in einem bestimmten Alter, für bestimmte Fälle des besonderen Bedarfs (Aussteuer, Erziehung, Unfall usw.) eine einmalige größere oder mehrmalige kleinere Summen (Renten, Witwen- und Waisenunterstützungen usw.) zu erhalten. Die praktische Hauptsache blieb immer die Sicherung einer Summe für den Todesfall; alle anderen Verträge der Gesellschaften treten dagegen ganz zurück. Die Männer der Mittelklassen ohne erhebliches Vermögen, aber mit gutem Einkommen suchen so für Frauen und Kinder zu sorgen. Das Geschäft ist ein viel schwierigeres als das der Feuerversicherung. Die letztere braucht im ganzen nur jährlich so viel Beiträge zu erheben, daß sie die Iahresschäden decken kann und einige Reserven für große Brandjahre erhält; die Lebensversicherung muß für Jahrzehnte große Kapitalien durch ihre Prämien und Beiträge zusammenbringen, um die nach vielen Iahren fälligen Summen zu zahlen. Die Feuerversicherung erhebt von Hunderttausenden Beiträge und hat jährlich nur 1 bis 2 o/o der Beitragenden den Schaden zu vergüten, die Mehrzahl der Zahlenden erhält nie eine materielle Gegengabe; die Lebensversicherung auf den Todesfall hat allen, die die Prämien fortzahlen, die versicherten Summen zu zahlen; sie ist für jeden Einzahler eine Sparkasse mit Sparzwang; die Berechtigten erhalten die gleiche Summe, ob der Versicherte früh oder spät stirbt. Die Feuerversicherung kennt nach der Erfahrung der letzten Jahre die Zahl der Brände, die Höhe der zu zahlenden Brandschäden; danach und nach der Zahl der Versicherten ist die Prämie unschwer abzustufen. Die Lebensversicherung hat ihre Beiträge nach der Absterbeordnung des Volkes und der sozialen Klasse, nach der individuellen Gesundheit der Einzelnen, sowie nach dem wahrscheinlichen Zinsfuß, zu dem sie das eingezahlte Kapital in 10—60 Iahren anlegen kann, zu bemessen. Alle diese Faktoren sind unsicher, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wechselnd. Erst sehr langsam konnte man die nötige Statistik beschaffen, die Absterbeordnungen
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2. Buch. Der heutige Arbeiterstand. 2. Kap. Die neuen soz. Institutionen
verbessern, die Erfahrungen von 1 2 Generationen verwerten. Ebenso schwierig wie für die Todesfallversicherung ist die mathematisch brauchbare Grundlage für Alters -und Witwenrenten, für Krankheitsgelder und ähnliches herzustellen. Alle diese Geschäfte hab.!» etwas Gewagtes. Ist man sehr vorsichtig, so stellt man teure Bedingungen, die abschrecken; lockt man durch billige Prämien und große Versprechungen, so ist die Gefahr des späteren Defizits vorhanden. Und diese verbirgt sich doch so leicht durch 10 30 Jahre hindurch, nämlich so lange viele junge Leute eintreten, die zahlen und nichts erhalten; werden sie alt, und gelingt es dann nicht mehr, stets junge Versichert - in steigender Zahl zu gewinnen, so ist die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft vorhanden. Sucht man durch Agenten rasch möglichst viele Leute ohne zu ängstliche Rücksicht auf ihre Gesundheit zur Versicherung zu bringen, so werden sie rascher sterben, a l s die angenommene Absterbe ordnung besagt, das heißt sie werden viel mehr kosten, a l s sie eingezahlt haben. Sucht man die werbenden Agenten durch hohe Abschlußprovisionen zur kritiklosen raschen Anwerbung anzufeuern, so erhält man leicht viele Versicherte, die nur ein oder einige Jahre zahlen, dann die Versicherung verfallen lassen; die Gesellschaft kann so große Gewinne machen, ja Defizits decken, aber sie betrügt damit die Tausende, die in dieser Weise eine Zeitlang umsonst bezahlt haben. A u s diesen wenigen Bemerkungen erhellt schon die geschäftlich-technische Schwierigkeit der Lebensversicherung und die leichte Möglichkeit großer Mißbräuche. S i e haben sich wie beim Feuerversicherungswesen hauptsächlich in den Ländern der weitgehenden wirtschaftlichen Freiheit 1830—187l) gezeigt. Viele Tausende, vielleicht der größere Teil aller Versicherten, haben in dieser älteren Zeit nichts, trotz längerer oder kürzerer Einzahlung, erhalten; die Gesellschaften stellten ihre Zahlungen ein, es wurden die Verträge von den Anstalten beanstandet, oder die Gesellschaften machten bankerott. Die in Aberzuhl mit wenig Kapital und viel Leichtsinn gegründeten Gesellschaften haben sich den berechtigten Vorwurf gefallen lassen müssen, daß sie darauf spekulierten, ihre Verbindlichkeiten l o s zu werden. Erst in neuerer Zeit hat teils die anständige Praxis, teils die Gesetzgebung darauf hingewirkt, daß jeder, der über 2 3 Jahre Prämien gezahlt Hai und nun nicht imstande ist, weiter zu zahlen, entweder in Form des Rücklaufs semer Polize den größeren Teil seiner Einzahlungen (zum Beispiel 73 o/o) zurückerhält, oder daß die bisherigen Zahlungen ihm als eine Gesamtzahlung angerechnet werden, die ihm nun ein natürlich viel kleineres Todfallkapital sichern.
4. Die Lebensversicherung als Vorläuferin der Arbeiterversicherung.
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Die Art des ökonomisch-technischen Geschäfts hier im einzelnen vorzuführen, würde zu weit führen. D a s Angeführte muß genügen, zu zeigen, um welche komplizierte Berechnungen es sich handelt. Die einzelnen Versicherten können fast nie sich einen Einblick über die Solidität des Geschäfts, über die Frage einer richtigen Absterbeordnung, einer genügenden Prämienreserve (Kapitalansammlung), über die Höhe der Verwaltungskosten verschaffen. S i e haben gegenüber den Organen der Aktiengesellschaft meist keine auskömmlichen Rechte; und auch in der Gegenseitigkeitsgesellschaft gelingt es nur schwer, die Masse der Versicherten, die ja eigentlich die "Unternehmer sind, zu richtiger Aktion gegenüber der Direktion zu bringen. Aber die Gegenseitigkeitsgesellschaften führen wenigstens den Hauptgewinn, den sie erzielen, i» Form von Dividenden an die Versicherten jederzeit ab,- die Aktiengesellschaften sahen sich neuerdings freilich auch genötigt, in beschränktem Maße das nachzuahmen, einen Teil ihres Gewinnes statt den Aktionären den Versicherten zukommen zu lassen. Wo. wie in den Vereinigten Staaten und England, eine übermäßige Konkurrenz sich erhielt und ein skrupelloses Beamten- und Agententum waltet, da klagt man bis in die neuere Zeit über eine kostspielige reklamehafte Verwaltung, maßlose Agentenprovisionen (bis 65 «/oder ersten Iahresprämie, 7,5 "/» der folgenden), über allzugroßen Wiederabfall der Neuversicherteu (über fünfmal soviel in den Vereinigten Staaten als in Europa). Die Ansätze zu ähnlichen Tendenzen in Deutschland, Österreich, der Schweiz wurden durch die Staatsaufsicht, durch die neueren Staatskontrollämter im ganzen in engeren Grenzen gehalten, ohne die große Zunahme des Geschäfts zu hindern. D a s Gesamtresultat des Lebensversicherungswesens in einigen der Hauptkulturstaaten läßt sich in folgenden Zahlen (nach Manes) überblicken. I n Deutschland, Frankreich, England, den Vereinigten Staaten, Österreich-Ungarn machten die Versicherungssummen in Millionen Mark aus: 1800 1850 !875 1910
. . . .
. . . . 204 . . . 1214 . . . 13537
9 140 1066 4 464
60 2 450 7 561 23 000
34 621 8 412 90 812
-
53 699 4339
Die Lebensversicherungssumme auf den Kopf der Bevölkerung machte aus Mark:
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1800 . . . - — 1850 . . . . 6,18 1M> . . . 122,85
0^4 4 76,VZ
3,75 74,1S Z23L0
0,87 12,7 461.25
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I n Deutschland zählte man 1910 12 Millionen Policen und wurden 311 Millionen Mark an die Berechtigten ausgezahlt, während 598,4 Millionen Prämien eingenommen wurden und 13,3 Milliarden versichert waren,- die Aktiven der deutschen Lebensversicherungen betrugen 5 Milliarden; die Summe ist natürlich viel geringer als die versicherten Summen, von denen der größere Teil erst in vielen Iahren fällig wird. Die Versicherung von Renten ist den Gesellschaften nur in beschränktem Umfang gelungen, fast gar nicht die Waisen-, Witwenund Krankenversicherung, obwohl sie viele Versuche machten. Hierfür mathematisch sichere Grundlagen zu gewinnen und ein kaufmännnisch sicheres Geschäft zu organisieren, scheint allzu schwierig zu sein. Dagegen ist in den letzten 30 Iahren die sogenannte V o l k s - oder Arbeiterversicherung als Geschäftsbetrieb, als Unternehmung in England und den Vereinigten Staaten doch in erheblicher Weise geglückt. Sie besteht darin, daß die Gesellschaften die kleinen Leute ohne Gesundheitsuntersuchung auf den Todfall mit Summen von 50 -300 Mark versichern und die kleinen Prämien wöchentlich abholen lassen. Diese Art der Lebensversicherung wird überwiegend von besonders hierfür gegründeten Gesellschaften betrieben und ist als Ergänzung der dortigen unvollkommenen übrigen Arbeiterversicherung an sich wohl heilsam, aber doch mit großen Schattenseiten verbunden. I n den Vereinigten Staaten hatten 1911 32 Anstalten 23—25 Millionen Policen; in gewissen Distrikten sind bis 75 °/» der ganzen Bevölkerung so versichert. I n England treiben das Geschäft 1911 16 Anstalten mit 30 Millionen Policen. Auch in Deutschland hat es in den letzten zehn Iahren großen Aufschwung genommen. Die Gesellschaften Friedrich Wilhelm, Viktoria, Nordstern haben das Hauptverdienst darum; im ganzen sind es 15 Anstalten. Die Policen stiegen 1891—1912 von 0,6 auf 8 Millionen. Die Kehrseite sind die großen Geschäftskosten durch die Abholung; rechnen doch die deutschen Anstalten hierfür mit 30 o/o der Einnahme, die englischen sogar mit 43; die amerikanischen und australischen brauchen oft über 50 o/o. Am schlimmsten ist, daß in den Vereinigten Staaten 1901—1911 nicht weniger als 24 Millionen Policen (63«/« der bestehenden) durch nicht fortgesetzte Bezahlung erloschen sind. Auch sonst haben diese Anstalten erhebliche Mißstände
363 erzeugt. Rohe Eltern spekulieren auf den Tod versicherter Kinder. In England bestehen große Klagen über teilweise moralische Anfechtbarkeit dieser Geschäfte. Und doch liegt in dieser Ausdehnung der Lebensversicherung bis in die unteren Klassen an sich ein außerordentlicher Fortschritt, dessen Pflege auf gesunder Grundlage und mit Schutz gegen zeitweise Nichtbezahlung höchst erwünscht ist; gerade auch in Deutschland neben unserer staatlichen Zwangsversicherung. 5. Wesen «nd Probleme aller Versicherung. Fassen wir die Resultate unserer bisherigen Ausführungen über Versicherung kurz zusammen. I n langsamen Versuchen erwuchs aus kaufmännischen Versicherungsgeschäften und alten genossenschaftlichen Gebilden das heutige große Versicherungswesen der mittleren und oberen Klassen: bankartige Großbetriebe in Aktienform und große korporativ-genossenschaftliche Anstalten versichern teils in freier Konkurrenz, teils in Monopolform Tausende und Abertausende von Teilnehmern gegen Gefahren aller Art, dehnen ihre Geschäfte über Provinzen, Länder, ja Weltteile aus. Ein eigentümliches System von Geld- und Kapitalreserven ist damit geschaffen; der Ungleichmäßig keit des wirtschaftlichen Bedarfs mit ihren schädlichen Folgen ist, soweit die Versicherung reicht, die Spitze abgebrochen. Noch ist das Ziel der Versicherung lange nicht erreicht: es läßt sich hoffen, daß es in hundert Jahren eine ganz andere Ausdehnung erlangen wird. Ein Hauptschritt auf dem Wege nach vorwärts ist durch die Arbeiterversicherung seit dreißig Iahren geschehen, von der wir noch zu reden haben. Und doch ist schon heute viel erreicht. Die bestehende Versicherung erleichtert die Tragung elementarer Unfälle; dem Tode von Eltern, Verwandten, Ernährern wird so seine furchtbare wirtschaftliche Schärfe genommen. Die Versicherung fördert die Sparsamkeit, den Fleiß, die Voraussicht, gibt Ruhe und Vertrauen in die Zukunft sowohl in der Familie, wie im Kontor des wagenden Geschäftsmannes. Sie wirkt indirekt auf die Vermeidung der Gefahren, auf besseren Haus- und Schiffsbau, auf vorsichtigere Lebensführung und ähnliches. Ihre materielle Bedeutung mag man daraus ermessen, daß heute (1909 bis 1912) in Deutschland etwa 66 Millionen Policen aller Art bestehen, 239 Privatanstalten das Geschäft betreiben mit einer Prämienemnahme von (1919) 1346 Millionen und 743 Millionen Mark Schadenauszahlung; schon für 1896 rechnete man in Deutschland 139
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Milliarden Mark versicherte Werte; heute kommen I'i M i l l i arden allein auf die Lebensversicherung, während die preußische Staatsschuld zirka 10 Milliarden ausmacht. Der Einfluß der Versicherungsinstitute ist jedem sichtbar, der ihr Ansehen und ihre Macht, ihre Wirkung auf den Kapitalmarkt, ihren Einfluß durch ihre Beamten -und Agentenscharen praktisch verfolgt. Die ideale, sozialpolitische und prinzipielle Bedeutung der Versicherung liegt darin, daß sie halb aus individualistischer, halb auf sympathisch-gemeinnütziger Grundlage ruht, die Solidarität und Vergesellschaftung steigert und doch unter Benutzung der genau beobachteten Erfahrung, der Gefahrengrößen Leistung und Gegenleistung berechnet. S i e will jedem das Seine nach Rechtsgrundsätzen geben und läßt doch den Glücklichen mithaften und zahlen für den Unglücklichen. Die Versicherung hat so eine rein privatrechtlich egoistische und eine human gemeinwirtschaftliche S e i t e ; für den Geschäftsmann ist das erstere, für den Sozialpolitiker das letztere das Anziehendere. I n der Korporation und Gegenseitigkeitsgesellschaft wurde das eine, in der Aktiengesellschaft das andere mehr betont und ausgebildet. Ein gewisser Kampf zwischen diesen zwei Richtungen mußte naturgemäß die tastenden Versuche der Ausbildung begleiten. Eine Reihe von weiteren Gegensätzen im V e r s i c h e r u n g s w e s e n kam zu diesen wichtigsten hinzu: nicht bloß die kaufmännische Behandlung des Geschäftes und die korporativ-genossenschaftliche und oureaukratischc bekämpfen sich, nein, ebenso die ganz freie Konkurrenz und die staatlich regulierte, beschränkte, kontrollierte; der Monopol- und Beitrittszwang und die freiwillige Teilnahme; die Anstalten des S t a a t e s und der Selbstverwaltung stehen den Aktien- und den freien Gegenseitigkeitsgesellschaften gegenüber; hier treffen wir eine Zusammenfassung der Geschäfte nach technischen Spezialitäten und Berufen, dort nach geographischen Abteilungen; hier große Zentralanstialten, die freilich der lokalen Vertretung nicht entbehren können, dort mehr lokale Betriebe, die aber auch wieder nach Vereinigung streben. W i r fügen über diese Prinzipienfragen der volkswirtschaftlichen Organisation, die auch im Arbeiterversicherungswesen eine sehr große R o l l e spielen, nur noch ein paar Worte bei. Der kaufmännische V e r s i c h e r u n g s b e t r i e b kann individualisieren, sich allen Verhältnissen anpassen; er hat die technische A u s bildung des Versicherungsgeschäftes am meisten gefördert; die Gefahr des Verlustes nötigt ihn zu möglichst richtiger Vorausberechnung; sein Triebrad ist der Gewinn, den er für Aktionäre, Direktoren, Agen-
365 tcn herausschlagen w i l l ; die Konkurrenz hat ihn aber auch zu M i ß brauchen aller Art, zu Verschleierungen, ja zu Betrug veranlaßt; all das konnte so leicht sich einstellen, weil die Versicherten kaum irgendwo das komplizierte Geschäft, das P a r i von Leistung und Gegenleistung übersehen und durchschauen können. Der B e a m t e n b e t r i e b , wie ihn Staat, Korporation, Genossenschaft, Gegenseitigkeitsgesellschaft führen müssen, entbehrt der egoistischen Erwerbsabsicht; er will gemeinnützig tätig sein und wirkt so auch, soweit er ausgezeichnete, ehrliche Beamte hat; in dem Maße, wie er solcher entbehrt, wird er träge, schablonenhaft, teuer, verschließt sich dem Fortschritt- die Rückwirkung der Versicherten, der öffentlichen Vertretungen auf diese Anstalten fehlt ja nie ganz; aber es fragt sich, wie sachverständig und energisch sie ist. Die M o n o p o l a n s t a l t hat den Vorzug, ohne Konkurrenzkampf und ohne große Konkurrenzkosten rasch zu Erfolgen zu kommen; hat sie gar das Zwangsrecht zur Teilnahme, so kann sie billig arbeiten, und der Zweck der Versicherung wird sicher und allgemein erreicht. Die freie Versicherungsanstalt ohne Monopol und Zwang dringt viel langsamer vor, hat teure Konkurrenzkosten, aber ihre Teilnehmer sind überzeugte Anhänger, nicht widerwillig gezwungene; wer bei ihr versichert, ist in seinen Motiven, ist wirtschaftlich ein anderer geworden Konkurrierende freie Anstalten sind immer gezwungen, durch Fortschritte, durch Entgegenkommen die Versicherten zu gewinnen J e größer die Gefahren einer Versicherung sind, je ungleichartiger die Risiken, desto erwünschter sind Anstalten mit einer sehr großen Zahl Versicherter und großer geographischer Ausdehnung; aber je größer sie sind, desto höher sind auch die Kosten, zumal bei sehr zerstreutem Wohnen der Versicherten. W e n n 25—50 Anstalten nebeneinander ihre Agenten an jedem größeren Orte haben, so liegt die Frage sehr nahe: wozu dieser große Apparat? Er ließe sich, wenn das Geschäft in derselben Hand wäre, auf ein Zehntel der Personen und Kosten beschränken. Kleinere, mehr lokale Versicherungsvereine haben den Vorzug, mit einfachster billigster Organisation, gestützt aus örtliche Personen- und Sachkenntnis, zu arbeiten; sie ruhen auf den sympathischen Gefühlen der Nachbarn, Freunde, Berufsgenossen, wie die alten Gilden. D a s Krantenversicherungswesen hat bis jetzt nicht anders gedeihen wollen, ist den kaufmännisch organisierten Aktiengesellschaften bis jetzt stets mißlungen. E s scheint klar, daß die verschiedenen Organisations- »nd Betriebs-
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formen der Versicherung je für den einen oder anderen Zweig angemessener sind: die Transportversicherung taugt nur für den kaufmännischen Betrieb, die Gebäude-, die Viehseuchenversicherung am ehesten für Staats- und Provinzialanstalten, während die Lebensversicherung in solchen Händen nicht recht gedeiht. Im übrigen treten alle die erwähnten Gegensätze des Betriebes und ihre Folgen je nach Rasse, moralisch-geschäftlichen Sitten und vielen anderen Umständen doch noch wesentlich verschieden auf. E s gibt die anständigsten und die unanständigsten Aktien-, tätige und lotterige Korporationsbetriebe. Je nach der Staatskontrolle und Versicherungsgesetzgebung hält sich dieselbe Betriebsform in diesem Lande in ganz anderen Bahnen als in jenem. Und die neueste Verbands- und Kartellierungsbewegung hat auch in den Ländern des freiesten Versicherungswesens eine Vereinheitlichung der Bedingungen, eine Einschränkung der Konkurrenzmißbräuche erzeugt; sie läuft in ihrem letzten Ende auf etwas Ähnliches hinaus wie die Staatskontrolle oder gar die zentralisierte monopolistische Staatsanstalt. Die historische Entwicklung der Betriebsformen war im 18. und 19. Jahrhundert klar und einfach: die alten kleinen Vereine versagten das kaufmännische und Aktiengeschäft drang zuerst im Transport-, dann im Feuer- und Lebensversicherungsgeschäft immer weiter vor, zuerst mehr Fortschritte erzeugend, dann durch die starke Konkurrenz und ihre Mißbräuche da diskreditiert, wo schamloser Erwerbstrieb sich dieser Betriebsformen ganz bemächtigt hatte und keine Staatskontrolle sie in die Schranken reellen Geschäftes wies. Die genossenschaftlichen Gegenseitigkeitsgesellschaften minderten diese Gefahren, solange und soweit gemeinnütziger Sinn und anständige Reellität sie beherrschten. Aber seit 1852—1862 greift man in England und Frankreich zu staatlichen Altersrenteneinrichtungen für die unteren Klassen; selbst in den Vereinigten Staaten tauchen ähnliche Projekte auf. Und von 1870—1900 wirkte die Empfindung für die Mißbräuche und Schattenseiten der freien Konkurrenz auf dem Markte des Versicherungswesens immer stärker. Verstaatlichung und Verländerung wird da und dort die Parole; die Aktiengesellschaften klagen über volkswirtschaftliche Reaktion und Staatssozialismus; die korporativen und staatlichen Anstalten nehmen zu, freilich ohne entfernt das private Geschäft zu verdrängen, das gewitzigt ist und, von staatlichen Kontrollämtern beaufsichtigt, sich steigend reinigt. Die vollständige Beseitigung aller kaufmännisch freien Versicherung wäre weit übers Ziel geschossen. Aber das Vordringen der entgegengesetzten
6. Die Arbeiterversicherung; ihre wirtschaMchen Voraussetzungen.
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Form der Organisation war berechtigt. Ihren Hauptsieg erlangte sie auf den Gebieten der Arbeiterversicherung, zu der wir uns nun wenden.
6. Die Arbeiterversicherung; ihre wirtschaftliche» Voraussetzungen. Unter dem Name.n der Arbeiterversicherung faßt man heute eine Anzahl von Versicherungseinrichtungen zusammen, die wesentlich den heutigen Lohnarbeitern oder sonstigen kleinen, überwiegend von ihrer Arbeit lebenden Leuten dienen, ihnen für die Fälle, da die Arbeitskraft versagt, geschmälert ist, aufhört, ein Einkommen geben, die wirtschaftliche Existenz ermöglichen oder erleichtern sollen. E s handelt sich um die Versicherung im Falle des Todes, der Krankheit, des Alters, der Invalidität, der Schädigung durch Unfälle, der Witwenund Waisenschaft, der Schwangerschaft; endlich gehört im weiteren Sinne auch die Arbeitslosigkeit, die Arbeitseinstellung, die Wanderschaft zu den Fällen, in welchen eine Unterstützung des Arbeiters angezeigt erscheint. Wir beschränken uns zunächst auf die zuerst genannten Fälle, kommen auf die Arbeitslosigkeit und die Arbeitseinstellung nachher besonders. Eine gewisse Hilfe und Unterstützung für sie bestand längst durch die Jnnungs- und Gesellenkassen, die Bruderschaften, Knappschaftskassen und ähnliche Genossenschaften älterer Zeit. Aber sie reichten, je mehr die Geldwirtschaft siegte, das wirtschaftliche Leben komplizierter und wechselvoller wurde, der Arbeiterstand sich vermehrte, teilweise in seiner Lebenshaltung und in seinem Lohn zurückging, nicht mehr aus. Immer dringlicher wurde in den Tagen der wachsenden Armenlast, der Proletarisierung breiter Volksschichten 1800^1889 das Bedürfnis, mehr und bessere Hilfskassen, wie man sie überwiegend nannte, für die Arbeiter zu gründen. Und es war natürlich, daß die Ausbildung des von uns bereits geschilderten Versicherungsgeschäftes, seiner Grundlagen, seiner Geschäftsformen im Laufe des 19. Jahrhunderts immermehr Anlaß gab, auch aus den alten unvollkommenen, genossenschaftlichen tzilfskassen Versicherungsanstalten zu machen, welche auf ähnlichen mathematisch-statistischen Grundlagen ruhten, ähnlich feste Rechtsansprüche gäben, ähnlich in ihrer Zukunft gesichert wären. M a n wird sagen können, daß dies vor allem in den letzten 30 Iahren geschehen ist und dem heutigen verbesserten Arbeiterversicherungswesen seinen Stempel aufgedrückt hat.
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E s beruht daher heute in seinem Kerne auf denselben Gedanken wie die den Mittelklassen hauptsächlich dienenden Versicherungsanstalten : gewisse Gefahren und Schäden, welche die Glieder einer gesellschaftlichen Gruppe bedrohen, sollen gemeinsam durch die Gruppe getragen, es sollen hierfür Beiträge von den Beteiligten oder von physischen und moralischen Personen, die ein Interesse, eine Verpflichtung für sie heben, erhoben, und die gesammelten M i t t e l nach festen Rechtsgrundsätzen an die Geschädigten verteilt werden. Der Unterschied der Arbeiterversicherung von den übrigen Versicherungsarten besteht nur darin, daß die Arbeiterversicherung die älteren Formen der Gilde, der genossenschaftlich-brüderlichen Hilfe, die M i t t e l sammelt, soweit sie kann, und gibt, w a s sie eben hat, die daher nicht so streng nach Rechtsqrundsätzen verfährt, erst nach und nach zurückgedrängt und überhaupt nie ganz abgestreift hat; ferner darin, daß auf diesem Gebiet die staatliche Gesetzgebung, die Hilfe der S t a a t s - und Gemeindeverwaltung, die durch den S t a a t erfolgte Korporationsbildung viel stärker eingriff; endlich darin, daß hier Zuschüsse des S t a a t e s , der Gemeinden und der Arbeitgeber eingeführt, ja einzelne Zweige ganz von dem S t a a t e und der Gemeinde übernommen wurden. E s war letzteres nichts N e u e s : die Armenpflege beruhte längst auf öffentlichen M i t t e l n e s war ferner ein uraltes soziales Prinzip, daß der Dienstherr, der Grundherr, der Schiffsführer, der Bergwerkseigentümer für seine kranken, alten, in N o t befindlichen Leute mit einzutreten hatte. Diese Verpflichtung verwandelte sich jetzt auf dem B o d e n der Großindustrie und des heutigen Versicherungsrechtes in die öffentlich-rechtliche Zuschußpflicht der Arbeitgeber zu den Arbeiterversicherungskassen oder gar in die Pflicht für gewisse Schäden (die Unfälle), welche sich a l s einen Teil der Produktionskosten darstellen, qcin; aufzukommen. Einige überkluge J u r i s t e n haben unter dem Eindrucke dieser bei der Arbeiterversicherung mitwirkenden besonderen Elemente geglaubt. den B e g r i f f der V e r s i c h e r u n g überhaupt auf oie neueren Kranken-, Unfall- und Invaliditätskasseneinrichtungen nicht anwenden zu sollen,' aber sie widersprechen damit dem Wortlaut der Gesetze, dem allgemeinen Sprachgebrauch und dem Kern der Sache. W e n n man die Arbeiterversicherung begrifflich in zwei selbständige rechtliche und wirtschaftliche Vorgänge, in die staatlich-soziale Fürsorgepflicht und die Beitragspflicht der belasteten Kreise auseinanderreißt, tut man dei ganzen Einrichtung Gewalt an. Unter den Begriff der staatiicben Fürsorgepflicht fällt auch das Armenwesen, das Erziehungs-
6. Die Arbeiterverstcherung; ihre wirtschaftlichen Voraussetzungen.
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Wesen, der Arbeiterschutz usw. Die betreffenden juristischen Theoretiker haben bei ihrem engen Versicherungsbegriff nur die Merkmale des privatrechtlich-kaufmännischen Versicherungsvertrages im Auge; ps entgeht ihnen, daß fast bei aller Versicherung eine öffentlich-rechtliche Kontrolle vorkommt, eine gewisse gesellschaftliche Fürsorge mitspielt, und daß in der Mehrzahl der Fälle aller Versicherung Leistung und Gegenleistung sich nicht direkt glatt decken. Doch lassen wir diese juristisch-begrifflichen Erörterungen auf sich beruhen. Am besten scheint mir A. Menzel die einschlägigen rechtlichen Begriffe erfaßt zu haben. Wenden wir uns zur Sache. Fragen wir, welche realen Lebensverhältnisse zu der modernen Arbeiterversicherung geführt haben. Wollen wir bei den allgemeinsten Ursachen stehen bleiben, so sind es dieselben, welche einerseits das Versicherungswesen überhaupt, andererseits das Armen- und Sparkassenwesen erzeugten. Die Auflösung der Natural- und Eigenwirtschaft, der alten Verbände, die Zunahme von Personen, welche auf mäßige, meist wechselnde, oft unsichere Geldeinnahmen gestellt sind, und welche zugleich in ihrer Ausgabewirtschaft noch nicht gelernt haben, für die Zeiten größerer Auslagen und Kosten Rücklagen zu machen, welche die täglichen Einnahmen auch täglich ausgeben, das sind die allgemeinen Voraussetzungen, welche die Arbeiterversicherung in der Gegenwart immer nötiger machten. I n dem Maß, wie die Geldwirtschaft, der Großbetrieb, die freie Konkurrenz, das Geldlohnverhältnis zunahm, wuchs das Bedürfnis. E s ist geringer, wo noch ein breiter Bauernstand, wo zahlreiche Parzellen und Zwergwirte existieren» wo ein größerer Handwerker- und Kleinhändlerstand sich noch erhielt, wo die ländlichen Tagelöhner noch in Natura bezahlt werden, die meisten kleinen Leute noch ein Allmendestückchen, einen gepachteten Kartoffel- und Gemüsegarten haben. Alle derartigen Familien haben in ihrer Eigenwirtschaft, in den Naturaleinnahmen einen Rückhalt, der bei Krankheit zum Beispiel nicht gleich versagt. Die geographisch und zeitlich so verschieden auftretende Dringlichkeit der Arbeiterversicherung erklärt sich zu einem guten Teil aus den ebencharakterisiertenverschiedenen sozialen Zuständen. Ebenso hängt mit ihnen, wenigstens teilweise, die Frage zusammen, ob die beginnende geldwirtschaftliche Fürsorge sich der Arbeiterversicherung oder der Sparkasse oder der Anlage im eigenen Kleinbetrieb zuwendet oder zuwenden soll. Wo die unteren Klassen noch eine mehr kleinbürgerliche oder kleinbäuerliche Lebensführung haben, kann man S c h m o l l e r , Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf.
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zweifeln, ob nicht jede ersparte Mark besser zum Ankauf einer Ziege, eines Schweines verwendet, in die Sparkasse getragen als in eine Krankenkasse gezahlt werde. Wir werden sehen» wie aus solchen Zuständen heraus eine Opposition gegen das Versicherungswesen erwachsen ist, wie es da am frühesten Platz griff, wo diese Zustände durch Großbetrieb und reinen Geldlohn seit länger am weitestgehenden verdrängt wurden. Im ganzen werden wir aber sagen, hindern sich Sparkasse und Hilfskasse auf die Dauer nicht; die eine gibt eine frei verfügbare, die andere eine zu festem Zweck gemachte Rücklage und Sicherung. Beide sind nötig, und wer in die Sparkasse zahlt, wird auch leicht Mitglied einer Hilfskasse und umgekehrt. Die weitgehende deutsche Zwangsarbeiterversicherung hat nicht gehindert, daß Deutschland zugleich das entwickeltste Sparkassenwesen hat) die geringere und spätere Entwicklung der französischen Hilfskassen hat dort die Sparkasseneinlagen nicht besonders gesteigert. — Das stärkste Bedürfnis für Kranken-, Invaliden- usw. Versicherung hat der moderne reine Geldlohnarbeiterstand. Aber auch viele andere kleine Leute, Handwerker, Heimarbeiter, Werkmeister, Kleinbauern hängen mehr und mehr von schwankenden Geldeinnahmen ab, erhalten eine gesicherte Lebensführung nur durch die Versicherung. Wo man, wie in Deutschland, die Arbeiterversicherung zunächst ganz auf Lohnarbeiter zuschnitt, die Erhebung der Beiträge wesentlich durch Lohnabzüge seitens des Arbeitgebers ausführen läßt, hat man den Beitritt jener anderen Elemente erschwert. Sie machen bei den freien Krankenkassen Englands und Frankreichs Vz—^2 der Mitglieder aus. Man hat auch in Deutschland mehr und mehr eingesehen, daß man unrecht und falsch handelte, diese Elemente des unteren Mittelstandes, deren wirtschaftliche Lage oft schlechter ist als die der besseren Arbeiter, auszuschließen. M a n versucht jetzt mehr und mehr, ihnen die Versicherungseinrichtungen zu öffnen. Gehen wir nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen zu den Bedingungen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der einzelnen Arten der Arbeiterversicherung über, die sie heute so notwendig machen. a) Alle Krankheit bringt Störung und Kosten in die Wirtschaft der Familie, um so größere, je geringer das Einkommen, je mehr es vom Geldverdienst der Eltern abhängt. Die Krankheit der Kinder ist noch erträglich, wenn die Mutter zu Hause ist,- Krankheit der Mutter ist schon viel schlimmer, zumal wo nicht halb oder ganz erwachsene Kinder und Dienstboten in der Wirtschaft helfen; am härtesten ist die
6. Die Arbeiterversicherung; ihre wirtschaftlichen Voraussetzungen.
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Krankheit des Vaters, zumal wenn damit der Verdienst aufhört. Selbst in Familien mit gesichertem Einkommen sind die Kosten für Pflege und Kuren oft schwer aufzubringen; bei den kleinen Leuten und Arbeitern vernichten sie meist die wirtschaftliche Existenz ganz oder auf lange. Die Krankheit, sagt Rubinow, ist die tzauptursache der Armut. Die Krankheitskosten wirken für die Familienwirtschaft wie die Kriege und ähnliches für die Staatswirtschaft. Sie kommen unregelmäßig und unerwartet' das gewöhnliche Budget ist nicht für sie eingerichtet. Ja, wenn die 5—6 Krankentage, die jährlich in Deutschland auf einen versicherten Arbeiter kommen, auf alle nach Alter und Beruf gleich verteilt wären, wenn jeder Arbeiter zweimal jährlich 3 Tage deshalb feiern müßte, dann wäre die Last nicht so schwer zu tragen. Aber die jungen Jahre, die kräftigsten Leute, die gesundesten Berufe haben lange Zeiten ohne Krankheitstage; mit höherem Alter» in bestimmten Berufen nehmen sie zu; und einzelne werden, jung oder alt, von monatelanger Krankheit und damit von Verdienstlosigkeit und großen Kosten von 100—300 und mehr Mark jährlich befallen. Die alte Sitte, daß der Brotherr das Gesinde, die Kommis, die Gesellen, die Matrosen eine Zeitlang verpflegt, den Lohn fortzahlt, ist auch heute noch nicht ganz verschwunden, aber sie ist doch in rascher Abnahme begriffen. Wo vollends tägliche Entlaßbarkeit Sitte geworden, da macht Krankheit den Arbeiter sofort brotlos, übergibt den Kranken und seine Familie dem Hunger und der Armenkasse, wenn sie nicht versichert sind. Je niedriger die Löhne stehen» desto erwünschter ist es, daß auch Frau und Kinder des Arbeiters gegen Krankheit versichert sind; sie bleiben sonst ohne ärztliche Pflege und Arznei, der Mann kann aus seinen laufenden Einnahmen schwer etwas für sie tun. Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet hat, vor der neueren Arbeiterversicherung sei in den Kulturländern für kranke Pferde und krankes Rindvieh besser gesorgt worden als für die kranken Arbeiter. Auf Armenkosten kamen die Leute häufig erst dann ins Spital, wenn es zu spät war. Für sehr viele Arbeiter hat eine Krankenpflege überhaupt erst mit der neueren Arbeiterversicherung begonnen. Um welche großen Schäden aber es sich dabei im ganzen handelt, sei nur durch folgende Angaben aus der neuesten deutschen Krankenversicherung (die auf den Gesetzen von 1883- 1911 beruht) erhärtet: Zahl der Zahl der auf IW Zahl der Krankheitstage Versicherten Krankheitsfälle Versicherungen absolut auf einen Krankenfall 1888 5,4 Mill, 1,7 Mill. 32 Fälle 29,5 Mill. 16,8 Tage 1912 15,1 „ 42 I28,Z 20,3 „
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Wenn heute durch die organisierte Krankenpflege jährlich in Deutschland über 400 Millionen Mark (einschließlich der Berg- und Eisenbahnarbeiter) ausgegeben werden» so erhellt die Bedeutung dieser Hilfe durch den Vergleich mit der öffentlichen Armenpflege, welche man 1889 auf etwa 100 Millionen Mark schätzte, heute vielleicht zu 130 anzunehmen ist. b) Das Wochenbett der ärmeren Frau, auch wenn es gut verläuft, bringt Kosten und längere Arbeitsunfähigkeit; humane Vereine, die innere Mission, katholische Schwestern traten da mannigfach helfend ein, liefern Nahrung und Pflege für die Betreffende und ihre Familie in solcher Zeit. Aber das reicht nicht aus. Daher ist auch hier die Versicherung, welche sich am besten mit der Krankenversicherung verbindet, am Platz; die Frau muß für die Zeit des Wochenbettes eine bestimmte Einnahme erhalten. Die deutschen Krankenkassen zahlten 1897 über 2 Millionen Mark für solche Fälle. o) Stirbt der arme M a n n oder ein Glied seiner Familie, so entstehen Kosten aller Art; ein anständiges Begräbnis will selbst die ärmste Witwe ihrem Mann verschaffen; stirbt ein verdienendes Familienglied, so wird die ganze wirtschaftliche Lage eine andere; ein Umzug, die Änderung aller Verhältnisse macht Kosten. Daher das Bedürfnis für die Familie, im Falle eines Todes eine etwas größere Summe von wenigstens 30, 100, auch 200 Mark in die Hand zu bekommen, das durch die Versicherung eines Sterbegeldes befriedigt wird. Sie ist eigentlich älter als die Krankenversicherung; die niedrigsten Arbeiter wie der Mittelstand fühlen die Notwendigkeit und sind bereit, hierfür etwas in guten Tagen zu zahlen. Besondere Sterbekassen und die meisten Krankenkassen dienen dieser Versicherung. Außerdem kommt die oben erwähnte Volksversicherung diesem Bedürfnis entgegen. Wo sie sich weit ausgedehnt hat (zum Beispiel in Newark, N. I . , Ver. Staaten), von da wird berichtet, daß früher die Hälfte aller sterbenden Einwohner ein Armenbegräbnis in Anspruch nahm, daß jetzt aber derartiges kaum mehr vorkomme. I n Deutschland bestehen heute, wie erwähnt, 8 Millionen Volksversicherungspolicen; von den 13 Millionen in den Krankenkassen Versicherten haben die meisten zugleich ein Recht auf Sterbegelder; ihre Familien erhalten das Sterbegeld. ch Sterben müssen alle Menschen, krank werden sie oftmals, von den deutschen Arbeitern heute jeder jedes dritte Jahr einmal. Unfälle, welche arbeitsunfähig machen, sind viel seltener; aber wenigstens die schwereren unter ihnen treffen den Verunglückten und seine Fa-
6, Die Arbeiterverficherung; ihre wirtschaftlichen Voraussetzungen.
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milie um so härter. Ist das Ereignis eine Folge der gewöhnlichen hauswirtschaftlichen Tätigkeit, wie eines Sturzes vom Wagen oder der Leiter, eines Schlages vom Pferde, eines Unglücks auf der Jagd, so trifft wenigstens keinen Dritten die Schuld. Der Betreffende und die Familien müssen es tragen, nötigenfalls tritt die Armenpflege, das Hospital, die Unterstützung von Verwandten ein. Wo aber besondere Gefahren mit einem Beruf im Dienste Dritter sich verbinden, wie mit der Bergwerksarbeit, dem Schiffergewerbe, dem Felddienst der Soldaten, da hat man seit Jahrhunderten schon getrachtet, Stiftungen, Kassen, Invalidenhäuser zu schaffen, um die Mittellosesten der Verunglückten zu unterstützen. Aber so mancherlei derart auch geschah, zum Beispiel für die Kriegs- und Berginvaliden, so wenig reichte es doch aus. Und je mehr die Großindustrie zunahm und in ihr die vielfach gefährliche Maschinentechnik, desto dringlicher wurde es, für die Verunglückten zu sorgen, welche im Dienste der Unternehmer ihrem Berufe erlagen, und für welche bisher weder Rechtsschutz noch Versorgung in ausreichendem Maße bestand. Von 1830—1880 wurde die Frage der Betriebsunfälle in den Kulturstaaten immer dringlicher. M a n zählte in Preußen 1869 3999, 1876 13600 schwere Unfälle, wovon 3123 und 8333 im Berufe erfolgten, 4769 und 6141 tödlich waren. A l s die deutsche staatliche Unfallversicherung eingeführt wurde, erhielten wir erst einen klaren Einblick in die Unfälle, speziell in die beruflichen. Die Zahl der Versicherten stieg von 1885 bis heute von 3—4 auf 27 Millionen Personen. Außer den Arbeitern sind darunter viele kleine Unternehmer, besonders landwirtschaftliche. Die Zahl der gemeldeten Unfälle erreichte 1912 742422, stieg von 1889—1901 von 2,60 auf 10,56 o/n der Versicherten. Sie mußte so steigen, weil zuerst die Meldungen entfernt nicht vollständig waren, und weil die zunehmende Maschinenanwendung zumal im Anfang die Unfälle steigern mußte. Von den Unfällen waren aber über 80 °/» so unbedeutend, daß sie nur Behandlung bei der Krankenkasse nötig machten, den Rest hatten die genossenschaftlichen Berufskassen zu übernehmen; aber sie hatten etwa 88 o/o der Gesamtkosten zu tragen. Die Folgen der Unfälle bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften verteilten sich mach abgeschlossener Beurteilung so: Todesfälle 1886 25,8 °/o, 1910 7,8«/«, völlige Erwerbsunfähigkeit 1886 3,5«/», 1910 0,45 o/o, teilweise dauernde Erwerbsunfähigkeit 1886 39,6 °/o, 1892 56,2 «/, 191g 26,81 o/o, vorübergehende Erwerbsunfähigkeit 1886 30,9»/« 1910 64,5 °/o. Also große Abnahme der schweren, Zunahme der leichten
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Fälle, was nur Folge des zunehmend verbesserten Heildienstes und dann des zunehmenden Einbeziehens der leichten Fälle sein kann. e) Außer dem Berufsunfall schmälert nun aber auch die dauernde anstrengende heutige Berufsarbeit langsam und nach und nach die körperliche Kraft vieler Arbeiter. Besonders die schwächlicheren Individuen, und die in gesundheitsgefährlichen Betrieben Arbeitenden sind oft schon vom 30., 40. oder 50. Jahr an nicht mehr fähig, harte Arbeit zu verrichten. Die neuere Altersstatistik der Akkordverdienste zeigt, bei wie vielen Tätigkeiten, die vor allem starke Körperkraft fordern, sehr frühe der Verdienst abnimmt. Für viele Arbeitsstellen suchen die Unternehmer nur junge, kräftige Leute, entlassen die älteren. Gibt es nun auch noch zahlreiche Stellen, bei denen es nicht so auf Körperkraft wie auf Erfahrung und Umsicht ankommt, die große Tatsache bleibt, daß in allen Berufen, welche zugleich Volte Körperkraft fordern, eine durch Krankheiten, Kräfteverbrauch, oft auch durch schlechte Ernährung, durch sonstiges hartes Schicksal sich steigernde Abnahme der Leistungsfähigkeit und Verdienstmöglichkeit sich relativ frühe einstellt. Auf 1 Million versicherter Personen kamen neuerdings in Deutschland jährlich I n v a l i d e im Alter von 2 0 ^ 2 9 234, in dem von 30— 39 340, in dem von 40 - 4 9 464, in dem von 50—59 1150, in dem von 60- 69 2044. Für sie alle hört mit dem Eintritt der I n v a l i d i t ä t die eigentliche Verdienstmöglichkeit auf. E s muß irgendwie für sie wie für die gesorgt werden, welche vom 70., viel besser noch von einem früheren Jahre an, nicht mehr voll arbeiten können. Gewiß können sich manche dieser Invaliden oder Alten da und dort noch etwas, zum Beispiel als Pförtner, nützlich machen; zumal die älteren Frauen sind in der Familie verwendbar. Aber es fragt sich, wieweit das geht, und inwieweit die Familien die Last und den Unterhalt solcher Leute ertragen können. Ein Jahrtausende währender Erziehungsprozeß hat die Pflicht den Kindern eingeschärft, für die alten Eltern und Verwandten zu sorgen. I n der patriarchalischen Familienwirtschaft, zumal auf dem Lande, geschieht heute noch vieles in dieser Richtung, nicht bloß für die Verwandten, sondern auch für Dienstboten. Der arbeitsschwach gewordene Bauer erhält vielfach noch von seinem Sohne, der den Hof übernimmt, das Altenteil, das heißt Wohnung und die notwendigen Naturalien. Der schwächer werdende alte Handwerker, Kleinhändler, Kaufmann, dem ein kräftiger Sohn zur Seite steht, kann oft noch lange im Geschäfte scheinbar seine Rolle ausfüllen; oft freilich zu dessen Schaden und nicht ohne harte Reibungen. Aber allerwärts wird die derartige
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Versorgung der Alten schwieriger, zumal in der Stadt, in der verkleinerten Familienwirtschaft, bei ben Unbemittelteren. Mit dem Siege der Geldwirtschaft, der heutigen Freizügigkeit und Beweglichkeit, der heutigen Lockerung der Familienbande, heißt es möglichst für jeden Einzelnen, so viel sichern, so viel erwerben, daß er im Falle dauernder Arbeitsunfähigkeit und iin Alter auf sich stehen kann. Aller Eigentumserwerb, jedes Sparkassenbuch gibt nun eine gewisse Sicherheit für Alter und Invalidität. Manche Arbeiter treten auch heute noch vom 30.-60. Jahre in eine Unternehmerstellung. Die männlichen Arbeiter unserer Berufs- und Gewerbezählungeu» die 15—30 Jahre alt sind, enthalten zugleich die Söhne der höheren Klassen; unter ihren weiblichen Arbeitern sind viele Tausende, die von 30—60 Jahren verheiratete Frauen ohne Lohnarbeit sind. Und wo kleinbürgerliche Verhältnisse vorherrschen, wo die Arbeiter sehr sparsam sind, wo leicht mit dem ersparten Kapital ein Häuschen, ein Fleck Ackerland, eine kleine Schankwirtschaft, eine tzökerei zu erwerben ist, da mögen noch viele Arbeiter mit einem kleinen Kapital in der Hand sich so im Alter leidlich stehen, auch damit gut für ihre Kinder sorgen. Dies hat man besonders in Frankreich betont und gegen die Altersversicherung angeführt, von Thiers im Jahre 1848 bis zu Cheysson im Jahre 1902. Aber es ist dagegen zu sagen, daß solche Altersversorgung, je größer der Arbeiterstand wird, desto weniger zureicht, daß auch leicht der Arbeiter, der ein Häuschen, ein kleines Geschäft kauft, dabei übel fährt, sein Eigentum aufs Spiel setzt, dem Geschäft nicht recht vorstehen kann. Das spricht auch gegen alle Altersversicherung der Lohnarbeiter auf ein festes Kapital, statt auf eine Rente, die nicht verloren gehen kann, die den noch möglichen kleinen Verdienst des Invaliden ergänzt. Die Invaliden- und Altersversicherung mit dem Anspruch auf eine lebenslängliche Rente wurde daher 1883—1900 immer dringlicher in den entwickeltsten Kulturstaaten angestrebt. — Ohne eine solche sind die invaliden und alten Arbeiter der Armenkasse verfallen, wie man in England bis zur Einführung der staatlichen Altersrente und heute auch anderwärts sah. Aber leicht durchzuführen ist sie nicht; sie begegnet größeren Schwierigkeiten als die Kranken-, Sterbegeld- und Unfallversicherung. Die jungen Arbeiter vor der Zeit der Verheiratung, welche am ehesten Versicherungsbeiträge für sie zahlen können, sehen die Zeit der I n validität und des Alters als eine so ferne vor sich, daß sie kein Opfer für sie bringen wollen; auch später sind nur die wenigsten freiwillig dazu zu bringen; in den ersten 3 15 Iahren der Ehe kämpfen sie
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mit mehreren kleinen Kindern den schwierigsten Kampf ums Dasein; versichern sie sich erst vom 40. Jahre an, so wird die Sache zu teuer. Eine bloße Altersversicherung, die eine Rente jedenfalls erst vom 65. oder 70. Jahre an gibt, lockt nicht. Sehr viele Arbeiter erreichen dieses Alter gar nicht; die meisten haben vorher schon eine geschwächte Arbeitskraft, brauchen eine Invalidenrente für eine frühere Zeit. Nur ein Zwang zur Versicherung, wie ihn erst die Bergwerke, dann die Eisenbahnen und andere große Geschäfte für ihre Arbeiter, neuerdings die Staatsgewalt in Deutschland für alle übte, hat zu brauchbaren Resultaten geführt. Aber sie waren nur unter Überwindung großer Schwierigkeiten und Widerstände zu erreichen. Die große Zahl der Personen und hohe Kosten erschweren das Werk, auch wenn man die Renten sehr mäßig ansetzt. Bödiker meinte schon im Anfange des deutschen Versicherungsplanes, die Unfallversicherung werde 1, die Krankenversicherung 3, die Invalidenversicherung 2"/» der Löhne kosten. I m Jahre 1912 betrugen die gesamten Leistungen 205 Millionen Mark, also wohl etwas mehr als die ganze öffentliche Armenpflege. Außerdem sind hier kleine örtliche Kassen nicht ausreichend wie bei der Krankenversicherung; nur in großen Verbänden gleicht sich der Zufall a u s ; nur solche können für Jahrzehnte die enormen Kapitalbestände ansammeln, wie sie nötig sind, um Tausende von Rentenzahlungen für Jahrzehnte sicherzustellen. Die richtige Berechnung der Beiträge im Verhältnis zu den Renten und der sie sicherstellenden Kapitalien bot sehr große Schwierigkeiten man brauchte dazu Absterbetafeln und Invalidentafeln, die den konkreten Verhältnissen der Arbeiterklasse entsprechen. Waren schon die statistischen Grundlagen der Erkrankungshäufigkeit, auf denen die Krankenkassen, wenn sie sicher arbeiten sollten, sich aufbauen mußten, schwer zu beschaffen in England hat man erst seit 1880 brauchbare so konnte man sie doch für die Krankenkassen eher entbehren; man kam in Kassen mit gesichertem Mitgliederbestand aus, wenn man jährlich so viel umlegte, wie man im Jahre brauchte und wie genügte, eine 2 3 jährige Iahresausgabe als Reserve zu sammeln. Auch die deutsche Unfallversicherung begnügte sich mit einer Umlage des Iahresbedarfs und der Ansammlung stärkerer Reserven. F ü r die Alters- und Invalidenversicherung aber muß man das versicherungstechnisch vollendete Verfahren einschlagen, das Prämiendeckungsverfahren, das so viel für jeden Versicherten erhebt, daß die für ihn gemachten Einzahlungen stets der Wahrscheinlichkeit seiner Invalidität entsprechen. Die ersten
6, Die Arbetterversicherung; ihre wirtschaftlichen Voraussetzungen.
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halbwegs für sie brauchbaren Beobachtungen stammen in Deutschland aus der Zeit 1869—1885, und sie waren doch noch so unsicher, daß nur mit sehr hohen Zuschlägen ihre mathematische Benutzung möglich schien. Nach den damaligen Erfahrungen rechnete man auf jährlich 148333 Invaliden in Deutschland, nach den berichtigten von 1898 sind es 88626. Daher bald die großen Überschüsse. Hätte man sich nach der entgegengesetzten Seite geirrt, so wären ungeheure Defizits eingetreten. Die ungewöhnliche Schwierigkeit der wirtschaftlichen Sicherstellung großer Alters- und Jnvalidenkassen springt hiermit klar ins Auge. k) Die Witwen- und Waisenversicherung ist die notwendige Ergänzung der Invalidenversicherung. Nur selten kann eine alleinstehende Frau ohne Besitz für sich und mehrere Kinder sorgen; geht sie den ganzen Tag auf Arbeit, so muß sie ihre Kinder vernachlässigen! auch wenn sie etwas verdient, muß sie einen Zuschuß haben, den oft Verwandte oder zuletzt die Armenkasse geben, der ihr aber viel besser in der Form der Versicherung einer Rente verschafft wird. Die Schwierigkeiten der Durchführung sind auch hier die gleichen wie bei der Invalidenversicherung: der Verdienst ist in guten Tagen ohnedies meist nicht so groß, daß viel an Beiträgen dieser Art gezahlt werden kann. I n den Knappschafts- und Eisenbahnkassen und in den Pensionskassen großer Werke ist freilich auch schon lange für die Witwen und Waisen einer kleinen Elite der Arbeiter gesorgt. Große Stiftungen und Zuschüsse der Werke haben das bei mäßigen Beiträgen auch ohne streng versicherungstechnische Grundlagen ermöglicht. Eine allgemeine Durchführung hat man in Deutschland lange für unmöglich gehalten. Die Grundzüge der deutschen Invalidenversicherung von 1887 nahmen die Witwenkosten auf jährlich 1 1 9 ^ Millionen Wart an, was neben denen für die Invaliden von 136 Millionen zunächst nicht aufzubringen sei. Auf denselben Boden stellte sich die Reform von 1899 mit der Berufung auf den noch zu geringen Wohlstand des Landes. Der Grund war bei der guten Lage der Invalidenanstalten kaum triftig. Der Seeberufsgenossenschaft hat man zu ihrer Unfallauch die Invalidenversicherung im Gesetz vom 13. Juli 1899 (Z 11) übergeben nnter der Bedingung, daß sie auch eine Witwen- und Waisenversicherung einrichte. Das Ziel einer allgemeinen deutschen Arbeiterwitwen- und Waisenversicherung wurde 1911 erreicht. Der wichtigste Grund für die immer dringlicher werdende Durchführung aller dieser Zweige der Arbeiterversicherung ist die Wirkung auf die Lebenshaltung. Mögen die einzelnen Arbeiter und ihre Fa-
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milien vor allem durch die Not des Augenblicks schwer leiden und daher der Versicherung so dringlich bedürfen, für die ganze Gesellschaft ist noch wichtiger, daß die gesamte Arbeiterschaft ohne die Versicherung in ihrer ganzen Lebenshaltung immer wieder bedroht ist: alle die erwähnten Übelstände reißen die dadurch Betroffenen notwendig immer wieder und immer stärker auf die abschüssige Bahn einer Gewöhnung an schlechteres Leben; Gesundheit, Kraft, Leistungsfähigkeit ist in ihrem innersten Keime heute überall ohne die Versicherung ernstlich bedroht. 7. Die Durchführung der Arbeiterversicherung im allgemeinen und speziell in England und Frankreich bis gegen 1890—1900. Nach diesen Bemerkungen über die Hauptarten der neuen Arbeiterversicherung und über die Voraussetzungen ihrer Entstehung fragen wir nach den lebendigen Kräften, die sie ins Leben riefen, und der Art ihrer Ausgestaltung, ihrer Organisationsformen. I n ersterer Beziehung kommen in Betracht die Arbeiter selbst, die Arbeitgeber, die Versicherungsgesellschaften, die Regierungen und die parlamentarischen Kreise, die Versicherungs- und sozialpolitische Wissenschaft. I n der Arbeiterwelt bestanden im 19. Jahrhundert zunehmende S t r ö m u n g e n , die dem Hilfskassen- und Versicherungswesen günstig waren; im übrigen aber waren hergebrachte wirtschaftliche Gewohnheiten, Mangel an geschäftlicher Bildung als schwere Hemmnisse zu überwinden. I n breiten Schichten der Arbeiter und Kleinleute lebte zunächst noch der alte Gilde- und Genossenschaftsgeist mit seiner Neigung zu brüderlicher Hilfe, mit seinen sympathischen Gefühlen; in den oberen und mittleren Klassen viel mehr durch Erwerbstrieb, Genußsucht erstickt, begünstigte er in den Schichten der Arbeiter die Erwerbsgenossenschaften, die Gewerkvereine, den politischen Zusammenschluß und gesellige Vereine aller Art, aber auch dietzilfskassenveibände. I m Anfang des neuen Hilsskassenwesens, teilweise auch später, rief dieser Genossenschaftsgeist Gebilde ins Leben, die alle diese Vereinszwecks zugleich umspannen wollten; später schieden sie sich mehr. Der Gildegeist mußte sich nun aber im Arbeiterversicherungswesen mit der mehr privatrechtlich individualistischen Tendenz des Versicherungsgeschäftes auseinandersetzen, was ihm nicht leicht wurde. Es fehlte in den eigentlichen Arbeiterkreisen an den kaufmännischen Kenntnissen und Sitten, um Kassen mit komplizierten Rechnungen zuführen; die sich selbst überlassenen Vereine, zumal wenn sie zugleich Geselligkeit pflegten, unterlagen immer wieder der Versuchung, zu viel für
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Feste auszugeben, die Gelder zu verteilen. Mißbräuche aller Art, schlechte Verwaltung, Unfähigkeit mit der fernen Zukunft zu rechnen, hörten lange nicht auf. Erst sehr langsam wich der alte, für den Moment hilfsbereite, aber leichtfinnig in den Tag hinein wirtschaftende Sinn den festen Formen und versicherungstechnisch geprüften Rechtsansprüchen einer modernen Hilfskasse. Das erwachende soziale Selbstbewußtsein des Arbeiterstandes erzeugte, wie auf anderen, so auf diesem Gebiete den Wunsch nach Selbsthilfe, die Freude an selbstgegründeten oder sclbstverwalteten Hilfskassen, den Sinn für eine Versicherungstätigkeit, wie sie im Mittelstand schon vorhanden war. Die Agitation der Hilfskassen aller Art wurde ein wichtiger Bestandteil der ganzen neueren sozialen Bewegung. Aber die Führer derselben hatten doch mehr an der politischen, gewerkschaftlichen oder sonstigen Bewegung Interesse als an der Arbeiterverficherung i manche Formen derselben schienen ihnen für diese eher hinderlich als förderlich, und wir sehen daher die Arbeiterführer oft Gesetze, Organisationen, Kassen bekämpfen, die an sich der Arbeiterversicherung dienten, sie praktisch förderten. Die Arbeitgeber haben nicht überall und nicht jederzeit Verständnis für die Arbeiterverficherung gehabt. Aber da und dort waren sie hergebrachtermaßen mit Hilfskassen vertraut und sahen deren Nutzen, in Deutschland zumal die, welche Knappschaftskassen nahestanden wie Herr von Stumm. I n manchen Ländern und Gegenden beseelte ein humaner Geist der Fürsorge besonders die größeren Unternehmer; bald wuchs auch die Einsicht, daß die Errichtung und Unterstützung dieser Kassen ein Machtmittel, ja eine gute Kapitalanlage sei. Je größer die Unternehmungen wurden, desto mehr geschah ; die durch die Patrone geführte Verwaltung war meist billig, kostete oft gar nichts, stellte sich leichter auf richtigen versicherungstechnischen Boden als die von den Arbeitern allein verwalteten Kassen. Meist aber verstanden diese patronisierenden Einrichtungen nicht, in den Arbeitern das eigene Interesse entsprechend zu wecken. Das Lebensversicherungsgeschäft machte schon im Interesse seiner Geschäftsausdehnung seit 30—6l) Iahren Versuche, auch für die kleinen Leute tätig zu sein; wir erwähnten schon, wie gänzlich ihm die Krankenversicherung mißlang, wie es zunächst nur in England und den Vereinigten Staaten die sogenannte Volksversicherung in weite Kreise zu tragen verstand. Aber schon diese Versuche wirkten; die Techniker der Versicherung gingen aus dieser Schule hervor. Die seit 1860 1880 beginnende Unfallversicherung der Aktiengesellschaften
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war die Vorbereitung für die späteren großen Unfallkorporationen. Die ganzen Mißbräuche des kapitalistischen Versicherungswesens wiesen auf die öffentlich-rechtliche Ordnung des Arbeiterversicherungswesens hin. Schon vor 1830 haben S t a a t s m ä n n e r und Parlamentsführer, Menschenfreunde und Vertreter der Wissenschaft vereinzelt S t a a t s hilfe auf diesem Gebiete gefordert; die Gründung und Förderung der Hilfskassen, wie normierende Gesetze für sie standen längst auf der Tagesordnung, als Napoleon III. von 1851 an, der preußische Minister von der Heydt 1854, der englische Minister Gladstone 1860 energisch eingriffen. Überwog zunächst auch allerwärts von 1840 -1860 eine manchesterlich liberale Strömung, welche das Bedürfnis an die Aktiengesellschaften oder an die ungenügende Selbsthilfe wies, und erhob sie sich verstärkt gerade 1860—1880 gegen die Staatshilfe, so trat doch von da an, wesentlich durch Fürst Bismarck befördert, eine entgegengesetzte Bewegung ein, ebenso von der Wissenschaft wie von den regierenden Kreisen gefördert. — Die Betrachtung im einzelnen knüpfen wir nun besser an die drei Hauptländer der Bewegung England, Frankreich und Deutschland an; die beiden ersteren Staaten verfolgen wir zunächst nur in ihrer älteren Entwicklung, bis die deutschen Einrichtungen auf sie wirken. Die B e gräbnis- und Krankenkassen waren allerwärts der Ausgangspunkt. Das Vereinigte Königreich und speziell England mit seiner frühen gewerblichen Entwicklung, seinem seit der Agrarrevolution des 16.—18. Jahrhunderts entstehenden zahlreichen Geldlohnarbeiterstande, seinen zahlreichen Armen und seinem althergebrachten freien Vereinswesen zeigt uns schon im 18. Jahrhundert zahlreiche Anterstützungsvereine, Klubs, boxes, krieiM^ sooietivs. Besonders französische, 1683 eingewanderte Protestanten haben solche gebildet; der Freimaurerorden hatte sie gefördert; hauptsächlich kleine örtliche Vereine bestanden gegen 1800; Eden schätzt die Mitglieder aller solcher Gesellschaften schon auf gegen 600 000 um diese Zeit. Patronisierte Vereine entstanden dann hauptsächlich 1815 1860; von 1840 an schlössen sich viele Lokalkassen zu Grafschafts-, Distrikts-, Zentralvereinen zusammen, unter denen die sogenannten Orden mit Freimaurertraditionen die wichtigsten waren. Von 1850 1870 bildeten sich die reinen Begräbniskassen. Die Gesetzgebung hatte seit 17W in zahlreichen Gesetzen einzugreifen gesucht; aber sie wagte Vorschriften nur für die Kassen zu geben, die sich freiwillig amtlich registrieren ließen; die Registrierung ist bis 1846 durch die Friedensrichter, von
7. Die Durchführung der Arbeiterversicherung.
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da an durch ein staatliches Registeramt geschehen; es dauerte sehr lange, bis eine erhebliche Zahl sich registrieren ließ. Eine Reihe von Enqueten deckte immer wieder die großen Mißstände auf, an denen die meisten derartigen Einrichtungen litten; fast alle Kassen versprachen sehr viel mehr, als sie leisten konnten, entbehrten versicherungstechnischmathematischer Grundlagen. Den größten Eindruck machte endlich die Enquete von 1870-^1874; die darauf folgenden Gesetze von 1873 und 187k gaben den Anlaß zu wesentlicher Reform in den größeren Kassen und Orden, die Registrierung der letzteren nahm nun sehr zu. Auch 1880, 1882, 1896 und 1897 ergingen weitere Gesetze; sie wagten aber alle keinen Registerzwang zu verfügen; das englische gilfskassenwesen blieb auf dem Boden des freien individuellen Privatvertrages und der freien Unterordnung unter die Staatskontrolle; nur wenige zwingende Vorschriften für die nicht registrierten Begräbniskassen wurden erlassen und beseitigten die schlimmsten der Mißbräuche. Die Zahl der Kassen und ihrer Mitglieder ist für die ältere Zeit keine sichere: 1839 hatten die registrierten Kassen wohl 1,4 Million Mitglieder; 1859 schätzte Ludlow die gesamte Zahl auf 3 Millionen, ihr Kapital auf 11,4 Millionen L (238 Millionen Mark). Die neueste amtliche Statistik führt, wie mir scheint, die registrierten und unregistrierten Kassen für 31. Dezember 1898 auf: 29983 Kassen oder örtliche Logen zählen 11.4 Millionen Mitglieder mit 37,9 Millionen L Vermögen (773 Millionen Mark), davon auf England und Wales allein 10,2 Millionen Personen mit 33,2 Millionen L (704 Millionen Mark). Diese Statistik umfaßt auch heute noch außerordentlich verschiedene Bildungen, obwohl die älteren Formen mehr und mehr zurücktreten gegen die neueren, größeren und versicherungstechnisch vollkommeneren Organe. Zu jenen gehören die kleinen örtlichen, oft nur ein paar Jahre dauernden Vereine, die als gesellige Klubs oder als Sammlungen bei einem Begräbnis beginnen; bei manchen ist der Zweck, zugleich als Sparkasse zu dienen, zum regelmäßigen Sparen anzuhalten, am Schlüsse des Jahres oder einiger Jahre jedem Mitglied eine bare Summe von 20 40 si> als Dividende in die Hand legen zu können; im übrigen geben sie alle möglichen Unterstützungen, jedenfalls Begräbnisgeld. meist auch Krankengeld; aber nur je nach ihren Mitteln; jede mathematische Grundlage ihrer Geschäftsführung fehlt. Die Zusammenkünfte und Trinkgelage im Wirtshause gaben einst noch mehr und geben noch jetzt vielen ihren geselligen Kitt; zahlreiche derselben sind in der Hand der Schankwirte. Unzählige machten stets wieder
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bankerott, sobald mehr ältere als jüngere Mitglieder vorhanden waren. Mannigfach aber wurden ihre Einrichtungen durch patronisierende Geistliche. Grundherren und Unternehmer, zumal auf dem Lande, verbessert. Wenn Millionen von Armen im 19. Jahrhundert durch solche eingegangene unvollkommene Hilfskassen getäuscht wurden, nach langer Einzahlung nichts erhielten, so haben diese primitiven Vereine doch die gesamten unteren Klassen zur Selbsthilfe erziehen helfen, Sitten geschaffen, aus denen nach und nach Besseres erwuchs. Die spätere Entwicklung hat die Kassen vergrößert und spezialisiert, hat an die Stelle des Umlageverfahrens eine versicherungstechnisch einigermaßen richtige Erhebung von Prämien gesetzt. Die großen Unternehmer, die Eisenbahn- und ähnliche Gesellschaften haben heute auch in England, wie anderwärts, für ihre Leute Kranken- Begräbnisauch Alterkassen, die gut verwaltet sind, Beiträge von den Unternehmern erhalten, jeden Beschäftigten zum Beitritt zwingen, geschaffen ; viele zahlen neuerdings dem aus dem Betrieb Austretenden einen erheblichen Teil der Beiträge zurück. Diese Art der Kassen ist in England noch weniger beliebt als anderwärts. Die zwei beliebten freien Typen der englischen Hilfskassen, die heute im Vordergrund stehen, wohl 80 -90 o/o der oben angeführten Mitglieder umfassen, sind die größeren Begräbniskassen und die großen allgemeinen Hilfskassen, deren erheblichste, wie erwähnt, die Orden sind. Eine Begräbniskasse zu verwalten, sie in ihrer Einnahme und Ausgabe zu übersehen, ist leichter, als eine Kranken- oder gar Alterskasse zu führen. Das Bedürfnis für solche Kassen ist das dringlichste. Die ältesten sind rein lokal; ein kleiner Reservefonds genügt. Aber bald breiteten sich auch die besseren dieser Kassen auf die Grafschaft aus, ja darüber hinaus, und jetzt gibt es ganz große über das Königreich sich erstreckende von über 1 Million Mitglieder. Fast die Hälfte aller in der obigen Statistik gezählten Personen (nämlich 5,5 Millionen) gehören ausschließlich Begräbniskassen bezw. ihnen gleichgestellten Volksversicherungsbanken an. Diese Kassen erstrecken ihre Tätigkeit bis in den unteren Teil des Arbeiterstandes. Die Kassen suchen sich durch glatte Zahlung des Sterbegeldes (meist 6 L für die Erwachsenen, 3 für das Kind) beliebt zu machen. Aber sie haben den Nachteil, daß sie, je größer sie werden, desto zahlreichere Kollekten rc bedürfen, die 10—30 °/o der Einnahmen verschlingen. Der Zusammenhang zwischen Versicherten und Kassen wird nur durch die Kollekteure unterhalten, welche mit der Ausdehnung der Gesellschaften zu einem wahren Krebsschaden wurden. Ein großer Teil der Kollekteure und
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Vorstände sanken 184V- 1875 zu gewissenlosen Wucherern herab; sie gaben den Versicherten keine schriftlichen Verträge, verkauften sie beliebig an andere Gesellschaften, wie sie auch oft ihre einträglichen Stellen um 50- 1000 ^ verkauften. Stellte sich die Bilanz der Kasse schlecht, so holten sie bei Hunderten die Beiträge nicht mehr ab und stießen diese so aus der Gesellschaft; sie bewucherten auch durch Vorschüsse. Von irgendwelcher Selbstverwaltung war keine Rede mehr. Zur Generalversammlung, wo Tausende hätten erscheinen sollen, trommelten Vorstände und Kollekteure einige Dutzende ihrer Kreaturen zusammen. Diese namenlosen Mißbräuche ermöglichten den Aktiengesellschaften unter Annahme des Sammelsystems die Ausbreitung der Volksversicherung und veranlaßten das Reformgesetz von 1873, das die schlimmsten Mißbräuche beseitigte. Ludlow verlangte damals Staatsversicherung für die Begräbnisgelder. Das Gesetz von 1896 hat die sammelnden Begräbniskassen und die Versicherungsbanken, welche die Volksversicherung im Umkreis von mehr als 10 englische Meilen bis zu 20 L Sterbegeld durch Sammler betreiben, unter dasselbe Recht gestellt. Wer nur die englischen Begräbniskassen kennt, wird sich kaum scheuen, vom vollständigen Bankerott des freien Hilfskassenwesens zu sprechen. Anders, wer die großen allgemeinen Hilfskassen und Orden studiert, deren Reformen in eben der Zeit einsetzen, da jene Kassen die tiefste Entartung zeigen. Sie haben es bis 1899 zwar nicht, wie die sammelnden Sterbekassen auf 3,3 aber doch auf 3—4 Millionen Mitglieder gebracht; 14 der größten Orden hatten 1899 etwas über 2 Millionen Mitglieder und über 20 Millionen L Vermögen, während die Sterbekassen auf ihre 5,5 Millionen nur 4,8 Millionen L besaßen. Von den 1899 gezählten 29 900 Kassen werden wohl 26 000 oder mehr Lokalabteilungen der großen Orden sein. Daß diese von 1840-1900 verstanden, immer mehr kleine, schlecht verwaltete Lokalkassen sich anzugliedern, ist vielleicht die wichtigste Tatsache der Reform; die früher selbständigen Lokalkassen behielten ihre kräftige, persönliche Verbindung, ihre Feste, auch den größten Teil ihrer Finanzen; sie fügten sich schwer und langsam der Reform, die von den Zentralorganen der Orden ausging; aber gerade in der Reibung und dem Zusammenwirken der lokalen und zentralen Organe liegt das heilsame Leben dieser sich immer mehr ausdehnenden Vereine, deren größte, die o6i>. Vergleich der deutschen und ausländischen Arbeiterversicherung.
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zur Versicherung wesentlich durch Handlungen der Arbeitgeber durchgeführt ist, wie dabei der einzelne Arbeiter nicht aktiv zu handeln braucht, hat die Erziehung der unteren Klassen für Versicherung, für selbsttätige Teilnahme an der Organisation verlangsamt; die innere Umbildung des einzelnen Arbeiters ist eine geringere a l s da, wo er durch seinen Entschluß einer Versicherungskasse beitritt. Auch die Verfassung, die Organisation, das Wahlverfahren könnte in dieser Beziehung teilweise besser, wirksamer sein; kleinere Untergenossenschaften müßten dies innere Leben pflegen. Immer ist nicht zu vergessen, daß ohne den gesetzlichen Zwang auch die großen R e sultate nicht vorhanden wären, daß auch der Zwang seine erziehende Seite hat oder haben kann. Er bildet den Teilnehme? nicht so rasch psychologisch und wirtschaftlich um, aber er faßt sehr viel mehr Personen und wirkt aus die Dauer doch auf sie, wenn die Organisation nur richtig gestaltet ist. Die Ausschließung der kleinen Leute, für die nicht ein Unternehmer Lohnabzüge machen kann, war eine große Schattenseite, aber für den Anfang erleichterte sie das Kassenwesen sehr; sie ist teilweise schon korrigiert, wird es künftig noch mehr werden. Ebenso wird künftig die Verschmelzung oder wenigstens die Ineinanderpassung der drei Organisationen besser gelingen a l s bisher. M a n ist bis jetzt zu schüchtern und zaghaft vorgegangen, w a s in einer Zeit, in der man die Interessen der Unternehmer vor allem schonen wollte, begreiflich ist. Gewisse Tendenzen der Vereinheitlichung in der Organisation waren aber von Anfang an vorhanden; Krankenkassen und Invalidenanstalten, Armenwesen und Arbeiterversicherungswesen greifen jetzt schon besser ineinander a l s in dem ersten Jahrzehnt. Viele Klagen, die erschallten, waren voik Anfang an unberechtigt oder übertrieben, wie z. B . die über das Markenkleben, über den bureaukratischen Charakter der Organisation. M a n darf bei der ganzen Reform nicht vergessen, welch enormes und welch schwieriges Werk man durchführen wollte. M a n darf nicht übersehen, daß der Zwang für Millionen teilweise recht tiefstehender Arbeiter nur mit starken Verwaltungsmitteln und Kontrollen, mit großer Schreiberei möglich war. Wer für die Zwangsgenossenschaften eintrat, mußte sich klar darüber sein, daß er damit gewisse eigentümliche Vorzüge des freien Kassenwesens aufgab. M a n rettete damit M i l lionen schwacher Existenzen, milderte ihren Daseinskampf; man tonnte nicht erwarten, daß zugleich die Schulung des härtesten D a seinskampfes für sie eintrete. Der Unbefangene wird jedenfalls zu-
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geben, daß der deutsche Volkscharakter, die deutschen S t a a t s - und Verwaltungstraditionen eher auf diesen Weg der Lösung hinwiesen, als auf eine Nachahmung der englisch-französischen Versuche. Zu einem allseitigen Urteil gehört vor allem die Abwägung der indirekten sozialen Vorteile, welche das deutsche System gebracht hat. E s hat die Arbeitgeber ganz anders a l s bisher gezwungen, sich um die Arbeiterfürsorge zu kümmern, das soziale Pflichtbewußtsein ist in den Unternehmerkreisen — neben- allem Ärger über soziale Eingriffe — ganz außerordentlich gewachsen. Die öffentliche M e i nung hat durch die Publikation der Versicherungsresultate und -statistik ein Interesse für alle einschlägigen Fragen gewonnen. I n die meisten Unternehmungen kam ein Verständnis und Antrieb, durch verbesserte Technik und Vorsicht an Menschenleben und Gesundheit zu sparen. Der ganze körperliche Zustand der Masse des Volkes ist durch die Krankenkassen, die Krankenhäuser, die Ausdehnung der ärztlichen Tätigkeit ein wesentlich besserer geworden. Eine unsagbare Summe von Krankheit, Leiden und Schmerzen ist gemildert oder verhindert worden. Die besseren und intelligenteren Unternehmer spotten bereits über diejenigen, welche die Kosten unserer Zwangsversicherung beklagen, in ihnen ein Hindernis der deutschen Konkurrenzfähigkeit sehen; sie erkennen, daß die gebrachten Opfer sich reichlich durch die große Leistungsfähigkeit unserer Arbeiter bezahlt machen. Daß a n unsere Sozialversicherung, wie an alle ähnlichen Einrichtungen, auch an alles Armenwesen, an alle private Versicherung mancherlei Mißbräuche, wie Krankensimulation, Rentenjagd und ähnliches sich angeschlossen haben, ist natürlich. Aber alles derartige wird mit Energie bekämpft, tritt zurück, je besser die Organisation gelingt, die Menschen für die Institutionen erzogen werden. A l s 1911 Lloyd George das englische Versicherungsgesetz durchkämpfte, wurde auch ihm immer vorgeworfen, er wolle das Millennium der Simulanten herbeiführen. Unsere Losung kann also nicht sein, wegen übertreibender solcher Klagen die Sozialversicherung zu beseitigen, sondern die Menschen und die Institutionen so weit zu verbessern, daß die Lichtseiten weiter wachsen, die Schattenseiten abnehmen. An Versuchen der Besserung, wie der Vereinheitlichung unserer Arbeiterversicherung hat es nicht gefehlt. W i r haben von 1875—1911 daran sehr emsig gearbeitet, einiges auch erreicht. D a s hier im einzelnen auszuführen, ist nicht der Ort. Aber einige Bemerkungen mögen doch noch gestattet sein.
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Die Kassen, Vereine, Anstalten, Berufsgenossenschaften, deren man Hunderte und Tausende nötig hatte, deren einzelne viele Tausende von Teilnehmern umfaßte, waren zum Teil schon länger bestehend; die meisten aber mußten neu, halb durch freies Zusammentreten, halb durch obrigkeitliche Einwirkung geschaffen werden. I n ihnen mußten meist Unternehmer und Arbeiter mit entgegengesetzten Interessen zum Zusammenwirken gebracht werden; man mußte, soweit es ging, die Gefahr jeder Selbstverwaltung, daß der eine Teil seine Macht zu seinen Gunsten mißbrauche, durch Rechtsbestimmung, Satzung, Aufsicht, Rekurs und Revision einzuschränken suchen. I n den Berufsgenosscnschaften glauben die Arbeiter nicht genug gehört zu werden; in den Krankenkassen fühlen sich die Unternehmer mißhandelt. Zahlreiche Mißstände ergaben sich dadurch, daß der versicherte Personenkreis in den drei Hauptgebieten im Anfang so sehr verschieden war. Ein Heer von Interessenkonflikten mußte durch die Organe der Versicherungsträger, durch die Schiedsgerichte, durch das Reichsversicherungsamt, entschieden werden; eine Summe von M i ß trauen, Unzufriedenheit, unbefriedigter Hoffnungen mußte entstehen. Das allmähliche Einleben, die Fortschritte zahlreicher Gesetze, zuletzt die Reform, die in der Reichsversicherungsordnung von 1911 liegt, halfen immer wieder über die schlimmsten Reibungen und Unzufriedenheiten weg. S o viele Hoffnungen 1911 auch unbefriedigt blieben, so klein war doch die Zahl der Reichstagsabgeordneten, die nicht die zahllosen einzelnen Fortschritte dieser zusammenfassenden Reform anerkannten; auch die Sozialdemokratie war bemüht, das große Werk, trotzdem es ihr so vieles Erhoffte nicht bot, weil die Kosten zu groß geworden wären, zustande zu bringen. D a s wichtigste Resultat der R.V.O. ist, daß es einen einheitlichen Gerichts- und Verwaltungsorganismus für die ganze deutsche Sozialversicherung schuf, in dem technisch berufsmäßig geschulte Beamte mit steter Beiziehung von gewählten Unternehmern und Arbeitern die Ausführung auf der geschaffenen Rechtsbasis festhalten, für gerechte Rentenverteilung sorgen. D a s Reichsversicherungsamt ist seit 1885 vorhanden (in ein paar der großen Staaten durch Landesversicherungsämter ersetzt); es hat Großes und Vorzügliches geleistet; es drohte nur durch Geschäftsüberlastung lahmgelegt zu werden. Ein Teil seiner Geschäfte ging auf die neugeschaffenen Oberversicherungsämter über, die in jedem Regierungsbezirk gebildet wurden; vor allem wurde endlich für jeden Kreis, für jede größere Stadt ein lokales Versicherungsamt mit einem VersicherungsamtSchmoller, Klass«nbtldung, Arbeiterfragr, Klafsenkamvf-
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mann, der Hilfsbeamter des Landrats oder Oberbürgermeisters ist, gebildet. Seit 1898 hatte man über diese neuen Ämter gestritten und experimentiert. Törichter Interessenegoismus hat diese gesunde Neubildung als bureaukratische Schöpfung angegriffen. Die übrigen unteren Verwaltungsstellen, die bisher nebenamtlich Auskunft geben, zahllose Versicherungsgeschäfte besorgen sollten, amtierten schlecht, weil sie nicht sachverständig genug waren. Auf das einzelne können wir nicht eingehen; es würde uns zu sehr in verwaltungsrechtliche und -politische Fragen hinüberführen. I m ganzen ist damit 191! ein großer Fortschritt erzielt; die ganzen Versicherungsgeschäfte liegen, jetzt, vom Lokalamt bis zum Reichsversicherungsamt hinauf, in den Händen sachverständiger, tüchtiger, gerechter Beamten, die stets mit Hilfe der direkt Beteiligten handeln und entscheiden. Die formale Rechtseinheit des deutschen Sozialversicherungswesens ist so wenigstens gelungen. Stellen wir zum Schlüsse neben dieses Urteil über die deutsche Sozialversicherung einen kurzen Bericht über die Fortschritte der englischen neuesten Sozialpolitik und einige Notizen über die wichtigsten anderen Kulturstaaten und ihre neueren Fortschritte in der Sozialversicherung, um zu zeigen, wie in allen Kulturstaaten heute ähnliche soziale Tendenzen vordringen. Wir haben oben S . 380 ff. das englische Hilfskaffenwefen zur Zeit der herrschenden liberal-manchesterlichen Ideen dargestellt. Seit den 80er Iahren mit ihrer Arbeitslosigkeit begann endlich wieder ein gewisser Aufschwung. Die Tories und Unionisten, die am Ruder waren, versuchten sich zunächst. D a s bescheidene Haftpflichtgesetz von 1880 hatte wenigstens die gewerblichen Unternehmer für die Beschaffenheit der Maschinen und die Nachlässigkeit der Aufseher haftbar gemacht, hinderte aber nicht, daß viele große Unternehmer ihre Arbeiter zwangen, kontraktlich auf die Wohltat des Gesetzes zu verzichten (Lontraetinx out). Eine Reihe von Gesetzesentwürfen sollte Besserung bringen. Chamberlain gelang endlich 1897 der ^Vorkmeii'L Lmnpvnsation .Vor für die sog. gefährlichen Betriebe, der 1900 auf die Landwirtschaft ausgedehnt wurde, so daß nun von 13Millionen Arbeitern etwa sechs regelmäßig von den Unternehmern versichert wurden. Ein Verzicht der Arbeiter darauf ist nur noch möglich mit Zustimmung des Registeramtes. Nur für Betriebsunfälle, die mehr als zwei Wochen Lohnverlust bringen, haftet der Unternehmer. Die Entschädigungen der Unternehmer sind an geringe Minima und M a r i m a geknüpft: z. B. für den Tod 150 bis
10. Vergleich der deutschen und ausländischen Arbeiterversicherung.
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300 einmaliger Zahlung. D a s verbesserte Gesetz von 1906 stellt den Arbeiter wesentlich günstiger, genügt aber auch in keiner Weise. Daher können die englischen Fabrikanten sich rühmen, ihre Unfallversicherung koste sie nur die Hälfte der deutschen Unfallversicherung. Immerhin zahlt der Unternehmer jährlich pro Arbeiter bei seiner Versicherungsgesellschaft je nach der Gefährlichkeit der Betriebe etwa 6—20 sk. Diese Änderung gehört dem Jahre 1906 an, in dem das liberale Kabinett eintrat und nun energischer im ganzen Gebiete der Sozialein Kleinreform vorging. I m Jahre 1907 ergeht der .^.Uotment siedlungsgesetz, das 1812—92 viele, aber lauter vergebliche Vorgänger gehabt hatte. E s bedeutet wenigstens den Ansang einer Lösung der englischen Agrarfrage im Sinne der Verwandlung eines Teils des Großgrundbesitzes in kleine Wirtschaften, eines Abflusses Don beschäftigungslosen Arbeitern in die Landwirtschaft. Daneben hofft man auf die Durchführung großer Aufforstungspläne, die in 20 Iahren eine halbe Million Arbeiter beschäftigen werden. Der v«zvolopmc>ttt von 1909 gibt große Mittel für diese Zwecke, daneben für Chausseebau, Kleinsiedlungen, Lehrfarmen und ähnliches: „das Gesetz kann von unberechenbarer Bedeutung werden." Die übergroße Zahl von armen, alten Arbeitern, die zu einem großen Teil im Armenhause untergebracht wurden, bildete seit lange einen der dunkelsten Punkte in England. Seit 1872 folgte ein Vorschlag dem andern, sie in einer Weise zu unterstützen, die sie der Stempelung als Paupers entzöge; Balfour hatte 1903 einen Gesetzentwurf vorgelegt. I h m folgte Asquith 1908; sein Vorschlag erlangte Gesetzeskraft: jeder arme alte Engländer, der unter 31