Die Professionalisierung der Politik: am Beispiel des Berufspolitikers im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.] 9783428475667, 9783428075669


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Die Professionalisierung der Politik: am Beispiel des Berufspolitikers im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.]
 9783428475667, 9783428075669

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Beiträge zum Parlamentsrecht

Band 25

Die Professionalisierung der Politik am Beispiel des Berufspolitikers im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland

Von

Kerstin Burmeister

Duncker & Humblot · Berlin

KERSTIN BURMEISTER

Die Professionalisierung der Politik am Beispiel des Berufspolitikers im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland

Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von

Werner Kaltefleiter, Ulrich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen

Band 25

Die Professionalisierung der Politik am Beispiel des Berufspolitikers im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland

Von Kerstin Burmeister

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hurmeister, Kerstin: Die Professionalisierung der Politik am Beispiel des Berufspolitikers im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland / von Kerstin Burmeister. Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 25) ISBN 3-428-07566-8 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-07566-8

Danksagung Diese Arbeit wurde mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Bundestages veröffentlicht. Hierfür möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. Ebenfalls danke ich Frau Professor Dr. Francesca Schinzinger für die Bereitstellung der technischen Möglichkeiten zur Erstellung eines druckreifen Manuskripts. Silke Raab M.A., Mag. rer. publ. und Bemd Hommers danke ich für das sorgfältige Korrekturlesen des Textes, Marcus Meurer für das mühsame Formatieren der Tabellen. Das Manuskript wurde im Januar 1990 abgeschlossen. Aachen, im August 1992

Kerstin Burmeister

Inhalt A. Einl.eitung ................................................

9

B. Die historische Entwicklung der Professionalisierung der Politik . . . . . . . . . . . ..

16

I. Der Vormärz (1830 - 1848) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

16

11. Die Entwicklung von der Paulskirche zum Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

19

m.

Die Entwicklung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . ..

23

I. Parteierstarkung - Beginn der Professionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Parteierstarkung - Ursache einer neuen Sozialstruktur des Reichstages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Diäten für die kaiserlichen Reichstagsabgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Aufgaben und Motivation der Parlamentarier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Vemältniswahlrecht und Professionalisierung in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Diäten in der Weimarer Republik ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

23

25

29 32 34 35

IV. Bundesrepublik - Politik als ElWerbstätigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

V. Zusammenfassung: Aspekte einer Professionalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

43

c. Der Bemfspolitiker im Deutschen Bundestag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

46

I. Die Stellung des Abgeordneten im modemen Parteienparlament . . . . . . . . . . . . . .

46

11. Kriterien für den Berufscharakter der politischen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Modelltheoretische Überlegungen zum Professionalisierungsprozeß der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Zeitbudget und Existenzsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Berufsverband und Definition des Tätigkeitabereiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Berufsethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Esprit de corps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. t) Karriere-Möglichkeiten .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

49 53 53

54 58 59 61 62

8

Inhalt

ID. Der Zusammenhang zwischen der Kandidatenaufstellungzum Deutschen Bundestag und der Professionalisierung der Politik

64

1. Entscheidungsträger der Kandidatennominierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Kriterien für die Kandidatenaufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Direktkandidaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Listenkandidaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Der Aufstieg in politische Spitzenpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Karrieremuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Die innerparteiliche Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Der Weg über die Kommunalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Der Weg über die Partei-Jugendorganisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Beruf und politische Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kritik der Kandidatenrekrutierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

64 65 65 70 72 76 79 81 83 84 85

IV. Die Sozialstruktur des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

1. Beru fsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) Berufspolitiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 b) Der Öffentliche Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 c) Die übrigen Berufsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 96 2. Das Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3. Altersstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4. Bildungsschichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5. Bewertung der Sozialstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 V. Der Politikerberuf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Aufgabenstellung und Arbeitsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Motivation zur Politik als Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

VI. Das Bild des Berufspolitikers in der Öffentlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 120 D. Scblußbemerlrungeo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 129

Uteratur ................................................... 133 ADhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

A. Einleitung "Abgeordneter zu sein, ist kein Beruf" " so Dolf Sternberger 1950, der Abgeordnete sei nur auf vier Jahre gewählt und eine Pension für Parlamentarier noch nicht erfunden. Seitdem hat sich sowohl in der Bundes- als auch in der Landes-, zum Teil sogar in der Kommunalpolitik einiges verändert, auch wenn der Berufspolitiker "als nackte Wirklichkeit"Z dem Wähler immer noch nicht zumutbar erscheint. Die von Max Weber bereits 1919 dargestellten Tendenzen der Professionalisierung in der PolitiIc1 haben sich weiter fortgesetzt. Die Mehrzahl der Abgeordneten ist aufgrund des hohen zeitlichen Aufwandes und Arbeitsanfalles gezwungen, mit Parlamentseintritt den Privat-Beruf entweder aufzugeben oder für die Dauer der Legislaturperiode weitgehend einzuschränken. Ein Abgeordneter kann in der Regel nicht mehr auf eine gesicherte unpolitische Erwerbsstellung zurückgreifen. Politiker verstehen sich nicht mehr unbedingt als auf Zeit gewählt; die 'Barschel-Affäre' lehrte unter anderem, daß der Verlust der politischen Mehrheit nicht mehr von allen Politikern als normaler Vorgang in einer Demokratie begriffen, daß Politik als "Geschäft, als Gewerbe, als Job"4 aufgefaßt wird. Viele Politiker leben längst fmanziell und psychologisch "von der Politik" (Max Weber). Dabei sind heute wenige Berufsbilder "so umstritten und unscharf wie dasjenige des Parlamentariers" ,5 der heute bei vielen als Symbolfigur des Berufspolitikers gilt. Mit dem Thema der Berufspolitik wird sich vor allem im Rahmen der empirischen Elitenforschung seit längerem auseinandergesetzt, wobei immer

'Stemberger, Dolf, Berufs-Politiker und Politiker-Berufe. Zur Soziologie des Deutschen Bundestages, in: Die Gegenwart, 5. Ig., Nr. 22 v. 15.1\.1950, S. 9 - H, hier S. 9. 2Kremer, Klemens, Der Weg ins Parlament, Heidelberg, Hamburg 1982, S. \03. 'Weber, Max, Politik als Beruf, in: Gesammelte Politische Schriften, hrsg. von lohannes Winckelmann, 2. Autl., Tübingen 1958, S. 505 - 560. 'Kraft, löm, Machthaben als Profession. Über das Zynische in der Politik, in: Amold, Heinz Ludwig (Hrsg.), Vom Verlust der Scham und dem allmählichen Verschwinden der Demokratie, Göttingen 1988, S. 63 - 69, hier S. 64. 'Wasser, Hartrnut, Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrcpublik Deutschland, Stuttgart 1980, S. 9\.

10

A. Einleitung

wieder auf die klassische Rede Max Webers im Revolutionswinter 1919 Bezug genommen wird. 6 Besonders hervorzuheben sind die auf Politikerbefragungen beruhenden Forschungsergebnisse Dietrich Herzogs. 7 Herzog zeichnete vor allem Karriereverläufe von Politikern nach. Die Arbeiten von Heino Kaack und Emil-Peter Müller bieten Einblick in die Sozialstruktur der Abgeordneten.- In der Wochenzeitung DIE ZEIT erschienen in den 80er Jahren eine Reihe von Beiträgen, die sich mit der Problematik der Berufspolitik in der Bundesrepublik befaßten. 9 Ebenso wurde diese Thematik in der Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl) sowie in der Beilage der Wochenzeitung 'Das Parlament', Aus Politik und Zeitgeschichte, immer wieder aufgegriffen. Nach der 'Barschel-Affäre' mehrten sich die Beiträge in den politischen Zeitschriften, welche die Thematik Politik und Moral behandelten, wobei Bezug zur Berufspolitik genommen wurde. In diesem Zusammenhang sind auch Publikationen wie 'Die Latrinenrepublik'lo oder 'Die neue Skandalchronik'lI zu sehen. Politische Skandale sind ein in der populärwissenschaftlichen Literatur gern aufgegriffenes Thema. Die Problematik liegt - gerade bezüglich der Berufspolitik - in dem immer wieder benutzten Bild von der Politik als schmutzigem Geschäft, worin sich "der unpolitische Deutsche, dem aller politischer Konflikt, alles 'Parteiengezänk' , zuwider"12 ist, ausdrückt. So sind Konflikte und Mißverständnisse in Hinblick auf den Berufsparlamentarier, der sich eben diesem Geschäft widmet, vorprogrammiert. Einleitend soll der Begriff 'Berufspolitiker' geklärt werden. Die Begriffe Berufspolitiker und -parlamentarier werden in der Regel - so auch in dieser Arbeit - synonym gebraucht, obwohl die Berufsparlamentarier oder NurBundestagsabgeordneten strenggenommen ein Teil der Berufspolitiker sind. Berufsparlamentarier widmen sich ausschließlich der parlamentarischen Arbeit

·Vgl. Weber, Politik als Beruf. 'Siehe vor allem: Benog, Dietrich, Politische Karrieren. Selektion und Professionalisierung politischer Führungsgruppen, Opladen 1975, rur weitere Angaben sei aufdu LiteraturvelZeichnis verwiesen. 'Siehe die verschiedenen Literaturangaben im LiteraturvelZeichnis. "Ein Teil dieser Beiträge wurde zusammengestellt in: Grunenberg, Ninal v. Kroclww, Christian Grafl Leicht, Robert, Politik als Berufheute, Düsseldorf 1986. IOStutz.er, Dietmar, Die Latrinenrepublik oder: Der Verfall der politischen Sitten in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg, München 1988. llliedtke, Rüdiger, Die neue Skandalchronik. 40 Jahre Atlären und Skandale in der Bundesrepublik, FrankfurtlMain 1989. 12Narr, Wolf Dieter, Zum Preis der Politik, in: Materialien zur politischen Bildung. Analysen. Berichte. Dokumente 3/1988, hrsg. von der Bundeszentrale rur politische Bildung, Bonn 1988, S. 5 - 10.

A. Einleitung

11

im Bundestag, wobei sie auch keiner anderen politischen Tätigkeit nachgehen. 13 Die Berufspolitiker bzw. Berufsparlamentarier zeichnen sich durch langjährige Parlamentszugehörigkeit aus, sie bewältigen einen Großteil der gesetzgeberischen Arbeit im Bundestag und seinen Ausschüssen. Sie besetzen wichtige Ämter in Parlament, Partei und Fraktion, woraus sich ihr hoher Einfluß auf die Meinungs- und Willensbildung im Bundestag erklärt. Zumeist werden berufliche und politische Interessen von den Berufspolitikern bereits vor der Kandidatur für den Bundestag verbunden. Die Grenze zwischen Berufs- und Amateurpolitikern ist nicht genau feststellbar. 14 Die· Arbeit konzentriert sich auf die Berufsparlamentarier im Deutschen Bundestag, wo einerseits die Tendenz zur Professionalisierung der Politik besonders ausgeprägt ist und zum anderen weil im Bundestag, vor allem im Zusammenhang mit dem politischen Funktionsverlust und dem Funktionswandel der Landesparlamente, der sich in der Verlagerung von legislativen Aufgaben hin zu (Verwaltungs-) Kontrollaufgaben ausdrückt, bedeutendere Entscheidungen gefällt werden als in den Ländern und Kommunen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß die Professionalisierung auch in Ländern und Kommunen fortschreitet. Politik wird oft schon vor Eintritt in den Bundestag hauptamtlich ausgeübt, so daß sich bereits auf kommunaler Ebene hauptberufliche politische Akteure finden, etwa als Gemeindedirektoren oder Bürgermeister. Von den Landtagsabgeordneten übten Mitte der 70er Jahre nur noch die Hälfte neben dem Mandat ihren Beruf aus. 15 Die Forschungslage hinsichtlich der Professionalisierung der Politik auf Landes- und kommunaler Ebene muß als unbefriedigend angesehen werden. Daß die Tendenz zur Professionalisierung nicht als aktuelle Degenerationserscheinung begriffen werden kann, sondern zum Parlament gehört seit es Volksvertretungen gibt, soll die Darstellung der historischen Entwicklung der Professionalisierung der Politik zeigen. In diesem Abschnitt soll deutlich werden, aus welchen Gründen eine Entwicklung zum Berufsparlamentarier unvermeidbar stattgefunden hat. Dabei ist stets zu beachten, daß Abgeordnete als Mitglieder eines Parlaments historisch und systematisch in ihrer Rechtsstellung mit dessen Funktion und Position im Regierungssystem eng verbunden

13Vgl. Klan, Hartmut, Die Altersversorgung der Abgeordneten, Tübingen 1972, S. 198, Anm.l. I'Vgl. ebd., S. 197 f. UVgl. Rudzio, Wolfgang, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1983, S. 382. Zur Professionalisierung in der Landespolitik siehe: Friedrich, Manfred, Der Landtag als Berufsparlament? Wiesbaden 1977.

12

A. Einleitung

sind. 16 Es soll aufgezeigt werden, wie sich die Parlamente zu den verschiedenen Zeitpunkten der deutschen Parlamentsgeschichte zusammensetzten, welche Stellung und Funktion die Abgeordneten innehatten, welcher Zeitaufwand für die Parlamentstätigkeit erforderlich war, ob es eine finanzielle Entschädigung für das Amt gab und in welcher Dimension diese sich bewegte. Daneben hat die Motivation, die für eine parlamentarische Tätigkeit aufkommen konnte, Bedeutung für das politische Engagement der Abgeordneten. Die nationalsozialistische Zeit mit dem Reichstag als Akklamationsversammlung ist in bezug auf das Thema der Arbeit wenig ergiebig, weshalb diese Zeit übersprungen wird. Während sich Biographen und Historiker schon immer für das Leben und die Bedeutung einzelner Politiker interessierten, bildeten sich mit der Demokratisierung des Wahlrechts, dem Entstehen der modemen politischen Parteien und der Entwicklung parlamentarischer Regierungssysteme im 19. Jahrhundert auch die besondere soziale Gruppe der Politiker heraus,17 die Gegenstand dieser Arbeit ist. Die Professionalisierung der Politik und insbesondere die an ihr geübte Kritik steht auch in Zusammenhang mit der zunehmenden Parteien- und Parlamentsverdrossenheit, der Hartnäckigkeit, mit der Funktions- und Autoritätsverlust der Parlamente in der Bundesrepublik diskutiert werden. Die "Kritik, Skepsis, Abneigung"11 gegenüber 'denen da oben' signalisiert einen Vertrauensverlust in den Bundestag und seine Angehörigen, wodurch sich das Aufkommen und der Erfolg der GRÜNEN, der starke Zulauf zu alternativen Bewegungen, Bürgerinitiativen und den Republikanern erklären läßt. Ein Großteil der Bürger scheint sich von den Abgeordneten nicht mehr repräsentiert zu fühlen und die Berücksichtigung seiner Interessen zu vermissen}9 Die Bürger wenden sich von 'den Politikern' ab. Parteispendenund Diätenskandale nähren das Bild von der Politik als schmutzigem Geschäft

I"Vgl. Oberreuter, Heinrich, Stichwort" Abgeordnete", in: Somheimer, Kurt! RiJhring, Hana H. (Hrsg.) , Handbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 2. Autl., München 1977, S. 21 - 28, hier S. 21. I7Vgl. Henog, Dietrich, Stichwort "Politiker", in: Greiffenhagen, Martini Greiffenhagen, Sylvial Prl1torius, Rainer (Hrsg.), Handwörterouch zur politischen Kultur der Bunde.republik Deutschland, Opladen 1981, S. 308 - 311, hier S. 308. IIHamm-Brücher, Hildegard, Die Krise des Parlamentarismus und Chancen zu ihrer Überwindung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 35.1g., B 6/1985, 9.2.1985, S. 3-10, hier S.3.

l'\1gl. Benda, Ernst, Zutunftsfragender Demokratie, in: ZParl, 9.1g. (1978), H. 4, S. 510521, hier S. 511.

A. Einleitung

13

als einem der "tief eingefressenen deutschen Vorurteile".2O Beklagt wird auch der Mangel an herausragenden Persönlichkeiten unter den Parlamentariern, an ihrer Stelle stünde die steigende Zahl der Berufspolitiker, der Funktionäre, der Berufslosen. So wird die Frage nach der Gefährdung des repräsentativen Parlamentarismus in der Bundesrepublik belebt. Aufgrund dieses Zusammenhanges wird im zweiten Teil der Arbeit die Stellung des Parlamentariers im modemen Parteienparlament beleuchtet. Anschließend soll sich mittels berufssoziologischer Überlegungen der politischen Tätigkeit explizit als Beruf zugewendet werden. Zeigt der historische Teil die Entwicldungsbedingungen im politischen System, in der parlamentarischen Arbeitsweise und der Gesellschaft auf, die Berufspolitiker hervorbrachten, soll nun die Entwicklung der politischen Tätigkeit hin zu einer Profession nachvollzogen werden. Hier geht es gewissermaßen um die berufssoziologischen Konsequenzen aus dem 'Diätenurteil ' ,21 welches die Professionalisierung der Politik verfassungsrechtlich sanktionierte, und um die Herausbildung professioneller Verhaltensnormen. Es wird von der These ausgegangen, daß der Beruf des Politikers wesentliche Kriterien, die einen Beruf auszeichnen, erfüllt. Allerdings müssen die Besonderheiten des politischen Berufes berücksichtigt werden. Mit der Behandlung der Kandidatenaufstellung zum Deutschen Bundestag sollen vor allem die Kriterien, nach welchen die Kandidaten ausgewählt werden sowie der Zusammenhang zwischen Kandidatenaufstellung und Professionalisierung der Politik untersucht werden. Bei der Beschäftigung mit diesen Fragen muß vom einfachen Bundestagsmitglied ausgegangen werden, da der Politiker nicht notwendigerweise als Berufspolitiker seine Karriere beginnt. Es läßt sich vielmehr die These formulieren, daß der Berufspolitiker das Resultat eines Rekrutierungsprozesses ist, der selber zum Gegenstand der Analyse gemacht werden sollte. 22 Es soll sich auf die in engem Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit stehenden Aspekte beschränkt werden, weshalb verfahrenstechnische und rechtliche Bestimmungen der Kandidatenauslese allenfalls am Rande erwähnt werden. Zunächst soll nach den Entscheidungsträgern der Kandidatennominie-

1JJNarr, S. 5. 21Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichtesv. 5.11.1975 (2 BvR 193174), in Auszügen abgedruckt in: Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages (Hng.), Politik als Beruf? Das Abgeordnetenbild im historischen Wandel, Bonn 1979, S. 146 - 154. 22Vgl. Henog, Politische Karrieren, S. 11.

14

A. Einleitung

rung gefragt werden, womit der Bereich der innerparteilichen Demokratie berührt wird, der im Rahmen dieser Arbeit nicht problematisiert werden kann. Die Kriterien, nach denen die Nominierung der Parlamentskandidaten vorgenommen wird, geben einen ersten Eindruck über Qualität und Zusammensetzung des Bundestages. Es sei bereits an dieser Stelle erwähnt, daß es keine allgemeinverbindlichen Kriterien für die Auswahl und keine allgemeingültigen Qualiftkationskriterien für die Ausübung eines Bundestagsmandats gibt. Es existieren jedoch eine Reihe von empirischen Untersuchungen, die verläßliche Aussagen über die zugrundeliegenden Entscheidungsmotive gestatten. 23 Die Kandidatenaufstellung leitet unmittelbar zu den weiteren Aufstiegswegen in der Politik und zur Darstellung der sich abzeichnenden Karrieremuster über. Diese Verlaufbahnung in der Politik ist ein wesentliches Kennzeichen der Professionalisierung. Die Rekrutierung der Abgeordneten bestimmt die soziale Zusammensetzung des Bundestages, weIche im Anschluß dargestellt wird. Die Untersuchung der Sozialstruktur des Deutschen Bundestages soll in Hinblick auf die Professionalisierung der Politik geschehen und in Zusammenhang mit den Rekrutierungs- und Selektionsmechanismen der Parteien gesetzt werden, von weIchen die Sozialstruktur des Bundestages weitgehend abhängt. Dabei wird sich auf die Darstellung der Zusammenhänge und Tendenzen konzentriert. Für detaillierteres Zahlenmaterial sei auf die Tabellen im Anhang verwiesen. Die Bedeutung der personellen Struktur des Bundestages ergibt sich aus der Funktion des Parlaments als Zentrum der Führungselitenselektion auf Parteivorstands-, Parlaments- und Regierungsebene. Im Kontext dieser Arbeit sind vor allem die Berufs- und Altersschichtung, die Dauer der Zugehörigkeit zum Parlament, die Bildungsschichtung, Verbandszugehörigkeiten und das Geschlecht der Abgeordneten zu berücksichtigen. Dagegen können Konfession und regionale Herkunft der Parlamentarier vernachlässigt werden, da sie in keinem Zusammenhang mit der Professionalisierung der Politik stehen.

13Vgl. z.B. Zeuner, Bodo, Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl196S. Untersuchungen zur innerparteilichen Willensbildung und zur politischen Führungsauslese, Den Haag 1970; KDack, Heino, Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971; Kaack, Heino, Wer kommt in den Bundestag? Abgeordnete und Kandidaten 1969, Opladen 1969.

A. Einleitung

15

Es läßt sich die These aufstellen, daß bestimmte soziale Voraussetzungen eine Parlamentskarriere begünstigen bzw. daß eine politische Laufbahn bestimmte soziale Voraussetzungen erfordert. Angesichts der langen Aufstiegswege in der Politik stellt sich die Frage nach der Attraktivität des Politikerberufs. Deshalb soll anschließend der Beruf des Politikers in Hinblick auf seinen Aufgabenbereich und seine Arbeitsbedingungen untersucht werden, was unmittelbar zu der Frage überleitet, welche Motivationen zu einem hauptberuflichen Engagemant in der Politik führen. Aufgrund der fortgeschrittenen Professionalisierung der Politik erscheint es interessant, die Einstellung der Öffentlichkeit zur Berufspolitik zu untersuchen. In einem Land, welches politische Tätigkeit traditionell als eine Verwaltungsangelegenheit begreift, muß die Berufspolitik der allgemein üblichen Auffassung von parlamentarischer Repräsentation widersprechen. 24 Zu vermuten ist daher eine ablehnende Haltung der Öffentlichkeit zur Professionalisierung des politischen Bereiches.

:WVgl. LlJwenberg, Gerbanl, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1969, S. 152 f.

B. Die historische Entwicklung der Professionalisierung der Politik Die ersten geschriebenen Verfassungen mit freiem Abgeordnetenmandat, bürgerlichem Wahlrecht, Grundrechten, "hinkender Gewaltenteilung", I Zweikammersystem und Ministerverantwortlichkeit entstanden nach 1815 in Süddeutschland aus Gründen der dynastischen Selbstbehauptung und der Staatsraison. In den aus vielen Gebietsteilen neu entstandenen Ländern sollte ein gemeinsamer Staatssinn geweckt und ein politischer Gesamtwillen geformt werden. 2 Nicht zuletzt war die Verfassungs- und Repräsentationsfrage mit den staatlichen Finanzbedürfnissen verknüpft,3 was hier nicht näher erläutert werden soll. Diese ersten Parlamente wurden "zum Übungsfeld einer ersten Generation deutscher Parlamentarier" . 4 Daher soll mit der Untersuchung beim süddeutschen Konstitutionalismus begonnen werden.

I. Der Vonnärz (1830 - 1848) Im Vormärz handelte es sich bei den Abgeordneten der Kammern entgegen der Terminologie, die von •Ständeversammlungen' und 'Ständischen Verfassungen' spricht, bereits um Volksvertreter und nicht mehr um Ständevertreter;5 beide Kammern sollten das Gesamtvolk repräsentieren. 6 Die Mitgliedschaft der ersten Kammer galt kraft Erbrechts, Amtes oder landesherrlicher Ernennung, das aktive und passive Wahlrecht zur zweiten Kammer war auf die gebildeten und besitzenden Schichten beschränkt. Die Abgeordneten folgten bei Abstimmungen allein ihrem Gewissen, es galt das freie

'Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichteseit 1789, Bd. I, Stuttgart 19S7, S.317. 'Vgl. ebd. 'Vgl. Vierhaus, Rudolf, Von der altständischen zur Repräsentativverfassung, in: Bosl, KadI MöckJ, Karl (Hrsg.), Der modeme Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, Berlin 1977, S. 177 - 194, hier S. 180. 'Löwenberg, S. 26. 'Vgl. Boldt, Hans, Die Stellung des Abgeordneten im historischen Wandel, in: Politik al. Beruf! S. IS - 43, hier S. 18. ·Vgl. Huber I, S. 341.

I. Der Vormärz (1830 -1848)

17

Mandat. 7 In den niedrigen Mitgliederzahlen (weniger als 100) der Kammern, die in der Regel nur alle drei Jahre einberufen wurden, in den sechs bis acht Jahre langen Legislaturperioden und der geringen Anzahl der zu behandelnden Gesetze wird der bescheidene, kleinstaatliche CharakterB des vormärzlichen Parlamentarismus offenbar. Die Hauptkompetenzen der frühkonstitutionellen Volksvertretung lagen beim Budgetrecht und in der Mitwirkung bei der Gesetzgebung. Die Kammern hatten zwar auch das Recht der Gesetzespetition, jedoch war die Regierung nicht verpflichtet, den erbetenen Gesetzesentwurf auch einzubringen. Erst bei Berücksichtigung der Rechte, welche den Volksvertretungen verwehrt wurden, zeigt sich ein deutliches Bild der Machtlosigkeit der süddeutschen Volksvertretungen. 9 Es fehlte das Recht auf Gesetzesinitiative, die Einwirkung auf die Regierungsbildung, das politische Kontrollrecht über die Bürokratie, das Heer und die auswärtige Gewalt. Im Höchstfall wurde den Parlamenten ein Klage- und Beschwerderecht eingeräumt, nur die Regierung konnte dann die notwendigen Untersuchungen und eventuelle Abänderungen vornehmen. Da die Regierung nach dem damaligen Verfassungsrecht die Parlamente einberief und sie jederzeit vertagen, schließen oder sogar auflösen konnte, war die Tätigkeit der deutschen Landtage "stets an die Mitwirkung der Regierung gebunden",1o Die Parlamente konnten politische Entscheidungen nicht selbst positiv gestalten. "Aus der Nutzung seines gewichtigen Rechts, das Budget zu bewilligen, ergab sich nicht ohne weiteres der Wunsch der Abgeordneten oder gar ein 'Sachzwang', allgemeine Politik in eigener Verantwortung zu betreiben. "11 Überall suchte die Obrigkeit, die Repräsentationsorgane des Volkes zu isolieren und wirkung los zu belassen. Die parlamentarische Vertretung des Volkes war auf partielle Teilhabe an der Staatsgewalt beschränkt, die durch den Monarchen verkörpert wurde. Die Repräsentation des Volkes wurde nur innerhalb der dualistischen Struktur von Staat und Gesellschaft geduldet. Die Zusammensetzung der Parlamente entsprach im Vormärz bei weitem nicht der des vertretenen Volkes. Die weitverbreitete Vorstellung von der Dominanz der Honoratiorenabgeordneten in dieser Zeit muß jedoch korrigiert

'Vgl. Botzenhart. Manfred, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 - 1850, Düsseldorf 1977, S. 23. 'Vgl. Boldt, Hans, S. 18. "Vgl. Brandl, Hartwig, LandständischeRepräsentation im deutschen Vormärz, Neuwied, Berlin 1968, S. 45 und Huber I, S. 350. IOBotzenhart, S. 27. "Boldl, Wemer, Die Anfänge des deutschen Parteiwesens, Paderborn 1971, S. 14. 2 Bunneister

18

B. Historische Entwicklung

werden,12 da regierungstreue Beamte die vormärzlichen Parlamente prägten, sie machten 60 bis 80 % der Abgeordneten aus (Ausnahme: Baden): "Der frühkonstitutionelle Parlamentarismus war ein ausgesprochener Beamtenparlamentarismus " . 13 Theodor Eschenburg weist darauf hin, daß die deutsche Entwicklung nur unter Kenntnis der Gehaltsregelung der Beamten zu verstehen sei. 14 Erstmals sei in Preußen unter Friedrich dem Großen eine wesentliche materielle Sicherung des Beamtentums erfolgt, so wurden die Beamten grundsätzlich auf Lebenszeit eingestellt, 1825 wurde die Pensionsregelung eingeführt. Es sollte ein staats- und gesetzestreues Beamtenturn geschaffen werden, geschützt vor aller Korruptionsversuchung. Auf die Sachkunde der Beamten glaubte man aufgrund der noch mangelnden politischen Bildung in den Kammern nicht verzichten zu können. 15 In allen Staaten des Frühkonstitutionalismus bedienten sich die Regierungen des Mittels der Urlaubsverweigerung, um den in die Kammern gewählten liberalen Beamten die Teilnahme an den Kammertagungen zu versagen. 16 "Insgesamt haben die Beamtenparlamentarier schon seit dem Vormärz oppositionelle Tendenzen im Parlament gedämpft und vielfach zu einem am Beamtenmodell ausgerichteten, die politische Führungsrolle gegenüber dem Expertenwissen vernachlässigendem Selbstverständnis der Abgeordneten beigetragen. "17 Über die Frage der Entschädigung der Abgeordneten wurde in Deutschland fast ein Jahrhundert lang gestritten. Zunächst erhielten die Abgeordneten als Entschädigung sogenannte Tagegelder, erstmals in einem deutschen Land 1818 in Baden eingeführt. In den nächsten Jahren folgten Bayern, Württemberg und Hessen. Die Tagegelder dienten zur Deckung der Reise- und Aufenthaltskosten und wurden nur auf Antrag und bei Anwesenheitsnachweis ausgezahlt. 18 Der Hinweis darauf, daß sich 'von der Politik' nicht leben ließ, erscheint so fast überflüssig. Lohnte es sich aber, 'für die Politik' zu leben? Zusammenfassend läßt sich für die Zeit des Vormärz sagen, daß weder ein materieller noch ein ideeller Anreiz bestand, Politik berufsmäßig zu betreiben. Aufgrund der geringen zeitlichen Inanspruchnahme und den stark eingeschränkten Kompetenzen der Abgeordneten schien der Berufspolitiker 12Vgl. Boldt, Hans, S. 20 und Boldt, Wemer, S. 5. "Boldt, Hans, S. 20. "Vgl. Eschenburg, Theodor, Der Sold des Politikers, Stuttgart 1959, S. 45. "Vgl. ebd., S. 46 - 48. 16Vgl. Huber 1, S. 368. l7Ritter, Gerhard A., Die deutschen Parteien 1830 - 1914, Göttingen 1985, S. 46. 1"Vgl. Eschenburg, Sold, S. 52.

ß. Die Entwicklung von der Paulskirche zum Kaiserreich

19

auch nicht erforderlich. Die parlamentarischen Aufgaben ließen sich noch nebenberuflich erledigen, das "Abgeordnetenmandat ist buchstäblich noch ein Ehrenamt" .19

ll. Die Entwicklung von der Paulskirche zwn Kaiserreich War der vormärzliche Parlamentarismus noch ein typischer KJeinparlamentarismus, so wurde mit der Frankfurter Nationalversammlung, mit der am 18. Mai 1848 erstmals ein gesamtdeutsches Parlament zusammentrat, der Übergang zur parlamentarischen Großorganisation begonnen. Hierfür waren die Fraktionsbildungen ein deutliches Zeichen, sie brachten die beginnende parteimäßige Formierung der nun größeren Anzahl an Abgeordneten. Huber nennt für die Nationalversammlung eine Zahl von ca. 585 Abgeordneten. 20 Sollten mit den Fraktionsbildungen zunächst Anhänger einer politischen Richtung zusammengefaßt werden, wurde bald deutlich, daß es angebracht war, "die Parlamentsdebatten zu straffen und mit klaren Fronten und Alternativen zu führen". 21 Die Fraktionsbildungen der Frankfurter Nationalversammlung wiesen nur wenig Gemeinsamkeiten mit den heutigen Parlamentsfraktionen auf, die Fraktionsdisziplin wurde immer wieder durchbrochen und Abgeordnete wechselten von einer Fraktion zur anderen. 22 Es gab noch verhältnismäßig viele fraktionslose Abgeordnete. 23 Die Parlamentarier waren als Persönlichkeiten und nicht als Vertreter einer politischen Richtung gewählt worden, straff organisierte Parteien fehlten noch. Die entscheidenden politischen Auseinandersetzungen verlagerten sich jedoch schon in Frankfurt weitgehend vom

19Boldl,

Hans,

s.

19.

"'Vgl. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichteseit 1789, Bd. 11, Stuttgart 1960, S. 607. Einschließlich der Stellvertreter wurden in der Paulskirche 831 Abgeordnete gewählt, von denen zu Beginn 330, später durchschnittlich 400 bis 500 anwesend waren (Vgl. Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Fragen an die deutsche Geschichte, historische Ausstellung im Reichstagsgebäudein Berlin, Katalog, 12. Auflage, Bonn 1986, S. 120). 21

BorunJUIT1, S. 416 f.

22Vgl. Apel, Hans, Der Deutsche Parlamentarismus. Unreflektierte Bejahung der Demokratie? Reinbek bei Hamburg 1968, S. 14. 23Vgl. Bergstrilsser, Ludwig, Die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland, in: KJuxen, Kurt (Hrsg.), Parlamentarismus, 5. Aufl., Meisenheim, KönigsteinITs. 1980, S. 138 160, hier S. 142.

20

B. Historische Entwicklung

Plenum in die Fraktionen.lA Mit dieser Entwicklung, die sich im nachmärzlichen Preußen und auf der Reichsebene fortsetzte, wandelte sich auch die Stellung des Abgeordneten vom ungebundenen, freien Parlamentarier, der sich jederzeit im Plenum zu Wort melden kann, zum in die Fraktionsdisziplin eingebundenen Volksvertreter. Hieraus folgte bald eine "fortschreitende Hierarchisierung der Abgeordnetenschaft"2S sowie eine arbeitsmäßige Differenzierung, auch als Folge der wachsenden Arbeitsbelastung. Zahl und Dauer der Sitzungen erhöhte sich, die Gesetzgebungsarbeit nahm ständig zu, weshalb bald der Abgeordnetenexperte als neuer Typ des Parlamentariers auftauchte. Die Diätenfrage spielte bei den Beratungen zur Reichsverfassung von 1848/49 nur eine untergeordnete Rolle. Tagegelder und Entschädigung der Reisekosten wurden garantiert, ab April 1849 wurde den Abgeordneten auch Portofreiheit eingeräumt. 26 Auf der Frankfurter Nationalversammlung wurde mehrheitlich die Auffassung vertreten, daß die Tagegelder der Abgeordneten nur als Ersatz für einen durch die Sitzungsperiode verursachten 'außerordentlichen Aufwand' dienen sollten. Hier entstand der Begriff der außerordentlichen Aufwandsentschädigung. Diese Haltung weist schon darauf hin, daß in der Nationalversammlung hauptsächlich Personen saßen, die nicht 'von der Politik' leben mußten und wollten, sondern ihren Unterhalt anderweitig absicherten. Lediglich die Radikalen verlangten für die Abgeordneten ein Gehalt zur Deckung ihres Lebensunterhalts.27 Die Mehrheit der Parlamentarier entstammte dem liberalen Bildungsbürgertum. Beamte und Akademiker - darunter vor allem Juristen - bestimmten das Bild. Mit ca. 59 % der Abgeordneten waren die Beamten (davon 1/3 akademische Beamte) die dominierende Gruppe in der Nationalversammlung. 28 Sie "erfreuten sich ... einer wirtschaftlichen Sicherheit, um die sie von vielen anderen Abgeordneten beneidet wurden", 29 wodurch sich auch ihre hohe Zahl später im Reichstag erklärt. Bei den Rechtsanwälten im Reichstag

"Vgl. Kramer, Helmut, Fraktionsbindungenin den deutschen Volksvertretungen 1819 - 1849, Berlin 1968, S. 155. "Boldt, Hans, S. 23.

2OVgl. ScheJller, Wolfgang, Entwicklung und Lösung des Diätenproblerns in England und Deutschland, Phil. Diss., Berlin 1956, S. 92. 27Vgl. Eschenburg, Sold, S. 52. 2'Vgl. Herzog, Dietrich, Politische Führungsgruppen, Dannstadt 1982, S. 37. 29Molt, Peter, Der Reichstag vor der improvisierten Revolution, Köln 1963, S. 42.

D. Die Entwicklung von der Paulskirche zum Kaiserreich

21

erscheint es fraglich, ob ihre von Max Weber hervorgehobene Abkömmlichlichkeit30 schon für ein diätenloses Parlament galt, denn nur wenige von ihnen lebten hauptsächlich von ihrer Praxis, die meisten waren vermögend und konnten es sich leisten, nur im Nebenberuf Rechtsanwalt zu sein. Um das Problem der Abkömmlichkeit zu illustrieren, bringt Pollmann das Beispiel des Abgeordneten Forckenbeck, dem die erneute Mandatsübernahme mehrmals ans Herz gelegt werden mußte und dessen Anwaltspraxis über die parlamentarische Tätigkeit allmählich verkümmerte. 31 Nur wenige Abgeordnete repräsentierten den Handel und das Gewerbe, was auch für den Adel und das Kleinbürgertum galt. Bauern und Arbeiter blieben ohne direkte Vertretung in der Nationalversammlung, Rosenbaum nennt eine Zahl von 5,5 % für die "unmittelbar produktiven Schichten".32 Für Unternehmer war es kaum möglich, ein Parlamentsmandat wahrzunehmen. Dies lag an der Unternehmensstruktur, welche erforderte, daß sich der Eigentümer ganztägig seiner Arbeit widmete. Kleinere Geschäftsleute konnten noch weniger in der Politik tätig sein. Die Ursachen für den hohen Anteil der gebildeten Eliten im Paulskirchenparlament waren vielfältig. Zum einen wiesen sie gegenüber potentiellen Konkurrenten den Vorteil der Abkömmlichkeit für ein politisches Amt auf: "Staatsbedienstete konnten Urlaub für ihre Tätigkeit im Parlament beantragen, Rechtsanwälte konnten ihre Praxis mit politischer Arbeit zu verbinden versuchen, und Journalisten konnten sich gegebenenfalls ihren Lebensunterhalt mit Berichten über Ereignisse verdienen, an denen sie selbst teilnahmen. "33 Außerdem waren große Teile der politischen Öffentlichkeit bereit, die Gebildeten als ihre Führer zu akzeptieren, teils wegen des hohen Sozialprestiges, welches eine Universitätsbildung mit sich brachte oder bezogen auf die Beamten - aufgrund des hohen Ansehens, bedingt durch die Zugehörigkeit zur staatlichen Hierarchie. Politische Konkurrenz erwuchs aus einer Gesellschaft ohne Parteien oder Interessengruppen kaum.:M

"'Vgl. Weber, Politik als Beruf, S. 514. "Ygl. Pollmann, Klaus Erich, Parlamentseinfluß während der Nationalstaatsbildung 1867 1871, in: Ritter, Gemard A. (Hrsg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1983, S. 56 -75, hier S. 61.

"Rosenbaum, Ludwig, Beruf und Herkunft der Abgeordneten zu den deutschen und preußischen Parlamenten 1847 bis 1919, FrankfurtlMain 1923, S. 55. "Sheehan, James J., Liberalismus und Gesellschaft in Deutschland 1815 - 1848, in: Gall, Lothar (Hng.), Liberalismus, 3. Aufl., Königsteinrrs. 1985, S. 208 - 231, hier S. 211. "Ygl. ebd.

22

B. Historische Entwicklung

Nach dem Scheitern der Paulskirchen-Versammlung, die für ihre Verfassung das allgemeine, gleiche und geheime Männer-Wahlrecht vorgesehen hatte, und dem Sieg der Reaktion trat im Januar 1850 die preußische Verfassungsurkunde in Kraft. Sie sah ein Zwei-Kammer-System vor. Die erste Kammer, das Herrenhaus, setzte sich aus Vertretern der Oberschicht zusammen, die ab Oktober 1854 durch königliche Anordnung bestimmt wurden. 35 Die zweite Kammer, das Abgeordnetenhaus, wurde für eine Legislaturperiode von drei Jahren nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählt. Es galt ein allgemeines Männer-Wahlrecht, die Wahl war öffentlich, direkt und ungleich. Der König konnte das Abgeordnetenhaus jederzeit und so oft er wollte auflösen. 36 Die revidierte Verfassung vom 31. Januar 1850 erkannte für das Abgeordnetenhaus das Entschädigungsprinzip an, die Mitglieder des Herrenhauses bekamen weder Diäten noch ReisekostenerstattungY Nur ausreichende Diäten konnten verhindern, daß sich die Abgeordneten anderwärtig ihren Unterhalt sicherten und so das unabhängige Mandat gefährdeten. "Die Zahlung von Diäten war eine Bedingung für das auf dem freien Mandat beruhende Repräsentativsystem. "38 Wichtigste Waffe des Parlaments war das Budgetrecht. Zwar konnten damit nicht die Staatseinnahmen blockiert werden, es gab jedoch auch keine Verfassungsvorschrift, die bei Nicht-Zustandekommen des Haushaltsplanes die Fortieistung der Staatsausgaben erlaubt hätte. 39 Daneben hatte das Abgeordnetenhaus das Recht auf Gesetzesinitiative. Das Dreiklassenwahlrecht implizierte, daß nur der Gebildete und Besitzende im politischen Bereich als Wähler oder Abgeordneter mitwirken konnte. Wer sich seinen Lebensunterhalt verdienen mußte, also nicht abkömmlich war, galt als politisch untauglich. 40 So wurden die Parlamente weitgehend bis Ende des 19. Jahrhunderts von Honoratioren bestimmt, von Amateuren, "die es sich

"vgl. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. m, Stuttgart 1963,

S.83.

"Vgl. Art. 51 der Preußischen Verfassungsurkunde von 1850, in: Schusrer, Rudolf (Hrsg.), Deutsche Verfassungen, 14. Aufl., München 1981, S. 62. "Vgl. SchejJler, S. 92. "Huber I1I, S. 97. J9ygl. ebd., S. 100. "'Eschenburg, Sold, S. 52.

m. Die Entwicklung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

23

leisten konnten, ein öffentliches Amt ohne finanziellen Entgelt zu bekleiden" ,4\ von angesehen Personen, "deren sozialer Status nicht durch ihre politische Rolle definiert wurde. "42 Reichtum und Status waren nicht Folge ihrer politischen Tätigkeit, sondern deren Ursache. Es galt als unschicklich, sich um politische Ämter zu bemühen. 43 Zielbild des klassischen Parlamentarismus war der wirtschaftlich unabhängige Abgeordnete. Die parlamentarische Tätigkeit war auf eine gesellschaftliche Spitzengruppe von begüterten Adligen, bürgerlichen Honoratioren und hochbesoldeten Staatsbeamten beschränkt. 44 80 % der Abgeordneten des Parlaments in der Session von 1862 konnten nach Besitz und Vermögen als wohlhabend bezeichnet werden.4!i Des weiteren besaßen die meisten eine akademische Ausbildung. Hess ermittelte für 1862, daß von den 352 Abgeordneten 244 studiert hatten, wenn auch nicht alle mit Abschluß. 174 Parlamentarier hatten ein rechtswissenschaftliches Studium absolviert. 46 Überwog in der Frankfurter Nationalversammlung noch der Typ des Honoratioren-Politikers, für den Politik eine Art Nebentätigkeit aber kein Beruf war, also nicht Grundlage seiner geistigen und sozialen Existenz, zeigte sich in der Entwicklung von 1848 zum späteren Kaiserreich bereits die "Bürokratisierung der Abgeordnetenposition im Berufspolitiker"47

ill. Die Entwicklung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

1. Parteierstarkung - Beginn der Professionalisierung Nach der Bismarckschen Reichsverfassung (BRV) von 1871 galten die Mitglieder des Reichstages als Vertreter des gesamten Volkes und waren nicht an Aufträge und Weisungen gebunden. 48 Es stellt sich die Frage, ob die Verfassungswirklichkeit der Idealvorstellung des freien Mandats entsprach, bzw. ob die Bindung des Mandats an Gruppeninteressen vorherrschte. Dies

41Sheehan, James J., Politische Führung im Deutschen Reichstag, 1871 - 1918, in: Riuer, Parteien, S. 81 - 99, hier S. 82.

42Ebd. 4SVgl. ebd. "Vgl. Huber m, S. 893. 4JVgl. Hess, Adalbert, Das Parlament, das Bismarck widerstrebte, Köln 1964, S. 56. "Vgl. ebd., S. 56 und S. 61. 47Boldt, Hans, S. 24.

"Vgl. Art. 29 der Bismarckschen Reichsverfassung, in: Deutsche Verfassungen, S. 79.

24

B. Historische Entwicklung

ließe einen höheren Professionalisierungsgrad der Abgeordneten vermuten, da nur der in echte Abhängigkeit von (Partei-)Interessen geraten kann, für den das Mandat ganz oder teilweise dem Lebensunterhalt und der Lebenserfüllung dient. Der nebenberufliche Abgeordnete braucht im Abstimmungsverhalten allein seiner Überzeugung zu folgen. In Anbetracht der Tatsache, daß die politischen Parteien bereits zur ReichsgfÜndungszeit und danach zunehmend sowohl die Kandidatenaufstellung als auch die Wahlpropaganda besorgten,49 kann eine wachsende Abhängigkeit der Abgeordneten von den noch extrakonstitutionellen Parteien nicht geleugnet werden, " ... zwischen 1871 und 1918 verstärkten die Parteien ihre Organisations- und Disziplinargewalt gegenüber den Abgeordneten außerordentlich."50 Der parteilose Abgeordnete wurde bereits im Kaiserreich zum "hilflosen Rädchen im Getriebe" .51 Von Wahl-Hilfsvereinen hatten sich die Parteien binnen kurzer Zeit zu eigenständigen politischen Machtkörpern entwickelt, die nach außen geschlossen auftraten und im Inneren eine strenge Disziplin aufwiesen. Dies führte dazu, daß der einzelne Abgeordnete immer mehr zum Gruppenfunktionär wurde und sich von dem im Art. 29 BRV beschriebenem Volksrepräsentanten fortentwickelte: "Der Abgeordnete geriet in Abhängigkeit von der Partei, die ihn als Kandidaten aufstellte, die seine Wahl bewirkte und die auch wesentlich über seine Wiederwahl entschied; er geriet in Abhängigkeit von der Fraktion, die ihn im Reichstag in die Ausschüsse entsandte, die ihn als Redner herausstellte, die ihn als prominentes Mitglied anerkannte oder ihn auf den hinteren Abgeordnetenbänken verschwinden ließ. "52

Umgekehrt waren Parteien und Fraktionen ebenso angewiesen auf fähige Berufspolitiker , die durch ihr Expertenwissen und ihre parlamentarische Erfahrung den herkömmlichen Abgeordneten oft überlegen waren. Diese Berufsparlamentarier wurden zu Vorreitern der Partei- und Fraktionsdisziplin. Als wirksame parlamentarische Waffe entwickelten sie das Mittel des Fraktionszwanges, überzeugt, daß ein geschlossenes Auftreten der Fraktion nach außen Vorrang vor persönlichen Überzeugungen habe. Dieser Fraktionszwang wurde zwischen 1871 und 1918 im Reichstag zu einem wichtigen Moment der Verfassungswirklichkeit, besonders bei der SPD.53

"Deuerlein, Ernst (Hrsg.), Der Reichstag, Bonn 1963, S. 36. "'Huber In, S. 890. "Boldt, Hans, S. 28.

"Huber In, S. 890. "VgI. ebd., S. 892.

m.

Die Entwicklung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

25

Ungeachtet der Verfassungswidrigkeit des Fraktionszwanges - er stand im Widerspruch zu Art. 29 BRV - näherte sich der Staat des Kaiserreiches so bereits dem instrumentalen Parteienstaat. 54 2. Parteierstarkung - Ursache einer neuen Sozialstruktur des Reichstages

Mit der Erstarkung des Parteiwesens ging eine Veränderung der sozialen Zusammensetzung des Reichstages und des Preußischen Abgeordnetenhauses einher. Die sozial unabhängigen Abgeordneten, die Adligen, Landwirte und auch die Staatsbeamten machten den Funktionären, " '" d. h. dem Partei- oder Verbandssekretär, dem beruflichen Interessenvertreter, Platz. "55 Dabei war die Entwicklung im Preußischen Abgeordnetenhaus aufgrund des Dreiklassenwahlrechts zeitversetzt. Waren 1871 noch über 1/5 der Abgeordneten Gutsbesitzer, verschlechterte sich nach der Jahrhundertwende die Situation des landbesitzenden Adels, seine Zahl sank von 1871 bis 1912 abgesehen von kleinen Schwankungen kontinuierlich. 56 Noch auffälliger war die abnehmende Zahl der Beamten im Reichstag von 40 % 1871 auf weniger als 20 % 1921,57 allerdings gehörten die Pensionäre zu den unabhängigsten Abgeordneten, sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht. 58 Molt nennt als Gründe für das Zurückgehen der Beamten u. a. die Erfolge der Sozialdemokratie und das Vordringen wirtschaftlicher Interessen auch in die sogenannten Mitte-Parteien. 59 Die institutionell wohlgeordneten Verhältnisse, in denen die Beamten lebten, bremsten ihren politischen Tatendrang. 60 Erst in der Bundesrepublik nahm der Anteil der Beamten wieder drastisch zu. Verschwand der Adel nach 1918 fast ganz, wuchs der Anteil der Funktionäre seit 1903 kontinuierlich auf 30 % und mehr. 61 Die Gruppe der bei Parteien und Verbänden angestellten Funktionäre, die sogenannten Privatbeamten, war von besonderer Bedeutung für den Strukturwandel der deutschen Parlamente, worauf weiter unten eingegangen

J4Vgl. Huber m, S. 892. >'Boldt, Hans, S. 27.

"Vgl. Sheehan, Politische Führung, S. 85 und Rosenbaum, S. 25. "Vgl. Sheehan, Politische Führung, S. 96, Anm. 21. "Vgl. Molt, S. 152. "Vgl. ebd., S. 149. "'Vgl. Hess, Bismarck, S. 81. OIVgl. Boldt, Hans, S. 40, Anm. 45.

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B. Historische Entwicklung

wird. In der Weimarer Republik gehörte bereits 1/4 der Abgeordneten dieser Gruppe an,62 in der laut Rosenbaum eine Reihe ehemaliger Arbeiter und Angestellter zu finden war. 63 Die Zahl der Schriftsteller und Journalisten im Deutschen Reichstag stieg von 1,6 % in 1871 auf 14,2 % in 1923. 64 Weitere neue Rekrutierungsgruppen für den Reichstag waren die nichtadligen Gutsbesitzer und die politischen Bewegungen links und rechts von den traditionellen Parteien, deren Führer meist von außerhalb der Honoratiorenschicht kamen. 6S Als stabile Elemente im Reichstag führt Sheehan den katholischen Klerus, die Juristen und die Geschäftsleute an. 66 Rosenbaum weist in seiner Studie über politische Führungsgruppen auf die Bedeutung des Unterschiedes in der sozialen Zusammensetzung der Frankfurter und der Weimarer Nationalversammlung hin. Die Entwicklung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Struktur spiegele sich in diesen Zahlen wider: "Diese dürren Zahlen reden für den, der sie zu lesen versteht, eine beredte Sprache. "61 Allerdings verlief die Elitentransformation nicht zeitgleich mit der sozialkulturellen Entwicklung. Herzog belegt für die Gruppen der adligen Großgrundbesitzer und der Unternehmer die fehlende Übereinstimmung von zahlenmäßiger parlamentarischer Stärke und ökonomischer bzw. gesellschaftlicher Bedeutung. 68 Gerade in der Phase des Hochkapitalismus und des raschen industriellen Aufschwungs waren 30 % der Abgeordneten dem Grundbesitz zuzuordnen; das mengenmäßige An- und Absteigen der Repräsentation der Unternehmerschaft folgte keineswegs ihrer ökonomischen Bedeutung. 69 Stets lag der Einfluß der Unternehmer deutlich über dem Maße, welches ihre Repräsentanz im Reichstag vermuten ließ. Für das Eindringen neuer sozialer Gruppen in die parlamentarische Führungsschicht bieten sich verschiedene Erklärungen. Funktional betrachtet lassen sich die Veränderungen in ökonomischer und technologischer Hinsicht sowie im Wertesystem moderner Gesellschaften anführen. Diese historisch spezifische Situation erforderte neue Führungsgruppen mit neuen Fähigkeiten "Ygl. Henog, Politische Führungsgruppen, S. 38. 63Ygl. Rosenbaum, S. 28. "Ygl. ebd. 6!Ygl. Sheehan, Politische Führung, S. 87. "Ygl. ebd, S. 86.

67Rosenbaum, S. 10. "Vgl. Henog, Politische Führungsgruppel\ S. 36 f. ""Vgl. ebd., S. 37.

m. Die Entwicklung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

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ihrer Mitglieder zur Bewältigung der neuen Gegebenheiten.'" Die Tendenz, nun auch Männer mit geringerem sozialen Hintergrund und Beruf in parlamentarische Positionen zu rekrutieren, wird auch mit dem Entstehen moderner Massenparteien (im Zuge der Wahlrechtsausdehnung, also vor allem nach 1919) erklärt. Die politische Mobilisierung der Massen ermöglichte es, die Elitenrekrutierung aus neuen Sozial schichten vorzunehmen. 71 Die Veränderung der politischen Parteien scheint also entscheidend für die Änderung der Rekrutierungsmuster gewesen zu sein. Dies wurde besonders an der Gruppe der lournalisten, Privatbeamten und Arbeiter deutlich, welche 1871 zusammen nur 1150 der Abgeordnetenschaft ausmachte, während ihr Anteil 1912 bereits 113 der Parlamentarier erreicht hatte. "Diese Vertreter .. , gingen aus Schichten hervor, die sich vierzig lahre zuvor noch wenig am politischen Leben beteiligt hatten."72 Die Parteien waren auf die Stimmen großer sozialer Gruppen angewiesen. Die Zeiten, in denen "das Volk die Gebildeten und Besitzenden als seine berufenen politischen Repräsentanten ansah", 73 waren mit der zunehmenden wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetzgebungsarbeit im Reichstag vorbei, nun verlangten die einzelnen Berufsgruppen nach Abgeordneten ihres Berufsstandes. "Das alte System der Honoratiorenpolitik, getragen von Männern, deren staatsbürgerliches Verantwortungsgefühl wie selbstverständlich auf der persönlichen Unabhängigkeit durch Bildung und Besitz beruhte, wurde bedroht im Maße, wie in der Konsequenz der Demokratisierung die Politik zum Beruf wurde .• 74 Deshalb begannen die benachteiligten Berufsgruppen mit der Besoldung ihrer Abgeordneten durch den Verband oder die Partei, besonders ist hier die SPD zu erwähnen, •die nicht nur hauptamtliche Parteifunktionäre anstellte, sondern auch ihren Reichstagsabgeordneten Entschädigungsgelder zahlte.• 75 So wurde die Sozialdemokratie wichtigste Quelle der politischen Elite für Männer ohne Besitz und StatuS. 76 Zwar waren die Zahlungen nie so hoch, daß der Abgeordnete ausschließlich davon seinen Lebensunterhalt hätte bestreiten können bzw. daß sie den entgangenen beruflichen Gewinn ausgleichen "'Vgl. Herzog, Politische Führungsgruppen, S. 21. 71Vgl. ebd., S. 20.

72Rosenbaum, S. 28.

"Molt, S. 44. 74Dreirul, Hans Petcr, Elitcbegriffund Sozialstruktur, Stuttgart 1962, S. 39. 7'Molt, S. 44f. 76Vgl. Sheehan, Politische Führung, S. 88.

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B. Historische Entwicklung

konnten; das "eigentlich Neue war, daß zum ersten Male Leute in das Parlament eintraten, die ihr Gehalt von politischen Organisationen erhielten";n daß hauptberufliche Politiker von außerhalb der Parlamente "den Betrieb in die Hand"18 nahmen. Molt spricht hier von einem neuen Typ des Berufspolitikers, neben dem des Journalisten und Schriftstellers, deren Beruf durch eine inhaltliche Nähe zur Politik gekennzeichnet ist. 79 So förderte die Diätenlosigkeit den Typ des Partei- oder Verbandsfunktionärs, der ohne Bezahlung von außerhalb des Parlaments zum größten Teil nicht für die Politik abkömmlich gewesen wäre. Die oben angesprochenen Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung des Reichstages spiegelten auch das Ausmaß wider, "in dem die Politik in Deutschland zu einer Quelle aufwärts gerichteter sozialer Mobilität geworden war" .80 Die sozialistische Bewegung, Gewerkschafts- und Parteiarbeit boten talentierten und ehrgeizigen Männern aus unteren Wirtschafts- und Statusgruppen einmalige Möglichkeiten. In gewisser Weise galt dies auch für die anderen Parteien. Herzog macht darauf aufmerksam, daß auch an die Bedeutung des Wahlsystems für die Auswahl der Parlamentskandidaten gedacht werden muß. Bot die Mehrheitswahl in Einmann-Wahlkreisen Vorteile für den örtlich angesehenen Honoratioren, wurde mit der Einführung des Verhältniswahlrechts 1919 diese Vorherrschaft der Honoratioren-Politiker gebrochen. Die Listenwahl verbesserte die Aufstellungschancen für Abgeordnete in Wahlkreisen, wo die eigene Partei keine Hochburg besaß. 81 Um die Jahrhundertwende konnte erstmals eine berufliche und ideelle Motivation für die politisch-parlamentarische Tätigkeit auftauchen. Politischer Erfolg konnte "Quelle finanzieller Belohnung, von gehobenem sozialen Status und von persönlicher Selbstachtung werden. "82 Dabei läßt sich aufgrund der irreführenden Berufsangaben in den Handbüchern kaum feststellen, wie die genaue Zahl der Berufspolitiker in den Reichstagen zwischen 1871 und 1918 aussah. Viele Berufsangaben bezeichneten Titel und sagten wenig oder nichts über den Hauptberuf oder die Erwerbsstellung aus. 83 In Wahrheit konnte sich hinter jedem Beamten, Gelehrten oder Arbeiter ein Berufspolitiker verstecken.

"Molt,

s. 46.

71Weber, Politik als Beruf, S. 532.

79Vgl. Molt, S. 46. IOSheehan, Politische Führung, S. 88. Herzog, Dietrich, Karrieremuster von Abgeordneten - früher und heute, in: Politik al. Berufl S. 63 - 73, hier S. 65 f. 11

12Sheehan, Politische Führung, S. 88.

"Vgl. Hess, Bismarck, S. 55.

ßI. Die Entwicklung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

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"Sicher kann man sagen, daß seit der Jahrhundertwende der Typus des Berufspolitikers den Charakter des deutschen Reichstages bestimmte. "84

3. Diatenjar die kaiserlichen Reichstagsabgeordneten Art. 32 BRV verbot die Zahlung jeder "Besoldung oder Entschädigung ll8S an die Parlamentarier. Die Repräsentation der Wähler sollte durch Bürger, die wie sie einen zivilen Beruf ausübten, erfolgen, "es sollte keinen besonderen Stand von Berufsparlamentariern geben".116 Das eigentliche Motiv für das Verbot von Diäten dürfte in dem Bemühen gelegen haben, die bereits anachronistisch gewordene Domäne der Parlamentstätigkeit von begüterten Adligen, bürgerlichen Honoratioren und hochbezahlten Beamten in die moderneren Zeiten herüberzuretten. Die Diätenlosigkeit war vom Verfassungsgeber als "Korrektiv des allgemeinen Wahlrechts"87 gedacht, unliebsame Gegner sollten vom Eintritt in den Reichstag abgehalten werden. Bismarck, ab 1862 preußischer Ministerpräsident, wollte gezielt auf Diäten angewiesene Personen vom Parlament fernhalten. Dadurch, daß die Abgeordneten Reise- und Aufenthaltskosten selbst zu tragen hatten, erreichte Bismarck eine Beschränkung der Sitzungszeit des Parlaments. Abgeschreckt durch die Kosten waren die Abgeordneten daran interessiert, möglichst selten und kurz zu tagen. Bismarck fürchtete, daß die Abgeordneten aufgrund von Diäten- und Reisekostenzahlungen Berufspolitiker werden könnten und damit ein 'gewerbsmäßiger' Parlamentarismus entstehen würde. SB Pollmann weist darauf hin, daß Mitglieder, die dem Reichstag und dem preußischen Abgeordnetenhaus, womöglich noch einem Provinziallandtag oder einer Kommunalversammlung angehörten und acht bis neun Monate im Jahr im Parlament zubrachten, unvermeidbar zum Berufspolitiker wurden. 89 Die Parteifunktionäre, politischen Journalisten oder Verbandsangestellten bildeten

"Huber m, S. 891. uArt. 32 der Bismarckschen Reichsverfassung, in: Deutsche Verfassungen, S. 79.

"Huber m, S. 893. ~BoreU, A1fred, Die soziologische Gliederung des Reichsparlaments als Spiegelung der politischen und ökonomischen Konstellation, Phil. Diss, Gießen 1933, S. 14, siehe auch Schelfler,

S.112.

OOVgl. &chenburg, Sold, S. 54. WVgl. Pollmann, S. 61.

30

B. Historische Entwicklung

"nicht weniger eine Kaste von Berufspolitikern, als wenn der Staat ihre Existenz durch öffentliche Diäten sicherte". 90 Im Gegensatz zum Reichstag gewährten die Landtage (bis auf Mecklenburg) den Abgeordneten Diäten. Da sich Doppelmandate im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag örtlich und zeitlich gut vereinbaren ließen, waren sie begehrt und häufig. 91 Die Auswirkungen des Art. 32 BRV hatten "zu einer derartigen Anhäufung von Doppelmandaten geführt, daß, wenn die Landtage in den einzelnen Ländern mit dem Reichstag gleichzeitig tagten, derselbe nicht voll arbeitsfähig war. "92 Der Reichstag war chronisch beschlußunfähig. Jedoch bestätigte sich die Erwartung Bismarclcs nicht, daß durch die Verweigerung von Diäten die Stellung der Parteien gegenüber den von ihnen materiell unabhängigen Honoratioren-Parlamentariern geschwächt würde: "Das ideale Bild des Abgeordneten, der für die Politik lebt, ohne von der Politik zu leben, verblaßte in der Realität des Bismarckschen Reichs immer mehr. "93 Gerade bei den Linksparteien wurden die Abgeordneten im Gegenteil stärker an ihre Parteien gebunden, da diese sie aus der Parteikasse oder anders materiell absicherten,94 um das Diätenverbot zu umgehen. So wurden im Endeffekt die bürgerlichen Parteien mehr von dem Diätenverbot getroffen als die, gegen die es gerichtet war. 95 Immer mehr wurde der einzelne Abgeordnete in die Fraktions- und vor allem Parteiabhängigkeit eingebunden, wurde also von einer außerhalb des Parlaments angesiedelten Institution abhängig. Fortan prägte der "Parteimann in diesem moderneren Sinne", "der innerfraktionell disziplinierte Berufsparlamentarier"96 das Parlamentsbild. Das Fehlen von Diäten hatte schwere Auswirkungen auf die innere Struktur des Parlaments, da immer nur ein kleiner Teil der Abgeordneten an den Vollversammlungen, Ausschußsitzungen und Fraktionsversammlungen teilnehmen konnte. Zwangsläufig mußte die eigentliche parlamentarische Arbeit von wenigen Abgeordneten geleistet werden, während die übrigen Parlamentarier

"Huber m, S. 662. "Vgl. Malt, S. 46f.

'l2SchejJler, S. 143. "Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschic:hteseit 1789, Bd. VI, Stuttgart 1969, S.368. MVgl. Ritter, Parteien, S. 44. 9SVgl. BoreU, S. 15.

"Boldt, Hans, S. 26 f.

m. Die Entwicklung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

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nur zu den wichtigen Abstimmungen herbeigeordert wurden. '17 Es versteht sich von selbst, daß dieses 'Stimmvieh' keine große Motivation für die parlamentarische Tätigkeit entwickeln konnte. Nach Scheffler war ein Teufelskreis entstanden: "... die Diätenlosigkeit führte zu geringerem Besuch der Sitzungen, diese wurden dadurch länger und erschwerten so die Teilnahme der einzelnen Abgeordneten. "98 Hier wird das Problem der Abkömmlichkeit deutlich. So genügte es den Großgrundbesitzern, lediglich einige Monate im Sommer und Herbst selbst nach ihrem Besitz zu sehen. Den Winter verbrachten die preußischen Junker in Berlin, weshalb ihnen die Parlamentstätigkeit kaum Unannehmlichkeiten brachte und "keine wirtschaftlichen Opfer"99 verlangte. Ähnlich verhielt es sich mit den Großindustriellen. Sie konnten die Leitung ihrer Unternehmen ihren Direktoren überlassen,IOO während die Geschäfte mittlerer Unternehmen leicht unter einer längeren Abwesenheit litten. Auch die Kapitalrentner unter den Reichstagsabgeordneten konnten es sich leisten, ihre Zeit der Politik zu widmen, allerdings im Laufe der sich ändernden Steuergesetzgebung und Wirtschafts- und Sozialpolitik mit abnehmender Tendenz. 101 Nachdem die Diätenlosigkeit zunehmend eine Beschlußunfähigkeit des Parlaments verursachte, stimmte schließlich am 21. Mai 1906 der Bundestag einem Gesetzentwurf des Reichstages zu, Diäten einzuführen. 102 Jetzt erhielten die Reichstagsabgeordneten jährlich eine steuerfreie Aufwandsentschädigung von 3.000 RM, für versäumte Sitzungstage wurden 20 RM abgezogen, die freie Eisenbahnfahrt wurde aufgehoben. 103 Ein "sehr merkwürdiger Verteilungsschlüssel"l04 (300 Mark im Dezember, 400 im Februar, 500 im März, 600 im April, den Rest am Ende der Session) sollte die Abgeordneten dazu bewegen, möglichst früh in die Ferien zu gehen und möglichst spät wieder zusammenzutreten, um die Sitzungszeit einzuschränken.

"Vgl. Molt, S. 48.

"SchejJler, S. 120.

"Molt, S. 41. UMlEbd. 'O'Vgl. ebd., S. 41. u'·Vgl. Eschenburg, Sold, S. 58.

''''Vgl. ebd. ''''Ebd.

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B. Historische Entwicklung

Dieses Ratenzahlungssystem läßt sich als "eine Art Akkordsystem mit Prämienzahlung für schnelle Arbeit"IOS bezeichnen. Die einseitige berufsmäßige und soziale Zusammensetzung des Reichstages hatte sich durch die lange Verweigerung der Diäten allerdings bereits so verfestigt, daß die Einführung der Diäten jetzt keinen Einfluß auf sie erkennen ließ. Die Abkömmlichkeit vom Privat-Beruf blieb weiterhin die bedeutenste Voraussetzung für die Übernahme eines Reichstagsmandats. 106 Lediglich die Präsenz der Abgeordneten verbesserte sich nach 1906. Die späte Einführung von Diäten hatten den vom Verband oder der Partei besoldeten Typ des Funktionärs im Parlament begünstigt: "Es entstand der Typus des Berufspolitikers, der seinen Aufwand sozusagen aus politischen Nebenverdiensten bestritt. "101 Hier sind besonders Partei- und Gewerkschaftssekretäre, politische Schriftsteller und Journalisten, Anwälte und Verbandsfunktionäre zu nennen, "sie lebten von der Politik, obwohl Diäten aus Staats- und privaten Kassen verpönt waren" . 108 Zwar war es auch nach der Einführung der Diätenzahlungen 1906 noch nicht möglich, den Lebensunterhalt ausschließlich durch das politische Mandat zu bestreiten, trotzdem ließ sich die Professionalisierung der Politik erkennen. Vor allem, wenn der Berufspolitiker so definiert wird, daß er seine Energien hauptsächlich der Politik widmet, auch wenn die Quelle des Lebensunterhalts nicht politischer Art ist. Diese Männer lebten "psychologisch, wenn auch nicht immer finanziell 'von' der Politik".u19

4. Aufgaben und Motivation der Parlamentarier Zwar wuchs die AufgabensteIlung des Parlaments im Kaiserreich vor allem durch das Ansteigen der öffentlichen Ausgaben und den Bedarf an neuen Gesetzen, jedoch blieb die Macht der Volksvertretung im großen und ganzen negativ, sie konnte also nur gewisse Maßnahmen verhindern. IIO Sowohl der Bereich der Exekutive als auch der des Militärs waren weitgehend parlamentarischem Einfluß entzogen, lediglich in seiner Repräsentativfunktion war

I05Sche.ffler, S. 147.

I06Vgl. Henog, in: Politik als Berufl, S. 66. 1fT/Huber m, S. 893.

100Ebd. 1000Sheehan, Politische Führung, S. 90.

""Vgl. Bergslrilsser. S. 147.

m. Die Entwicklung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

33

das Parlament unbeschränkt. 111 So konnte die "sich nur im Reden und

Beschließen erschöpfende Betätigung" 112 niemanden anziehen, der auf wirkliche politische Verantwortung drängte. Um die parlamentarische Entwicklung nicht voranzutreiben, vermied es die Regierung, politische Talente und entstehende politische Sachkunde für den Staat zu nutzen. Also "war die Betätigung im Parlament auch keine Karriere und fehlte dieser Stimulus für Männer mit politischem Sinn".113 Hierin lag eine der wichtigsten Ursachen für das "Fehlen einer den neuen Aufgaben gewachsenen parlamentarischpolitischen Elite in der Weimarer Republik".u 4 Die Elitenbildung fand in Deutschland zwischen 1871 und 1918 wie ehedem in den Berufsständen des Offizierskorps, des Beamtentums und der Universitäten statt, nicht in den politischen Parteien. l\S Auch Herzog bescheinigt dem Reichstag mangelnde Anziehungskraft für die Abgeordnetenlaufbahn, da er nicht der Qualifikation von Parlamentariern für Regierungsfunktionen diente,116 das "Reservoir für den Ministernachwuchs war die Bürokratie, nicht das Parlament".117 Trotz der gerade skizzierten Verhältnisse wäre es falsch, die Regierung als alleinigen Träger der politischen Macht zu bezeichnen, "der Reichstag mußte vom Kanzler stets in sein politisches Kalkül mit einbezogen werden".11 8 Die zahlreichen Machtkämpfe zwischen Regierung und Parlament endeten nicht immer mit einem Sieg der Regierung. So haUen die Parlamentarier durch "langsames Bohren von harten Brettern" 119 die Einführung der Diäten erreicht. In der Verfassungswirklichkeit konnte das Parlament einen ständigen Machtzuwachs verzeichnen, auch durch den inneren Struk~rwandel der Parteien und des politischen Lebens bedingL I20 Im Laufe des Ersten Weltkrieges gewann das Parlament ständig an Einfluß, was sich in der zunehmenden Be-

IIIVgl. Molt, S. 22. 1I1Bergsträsser, S. 147.

"'Ebd. '''Ritter, Parteien, S. 30.

IUVgl. Huber IlI, S. 776. 116Henog, in: Politik als Beru!?, S. 65. 117Eschenburg, Theodor, Der Beamte in Partei und Parlament, FrankfurtlMain 1952, S. 33. IIIKaack, Geschichte, S. 59. ""Weber, Politik als Beruf, S. 560.

l"Vgl. Kaack, Geschichte, S. 59. 3 Bunneister

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B. Historische Entwicklung

setzung von Regierungsämtern mit Parlamentariern ausdrückte. 12\ In der Gesetzgebung sowie in Budgetfragen war der Reichstag durchaus "Träger eines selbständigen Machtbewußtseins. "122 5. Verhiiltniswahlrechl und Professionalisierung in der Weimarer Republik

In der Weimarer Reichsverfassung (WRV) rückte der Reichstag an die erste Stelle der obersten Reichsorgane, im Gegensatz zur alten Reichsverfassung galt der Reichstag nun als Vertretung des Reichsvolkes als dem Souverän. War er vorher nur mitwirkend an der Gesetzgebung beteiligt, hatte er jetzt Gesetzgebungsfunktion. Fehlte im Bismarekreich jeder Einfluß auf die Besetzung von Ministerposten, die Ämter der Staatssekretäre und des Reichskanzlers, bedurften die Reichsminister und der Reichskanzler nach der WRV dem Vertrauen des Parlaments. Nach Art. 54 WRV konnte der Reichstag sie zum Rücktritt zwingen. Es läßt sich also von einem bedeutenden Machtzuwachs des Weimarer Reichstages gegenüber dem des Kaiserreiches sprechen, der sich auch positiv auf das Engagement der Parlamentarier auswirken mußte. Mit Einführung des Verhältniswahlrechts in der Weimarer Republik änderte sich der prozentuale Anteil einzelner Berufsgruppen an der Gesamtzahl der Abgeordneten. l23 Dies wird damit begründet, daß bei der Verhältniswahl persönliche Qualitäten der Abgeordneten weniger ins Gewicht fallen, sie bringe "das Ausschalten des Persönlichen, die Herrschaft der Partei",'24 da die Kandidatenaufstellung über die Listen ganz in den Händen der Parteiapparate liege. Seit der 2. Abänderung des Wahlgesetzes (1922 wurde die Reichsliste eingeführt) mußten die Stimmzettel vor allem das Parteisiegel aufweisen, was zuvor verboten war. Nur noch die ersten vier Kandidaten der Reichsliste wurden mit Namen genannt, die Abgeordneten traten also "hinter die Partei zurück" ,125 der Wähler stimmte nicht für einen bestimmten Abgeordneten, sondern für ein bestimmtes Parteiprogramm. Nach Hans Boldt hatte jedoch weder das Verhältniswahlrecht noch das neu eingeführte Frauenwahlrecht entscheidende Auswirkungen auf die soziale

12IVgl. Kaack, Geschichte, S. 76.

IllHuber m, S. 776 f. 12'Vgl. Apel, 1968, S. 33.

12ARosenbaum, S. 67. 12SBorell, S. 13.

m. Die Entwicklung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

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Zusammensetzung des Reichstages. l26 Molt weist auf die erstaunlich große wpersonelle Kontinuität wI27 des Weimarer Parlaments zum alten Reichstag hin. Mit dem Weimarer Reichstag bildete sich ein Parteienparlament, die Parteien fanden jedoch noch keine verfassungsrechtliche Verankerung, wohl waren sie seit Einführung der Reichsliste gesetzlich anerkannt. Die neuen Anforderungen an die Parteien und das Verhältniswahlrecht verstärkten die Entwicklung zur Organisation. Es fanden sich immer mehr Berufspolitiker im Reichstag. 128 Die Honoratiorenherrschaft mußte mit dem Erstarken überregionaler Parteien und Verbände zu Ende gehen, da sie ihrem Wesen nach wdas Ergebnis einer regionalen politischen Willensbildung"l29 ist. Zudem kümmerten die Honoratioren sich kaum um Wählermeinungen, da sie aufgrund persönlichen Ansehens gewählt wurden. Mit der politischen Massenmobilisierung ließ sich dieses Mandatsverständnis wnicht in ein neues Zeitalter hinüberretten, in dem es auf 'Masse' ankam w.13O 6. Diiiten in der Weimarer Republik In der Weimarer Republik bestimmte erstmals das Parlament selbst über die Diäten der Abgeordneten. Nach Art. 40 WRV galt die Entschädigung wie ehedem nicht als Gehalt, sondern als Aufwandsentschädigung. 131 Für 1927 nennt Löwenberg einen Betrag von 9.000 RM/Jahr, zu denen 20 RMlTag für Ausschußsitzungen außerhalb der Plenarsitzungstage hinzukamen. 132 Aufgrund der Weltwirtschaftskrise wurden die Diäten 1930 auf 7.200 RM/Jahr gekürzt. 133 Die Abzugsregelungen für versäumte Sitzungstage wurden beibehalten. Auch bei Berücksichtigung der damaligen Geldverhältnisse waren 600 RM/Monat für die meisten Abgeordneten wenig Geld, besonders wenn sie nicht in Berlin lebten und damit ihren gesamten Mehraufwand decken und

126Vgl. Boldl, 1979, S. 29. I'rlMoh,

S. 357.

IUVgl. Moll, S. 367. 129Ebd. I3Oy. Zwt!hl, Konrad, Zum Verhältnis von Regierung und Reichstag im Kaiserreich, in: Riut!r, Regierung, S. 102 f. mVgl. Art. 40 der Weimarer Reichsverfassung, in: Deutsche Verfassungen, S. 106. IS1Vgl. Löwt!nbt!rg, S. 77. IDVgl. Eschenburg, Sold, S. 59. 3"

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B. Historische Entwicklung

eventuelle berufliche Einbußen ausgleichen mußten. l34 Die einkommensteuerfreien Diäten erfuhren insofern eine Wertsteigerung, als die Einkommensteuersätze, die im Kaiserreich bei 0,62 bis 4 % lagen, nun 10 bis 40 % betrugen. 135

IV. Bundesrepublik - Politik als Erwerbstätigkeit? Bezogen auf die Professionalisierung der Politik ist die Entwicklung seit Gründung der Bundesrepublik durch Kontinuität zur Weimarer Zeit gekennzeichnet, jedoch verstärkte sich die Tendenz zur Professionalisierung weiter, die Parteiabhängigkeit verdichtete sich zur Parteikarriere. 136 Als bedeutende Unterschiede zur Weimarer Republik sei zum einen auf die erstmalige verfassungsrechtliche Verankerung der Parteien durch das Grundgesetz hingewiesen sowie auf die Ausweitung der AufgabensteIlung der Parlamentarier. Dem Bundestag fällt im Unterschied zum Weimarer Reichstag die Aufgabe der Regierungsbildung zu. Auch in der täglichen parlamentarischen Arbeit hat sich der Aufgabenbereich des Abgeordneten erweitert, woraus seine heutige Arbeitsüberlastung resultiert. Eben aufgrund der Kontinuität in den für diesen historischen Abschnitt wesentlichen Fragen soll die Darstellung der Professionalisierung sich auf die entscheidenden Veränderungen in der materiellen Stellung des Abgeordneten beschränken. Dabei ist das 'Diätenurteil' des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 5. November 1975 131 ein ·prägnanter Einschnitt für die Entwicklung des Abgeordnetenstatus· l38 in der Geschichte der Bundesrepublik. Dieses Urteil kann als letzter Anstoß für die seit langem geforderte und geplante grundlegende Neugestaltung der Rechtsstellung der Abgeordneten in Bund und Ländern betrachtet werden. 139

134Vgl. Huber VI, S. 368. mVgl. Eschenburg, Sold, S. 58 f. I36Vgl. Boldt, Hans, S. 29. Diese Problemstellung wird im Abschnitt über die Karrieremuster der Abgeordneten behandelt. I31Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 5.11.1975 (2 BvR 193174), in Auszügen abgedruckt in: Politik als Berut?, S. 146 - 154. 13'Oberreuter, Heinrich, Vorwort, in: Politik als Berut?, S. 10.

''"Vgl. Henkel, Ioachim, Amt und Mandat, Berlin, New York 1977, S. 7.

IV. Bundesrepublik - Politik als ElWerbstätigkeit?

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Das Urteil stellte klar, daß die finanzielle Vergütung der Abgeordneten keine Aufwandsentschädigung im alten Sinne mehr ist, sondern der Abgeordnete "aus der Staatskasse ein Einkommen"l40 erhält. Dieses Einkommen ist seit dem am 1. April 1977 in Kraft getretenen Abgeordnetengesetz steuerpflichtig, während die daneben weitergezahlten Aufwandsentschädigungen für das Mandat steuerfrei bleiben. "Die Tätigkeit des Abgeordneten ist im Bund zu einem den vollen Einsatz der Arbeitskraft fordernden Beruf geworden; der Abgeordnete kann daher unter diesem Aspekt heute legitimerweise ein Entgelt beanspruchen, mit dem er seinen und seiner Familie Lebensunterhalt zu bestreiten vermag. "141 So ist die im Art. 48 III, 1 GG I42 festgeschriebene, die Unabhängigkeit sichernde Entschädigung des Abgeordneten "zu einer Vollalimentation aus der Staatskasse"143 geworden. Hanauer fragt kritisch, ob sich der Senat nicht bewußt gewesen sei, "mit der Art seiner Entscheidung den Weg zum Berufsparlamentarier gewiesen zu haben". 144 Die Diäten der Bundestagsabgeordneten setzen sich heute aus einer Entschädigung von 9.221 DM und einer auch Amtsausstattung genannten Aufwandsentschädigung von 5.274 DM monatlich zusammen. l4S Zusätzlich erhalten die Parlamentarier Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern ersetzt. l46 Die hohe Bemessung der Diäten ergibt sich "als Verfassungsgebot"147 aus der Sicherung der Unabhängigkeit der Abgeordneten, unter anderem soll das Abschließen sogenannter Beraterverträge verhindert werden. Problematisch wird die üppige Ausstattung des Mandats im Zusammenhang mit dem Fehlen echter beruflicher Alternativen für eine wachsende Zahl von Parlamentariern. So tragen die hohen Diäten dazu bei, daß am Mandat geklebt wird, die Machtkämpfe um die Nominierung härter

I"'Diätenurteil, S. 146. WDiätenurteil, S. 148. 1.1Deutsche Verfassungen, S. 151. I"Diätenurteil, S. 149. I"Hanauer, Rudolf, Der Abgeordnete und seine Bezüge. Fragen zu einer Antwort von Willi Geiger, in: ZParl, 10. Jg. (1979), H. 1, S. 115 - 119, hier S. 119. 1''Stand: 1. Juli 1989, Aachener Nachrichten, 44. Jg., 10. November 1989, S. 1. I"Bis zu 113.280 DM pro Jahr und Abgeordneten (Stand: 1.3.1988), Vgl. v. Amim, Hans Herbert, Macht macht erfinderisch, Osnabrück 1988, S. 218. I"Hanauer, 1979, S. 116.

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B. Historische Entwicklung

werden und "Machtorientierung nur allzu leicht über Kreativität und neue Ideen obsiegt. "148 Den Diätenzahlungen steht die am 27. März 1968 eingeführte, auf dem Versicherungsprinzip aufgebaute und im Dezember 1976 zu einer pensionsähnlichen Regelung umgestaltete parlamentarische Alterpensions- zur Seite, wozu auch die Hinterbliebenenversorgung zur Sicherung des Lebensunterhalts der Angehörigen eines verstorbenen Parlamentariers gehört. Die Einführung der Altersversorgung schloß die Entwicklung vom Honoratiorenzum Berufspolitiker ab. 149 Nach Fromme wurde mit der Einführung des Abgeordnetenruhegeldes praktisch "die Axt an die Wurzel der Figur des nicht besoldeten, des nur für seinen mandatsbedingten Aufwand entschädigten Abgeordneten gelegt, wenn dies auch von den Parlamentariern lebhaft bestritten wurde. "ISO Die Altersversorgung soll gewährleisten, daß der Abgeordnete sein parlamentarisches Mandat in voller materieller Unabhängigkeit und nur dem Gemeinwohl verpflichtet wahrnehmen kann. 1Sl Da die Altersversorgung für Abgeordnete ein absolutes Novum in der deutschen Parlamentsgeschichte darstellt, soll auf sie im folgendem näher eingegangen werden. Die Argumente in der Auseinandersetzung um Altersversorgung und Diäten der Abgeordneten gleichen sich. Die Regelung der finanziellen Verhältnisse der Parlamentarier ist nicht nur von fiskalischer, sondern auch von kaum zu unterschätzender staatspolitischer Bedeutung, da das Parlamentsrecht über die Auswirkungen auf Zusammensetzung und Qualität des Parlaments letztlich auf das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie insgesamt wirkt. 152 Die besondere Problematik der parlamentarischen Alters- und Hinterbliebenenversorgung liegt in der Verbindung von unbefristeter Sicherung des Lebensunterhaltes mit einem periodisch durch Wahlen zu erneuernden

,1Dreitzel, S. 95.

"Vgl. Guilleaume, S. 412. "Ebd.

ß. Kriterien für den Berufscharakter der politischen Tätigkeit

55

Die Forderung nach einer Akademie rur Parlamentarier wurde bereits erhoben, wobei an den oft zitierten Vorschlag Eugen Kogons gedacht wird. 55 Auch Friedrich Naumann hatte den Einfall eine Schule zu gründen, in der Erziehung zur Politik als Beruf stattfmden sollte. Zusammen mit Wilhelm Heile propagierte er die Einrichtung einer überparteilichen Hochschule.56 Ein Gedanke, der vor allem Max Weber faszinierte, der darin ein Mittel zur politischen Stil- und Elitebildung sah. 57 Es muß festgestellt werden, daß eine Ausbildung, vor allem im Sinne Kogons, den Besonderheiten des Politiker-Berufes nicht gerecht werden kann. Zum einen gelangt der Politiker durch Wahl in sein Amt. Von daher wird sich kaum jemand zu einer mehrjährigen Ausbildung entschließen können, ohne daß er mit Sicherheit von einer späteren 'Anstellung' durch Wahl ausgehen kann. In der Berufssoziologie wird generell auf die Tendenz hingewiesen, •... lange Ausbildungen nur dann zu absolvieren, wenn sicher ist, daß sich dieser Mehraufwand auch 'lohnt', ...•. 58 Eine Wahlkreiskandidatur wäre rur den Kandidaten aussichtslos, da er wesentliche Kriterien rur eine Nominierung nicht erfiillen kann. Bei einer Listenkandidatur ist anzunehmen, daß auf den sicheren Listenplätzen zunächst diejenigen plaziert werden, die sich in der Fraktionsarbeit bereits praktisch bewährt haben sowie bedeutende Verbandsfiihrer, Interessenvertreter, die Fraktionsruhrer, die keinen Wahlkreis mehr betreuen u.a. Somit hätte der 'nach Kogon' ausgebildete Berufspolitiker nur wenig Chancen, ein Parlamentsmandat zu erlangen. Des weiteren ist ein ausschließlich aus akademischen Experten zusammengesetzter Bundestag wenig wünschenswert. Apel verweist auf Durchsetzungsvermögen, Verhandlungsgeschick, Standfestigkeit und Phantasie als Qualitäten

"Kogon wollte jungen Leuten, die beabsichtigen, sich ganz der Politik zu widmen, die Möglichkeiten bieten, sich systematisch Kenntnisse anzueignen. Zwei bis drei Jahre sollten Vorlesungen in Geschichte, Soziologie und anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen gehört werden sowie rhetorische Übungen stsUfinden. Nach Abschluß der Akademie durch ein öffentliches Kolloquium im Beisein aktiver Politiker, sah er mehrere Jahre Auslandsaufenthalte vor, um internationale Probleme und Zusammenhänge kennenzulernen. Im Anschluß daran sollten die Aspiranten zwei Jahre .Is parlamentarische Staatssekretäre tätig sein, um sich dann erst dem Wähler als Kandidat zu stellen. Vgl. Kogon, Eugen, Der Parlamentarismus unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen, in: Frankfurter Hefte, 17. Jg. (1962), S. 725 - 736, hier S. 734. "Siehe hierzu NaU1lUl111l, Friedrichl Heile, Wilhelm, Erziehung zur Politik, Berlin 1918. "Vgl. Dnitzel, S. 42.

5aBec1c, Ulrichl Brater, MichaelI Daheim, Hansjürgen, Soziologie der Arbeit und der Berufe, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 211.

56

C. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundesta,

eines guten Bundestagsabgeordneten, also auf Eigenschaften, die eher in der Persönlichkeit eines Menschen veranlagt sind, als daß sie durch Ausbildung erworben werden könnten. 59 Immer wieder wird auf die Bedeutung der Persönlichkeit des Abgeordneten, "seine - kaum meßbare - Eignung zur Planung, Vermittlung, Herbeiführung, Koordinierung und Repräsentation politischer Entscheidungen"/iO als gewichtigen Faktor für das Erreichen parlamentarischer Spitzenpositionen hingewiesen. Macht es die Professionalisierung der Politik für den Abgeordneten schon unmöglich, seinen Privat-Beruf nebenher weiterzuführen, ist es um so mehr wünschenswert, daß ein neu in das Parlament eintretendes Mitglied über Erfahrungen aus dem Berufsleben verfügt. Zwar mag eine "gewisse 'Entfremdung' des Politikers von seinem jeweiligen beruflichen, regionalen, ethnischen, interessenmäßigen Herkunfts-Milieu notwendig [sein], um persönlichen Spielraum für Kompromisse und übergreifende Entscheidungen zu gewinnen",61 es besteht jedoch die Gefahr, daß eine "Desensibilisierung gegenüber der Gesellschaft"62 stattfmdet, daß Politik von einer elitären Politiker-Kaste am Volk vorbei betrieben und sich das Volk nicht mehr repräsentiert fühlen würde. Ausgehend davon, daß der Wertschätzung eines Parlaments durch die Bevölkerung für das Funktionieren eines politischen Systems eine hohe Bedeutung zukommt, muß ein reines Akademikerparlament abgelehnt werden. Die Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit würde darunter leiden: "Die Abgeordneten sind fern, man versteht ihre Sprache nicht, und man glaubt ihnen nur mit Vorbehalt. "63 Es wurde schon darauf hingewiesen, daß der Politiker sein Handwerk auf institutionellem Wege lernt, d. h. im Durchlaufen der verschiedenen Karrierestationen. Diese langjährige praktische Erfahrung setzt den Berufspolitiker in Vorteil gegenüber dem Amateur. Da der Politiker im Laufe seiner Karriere mehrmals sein Fachgebiet wechselt (Minister in unterschiedlichen Ressorts, Abgeordneter in verschiedenen Ausschüssen), was zu Beginn einer politischen Laufbahn nicht vorherzusehen ist, kann eine spezifische Ausbildung gar nicht gefordert werden. Die Einarbeitung in ein Fachgebiet erfolgt bei Bedarf: "Politik wird gelernt, beispielsweise im Sinne der Einarbeitung in politische Probleme und ihre Lösungsmöglichkeiten, der Erweiterung von

:5Apel, Parlamentarismus, flJRausch,

s. 77.

Abgeordneter, S. 112.

"Henog, Politische Karrieren, S. 222; s. auch Zundel, S. 51. 62Zundel, S. 51.

·'Ebd.

ß. Kriterien rur den Berufscharakter der politischen Tätigkeit

57

Kenntnissen über die eigene Partei oder der Aneignung politischer Fertigkeiten."64 Eine Ansicht, die auch Kaack unterstützt, der in diesem Zusammenhang von Politik als Lernberuf spricht, weshalb auch kaum ein ParlamentsneulingjÜDger als 30 Jahre sei. Die meisten Neulinge hätten ein Studium abgeschlossen und einige Jahre Berufspraxis hinter sich, daneben seien sie zunehmend für ihre Partei tätig gewesen. 6S Bereits Max Weber betonte die hervorragende Bedeutung des arbeitenden Parlaments als Institution politischer Führungsauswahl. 66 Diese 'institutionalisierte' Ausbildung scheint am treffendsten mit dem Begriff der parlamentarischen Sozialisation erfaßt, wie ihn Badura und Reese verwenden. Ausgehend davon, daß jede soziale Organisation, so auch ein Parlament, "über ein Standardrepertoire an Regeln, Wissen, Aufmerksamkeitsbereichen, Glaubensüberzeugungen und Fähigkeiten zur Bewältigung interner oder externer Probleme"61 verfüge, wird der Vermittlungsprozeß dieser Regeln an neue Mitglieder soziales Lernen oder Sozialisation genannt. Dieser Prozeß führe zu einer Uni formierung bestimmter Verhaltensweisen unerläßlich für das Funktionieren der Organisation, bzw. des Parlaments. 68 Dabei beginne eine spezielle Sozialisation über die allgemeine politische Sozialisation eines jeden Bürgers hinaus spätestens dann, wenn sich der Betreffende dazu entschließe, "nicht nur für die Politik, sondern auch von der Politik zu leben". 69 Sie vermittele eine Insider-Perspektive vom politischen Geschehen, die Fähigkeit zur Gewinnung von Unterstützung und Einfluß sowie Orientierungen und Einstellungen. ~ Nicht vernachlässigt werden dürfen darüber hinaus die Sozialisationswirkungen, die mit der übrigen Tätigkeit des Parlamentariers zusammenhängen, wie u. a. die Einflüsse des Wahlkreises und der Parteibasis. 11

"Herzog, Dietrich, Karrieren und politische Professionalisierung bei CDu/CSU, SPD und FDP, in: Diubemer, Jürgenl Ebbighausen, Rolf (Hng.), Parteiensystem in der Legitimationskrise, Opladen 1973, S. 109 - 131, hier S. 110.

"Vgl. Koaclc, Wer kommt in den Bundestag?, S. 59. "Vgi. Herzog, Politische Karrieren, S. 26. (;7Badura, Bemhardl Reese, Jürgen, Jungparlamentarier in Bonn - ihre Sozialisation im Deutschen Bundestag, Stuttgart, Bad Canstalt 1976, S. 32.

"Vgl. ebd., S. 34.

-Ebd., S. 35.

"'Vgl. ebd. "Vgl. Sarcinelli, Ulrich, Parlamentarische Sozialisation in der Bunde.republik Deutschland: zwischen politischer 'Sonderkultur' und Basislegitimation, in: ZParl, 20. Jg. (1989), H. 3, S. 388407, hier S. 392.

58

C. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

Festzuhalten ist, daß Politik kein Ausbildungsberuf ist und auch keiner werden sollte, auch wenn das Fehlen einer Ausbildung mit zu dem geringen Ansehen der Politiker beitragen mag, eine Statusunsicherheit, die er mit der Hausfrau und dem Rentner teilt. 72 c) Berufsverband und Definition des Tätigkeitsbereiches Drittens wird ein Berufsverband aufgebaut, "der die kompetenten Berufsangehörigen von den unfähigen zu trennen sucht". 73 Es erscheint legitim, die modemen politischen Parteien mit Berufsorganisationen zu vergleichen, allerdings dürfen hier nicht Ursache und Wirkung vertauscht werden. Wie im historischen Teil der Arbeit deutlich wurde, zog das Entstehen von Massenparteien den Typ des Verbandsfunktionärs als hauptberuflichen Politiker nach sich und nicht umgekehrt. Da entscheidend ist, ob überhaupt eine Berufs- oder Standesorganisation existiert, kann vernachlässigt werden, daß sich die politischen Professionals erst aus der Organisation entwickelten. Der Zugang vor allem zu den hauptamtlichen Positionen wird von den Parteien kontrolliert, sie haben "ein Monopol bei der Auswahl politischen Führungspersonals" .74 Ebenso schufen die Parteien Regelungen zur Ausschaltung der Konkurrenz durch andere Organisationen der politischen Personalrekrutierung wie z. B. freie Wählervereinigungen. 75 Wilensky spricht in seiner Darstellung des Professionalisierungsablaufes vom "Kampf der Berufsgruppe gegen konkurrierende Berufsgruppen, um das Tätigkeitsgebiet zu sichern". 76 Zugangsregeln verschiedener Art sollen die Anzahl der Angehörigen eines Berufes niedrig halten sowie die Selektion der Bewerber nach bestimmten Kriterien ermöglichen. TI Wilensky führt weiter aus, daß "prestigetragende Tätigkeiten definiert und die 'schmutzigen Arbeiten' abgestoßen"78 werden. In der Entwicklung der

72Vgl. Dreilzel, S. 80.

"Daheim, S. 57. "Herzog, Dietrich, Politische Elitenselektion, in: Soziale Welt, Jg. 21 - 22 (1970171), S. 129145, hier S. 141.

"Vgl. Herzog, Politische Karrieren, S. 184.

'·Daheim, S. 57. "Vgl. Beck/BralerlDaheim, S. 38.

"Daheim, S. 57.

ll. Kriterien für den Herofscharaltter der politischen Tätigkeit

59

parlamentarischen Arbeitsweise läßt sich das Abstoßen der 'schmutzigen Arbeiten' erkennen, Hugo Collet beschreibt die Tätigkeit seines ersten Jahres als Bundestagsmitglied 1965: "Die Lehrlingstätigkeit nahm 20 % der Zeit in Anspruch, die normale Angestelltentätigkeit 35 %, die Sekretärsarbeit 25 % und für die politische Arbeit blieben ganze 25 %. Ich machte also Politik nur in den Überstunden ... ".79 Heute kann der Abgeordnete persönliche Mitarbeiter einstellen oder mit anderen Parlamentariern zusammen einen Pool aus den vom Bundestag zur Verfügung gestellten Mitteln bilden. Die so finanzierten wissenschaftlich qualifizierten Mitarbeiter und/oder Sekretärinnen sollen den Abgeordneten von Routine-Arbeiten entiasten. 1IO Die Abgeordneten werden also in die Lage versetzt, sich intensiver um die 'prestigetragenden' Tätigkeiten zu kümmern, die Arbeit in den Fraktions-, Ausschuß- und Plenarsitzungen, die Erledigung der Korrespondenz, Wahlkreis- und Repräsentationsverpflichtungen, kurz mit der politischen Wahrnehmung des Mandats. Im Modell von Hughes wird in diesem Zusammenhang von einer "Phase der Selbstklärung"81 gesprochen, in der zwischen angemessenen und entwürdigenden Tätigkeiten unterschieden wird. Die als entwürdigend empfundenen Arbeiten werden dann nach und nach an "Berufsangehörige minderen Status delegiert". 82 d) Berufsethos Sowohl Caplow als auch Wilensky sprechen von der Bildung eines 'code of ethics,BJ als Kriterium für eine professionalisierte Berufsposition. Hierzu können die vom Bundestag am 21.9.1972 erstmals eingeführten 'Verhaltensregeln für Abgeordnete' als Entsprechung gesehen werden, die auch als Ehrenordnung bezeichnet werden. Sie verpflichten die Abgeordneten "zu präziseren Berufsangaben, zur Anzeige vergüteter Nebentätigkeiten und Beraterverträgen sowie zur Offenlegung von Spenden". 84 Mit § 44a Abgeordnetengesetz wurde eine gesetzliche Grundlage für die Verhaltensregeln

19CoUet, Hugo, Parlamentsrefonn - Selbstverständlichkeit, Notwendigkeit, Aufgabe?, in: HabnerlOberreuterlRausch, S. 273 - 285, hier S. 277. -Vg\. Rausch, Heinz, Der Abgeordnete zwischen Wahlkreis und parlamentarischer Arbeits8titte, in: KJatt, VerfasBungsgefüge, S. \01 - 103, hier S. 103. "Daheim, S. 56. cEbd.

13Daheim, S. 56 und S. 58.

"Oberreuter, Abgeordnete, S. 23.

c. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

60

geschaffen,85 welche die in Art. 39 I GG garantierte Unabhängigkeit des Abgeordneten konkretisierte. Wie bei den Berufsordnungen der freien Berufe gingen alle Überlegungen über eine Ehrenordnung für Abgeordnete davon aus, "daß nur Parlamentarier über Regelverstöße von Parlamentariern befinden könnten. "86 Genauso legen die ständischen Körperschaften der freien Berufe (z. B. Ärztekammern) den Ehrenkodex für ihre Angehörigen fest, Verstöße werden von Ehrengerichtsbarkeiten geahndet. Allerdings enthalten die Verhaltensregeln für Abgeordnete keine materiellen Kriterien für eine Mißbilligung bestimmter anzeigepflichtiger Tätigkeiten, "mit dem Instrumentarium, das der Durchsetzbarkeit dieses Kodex dient, ist es nicht weit her".81 Nach Roll würden die Verhaltensregeln erst ergänzt durch einen Ptlichtenkatalog (analog der Regelungen für den US-Kongreß) den Charakter einer Berufsethik und eines eigenen Standesrechts für Parlamentarier annehmen, was im Einklang mit der zunehmenden Professionalisierung stehen würde, jedoch nicht die Besonderheiten des Abgeordneten-Berufes erfassen könne. 88 Da mit der Ehrenordnung der Verhaltensstil des Politikers sowie seine besondere Verantwortung gegenüber seiner Klientel und dem Wohlergehen der Gesellschaft festgelegt werden 8011,89 ist das Hauptkriterium einer Berufsordnung erfaßt, die in allen Fällen auslegebedürftig ist. Sinnvoller als der Verweis auf die Verhaltensregeln erscheint bezogen auf die Professionsethik des Politikers die Orientierung an der von Max Weber postulierten Verantwortungsethik. Weber unterscheidet zwischen Gesinnungsund Verantwortungsethik, die nicht gegensätzlich, sondern ergänzend begriffen werden sollen und "zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den 'Beruf zur Politik' haben kann. "90 Weber begreift politische Professionsethik primär als Verantwortungsethik, d. h. daß der Politiker sich stets die Folgen seines Handelns vor Augen führen muß: "Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem

"Vgl. Roll, Hans-Achim, Verhaltensregeln für Abgeordnete. in: Zeitschrift für RechUpolitik, 17. Jg. (1984), H. 1, S. 9 - 13, hier S. 11.

16Fromme, S. 55. 17Ebd., S. 53. "Vgl. Roll, S. 13. "Vgl. Herzog, Politische Karrieren, S. 184 f.

"Weber, Politk al8 Beruf, S. 559.

II. Kriterien rur den Berufscharakter der politischen Tätigkeit

61

Druck werden kann, bewußt zu sein. Er läßt sich ... mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit lauem. "91 Im Gegensatz zum verantwortungsethisch handelnden Berufspolitiker ignoriert der Gesinnungspolitiker die allgmeinen staatspolitischen Folgen seines HandeIns. Ein verantwortungsethisches politisches Handeln im Sinne Webers mag an die Leerformel der Gemeinwohlorientierung erinnern, jedoch stellt die Reflexion jeder politischen Handlung auf deren Folgen hin, für die man dann aufzukommen hat, ein wertvolles Orientierungsmuster dar, wenn es ernsthaft betrieben wird. Umso wertvoller, je mehr der Politiker die Folgen der Gesetze selbst spürt, an deren Entstehen er beteiligt war. Ein subjektiv als rational empfundenes Handeln kann gemessen an den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen negative Konsequenzen haben. Beispielsweise kann die rein nach der Wachstumsethik erfolgende Behandlung wirtschafts-, rüstungs- oder atompolitischer Fragen die verantwortungsethische Überprüfung etwa in Hinblick auf Umweltprobleme oder die Verantwortung für künftige Generationen nicht gewährleisten. e) Esprit de corps Die Ehrenordnung weist schon auf einen über Parteigrenzen hinausgehenden berufstypischen 'esprit de corps' hin. 92 Dieser impliziert auch die Abgrenzung der Politprofis gegenüber Außenstehenden, die sich in Redewendungen wie 'die Leute draußen im Lande' zeigt, von den Bundestagsabgeordneten stereotyp zur Bezeichnung aller verwendet, die nicht dem Bundestag angehören. 93 Umgekehrt sprechen die Bürger von "denen in Bonn".94 Deneke erklärt diesen Zusammenhang aus einem in jedem Kollektiv lebendigen Solidaritätsgefühl heraus, durch das auch die Abgeordneten als Mitglieder "des hierarchisch und arbeitsteilig organisierten Kollektivs Parlament"9' verbunden seien. Nach Rausch führt gerade die Professionalisierung der Politik durch Freundschaften unter den Parlamentariern zur Bildung einer interfraktionellen Solidarität, was die Arbeit wesentlich erleichtere. 96 Das Eigentümliche am Zusammengehörigkeitsgefühl der Politiker liege in dem Dualismus zwischen 91Weber, Politik als Beruf, S. 557.

92ygI. Löwenberg, S. 167. "VgI. Henog, Politische Karrieren, S. 185.

"'Zundel, S. 51.

"Deneu, Kollektiv, S. 278. "'VgI. Rausch, Abgeordneter, S. 113.

c. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

62

politisch professionaler Kooperation zur mehrheitsbezogenen Konsensbeschaffung auf der einen Seite und der zugleich kontradiktorischen politisch professionalen Zusammenarbeit97 auf der anderen Seite, bedingt durch verschiedene Fraktionszugehörigkeiten. Burdeau schildert die Homogenität der Politiker-Klasse: " ... eine gewisse Kameraderie, die die Unterschiede in den Lehrmeinungen zurückdrängt, eine gemeinsame Art, die Probleme durch die Brille der Wahlauswirkungen zu betrachten, dieselbe Lebensweise, die ihnen der moralische Zwang ihres Mandats auferlegt, die Gewohnheit, die Wirklichkeit nicht in ihren nackten Tatsachen, sondern im Hinblick auf Programme, Koalitionen und günstige oder nachteilige Situationen zu sehen, die sich für die Partei oder sogar für die politische Karriere des Parlamentariers ergeben ... " .98 Die Art der Tätigkeit, nicht deren Zielsetzung, erzeuge die Einmütigkeit der Politiker, weshalb der Zusammenhalt der Parlamentarier über die parteipolitischen Grenzen hinausgehe. 99 Diese interfraktionelle Solidarität wird durch das Anwachsen der Berufspolitiker im Bundestag zunehmen. Die kollektive Rangerhöhung durch das Mandat (wie durch jedes öffentliche Amt) macht den eigentümlichen Reiz des parlamentarischen Solidaritätsgefühls aus. 1oo Durch den besonderen Rechtsschutz, den Abgeordnete durch Indemnität und Immunität genießen - in der rechtsstaatlichen Demokratie weniger ein Privileg als aristokratische Dekoration - wird die Solidarität der Parlamentarier noch unterstrichen. 101 Herzog verweist darauf, daß die Titel MdB, Bundesminister u.a. auch gerne in privaten Beziehungen geführt werden, sie seien "weiteres, äußeres Kennzeichen professioneller Exklusivität" .102 f) Karriere-Möglichkeiten

Es soll noch ein weiterer Aspekt hinzugefügt werden, der in den von Daheim verwendeten Berufsmodellen fehlt: der Aspekt der Karrieremöglichkeit. Es wird davon ausgegangen, daß in einer Gesellschaft, die den Menschen zu einem wesentlichen Teil aufgrund seiner Arbeitsleistung und durch Geld

97Vgl. Hohm, S. 257. 9IBurdeQu, Georges, Die politische Klasse, in: Röhrich, Wilfried (Hrsg.), 'Demokratische

Elitenherrschaft', Darmstadt 1975, S. 251 - 266, hier S. 259. ""Vgl. ebd., S. 260. lOOVgl. Deneke, Kollektiv, S. 278. IOlVgl. ebd., S. 273 und 279. l!Tl Herzog, Politische Karrieren, S. 185.

n. Kriterien für den Berufscharakter der politischen Titigkeit

63

vermitteltes Prestige bewertet, ein Beruf auch durch seine Aufstiegsmöglichkeiten attraktiv wird. "Von einem bestimmten Punkt an wird Politik nicht nur hauptsächliche "Berufs-"Tätigkeit, sondern eben Karriere; mit bestimmten, möglicherweise institutionell fixierten 'Eingangsvoraussetzungen' und Aufstiegschancen, mit gewissen Sicherheitsgarantien (z. B. Abgeordnetenpension, Patronage bei Alter, Krankheit oder Leistungsverlust) und dezidierten Karriereperspektiven. "Im Aufstiegschancen ergeben sich naturgemäß nur durch kontinuierliches Verbleiben in der Politik. Somit unterscheidet "sich die modeme professionale Berufsarbeit von der nichtprofessionalen .. hinsichtlich der Laufbahnperspektive des Persönlichkeitssystems" .104 Enke zählt stabile Karrierewege zu den Kriterien für eine professionalisierte Berufsgruppe, "die Stationen der Karriere innerhalb der Profession sind festgelegt, der Aufstieg erfolgt nach anerkannten Regeln·. lOS Die Besonderheit des politischen Berufes liegt darin, daß politische Ämter grundsätzlich nur Mandate auf Zeit sind. "In diesem Sinne toleriert die demokratische Theorie den Typ des 'Berufspolitikers'; sie sieht jedoch nicht die Existenz des 'Karrierepolitikers' vor".I06 In der politischen Realität zeigt sich jedoch ein anderes Bild allein dadurch, daß die Besoldung politischer Ämter nach Funktionsebenen gestaffelt ist, was zwangsläufig entsprechende Aufstiegsambitionen nach sich zieht. 107 Die Bindung des Pensionsanspruches an bestimmte Amtszeiten wirkt in die gleiche Richtung. Dem ist hinzuzufügen, daß in einer modemen Industriegesellschaft das längere kontinuierliche Verbleiben in der Politik notwendig ist, um Kontakte zu pflegen, die Stellung in der Partei zu behaupten und auzubauen und sich gegen eventuelle Konkurrenten behaupten zu können. 108 Die Anpassung an den politischen Arbeitsbereich und die damit erschwerte Rückkehr in den privaten Beruf trägt ebenfalls zu längerer Amtsdauer bei. Die modeme Berufswelt kann nicht adäquat erfaßt werden, wird nur von einer Struktur von Positionen und nicht auch von einer Struktur von

'O'Henog, Politische Elitenselektion, S. 144. UMHohm, S. 87.

IO'Enke, Edo, Oberschicht und politisches System der Bundesrepublik Deutschland, Bem, FrankfurtlMain 1974, S. 135. I06Henog, Politische Karrieren, S. 79.

IWVgl. ebd. u'"Vgl. ebd., S. 80.

64

C. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundeltal

Positionssequenzen, also Karrieren, ausgegangen. Für den einzelnen bedeutet dies, daß nicht die jeweils einzelnen Positionen mit ihrem Einkommen und ihrem Prestige, sondern die Aufstiegschancen, die mit ihnen verbunden sind, weitgehend die Berufsmotivation bestimmen. 109 Karrierechancen gehören zu den "zentralen Berufsinteressen wenigstens der fach- und hochschulmäßig ausgebildeten Experten. "110

m. Der Zusammenhang zwischen der Kandidatenaufstellung zwn Deutschen Bundestag und der Professionalisierung der Politik 1. Entscheidungstritger der Kandidatennominierung Bundeswahlgesetz und Parteiengesetz bestimmen die SchlÜS8elrolle der Parteien bei der Auswahl der Kandidaten. Aufgrund der Zweistimmenkonstruktion des Wahlrechts gibt es zwei verschiedene Verfahren bei der Kandidatenaufstellung, die jedoch nach analogen wahlrechtlichen Bestimmungen erfolgen. Somit wird die Kandidatenauswahl auf zwei verschiedenen Ebenen vollzogen. Während die Kandidaten für die Wahlkreise durch die Wahlkreisversammlungen nominiert werden, sind die Landeslisten das Ergebnis eines Kompromisses, der von den LandesvorstäDden mit der nächstniedrigen Parteiebene ausgehandelt wird. Formell nominieren zwar die Delegiertenkonferenzen die Kandidaten, in der Regel ratifizieren sie jedoch nur den oben genannten Kompromiß. 111 Dabei werden bedeutende innerparteiliche Gegenkräfte meist von Anfang an mit berücksichtigt, "um einen reibungslosen Ablauf der Delegiertenkonferenz soweit wie möglich zu gewährleisten".112 Das Hauptgewicht der Führungsauslese liegt dabei auf der Kreisebene, da die Kreisorganisationen ihrem Wahlkreiskandidaten günstige Plazierungen zu sichern suchen. 1I3 Der Einfluß der Partei-Führungsorgane auf die Kandidatenaufstellung ist dagegen gering, ausschlaggebend sind die regionalen und örtlichen Parteihierarchien. 114 Somit können die Auswahlgremien der Parteien bei der Wahlkreisnominierung als die "eigentlichen Akteure der

,otygl. Herzog, Politische Karrieren, S. 43.

II°BecklBraterlDaheim, S. 136.

'"V,I. Schull1.e, Rainer-Ollf, Stichwort "Kandidltenau8wahl", in: SontheimerlRiJhring, S. 308; siehe auch Sontheimer, Grundzüge, S. 192. IIlWoyke, Wichardl Steifens, Udo, Stichwort: Wahlen, Opladen 1984, S. 121.

"'Vgl. Kiulck, Geschichte, S. 637. 1I0Vgl.

S.36.

Haungs, Peter, Parteiendemokratie in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980,

m. Kandidatenaufstellung und Professionalisierung

65

Wahlen"IU bezeichnet werden, ihre Zusammensetzung bestimmt weitgehend, welche Kriterien zur Auswahl kommen. Dagegen ist der Einfluß der Mitgliederversammlungen auf die Auswahl der Listenkandidaten begrenzt. Nach Berechnungen von Kaack waren an den Entscheidungen über die Nominierung der Kandidaten für die Bundestagswahl1969 ca. jeweils 3 % der Mitglieder der beiden großen Parteien beteiligt, dies waren ca. 0,1 % der 38,6 Millionen Wahlberechtigten. 116 Die Wahlkreisdelegiertenkonferenzen bestehen fast ausschließlich aus Parteimitgliedern, die irgendein Parteiamt, ein parlamentarisches Mandat oder eine exekutive Funktion ausüben und in der Regel einen Kandidaten aus ihrer Mitte wählen. ll7 Das Hauptgewicht der lokalen Parteieliten bei der Kandidatenaufstellung "ist von zentraler Bedeutung im Rekrutierungsprozeß des politischen Personals überhaupt, da die Entscheidung tatsächlich im Wahlkreis und primär unter Wahlkreisgesichtspunkten getroffen wird". 118

2. Kriterien für die Kandidatenaufstellung

a) Direktkandidaten Bei der Auswahl der Kandidaten werden die Parteiorganisationen von mehreren Motiven geleitet. "Kaum etwas ist schwieriger zu beurteilen als die Summe der Eigenschaften, die in diesem oder jenem Fall zum Erfolg führt. "119 Grob gesagt hat der die größten Chancen als Kandidat aufgestellt zu werden, der auf den Gebieten Politik, Beruf und-Persönlichkeit die besten Voraussetzungen mitbringt. Entsprechend der Dominanz lokaler Gremien bei der Nominierung von Bewerbern herrscht die Ortsverbundenheit als Auswahlkriterium vor. Hierzu zählen Wohnsitz und Berufsausübung im Wahlkreis, dortige Bekleidung von Partei-, Verbands- oder öffentlichen Wahlämtern, Lokalprestige und vielfältige Kontakte zum Wahlkreis. 120

lUV. Bethusy-Huc. Viola Gräfin, Das politische Kräftespiel in der Bundesrepublik Deutschland, Wiebaden 1965, S. 24.

"6Vgl. Kaack, Geschichte, S. 596 f. I17Vgl. ebd., S. 597. IIiSchultze, S. 306. I19Lanmann, Dieter, Die Einsamlceit des Politikers, München 1977, S. 26. I'JJJHaungs, S. 37. S Bunneistec

66

C. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

Bei der (Wieder-)Nominierung eines Kandidaten stehen die Frage nach der Aktivität des Abgeordneten im Wahlkreis und das fleißige Erledigen von Bürgerwünschen mit an erster Stelle, um überhaupt in Erwägung gezogen zu werden. Wer ohne diese Bedingung in die engere Wahl gelangt, scheitert selten an der mangelnden Ortsverbundenheit, da sie eine der eigentlichen Nominierungsentscheidung vorgelagerte Barriere darstellt. 121 Die Erwartungen der Parteiorganisation betreffen vor allem die Bereitschaft, ständig für die Parteiorganisation im Wahlkreis da zu sein und sich in Bonn für die Interessen des Wahlkreises einzusetzen sowie die Fähigkeit, im Wahlkreis öffentlich überzeugend aufzutreten. l22 Dabei fallen die Anforderungen je nach Art des Wahlkreises unterschiedlich aus. Fragt man danach, inwieweit die Sozialstruktur des Wahlkreises bestimmte soziale Statusmerkmale der Kandidaten besonders vorteilhaft erscheinen läßt, so erscheint dies als ein "Spezifikum der CDU/CSU",.23 hier läßt sich "ein Bemühen feststellen, die Auswahl der Wahlkreiskandidaten der Bevölkerungsstruktur des Wahlkreises anzupassen""24 bei der SPD scheint dieser Aspekt überhaupt keine Rolle zu spielen. Löwenberg erklärt dies damit, daß in der CDU/CSU wirtschaftliche und soziale Interessen stärker zum Ausdruck kämen als in der sozial homogener zusammengesetzten SPD. So komme dem Beruf und der Konfession des Bewerbers größere Bedeutung zu, während in der SPD "Loyalität gegenüber der Partei und Prominenz innerhalb der Partei"l~ wichtiger seien. Während Zeuner die Bedeutung dieses Gesichtspunktes als gering einschätzt,l26 nennt Bethusy-Huc die Berücksichtigung der Gesellschaftsstruktur des Landes, in dem gewählt wird, als ersten Umstand, den alle Parteien berücksichtigen müßten. Allerdings relativiert sie ihre Aussage indem sie einräumt, daß dieser Aspekt in ländlichen Gebieten stärker als in industrialisierten Gebieten berücksichtigt werden müßte. l27 Dieses Kriterium scheint in seiner Bedeutung "nicht nur von Land zu Land, sondern sogar von Wahlkreis zu Wahlkreis"l28 zu schwanken.

121Vgl. üuner, Kandidatenaufstellung, S. 95. I22Vgl. ebd., S. 117 f.

123Kaack, Geschichte, S. 609.

üuner, Kandidatenaufstellung, S. 114. 23 I Löwenberg, S. 107. l2A

126Vgl. üuner, Kandidatenaufstellung, S. 115. I27Vgl. v. Berhusy-Huc, S. 15 f. 12IEbd., S. 16.

m. Kandidatenaufstellung und Professionalisiel\lß&

67

"Eine der günstigsten Voraussetzungen, Abgeordneter zu werden, ist immer noch die, bereits Abgeordneter zu sein. "129 Es gilt das Beharrungsprinzip, da eine Position leichter zu behaupten als in Konkurrenz mit mehreren Bewerbern zu erlangen ist. 130 Das Prestige des innegehabten Mandats bezeichnet Zeuner als das wichtigste Auswahlkriterium bei den beiden großen Parteien, 131 wofür auch die geringe Gegenkandidatenquote ein Indiz ist. 132 Allerdings muß der wiederzuwählende Kandidat weiterhin präsentabel sein, dann werde der Anspruch eines bisherigen Abgeordneten, in seinem Wahlkreis wiederaufgestellt zu werden, zumeist widerspruchslos akzeptiert. Es bedarf schon "einer Kumulation von starken Motiven und Argumenten", 133 damit ein bisheriger AbgeOrdneter nicht wieder aufgestellt wird. Dies erklärt sich aus parteipolitischen und arbeitstechnischen Gründen. Die Parlamentstätigkeit verlangt heute viel Wissen und Routine, erfahrene Parlamentarier kennen sich im parlamentarischen Betrieb bereits aus. "Wer sich einmal im Zyklus der parlamentarischen Wiedergeburten befindet, hat einen Vorsprung an Kenntnis und oft auch an materiellen Mitteln. "134 Außerdem hatte der amtierende Abgeordnete vier Jahre lang Gelegenheit, die ausschlaggebenden Bedingungen für seine erste Nominierung zu festigen. Die Partei führung hat sich bereits der Loyalität des Kandidaten versichern können 135 und für den Wahlkreisvorstand ist es "einfach bequemer, beim alten Kandidaten zu bleiben" .136 Der ständig steigende Anteil der wiederholt nominierten Parlamentsbewerber kann als "Ausdruck einer echten Kontinuität der politischen Schichtenformung"137 angesehen werden. Hier wird ein Zusammenhang mit der Professionalisierung der Politik deutlich. Die Bundestagsmitgliedschaft scheint von Anfang an auf mehrere Wahlperioden angelegt zu sein, der "Vier-Jahres-Rythmus wohl als Kontroll-Rythmus akzeptiert, aber keinesfalls als Begrenzung der Zugehörigkeitsdauer"l38 angesehen zu sein. So trägt die Auswahl der Bewerber zu einer Verlängerung der Amtsdauer bei.

"'Kaack, Wer kommt in den Bundestag?, S. 73. I3Oygl. Kremer, S. 60. ISIVgl. Zeuner, Kandidatenaufstellung, S. 91. ll2ygl. Kaael.:, Geschichte, S. 614.

I"Zeuner, Kandidatenaufstellung, S. 93. I"Lanmann, S. 26. J3SVgl. v. Bethusy-Huc, S. 19.

IY>Kremer, S. 60. I"V.

Bethusy-Huc, S. 19.

I"Kaacl.:, 9. BT, S. 170.



68

C. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

Dagegen hatte die Rolle des Abgeordneten im Bundestag für eine Wahlkreisnominierung kaum Bedeutung. Allgemeine politische Fähigkeiten wie rhetorisches Talent, Überzeugungskraft bei öffentlichen Auftritten, fundiertes Grundlagenwissen, bestimmte Bevölkerungsschichten ansprechen können, Dynamik, Initiative, Aktivität, Manager-Qualitäten, Fleiß, Zuverlässigkeit, Sachlichkeit, Ehrlichkeit, scheinen nur von untergeordneter Bedeutung für die Aufstellung zu sein. 139 In der Regel waren die aufgestellten Kandidaten über zehn Jahre Mitglied ihrer Partei. 140 Darüber hinaus wird von den Bewerbern eine Bewährung zumindest in untergeordneten Partei funktionen erwartet, kontinuierliche Parteiarbeit ist wesentlich für die Nominierungschance. 141 Ein Grund für die verlangte Erfahrung in Parteiämtern mag - neben der Überprüfung der Loyalität des Bewerbers - darin liegen, daß die örtlichen Parteieliten dazu neigen, unter sich bleiben zu wollen oder zumindest in der Vorstellung, ·wer hoch hinaus wolle, müsse ... sich von der Pike auf hochdienen· .142

Lediglich die GRÜNEN, die keine Berufspolitiker aus sich hervorgehen lassen wollen,I43 ersparen ihren Kandidaten bisher diese Ochsentour als Voraussetzung dafür, bei den Parlamentswahlen auf aussichtsreiche Listenplätze gesetzt zu werden. Dies ist mit ein Grund dafür, daß diese Fraktion einen deutlich höheren Frauenanteil aufweist. l44 Allerdings steht die Tatsache, daß die GRÜNEN mit 9,5 % den größten Anteil der Abgeordneten stellen, die ausschließlich über die Landesliste in den Bundestag einzogen,l45 während die F.D.P., die ebenfalls kaum Chancen auf Direktmandate hat, eine Listenkandidatur von der Bereitschaft zur Direktkandidatur abhängig macht, im Widerspruch zum basisdemokratischen Anspruch der GRÜNEN. Ein wichtiger Punkt ist das Kriterium der Bewährung in der Landes- oder Kommunalpolitik, wobei der Kommunalpolitik ungleich größere Bedeutung

''''Vgl. Zeuner, Kandidatenaufstellung, S. 125 - 127. '.oygl. ebd., S. 100 und 102. '''Vgl. Schull7.e, S. 306. Zeuner, Kandidatenaufstellung, S. 104.

' 42

'4SVgl. Dicke, Klaus! StolI, Tobias, Freies Mandat, Mandatsvenichtdes Abgeordnetenund da, Rotationsprinzip der GRÜNEN, in: ZParl, 16. Ig. (1985), H. 3, S. 451 - 465, hier S. 454. '''Vgl. Fogt, Helmut, Die Mandatstriger der GRÜNEN, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 36. Ig. (1986), B 11186, 15.3.86, S. 16 - 33, hier S. 17. '·JVgl. Müller, Emil-Peter, Daten zur Struktur des XI. Deutschen Bundestages, Köln 1988, S. 11.

m. Kandidatenaufstellung und Professionalisierung

69

zukommt. Sie bietet dem Bewerber die Gelegenheit, "in der Partei bekannt zu werden, sowie Parteiloyalität, Fleiss und politisches Geschick zu beweisen"l46 und Erfahrungen für die Arbeit im Bundestag zu sammeln. Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entscheidung über einen Bundestagskandidaten spielen bei dem einzelnen Delegierten persönliche Interessen, nach Auffassung von Kaack dominieren sie "im Bereich der Führungsauslese ganz eindeutig über sachbezogene Entscheidungsmotive. "141 Zum Beispiel fragen sich die Delegierten, welche Machtverschiebungen sich bei Aufstellung eines bestimmten Kandidaten in ihrem Umfeld ergeben, ob sich ihre eigene Position verbessert oder verschlechtert oder wer den Kandidaten zur Nominierung vorgeschlagen hat. l48 Oft wird ein Freund oder jemand, dem man persönlich verpflichtet ist, unterstützt}49 Die Auswahl von Kandidaten ist "viel prosaischer" ISO als allgemein angenommen. Laut Zeuner entfalten demographische und sozio-ökonomische Merkmale wie Alter, Konfession, Schulbildung, Geschlecht, Beruf und Schichtenzugehörigkeit ihre Bedeutung nur vor dem eigentlichen Nominierungsprozeß, nicht mehr bei der Wahl zwischen mehreren Bewerbem. 151 Es sei jedoch auf die Bedeutung der Abkömmlichkeit und Politiknähe einer Berufsposition hingewiesen. Sie bezieht sich vor allem auf die Verbindung des Berufes zu Institiutionen des politischen Entscheidungsprozesses und der Politikvermittlung sowie auf die Vereinbarkeit von Berufsausübung und politischem Engagement. 152 Besonders politiknah sind Berufe, deren Tätigkeiten auch für die Politik funktional sind. 92 % aller Bundestagsmitglieder gehören Berufsgruppen an, die spezifische Politiknähe aufweisen. 153 Hierin liegt auch die Ursache für den hohen Anteil von Verbandsgeschäftsführem und Beamten im Bundestag, deren Arbeit "eine weitgehende Kongruenz mit politischen Aufgaben"l54 aufweist und zudem mehr Zeit für den Wettbewerb um eine Parlamentsnominierung läßt. Darüber

146Zeuner, Kandidatenaufstellung, S. 108. 141Kaaclc, Geschichte, S. 599. "·Vgl. ebd ., S. 598. "9ygl. Zeuner, Wahlen ohne Auswahl - Die Kandidatenaufstellung zum Bundestag, in: Steffani, S. 165 - 190, hier S. 171. I!lJJPjnorr, Klaus, Abteilungsleiter Organisation F.D.P., Schreiben an die Verfasserin v.

4.9 .1989.

""Vgl. Zeuner, Kandidatenaufstellung, S. 143 . ..,2Vgl. Kaack, 9. BT, S. 183. IßVgl. ebd., S. 189. ''''Lohmar, S. 181.

c. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

70

hinaus ist für diese Berufsgruppen die Übernahme eines Mandats mit keinerlei beruflichem oder existentiellem Risiko verbunden, da sie bei Verlust des Mandats ohne weiteres in ihren alten Beruf zurückkehren können. So erklärt sich der im Vergleich zu den bürgerlichen Parteien höhere Anteil der Berufspolitiker in der SPD schon allein daraus, daß sich gewisse Honoratiorenberufe leichter neben der politischen Aktivität ausüben lassen als die Berufe, aus welchen die sozialdemokratischen Abgeordneten in vielen Fällen kommen. us Generell besteht die Neigung, sich von außerparteilichen Organisationen keine Kandidaten für die Nominierung im Wahlkreis aufzwingen zu lassen. Während bei der SPD Gewerkschafter erfolgreich sind, hat die Zugehörigkeit zu anderen Verbänden keinen positiven Einfluß auf die Aufstellungschancen. lS6 Bei der CDU fällt die Erfolglosigkeit echter Mittelstandsvertreter auf.

b) Listenkandidaten Die Zusammensetzung der Landeslisten bestimmt wesentlich die zukünftige Vertretung der Partei im Parlament und bietet die Möglichkeit, die "in den Nominierungen der Wahlkreise reflektierten Gruppeninteressen"I~7 zu korrigieren, da sie erst nach der Festlegung der Wahlkreiskandidaten erfolgt. Die Verteilung der Listenplätze erfolgt nicht nach den dargestellten Qualifikationskriterien für Kandidaten, sondern nach dem Anciennitäts-Prinzip, welches mangels allgemeinverbindlicher Qualifikationskriterien für die Kandidatenauslese dominiert und nach dem Prinzip der Gruppenrepräsentation zur Aufnahme in die Liste. ISS Bisherige Abgeordnete rücken auf freigewordene Plätze vor, Neulinge erhalten zunächst überwiegend unsichere Plätze, das ·schrittweise Aufrücken wird zum Regenerationsprinzip·}S9 Dabei kommt der Absicherung von unsicheren Wahlkreiskandidaten erhebliche Bedeutung

"'Vgl. \I. Beyme. Klaus, Die politische Elite in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Autl., München 1974, S. 59. "·Vgl. Zeuner. Kandidalenaufstellung, S. 111.

IS1UJwenberg. S. 110. "·Vgl. Kaack. Geschichte, S. 622. u"Ebd., S. 637.

m. Kandidatenaufstellung und Professionalisierung

71

zu. laI Über die Interessengruppen-Repräsentation werden innerparteiliche Minderheiten, vor allem Frauen und jüngere Jahrgänge abgesichert, z. B. gelangen Frauen fast nur über die Liste in den Bundestag. 161 Das Proporzprinzip soll durch Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen, die eventuell im Wahlkreis zu kurz gekommen sind, dem Anspruch einer Volkspartei gerecht werden. 162 An erster Stelle steht die regionale Gruppenrepräsentation. Bei der Zusammensetzung der Landeslisten ist die Repräsentation der einzelnen Gebiete innerhalb eines Landes besonders wichtig. "Die Zugehörigkeit des Kandidaten zu einer regionalen Organisationseinheit seiner Partei ist das erste Raster des Ausleseprozesses. "163 Die Repräsentation innerparteilicher sozialer Gruppen spielt vor allem bei der CDU/CSU eine Rolle. Die Repräsentation außerparteilicher sozialer Gruppen, besonders der Verbände, erklärt Kaack aus deren spezifischer Funktion für das Parteiensystem der Bundesrepublik. Sie bieten ein starkes personelles Reservoir an Kandidaten, "das zusammen mit dem Anspruch der Vertretung relevanter Wählermassen und dem Angebot finanzieller Unterstützung ein kaum übersehbares Argument ist" .164 Von geringerer Bedeutung ist die Repräsentation von Berufsschichten, Bildungsschichten, Altersgruppen und konfessionellen Gruppen. Der Zusammenhang zwischen Wahlkreis- und Listennominierung wurde durch das Institut der Listenabsicherung verstärkt. Somit vergrößerte sich der strukturierende Einfluß der lokalen Parteigremien auf die Listenaufstellung. 165 Die Bekanntheit und Popularität in der Bevölkerung spielt eine untergeordnete Rolle, da der Kandidat als Vertreter von Partei und Parteiprogramm gewählt wird und nicht als Persönlichkeit. Ausnahmen werden einige prominente Fälle sein. Hauptkennzeichen des Listenausleseprozesses ist seine weitgehende Formalisierung durch das Proporzsystem, Überlegungen bezüglich der Brauchbarkeit für die Arbeit im Bundestag haben hier keinen Platz: "Quantitative Prinzipien

'OOVgl. Schultze. S. 308. 16'Vgl. Sontheimer. Grundzüge, S. 192.

16'Schultze. S. 308. ' 63Kaaclc.

Geschichte, S. 623.

'64Ebd.

'63ygl. Schullze. S. 308.

C. Der Benafspolitiker im Deutachen Bundestag

72

stimmen nur in Glücksfällen mit qualitativen Normen überein .• 166 Insofern kann kaum von Fraktionsplanung gesprochen werden, von bewußter Gruppierung nach Aufgaben, die in der Bundestagsfraktion anfallen. Reformvorschläge gehen in die Richtung, das Proporzsystem durch ein Verfahren zu ersetzen, welches die Qualitäten der potentiellen Abgeordneten mehr befÜcksichtigt!67 Wohl können auf den vorderen sicheren Listenplätzen Experten für die Fraktionsplanung abgesichert werden. 168 Der Umstand, daß Berufspolitiker häufiger als andere Abgeordnete sowohl für Direktmandate als auch auf sicheren Listenplätzen aufgestellt werden, zeigt ihren Einfluß innerhalb der Partei. Diesen Vorteil bietet ihnen das Wahlsystem. 169

3. Der Aufstieg in politische Spitzenpositionen Der Aufstieg in parlamentarische Führungspositionen bildet die nächste Phase der Rekrutierung politischen Personals. Diese Positionen sind überwiegend von Berufspolitikern besetzt.l'JO Im Rahmen dieser Arbeit muß die Darstellung auf die grundsätzlich feststell bare Entwicklung beschränkt werden. Als detaillierte Untersuchung, die auch einzelne Karrlerewege nachzeichnet, sei auf die empirische Arbeit von Herzog verwiesen. 171 Im Unterschied zur Weimarer Republik gehen die Führungspositionen heute zum größten Teil aus der Abgeordnetentätigkeit hervor. Fast alle Minister des jetzigen Bundeskabinetts verfügen über ein Bundestagsmandat, somit sind parlamentarische Erfahrung und einflußreiche Positionen im Parlament als Voraussetzungen für einen Sprung in das Kabinett anzusehen. Für den Aufstieg in der Fraktion in die Reihe der Spitzenpolitiker fehlen allgemeinverbindliche Wertmaßstäbe, wahrscheinlich wird es sie nie geben. 172 Ein ·schwer analysierbares Geflecht von Leistungsnormen, bürokratischen Regeln und demokrati-

'"Kaaek, Wer kommt in den Bundestag?, S. 92. '"'Siehe z.B. Kaaek, Wer kommt in den Bundestag?, S. 97. "'Vgl. Schultze, S. 308. I~gl. LiJwenberg,

S. 165.

INygl. Sontheimer, Gnandzüge, S. 215. 111

Herzog, Politische Karrieren.

I7lVgl. Kaaek, Geschichte, S. 565.

m. Kandidatenaufstellung und Professionalisierung

73

schen Wahlakten"173 bestimmt den Aufstieg in die politischen Führungspositionen, je nach innerparteilicher Struktur und gesellschaftlicher Machtposition stehen unterschiedliche Leistungskriterien für die Top-Positionen im Vordergrund. Generell läuft der Zugang zu Bonner Regierungspositionen über die Ebenen Fraktion, Parteiführung, Verbandsführung, Landesregierung, Justizverwaltung auf Landesebene, Ministerialbürokratie des Bundes oder über eine Expertenkarriere. 174 Besonders sei auf die Bedeutung des Föderalismus im Rahmen der Rekrutierung politischen Personals hingewiesen, parlamentarische Landtagserfahrung dient der bundespolitischen Karriere wie auch ein Elitenaustausch zwischen Bund und Ländern auf parlamentarischer und exekutiver Ebene stattfindet. m Zwar gibt es keine parlamentarische Ochsentour, jedoch sind die Fraktionen hierarchisch gegliedert. Auf das einfache Fraktionsmitglied folgen die Vorsitzenden der Arbeitskreise und Arbeitsgruppen, dritte Stufe bilden die Fraktionsvorsitzenden und die Geschäftsführer, die Spitze stellt der Fraktionsvorstand dar. 176 Wie bei der Kandidatenaufstellung läßt sich auch bei der Besetzung von Führungspositionen eine Karrierisierung erkennen,l77 der raketenhafte Aufstieg eines unbekannten politischen Talents in eine politische Spitzenfunktion ist seltene Ausnahme geworden. Stattdessen muß sich der Neuling in der Fraktion fortlaufend bewähren, um im Laufe der Zeit vom Hinterbänkler zu dem Platz vorzurücken, "den die Fraktion für angemessen hält. "178 Die Stellung in der Fraktionshierarchie ist von entscheidender Bedeutung für die Parlamentskarriere eines Mandatsträgers. Bedingung für einen Aufstieg ist zunächst die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in der Fraktion. Enke weist auf die Karriere-Bedeutung der Fähigkeit hin, innerorganisatorische Kompromisse herbeizuführen. Hiermit lasse sich z. B. der Aufstieg von Personen wie Helmut Kohl und Rainer Barzel erklären. l79 Durch langjährige Parteiarbeit, die Richtungstreue und Führungs-

"'Enke, S.

163.

'''Vgl. Kaack, Geschichte, S. 671 und Lange, Rolf-Peter, Auslesestrukturen bei der Besetzung von Regierungsämtem, in: DittbemerlEbbighausen, S. 132 - 171, hier S. 167. "'Vgl. v. Beyme, Politische Elite, S. 101. ''''Vgl. Zeuner, Bodo, Innerparteiliche Demokratie, ergänzte Neuauft., Berlin 1970, S. 91. t77Vgl. Herzog, in: Politik als Beruf?, S. 70. '''Vgl. Althammer, S. 61. '19ygl. Enke, S. 164.

c.

74

Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

fähigkeit beweist, durch das kontinuierliche Nehmen der Stufen innerhalb der Parteihierarchie steigt der Politiker in den Kreis der Ministrablen auf. l80 Bereits Max Weber wies darauf hin, "daß das Maß der Fügsamkeit gegenüber dem Apparat: der Grad der 'Bequemlichkeit' des Untergebenen für den Vorgesetzten, diejenigen Qualitäten sind, welche den Aufstieg am sichersten garantieren. "181 Das Plenum spielt die Rolle eines Prestigeforums für das Ansehen des Abgeordneten in seiner Fraktion, es mißt gewissermaßen das politische Gewicht und die Chance eines Abgeordneten, ein Regierungsamt zu erlangen bzw. sich als Gegenspieler der Regierung zu qualifizieren. 182 Wichtigstes Moment der innerparteilichen Führungsauslese ist die spezielle Qualifikation eines Bundestagsmitglieds, so daß der neue Abgeordnete sich zunächst auf einem Spezialgebiet profiliert, um in seiner zweiten Wahlperiode eventuell den Arbeitskreisvorsitz dieses Gebietes zu erhalten, der "relativ sicheres Sprungbrett für die Wahl in den Fraktionsvorstand"183 ist. Begehrt sind auch die Posten der Ausschußvorsitzenden, da sie eine Ministerlaufbahn begünstigen können. 184 Daran, daß nur für ihren Bereich fachlich qualifizierte Parlamentarier Chancen auf eine Spitzenposition haben, läßt sich ablesen, daß Politik zum Expertengeschäft geworden ist. 185 Anforderungen wie Artikulationsfähigkeit, Selbstdarstellung, Fähigkeit zur Mehrheitsgewinnung und sozialer Integration "fördern offenbar die Akademisierung der politischen Elite. "186 Dem Beruf kommt bei der Besetzung von Führungspositionen große Bedeutung zu. Sowohl Herzog als auch Lange weisen auf die Bedeutung einer auf Leistung beruhenden Berufskarriere vor allem im Bereich der freien Berufe hin. Besonders herausgehoben werden der Wissenschaftsbetrieb, der Rechtsanwaltsstand sowie die Verbandskarriere für Nicht-Akademiker. J87 Akademische Ausbildung wird zunehmend Voraussetzung für den Aufstieg in politische Spitzenposi-

''''Vgl. Lange,

s.

167.

'"Weber, Max, Parlamentarisierungund Demokratisierung, in: Kluxen, S. 27 - 40, hier S. 32. 'IlVgl. Lohmar, S. 91.

Zeuner, Innerparteiliche Demokratie, S. 91.

' 13

'''Vgl. Sontheimer, Grundzüge, S. 214. '''Vgl. Armingeon, Klaus, Die Bundesregierungen zwischen 1949 und 1985, in: ZParl, 17. Jg. (1986), H. 1, S. 25 - 40, hier S. 25.

"'Rudz;o, S. 379. 'rlHenog, in: DinbemerlEbbinghausen, S. 127 und Lange, S. 168.

m. Kandidatenaufstcllung und Profeslionalisierung

75

tionen. la Die Qualifikation auf einem Fachgebiet oder in einem Organisationsbereich hat die Berufung durch die Partei zur Folge, eventuell auch ohne der Partei lange angehört oder bereits Wahlämter besetzt zu haben. l89 Die Orientierung der Aufstiegskriterien für Abgeordnete am Gesichtpunkt engen Spezialistentums birgt die Gefahr, daß nur wenige Abgeordnete Politik für die Bürger verständlich darstellen können. Den Führungsgremien der Parteien auf Bundesebene kommt die Funktion einer Prüfstätte parteipolitischer Zuverlässigkeit zu, sie bilden praktisch einen Sammelpunkt von Ministeranwärtern. Die Wahl in den Bundesvorstand der Partei ist eine Vorstufe zu einer möglichen Ministerernennung geworden"!lO hier kann politische Führungskraft bewiesen werden. Als Rekrutierungsbasis erweisen sich auch die Landtage und die Landesministerien, neuerdings auch die Bundesministerien. Für die Regierungsbildung 1987 war erstes Kriterium für die Auswahl der Minister die Zugehörigkeit zum letzten Kabinett. 191 Bei weniger wichtigen Ministerposten entscheidet der regionale, konfessionelle und Parteienproporz sowie die Geschlechtszugehörigkeit, um alle relevanten sozialen und regionalen Gruppen der Fraktion zu becücksichtigen: 92 Die höchsten Exekutivämter sind fast ausschließlich von Berufspolitikern besetzt, die zumeist bereits vor Antritt des höchsten Amtes aus der Politik ihren Beruf gemacht haben. l93 Genauso setzt sich die Elite der Ausschüsse soweit sie untersucht worden ist - überwiegend aus Berufspolitikern zusammen. Je höher der Rang in der Fraktion, desto mehr Berufspolitiker fmden sich. "Die ausgeprägte Führungsdominanz von 'Berufspolitikern' ist vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Professionalisierung parlamentarischer Tätigkeit zu sehen". 194 Der wachsende Anteil von Berufspolitikem in politischen Führungsgremien, dem der Rückgang der Rekrutierung fachfremden Personals aus Karrieren in Wirtschaft, Kultur und Verbänden gegenübersteht, erklärt sich daraus, daß diese Amateurpolitiker die spezifisch politischen Fähigkeiten, die im Laufe einer Karriere angeeignet werden, nicht

""Vgl. Klau, In: SomheimerlRlJhring, S. 575.

'"Longe, S. 168 . •toygl. ebd., S. 150 . •9'Vgl. Sandschneider, Ebernard, Regierungsbildung 1987: Koalitionsvernandlungen und PersonalentlCheidungen,in: ZParl, 18. Jg. (1987), H. 2, S. 203 - 221, hier S. 219. '92Vgl. ebd. und v. Beyme, Politische Elite, S. 116. ' 93 Vgl.

v. Beyme. Politische Elite, S. 109.

'MKaack, Heinol Roth, Reinhold (Hrag.), Handbuch des deutschen Parteiensystems. Bd. I, Opladen 1980, S. 215.

76

C. Der Berufapolitiker im Deutachen Bundelta,

beherrschen. 19' Zudem begünstigen die Selektionskriterien der Führungsauslese hauptberufliche Politiker, die eine Laufbahn im politisch-administrativen System absolviert haben. l96 Die abnehmende Zahl von Doppelmandaten in Europaparlament und Bundestag kennzeichnet das Europäische Parlament als neuen politischen Führungsbereich. Um sich bei Verlust ihrer Führungspositionabzusichern, werden gleichzeitig Parteiämter und öffentliche Wahlämter übernommen. Dies ist ein weiteres Kennzeichen der Professionalisierung, ein Hinweis darauf, daß die politische Tätigkeit nicht als Intermezzo im Berufsleben angesehen wird. Zwar hat die Professionalisierung keine Zunahme der Ämterhäufung bewirkt, allerdings auch keine größere Arbeitsteilung gebracht, da sie ·zugleich den eliteinternen Anforderungs- und Wettbewerbsdruck erhöht"l97 hat. Theoretisch steht der Weg in politische Spitzenpositionen Angehörigen aller Schichten offen, jedoch sind die oberen Schichten unbestreitbar bevorteilt. t!18 Hinter der propagierten Leistungsideologie, der zum Teil Verschleierungsfunktion zukomme, stünden strukturell verfestigte Chancen auf Elitenrelcrutierung, die durch Geschlecht und Schichtenzugehörigkeit bestimmt seien. l99 Finden die unteren Schichten der westdeutschen Bevölkerung überwiegend nicht den Weg in die Parteien, so halten diese Parteien darüber hinaus (mit Ausnahmen) diejenigen Mitglieder von Führungspositionen fern, die Angehörige minderprivilegierter sozialer Schichten sind. 3IO

4. Karrieremuster "In den basisdemokratisch durchstrukturierten Volksparteien wird heute Karriere gemacht wie in jeder anderen Großorganisation auch. "311 Darüber kann auch die Frage nicht hinwegtäuschen, ob bereits eine neue PolitikerGeneration im Bundestag sitze, für die "demokratische Repräsentanz eben nicht

'''Vgl. Armingeon, S. 26 f. "·Vgl. ebd., S. 25. ' 97 KDllCklROth,

S. 217.

"·Vgl. Jilggi, Urs, Die gesellschaftliche Elite, Bem, Stuttgart 1960, S. 107. '9'IEnJce, S. 165.

-Vgl. Guilleaume, S. 479. 7Il'Grunenberg, Mittelmaß, S. 21.

m. Kandidatenaufstellung und Professionalisierung

77

Karriere-Endpunkt, sondern Durchlaufstation w202. sei. Der zitierte Artikel beschreibt Jungpolitiker, die das "Spielbein Politik"313 nicht zu übermütig gebrauchen, auf daß noch ein Leben nach Bonn folge, "wo der politische Glanz in beruflichen Erfolg umgemünzt werden soll". 204 Die "äußerst bedenkliche 'Verlaufbahnung' der Abgeordnetentätigkeit o2OS wie Kaack sie beschreibt, scheint das generelle Aufstiegsmuster in der Politik geworden zu sein. Danach engagiert sich der Gymnasiast bereits in Schülergruppen und Parteijugend, worauf er als Student eines politiknahen oder relevanten Faches auf Orts- und Kreisebene politisch aktiv ist. Drittens wird er Assistent eines Politikers, nebenbei kümmert er sich um die Aufrechterhaltung der lokalen Basis. Viertens erlangt er seinen 'Gesellenbrier als selbständiger Politiker, indem er ein Bundestagsmandat übernimmt, worauf er fünftens das Mandat möglichst über vier Wahlperioden ausübt (das ideale Pensionsalter liegt bei 53 Jahren). Die letzte Stufe stellt die nachparlamentarische Karriere dar, am besten freiberuflich im Verbandsbereich. 206 Diese Darstellung wird verschiedentlich bestätigt: 207 Politik wird von Anfang an als Beruf betrieben, obwohl die begehrten Spitzenpositionen selten vor dem fünften Lebensjahrzehnt erreichbar sind. Die "Sequenz von Positionen, die Personen typischerweise auf ihrem 'Weg zur Spitze' durchlaufen" ,2111 wie Herzog den Begriff der Karriere definiert, gleicht sich im Zuge der Professionalisierung der Politik immer mehr an. Eine Entwicklung, die berufssoziologischen Erkenntnissen entspricht: "In bezug auf die Auslese in diese höheren Berufspositionen haben die Tendenzen zur Professionalisierung und Qualifizierung der Arbeit aber ihr entscheidendes Gewicht. Ihre Wirkung auf die Auslese besteht in einer. zunehmenden Institutionalisierung der Aufstiegswege. "209

202"Man muß sich das Scheitern leisten können", in: DER SPIEGEL, 41. Ig. (1987), H. 49 v. 30.11.87, S. 36 - 42, hier S. 37. 21"Ebd., S. 42. *Ebd.

'JJJJKaack, Heino, Vom Einstieg in die Abgeordnetenlaufbahn, in: Klau, Verfassungsgefüge,S. 55 - 62, hier S. 62. 206Vgl. ebd. 207Vgl. Grunenberg, Mittelmaß, S. 21; Grunenberg, Nina, Die Enkel, ebd., S. 13 - 19, hier S. 16; v. Kroclcow, Christian Graf, Unser Mann in Bann, ebd., S. 7 - 12, hier S. 8; AmoM, S. 77.

'JIJIHerzog, Politische Führungsgruppen, S. 89. 'JJJ9Dreizzel, S. 92.

78

C. Der Berofspolitiker im Deutschen Bundestag

Prinzipielle Voraussetzung für das Erreichen parlamentarischer Spitzenpositionen ist die fortlaufende Bewährung und Qualifikation in zunächst unteren Organisationsebenen geworden,210 so daß der Sprung vom einfachen Parteimitglied in eine parlamentarische Spitzenorganisation nur noch selten stattfindet. Lange erklärt die Regelmäßigkeiten in den Karriereverläufen als systembedingt. Der föderalistische Staatsaufbau, das hiesige Parteiensystem und andere Faktoren ließen nur bestimmte Aufstiegsmuster zu und schlössen andere Karriereverläufe aus. 211 Dabei ist auffaIIend, daß die Auf- und Einstiegskanäle für politische Führungspositionen auf Bundesebene seit 1949 erstaunlich gleich geblieben sind. 212 Das ModeII von Kaack weist schon darauf hin, daß das Einstiegsalter in die Politik sehr niedrig geworden ist, die "Rekrutierung des Nachwuchses für die Parteien beginnt heute schon im Schulalter, die Karriere wird zum Beruf. "213 Steigende Schwierigkeiten bereitet die Rückkehr aus der "Bonner Umlaufbahn "214 in einen bürgerlichen Beruf. Nina Grunenberg zitiert einen erfahrenen Fraktionsmitarbeiter mit der FeststeIlung, daß aIIe Politiker nach zwei Legislaturperioden "nicht mehr resozialisierbar"21S seien. Aus Karrieregründen könne ein Abgeordneter den politischen Beruf oder politiknahe Tätigkeiten nicht mehr verlassen. Es bestünde sonst die Gefahr, die Karriere entweder zu verlangsamen oder aber überhaupt nicht mehr in der Politik erfolgreich zu werden. 216 Herzog unterscheidet in seiner empirischen Untersuchung vier Karrieremuster der Bundestagsabgeordneten, den Weg über eine innerparteiliche Karriere, über die Jugendorganisationen der Parteien, über die Kommunalpolitik oder über den privaten Beruf, wobei in bezug auf die innerparteiliche Karriere und die Kommunalpolitik ähnliche Ergebnisse beobachtet werden. 217 Im folgenden werden die vier Karrieremuster vorgesteIlt.

""Vgl. Herzog, Politische Karrieren, S. 64. lllVgl. Lange, S. 135. 212Vgl. ebd., S. 136 und UJwenberg, S. 166. 2I>Zundel, S. 12.

"'Ebd. 2UGnmenberg, Enkel, S. 16.

"'Vgl. Zundel, S. 50. 217Vgl. Herzog, Politische Karrieren, S. 62 ff.

m. Kandidatenaufstellung und Professionalisierung

79

a) Die innerparteiliche Karriere Die Struktur der innerparteilichen Karrieren verdeutlicht die Auswahlfunktion der politischen Parteien. Nur ein geringer Teil der Spitzenpolitiker wurde ohne Parteikarriere, d.h. Besetzung von Wahlämtern in der Partei auf Orts-, Distrikts- oder Kreisebene, in den Bundestag gewählt. 218 Während in der straffer organisierten SPD die koninuierliche Parteiarbeit immer schon als unerläßlich für eine politische Karriere galt, waren politische Karrieren bei der CDU und F.D.P. in der Regel leichter und schneller zu machen, erst zu Beginn der 70er Jahre wurde die CDU "vom Kanzlerwahlverein in eine zentralisierte und professionalisierte Massenpartei "219 verwandelt, so daß auch hier die Basis-Arbeit Voraussetzung für ein Mandat wurde. Hiervon heben sich (noch), wie erwähnt, die GRÜNEN ab. Auch die F.D.P. erwartet langjährige Arbeit auf Orts-, Kreis-, Bezirks- und Landesverbandsebene in verschiedenen Funktionen von ihren Abgeordneten. 220 Über die Hälfte der von Herzog untersuchten Gruppe begann ihre Parteikarriere auf lokaler Ebene, unabhängig davon, ob es sich um ältere Politiker, denen nur dieser Anfang offenstand, da sich die Parteien nach 1945 zunächst nur auf lokaler Ebene konstituierten, oder um die jüngere Generation handelt. "Die jüngere Generation scheint somit durchaus die gleichen Karrierewege einzuschlagen wie die ältere Generation. "221 Die Positionen im lokalen Bereich werden zumeist lange beibehalten, um eine erneute Kandidatur absichern zu können. Auf allen Stufen seiner Karriere ist der Politiker auf die Aufrechterhaltung der lokalen Basis angewiesen. Auch hier sind keine Unterschiede zwischen der jüngeren und der älteren Politikergeneration feststellbar. 222 Auch Politiker, die sich bereits in nationalen Führungspositionen befmden, weisen eine durchschnittliche Amtszeit von über einem Jahrzehnt in den lokalen Parteiorganisationen auf, m vermutlich um den Einfluß auf ihre Basisorganisation sichern zu können. Die fortdauernde Wahlkreisarbeit bleibt nur prominenten Abgeordneten erspart. Die Rückkopplung zur Basis der 2'"\'gl. Herzog, in: DiubernerlEbbighausen, S. 114.

219Gnmenberg, Mittelmaß, S. 21, siehe auch v. Beyme, Politisches System, S. 109 ~Pjnorr,

Schreiben an die Verfasscrin v. 4.9.1989.

22'Herzog, in: DiubernerlEbbighausen, S. 114.

mVgl. ebd. =Vgl. Herzog, Politiache Karrieren, S. 71.

80

C. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

eigenen Partei bestimmt darüber, ob ein Abgeordneter wiedergewäblt wird, •alle anderen Bezugsgruppen treten demgegenüber in den Hintergrund". 224 Diese Wahlkreisaktivität beansprucht einen beträchtlichen Teil der Zeit eines Parlamentariers, weshalb den sogenannten Wahlkreislöwen vorgeworfen wird, daß sie die Abgeordnetentätigkeit in der Öffentlichkeit diskreditieren würden. Ihr häufiges Auftreten bei Sport- und Heimatfesten zwinge die politsche Konkurrenz zur Nachahmung aus Sorge um Wäblerstimmen. 22S Durch ihre ständige Anwesenheit, Kontakte, höheren Informationsgrad und ihr Amtsprestige haben Berufspolitiker "innerparteilich einen großen Vorsprung vor ehrenamtlichen Feierabendakteuren"226 bei den oben genannten Aktivitäten. Hier soll nicht das Abhalten von Wäblersprechstunden und das Eintreten für Belange des Wahlkreises durch Abgeordnete kritisiert werden, jedoch der Sinn von Repräsentationsverpflichtungen wie Wanderungen, Fußballspiele etc. in Frage gestellt werden. "Wer KanincheDZÜchtervereine und Jahresversammlungen besucht, Wanderpokale stiftet und Fußballspielen beiwohnt, ist ein gern gesehener Gast; wer aber im femen Bonn seiner Arbeit nachgeht, wird von den lokalen Parteigremien und Organisationen schief angesehen, ... " . ZJ.7 Hier zeigt sich die Unangemessenheit der alten Rekrutierungsmuster auf das deutlichste. Wenn nicht Programme gewählt und politische Erfolge honoriert werden, sondern der persönliche Stil und dessen mediengerechte Umsetzung (s. Barschel/Pfeiffer) Inhalte und solide Arbeit überlagern, ist dies ein schlechtes Zeichen sowohl für das politische Bewußtsein der Bevölkerung als auch für die Wahrnehmung der Rekrutierungsfunktion durch die Parteien. Bei den Politikern, die in Vorständen auf Landes- oder Bundesebene ihre politische Karriere begannen, lassen sich vier Rekrutierungsbereiche unterscheiden, in denen sie zuvor leitende Positionen besaßen: die Interessenverbände, konfessionelle oder karitative Organisationen, die öffentliche Verwaltung und bestimmte einflußreiche Berufe,228 die sie für die Parteien durch ihr Fachwissen attraktiv machen.

'Z24Lohmar, S. 142.

:WVgl. Lückhoff, S. 24. lURudzio, S. 160. Zl'RauschlOberreuter, S. 155.

mvgl. Herzog, in: DirtbernerlEbbighausen, S. 115.

m. Kandidatenaufstellung und Professionalisierung

81

Die Verbandskarriere scheint gewissermaßen die politische Bewährung in den Basisorganisationen der Partei zu ersetzen, sie bringt für die Partei den Vorteil der Einflußsicherung auf die Verbände des vorpolitischen Raumes. 229 Karrieren ohne vorherige Bewährung durch die 'Ochsentour' oder nicht aus einer einflußreichen Berufsposition heraus bilden die Ausnahme, sind aber nicht unmöglich. Herzog nennt als Beispiele Apel und Zimmermann, die nach studentischer politischer Aktivität direkt in die Landesvorstände der Jugendorganisationen der Parteien gelangten. 2JO Holger Bömer, der mit 26 Jahren "vom Gerüst direkt in den Plenarsaal "231 stieg, hält seine Karriere jedoch heute kaum noch für möglich. Die innerparteilichen Positionssequenzen werden kontinuierlich verfolgt, ca. 60 % der von Herzog untersuchten Gruppe nahm ohne Unterbrechung Vorstandspositionen in der Partei ein. 232 Genau wie die Parteikarriere Voraussetzung für den Beginn einer Parlamentskarriere ist, wirkt sich längere Parlamentstätigkeit umgekehrt positiv auf die innerparteilichen Karrierechancen aus. "Parlamentarier suchen zusätzlich und als Abstützung auch in der Partei größeren Einfluß·,233 vier Jahre Bundestagsmitgliedschaft scheinen im Durchschnitt die Bedingung für einen Karrieresprung innerhalb der Partei zu sein. b) Der Weg über die Kommunalpolitik Die Bedeutung der Kommunalpolitik liegt in der Gewinnung und Qualifizierung politischen Führungsnachwuchses. Dieser Funktion tritt heute die der langfristigen "lokalen Absicherung gesamtstaatlicher Machtpositionen"234 an die Seite, wie bereits im vorherigen Abschnitt deutlich wurde. Aus Herzogs untersuchter Gruppe hatten 55 % der Bundestagsmitglieder Ämter in der kommunalen Selbstverwaltung (Stadtrat, Kreistag), dabei betrug die Amtsdauer vor Antritt des Bundestagsmandats im Durchschnitt fünf Jahre.

229ygl. Henog, Politische Karrieren, S. 72. novgl. cbd., S. 73.

"ll'Grunenberg, Mittelmaß, S. 24. mVgl. Henog, in: DittbemerlEbbighausen, S. 118. "ll3Ebd., S. 118. 234Ebd. 6 Bunneistet

c. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

82

Auffallend ist, daß die Sozialdemokraten nur 2 1/2 Jahre kommunalpolitische Erfahrung aufwiesen, während es bei der CDU/CSU sechs und bei der F.D.P. 5 1/2 Jahre waren. 2J5 Die GRÜNEN sind in Herzogs Studie von 1975 noch nicht erfaßt. Die These, daß der Kommunalpolitik neben der Einstiegsfunletion auch eine karrieresichernde Funktion zukommt, wird dadurch bestätigt, daß sich Bundestags- und kommunales Mandat im Durchschnitt um weit mehr als eine Wahlperiode überlappen. Diese karrieresichernden Positionsverknüpfungen werden als vertikale Ämterkumulation bezeichnet. 236 Bei Hinzuziehen der Hinterbänkler dürfte ein noch größerer Teil der Bundestagsabgeordneten ihre Karriere in der Lokalpolitik begonnen haben. 2J7 "64 % der Politiker mit kommunalpolitischer Erfahrung haben ihr Amt als Bürgermeister, Stadtverordneter oder Kreistagsangehöriger auch während ihrer Mitgliedschaft zum Bundestag noch weiter beibehalten, teilweise über die gesamte Zeit ihres Bonner Mandats. "238 In dem hohen Ausmaß der vertikalen Ämterkumulation zeigt sich nach Herzog die Professionalisierung der Politik, der Unterschied zwischen dem Amateur- und dem Berufspolitiker. 2J9 Wer sich entschlossen hat, von der Politik zu leben und seinem privaten Beruf nicht mehr nachgehen kann oder will, bzw. sich von Anfang an der Politik verschrieben hat, wird bestrebt sein, sich das politische Betätigungsfeld (im gleichen Amt oder in wechselnden Positionen) unter allen Umständen zu erhalten. Mit fortdauernder politischer Karriere steigt die subjektive Entfremdung vom Privatberuf und sinkt die objektive Möglichkeit der Rückkehr in den ursprünglichen Arbeitsbereich. 240 Somit ist ein Absichern der Karriere durch die oft zeitraubende Beibehaltung von kommunalen Ämtern oder sogar lästig erscheinende Präsenz im Wahlkreis unerläßlich rur die berufliche und materielle Sicherung des Berufspolitikers. "Das Streben nach Sicherheit schlägt um in bloße Absicherung" ,241 formuliert Robert Leicht die negative Seite dieses Karrieremusters, das Greifen nach

mVgl. ebd., S. 87; siehe auch BaduralReese, S. 135. llOVgl. Herzog, Politische Karrieren, S. 88 f. 237Vgl. Herzog, in: DillbemerlEbbighausen, S. 119. 13lEbd., S. 120. mvgl. Herzog, Politische Karrieren, S. 90. ~gl.

Herzog, Politische Führungsgruppen, S. 96.

2AILeichr, Robert, Unter dem Diktat des Mittelmaßes. Wo der Durchschnitt zur Norm wird, verarmt die Demokratie, in: DIE ZEIT, 41. Ig. (1986), Nr. 14 v. 28.3.1986, S. 1, abgedruckt in: Grunenberg/v. KrockowlLeichr, S. 33 • 36, hier S. 34.

m. Kandidatenaufstellung und Professionalisierung

83

Hilfsankern in Form von Posten und Pöstchen auf Kosten der für die Bundestagsarbeit zur Verfügung stehenden Zeit.

In der vertikalen Ämterkumulation liegt ein wichtiger Unterschied zu den privaten Berufen, in denen die Leistungsoptimierung in einer Position, einem Betrieb, einem Berufszweig als Voraussetzung für eine Karriere gilt. Für den Karrierepolitiker zeigen sich umgekehrte Bedingungen. Er muß seine Karriere in verschiedenen politischen Ämtern oder Bereichen absichern, um bei Verlust eines Mandats die Karriere in einem anderen Bereich fortsetzen zu können. Wird z. B. die bundespolitische Laufbahn gestoppt, kann er sich weiter in der Landes':' oder KommunaIpolitik engagieren. 142 c) Der Weg über die Partei-Jugendorganisation Die Jugendorganisationen haben geringere Bedeutung für die Karriere von Berufspolitikern als die innerparteiliche Karriere oder die Kommunalpolitik. Herzog zeigt, daß ca. die Hälfte der befragten Spitzenpolitiker trotz altersmäßiger Gelegenheit nicht über die Jugendorganisationen aufstiegen. 14J Von denjenigen, die diesen Aufstiegskanal benutzten, war der größte Teil parallel in der Jugendorganisation und in der Partei aktiv, wobei sich die Erfolge gegenseitig nutzbar machten. Herzog bezeichnet dieses Muster des parallelen Aufstiegs als den Normalfall für das Engagement in Jugendorganisationen der Parteien. 2A4 Einigen Politikern gelang es direkt über die Jugendorganisation in eine parlamentarische Position zu gelangen, ohne daß Ämter in der Partei bestritten wurden. Hierbei fällt erstmals ein markanter Unterschied zwischen den Parteien auf: in der CDU/CSU wurde dieser Weg auffallend häufiger gegangen, was darauf hinweist, daß der Jungen Union mehr Bedeutung als Rekrutierungskanal zukommt als den übrigen Jugendorganisationen. Die Junge Union ist "sehr viel problemloser Karrierevehikel"w als die Jungsozialisten der SPD. Von den GRÜNEN werden die überkommenen Formen politischer Nachwuchsverbände weithin abgelehnt: "Widerwillen empfinden viele der grünennahen Jungen gegenüber 'Karrierevorbereitungsvereinen' wie SPD-Jusos oder FDP-Julis, von

2A2ygl. Herzog, Politische Karrieren, S. 90. 2ASVgl. Herzog, in: DittbernerlEbbighausen, S. 116. "'Vgl. ebd., S. 77. 2ASV• Beyme, Politisches System, S. 89.

84

C. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundellta,

der Jungen Union ganz zu schweigen."246 Allerdings diskutieren auch die GRÜNEN die Bildung einer Jugendorganisation, worin sich abermals die Annäherung dieser Partei an die etablierten Parteien ausdruckt. Nach EmilPeter Müller verstehen sich die Deutschen Jungdemokraten (ehemaliger Jugendverband der F.D.P.) derzeit als Jugendorganisation der GRÜNEN. "Es ist anzunehmen, daß mit wachsendem Alter grüner Mandatsträger und innerparteilicher Funktionsträger die Grünen einen eigenen Jugendverband bilden werden. "247 Selten ist das substitutive Karrieremuster , bei welchem die Laufbahn in der Partei begonnen wird und erst später ein Engagement in einer Jugendorganisation folgt. Die Bedeutung der Jugendorganisationen für den Karriereverlauf kann darin gesehen werden, daß Ausbildung und Engagement in der Jugendorganisation bei der Kandidatenaufstellung "als eine Art Kompensation für Seniorität anerkannt"248 werden. Hier kann praktische Erfahrung gesammelt werden, womit der Politiker kaum früh genug anfangen kann: "Schülerunion, Junge Union, ... Da lernt man das Handwerk: Einfädeln, Behauptung, Durchsetzung in der Gremienarbeit. .. " .249 d) Beruf und politische Karriere Für den Zusammenhang zwischem privaten Beruf und politischer Karriere läßt sich zunächst feststellen, daß der reine Entschluß, einer Partei beizutreten, kaum mit der beruflichen Situation zusammenhängt, während der Beginn der eigentlichen politischen Karriere engeren Bezug zur beruflichen Situation zu haben scheint. 250 Ca. 90 % der Abgeordneten begannen ihre politische Karriere erst nach Abschluß der Ausbildung. Auf die Bedeutung der Politiknähe einer Berufsposition, um überhaupt die Möglichkeit einer politischen Karriere erwägen zu können, wurde bereits mehrmals hingewiesen. Das Überwechseln von privatberuflichen Spitzenpositionen in politische Positionen ohne vorhergehende Parteikarriere findet selten statt. Besonders hervorgehoben werden soll der Beruf des Abgeordneten-Assistenten, der eine besondere Politiknähe aufweist. Die Assistenten können "in meisterlicher

"'"AufdiePalme", in: DER SPIEGEL, 43. Jg. (1989), H. 31 v. 31.7.89,S. 26 -27, hier S.26.

2A7Maller, 11. BT, S. 18 . ....BaduralReese, S. 119.

2A9V. Krockow, S. 8. llOygl. Henog, Politische Karrieren, S. 101.

m. Kandidatenaufstellung und Professionalisierung

85

Umgebung einen exzellenten Gesellenbrief der Politik N2S1 erwerben, von daher ist diese Funktion wahrscheinlich der kürzeste Weg zu einer hauptberuflichen politischen Tätigkeit, weshalb die Zahl dieser Personen im Bundestag erstaunlich gering erscheint. lS2

5. Kritik der Kandidatenrekrutierung Die These von der Ausdifferenzierung der Politik als ein von der Gesellschaft relativ abgeschlossenes Subsystem findet in der Professionalisierung politischer Karrieren eine Bestätigung. Politik als Berufskarriere scheint zu Weiner Art closed shop für diejenigen geworden zu sein, die Politik und nichts als Politik betreiben W . lS3 Dabei besteht zwischen den Auswahlkriterien und den Karrieremustern der Politiker ein enger Zusammenhang. Die Gesichtspunkte, nach denen die Kandidaten ausgewählt werden, tragen zur Verfestigung der Karrieremuster zumindest bei, gerade aufgrund wder Verharrschung konventioneller Muster der Personalrekrutierung w.254 Die Kombination von Direkt- und absichernder Listenkandidatur macht die Karriere kalkulierbar, zumal mit der Nominierung mindestens 300 Mandate als bereits vergeben feststehen. lS' Nach Löwenberg wirkt sich bei der Kandidatenauslese alles zugunsten der Parteiaktivisten auf Wahlkreis- oder Landesebene aus: das Wahlsystem und seine gesetzlichen Grundlagen, die finanzielle und personelle Schwäche der Parteien sowie ihre Abhängigkeit von Interessengruppen. 2S6 Zwar entsprächen die Parlamentsmitglieder win etwa den Erwartungen der bestehenden politischen KulturW,lS1 jedoch scheint die Rekrutierung wder Frage nach einer entsprechenden politischen Befähigung der Abgeordneten gar keine Aufmerksamkeit zu schenken W .2S8 Auch Karl Dietrich Bracher bemängelt das Hinterherhinken der Kandidatenauslese hinter der Komplizierung der Staatsaufgaben. Das wVerfahren zur

2J1Kremer, S. 98.

mvgl. ebd. 2J'Henog, in: DiubemerlEbbighausen, S. 131. 'llIoHenog, Politische Karrieren, S. 9.

2J'Vgl. Kaack, in: 7haysenlDavidsonlLivingston, S. 137. 2J6Vgl. LiJwenberg, S. 114. wEbd., S. ll5. 2JlEbd.

c. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

86

Auswahl der Kandidaten erscheint unter diesem Gesichtspunkt unzulänglich" .259 Hier zeige sich das Dilemma des modemen Parlamentarismus: "Nur ein starker Einfluß der zentralen Parteifiihrung garantiert die Aufstellung sachlich geeigneter, spezialisierter Kandidaten für die Parlaments- und Fraktionsarbeit, aber dadurch wird gerade jener unmittelbare Kontakt zur Wählerschaft gefährdet, der nur über lokale Wahlkomitees, durch eine dezentralisierte Parteiorganisation möglich erscheint. "260 Zwar kann die starke Wahlkreisorientierung der meisten Parlamentarier nicht einfach mit Provinzialismus und Hinterbänklertum gleichgesetzt werden, der heutige meist akademisch gebildete Abgeordnete betrachtet die Wahlkreisnominierung als Voraussetzung für die Wiederwahl, "nicht den Heimatort als Nabel seiner politischen Welt" .261 Jedoch muß die Kritik der Kandidatenauslese an zu wenig Berücksichtigung von Effizienz, Kompetenz und Qualität durch Überbetonung lokaler Gesichtspunkte und von Parteiinteressen festgemacht werden. Es muß gerade in Hinblick auf die Professionalisierung der Politik mit langen Bundestagsmitgliedschaften eine Abgeordnetenrekrutierung gefordert werden, die es dem Parlament ermöglicht, durch die Kompetenz seiner Angehörigen aktuelle Probleme zu lösen. 262 Kriterien wie Ortsverbundenheit und parteipolitische Bewährung "lassen von vornherein den Aufstieg von potentiellen parlamentarischen Führern oder Spezialisten erschwert erscheinen."263 Heino Kaack betont die Bedeutung der Fähigkeit eines Politikers zur politischen Integration und Führung. 264 Gerade aber Kenntnisse des Managements werden von den Spitzenpolitikern selbst kaum als wichtige Qualifikationen für ein politisches Amt angesehen. 26S Ironischerweise beherrscht doch gerade der von der politischen Tradition am meisten abgelehnte Berufspolitiker die Arbeit im Parlament, weil er die organisatorischen Fertigkeiten und Manager-Eigenschaften mitbringt, die für die Arbeit in den Fraktionen notwendig sind, wo die bedeutendsten politischen Entscheidungen fallen. 2C56

2!19Bracher, S. 79.

uoEbd. u;IKaack, Geschichte, S. 619.

262Vgl. Oberreurer, Heinrich (Hrsg.) Parlamentsreform. Probleme und Perspektiven in westlichen Demokratien, Passau 1981, S. 28. u;'v. Beyme, Politische Elite, S. 79.

264Vgl. Kaack, Wer kommt in den Bundestag?, S. 95. U;'Vgl. Rudz;o, S. 382 und Henog, Politische Karrieren, S. 203. WVgl. UJwenberg, S. 166.

m. Kandidatenaufstellung und Professionalisierung

87

Der Inhalt der vom Parlament wahrgenommenen politischen Entscheidungsfunktionen sollte es ermöglichen, Selektionsmaßstäbe für seine personelle Besetzung abzuleiten. U,7 Zu entwickeln sind von daher Selektionsverfahren, welche die Mindestanforderungen für die Übernahme eines Parlamentsmandats festlegen. Solche Qualifikationsanforderungen für den Einzug in das Arbeitsparlament würden zugleich dessen Organisationsstruktur und Arbeitsmethodik beeinflussen, indem sie die personelle Voraussetzung für deren Reform schaffen würden.- Hier liegt es vor allem bei den Parteien, Veränderungen bei der Kandidatenrekrutierung vorzunehmen. Die Rekrutierungsmuster tragen dazu bei, daß sich infolge der Professionalisierung der Politik eine ausdifferenzierte politische Klasse bildet, was durch die Bevorteilung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes bei der Kandidatur noch gefördert wird. Heino Kaack beklagt die Unbeweglichkeit im Nominierungsprozeß der Parteien, wofür die Professionalisierung eine Ursache sein könnte, die es für den politischen Nachwuchs immer schwerer macht, etablierte Mandatsträger abzulösen. 269 Eine gewisse Austauschrate des politischen Personals erscheint aber mit den sich ändernden Aufgaben in einer Demokratie erforderlich. Das "Prinzip Wiederwahl"2'lO verhindert eine Fluktuation, die möglichst vielen die Chance bietet, sich in höheren politischen Positionen zu bewähren. Es besteht die Gefahr, daß die Zugehörigkeitsdauer zum Parlament mit der Qualität eines Abgeordneten gleichgesetzt wird. Günter Verheugen sieht die Gefahr, daß die Politiker ab einem bestimmten Punkt ihren inzwischen erreichten Lebensstandard um jeden Preis verteidigen, "wenn nicht den, dann die Befriedigung, die sie aus der Machtausübung und öffentlichen Wirksamkeit ziehen. -271 Hierfür dürfte die Barschel-Affäre eine traurige Bestätigung bieten. Wenn die politische Tätigkeit, deren Fortsetzung von einer Wiederwahl abhängt, als einziges Lebensziel erscheint, ein Leben außerhalb der Politik nicht mehr als erstrebenswert angesehen wird, besteht die Gefahr, daß die Politiker versuchen, sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten.

267Vgl. Guilleaume, S. 421. -Vgl. ebd., S. 425. -Vgl. /(Qack, Abgeordnetensoziologie, S. 180.

%7OKremer, S. 51. 271"Man muß sich das Scheitern leisten können", DER SPIEGEL, 41. Ig. (1987), H. 49 v. 30.11.1987,S. 36 - 42, hier S.39.

c. Der Berufspolitiker im Deul8chen Bundestag

88

Die im Laufe der Karriere fortschreitende Abkehr von der Beschäftigung mit Grundsatzfragen, eine Folge der politischen Sozialisation, erlaubt das leichtere Vordringen von Durchschnittsbegabungen und reinen Opportunisten in die Politik. Hier liegt ein Problem der Aufstiegskonzepte von Berufspolitikern, "die in der Pubertät kungeln und kämpfen gelernt haben, einen Beruf nur für den Eintrag ins Parlamentshandbuch brauchen und nichts kennen außer der Politik".212 An die Stelle von Menschen, die von der 'Leidenschaft zur Sache' (Max Weber) erfüllt sind, treten leicht reine Interessenvertreter. Die Bürokratisierung der parlamentarischen Arbeit, die Fixierung auf das reine Erledigen von Politik, das reibungslose Funktionieren können so immer mehr in den Vordergrund rücken und an die Stelle von ethischen Werten und Gemeinwohlorientierung treten. "Oft genug werden nämlich die potentiell Besten von vornherein abgestoßen, weil sie sich dem sterilen Verschleiß nicht aussetzen wollen, wohingegen fragwürdige Naturen ungefestigten Charakters von diesem öffentlichen Betrieb angezogen werden - winkt doch hier ein platter Erfolg, der durch harte Arbeit im eigentlichen Beruf so schnell nicht zu erringen wäre. "213 Der Aufstieg in der Partei kann zu einem Verwechseln von parteipolitischem Erfolg und staatsmännischem Können führen. Der Berufspolitiker läuft Gefahr, seine im Parteiaufstieg entwickelten Fähigkeiten als erfolgversprechend für die Gestaltung der staatlichen Angelegenheiten anzusehen, obwohl der Gewinn einer Parteianhängerschaft auf gänzlich anderen Voraussetzungen beruht. 274 Die Karrierewege zum Erreichen der politischen Spitze haben Auswirkungen auf die Einstellungen der sie durchlaufenden Personen. Dies gilt besonders für die Berufspolitiker , die finanziell und bezüglich ihrer Karriere von der Politik abhängen und von welchen angenommen werden muß, "daß der Kompromißcharakter der Politik auf ihre Einstellungen zurückwirkt. "275 So wie der Verlauf erfolgreicher Karrieren zur Nachahmung anregt, wodurch mit der Zeit eine Verfestigung und Perpetuierung bestimmter Aufstiegswege eintritt, sind auch die persönlichen Merkmale von Spitzenpolitikern vorbildhaft für diejenigen, die eine politische Karriere verfolgen wollen.2711 Die erfolgreichen Politiker weisen den Weg für die Nachrücker. So produziert das

rn"Man muß sich das Scheitern leisten können", DER SPIEGEL, 41. Jg. (1987), H. 49 v. 30.1..87, S. 36 - 42, hier S. 36.

""Leicht, Mittelmaß, S. 34 f. n·Vgl. BaduralReese, S. 144 f. %7SEbd., S. 144. n6Vgl. Henog, Politische Karrieren, S. 197.

m. Kandidatcnaufstcllung und Professionalisierung

89

Rekrutierungssystem "überaus anpassungsfähige und flexible Menschen von Mittelmaß und starker Neigung zum Lavieren"m bzw. befördert diese an die Spitze. Die Bedingungen der Personalrekrutierung zwingen den Politiker zur Aufgabe seines Privatberufes und zur Anhäufung von Ämtern, um die Karriere abstützen und damit den Lebensunterhalt sichern zu können. Die Rolle des Berufspolitikers ist praktisch das Ergebnis des Rekrutierungsvorganges. Ein besonderer Nachteil dieser Karrieremuster liegt in dem Umstand, daß sie Frauen mit Familie praktisch von der Politik ausschließen. Die ständig erforderliche Anwesenheit in der Parteiarbeit ist mit Kindererziehung nicht zu vereinbaren. Der Versuch der GRÜNEN, früh professionalisierte Berufspolitiker zu verhindern, zeigt sich besonders in drei bedeutenden Abweichungen gegenüber den etablierten Parteien: im Verbot der karrieresichernden Ämterhäufung, der speziellen Diätenregelung, die dem Mandat den finanziellen Anreiz nehmen soll und der zeitlichen Begrenzung aller Ämter durch Rotation. 278 Bereits in der ersten Periode ihrer bundespolitischen Vertretung gaben die GRÜNEN das Rotationsprinzip auf. Der parlamentarische Alltag zeigte, daß so keine Sachkompetenz zu entwickeln ist. Daneben erwies sich der berufliche Wechsel nach zwei Jahren als unzumutbar. 279 Schon nach zweijähriger Bundestagsarbeit wurde von den Abgeordneten der GRÜNEN in Bonn kaum noch bestritten, daß sie als Berufspolitiker auf Zeit arbeiten. Ebenso konnte das Entstehen von Prominenz und Hierarchie nicht verhindert werden. 280 Geklagt wird über Streß, Hektik und dauernde Überforderung durch die vieltältigen Anforderungen im Ausschuß, in der Fraktion und bei der Kontaktaufnahme mit Medien, Verbänden, Bürgerinitiativen sowie Parteigremien. 281 So zeigen sich derzeit keine Alternativen, "die Grünen, so systemkritisch sie eingestellt sein mögen, werden das Problem nur noch zuspitzen. ... und die Professionalisierung wird bloß auf einen Umweg gezwungen."282 Die erstaunlich rasche Angleichung der GRÜNEN an die etablierten Parteien ist ein Hinweis darauf, wie fest Rekrutierungs- und Arbeitsstrukturen des Bundestages eingespielt sind und die parlamentarische Sozialisation funktioniert. Es scheint kein Verfahren

mRudzjo, S. 385. 27"Vgl. /smayr, Wolfgang, Die GRÜNEN im Bundestag: Parlamentarisierung und B..sisanbindung, in: ZParl, 16. Jg. (1985), H. 3, S. 299 - 321, hier S. 301 f.

r79Maller, Emil-Petcr, Die GRÜNEN und das Partciensystcm, Köln 1984. UOVgl. Kaack, Abgeordnetcnsoziologie, S. 17\. "'/smayr, S. 303. MV.

Krockow, Unacr Mann, S. 12.

90

C. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

zu geben, daß regelmäßig genug fähige Politiker beschert, "ein gütiges Schicksal gewährt sie häufig als Zufallsprodukt ... ".283

IV. Die Sozialstruktur des Deutschen Bundestages 1. Berufsstruktur

In bezug auf die Berufsstruktur des Bundestages lassen sich Fragen nach der Repräsentativität des Parlaments und damit seiner Legitimation, nach der Interessenstruktur des Bundestages,284 nach den persönlichen Bedingungen einer politischen Karriere,28s nach den Rekrutierungsmechanismen der politischen Parteien bzw. ihren Auswahlkriterien, 286 nach der Effizienz des Parlaments, der sozialen Herkunft der Parlamentarier und der Durchlässigkeit der Sozialstrukturen formulieren. Je nachdem welcher Fragestellung nachgegangen wird, müssen die Daten unterschiedlich aufbereitet werden, d. h. es muß nach dem erlernten Beruf des Bundestagsmitglieds, nach dem Karriereverlauf, nach der Tätigkeit unmittelbar vor erstmaligem Mandatsantritt oder nach der Berufsausübung während der Mitgliedschaft im Bundestag gefragt werden. 287 Eine Statistik auf Grundlage der gegenwärtigen Berufstätigkeit besitzt für unsere Zwecke nur wenig Aussagekraft. 288 Die hauptamtliche Ausübung politischer Ämter in Regierung und Parlament auf Bundes- und Landesebene ist gesetzlich fixiert. Gegen die Verwendung des Ausbildungsberufes läßt sich anführen, daß dieser nur für soziale Herkunftsanalysen brauchbar ist. Diesen kommt aufgrund der vielen sozialen Aufsteiger unter den Parlamentariern nur eingebunden in ein Positionssequenzmodell wie bei Herzog289 Bedeutung zu. 290

2I3Bossle, Machtanspruch, S. 40. ""So zum Beispiel Müller, Emil-Peter, Soziale Strukturen im X. Deutschen Bundestag, Köln

1983.

285S0 zum Beispiel Kaack, Wer kommt in den Bundestag? 2"S O zum Beispiel Henog, Politische Ksrrieren. 217Vgl. Kaack, in: 1haysenlDavidsonlUvingston, S. 128. 2"Vgl. ebd., S. 129 f.

2t9Henog, Politische Ksrrieren. -Vgl. Kaack, 9. BT, S. 182.

IV. Die Soziailltniktur dei Deutschen Bundestages

91

Mehr sagt die unmittelbar vor der Mandatsübernahme eingenommene Berufsposition aus, denn "für alle Aspekte der Karriereforschung und der Abgeordnetensoziologie ist die Frage nach den Vorbedingungen des Mandatserwerbs .zentral". 291 Die Verwendung dieser Daten verdeutlicht darüber hinaus den Zusammenhang zwischen den Auswahlkriterien der Parteien und der Berufsstruktur des Bundestages. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Berufsstruktur des Parlaments ein spezifisches Ergebnis des Auslesepro.zesses ist. Bereits der .zeitliche Abstand zwischen dem Beginn der ersten Berufstätigkeit und dem Überwiegen der politischen Tätigkeit weist auf das Ausmaß der Professionalisierung hin. Ein Viertel der Bundestags-Neulinge von 1983 hatte so gut wie keine Berufsphase ohne größeres politisches Engagement, ca. 30 % dieser Gruppe wiesen weniger als .zehn solcher Berufsjahre auf, nur 18 % mehr als 20 Berufsjahre. Das Durchschnittsalter dieser Personen lag bei 45 Jahren, so daß Lebensläufe mit längerer politikfreier Tätigkeit durchaus möglich gewesen wären. 292 Zahlen zur Berufs- oder Sozialstruktur des Bundestages werden häufig nachgefragt, jedoch liegt gerade hier eine der Schwachstellen der Parlamentsstatistik. Dazu trägt besonders das Fehlen eines geeigneten Kategorieschemas für die Berufsstatistik der Abgeordneten bei, in dem auch die Politik selbst als Beruf ihren Platz hat. 293 Daneben wird in zahlreichen Analysen nicht hinreichend zwischen dem einst erlernten, oft aber längst nicht mehr ausgeübten Beruf eines Politikers einerseits und seiner Erwerbsstellung und beruflichen Funktion unmittelbar vor und während der Mandats.zeit andererseits unterschieden. Besonders die "Verzahnungen der beruflichen mit der politischen Laufbahn"294 birgt Schwierigkeiten. Zudem tragen die Angaben der Abgeordneten selbst in Parlamentshandbüchern und Biographien zu den Schwierigkeiten der Auswertung bei. 295 Während manche Abgeordnete im Amtlichen Handbuch des Deutschen Bundestages einen oft weit zurückliegenden Ausbildungsberuf als dominierende Tätigkeit angeben, distanzieren sich umgekehrt andere Bundestagsabgeordnete nach der Mandatsübernahme von ihrer ursprünglichen Berufstätigkeit. Nach Hess findet eine "bewußte 'Metamorphose' des bisheri-

29IKaack, Abgeordneteniautbahn,S. 59. MV,!. KDack, in: 7JuzysenlDavidsonllivingston, S. 131. 29SVg!. Schindhr, S. 197.

294Hess, Parlamentssoziologie, S. 486. 29'\'gl. Schindhr, S. 197.

92

C. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

gen Berufsbildes"296 statt. Eine besondere Problematik liegt in den unterschiedlichen Methoden, nach denen Berufsstatistiken angefertigt werden, wodurch Analysen verschiedener Autoren kaum vergleichbar sind. Je nach erkenntnisgeleitetem Interesse fällt die berufliche Einordnung von Personen unterschiedlich aus. Zu fordern ist daher von jeder Untersuchung die Angabe des Analyseziels sowie der benutzten Methode. Die in dieser Arbeit benutzten Zahlen der Berufsstruktur des XI. Deutschen Bundestages ermittelte Emil-Peter Müller anband eines leicht abgeänderten Kategorieschemas, welches Adalbert Hess Anfang der 70er Jahre in den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestages erarbeitete. Es geht von der "wesentlichen Erwerbsstellung der Abgeordneten neben oder unmittelbar vor der Mandatsübernahme"297 aus. Die Veränderungen betreffen die Zusammenfassung der Berufskategorien in Gruppen unter Beibehaltung der Einz.elkategorien sowie die ersatzlose Streichung der Kategorie katholische Pfarrer. 298 Zwar verwendet Heino Kaack eine Kategorie Berufspolitiker in seinen auf eigenen Recherchen und den Amtlichen Handbüchern des Bundestages beruhenden Statistiken, jedoch liegt hier zum einen keine Berechnung für die 11. Wahlperiode vor, zum anderen keine nach Fraktionen aufgegliederte Tabelle, die in einigen Aspekten interessant erscheint. Daher wurde hier die detailliertere und aktuellere Analyse Emil-Peter Müllers zugrundegelegt. a) Berufspolitiker Kaack zählt zu den Berufspolitikern die Personen, die vor der erstmaligen Mandatsübernahme hauptsächlich ein Amt ausübten, für das Parteiaktivitäten unerläßliche Voraussetzung sind. 299 Diese Positionen weisen die größte Politiknähe auf. Sie umfassen Parteiangestellte, Mitarbeiter von Vorfeldorganisationen im Parteienbereich wie Stiftungen und Jugendorganisationen, Fraktionsangestellte und andere Parlamentsbedienstete, soweit deren Stellen nach dem Parteienproporz vergeben werden, Politiker-Assistenten, Mitarbeiter in Ministerbüros, Presse- und Planungsreferenten, politische Beamte in den Ministerien, Bundesminister, Ministerpräsidenten und Landesminister,

296Hess, Parlamentssoziologie, S. 583. mSchindler, S. 199. 2MVgI. Maller, 11. BT, S. 26. -V,I. Kaack, in: 7haysenlDavidsonllivingston, S. 131.

IV. Die Sozialstruktur dei DeutlIChen Bundestages

93

Staatssekretäre, kommunale Wahlbeamte sowie Neulinge, die direkt aus einem Landesparlament (wo hauptamtliche Abgeordnetentätigkeit - mit Ausnahmen gesetzlich vorgeschrieben ist) in den Bundestag kommen. JOO Zieht man in der benutzten Statistik nach Müller die Positionen der amtierenden und ehemaligen Regierungsmitglieder , der Parlamentarischen Staatssekretäre, der politischen Beamten und ehemaligen Mitglieder der Landesregierungen sowie die kommunalen Wahlbeamten und die Angestellten von Parteien und Fraktionen zusammen, ergibt sich für den XI. Deutschen Bundestag ein Anteil von 24,7 % (1983: 22,8 %) an Berufspolitikem. Diese Zahl deckt sich in etwa mit der Angabe von Kaack, der für 1983 einen Anteil der Berufspolitiker von 25 % nennt und auf das kontinuierliche Ansteigen dieser Gruppe hinweist.301 Hierbei muß nach Fraktionen differenziert werden. In der F.D.P. stellt diese Gruppe 27,1 % der Fraktion, in der CDU/CSU 23,9 % und in der SPD 13 %, bei den GRÜNEN fehlt diese Gruppe bisher völlig. Helmut Fogt weist allerdings darauf hin, daß 1986 neun Prozent aller bisherigen Mandatsträger der GRÜNEN (in Bundes-, Länder- und Europaparlamenten) in beruflicher Abhängigkeit von ihrer Partei standen. Diese Zahl enthalte nicht die 'Vorrücker', die nach der Rotation vom Frühjahr 1986 im Bundestag blieben. Es sei zu erwarten, daß die Quote mit jeder Rotation ansteigen würde. "Hierbei wird deutlich, in welchem Maße ausgerechnet die GRÜNEN ihre Repräsentanten zu Berufpolitikern machen".302 Auch bei den GRÜNEN komme es "zur Verfestigung einer Führungsgarnitur, für die Politik zum 'Beruf wird",303 da die Mandatsträger sich durch Kompetenz- und Organisationsvorteile von der Basis abheben. Addiert man zu dieser Gruppe die verbleibenden Angestellten des Öffentlichen Dienstes und Beamten, die während der Mandatsausübung ihren Beruf nicht ausüben dürfen, leben im XI. Bundestag 53,2 % der Parlamentarier mit Sicherheit ausschließlich von der Politik. Bei den übrigen Berufsgruppen kann dies zum Teil auch der Fall sein, läßt sich aber kaum feststellen.

JOOygl. Kaack, in: 7haysenlDavidsonlLivingston, S. 132. lj)lVgl. cbd., S. 133. !lJ2Fogt, 1986, S. 22.

lj"Ebd., S. 32.

94

C. Der Bcrufspolitiker im Deutschen Bundestag

b) Der Öffentliche Dienst Die Verbeamtung ist auffälliges Merkmal des Sozialprofils des Bundestages. Zusammen mit der Akademisierung ist sie ein Indiz für die vornehmliche Rekrutierung der Abgeordneten aus der oberen und unteren Mittelschicht.304 Im Vergleich zur X. Wahlperiode erhöhte sich der Anteil der Beamten, Richter und Angestellten im Öffentlichen Dienst im XI. Bundestag lediglich um einen Abgeordneten auf 176 (33,9 %) Parlamentarier.~ KorrektelWeiser muß von dieser Zahl der Anteil der kommunalen Wahlbeamten und der politischen Beamten und ehemaligen Mitglieder von Landesregierungen abgezogen werden, die zu den Berufspolitikern gezählt wurden. Somit verbleibt ein Anteil von 28,5 % der Abgeordneten. Bereits dieser Anteil ist für die Bevölkerung unrepräsentativ, wobei die besondere Problematik in der Verletzung der materiellen Gewaltenteilung liegt. ParadoxeIWeise erleichtern die Inkompatibilitätsgesetze Beamten den Zugang zu Parlamentsmandaten, "obwohl der Sinn dieser Regelungen gerade die Trennung von Legislative und Exekutive ist. -306 Auch hier erscheint eine Einzelbetrachtung der Fraktionen interessant. Wiederum bereinigt um die oben genannten Gruppen ergibt sich für die CDU/CSU ein Anteil von 20,3 %, für die SPD 39,9 %, die F.D.P. 10,5 % und für die GRÜNEN der hohe Anteil von 43,1 %, der sich daraus erklärt, daß 14 Parlamentarier (31,8 %) dieser Fraktion aus den Lehrberufen kommen, deren Anteil am Gesamtplenum bei 16 % (83 Personen) liegt.J01 In der F.D.P. sind Beamte traditionell unterrepräsentiert. 308 Die Ursachen für die starke Vertretung der Angehörigen des Öffentlichen Dienstes, die in den Landtagen zum Teil noch größer ist, liegen zum einem in der besonderen Politiknähe dieser Berufe. Durch Inkompatibilitätsgesetze sind die Angehörigen des Öffentlichen Dienstes für die Mandatsausübung beruflich und zeitlich abkömmlich. Für den Wahlkampf werden sie sechs Wochen bei vollen Bezügen von ihrer Arbeit freigestellt, ihr Arbeitsplatz ist ihnen nach Mandatsaufgabe garantiert, dieser "Karriere-Service wird niemand anderem geboten - .309 Das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und politischer

""Vgl. Kissler, S. 90. 3(U

Vgl. Malter, 11. BT, S. 27.

!D6Herzog, Politische Karrieren, S. 22.

""Vgl. Tabelle 1 im Anhang. ""Vgl. Malter, 10. BT, S. 36. "'*BremelD'hein, S. 142.

IV. Die Sozialstruktur des Deul8chen Bundestages

95

Tätigkeit ist die entscheidende Frage für Personen mit politischen Ambitionen. Dabei bietet der Öffentliche Dienst beste Vereinbarkeitschancen, besonders im Hinblick auf eine "berufliche Absicherung für den Fall des Scheiterns der politischen Karriere. "310 Nicht zu vernachlässigen ist auch der historische Aspekt, die Konzeption der Beamten als politische Elite in der deutschen Geschichte. Daneben steht die technokratische Komponente, die den Öffentlichen Dienst als SachverstandPotential begreift, auf den das Parlament nicht verzichten könne. Schließlich, bei Betrachtung eines größeren Zeitraumes, sind die finanziellen Vorteile zu erwähnen, die ein Bundestagsmandat dieser Berufskategorie lange bot und welche das BVerfG durch das Diätenurteil von 1975 auszuräumen versuchte. Angesichts der langen Zugehörigkeitsdauer zum Parlament sitzen viele Beamten im Bundestag, die noch durch diese finanziellen Privilegien zu einer Kandidatur motiviert gewesen sein mögen. Allerdings sind zumindest die Juristen unter den Abgeordneten dieser Gruppe noch immer privilegiert. Nach Mandatsübernahme und Beurlaubung von ihrer Beamtentätigkeit können sie sich als Rechtsanwälte niederlassen, so ist die "Kombination von Mandatsausübung und Berufstätigkeit besonders vorteilhaft und im Rahmen von Anwaltssozietäten durchaus auch arbeitsmäßig zu realisieren". 311 Daneben können diese Personen auch nicht meldepflichtige Beratertätigkeiten übernehmen, die durch die Verschwiegenheitspflicht eines Anwalts geschützt sind. Hess weist darauf hin, daß das Abgeordnetenmandat für den weisungsgebundenen Beamten "ein beachtlicher sozialer Aufstieg mit größerer Gestaltungsfreiheit, besonderen Privilegien und - nicht selten - mit Chancen, eine höhere berufliche Ebene zu erreichen· , 312 ist. Die inzwischen in allen Bundestagsfraktionen zu beobachtende starke Präsenz von Vertretern der gehobenen Beamtenlautbahn geht mit der allgemeinen Tendenz zu höherer Bildung und zunehmender Akademisierung der Parlamentarier einher. 313 Dabei nehmen die Lehrer und Wissenschaftler mit ihrer freieren Arbeitszeitgestaltung und damit großen Abkömmlichkeit für die Politik eine Sonderstellung ein. 314

"°Kaaek, in: 'IhaysenlDavidsonlIivingsron, S. 131.

"'Ebd., S. 129. Hess, Parlamentssoziologie, S. 583.

" 2

"'Vgl. Malkr, 11. BT, S. 30. "'Vgl. Kaaek, 9. BT, S. 183.

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C. Der Berufspolitiker im Deutachen Bundelta,

In jüngster Zeit sind insbesondere in der SPD wie auch in der CDU/CSU Bemühungen zu verzeichnen, die Zahl der Kandidaten aus dieser Berufsgruppe zu verringern. Deren Erfolg schlägt sich durch die 1983 neu in den Bundestag eingetretenen GRÜNEN in der Statistik nicht nieder, da die GRÜNEN, wie elWähnt, einen besonders hohen Lehreranteil aufweisen. 3U Nach Fogt stellt dieser ein "offensichtliches Hindernis auf dem unvermeidbaren Weg der grünen Partei zur Professionalisierung dar", 316 da es den GRÜNEN an fachlich qualifiziertem Personal zur Rekrutierung in Spitzenpositionen fehle. In der Tat läßt die Überrepräsentation der Lehrer zu wenig Platz für Abgeordnete mit z. B. natulWissenschaftlicher Sachkompetenz, was gerade bei einer Partei, die sich umweltpolitischen Themen verpflichtet fühlt, erstaunlich ist. Nach wie vor kann für den Bundestag davon ausgegangen werden, daß von Entscheidungen über den Öffentlichen Dienst ca. die Hälfte seiner Mitglieder betroffen sind. 3I1

c) Die übrigen Berufsgruppen Der Anteil der Freien Berufe, d. h. der Rechtsanwälte, Notare, Ingenieure, Journalisten und andere mehr stieg von 12,5 % 1983 auf 14,1 % in der 11. Wahlperiode. Dieser Anstieg ist ausschließlich auf die Rechtsanwälte und Notare zurückzuführen. 318 "Hier fmdet erneut die Annahme von relativ politikfernen und relativ politiknahen Berufen ihren Niederschlag. "319 Dabei sind in der CDU/CSU-Fraktion und in der F.D.P.-Fraktion jeweils 18,8 % Freiberufler vertreten, während deren Anteil bei der SPD und den GRÜNEN nur 8,8 bzw. 6,8 % beträgt. 320 Für die Rechtsanwälte sei darauf hingewiesen, daß die Zahl derer, die diesen Beruf angeben, wesentlich größer ist als die derjenigen, die vor Mandatsantritt wirklich eine Anwaltspraxis betrieben haben. Dies ist zum Teil auf die schon elWähnte Tatsache, daß Angehörige des Öffentlichen Dienstes nun eine Kanzlei eröffnen oder in eine

"'Vgl. Kaack, in: 1haysenlDavidsonlIivingslon, S. 133. Vgl. hierzu auch Müller, Emil-Peter, Die Fraktion der Grünen, in: Arbeits- und Sozialpolitik, 41. Ig. (1987), H. 8/9, S. 240 f.

"'Fogl, Helmut, Die Grünen in den Parlamenten der Bundesrepublik. Ein Soziogramm, in: ZParl, 14. Ig. (1983), H. 4, S. 500 - 517, hier S. 509. S17Vgl. Kaack, in: 1haysenlDavidsonlIivingslon, S. 134. "'Vgl. Müller, 11. BT, S. 30. "9Ebd. !lItygl. ebd., S. 30 f.

IV. Die Sozialstruktur des Deutschen Bundestages

97

Sozietät eintreten, also auf das Abgeordnetengesetz zurückzuführen, welches dies gestattet. Auch der Medienbereich gilt als besonders politiknah. Trotz Diäten und Altersversorgung wird das Risiko der Wiedereingliederung in den Beruf immer noch als Hindernis für eine Kandidatur der Freiberufler angeführt. 321 Rückläufig ist die Zahl der Gewerkschafter und sonstiger Verbandsangestellter. Dies ist darauf zurückzuführen, daß die Parteien von Verbandsangehörigen zunehmend auch eine innerparteiliche Karriere erwarten. 322 Der Zusammenhang mit der Kandidatenrekrutierung ist somit deutlich. 1987 waren knapp 60 % der Parlamentsmitglieder gewerksc~aftlich organisiert, bei der SPD sogar 97 % der Parlamentarier. Dies weist darauf hin, daß die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft bei den Sozialdemokraten zu einem Teil des Karrieremusters geworden ist. 323 Die Vertretung der Landwirte im Bundestag blieb in den letzen beiden Wahlperioden konstant. Sie stellen 4,2 % der Parlamentarier. Langfristig ist ein Abnehmen dieser Gruppe zu erwarten, da Agrarpolitik in zunehmenden Maße auf europäischer Ebene entschieden wird. Allerdings nehmen Landwirte in ländlichen Gebieten oft eine Art Honoratiorenstellung ein, weshalb sie dort beim Kandidatenaufstellungsverfahren bevorteilt sind. 324 Naturwissenschaftler und Techniker sind kaum vertreten, auch die Industrie ist zahlenmäßig nur schwach repräsentiert. Dies ist besonders problematisch in Hinblick auf die Aufgabenstellung des Parlaments in einer modemen Industriegesellschaft. Begründet liegt der niedrige Anteil dieser Berufsgruppen wesentlich in dem geringen Freiraum für politische Aktivitäten, durch den sich in Industrie, Handel und Gewerbe abhängig Beschäftigte auszeichnen. 325 Die Arbeiterberufe (1,7 %), Hausfrauen (2,1 %) und Rentner (0 %)326 gehören zu den Berufen mit extremer Politikfeme, weshalb ihre Vertretung weit hinter dem Anteil zurückbleibt, welcher der Bevölkerungsstruktur entspäche. Vor allem Arbeiter und angestellte Handwerker stellen im

32IVgl. LiJckhojf, S. 17. mVgl. Kaack, in: 1haysenlDavidsonlLivingston, S. 133. "'Vgl. Müller, 11. BT, S. 53 f. 32AVgl. ebd., S. 33. S2.5Vgl. Kaack, 9. BT, S. 188. ""Vgl. Tabelle I im Anhang. 7 Bunneister

98

C. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

Bundestag nach wie vor eine Ausnahmeerscheinung dar. Die Unterrepräsentation der Rentner resultiert aus der "fast totalen Professionalisierung der Mandatsausübung" .321 2. Das Geschlecht

Die Unterrepräsentation der Frauen ist eines der auffälligsten Merkmale der Parlamentsstruktur. "Die immer wieder thematisierte und postulierte Gleichberechtigung der Frau ließ sich bisher in der politischen Realität offensichtlich nur mühsam verwirklichen. "328 Zwar ist seit den 70er Jahren ein sprunghafter Anstieg der Bewerberinnen um ein Parlamentsmandat zu verzeichnen während es 1949 nur 8,9 % weibliche Bewerber um ein Bundestagsmandat gab, betrug ihr Anteil 1976 schon 13,9 %, 1980 stellten die Frauen ca. ein Fünftel der Bewerber - schlug sich dies nur schwach in der Struktur des Bundestages nieder. 329 Daß Frauen in der Politik nicht als erste Wahl gelten, läßt sich daraus ersehen, daß ihr Anteil an der Gesamtzahl der Abgeordneten stets im Laufe einer Legislaturperiode steigt, weil sie für ausgeschiedene Angeordnete von den hinteren Plätzen auf den Landeslisten nachrücken. 330 Mit 15,6 % oder 81 Frauen liegt der Anteil weiblicher Abgeordneter im XI. Deutschen Bundestag erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik über 10 %.331 Diese Entwicklung kann aus zwei Gründen auf die Fraktion der GRÜNEN zurückgeführt werden. Zum einen liegt der Frauenanteil bei den GRÜNEN mit ihrer seit 1986 strikt eingehaltenen Quotenregelung bei 56,8 %, zum anderen waren bereits im X. Bundestag 35,7 % ihrer Abgeordneten weiblich, was die anderen Fraktionen dazu veranlaßte, ihrerseits vermehrt Frauen für den Bundestag zu nominieren. 332 So beschloß auch die SPD auf dem Münsteraner Parteitag 1988 eine Quotenregelung, die CDU legte 1988

327Kaack, 9. BT, S. 201. 3l8Ebd., S. 195. 3l'Vgl. Herzog, Dietrich, Elitensoziologische Aspekte der Bundestagswahl 1980, in: Klingemann, Hans-Dieter! Kaase, Max (Hrsg.), Wahlen und politisches System, Opladen 1983, S. 101 - 120. hier S. 103. "''Vgl. hierzu Tabelle 1 im Anhang. 331Vgl. MaUer, 11. BT, S. 15. 33lVgl. ebd.

IV. Die Sozialstruktur des Deutschen Bundestage.

99

ebenfalls Richtlinien zur Gleichstellung der Frauen fest. Einzig in der F.D.P. erfolgte noch keine innerparteiliche Diskussion dieses Problems. 333 Aus der Tatsache, daß das durchschnittliche Eintrittsalter der Parlamentarierinnen höher liegt als das ihrer männlichen Kollegen schließt Kaack, "daß teils der innerparteiliche Aktivitätsgrad von Frauen geringer ist, teils aber auch ihr Karriereweg länger ist als derjenige der Männer. "334 Spezifisch familiäre Bindungen der Frauen als Ursache für das höhere Eintrittsalter schließt Kaack aus, da keine wesentlichen Unterschiede zwischen ledigen, kinderlos verheirateten Frauen und Müttern festgestellt werden. Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Konzentration der Frauen auf Familie und Kindererziehung eben Ursache für das geringere parteipolitische Engagement und auch für die längeren Karrierewege sein kann, entsprechend der Lage in der übrigen Berufswelt. Ein entscheidender Grund für die Unterrepräsentation der Frauen dürfte in der Politikferne der von ihnen ausgeübten Berufe liegen, in den im Bundestag dominierenden Berufsgruppen sind Frauen "faktisch nicht vertreten". 335 Eine Ausnahme bildet der Öffentliche Dienst, da fast jede dritte Parlamentarierin zu den Lehrern und Wissenschaftlern zählt. Ein höherer Anteil weiblicher Parlamentarier ließe sich erreichen, "wenn Frauen in zunehmendem Maße die Ausgangspositionen in politiknahen Berufstätigkeiten erlangten, die generell als optimale Karrierevoraussetzung gelten. "336 Gesellschaftliche Probleme schlagen sich somit in der Parlamentsstruktur nieder. Die parlamentarischen Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen sind nur geringfügig schlechter als die der Männer. Bei einem Mandatsanteil von 8,5 % besetzten sie 1981 7,2 % der Führungspositionen in Regierung und Parlament. 337 Überdurchschnittlich viele der Parlamentarierinnen verfügen über eine abgeschlossene Hochschulausbildung. 338

"'Vgl. Rebenslorj, Hilltel Weßels, Bernhard, Wie wünschen sich die Wähler ihre Abgeordneten?, in: ZParl, 20. Ig. (1989), H. 3, S. 408 - 424, hier S. 412. DlKtulc1c, 9. BT, S. 197.

mEbd. ""Ebd.

mvgl. ebd., S. 198. "·Vgl. Schindler, S. 189. 7·

100

c. Der Berufspolitiker im Deutschen Bundestag

Die Unterrepräsentation der Frauen im Deutschen Bundestag, die nicht annähernd der Verteilung des Elektorats entspricht, zeigt deutliche Zusammenhänge mit den Rekrutierungsmustern der Parteien sowie mit den Karrieremustern der Abgeordneten. Voraussetzungen wie ein politiknaher Beruf, Abkömmlichkeit, eine einflußreiche gesellschaftliche Position, kontinuierliche und intensive Mitarbeit in lokalen Parteigremien, Anwesenheit auf einer Fülle von Parteiveranstaltungen stellen die strukturellen Barrieren für eine erfolgreiche politische Karriere von Frauen dar. 339 "Gerade die ständ- digen Absichtserklärungen aller etablierten Parteien in den letzten zwanzig Jahren, die politische Beteiligung der Frauen in Parlament und Regierung zu verstärken, zeigen in Relation zur Realität der Abgeordnetensoziologie, wie außerordentlich stabil die Selektionsmuster und die strukturelle Zusammensetzung sind. "340 Die parlamentarische Ochsentour schließt Frauen mit Familie und/oder Kindern aus. Unter den verheirateten Abgeordneten mit Kindern weichen die Frauen 1980 um -33,7% (1976: -41,6 %) vom Durchschnitt aller Abgeordneten ab, während verheiratete weibliche Abgeordnete ohne Kinder seit der 8. Wahlperiode überdurchschnittlich vertreten sind.341 Da die GRÜNEN ihre Abgeordneten auch ohne Wahlkreisvertretung auf der Landesliste aufstellen, ist der hohe Frauenanteil leichter zu erreichen. Überraschend ist der relativ hohe Frauenanteil bei der F.D.P., die einen Listenplatz von der Bereitschaft abhängig macht, eine Direktkandidatur zu übernehmen. 3. Altersstruktur

Die Altersstruktur des Bundestages hat die Variablen Alter der Abgeordneten bei erstmaligen Eintritt in den Bundestag, Dauer der Parlamentszugehörigkeit, Anteil der Parlamentsneulinge, Wiederwahlquote pro Wahlperiode, Lebensalterschichtung, Anciennität und Jahrgangsgliederung zu berücksichtigen. Auch in der Altersstruktur des Bundestages druckt sich die Professionalisierung der Politik aus. 342

""Vgl. Schlapeil-Beck, Dagmar, Frauen in der Politik - verdirbt Macht die Moral?, in:

Amold, S. 70 - 79, hier S. 77.

WJKaack, in: 7haysenlDavidsonllivingslon, S. 134.

"'Vgl. Schindler, S. 189. "·Vgl. ebd., S. 136.

IV. Die Sozialstruktur des Deutschen Bundestages

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Von allen bisherigen 2024 Bundestagsabgeordneten seit 1949 war nur einer bei Mandatseintritt unter 25 und nur 3,1 % unter 30 Jahre alt. Der Anteil der 30 - 35jährigen lag bei 10,1 %.343 Aus diesen Zahlen kann auf "die Notwendigkeit einer längeren Vorkarriere"344 geschlossen werden. Ein Zeitreihenvergleich zeigt, daß nach dem Machtwechsel von 1969 in allen Parteien ein VerjÜDgungsprozeß erkennbar war, während der Wechsel von 1982 trotz des Eintritts der GRÜNEN in das Parlament eher die älteren Jahrgänge begünstigte. Das dominierende Eintrittsalter in der 11. Wahlperiode lag bei 35 - 45 Jahren. 345 Müller betont die Untergrenze von 35 Jahren als Höchstgrenze für die Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen der Parteien, woraus sich ein Zusammenhang mit dem Karrieremuster über die Jugendorganisation der Partei ergibt. Die durchschnittliche Zugehörigkeitsdauer der Abgeordneten liegt seit dem Ende der 4. Wahlperiode konstant bei 9 - 10 Jahren. Dies scheint angemessen, wenn berücksichtigt wird, daß ein Parlamentsneuling in der Regel eine Wahlperiode zur Einarbeitung in den politischen Betrieb benötigt. Der Anteil der Parlamentsneulinge lag seit 1961 (also bei konstanter Parteienkonstellation) immer zwischen 25 und 30 Prozent. Ab 1976 sinkt diese Quote, besonders auffällig ist das Absinken auf 17,7 % bei der Wahl von 1983 trotz des Einzuges der GRÜNEN mit 28 Abgeordneten in den Bundestag. Die vorgezogene Wahl führte bei den etablierten Parteien offensichtlich zu einer Begünstigung der altgedienten Parlamentarier. "Die relative Gleichmäßigkeit des Neulingsanteils mit derzeit sinkender Tendenz ist nicht nur ein Anzeichen der Stabilität des Parteiensystems, sondern auch der Gleichförmigkeit und Kalkulierbarkeit der Personalselektionsprozesse. "3-46 Die beiden letzten Wahlen brachten den niedrigsten Neulingsanteil in der Geschichte der Bundesrepublik, somit hat die "personelle Erneuerung aller Bundestagsparteien - mit Ausnahme der GRÜNEN - ein bedenklich geringes Ausmaß erreicht". 347 Dies wird dadurch besonders problematisch, daß sich der Wechsel der Parlamentsmitglieder weitgehend dadurch vollzieht, daß bisherige Führungskräfte weitere oder ranghöhere Ämter übernehmen. 348 Hans '''Sehindler, S. 136. :M4Ebd.

,.,Vgl. Kaaek, Abgeordnetensoziologie, S. 177.

'"Kaaek. in: 7haysenlDavidson/Uvingston. S. 137. '''Kaaek. Abgeordnetensoziologie,S. 174. "'Vgl. Kaaek. Geschichte, S. 664.

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C. Der Berufspolitiker im DeuhChen Bundeltag

Maier bezeichnet es als skandalös, "daß oben Selektion ohne Rotation herrscht, daß die Ämter zu lange in den gleichen Händen sind. "349 Bei den GRÜNEN zeigt sich das andere Extrem: "Der rasche personelle Wechsel bei Parteiämtem und Parlamentsmandaten droht das Reservoir an politischen Führungsbegabungen bei den GRÜNEN insgesamt zu erschöpfen. "350 Für die Wiederwahlquote stellt Kaack die Faustregel auf, daß 80 % der Abgeordneten mindestens einmal, zwei Drittel mindestens zweimal, die Hälfte mindestens dreimal und 30 % mindestens viermal wiedergewählt werden. 351 Für 1987 nennt er eine einmalige Wiederwahlquote von 85,7 %, wenn man die GRÜNEN nicht berücksichtigt, welche die Quote auf 60,4 % senken. 352 Die hohe Wiederwahlhäufigkeit ist eines der wichtigsten Merkmale der Professionalisierung des politischen Bereiches. Im Bundestag dominiert insgesamt die Gruppe der 40 - 60jährigen, ihr Anteil liegt im 11. Bundestag über 77 % und entspricht damit weitgehend der Altersstruktur des gehobenen Öffentlichen Dienstes, was Kaack ebenfalls als Indiz für die Professionalisierung wertet. 353 Die Anciennität, das Dienstalter, spielt zumindest eine indirekte Rolle bei der Besetzung von Führungspositionen und der Mitgliedschaft in besonders wichtigen Ausschüssen. Für eine stabile Funktionselite ist die hohe Bedeutung des Senioritätsprinzips typisch.

4. Bildungsschichtung In Hinblick auf die Professionalisierung des politischen Bereiches ist bei dem Aspekt der Bildungsschichtung des Parlamentes die "Akademisierung des parlamentarischen Berufes"354 besonders hervorzuheben. Der Anteil der Parlamentarier mit formal höherer Bildung wuchs seit 1949 kontinuierlich weit über das Maß der Wahlbevölkerung, wobei gleichzeitig der Anteil der

349Habner/OberreuurlRausch, S. 13. "I'Fogl, 1986, S. 16.

"'Vgl. Kaack, in: 1haysenlDavidsonlLivingslon, S. 137. mVgl. Kaack, Abgeordnetensoziologie,S. 169. mVgl. Kaack, in: 1haysenlDavidsonlLivingslOn, S. 138. 3S