Die Sendung des Bischofs D. Ritschl nach Petersburg im Jahre 1829: Offener Brief an Paul de Lagarde [Reprint 2021 ed.] 9783112452301, 9783112452295


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Die Sendung des Bischofs D. Ritschl nach Petersburg im Jahre 1829: Offener Brief an Paul de Lagarde [Reprint 2021 ed.]
 9783112452301, 9783112452295

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Die Sendung des

Bischofs D. Ritschl nach Petersburg im Jahre 1829.

Offener Brief an Herrn Professor Dr. Paul de Lagarde

Von

Lic. O. Ritschl, a. o. Professor der Theologie in Kiel.

Bonn, bei Adolph Marcus.

1890.

Universitäts-Buchdruckerei von Carl Georgi in Bonn.

Geehrter Herr Professor!

Vor einigen Tagen ist mir Ihre Schrift „Über einige Berliner Theologen und was von ihnen zu lernen ist" zu Ge­ sicht gekommen. Einige der darin von Ihnen gemachten Mit­ theilungen mußten für mich um so mehr von Interesse sein, als sie Männer betrafen, über die mir das öffentliche Urtheil, welches Sie beeinflussen wollen, nicht gleichgültig sein kann,' ich meine meinen Vater, den verstorbenen Professor D. Albrecht Ritschl in Göttingen, und meinen Großvater, den ehemaligen Generalsuperintendenten von Pommern, Bischof D. Karl Ritschl. Die Art, wie Sie über diese beiden Männer sprechen, zwingt mich nachdrücklichen Widerspruch gegen Ihre Darstellung zu erheben. Zwar was Sie über und gegen meinen Vater sagen, könnte ich auf sich beruhen lassen. Es wird Sie nicht befrem­ den, wenn ich Ihnen erkläre, daß, so gleichgültig meinem Vater Ihr absprechendes Urtheil über seine Leistungen neben Ihrem wunderlichen Zeugnis für seine Arbeitsamkeit gewesen sein würde, es Ihnen ebenso wenig gelingen wird der Anerkennung Abbruch zu thun, welche sein Lebenswerk auch weiterhin bei urtheilsfähigen Männern finden wird. Indem ich diese Erwar­ tung ausspreche, denke ich nicht nur an die Freunde und An­ hänger meines Vaters, sondern auch an die vielen Gegner, die seine Sache gefunden hat und ohne Zweifel auch weiterhin noch finden wird. Denn der großen Mehrzahl derjenigen von ihnen, welche literarisch gegen Albrecht Ritschl aufgetreten sind, ist es doch nachzurühmen, daß sie auch in ihrem Wider­ spruch seiner Arbeit die Achtung nicht versagt haben, auf welche sie in jedem Falle Anspruch hat. So haben sie sich auch die Mühe nicht verdrießen lassen, seine eignen Werke selbst zur Grundlage ihrer Angriffe zu machen. Davon nehmen Sie

4 aber Abstand. Sie halten sich ausgesprochenermaßen an einige gelegentliche Äußerungen von Freunden meines Vaters, von

denen Sie sagen, daß sie „ihn loben wollten, also das statt­ lichste Stück seines Nachlasses vorgewiesen haben werden". Ein solches Verfahren kann niemand anders, als im höchsten Grade unkretisch bezeichnen. Wenn Sie das Bedürfnis haben, über meinen Vater abzuurtheilen, warum halten Sie sich nicht an das, was er selbst gesagt hat? Wenn Sie als „studirte Person" das Hauptgewicht auf Quellenkritik meinen legen zu müssen, warum verschmähen Sie in dem vorliegenden Falle ein Quellenstudium, welches Sie überhaupt erst zu einem Ur­ theil berechtigen würde? Wenn die Bücher meines Vaters nach Ihrer Ansicht auch schlecht geschrieben sind, so sind Sie doch dadurch nicht von einer Pflicht entbunden, die auch Sie wohl sonst für jeden wissenschaftlichen Arbeiter als gültig aner­ kennen werden. Oder halten Sie sich in Ihren populären „Deutschen Schriften" zu einer andern Methode berechtigt, als in Ihren wissenschaftlichen Werken? Sie sagen selbst (S. 89): „Ich habe als Mann die Schlechten nie gestreichelt: aber eine persönliche Kritik habe ich nie auch nur gedacht." Können Sie sich wirklich von dem Vorwurf freisprechen, den ich gegen Sie erhebe, daß Sie über meinen Vater nicht immer nur sachlich geurtheilt haben? Aber freilich, dieses Schicksal theilt er ja nur mit anderen, über die Sie gleichfalls das allgemeine Wissen durch Ihre persönlichen Erinnerungen bereichern. Zu Ihren Mittheilungen über Neander z. B. möchte ich die Glosse hin­ zusetzen : „Wie er räuspert und wie er spuckt, „Das habt ihr ihm glücklich abgeguckt." Aber alles das, was ich bisher gegen Sie geltend gemacht habe, würde allein nicht genügt haben, mich zu einer öffent­ lichen Apostrophe gegen Sie zu veranlassen. Ihre Urtheile über meinen Vater werden verhallen, gleich wie Ihre Prophe­ zeiungen über die Zukunft des Protestantismus. Anders aber steht es mit einer Verdächtigung meines Großvaters, welche Sie schon vorher ausgesprochen haben. Sie berichten S. 69 folgendes: „Man erzählte noch 1866 als gewiß, die an den

5 Großfürsten Nikolaus von Rußland verheirathete Tochter des Königs" (Friedrich Wilhelm III.) „habe Bedenken gegen den griechisch-katholischen Glauben zu hegen begonnen, den sie an­ genommen hatte: der Landesbischof von Preußen, ihr Vater, habe den Bischof von Pommern, Ritschl, zu ihr gesandt, ihr ihre Zweifel auszureden, und Ritschls Bemühungen seien von Erfolg begleitet gewesen, und fürstlich belohnt worden. Dieses Ritschl jüngster Sohn Albrecht berichtet in der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche? 13, 3, sein Vater sei vom September 1829 bis zum Mai 1830 in Petersburg gewesen, um an der Ausarbeitung einer neuen Kirchenordnung für die evangelische Kirche des russischen Reiches theilzunehmen. Nur aus den Acten des geheimen Staatsarchivs wird sich beurtheilen lassen, was wirklich vorgegangen ist. Zur Charakteristik des Königs dient hier, daß allgemein — nicht im Volke, sondern von hohen Beamten —, was ich eben erzählt habe, geglaubt wurde." Wenn Sie in dem letzten dieser beiden Sätze Ihre Erzählung auch nur als Beitrag zur Charakteristik Friedrich Wilhelms III. ausgeben, so läßt doch Ihre ganze Darstellung keinen Zweifel, daß der sittliche Borwurf, der in Ihrer Mittheilung erhoben wird, viel schwerer auf meinen Großvater als auf den König fallen würde, wenn Ihre Er­ zählung wahr wäre. Dasjenige, was man dem König zum schweren Vorwurf machen muß, ist die Thatsache, daß er als evangelischer Christ überhaupt seine Einwilligung zu dem Confessionswechsel seiner Tochter gegeben hat. Nachdem dies aber einmal geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen war, liegen etwaige Bemühungen von ihm, Gewissenszweifel zu be­ seitigen, die der Fürstin nachträglich ihr Übertritt zu einer

fremden Consession bereitet hat, nur in der Consequenz jenes ersten Schrittes. Anders steht es aber mit dem evangelischen Geistlichen, dessen Gewissen in allen Fällen zu der Vertretung und Aufrechterhaltung seiner Überzeugung verbunden ist, welche ihn in den Dienst an der Verkündigung des evangelischen Christen­ thums geführt hat. Ohne Verleugnung seines Glaubens kann der evangelische Prediger seine Überredungsgabe nicht in den Dienst einer fremden Überzeugung stellen. Thut er dies den-

6 noch mit Bewußtsein, so sündigt er an dem ihm obliegenden Amt, so befleckt er die Ehre der Gemeinschaft, der er dient, so verletzt er die Integrität seines persönlichen Charakters. Einem Vorwurf, der diese Beleidigungen gegen meinen Großvater in sich schließt, haben Sie wieder neuen Ausdruck verliehen. Sie haben dadurch den Charakter eines Mannes angetastet, der in Ehren alt geworden ist, der sein Amt unbescholten, würdig und mit großem Segen verwaltet hat, der bei Lebzeiten die allge­ meine Achtung und Verehrung in einem Grade genossen hat, wie sie wenigen zu Theil wird. Denn indem Sie den Ge­ währsmann des von Ihnen mitgetheilten Gerüchtes verschweigen, machen Sie sich selbst verantwortlich für den Inhalt Ihrer Erzählung. Ich halte mich also an Sie und stelle zunächst folgende Frage an Sie: „Wenn Sie das Gerücht über den Zweck der Sendung des Bischofs Ritsch! nach Petersburg schon im Jahre 1866 in Berlin gehört haben, warum machen Sie erst jetzt öffentlich Gebrauch davon? Warum haben Sie damit 24 Jahre gewartet? Warum haben Sie es nicht schon vor 20 oder 10 oder 2 oder P/4 Jahr veröffentlicht, als mein Vater noch lebte? Haben Sie etwa besorgen zu müssen ge­ meint, daß Sie durch eine solche vorzeitige Veröffentlichung bei Lebzeiten meines Vaters mit § 189 des Reichsstrafgesetzbuches in Conflict kommen könnten? Diesen war mein Vater als Sohn des Bischofs Ritschl allerdings noch in der Lage gegen Sie anzuwenden und Sie vor Gericht zur Rechenschaft zu ziehen. Ich bin es nicht mehr. Aber ich bin auch nicht ge­ sonnen zu warten, bis die Acten des geheimen Staatsarchivs, die Sie als Zeugen für Ihr Gerücht anrufen möchten, sich erschließen und in ferner Zukunft die von Ihnen angegriffene Ehre meines Großvaters wiederherstellen werden. Ich stelle Sie also zur Rede vor dem Forum der öffentlichen Meinung, die zwar solchen Verläumdungen, wie sie Ihre Gewährsmänner gegen meinen Großvater ausgesprochen haben, nur allzu leicht ihr Ohr und ihre Zunge leiht, in der aber doch auch eine gerechte Sache Geltung zu gewinnen vermag, wenn die Integrität eines verläumdeten Ehrenmannes durch beglaubigte Thatsachen nach­ gewiesen wird. Auf solche Thatsachen bin ich nun in der Lage

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mich in dem vorliegenden Falle zu berufen und durch sie das Gerücht, dessen Neubelebung und Weiterverbreitung Sie Ihre Feder dienstbar gemacht haben, zu widerlegen und niederzu­ schlagen. Indem Sie Ihre Fabel über die Sendung des Bischofs Ritschl nach Petersburg erzählen, stellen Sie zugleich die Glaubwürdigkeit meines Vaters für seine Angaben in der RE. in Frage. Aber die Quellen, nach denen dieser daselbst die kurze Biographie seines Vaters gearbeitet hat, befinden sich sämtliche noch in meinem Besitze. Aus ihnen stelle^ich, was die Thatsache der Petersburger Sendung und ihres Zweckes be­ trifft, zunächst fest, daß die Angaben meines Vaters der Wahr­ heit gemäß sind. Die St. Petersburgische Zeitung vom 30. September 1829, No. 117, S. 788 berichtet amtlich folgendes: „Das kraft Seiner Kaiserlichen Majestät Allerhöchsten Befehles (Anm. datirt Bolgrad in Bessarabien, den 22. Mai 1828. S. No. 79 d. Z. Jahrgang 1828) verordnete Konnte zur Entwer­ fung eines Projektes zu einem allgemeinen Reglement für die Evangelisch-Protestantische Kirche in Rußland hat am 25. d. M. seine Sitzungen unter dem Vorsitze des Senators, Geheimeraths Grafen Tiesenhausen, begonnen, nachdem laut Vorschrift des Punktes I. in jenem Ukase, alle nöthigen Nachrichten und Bemerkungen eingeholt, die gehörigen Vorarbeiten bewerkstelligt und zufolge des Punktes II. eben jener Verordnung, der Bi­ schof Dr. Ritschl aus Preußen, sowie die übrigen Mitglieder dieses Konnte dazu eingeladen worden waren und sich eingestellt hatten. Letztere sind" — folgen die Namen Cygnaeus, von Adelung, Ehrström, Berg, Baron von Campenhausen, Lenz, von Maydell, von Bistram. „Mit freudigen Hoffnungen sieht die Evangelisch-Protestan­ tische Kirche in Rußland den Resultaten dieses wichtigen Vor­ nehmens entgegen, das zum Zweck hat, den Gang der Kirchen­ angelegenheiten vollkommen zu organisiren, und die Einrichtung der Konsistorien und geistlichen protestantischen Obrigkeiten sowie deren Verhältnisse zu sonstigen Behörden?zu bestimmen. . ." Durch diese öffentliche Angabe ist.^also als Zweck der Sendung des Bischofs Ritschl nach Petersburg in Überein-

8 stimmung mit den Mittheilungen meines Vaters die Mitwirkung an der Reorganisation der Verfassung der evangelischen Kirche in Rußland erwiesen. In der Erfüllung der mit dieser Mission verbundenen Aufgabe hat sich Ritschl vom 9/21. Sept. 1829 bis zum 8/20. April 1830 in Petersburg ausgehalten x). Nun weiß aber Ihr Gewährsmann, daß der Zweck der Reise vielmehr ein anderer gewesen sei, nämlich der Gemahlin des Großfürsten Nikolaus, der Tochter Friedrich Wilhelms III., die Zweifel auszureden, die ihr nachträglich ihr Übertritt zur orthodoxen

Kirche bereitet habe. Ich frage Sie nun: Wer war dieser Großfürst Nikolaus? Im Jahre 1829 und 1830 gab es mei­ nes Wissens einen solchen gar nicht. Denn derjenige Großfürst Nikolaus, welcher am 7. Juli 1817 die Prinzessin Charlotte von Preußen, die Tochter des Königs Friedrich Wilhelms III., geheirathet hatte, die bei dieser Gelegenheit den Namen Alexandra Feodorowna annahm, ist schon im Jahre 1825 als Nikolaus I. seinem ermordeten Bruder Alexander I. als russischer Zar aus dem Throne gefolgt. Sein Sohn gleichen Namens ist aber erst am 8. August 1831, und des späteren Kaisers Alexander II. Sohn Nikolaus am 20. September 1843 geboren. Die beiden letzteren Großfürsten Nikolaus können also nicht in Betracht kommen, sondern nur der im Jahre 1825 zum Kaiser avancirte. Aus diesen Thatsachen ergiebt sich aber folgendes: Entweder hat der Bischof Ritschl seine angeblichen Beredungskünste an der da­ maligen Kaiserin Alexandra ausgeübt, oder Sie müssen behaupten, seine Sendung nach Rußland habe schon vor 1825 stattgefunden. Damals aber gab es erstlich noch gar keinen Bischof Ritschl, sondern die Ernennung meines Großvaters zum Generalsuper­ intendenten von Pommern und zum evangelischen Bischof datirt erst vom 27. August 1827, ferner ist Ritschl außer in den Jahren 1829/30 überhaupt niemals in Petersburg gewesen. Sie sehen also, daß das von Ihnen vertretene Gerücht in seiner mangelhaften chronologischen Begründung ein wesentliches Kenn-

1) Die Angabe meines Vaters a. a. O. Bd. 13, S. 3, daß die Mis­ sion bis zum Mai gedauert habe, bezieht sich auf den Termin der Ankunft in Stettin, welche am 8. Mai 1830 stattgefunden hat.

9 zeichen einer Legende an sich trägt. Ihr philologischer, in der Quellenkritik anerkanntermaßen aufs höchste geschätzter Scharfsinn hat also hier eine Seite der von Ihnen vorgetragenen Sache übersehen, auf die der Historiker in erster Linie zu achten sich verpflichtet weiß. Dennoch könnten Sie noch weiter geneigt sein Ihre Angäbe, aber bereits durch meine Berichtigung modificirt, aufrecht zu erhalten und zu behaupten, auf das Zeugnis Ihres Ge­ währsmannes hin sei nun vielmehr anzunehmen, die Beredungsversuche des Bischofs Ritschl seien an der Kaiserin Alexandra vorgenommen worden. Dagegen stelle ich folgendes fest. Alle in meinem Besitz befindlichen Actenstücke, nämlich Instructionen des Ministers von Alten st ein- Concepte von Berichten, die Ritschl diesem hat einreichen müssen- Schreiben der verschie­ densten Art von den russischen Beamten Fürst Lieven, von Daschkoff, Graf Tiesenhausen, v. Bludoff u. a.- endlich die Concepte von je einem Brief Ritschls an Friedrich Wil­ helm III., den Kaiser Nikolaus, die Kaiserin Alexandra sind Zeugnisse dafür, daß Ritschl ausschließlich den Auftrag gehabt hat, an der neuen Kirchenordnung für die evangelische Kirche Rußlands mitzuarbeiten. Aber auch gegen diese Angabe könnten Sie noch erwi­ dern, daß neben jenem officiellen Auftrag meines Großvaters eine geheime Mission an die Kaiserin denkbar wäre, worüber nur die geheimen Staatsarchive Aufschluß geben könnten. Da­ gegen führe ich nun endlich die Petersburger Briefe Ritschls an seine Frau ins Feld, die sämtlich erhalten sind und einen vollständigen Bericht von allen wichtigen Ereignissen geben, welche er in Petersburg erlebt hat. Ritschl schreibt selbst darin: „Ich fühle es recht lebendig, wie viel Dir daran liegen muß, möglichst ausführliche Nachrichten von meinem hiesigen Aufenthalt zu empfangen, und ich würde mir es nicht vergeben können, wenn ich wissentlich Dir etwas verschwiege, wäre es auch das Unbedeutendste." Diese Briefe berichten nun von nur drei Audienzen Ritschls bei der Kaiserin Alexandra, von denen die erste und die dritte nach solchen bei dem Kaiser Nikolaus erfolgten. Die erste fand am 15/27. September 1829 statt,

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und zwar in Gegenwart der 3 jungen Großfürstinnen Maria, Olga, Elisabeth. Ritschl überreichte der Kaiserin einen Brief des Kronprinzen, späteren Königs Friedrich Wilhelm IV., der ihr große Freude machte. „Der Kaiser kam hinzu, und bald folgte ich ihnen zur Tafel." Bei dieser waren Ritschls Nach­ baren Herr von Chambeau und ein Leibarzt des Kaisers. Nach der Tafel „kam der Kaiser nochmals heran, den jüngsten Großfürsten Constantin, ein niedliches Kind, auf dem Arm, den er laufen ließ, indem er zu mir sagte: „„Dies ist No. 5."" Auch die Kaiserin richtete noch einige freundliche Worte an mich." Die zweite Audienz Ritschls bei der Kaiserin erfolgte am 1. Januar 1830 (neuen Stils). Damals fand er die Kai­ serin allein, und nur die kleinen Großfürstinnen gingen ab und zu. Ritschl wünschte der hohen Frau zu dem deutschen Neu­ jahr und zu ihrer und des Kaisers Genesung Glück. Danach heißt es weiter: „Außer vielen anderen Gegenständen berührte sie auch die Ursach meiner Anwesenheit, versicherte, daß der Kaiser mit der Thätigkeit des Comite wohl zufrieden sei, und wisse, welch ein großer Theil des günstigen Erfolgs mir zuzu­ schreiben sei. Darauf kam sie auf meinen Urlaub, und nach­ dem ich ihr den Inhalt meines Schreibensx) an v. A(ltenstein) mitgetheilt, äußerte sie, sie werde deshalb an den König schrei­ ben. Während des Gesprächs erschien auch der junge Thron­ folger, um der Mutter seinen Morgenbesuch abzustatten. Ein kräftiger, blühender, wohlgebildeter, einnehmender Knabe, der in jeder Hinsicht die schönsten Hoffnungen erregt, und eine sehr sorgfältige Erziehung genießt. Als die Kaiserin hörte, daß ich die Hofsänger noch nicht kenne, so lud sie mich ein, am ersten Weihnachtsfeiertage dem Gottesdienst auf dem Schlosse beizu­ wohnen. Ich erwiderte, daß ich eine Predigt in der Catharinen1) In diesem vom 17/29. Dec. 1829 datirten Schreiben hatte Ritschl seine Bereitwilligkeit kundgegeben, wenn der König auf Wunsch des Kaisers seinen zunächst auf vier, höchstens fünf Monate festgesetzten Urlaub ver­ längern würde, einem solchen Befehl den schuldigen Gehorsam zu leisten, zugleich aber die Gründe hervorgehoben, weswegen er den Minister bitten müsse, unter Umständen eine Verlängerung des Urlaubs bei dem König nicht zu befürworten.

11 Kirche übernommen habe, worauf sie mir den Neujahrstag a. St. bestimmte, den ich mit allem Danke annahm. Nach einer guten halben Stunde entließ sie mich mit derselben Freund­ lichkeit, die sie während der ganzen Unterhaltung bewiesen." Jene Theilnahme an dem russischen Gottesdienste, zu welcher die Kaiserin Ritschl eingeladen hatte, sand auf Wunsch des Kaisers dann doch am ersteir Weihnachtstage statt, indessen war natürlich dort nur Gelegenheit die Kaiserlichen Herrschaften zu sehen, nicht aber sich ihnen zu nahen. Die dritte Audienz bei der Kaiserin fand am 2/14. März statt, und zwar in Gegen­ wart des Prinzen Albrecht (des Älteren) von Preußen. Dies

sind also die Thatsachen in Betreff des Verkehrs meines Groß­ vaters mit der Kaiserin Alexandra Fevdorowna, welche durch seine Briefe bezeugt werden. Halten Sie es nun noch im Ernst für möglich, daß während der Audienzen meines Groß­ vaters bei der Kaiserin, welche zusammengerechnet etwa eine gute Stunde Zeit in Anspruch genommen haben, und fast immer in Gegenwart anderer stattfanden, neben den von mir angegebenen Gesprächsthematen noch die Zweifel der Kaiserin hätten zür Sprache kommen können, und zwar so eingehend, daß sich der von Ihrem Gewährsmann behauptete günstige Erfolg erklären ließe? Dieser müßte ja wunderbar schnell und doch zugleich merkwürdig ruckweise eingetreten sein, da zwischen den 3 Au­ dienzen 3 und 2 Monate Zeit verflossen sind. Also das Gerücht, welches Sie mittheilen, entpuppt sich als eine Unwahrheit, deren nähere Qualificirung ich anderen überlasse. Oder wollen Sie etwa zu Gunsten zukünftiger Ent­ hüllungen aus den geheimen Staatsarchiven das Zeugnis von Privatbriefen nicht anerkennen? Dann haben Sie jedenfalls die Aufgabe zunächst deren Unglaubwürdigkeit nachzuweisen, und das möchte Ihnen doch wohl trotz aller Quellenkritik nicht gelingen, selbst wenn ich Ihnen Einsicht in die Handschriften verstatten würde. Oder werden Sie etwa auch die Glaubwür­ digkeit meiner Mittheilungen in Frage stellen, wie die meines Vaters in der RE. ? Einen größeren Anspruch als dieser, in Ihren Augen als vollgültiger Zeuge zu gelten habe ich ja nicht. Diese Ehre überlasse ich auch gern Ihren Gewährsmännern,

12 den „hohen Beamten", deren Glauben an den von mir in seiner Nichtigkeit enthüllten Hintertreppenklatsch Sie zur Cha­ rakteristik Friedrich Wilhelms III. heranziehen. Ich werde zu­ frieden sein, wenn andere die Zuverlässigkeit meiner Darstellung anerkennen, und halte es in der Erwartung, daß mir diese Anerkennung nicht fehlen wird, für überflüssig, Ihnen auch noch Aufschlüsse über die Einnahmen und Ausgaben meines Großvaters in Petersburg zu geben, wodurch ich endlich die Angabe Ihrer Fabel von der „fürstlichen Belohnung" einer ver­ werflichen Handlung beleuchten könnte, welche mein Großvater niemals begangen hat. Wenn ich mich nun zum Schluß der Hoffnung und dem Wunsche nicht verschließe, daß auch Sie sich von der Richtigkeit meiner Darlegung überzeugen möchten, verhehle ich Ihnen nicht, wie peinlich es mir ist, daß Sie selbst mich zu diesem An­ griff gegen Sie gezwungen haben, dessen Schärfe Sie aber doch nur werden billigen können, wenn Sie andern das gleiche Recht der Kritik einräumen, welches Sie für sich in Anspruch nehmen. Indem ich mich gerade wegen meines heftigen Wider­ spruchs gegen Ihre letzte Schrift für berechtigt erachte im Übrigen Ihnen meine höchste Anerkennung Ihrer unbestrittenen und großen Verdienste auf anderen Gebieten zu bezeugen, bin ich in Hochachtung

Lic. theol. O. Ritschl. Kiel, 24. April 1890.