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German Pages 198 [212] Year 1920
Studien zur Ethnologie und
Soziologie
Herausgegeben von
P r o f e s s o r Dr. A. V I E R K A N D T Heft 2
Die
politische Organisation bei den australischen Eingeborenen Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Staates von
Dr. Alfred Knabenhans Privatdozent für Völkerkunde an der Universität Zürich
Mit e i n e m V o r w o r t v o n P r o f e s s o r Dr. Alfred Vierkandt Berlin
Berlin u n d Leipzig 1919 Vereinigung wissenschaftlicher
Verleger
Walter de Oruyter & Co. vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung :: J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung :: Georg Keimer :: Karl J . Trübner :: Veit & Comp.
Studien zur Ethnologie und Soziologie. In erster Linie sollen die Arbeiten dieser Sammlung sich auf dem Grenzgebiet zwischen Völkerkunde und Gesellschaftslehre bewegen, indem sie völkerkundliche Stoffe unter soziologischen Gesichtspunkten verarbeiten. Doch soll die Grenze weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin unbedingt gewahrt werden; vielmehr sollen weder die (von den soziologischen überhaupt schwer abtrennbaren) psychologischen Probleme noch andere Kulturformen als diejenigen der sogenannten Naturvölker grundsätzlich ausgeschlossen werden. Ausgeschlossen sein soll dagegen die alte Methode der uferlosen Vergleichung; es sollen vielmehr nur die Tatsachen innerhalb relativ einheitlicher Kulturgebiete, insbesondere innerhalb der sogenannten ethnographischen Provinzen miteinander verglichen werden. Von einzelnen Gegenständen, die hier bearbeitet werden sollen, seien genannt: Familie und Erziehung, Recht und Sitte, Selbsthilfe und Krieg, politische Organisation und Klassenwesen, Sippen- und Männerbundsgemeinschaft, Gemeinschaft und Tausch bei der Ernährung, Bodeneigentum und Bodensperre. Von allgemeinen Zielen ist vor allem daran gedacht, das Werden und Wesen des Klassenstaates sowie den Mechanismus und die gesellschaftlichen Leistungen der Moral durch eine Reihe von Einzeluntersuchungen auf induktivem Wege aufzuhellen. Von weiteren Arbeiten in dieser Sammlung stehen zunächst folgende in Aussicht:. Prof. Ankermann-Berlin: Die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse der afrikanischen Neger. Prot Vierkandt-Berlin: Sitte und Sittlichkeit bei den Melanesiens „ „ Das demokratische Gemeinwesen bei den Naturvölkern. Privatdozent Dr. Hambruch: Die politischen Verhältnisse der Südseeinsulaner. Heransgeber
Prof. Dr. A. VIERKANDT, Berlin-Strausberg Verlag der
VEREINIGUNG WISSENSCHAFTLICHER VERLEGER, Walter de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig.
Die
politische Organisation bei den australischen Eingeborenen Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Staates von
Dr. Alfred Knabenhans Privatdozent für Völkerkunde an der Universität Zürich
Mit einem V o r w o r t v o n P r o f e s s o r Dr. A l f r e d V l e r k a n d t Berlin
Berlin und Leipzig 1919 Vereinigung
wissenschaftlicher
Verleger
Walter de Gruyter & Co. vormali G . J . Göschen'sche Verlagshandlung :: J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer 2 Karl J. Trübner Veit & Comp.
Alle Rechte, einschließlich des Übersetz ungerechte, vorbehalten.
Druck Ton Meteger & Wittig in Leipzig.
Vorwort des Herausgebers Untersuchungen über Kulturgüter bei einzelnen" Völkern oder Völkergruppen setzen wenigstens vorläufige Vorstellungen über das Wesen solcher Kulturgüter voraus, weil das Verarbeiten des Beobachtunpmateriales und schon das Feststellen der einschlägigen Tatsachen durch den Beobachter ohne bestimmte Gesichtspunkte und ein Begriffsnetz unmöglich ist; anderseits geben sie aber auch einen Prüfstein ab für die Richtigkeit solcher Vorstellungen und bilden ein Hauptmittel zur schärferen Durchbildung und zur Klärung der Begriffe. In ersterer Beziehung kommt für die folgenden Blätter, die die politische Kultur der australischen Eingeborenen erforschen, die Frage nach dem Wesen und den Grenzen des Staates in Betracht. Die Antworten auf diese Fragen lauten verschieden. Man muß bei diesen Differenzen aber unterscheiden zwischen dem Wort und der Sache oder anders ausgedrückt zwischen dem Wort und dem Begriff. In sachlicher Einsicht ist dreierlei zu unterscheiden: erstens eine Organisation von herrschaftlichem Charakter die sich mit Klassenunterschieden verbindet, wie wir sie vor allem in der modernen Kultur, im Orient und in Asien finden, auf die der Name des Staates mit Vorliebe beschränkt wird; zweitens eine ihr dem Wesen nach in einem gewissen Sinne verwandte Organisation, die zugleich entwicklungsgeschichtlich als ihre Vorstufe erscheint, jedoch genossenschaftliche Struktur besitzt; endlich das Übereinstimmende in beiden Gebilden, das einen Oberbegriff er-
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IV
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fordert. Bei der Anwendung des Wortes „Staat" können nun leicht dadurch Mißverständnisse entstehen, daß es von den meisten Autorenim ersten Sinne, von einigen aber im dritten Sinne verwendet wird. An sich besteht ja eine gewisse Freiheit in der Begriffsbestimmung eines Wortes. Zwar darf keine Willkür dabei Platz greifen; aber im vorliegenden Falle handelt es sich ja um zwei wesentliche Begriffe, deren jeder eine sprachliche Fixierung erfordert. Zu verlangen ist nur Folgerichtigkeit bei dem Sprachgebrauch; d. h. Übereinstimmung zwischen der Definition (oder besser Charakteristik) und der Umfangsbegrenzung.1 Erblickt man das Wesen des Staates in dem herrschaftlichen Charakter der Organisation, so muß man das Wort auf die vorhin an erster Stelle genannte Teilgruppe der einschlägigen Gebilde einschränken; die entsprechenden Organisationen der australischen oder indianischen Eingeborenen sind in diesem Sinne keine „Staaten", Andere, wenn man das Wesen des Staates in den Eigenschaften der Autonomie (nach außen hin), der Suprematie (nach innen hin) und der Existenz eines Gesamtwillens mit Organen zu seiner Durchführung erkennen will. Dann ist das Wort in einem weiteren Sinne verwendet, der dem. vorhin erwähnten Oberbegriff entspricht, wobei es freilich der empirischen Nachprüfung bedarf, ob jene drei Eigenschaften auch wirklich überall auf der Stufe der genossenschaftlichen Organisation vorhanden sind. Jedenfalls ist es eine Unfolgerichtigkeit W u n d t s , trenn er den Begriff des Staates im. Sinne der letztgenannten Eigenschaften bestimmt (wobei er beiläufig die Eigenschaft der Suprematie durch die Existenz einer Rechtsordnung ersetzt) und trotzdem seine Verbreitung von vornherein auf den Umkreis der herrschaftlichen Organisation einschränkt. 1
Eine eigentliche Definition ist bekanntlich nur selbstgeschaffenen Ge bilden gegenüber möglich, während man sich den von der Erfahrung gebotenen Gegenständen gegenüber mit einer Kennzeichnung ihrer wichtigsten Eigenschaften begnügen muß. Ein Hinweis auf diese Verschiedenheit ist vielleicht nioht überflüssig angesichts gewisser Neigungen, derartige Inhaltsbestimmungen auf rein deduktivem Wege zu behandeln.
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Wichtiger als der Name ist jedenfalls die Sache. Hier kommt es darauf an, beide Typen (den herrschaftlichen und den genossenschaftlichen) zu erfassen sowohl in ihren Verschiedenheiten wie in ihren Übereinstimmungen. Es erheben sich dabei insbesondere die beiden Fragen: Erstens, wie weit reichen die Eigenschaften der Autonomie, der Suprematie und des organisierten Gesamtwillens, und was tritt eventuell an ihre Stelle? Zweitens, besteht ein entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang zwischen beiden Typen, oder ist der Staat im Sinne der herrschaftlichen Organisation eine völlige Neuheit ohne Vorläufer und vorangehende Keimformen? Beantworten lassen sich diese Fragen nur durch eine Reihe von Einzelforschungen, die freilich am Gesamtproblem orientiert sein müssen. Die vorliegende Arbeit liefert hierzu einen Beitrag, ähnlich wie es das vorangehende Heft dieser Sammlung angestrebt hat. Dort, in der Untersuchung Max Schmidts 1 , stellen sich uns Anfänge und Keimformen einer herrschaftlichen Organisation dar, deren besondere Beschaffenheit sich mit der verbreiteten Anschauung nicht in Einklang bringen läßt, daß die herrschaftliche Organisation die Fol£e von Eroberungen im Sinne von Massenvorgängen und daher mit Klassenunterschieden notwendig verbunden ist. Wir gewahren hier im Gegenteil eine langsame und zähe Infiltration einer stärkeren Stammesgruppe über schwächere Stämme, wobei wohl gewisse gesellschaftliche Verschiedenheiten und Vorrechte auftreten, jedoch ohne gesellschaftliche Absonderungen. Die Frage muß vorläufig offen bleiben, ob wir es hier mit einem wenigstens unter gewissen Umständen eintretenden Übergang zum Klassenstaat oder mit einer Seitenlinie der Entwicklung zu tun haben. Die folgende Arbeit führt uns staatliche Zustände der australischen Eingeborenen in dem Sinne vor, daß die Eigenschaften der Autonomie, der Suprematie und des organisierten Gesamtwillens 1
Max Schmidt, Die Aruaken. verbreitung. Leipzig 1917.
Ein Beitrag zum Problem der Kultur-
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bereits vorhanden sind, allerdings nur in schwacher Ausprägung. Entwicklungsgeschichtlich erscheinen uns diese Zustände als Keimform dessen, was auf der Stufe der herrschaftlichen Organisation voll entfaltet ist. Die Untersuchung bestätigt in dieser Beziehung die von H o l s t i in einem anscheinend wenig bekannten Buche 1 und auch bereits früher von mir 2 vertretenen Anschauungen; sie gibt dagegen W u n d t unrecht, der, wie schon vorhin erwähnt, den Staat im Sinne jener genannten drei Eigenschaften den Naturvölkern auf der Stufe der genossenschaftlichen Organisation vorenthalten will. Ob es freilich einzelne Stammesgruppen gibt, bei denen einige von jenen drei Eigenschaften oder gar alle fehlen, bleibt zunächst eine offene Frage, die nur durch weitere Einzeluntersuchungen gelöst werden kanfl. Es käme dabei namentlich die Möglichkeit in Betracht, daß die Macht des Häuptlings und seiner ihm beigeordneten Instanzen durch andere Organisationen wie die Sippen oder Kultgenossenschaften in einer solchen Weise eingeschränkt würde, daß die Suprematie, d. h. die unbedingte Übermacht der politischen Organisation über andere Organisationen dadurch aufgehoben würde. Zum Schlüsse sei mir eine" Bemerkung mehr persönlicher Art gestattet. In früheren Arbeiten habe ich das Wesen des Staates im Unterschied von demjenigen der Gesellschaft in seiner Z w a n g s g e w a l t erblickt. Die dagegen erhobenen Einwendungen halte ich heute für berechtigt. Man kann freilich den Satz aufstellen, daß der 'Gesellschaft der Zwang fremd ist, während er dem Staate eigen ist. Aber zunächst ist dieser vom Staate ausgeübte Zwang kein reiner Zwang im Sinne der Willkürgewalt, sondern legalisierter, innerlich anerkannter Zwang, besser daher gekennzeichnet als (innerlich
anerkannte)
Zwanges. 1
Machtausübung mit Heranziehung des physischen
Jene Machtausübung ist nun gewiß eine grundlegende
Holsti, The Relation of War to the Origin of the State.
1913.
« 8. u. 8. 10.
Helsmgfors
— vn — Eigenschaft des Staates, die Zwangsanwendung aber, die nur unter besonderen Umständen hinzukommt, hat nur accessorische Bedeutung; und schon darum ist sie für eine Wesensbestimmung'ungeeignet (ebenso wie- es die gleiche Bestimmung gegenüber dem mit dem Staat eng verbundenen Recht ist). Anderseits kennen auch andere Organisationen wie die Familie, die Sippe oder die Kultgemeinschaft den Zwang in diesem Sinne. Man muß daher bei jener Unterscheidung den Begriff der Gesellschaft einengen auf solche Gebilde wie formlose Vereine, reine Geselligkeitsverhältnisse, freundschaftliche Beziehungen oder etwa, woran im vorliegenden Falle gedacht ist, das Substrat der öffentlichen Meinung, d. h. das lediglich durch unmittelbare seelische Wechselwirkungen verbunden gedachte Volksganze, das durch die staatliche Organisation umfaßt wird. Einer solchen Abgrenzung liegt eine bestimmte Definition der Gesellschaft zu gründe. Man geht bei ihr aus von einer Unterscheidung zwischen „gesellschaftlichen" und „außergesellschaftlichen" Kräften. Alle physischen Kräfte gehören dabei zu den außergesellpchaftlichen; gesellschaftliche Kräfte sind lediglich die seelischen Kräfte in Gestalt der seelischen Beeinflussungen oder der Wechselwirkungen. Das Wesen der Gesellschaft besteht dann in solchen Wechselwirkungen, und unter Gesellschaft ist jede Gruppe zu verstehen, sofern sich in ihr solche Wechselwirkungen abspielen. Nur muß man hinzufügen, daß bei dem tatsächlichen Zusammenleben der Menschen auch die außergesellschaftlichen Kräfte überwiegend eine große Rolle spielen, jedenfalls alles organisierte Zusammenleben verhältnismäßig selten ihrer ganz entbehrt. — Demnach stimme ich heute der Auffassung bei, wonach der Staat (dieses Wort jetzt im weitesten Sinne verstanden) eine bestimmte organisierte Form der Gesellschaft ist neben andern Organisationen, wie sie z. B. die Familie oder die Totemgruppe oder die Altersklassen darstellen. Das Merkmal der Zwangsgewalt ist dabei zu ersetzen durch die Eigenschaft der höchsten Macht, welche diese Form der Organisation besitzt, verglichen mit allen andern Organi-
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vra
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sationen derselben Menschenmasse. d. h. der Autonomie nach außen und der Suprematie nach innen.1 Universität Berlin, Ostern 1919. Alfred Vierkandt. 1
Eine zweite Bemerkung mehr persönlicher Art sei in Kürze noch hinzugefügt. Eine eingehende Besprechung des ersten Heftes dieser Sammlung im Internat. Arohiv f ü r Ethnographie, verfaßt von Herrn de Josselin de Jong (Bd. XXIV, S. 158—