Die Reinkarnation des Lesers als Autor: Ein rezeptionsgeschichtlicher Versuch über den Einfluß der altindischen Literatur auf deutsche Schriftsteller um 1900 [Reprint 2018 ed.] 9783110854282, 9783110123715


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German Pages 156 [164] Year 1990

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Frank Wedekind: Das Sonnenspektrum
Lion Feuchtwanger: Vasantasena
Hermann Hesse: Siddhartha
Ausarbeitung eines Paradigmas
Literaturverzeichnis
Register
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Die Reinkarnation des Lesers als Autor: Ein rezeptionsgeschichtlicher Versuch über den Einfluß der altindischen Literatur auf deutsche Schriftsteller um 1900 [Reprint 2018 ed.]
 9783110854282, 9783110123715

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Kamakshi P. Murti Die Reinkarnation des Lesers als Autor

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge Herausgegeben von

Stefan Sonderegger

96 (220)

w DE

G _

Walter de Gruyter • Berlin • New York

1990

Die Reinkarnation des Lesers als Autor Ein rezeptionsgeschichtlicher Versuch über den Einfluß der altindischen Literatur auf deutsche Schriftsteller um 1900 von

Kamakshi P. Murti

w _G DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1990

C.lP- Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Murti, Kamakshi P.: Die Reinkarnation des Lesers als Autor : ein rezeptionsgeschichtlicher Versuch über den Einfluss der altindischen Literatur auf deutsche Schriftsteller um 1900 / von Kamakshi P. Murti. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1990 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N. F., 96 = 220) Zugl.: Univ. of Illinois, Diss., 1987 ISBN 3-11-012371-1 NE: G T

ISSN 0481-3596 © Copyright 1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Inhalt Einleitung

1

Gegenstand und Ziel der Untersuchung 1 Indische Einflüsse auf deutsche Dichter: ein historischer Überblick ..3 Indien in der deutschen Literaturgeschichte und -kritik 7 Die Traditionen des indischen Theaters 18 Methodisches Verfahren 20 Frank Wedekind: Das Sonnenspektrum Die Prostituiertengestalt — eine geschichtliche Perspektive Hintergrund und Quellen für Das Sonnenspektrum Das Sonnenspektrum und Das irdene Wägelchen Homo amatorius Lion Feuchtwanger: Vasantasena Forschungsstand Die indische Theaterwelt Das irdene Wägelchen: eine Inhaltsangabe Das irdene Wägelchen und Vasantasena: ein Vergleich Homo politicus

25 26 30 33 54 57 57 59 62 67 93

Hermann Hesse: Siddhartha Zwischenbilanz Forschungsstand Siddhartha Homo mysticus

97 97 99 105 119

Ausarbeitung eines Paradigmas

132

Indien als Modellfall einer Idylle Wedekinds Konzept der Idylle Feuchtwangers Konzept der Idylle Hesses Konzept der Idylle Aus der Studie abzuleitende Merkmale des Rezeptionsvorgangs

132 133 134 137 143

Literaturverzeichnis

145

Register

154

Einleitung Gegenstand und Ziel der Untersuchung Es ist das Anliegen dieser Untersuchung, zum allgemeinen Problem der Beziehung zwischen der modernen deutschen Literatur und der indischen "klassischen" Literatur beizutragen. Insbesondere konzentriert sie sich darauf, den Einfluß der indischen profanen Literatur zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert nach Christus auf drei deutsche Schriftsteller zu analysieren. Dieser Untersuchungsgegenstand wird weiter beschränkt auf die Werke dieser deutschen Schriftsteller, worin bestimmte Themen aus den altindischen Schriften rezipiert und neugestaltet sind. Mich interessiert vor allem der Prozeß, den der Leser einer in kultureller Hinsicht fremden Literatur durchläuft, um selber Autor eines selbstständigen Werkes im Rahmen seiner eigenen Kultur zu werden. Durch diesen rezeptionsästhetischen Ansatz rücken die Lese- und Verstehensprozesse verstärkt in den Mittelpunkt der Überlegungen. Erst durch die Verbindung von literarischer Rezeption mit "der Aktivität, der Spontaneität und der Intentionalität des jeweiligen Lesers" wird der Text strukturiert und wird er zu dem, was er der Möglichkeit nach ist.1 Das erst macht die Auseinandersetzung mit dem fremden Text fiir den deutschen Leser/Autor spannend. Die unter Diskussion stehende, in deutscher Übertragung rezipierte indische Literatur besteht aus dem Sanskrit-Drama sowie der Abhandlung über die Erotik, dem Kamasutra; die Themen sind die "asketische" Erotik, 2 die Prostitution und der "Paria" oder Ausgestoßene. Von deutscher Seite werden folgende Werke behandelt: Das Sonnenspektrum von Frank Wedekind;Vasa«fcwena von Lion Feuchtwanger; Siddhartha von Hermann Hesse. Diese Werke sind zwar teilweise aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten im Leser-Autor-Prozeß gewählt worden, eher jedoch wegen der Unterschiede, die jeder dieser Schriftsteller im Zuge des Schaffensprozesses aufweist, das heißt, der unterschiedlichen Art, in 1

2

Heinz-Dieter Weber, "Didaktische Folgen der Rezeptionsästhetik," Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung, Heft 2 (Stuttgart: Ernst Klett 1977), 3-12. Diese Bezeichnung habe ich von Wendy Doniger OTlaherty übernommen, dessen Werk Siva. The Erotic Ascetic (London & New York 1973) anhand von Belegen die Einheit dieser beiden Elemente im Gott Schiwa anhand der Weden und Upanischaden nachweist

2

Einleitung

welcher er seinen eigenen Leser-Autor-Prozeß beleuchtet. Eine solche Verfahrensweise hat meines Erachtens den Vorzug, daß sie zu einer Neubewertung der Werke führt. Um die drei Lesevarianten noch schärfer zu umreißen, möchte ich diese Schriftsteller unter folgenden Typen subsumieren, die stichwortartig ihren jeweiligen schöpferischen Zweck definieren helfen: 1) 2) 3)

Wedekind als der homo amatorius; Feuchtwanger als der homo politicus; Hesse als der homo mysticus.

Diese Bezeichnungen sollen lediglich das Hauptanliegen des einzelnen Schriftstellers im Hinblick auf seine eigene dichterische Schreibtätigkeit ins rechte Licht setzen. Eine solche Klassifizierung soll jedoch nicht zu einer schablonenhaften Reduzierung fuhren, die andere schöpferischen Momente im Schriftsteller ausschließt. Die Untersuchung ist neu in verschiedener Hinsicht: 1) Sie hebt die Rezeption der profanen indischen Literatur hervor, denn diesem profanen Aspekt ist bisher von der Forschung kaum Beachtung geschenkt worden. Das ist auf die Schwierigkeit in der Unterscheidung zwischen den Begriffen "profan" und "sakral" zurückzuführen, die kulturtraditionell bedingt ist, was gleichzeitig erklärt, warum der Inder die vom deutschen Dichter geschaffenen Umwandlungen der indischen Werke als "Verzerrungen" ansieht und auf einer "unverfälschten" Wiedergabe besteht. 2) Sie zeigt, daß die Rezeption der profanen Literatur deshalb ein aufregender Untersuchungsgegenstand ist, weil das 20. Jahrhundert und die altindische Zeit sozialgeschichtlich eindeutige Parallelen aufweisen. 3) Sie versucht zu erklären, warum die bisherige Forschung die Beweggründe für die Rezeption der indischen profanen Literatur nicht zufriedenstellend besprochen hat und deshalb auch nur unzureichend wertvolle Einsichten in den Schaffensprozeß der deutschen Schriftsteller gewinnen konnte. 4)

Schließlich demonstriert sie paradigmatisch ein Verfahren im Rahmen der Rezeptionsgeschichte für die Beziehung Leser-Autor, das Anwendung bei anderen Studien finden könnte. Dies trifft vor allem auf die vergleichende Literatur zu, wo der Lesevorgang eines potentiellen Autors wegen der fremdsprachigen Quelle und der meist mittelbaren Rezeption durch Übersetzungen nicht sofort ersichtlich ist.

Einleitung

3

Indische Einflüsse auf deutsche Dichter: ein historischer Überblick Im Mittelalter: Indien als Anregungsquelle für Dichter existiert schon im europäischen Mittelalter. Barlaam und Josaphat, eine christliche Umarbeitung der Jugendgeschichte von Prinz Siddhartha (Buddha), dem Bodhisattwa, die um 700 nach Christus von Johannes Damascenus im Griechischen verfaßt worden sei, wird durch das ganze europaische Mittelalter hindurch von vielen Dichtern rezipiert und umgedichtet.3 Das Alexanderlied vom Pfaffen Lamprecht enthält ebenfalls indische Stoffe und Motive, sowie das 10. und 16. Buch des Parzival von Wolfram von Eschenbach, als auch der 46. Spruch Heinrichs von Meißen, genannt Frauenlob, um nur einige Beispiele zu nennen.4 Die Aufnahme des Indischen bleibt jedoch im Rahmen des exotisch-unbekannten Landes der Heiden. Es gibt zwar keine genaueren Kenntnisse über dieses fremde Land, aber man will kein sachbuchartiges Wissen, sondern vielmehr neue Impulse, die das eigene literarische Schaffen erweitern würden. Deshalb begrüßt man die von Reisenden zurückgebrachten Berichte aus Indien und anderen "exotischen" Ländern. Bei Goethe: Das Interesse an der profanen Literatur Indiens bekundet sich zuerst bei Goethe, als er Sakuntala, ein Theaterstück des indischen Dramatikers Kalidasa, begeistert liest und sein eigenes "Vorspiel auf dem Theater" im Faust nach diesem dramatischen Modell konzipiert. Goethe erkennt eine bisher im abendländischen Drama nicht vorhandene Dimension in der Struktur des Sanskrit-Dramas, nämlich, daß der Direktor und die Hauptschauspielerin im Sanskrit-Drama sich vor Beginn des Stückes in einer Art Prolog (Widmung) vorstellen, um das Publikum durch Gesang und Gebet wohlwollend und gnädig umzustimmen. Es ist eine Weiterführung des traditionellen indischen Konzepts, wenn Goethe auch den Dichter auf die Bühne treten läßt. Goethe erachtet also die profane Literatur Indiens nicht nur strukturell, sondern auch in thematischer Hinsicht als rezeptionswürdig, wie auch in seinen Balladen zu sehen ist.5 3 4

5

Das Werk wird von Rudolf von Ems zum Beispiel umgearbeitet. Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat, hrsg. von Karl Köpke (Königsberg 1818). Lamprechts Alexander, hrsg. und erklärt von Karl Kinzel: "Alexanderlied" (Halle 1884). Wolfram von Eschenbach, Parcival, hrsg. von Karl Lachmann, 3. Aufl. (Berlin 1872). Zum Beispiel liegt die Quelle seiner Ballade "Der Gott und die Bajadere" in einer Episode aus dem Mahabharata (der Geschichte von Dschamadagni und Urwaschi). Die Episoden aus dem Mahabharata liegen ihm in der Reisebeschreibung Sonnerats vor. "Der Gott und die Bajadere" sowie die Gedichttrilogie Paria (Des Paria Gebet, Legende, Dank des Paria) waren die Ergebnisse dieser Berührung mit indischen Stoffen. Zu Goethes Zeit ist Sonnerat sozusagen ein "Bestseller", und Goethe übernimmt dessen Beschreibung einer Hindu-Zeremonie, wo Bajaderen singen und tanzen, um sein "Gott und die Bajadere" zu dichten. Sonnerats äußerst lebhafte

4

Einleitung

Andere Dichter des 18. Jahrhunderts und nach ihnen die Romantiker befassen sich intensiv mit der wachsenden Kenntnis über die indische Kultur. Übersetzungen, Studien der Sanskrit-Sprache und die Bildung bzw. Weiterführung eines mythischen Bildes stehen im Blickfeld dieser Dichter. Was die indischen Texte anbetrifft, so bleiben die Weden und Upanischaden sowie die Heldenepen lange Zeit die einzigen Studienquellen für die deutschen Romantiker. 1)

Übersetzungen: Die ersten Übersetzungen aus dem Sanskrit werden zwar verständlicherweise, das heißt im Zuge der britischen Kolonialherrschaft, zuerst in England vorgenommen (William Jones übersetzt 1789 Sacontala zuerst ins Latein und dann ins Englische; Charles Wilkins überträgt 1785 die "Bhagvat-Geeta" ins Englische), aber bald treten auch deutsche Indologen in den Vordergrund (Georg Forsters Version des Sakuntala erscheint im Jahre 1791).

2)

Die Sanskrit-Sprache: Die Suche der Romantiker nach einer Universalpoesie bringt sie unter anderem auch auf das Studium der Sanskrit-Sprache. Dieses Studium ermöglicht den ersten Einblick in eine Welt, über die bisher nur spekuliert worden und die unter einem Schleier von Unkenntnis verhüllt geblieben ist. Das mythische Bild: Die Übersetzungen und das Studium der Sanskritsprache dienen dem Hauptinteresse dieser Dichter, nämlich das mytho-religiöse Indien zu begreifen, denn man will sich den Originaltext durch Übersetzung aneignen. Johann Gottfried Herder sieht zum Beispiel am Ganges in Indien "die Wiege des Menschengeschlechts, menschlicher Neigungen und aller Religion."6 Herder spricht zwar von den andersartigen Sitten und Gebräuchen der Inder, aber er sieht die Inder als ein "Blumenvolk", das in einem ursprunglichen, unverdorben naiven Zustand der Menschheitsgeschichte geblieben ist, und hofft, die verlorengegangene Naivität des Abendlandes über Indien wieder zu gewinnen. In seinem Werk Orientalism bemerkt Edward W. Said zu dieser Einstellung Herders:

3)

6

Beschreibung der "Paria" oder Ausgestoßenen inspiriert Goethe zu seiner eigenen Gedichttrilogie. Diese Geschichte führt wiederum auf eine Episode aus dem Mahabharata zurück, nämlich die Geschichte von Renuka und der WischnuInkamation Parasu-Rama. Aber gleichzeitig ist sie die Geschichte einer Dorfgöttin, die von den unteren Kasten und den Ausgestoßenen verehrt wird. Die unbedingte Gehorsamkeit, die der Sohn seinen Eltern schuldet und welche in der Episode problematisiert wird, interessiert Goethe jedoch nicht. Ihn fesselt vielmehr das Problem des Dualismus in der Person der Göttin. A. Leslie Willson, A Mythical Image: The Ideal oflndia in German Romanticism (Durham, N.C. 1964), S.51.

Einleitung

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Vico, Herder and Hamann, among others, believed that all cultures were organically and internally coherent, bound together by a spirit, genius, Klima, or national idea which an outsider could penetrate only by an act of historical sympathy. Thus Herder's Ideen zur Philosophie cler Geschichte der Menschheit (1784-1791) was a panoramic display of various cultures, each permeated by an inimical creative spirit, each accessible only to an observer who sacrificed his prejudices to Einfühlung.1

Auch Christiane C. Günther bestätigt Saids Bemerkung, indem sie sagt: Indien blieb im großen und ganzen das idealistisch verklärte 'Reich des Ursprungs' auch der eigenen Kultur (zumindestens bei den Intellektuellen, die sich sinnsuchend gen Osten wandten.)8

Friedrich Schlegel und Novalis sehen ihrerseits im Indischen einen weiteren Beweis für den gemeinsamen Ursprung von Religion, Sprache und Dichtung. Das mythische Bild der deutschen Romantiker wird ausführlich von A. Leslie Willson in seinem A Mythical Image: The Ideal of India in German Romanticism (1964) besprochen: Here philosophy was one with religion, and a Universal Spirit was immanent in every creature and in every creation of nature. A mellow kinship pervaded all things. A marvellous magic was the companion of ordinary reality. Here, truly, was aesthetic perfection, and here one could find perfect contentment. This was the kernel of the mythical image of India.9

Das romantische Interesse an Indien, in diesem Zusammenhang verständlicherweise an einem unwirklichen, zeitentrückten Indien, erlaubt, nach Willson, "a restatement of Western values embossed with the stamp of the mythical image, in the symbolism of a new mythology," welches "a deeper understanding of man's place in the cosmos" bedeutet.10 Die Auflösung des mythischen Bildes innerhalb der Romantik sowie bei den Spätromantikern: Das romantische Bild von Indien wird jedoch aufgelöst, wie Willson richtig bemerkt, durch die Ernüchterung der Romantiker, besonders Friedrich Schlegels. Schlegel sieht, wie Willson ausführt, nicht mehr die Idee der Einheit in der Vielfalt, den Mikrokosmos im Makrokosmos, sondern nur noch ein Nichts. 11 Schlegels Enttäuschung bedeutet, daß das mythische Bild Indiens nicht länger aufrechterhalten werden kann. Es folgen dann bloß fragmen7 8

»

10

11

Edward W. Said, Orientalism (New York 1978), S.l 18. Christiane C. Günther, Aufbruch nach Asien. Kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900. (München 1988), S.41. Willson, S.71. Willson, S.71. Willson, S.218.

6

Einleitung

tarische Widerspiegelungen des Indischen, die meist ironisch im romantischen Sinne benutzt werden — ein Zeichen dafür, daß die Sehnsucht nach vollkommenem Glück doch nie verwirklicht werden könnte und Indien keine diesseitige Verwirklichungsmöglichkeit anböte. Wie Willson berichtet, sind es E.T.A. Hoffmann, Heinrich Heine und Adalbert Stifter, die im 19. Jahrhundert das Indienbild weiterführen — Hoffmann und Heine im romantisch-ironischen Sinne und Stifter in einer naiveren, idyllisch-romantischen Weise.12 Hoffmanns Gebrauch von indischen Motiven in Der goldene Topf (Blumengewächse, Sanskrit, "Bhogovotgita") drückt die Sehnsucht seines Helden Anseimus nach dem Land aus, wo Universalpoesie und Harmonie mit der Natur herrschen sollen; die "blaue Blume" von Novalis (der indische Lotos) ist für ihn "die Erkenntnis des heiligen Einklangs aller Wesen."13 Ein leiser Unterton von Ironie ist jedoch bei den Autoren des 19. Jahrhunderts nicht zu überhören. Bei Heine findet man eine eigenartige Mischung von romantischer Sehnsucht und Ironie. Nach Willson beschwört Heine das mythische Bild Indiens bewußt herauf, um seine eigenen Gefühle, Launen und Sehnsucht widerzuspiegeln. Aber er benutzt Ironie als Mittel, um sich davon zu distanzieren. Folgendes Zitat illustriert diese Ironie: Franz Bopp ... gab mir manche Auskunft über meine Ahnherren, und ich weiß jetzt genau, daß ich aus dem Haupte Brahmas entsprossen bin und nicht aus seinen Hühneraugen.14

Sowohl Hoffmann als auch Heine verraten nach Willson Sehnsucht und Melancholie nach einer verlorenen religiösen Einheit, und Heines zahlreiche Anspielungen auf das Indische sollen beweisen, daß er sich tatsächlich ausgiebig mit der indischen Mythologie beschäftigt habe. Willsons Schlußfolgerung, daß dies ein Versuch sei von Seiten Heines, seine Sehnsucht durch Parodie zu überwinden, ist überzeugend. Mit Stifter kommt die romantische Sehnsucht, wie oben erwähnt, auch zum Ausdruck, aber es ist, als fehle ihm die Kraft, das mythische Bild Indiens voll zu entfalten.15 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird einiges mit indischen Motiven geschrieben, wie z.B. Adolf Holtzmanns Indische Sagen und Friedrich Hebbels Der Brahmine.16 Kenntnisse über Indien werden weiter ergänzt durch die Missionartätigkeit der deutschen Pietisten im 12

Willson, S.222ff. Willson, S.226. 14 Willson, S.231. 15 Willson, S.234. 16 Friedrich Rückens Weisheit des Bramanen und seine Übersetzung der GitaGovinda im Jahre 1837 bringen dem mythischen Bild Indiens kurzlebig wieder neue Nahrung. 13

Einleitung

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19. Jahrhundert, die neue Information über die indischen Religionen zurückbringen, vor allem über den Buddhismus.17 Richard Wagners Interesse an der durch diese Reiseberichte gebrachten Information über indische Religion und Philosophie zeigt sich in Die Sieger und Parsifal. Zusammenfassung: Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es also ausschließlich literarische Werke im Sinne der belies lettres, die indische Stoffe und Motive übernehmen, sowie indologische Studien, die sich der Erforschung der Sanskrit-Sprache widmen. In den Literaturgeschichten stößt man nur auf beiläufige Erwähnungen von Werken, die das Indische rezipiert haben. Erst im 20. Jahrhundert, wie Willson feststellt, kommen literaturkritische Werke über Indiens Einfluß auf die deutschen belies lettres zum Vorschein. Indien in der deutschen Literaturgeschichte und -kritik Indologische Bestrebungen Es gibt schon seit dem 19. Jahrhundert Orientalisten, Indologen und Religionsphilosophen, die die indischen Texte genau übersetzen, kommentieren und verbreiten wollen. Der Romantiker betreibt sprachwissenschaftliche Studien, um seinem eigenen dichterischen Schaffen neue Bedeutung zu verleihen. Im Rahmen meiner Untersuchung spielt dieser Aspekt eine große Rolle, denn die Erweiterung des Schaffenspotentials gibt der Aufnahme des Indischen neuen Wert. Die Einheit von Dichter und Priester, wie sie im Indischen besonders an der Person des brahmanischen Priesters exemplifiziert wird, regt den romantischen Dichter an. Novalis verleiht seinen Ideen eine neue Dimension, indem er das mythische Bild mit seinen eigenen Konzeptionen vereinigt. Die Einheit von Dichter und Priester heißt die Einheit von Dichtung und Religion. Hierfür liefert Indien ein Modell, denn dort findet jeder Ausdruck menschlicher Weisheit seine dichterische Form. Die blaue Blume als Symbol verbindet, wie Willson erklärt, verschiedene Welten und Erfahrungen und vermittelt zwischen fremden Sphären. Sie ist ein Motiv vollkommener, transzendentaler Liebe, ein Symbol der harmonischen Synthese zwischen den auseinanderklaffenden Eigenschaften von Mensch und Natur. Die blaue Farbe der Blume steht auch für die Sehnsucht nach Liebe, Poesie, nach einer Vereinigung von Osten und 17

Die wirkungsreichste unten den protestantisch-pietistischen Missionen ist wohl die Basler Mission, die 1815 aus dem Pietismus entstandene evangelische Missionsgesellschaft in Basel. Sie war bahnbrechend für die evangelische Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts. Ihre 339 Missionszweige wirken in Malaysia, Hongkong, Indonesien, Indien, Ghana, Kamerun und Nordnigerien, vorwiegend im Dienst der einheimischen Kirchen, sonst aber in eigener Verantwortung.

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Einleitung

Westen. Der überzeugendste Beweis jedoch dafür, daß die blaue Blume auf den indischen Lotus zurückgeht, steht in Georg Forsters Übersetzung von Sakontala, wo er in einer Fußnote hinzufügt: "Auch das musste die Lotosblume den Indiern wichtig machen, dass nirgends deutlicher die Bildung der Pflanze schon im Samenkorn sichtbar ist."18 Dieser Samenkorn spielt bei Novalis eine bedeutende Rolle, denn er gebraucht ihn als Symbol für die Entfaltung des Dichters. Das Interesse der Gebrüder Schlegel am Indischen erfahrt schon eine Wendung in Richtung sprachwissenschaftlicher Studien, obwohl Friedrich Schlegel immer noch versucht, das Indische in den Dienst seiner schöpferischen Tätigkeit zu stellen. Er schreibt seine programmatische Schrift "Über die Sprache und Weisheit der Indier" (1808) und führt damit eine neue Wissenschaft ein. August Wilhelm Schlegel setzt dies konsequent weiter und betreibt nur noch sprachwissenschaftliche Studien. Seine Übersetzungen aus dem Sanskrit bringen ihm die wohlverdiente Anerkennung als den ersten großen Indologen Deutschlands ein. Seine Vorlesungen über die "Geschichte der romantischen Literatur" zeigen Indien als eine Kombination von realistischen und idealistischen Religionen, die auf eine gemeinsame Quelle hindeuten könnte. Wie Willson bemerkt, sind dies die nüchternen Bemerkungen eines Kritikers und Theoretikers, und nicht etwa die begeisterten Ausdrücke eines Dichters. Diese wissenschaftlichen Arbeiten werden von Franz Bopp mit seinem Aufsatz "Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache" (1816) fortgesetzt, der das Sanskrit in den Mittelpunkt der vergleichenden indogermanischen Sprachforschung rückt. Indologie als Fach wird Ende des 18. Jahrhunderts von britischen Beamten in Indien wie Sir William Jones, Henry Thomas Colebrooke und Horace Hayman Wilson begründet. 1833 wird Wilson der erste Professor für Sanskrit in Oxford. 19 Die erste Sanskritprofessur in Deutschland wird 1818 in Bonn für August Wilhelm Schlegel errichtet. Wie wertvoll die Verdienste dieser indologischen Studien im Bereich der Sprachwissenschaft auch gewesen sein mögen, sie haben dennoch und unglücklicherweise bestimmte Werturteile über die Unantastbarkeit der altindischen Literatur bestärkt. Mit anderen Worten: der Beginn des Konflikts zwischen "verzerrt" und "unverfälscht" ist hier anzusetzen. Bis zum 20. Jahrhundert gibt es keine nennenswerte Veränderung in der Rezeption indischer Werke. Im 20. Jahrhundert geht es noch intensiver um eine unverfälschte Wiedergabe und eine richtige Auslegung des altindischen mytho-religiösen Gedankenguts. Helmut von Glasenapps Das Indienbild deutscher Denker (1960) zeigt diese 18 19

Willson, S. 169. Wilson übersetzt unter anderem die Meghaduta des indischen Dichters Kalidasa. Diese Übersetzung dient Goethe als Vorlage für seine eigenen Überlegungen zur Wolkenbildungstheorie.

Einleitung

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Interessenverlagerung.20 Im Rahmen seiner indologischen Studien ist sein Verfahren richtig und verständlich, weil es hier tatsächlich darum geht, die alten Texte aus Indien möglichst wortgetreu zu übersetzen, und sie dann Interessierten so vorzulegen, daß diese die Religion und Philosophie der alten Inder auch zu begreifen anfangen können. Glasenapps Buch ist ein ernsthafter Versuch, den Reichtum dieser alten Texte und Weisheiten aus den Weden und den Upanischaden zu erkennen und entsprechend zu würdigen. Zu dieser Gruppe gehören unter anderem Paul Deussen, Moriz Winternitz, Hermann Jacobi und Ludwig Alsdorf. Literaturkritische Werke Europäisch-amerikanische Literaturkritiker Literaturkritiker, im Unterschied zu den bisher tätigen Literarhistorikern, erscheinen erst im 20. Jahrhundert auf der Bildfläche, und lassen sich wie folgt unterteilen: 1) Germanisten, die die von den Engländern begangenen Fehler im Sinne einer kolonialherrschaftlichen Arroganz nicht wiederholen wollen. Sie begnügen sich mit einer bloßen Zusammenstellung der Werke deutscher Dichter mit indischen Motiven — ohne irgendwelche Stellungnahme — und behandeln die indischen Texte mit übergroßer Vorsicht, wie z.B. Hans Lösch in seinem Einwirkung Indiens auf die deutsche Dichtung (1962).21 2)

Literaturkritiker, die das Indische als eine der vielen Anregungsquellen für die schöpferische Tätigkeit des deutschen Autors ansehen. W. Däbritz' Anregungen aus der indischen Mythologie in Goethes Dichtung (1958) exemplifiziert einen solchen Untersuchungsgegenstand.22 Am einseitigsten unter diesen Kritikern sind diejenigen, die meinen, das Indische habe überhaupt keinen Wert. John Forsts Indien und die deutsche Literatur 1900-23 (1934) vertritt diese bewußt radikale Einstellung.23 Er sagt: Im allgemeinen ist nach meiner Ansicht eine allzu hohe Bewertung der indischen Geisteswelt abzulehnen. Denn wenn wir auch erkennen, daß sie Gedanken von außerordentlicher Schönheit, die wir unbedingt bewundern müssen, hervorgebracht hat, so ist dem gegenüber doch zu beachten, daß vieles, was einige Bewunderungs-

20 21 22 23

Helmuth von Glasenapp, Das Indienbild deutscher Denker (Stuttgart 1960). Hans Lösch, Einwirkung Indiens auf die deutsche Dichtung, Deutsche Philologie im Aufriß, Band HI, (Berlin 1962), S.589-598. W. Däbritz, Anregungen aus der indischen Mythologie in Goethes Dichtung (Weimar 1958,20). John Forst, Indien und die deutsche Literatur 1900123 (New York 1934).

10

Einleitung süchtige glauben in Indien suchen zu müssen, hier in Europa besser und schöner gestaltet worden ist.24

Über den indischen Einfluß auf die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts gibt es jedoch von europäisch-amerikanischer Seite keine größeren Studien. Der Hauptgrund hierfür mag darin liegen, daß für diese Literaturkritiker nur das Mytho-Religiöse des Indischen als rezeptionswürdiger Stoff gilt. Hans Friederici und Ingeborg Jalkotzky beschäftigen sich mit Hermann Hesse als dem einzig in Frage kommenden Phänomen eines abendländischen Schriftstellers, der das Indische rezipiert hat, und untersuchen seine Werke auf Einflüsse aus den indischen Religionen und der Mythologie hin.25 Diese Kritiker entdecken keine weiteren Berührungspunkte zwischen dem Indischen und dem Deutschen. Indische Literaturkritiker Seit den fünfziger Jahren gesellen sich indische Forscher bzw. Kritiker zu der obengenannten Gruppe. Nach der Unabhängigkeit Indiens von der britischen Kolonialherrschaft im Jahre 1947 erwacht im Inder ein bewußtes Bedürfnis nach selbständiger Artikulierung des eigenen Gedankenguts. Die eigene Literatur ist durch die langen Jahrhunderte der britischen Herrschaft verkümmert, und es bleibt dem Inder vorerst der sehnsüchtige Blick auf die großen Epochen der indischen Literatur, die die Weden und die Upanischaden hervorgebracht und dem abendländischen Intellektuellen immer imponiert haben und ihn weiterhin beeindrucken. Mit dem neugewonnenen Selbstbewußtsein kommt jedoch die Überzeugung, daß der Inder als Alleininterpret des Indischen, wo und in welcher Form es auch immer vorkommt, zu walten habe, und dieses rein aufgrund seiner Herkunft! Im Hinblick auf die noch sehr schizophrenen Leistungen in der eigenen Literatur, das heißt die Schwierigkeit, sich von der englischsprachigen Literatur loszulösen und eine Nationalliteratur zu schaffen, in der sich die eigene schöpferische Kraft noch verwirklicht, erhält die Rolle des Kritikers eine neue Dimension. Die Alleinherrschaft des Abendlandes auf dem Gebiet der Literaturkritik soll erstmal bestritten werden. Demgemäß wird die Indienrezeption in der englischen Literatur verständlicherweise zuerst einer strengen, recht sachlichen Analyse unterworfen. Bücher wie E.M. Forsters A Passage to India werden unter die Lupe genommen. Ein Teil der indischen Anglisten vertritt die Meinung der europäischen Kollegen, daß die indischen Elemente in den englischen 24 25

Forst, S.5. Hans Friederici, "Die Indienrezeption in den Erzählungen Hermann Hesses", in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich Schiller Universität, H.4/5 (Jena 1955/56), S.459-463. Ingeborg Jalkotzky, Hermann Hesse. Der Einfluß des Orients in seinen Werken (Wien 1951).

Einleitung

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Werken zwar authentisch seien, das Endprodukt jedoch nicht-indisch. Andere indischen Anglisten wollen die Werke vom "indischen" Standpunkt aus beurteilen. Was der "indische" Standpunkt sei, müßte im Zusammenhang der Meinungsverschiedenheit über den sakralen und den profanen Gehalt eines indischen Stoffes begriffen werden: 1)

Vom abendländischen Standpunkt aus werden diese Epen und Dramen als profan behandelt; 2) Ein Teil der indischen Forscher ist auch der Auffassung, daß diese Werke einen profanen Inhalt haben; 3) Die meisten Inder jedoch betrachten die Werke ausschließlich als sakral. Deswegen soll die "Wahrheit" des ursprünglichen indischen Stoffes oder Motivs aus diesen vom Inder für sakral gehaltenen Schriften bewahrt werden vor "Verzerrung". Auch französische Schriftsteller, die das Indische rezipiert haben, werden von den indischen Kritikern angegriffen, obwohl nicht so heftig wie die Engländer, denn die Kolonialherrschaft der Franzosen in Südindien hat nie das englische "divide and rule"-Prinzip verfolgt. Die Franzosen hatten von Anfang an die indische Kultur assimiliert und sich wohlweislich von der indischen Bevölkerung nie distanziert. Die fremde französische Literatur wurde deshalb in erster Linie unter dem Aspekt der Bereicherung angesehen und löste weniger Ressentiments unter den Indern aus. Die französischen Kolonialherren waren mehr als bereit, die indische Literatur kennenzulernen und als gleichwertige Schaffensquelle zu rezipieren. Umgekehrt ließ sich auch der Inder von der französischen Literatur beeinflussen. Trotz dieses fruchtbaren Austausches will auch der indische Romanist, und zwar im Rahmen der neugewonnenen Selbstständigkeit, der indischen Perspektive Vorrang geben. Basdeo Bissoondoyals Studien über den indischen Einfluß auf Frankreich versuchen, diese durch die Vernachlässigung des indischen Standpunkts verursachte "Lücke" zu schließen, indem er eine von "indischer" Perspektive aus gesehene Analyse liefern will. In seinem Werk They loved Mother India fl967) 26 — der Titel ist bezeichnend für Bissoondoyals Auswahl von französischen Philosophen, Orientalisten und Schriftstellern — zeichnet er die Geschichte der Einwirkung Indiens auf die Franzosen nach. Der Fabulist La-Fontaine und seine indische Inspirationsquelle Pantschatantra werden hervorgehoben. Voltaire und seine Verehrung für alles Indische auf dem Gebiet der Philosophie und Religion wird ausdrücklich betont. Louis Jacolliot, 26

Basdeo Bissoondoyal, They loved Mother India, No.56 (New Delhi 1967).

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ein Orientalist, wird für sein Bible in India (1868) hochgepriesen, weil er angeblich den Mann auf der Straße in Frankreich mit dem Land Indien bekanntgemacht habe.27 Bissoondoyals Hauptaugenmerk gilt jedoch Romain Rolland, denn "Rolland did much to improve India's tarnished image in Europe."28 Rollands Biographien über indische Persönlichkeiten brachten ihm bei den Indern große Anerkennung als Indienfreund. Wie der indische Anglist und der Romanist sieht sich teilweise auch der indische Germanist als wichtiger Interpret des indischen Standpunktes. 1959 erscheint der erste nennenswerte Beitrag, Mahadeo Karmarkars Friedrich Rückert und die indische Dichtung (1959).29 Mandakini Marathes Spiegelungen Indiens in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts (1965)30 sowie Shridhar Bhalchandra Shrotris Max Dauthendeys auslandsbezogene Werke (1964) 31 sind weitere Versuche der indischen Kritiker, der eigenen Literatur und Kultur gerechtzuwerden und sie gegen die sogenannte Überheblichkeit des Abendlands zu verteidigen. Anders ist es bei Bhabagrahi Misra, der 1968 in seinem Artikel "An Analysis of Indic Tradition in Hermann Hesse's Siddhartha" indische Elemente in Hesses Werk zwar anerkennt, jedoch zu dem Schluß kommt, daß diese Komponenten nicht einen integralen Bestandteil des Glaubens bei Hesse bilden.32 Misra meint, daß die Novelle Hesses ein Versuch sei, die Bedeutung des Lebens aus einem existentiellen (und nicht indischen) Standpunkt aus zu erkennen.33 Bharati M. Blaise erkennt und diskutiert die indischen Symbole in E.M. Forsters und Hermann Hesses Werken in ihrer Dissertation "The Use of Indian Mythology in E.M. Forster's A Passage to India and Hermann Hesse's Siddhartha" (1970), und kommt zu demselben Schluß, daß das Endresultat wesentlich vom Indischen abgerückt sei.34 In den Jahren 1974 und 1975 veröffentlicht Vridhagiri Ganeshan seine Das Indienbild deutscher Dichter um 1900 (1975)35 und Hermann

27 28 29 30 31 32 33 34 35

Bissoondoyal, S.17. Bissoondoyal, S.47. Mahadeo Karmarkar, Friedrich Rückert und die indische Dichtung (Göttingen 1959). Mandakini Marathe, Spiegelungen Indiens in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts (Wien 1965). Shridhar Bhalchandra Shrotri: Max Dauthendeys auslandsbezogene Werke (Poona 1964). Bhabagrahi Misra, "An Analysis of Indic Tradition in Hermann Hesse's Siddhartha." Misra, "An Analysis of Indic Tradition in Hermann Hesse's Siddhartha." Bharati M. Blaise, The Use of Indian Mythology in E. M. Forster's 'Passage to India' and Hermann Hesse's 'Siddhartha' (University of Iowa 1970), S.2. Vridhagiri Ganeshan, Das Indienbild deutscher Dichter um 1900 (Bonn 1975).

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Hesses Indienerlebnis (1980)36 und bespricht zum ersten Mal ausführlich den Einfluß Indiens auf die Gegenwartsliteratur in Deutschland. Christiane Günthers Arbeit Aufbruch nach Asien, im Jahre 1988 veröffentlicht, behandelt den übergreifenden Aspekt der geistigen und politischen Situation in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg und versucht, die Hinwendung der intellektuellen Elite zum asiatischen Raum, d.h. Indien, China und Japan, im Rahmen der Möglichkeit von Fremdwahrnehmung zu begreifen. Den vier indischen Germanisten Karmarkar, Marathe, Shrotri und Ganeshan bleiben gemeinsam zwei Tendenzen: 1)

die indische Interpretation als die letzte Instanz anzusehen, und

2)

einen fruchtbaren Austausch zwischen der deutschen und den indischen Literaturen der Gegenwart fördern zu wollen.

Zu 1) ist zu sagen, daß der Inder anscheinend den Konflikt zwischen einer unvoreingenommenen Darstellung des indischen Einflusses auf die deutsche Literatur, und seiner eigenen Überzeugung, daß er als Inder das Indische zu bewahren berufen sei, weil das Sakrale defamiert würde, nicht überwunden hat. Hier wird noch einmal auf die oben erwähnte Definierungsschwierigkeit der Begriffe "sakral" und "profan" hingewiesen. Von dem unter 2) erwähnten "fruchtbaren Austausch" im Sinne einer vergleichenden Literaturwissenschaft der Gegenwartsliteratur beider Länder muß gesagt werden, daß er vorläufig nicht zu verwirklichen ist. Ganeshan gibt selbst zu, "daß das heutige Indien in mehr als siebzehn Sprachen eine ... im Westen weitgehend unbekannte Literatur anzubieten hat."37 Ganeshans Werk Das Indienbild deutscher Dichter um 1900 ist den anderen Werken indischer Germanisten deshalb vorzuziehen, weil seine Behandlung der deutschen Werke am ausführlichsten ist. Er bespricht eine Reihe von deutschen Schriftstellern um 1900, die repräsentativ sind für die Rezeption indischen Materials. Seine Studie ist auch deshalb ergiebig, weil sie Unzulänglichkeiten aufweist, die von der bisherigen Germanistikforschung in Indien geteilt worden ist. Seine Behauptung, daß er den Schaffensprozeß derjenigen deutschen Autoren beleuchten möchte, die das Indische rezipiert haben, wird jedoch erheblich dadurch abgeschwächt, daß die Unvereinbarkeit zwischen seinem eigenen ideologischen Standpunkt und dem des deutschen Autors nicht behoben wird. Schließlich versucht er, in seinem Werk Das Indienbild deutscher Dichter um 1900 auf Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Dichtern hinzuweisen, verrät aber eine gewisse Unsicherheit in der Definierung 36 37

Ganeshan, Das Indienerlebnis Hermann Hesses, 2. Aufl. (Bonn 1980). Ganeshan, Das Indienbild, S. 19.

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dieser Gemeinsamkeiten. Das hat zum Ergebnis, daß seine Studie kein raison d'etre dafür gibt, warum diese Dichter gerade um 1900 Indien plötzlich so aktiv rezipiert haben. Die Gemeinsamkeiten bestehen nach Ganeshan in dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Dichter, der Quelle ihrer Indienkenntnisse (deutsche und englische Übersetzungen der altindischen Werke), ihrer Begegnung mit Indern in Europa (obwohl nur Keyserling und Stefan Zweig den indischen Dichter Rabindranath Tagore in Deutschland kennenlernen) und ihrer Indienfahrt.38 Alle anderen Aspekte, die von Ganeshan vielleicht aus einem Bedürfnis nach einer einheitlichen Behandlungsweise berücksichtigt werden, weisen eher Unterschiede zwischen den einzelnen Dichtem auf. Ganeshan sagt: Es bleibt noch die Aufgabe für die Zukunft, anhand weiterer Untersuchungen festzustellen, ob für das Indienbild der deutschen Literatur in den Jahren 1900-1930 das symptomatisch ist, was wir anhand dieser sechs Dichter exemplifiziert haben.39

Eben an dieser Stelle will meine Untersuchung ansetzen und versuchen, das von Ganeshan unterlassene "Symptomatische" zu entdecken im Sinne von thematischen und strukturellen Gemeinsamkeiten.40 Als Beispiel für Ganeshans ideologischen Standpunkt, d.h. seine Auffassung davon, wie die indische Literatur rezipiert werden darf, soll seine Stellungnahme zu Dauthendeys Werk wiedergegeben werden. Dauthendey tritt 1905/1906 eine Weltreise im Auftrag der ThomasCook-Gesellschaft an. Der Niederschlag seiner Eindrücke nach einem einmonatigen Indienaufenthalt findet in dem lyrisch-epischen Gedicht "Die geflügelte Erde" statt. Einerseits gesteht ihm Ganeshan eine gewisse Freiheit dichterischer Umgestaltung zu und zitiert Dauthendey wie folgt: "Natürlich bin ich voll Enthusiasmus für das, was ich sehe, aber ich erlebe es erst wirklich, wenn ich darüber dichten werde."41 Trotzdem wirft er dem Dichter vor, "ein unrealistisches Bild Indiens" dargeboten zu haben.42 Er sagt: "Wir können nicht von einer Dichtung 38 39 40

41 42

Ganeshan, Das Indienbild, S.328ff. Ganeshan, Das Indienbild, S.328ff. Hierin unterscheiden sich Ganeshan und Blaise am eindeutigsten. Ganeshan hält die beiden Motivierungs faktoren, nämlich eine intellektuelle gegenüber einer realen Begegnung mit Indien, nicht auseinander. Anders Blaise, die die intellektuelle Begegnung dieser Dichter—in ihrer Studie exemplifiziert an Hesse und Forster — mit Indien wie folgt erklärt: "The aim of the Puranic stories is to cut through the individual consciousness ... to emphasize the non-rational aspect of an immediately apprehended experience. It is precisely this quality, I believe, that recommended India to the authors under study in this paper, and not the incidental political or religious missions that took them to the geographical entity that was India." (Blaise, S.149) Ganeshan, Das Indienbild, S.79. Ganeshan, Das Indienbild, S.84.

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verlangen, daß sie mit fremden Ländern wie ein Sachbuch verfahre. Aber dann kann man auch dem Dichter nicht ein Indienverständnis bescheinigen."43 Hier verrät sich wieder die schizophrene Haltung des indischen Germanisten gegenüber deutschen Schriftstellern, die sich indischer Motive bedienen, um ihre eigene schöpferische Kraft zu entfalten. Im folgenden ist ein typisches Beispiel für Dauthendeys impressionistisches Verfahren: Die indischen Frauen tragen Orangenblüten, und aus gelben Blumen Ketten, und rote Rosen hinterm Ohr, Als hätten sie ein langes Leben aus lauter Hochzeitstagen vor und endlos eine Freudenfeier Und nicht die graue Leier steter Alltagsfiagen.

Ganeshan kommentiert: "Dies ist eine Übertreibung des Dichters. Er überinterpretiert stellenweise die Lebenspraxis der Inder."44 Hier zeigt sich wieder die Unsicherheit darüber, welches wichtiger ist — die Schöpferkraft des Dichters, oder eine wirklichkeitsgetreue, sachliche, vom Inder zu überprüfende Darstellung. Über Dauthendeys Einstellung zu den indischen Religionen schreibt Ganeshan: Vielleicht hat Dauthendey die verschiedenen Aspekte der indischen Religionen in ihrem richtigen Zusammenhang zu verstehen gelernt, aber er erweist keinen guten Dienst, wenn er solche Schilderungen dem deutschen Leserpublikum vorlegt, da man doch eine gewisse Objektivität vermißt. Ohne Erläuterungen aufgenommen fuhrt diese Art Indiendarstellung zu falschen Vorstellungen über das asiatische Volk. 45

Diese Kritik ist aufschlußreich, weil sie den Begriff Objektivität von der subjektiven Perspektive des Inders aus definiert. Wenn es darum ginge, auf einem realistischen Bild Indiens zu bestehen, hätte Ganeshan mit seiner Kritik recht. Aber er scheint vielmehr mit Werturteilen zu arbeiten, die sachlich oder realistisch mit ästhetisch schön verbinden. Deshalb wird dem deutschen Autor Verfälschung vorgeworfen, weil er das Leben in Indien auch von seiner häßlichen Seite her geschildert hat. Ganeshans Besprechung von Bonseis ist genauso zwiespältig, weil er Bonseis für dessen subjektive Darstellung Indiens kritisiert. Bonseis hätte nach Ganeshan ein sachbuchartiges Indienbild bieten sollen. Fritz Mauthner erfährt ein ähnliches Schicksal in Ganeshans Händen, d.h. sein Werk wird in literarischer Hinsicht unterschätzt. Sein "Mahadöh", das an Goethes "Der Gott und die Bajadere" anknüpft, wird in diesem Rahmen nicht weiter untersucht, sondern abgetan mit den Worten: 43 44 45

Ganeshan, Das Indienbild, S.84f. Ganeshan, Das Indienbild, S. 107. Ganeshan, Das Indienbild, S. 119.

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"Genauso wenig wie das Gedicht von Goethe ist diese Geschichte von Mauthner 'indisch'." 46 Es wäre aber doch interessant zu erfahren, warum das Thema der Bajadere Goethe einmal interessiert, und dann von einem zweiten Dichter ein Jahrhundert später rezipiert und wieder literarisch gestaltet worden ist. Günthers Besprechung von Bonseis' Indienfahrt ist viel ergiebiger für meinen Zweck, vor allem weil sie davon spricht, wie "mühelos [...] sich ... Hinweise auf eine 'Szene im Paradies' herauslesen [lassen]".47 Sie beobachtet mit Interesse, wie das Paradiesisch-Märchenhafte an der Realität hafte und klebe. Bei wenigen wurde dieser Eindruck gebrochen durch Ironie wie bei Kellermann, der "Yoshiwara" als ein "Märchen aus schönen Mädchen, Gold Musik, Blütendurf und Mondschein" beschreibt, "Indien" und das "Paradies der Türken" zugleich heraufbeschwört — also alle traditionellen Erwartungen anspricht und noch zu übertreffen scheint, denn: "Keine westliche Phantasie wäre imstande, dich zu ersträumen" — und doch den nüchternen Schluß zieht, den Leser grausam enttäuscht in der Erkenntnis: "Du bist — alles in allem — ein preisgekröntes Bordelll"48 [Hervorhebung von mir: KPM]

Nach Günthers Ansicht ist es eine grausam enttäuschende Rückkehr in die Wirklichkeit. Aber ich würde behaupten, daß gerade das Bordell in den Augen des von mir zu besprechenden deutschen Schriftsteilem sich als Präsentationsform des Paradieses auf Erden eignet. Mit anderen Worten, Indien ist Metapher für Paradies im Sinne der geschlechtlichen Befriedigung nicht in der Ehe (Europa), sondern im außerehelichen Raum eines Bordells.(Indien). Paradies als Bordell ist für meine Untersuchung von äußerster Wichtigkeit, denn genau diese Metapher wird im Zuge des Schaffensprozesses gebraucht. Dem Autor Karl Gjellerup wirft Ganeshan ebenfalls die Unfähigkeit vor, die buddhistische Gedankenwelt unverfälscht auf "literarische" Weise wiederzugeben, und behauptet, Gjellerup habe "publikumswirksame" Indienbücher geschrieben 49 Die Frage nach der Vereinbarkeit von "unverfälscht" und "literarisch" wird diese Studie später aufnehmen, denn sie ist grundlegend für den Schaffensprozeß eines Autors. Günthers Aufbruch nach Asien ist eine ebenso bedeutende Untersuchung, vor allem weil sie ehrlich bemüht ist zu ergründen, warum deutsche Schriftsteller gerade um die Jahrhundertwende nach Asien aufbrachen, 46 47 48 49

Ganeshan, Das Indienbild, S. 171. Günther, Aufbruch nach Asien, S.34. Günther, Aufbruch nach Asien, S.34f. Ganeshan, Das Indienbild, S.232.

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welche Erwartungen an Asien sie damit verbanden und welche Einstellung gegenüber ihrer eigenen Kultur sie damit erkennen ließen. Es sollte sich weiter herausstellen, ob die Dichter die Spannung zwischen der eigenen und der fremden Kultur als befrachtend oder als belastend ansahen, wie sie als 'Kinder ihrer Zeit' von dieser beeinflußt waren und ob sie wiederum durch ihre literarischen Veröffentlichungen auf die Ansichten ihrer Zeitgenossen Einfluß nahmen.50

— Fragen, die rezeptionsgeschichtlich gesehen von großer Relevanz sind und bisher kaum analysiert wurden. Günthers Gebrauch des Wortes Aufbruch ist jedoch ganz konkret, d.h. räumlich-geographisch zu verstehen, wie sie selber sagt.51 Es ist deshalb begreiflich, warum sie sich in erster Linie mit Reiseliteratur beschäftigt. Durch ihre Analyse der Werke von asienfahrenden deutschen Schriftstellern gewinnt sie wertvolle Einsichten, die ihr einen anderen Umgang mit der Fremde zeigen. Sie plädiert jedoch dafür, das Fremde in seiner Andersartigkeit, in seiner 'Distanz' zu erkennen, zu akzeptieren und gerade darin eine fruchtbare Beziehung zu ihm aufzubauen52

Im Hinblick auf die Besonderheit dieser Gattung "Reiseliteratur" ist es wohl verständlich, daß Günther sich von dem Wunsch, sich im Fremden wiederzufinden oder es zu assimilieren, distanziert, weil sie fürchtet, dadurch die "Andersartigkeit" und die sich daraus ergebende Möglichkeit "einer fruchtbaren Beziehung" zu verlieren. Bei allen oben behandelten indischen Germanisten stellt man eines fest: keiner wirft einen Blick auf die profane Literatur Indiens, vor allem das Sanskrit-Drama und dessen Einflußnahme auf deutsche Schriftsteller der Gegenwart. Das hängt, wie oben ausgeführt, natürlich unter anderem damit zusammen, daß das vom Deutschen als profan Aufgenommene vom Inder für heilig gehalten wird, und daher vom letzteren nur unter diesem Aspekt interpretiert wird. Die Tatsache, daß der sich mit Germanistik-Studien befassende Inder mit beiden Kulturkreisen — dem deutschen wie dem indischen — vertraut sein müßte, ist etwas Einmaliges und sollte voll ausgenutzt werden. Das daraus resultierende Einfühlungsvermögen in beide Kulturbereiche ist vor allem deswegen so wichtig, weil es einem erlauben würde zu sehen, 1) 2) 50 51 52

was es ist in der eigenen Literatur, das andere Völker interessiert, wie diese aus der eigenen Literatur stammenden Anregungen zu andersgearteten schöpferischen Tätigkeiten führen. Günther, Aufbruch nach Asien, S.14. Günther, Aufbruch nach Asien, S. 17. Günther, Aufbruch nach Asien, S.285,

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Dies ist das eigentlich Aufregende in der vergleichenden Literaturwissenschaft. In der Erweiterung des Bewußtseins des rezipierenden Autors, die in eine Neugestaltung mündet, liegt der Reiz der fremden Literatur. Das Interesse an der profanen Literatur Indiens manifestierte sich, wie schon anfangs erwähnt, bei Goethe, im Sinne einer aktiven Rezeption, und zwar am Sanskrit-Drama im 4. Jahrhundert nach Christus. Dieses Interesse wird im 20. Jahrhundert wieder wach, denn zwei der in dieser Untersuchung zu behandelnden deutschen Autoren, nämlich Frank Wedekind und Lion Feuchtwanger, rezipieren das altindische Drama. Es wird deshalb an dieser Stelle ein kurzer Überblick über die Entwicklung des indischen Theaters gebracht, um das Verständnis der Rezeption von deutscher Seite zu erleichtern. Die Traditionen des indischen Theaters Das Drama in Indien hat mit dem Europäischen vergleichbare Entwicklungsstadien durchgemacht und spielt heute noch eine bedeutende Rolle im Sozialleben der Inder. Die Ursprünge des indischen Theaters liegen, ähnlich wie die des griechischen Dramas, im kultischen Spiel. Die Quellen liegen weit zurück, in der mittleren Steinzeit um 8000 vor Christus, bekundet durch die heute noch vorhandene Höhlenmalerei im Mittelindien. Diese Malerei zeigt phallische Tänzer, die zu Ehren von Schiwa, dem asketisch-erotischen Gott, ekstatische Tanze aufführen. Diese frühen ritualistischen Tänze und Lieder existieren heute noch in vielen primitiven Volksstämmen Indiens. Während der Indus-Kultur vom 4. bis zum 2. Jahrtausend vor Christus gab es eine hochzivilisierte städtische Bevölkerung. Mit diesen arischen Indern erschien die Sanskritliteratur in Form einer religiösen Lyrik (Rigweda), die auch dramatische Texte enthielt. Die heute noch vorhandenen Bronze- und Steinskulpturen zeigen, daß zu dieser Zeit eine Verfeinerung der dramatischen Künste stattfand. Allmählich wurden soziale, mythische und profane Themen eingeführt. In dieser wedischen Periode trafen sich Musik, Tanz und Lieder in Dialogform, um einen Kern des frühen indischen Theaters zu bilden. Andere Riten, die anfangs größeren Sinn hatten (wie Meditation und Opfer), räumten dem dramatischen Element immer mehr Platz ein. Die Mischung von sakral und profan erklärt auch, warum die prächtigen indischen Tempel Natja Mandapa (Tanzhallen) hatten, in denen die Hetäre oder Bajadere (Devadasis = Dienerinnen Gottes) tanzten. Die Haupttanz- und Tanzdramenstile des heutigen Indiens stammen aus dieser Zeit. In klassischem Sanskrit beginnt die indische Literatur mit den Dramen des Buddhisten Aschwaghoscha (2. Jahrhundert vor Christus),

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dessen Werke jedoch nur in kleinen Bruchstücken erhalten sind. Im 2. Jahrhundert vor Christus erscheint auch das älteste noch vorhandene Lehrbuch für die indische Poetik, Bharatas Natjaschastra (Grundregeln poetischer Kirnst), in dem Information über die frühere Indus-Kultur zu finden ist. Bharata kodiert u.a. die dramatischen Künste. Nach ihm hat die dramatische Form Lehrzwecke: Das Drama wird also alle ausbilden, durch die Handlungen und Zustände, die darin dargestellt werden, und durch die Empfindungen, die dadurch ausgelöst werden. Es wird auch unglückliche Personen beschwichtigen, die unter Kummer oder Gram oder (Über)arbeit leiden, und wird förderlich sein in der Einhaltung von Pflicht, sowie für Ruhm, langes Leben, Geisteskraft und das Allgemeinwohl, und es wird die Leute erziehen. (Meine Übersetzung: KPM)53

Alle Komponenten werden ausführlichst von Bharata behandelt, von Kostüm, Frisur und Schmuck bis hin zu Mimik, Gestik und Bühnenbild. Im 4. Jahrhundert nach Christus schreibt Bhasa seine Dramen, die heute noch vollständig erhalten sind. Unter anderem ist sein Daridracarudatta (die Armut des Carudatta) hervorzuheben, denn es ist eben dieses Stück, welches von den Deutschen im 20. Jahrhundert rezipiert wird. Bhasa beschreibt in diesem Drama die schöne Kurtisane Vasantasena, die in allen Künsten bewandt ist. Zu dieser Zeit herrscht der große Kaiser Tschandragupta Maurja, dessen Interesse an Kunst ihn eine Art Mäzenatentum gründen läßt, um Künstler aller Art zu schützen und zu fördern. Natjacharja oder Dramenlehrer weihen Kurtisanen, weibliche Sklaven und andere Personen, die ihren Lebensunterhalt durch Bühnenvorführungen bestreiten, in alle Künste ein. Es ist also anzunehmen, daß Vasantasena, die Kurtisane in Bhasas Stück, ihre Ausbildung der wohlwollenden und kunstfördernden Auffassung des Staats verdankt. Zur gleichen Zeit machen sich griechische Einflüsse auf das Theater und die bildenden Künste bemerkbar. Eroberungszüge führen Alexander den Großen nach dem Pandschab und Gandhara. In seinem Ancient India and Greek Theatre (1981) weist M. L. Varadpande überzeugend die Existenz dieses Kontakts zwischen altindischen und griechischen dramatischen Künsten nach.54 Belege sind, wie Varadpande ausführt, z.B. das Fragment einer Vase mit einem Fries versehen, welches eine Szene aus Antigone darstellt und in der Nähe von Peschawar (im heutigen Pakistan) ausgegraben worden ist; und ein Amphitheater in Nagardschunakonda, welches griechischen Einfluß verrät. 55 53 54 55

M. L. Varadpande, Ancient India and Greek Theatre (New Delhi 1981), S.51. Varadpande, p.xii. Varadpande, S.82.

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Kautilja, der Kanzler des Kaisers, schreibt eine Abhandlung über die Lebenspraxis der Menschen, Arthaschastra, die genau festlegt, wie die Förderung von Künstlern gehandhabt werden soll. Die Künstler müssen z.B. Steuern an den Kaiser zahlen, und als Gegenleistung bekommen sie die Unterstützung des Staates. Bemerkenswert für dieses Stadium in der Entwicklung des indischen Theaters ist die Streeprekscha oder dramatische Darbietung von Frauen. Der Doppelberuf von Schauspielkunst und Prostitution wird gesetzlich anerkannt — eine wichtige Tatsache, die bestimmte Zuschauererwartungen in Indien der Bajaderengestalt gegenüber erklären hilft. Bhasas Nachfolger ist Kalidasa im 5. Jahrhundert nach Christus, dessen Drama Sakuntala oder der verlorene Ring bereits bei Goethe und den Romantikern großen Anklang gefunden hat. Zu Anfang des 8. Jahrhunderts nach Christus tritt dann der Dramatiker Bhavabhuti auf, dessen heroische Dramen auch erhalten sind. Alle diese Dramen bestehen aus einer Folge von Gesang- und Tanzszenen, die durch eine spannende Rahmenerzählung zusammengehalten werden. Die einzelnen Personen sprechen je nach ihrer gesellschaftlichen Stellung das klassische Sanskrit oder das umgangsprachliche Prakrit. Diese Mischung von Sprachformen wird von Bharata in seiner Poetik dadurch gerechtfertigt, daß eine möglichst breite Publikumswirksamkeit erzielt werden soll. Methodisches Verfahren Es geht also in dieser Untersuchung um die Rolle des deutschen Schriftstellers im 20. Jahrhundert zuerst als Leser eines literarischen Stoffes, dessen Rezeption ihn dann in einen Autor verwandelt. Bezogen auf den Schaffensprozeß des Deutschen ist dieses Verhältnis LeserAutor ausschlaggebend, denn eine solche Untersuchung müßte doch Fragen darüber klären, wie ein Autor liest und wie er selbst wieder schafft. Diese Studie behandelt also den Leser nicht als bloßes Gesellschaftswesen, welches insofern auch den Schaffensprozeß rein durch seine Lesefunktion nachvollziehen hilft. Das Zentralanliegen der Studie ist und bleibt der deutsche Autor in seiner Doppelrolle als Leser und Schöpfer. Eine solche Hervorhebung des Lesers als künftigen Schriftstellers ermöglicht es, den Schaffensprozeß in den Mittelpunkt der Untersuchung zu rücken. Eine Reihe von Entwicklungen hat in den letzten zwanzig Jahren zu einer entscheidenen Umorientierung in der Literaturwissenschaft geführt: zum einen war es die Literatursoziologie, die sich um die wechselseitige Bedingtheit von Literatur und Gesellschaft bemühte, zum anderen die Hermeneutik, die sich mit dem Bereich des Verstehens bzw. Interpretierens von Kunst und Literatur beschäftigte; schließlich weisen

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Veröffentlichungen zur Literaturgeschichte (Roland Barthes) auf das Verhältnis von Gesellschaft/Leser und Werk hin. Diese drei Wege haben zur sogenannten Rezeptionsforschung und zur (WiedelEntdeckung des Lesers geführt. Hans Robert Jauß hat dieser Rezeptionsästhetik entscheidende Anstöße gegeben. Für meine Untersuchung ist diese Einsicht der Konstanzer Schule, daß der Leser gleichzeitig Mitvollzieher des schöpferischen Aktes ist, von grundlegender Bedeutung. Der Leser erhält dadurch die Bedeutung eines potentiellen Autors, denn es soll gezeigt werden, wie sein Lesen in ein neues Werk kulminieren kann. Er geht mit je eigenen Vorerfahrungen, Erwartungen, Fähigkeiten, Kenntnissen, Gemütsverfassungen an den Text heran und konstituiert vor diesem Hintergrund Bedeutungen, das heißt er gibt dem Text einen, seinen Sinn im Rahmen des vom Text vorgegebenen und zugestandenen Spielraums, denn der Text selbst enthält keine Bedeutung, sondern bietet Möglichkeiten zur Konstituierung von Bedeutung an. Aus diesem Textverständnis entsteht eventuell der Drang nach Eigenproduktion. Die "Reinkarnation" des Lesers als Autors wäre somit das Untersuchungsthema. Es sind mehrere Probleme, die ich im Rahmen des Schaffensprozesses untersuchen möchte, von denen einige bereits bei der Diskussion über den ideologischen Standpunkt indischer Germanisten angeschnitten worden sind. Das Problem der "Verzerrung: Man muß den Konflikt zwischen "wahrheitsgetreu" und "verzerrt" klären, ehe man sich einem literarischen Werk nähert, das Motive, Themen, und ähnliches mehr aus fremder Literatur entlehnt hat. Wenn die Werke nur durch "Verzerrung" literarischen Wert erhalten, hat man sie dann zu verwerfen? Ich möchte behaupten, daß gerade dieses Moment der sogenannten Verzerrung den Keim schöpferischer Tätigkeit enthält. Um dies noch präziser zu formulieren: Der Dichter verwendet bestimmte Taktiken, um das Indische in sein auf Sensation oder auf Bewußtseinserweiterung hin zielendes Werk zu gestalten. Es geht bei einer solchen Analyse dann nicht mehr um die "Verzerrung" des ursprünglich Indischen im Sinne seiner empirischen Wirklichkeit, sondern ausschließlich darum, ob es dem Zweck des Schriftstellers dient. Es ist zwar zu begrüßen, daß man den eigenen Kulturkreis vor Mißverständnis und Verzerrung verteidigen will. Aber dies kann kaum das ausschließliche Interesse eines Literaturkritikers sein. Seine Aufmerksamkeit gilt vielmehr einer unvoreingenommenen Untersuchung beider Literaturen (im Sinne von belies lettres), um festzustellen, wie die eine Literatur die andere beeinflußt und eventuell von ihr umgestaltet wird. Andernfalls ist es gleichsam ein reines

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Verleumdungsverfahren im journalistisch-juristischen Sinne, das vom Kritiker angestrengt wird. Das Problem der Publikumswirksamkeit: Manche indischen Germanisten scheinen unter dem Wort "publikumswirksam" die Art von Literatur zu verstehen, die trivial oder sensationsdurstig ist. Publikumswirksamkeit kann aber auch positiv bewertet werden. Ob Autoren, die bestimmte Themen rezipieren und sie ihren eigenen dichterischen Bedürfnissen entsprechend umarbeiten, als trivial abgetan werden dürfen, wie die Untersuchung anhand von Hesses Siddhartha zeigt, ist ein wesentliches Problem in der Besprechung des Schaffensprozesses. Die Unterscheidung zwischen Literatur, die durch das dialogische Moment das Bewußtsein des Lesers erweitert, und der, die dem Leser bloßen Eskapismus bietet, ist äußerst wichtig für einen Einblick in den Schaffensprozeß. Der Schriftsteller könnte nämlich einen Bestseller im negativen Sinne von Trivialliteratur erzielen, oder — durch seine dichterische Berufung motiviert — Indien als ein Mittel miteinschließen, um seine schöpferische Kraft zu entfalten. Das Problem der "differenziert" schaffenden Autoren: In der Einleitung zu seiner Untersuchimg behauptet Ganeshan: Wir sind uns auch bewußt, daß man mit gleicher Methodik nicht allen Dichtem gerecht wird, weil es sich um verschiedenartig veranlaßte und differenziert schaffende Persönlichkeiten handelt56

Wenn man jedoch wie Ganeshan undifferenziert vorgeht in der Behandlung dieser "differenziert schaffenden Persönlichkeiten", kommt man zu keinem klaren Ergebnis darüber, wie das Indische als eine Komponente im Schaffensprozeß eines Autors fungiert, es sei denn, daß man dafür klar aufzeigen kann, wie die indische Komponente in beiden Fällen gebraucht oder mißbraucht wird. Eine Analyse verschiedenster Textsorten würde einem zwar ein imponierendes Kompendium von indischen Stoffen und Motiven geben, ohne jedoch irgendwelche Maßstäbe dafür zu setzen, wie die indische Komponente im schöpferischen Akt eines Dichters auszuwerten ist. Wichtiger ist es, den Schreibvorgang des potentiellen Schriftstellers zu analysieren, wie diese Studie ihn in dem Kapitel über Feuchtwanger nachvollzieht, um festzustellen, wie das Leseverhalten sich auf den Schaffensprozeß auswirkt. Das heißt, man muß die Wechselbeziehung zwischen den beiden Gestalten Leser und Schöpfer, die im Schriftsteller vereint sind, zu begreifen versuchen. 56

Ganeshan, Das Indienbild, S.25.

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Das Problem literarischer Konventionen. Die bisher veröffentlichten Diskussionen über das Verhältnis zwischen dem Text und dem Leser begriffen sich innerhalb der abendländischen Tradition. Das heißt, der Kode und die Konventionen, ob ästhetisch oder kulturell bedingt, aus denen der Leser schöpfen konnte, um den Text zu verstehen, stammten aus dieser gemeinsamen Tradition. Susan Suleimans Behauptung: "Every literary text, no matter how 'modern' or 'unconventional,' contains some indication of the artistic and/or cultural codes it is affirming, reaffirming, or 'playing' with (playing against)"57 ist naturlich im Zusammenhang mit Texten aus der europäischen Tradition als einer homogenen Einheit zu verstehen. Wie ist es aber bei Texten, die einer fremden Kultur und Tradition entstammen, wo keinerlei Bezugspunkte zwischen ihnen und dem europäischen Leser existieren? Auf welche Weise findet dann die "Konkretion" statt?58 Mit anderen Worten, wie ist das Leseverfahren zu beurteilen? Wolfgang Iser ist hier hilfreich. Die sinngestaltende Tätigkeit beinhaltet nach Iser Auswahl und Organization des Lesematerials, Vorwegnahme und Rückblick, Formulierung und Abänderung der Erwartungen.5' Diese Komponenten setzen nicht unbedingt gemeinsam tradiertes Gedankengut voraus. Im Falle eines Textes aus einem völlig unbekannten literarischen Bereich ist der Interpretationsprozeß weniger belastet. Die fremde indische Literatur weist "Unbestimmtheitsstellen" auf, die der europäische Leser viel freier ausfüllen kann. 60 Die Spanne der Interpretationsmöglichkeiten ist dadurch erheblich erweitert, denn sie ist nicht eingeschränkt durch normierte Leseerwartungen. Die Auswahl und Organisation des Lesematerials erfolgt viel freier. Eine solche Freiheit ist naturlich sehr wichtig bei einer Analyse des Schaffensprozesses. Sie bietet dem Leser, der schöpferisch tätig sein will, Anregungen, deren Umwandlung keinen "interpretive communities" unterliegt.61 Ich möchte die Frage aufwerfen, ob dieses Fehlen eines "determinacy of meaning"62 nicht eine mögliche Antwort darauf geben könnte, wie die in der Untersuchung behandelten Schriftsteller 57

The Reader in the Text, Essays on Audience and Interpretation, edited by Susan R. Suleiman and Inge Crosman (Princeton, N.J. 1980), S.21. The Reader in the Text, S.22. Die Wechselbeziehung zwischen Leser und Text findet auf verschiedenen Stufen statt Nach Irmgarden ist die Stufe der ästhetischen Reflektion die Bewußtwerdung einer Konkretion, d.h. die Übertragung der dargestellen Gegenstände von der phonetischen auf die semantische Ebene. 59 The Reader in the Text, S.22. 60 Wolfgang Iser, "Im Lichte der Kritik," in: Rezeptionsästhetik, herausgegeben von Rainer Waming (München 1975), S.328. 61 The Reader in the Text, S.21. 62 The Reader in the Text, S. 17. 58

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ihren aus der indischen Literatur gewonnenen Anregungen neue Gestalt abgewonnen haben. Die Untersuchung beschränkt sich bewußt auf die drei obenerwähnten deutschen Autoren, weil diese bestrebt sind, Modelle für eine Idylle zu entwerfen, und hierfür im indischen Material weitere Möglichkeiten eines idyllischen Daseins mögen entdeckt haben, das als Alternative zu der als geistige Nivellierung wahrgenommene Situation um die Jahrhundertwende dienen soll. Diese Idylle wird jedoch unterschiedlich projiziert. Das heißt, sie wird entweder positiv bewertet, oder mit Vorbehalt angenommen, oder aber auch gänzlich umgestülpt. Aber die gemeinsame Quelle für ein neues Verständnis der Idylle im Rahmen der gegenwärtig existierenden Probleme scheint im Falle dieser drei Schriftsteller unter anderem auch Indien zu sein. Dies erklärt auch, wie anfangs schon erwähnt, warum Indien wieder so aktiv von diesen Autoren rezipiert wird. Deshalb werde ich versuchen, das Konzept der Idylle, wie es von den einzelnen Autoren dichterisch gestaltet wird, gegen die indische Kulisse auszuarbeiten.

Frank Wedekind: Das Sonnenspektrum Wie in der Einführung bereits ausgeführt, zeigt die indische profane Literatur zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert nach Christus bestimmte Themenkomplexe auf, die Klarheit darüber verschaffen könnte, warum sich der Deutsche im 20. Jahrhundert dieser Literatur zuwendet auf seiner Suche nach neuen schöpferischen Anregungen. Die Untersuchung einer solchen Rezeption setzt natürlich voraus, daß der deutsche Schriftsteller diese altindische Literatur, entweder im Original oder in Übersetzung, gelesen hat. Inwieweit läßt sich aber ein Werk rezeptionsgeschichtlich begreifen, wenn weitere Signale und Indizien fehlen und der Schriftsteller selbst die Berührung mit dem fremden Text nicht explizite bestätigt? So einen Fall stellt Frank Wedekind dar. In der folgenden Analyse soll daher anhand von Wedekinds Das Sonnenspektrum demonstriert werden, wie gerade diese Ungewißheit die verschiedenen Abstufungen des schöpferischen Prozesses aufzeigt, wo in der letzten Instanz der Originalimpuls, dieses "unter dem Eindruck von Sudraka", wie Wedekind den Einfluß des Indischen auf sich beschrieben hat, im Werk des rezipierenden Autors voll aufgehoben wird und neue Gestalt gewinnt.1 Die obenerwähnten Themenkomplexe umfassen die Prostitution, den "Paria" oder Ausgestoßenen und "die erotische Askese".2 Diese Themen können miteinander verbunden werden, denn die Prostituierte ist gleichzeitig eine Ausgestoßene, die jedoch im indischen Kontext durch die Liebe zu einem guten Menschen wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden darf. Sie verkörpert auch eine Art sexueller Idylle, denn sie vereinigt das Erotische und das Asketische in ihrem Tanz zu Ehren vom Gott Schiwa, der die Spannung und die Harmonie sexueller Energien in sich aufhebt. Es ist also offensichtlich, daß die Prostituierte im indischen Zusammenhang eine vom europäischen abweichende Funktion in der Gesellschaft hat. Deshalb soll an dieser Stelle kurz auf die Stellung der Frau in der altindischen Gesellschaft eingegangen werden. Frank Wedekind, Sonnenspektrum oder wer kauft Liebesgötter. Eine moderne Idylle aus dem Leben von Frank Wedekind, Georg Müller Verlag GmbH, München 1970. Alle weiteren Hinweise auf dieses Werk werden als FW nebst Seitenzahl angegeben. Wendy Doniger O"Flaherty, Siva. The Erotic Ascetic, Oxford University Press, London & New York, 1973.

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Frank Wedekind: Das Sonnenspektrum

Die Prostituiertengestalt — eine geschichtliche Perspektive Die Bedeutung der Frau innerhalb der gesellschaftlichen Struktur Indiens hat, wie in anderen Kulturkreisen, verschiedene Entwicklungsstadien durchgemacht.3 Das tatkräftige, emanzipierte Frauenbild der vorwedischen Inder oder Drawidas der Indus-Kultur (etwa um das 4. Jahrtausend vor Christus bis 1500 vor Christus) wurde verdrängt von der patriarchalischen wedischen Periode, in der der Frau nur eine untergeordnete Stellung zugebilligt wurde. Anders als die Drawidas, die Ackerbau trieben und die Erde als weibliches Prinzip verehrten, waren die wedischen Menschen, die um 1500 vor Christus nach Indien einwanderten, kriegerische Viehzüchter und entwickelten eine Gesellschaft, in der das Patrimonium bewahrt werden sollte.4 Die mutterrechtlichen Lebensregeln der Drawidas, die aus einer urtümlichen, kultischen Verehrung des weiblichen Elements stammten und die Grundlage für die Entstehung der ersten, hochentwickelten Kultur in Indien boten, wurden abgelehnt und ersetzt durch das patriarchalische System. Um die Fortdauer ihrer Herrschaft über die jetzt in die Gesellschaft aufgenommene drawidisch-negride Urbevölkerung zu sichern, führten die wedischen Menschen ein System der rassischen Trennung (warna: Äußeres, Farbe, Hautfarbe) ein. Dieser Begriff, der zunächst nur den Rassenkontrast widerspiegelte, erhielt jedoch schon bald immer stärkere soziale und berufsständische Bedeutung. An seine Stelle trat dann wahrscheinlich der noch heute in Indien gültige Kastenbegriff. Diese Verwandlung von einer matriarchalischen zu einer patriarchalischen Gesellschaft läßt sich am klarsten an den Göttern exemplifizieren. Die drawidisch-negriden Götter waren überwiegend weiblich, während die wedischen Götter fast ausnahmslos männlich waren und Gattinnen hatten, die eine zweitrangige Rolle spielten. Diese männlich orientierte Viehzuchtgesellschaft erlegte den Frauen verständlicherweise strengstes Verbot außerehelicher Liebesverhältnisse auf, um den Privatbesitz und die Abstammung des männlichen Erben zu gewähren.5 Im "klassischen" Zeitalter (von Forschern manchmal auch die indische Renaissance genannt) zwischen dem 1. und dem 8. Jahrhundert nach Christus — einer Periode höchster großstädtischer Verfeinerung — zeigen die Heldenepen wie das Mahabharata und das Ramajana Vorbilder ritterlichen Verhaltens, wo die Frau als begehrenswerter Endzweck ritterlicher Handlungen verehrt und idealisiert wurde, nicht 3

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Narendra Nath Bhattacharyya, History of Indian Erotic Literature (New Delhi 1975). Siehe insbesondere Kapitel 3: "The Two Streams: Myth and Reality of the Matriarchal Values," S.15f. Bhattacharyya, S.16f. Bhattacharyya, S.16f.

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anders als im europäischen Hochmittelalter des Minnesangs. Dafür mußte die Frau jedoch ihrem Mann Untertan bleiben und sich durch Pati Seva (wörtlich Mannesdienst, der sich in der Anbetung und Bedienung des Ehemannes erfüllt) verwirklichen. Diese Rangordnung entspricht der Situation im Westen, wie Karl Scheffler kommentiert: Soweit man auch in der Zeit zurückblickt, immer ist die Frau dem Mann Dienerin oder Heilige gewesen. Zuweilen beides zugleich. Niemals aber war sie ihm eine gleichberechtigte Partnerin.6

Auch Günthers Bemerkung in diesem Zusammenhang ist aufschlußreich, denn sie bietet eine Gleichsetzung von Indien mit Frau als Kurtisane. Sie sagt: Asien war Anfang, Einleitung, Eröffnung späterer Möglichkeiten — und da es auf diesem quasi 'vorgeschichtlichen' Stand stehengeblieben war, sei es sein Schicksal, zwar nicht aus der Geschichte ausgesondert, aber doch von den 'fortgeschritteneren' Nationen bezwungen und unterdrückt zu werden. ... Eben diese beiden Möglichkeiten, 'Asien als Ursprung und Kindheit Europas' zu verstehen, finden sich in der 'Paradoxie' der Kolonialzeit um 1900, wo Asien sowohl unterdrückt wie auch verklärt werden konnte.7

Diese klassische Zeit indischer bildender Künste und Literatur war eine dem Diesseits zugewandte Periode, die charakterisiert wurde durch das Schwinden derWedanta-Lehie und, ab 500 nach Christus, auch des Buddhismus, denn die Forderung der Wedanta-Lehre wie des Buddhismus nach vollkommenem Weltverzicht sprach den "Renaissance"-Inder wenig an.8 Im Zuge dieser neuen Einstellung zur Welt und zum Ich gewannen wissenschaftliche Aphorismen und Abhandlungen großen Wert, denn allen Aspekten weltlichen Lebens sollte exakt nachgeforscht werden. Das Arthaschastra von Kautilja sowie das Natjaschastra von Bharata sind Beispiele für dieses Interesse der damaligen Inder an der wissenschaftlichen Kodierung weltlichen Handelns. 9 Es gab neben diesen beiden Abhandlungen ein anderes 6

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Sylvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen (Frankfurt 1979), S.30. Günther, Aufbruch nach Asien, S.164. Wedanta: der ursprünglich gemeinsamer Name für die Upanischaden, deren Lehren in dem Grundwerk aller We Verliebten Gedichten < Groß-Oktav. X , 208 Seiten. 1989. Ganzleinen D M 1 0 8 , I S B N 3 11 011218 X ( N . F . 94/218) Günthers Liebesgedichte werden aus ihrer immer noch biographisch orientierten Lesart herausgelöst. Ihre Traditionsgebundenheit wird als produktiver Dialog mit bestehenden, bis in die Antike zurückreichenden literarischen Vorbildern erkennbar.

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Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung Groß-Oktav. X, 461 Seiten. 1989. Ganzleinen DM 2 1 0 , ISBN 3 11 012162 X (N.F. 95/219) Das Phänomen zahlreicher Psalmengedichte in der Lyrik der Moderne (u. a. von Berthold Brecht und Paul Celan) erfordert zu seinem Verständnis eine genauere Bestimmung des literarischen Gattungscharakters sowohl der biblischen Psalmen als auch der vielgestaltigen Tradition deutschsprachiger Psalmen von Luther bis Klopstock. Der Verlauf dieser Geschichte wird in Einzelinterpretationen aufgezeigt.

in Vorbereitung KATRIN M. KOHL

Rhetoric, the Bible, and the Origins of Free Verse The Early "Hymns" of Friedrich Gottlieb Klopstock Large-octavo. Approx. 290 pages. 1990. Cloth approx. DM 136,— ISBN 3 11 011999 4 (N.F. 92/216) First comprehensive study of Klopstock's free-verse "hymns" of 1758/59 (Die Frühlingsfeier et al.). Klopstock's formal innovation is placed in the context of his work on Der Messias and his church hymns, and examined in the light of the biblical and classical traditions (Psalms, classical metres). An Analysis of the poems shows their rhetorical structure and the biblical foundation of language, imagery and free-verse form. Preisänderungen

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