Die Politik des Wissens: Allgemeine deutsche Enzyklopädien zwischen 1928 und 1956 9783050089096, 9783050046617

In Enzyklopädien wird ein als allgemeingültig definierter Wissenskanon festgehalten. Zugleich betonen diese Werke unter

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Die Politik des Wissens: Allgemeine deutsche Enzyklopädien zwischen 1928 und 1956
 9783050089096, 9783050046617

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Ines Prodöhl

Die Politik des Wissens

Ines Prodöhl

Die Politik des Wissens Allgemeine deutsche Enzyklopädien zwischen 1928 und 1956

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-05-004661-7 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2011 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandabbildung: Werbegrafik (um 1936), Verlagsarchiv der ehemaligen Bibliographisches Institut/F. A. Brockhaus AG, Mannheim Covergestaltung: pro:design, Berlin Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: MB Medienhaus, Berlin Bindung: Grafisches Centrum Cuno GmbH, Calbe Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis Vorwort Einleitung

VII 1

Kapitel I: Netzwerk Wissen. Deutschsprachige Lexika im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert

31

1. Das Erfolgsmodell des Konversations-Lexikons

32

2. Die Dynamik des Wissens

53

3. Netzwerk Wissen. Zusammenfassung

65

Kapitel II: Zwischen Business und Zensur. Enzyklopädien und ihre Verleger im >Dritten Reich
Glänzende Geschäfte^ Kriegführung und Allgemeinwissen

115

4. Zwischen Business und Zensur. Zusammenfassung

142

Kapitel III: Die Rettung des Wissens. Konkurrierende Lexikonprojekte in der Schweiz und in Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs . .

145

1. Schweizer Buchhandel und Verlagswesen im Zweiten Weltkrieg

147

2. Das Schweizer Lexikon in 7 Bänden (1945-1948)

162

3. Allgemeine Enzyklopädien und deutsche Kulturpolitik im Ausland. Institutionelle und unternehmerische Interessen

174

4. Die Rettung des Wissens. Zusammenfassung

195

Kapitel IV: Die neue Hoheit über das zu Wissende. Enzyklopädien in der Sowjetischen Besatzungszone und in der frühen D D R

197

1. Die Zentralisierung und Kontrolle privater Verlage in der Nachkriegszeit am Beispiel des F. A. Brockhaus Verlages

199

VI

Inhaltsverzeichnis

2. Die Verlage F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut auf dem Weg zur Enteignung

213

3. Inszenierter Kulturtransfer über die Bol'saja Sovetskaja Enciklopedija in den 1950er Jahren

236

4. Die neue Hoheit über das zu Wissende. Zusammenfassung

254

Fazit

259

Abkürzungen

271

Quellen- und Literaturverzeichnis

273

Personenregister

299

Vorwort Das vorliegende Buch basiert auf meiner Dissertation, die unter dem Titel »Die Politik des Wissens. Allgemeine Enzyklopädien im >Dritten ReichDB< ist mir mit den Jahren sehr ans Herz gewachsen. Außerdem bedanke ich mich bei Lucia van der Linde vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. Ohne ihre Hilfe bei der Recherche und ohne die entsprechend erfolgreichen Funde hätte ich viele Argumente nicht untermauern und Interpretationen nicht belegen können. Für ihre dynamische Auseinandersetzung mit mir und meiner Dissertation möchte ich zahlreichen Studienkameraden an den Universitäten Leipzig und Zürich sowie Kollegen am Historischen Seminar der Universität Heidelberg danken. Ins-

Vili

Vorwort

besondere Arndt Engelhardt, Cornelia Knab, Martin Rüesch und Christiane Sibille haben eine vielseitige Rolle von inhaltlicher Kritik bis freundschaftlicher Aufmunterung eingenommen, und der Wert ihres Zuspruchs ist kaum zu überschätzen. Was wäre eine Dissertation ohne einen großen Kreis aus Freunden, die fröhlich und unermüdlich die Normalität ins Leben zurückbringen? Für diese mitunter schwierige Aufgabe danke ich neben den bereits Genannten Christoph Bottin, Thomas Bühligen, Isabelle Deflers, Frank Grüner, Gudrun und Günter Hanschmann, Gerda und Wolfgang Heymann, Katharina Küstner, Carla Meyer, Gesine Mierke, Katrin Molnár, Yvonne Perdelwitz und Kilian P. Schuhes. Sie haben auf die ihnen eigene, individuelle Weise dafür gesorgt, dass die Dissertation zu einem Ende kam und dass aus dem Manuskript ein Buch wurde. Mein größter Dank jedoch gilt meiner Familie und insbesondere meinen Eltern. Dieser Lebensweg wäre ohne ihre wohlwollende Unterstützung und ohne ihre Geduld nicht möglich gewesen. Ganz herzlichen Dank. Washington, DC, im September 2010

Ines Predöhl

Einleitung Allgemeinwissen und seine Speichermedien: Ausgangsüberlegungen Die in der vorliegenden Arbeit thematisierten Werke können sehr unterschiedlich bezeichnet sein, etwa Enzyklopädie, Lexikon, Wörterbuch, Theatrum, Schatzkammer, Nachschlagewerk, Schlag nach oder Dictionnaire. Sie sind allesamt dann relevant für die Fragestellung, wenn sie von sich selbst behaupten, Informationsquellen des so genannten Allgemeinwissens zu sein. Unabhängig von der Bezeichnung auf dem Buchrücken und unabhängig von der inneren Organisationsstruktur ist ihnen in diesem Verständnis gemeinsam, dass sie Transfermedien sind, die ein als allgemein gültig ausgewiesenes Wissen vermitteln.1 Das so bezeichnete Wissen richtet sich in einer standardisierten Form an einen großen Empfängerkreis und deklariert seine Relevanz gegenüber allen sozialen Schichten. Die hier synonym verwendeten Begriffe Enzyklopädie, Lexikon oder Nachschlagewerk beziehen sich also auf die Vorstellung eines frei zugänglichen, allgemeinen Wissens, zu dessen Erwerb, abgesehen von der Lesefahigkeit, keine weiteren Qualifikationen benötigt werden.2 Ein solches Verständnis setzt voraus, dass Wissen und Information als kulturgeschichtliche Größen, die sich je nach den Bedürfnissen und Bedingungen einer Gesellschaft dynamisch verändern können, gefasst werden. Enzyklopädien sind in diesem Verständnis nicht mehr aber auch nicht weniger als der Verhandlungsort dessen, was eine Gemeinschaft für wissenswert hält, und sie erlauben es, einen Blick auf die Strukturen bei der Vermittlung von Wissen zu werfen. Die Werke geben darüber Auskunft, welches Wissen an ein wie definiertes Zielpublikum weiter-

1

2

Für die Disposition enzyklopädischen Wissens vgl. Paul Michel: Darbietungsweisen des Materials in Enzyklopädien, in: Ingrid Tomkowiak (Hg.): Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens, Zürich 2002, S. 35-83, sowie Ders./Madeleine Herren: Unvorgreifliche Gedanken zu einer Theorie des Enzyklopädischen - Enzyklopädien als Indikatoren für die Veränderungen bei der Organisation und der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen, in: Paul Michel/Madeleine Herren/Martin Rüesch (Hgg.): Allgemeinwissen und Gesellschaft. Akten des internationalen Kongresses über Wissenstransfer und enzyklopädische Ordnungssysteme, vom 18. bis 21. September 2003 in Prangins, Aachen 2007, S. 9-74. Der Begriff »Enzyklopädie« und seine Etymologie sind aufgearbeitet worden von Jürgen Hennigsen: »Enzyklopädie«. Zur Sprach- und Bedeutungsgeschichte eines pädagogischen Begriffs, in: Archiv für Begriffsgeschichte 10 (1966), S. 271-357; Ders.: Orbis Doctrinae: Enzyklopädie, in: ebd. 11 (1967), S. 241-245; Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs (Archiv für Begriffsgeschichte, Supplement 2), Diss. Univ. Münster, Bonn 1977.

2

Einleitung

gegeben wird, wer seine Produzenten sind und in welchem Verhältnis diese zur Gesellschaft stehen. Sie sind geeignet, Fragen von sozial- und kulturgeschichtlicher Bedeutung aber nicht minder von bildungspolitischer Bedeutung zu beantworten.3 Jenseits der großen, europäischen Enzyklopädieverlage gab es in den 1920er und 1930er Jahren Bemühungen, das gesamte Wissen der Welt für alle Menschen zugänglich zu machen. Hier sind sowohl die Überlegungen von Otto Neurath 4 als auch diejenigen von Herbert George Wells5 zu nennen. Sie stellen mit ihren jeweils offen angelegten enzyklopädischen Modellen einen Gegenpol zum zeitgenössischen Regelfall enzyklopädischer Wissensvermittlung dar, denn bei ihnen sollten sowohl der Zugang zum Wissen als auch die Mitarbeit demokratisch organisiert werden. Beide Konzeptionen verweisen auf zivilgesellschaftliche Kernanliegen: die Demokratisierung von Wissen und die Möglichkeit zur selbstbestimmten Beteiligung an der Gesellschaft. Damit sind Neurath und Wells mit ihren enzyklopädischen Idealen in gewisser Hinsicht Vorläufer der im Internet zugänglichen Enzyklopädie Wikipedia. Tatsächlich bieten sich zahlreiche Parallelen in Bezug auf die Konzeption, die Beteiligung und die inhaltlichen Zielsetzung an, die diese Kontinuität berechtigt erscheinen lassen.6 Doch auch wenn die Pläne von Neurath und Wells zukunftsweisend waren, so stehen sie vielmehr noch in einer wesentlich älteren Tradition. Diese fand mit der französische Encyclopédie der République des Lettres des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt, denn dieses Werk diente als Verhandlungsort von Wissen und war das

Vgl. Michel/Herren, Unvorgreifliche Gedanken. Otto Neurath: Die Enzyklopädie als »Modell«, in: Paul Neurath/Elisabeth Nemeth (Hgg.): Otto Neurath oder Die Einheit von Wissenschaft und Gesellschaft (Monographien zur österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte 6), Wien u.a. 1994, S. 382400, hier S. 383; vgl. dazu Elisabeth Nemeth: Otto Neurath's Vision of Science between Utopia and Enyclopedia, in: Dies./Friedrich Stadler (Hgg.): Encyclopedia and Utopia. The Life and Work of Otto Neurath (1882-1945) (Vienna Circle Institute Yearbook 4), Dordrecht, u.a. 1996, S. 7-14, sowie George A. Reisch: Planning Science. Otto Neurath and the »International Encyclopedia of Unified Science«, in: British Journal of the History of Science 27 (1994), S. 153-175. Reisch geht auch auf Kritiker ein, die Neurath vorwarfen, gerade mit seinem Konzept undemokratisch und totalitär zu sein. Herbert George Wells: World Encyclopaedia. Royal Institution of Great Britain Weekly Evening Meeting, Friday, November 20th, 1936, in: Ders.: World Brain. H. G. Wells on the future of world education. With an introduction by Alan Mayne, Cambridge 1994 [Erstauflage 1938], S. 84f.; vgl. dazu John S. Partington: Building Cosmopolis. The Political Thought of H. G. Wells, Hampshire, Burlington 2003, S. 87-100. Zu ähnlichen Projekten in der Gegenwart vgl. die kritische Einleitung von Alan Mayne zur Neuauflage von Wells, World Brain, S. 1-70, sowie Bernd Stickfort: Das Internet als enzyklopädische Utopie, in: Tomkowiak (Hg.), Populäre Enzyklopädien, S. 271-295.

Allgemeinwissen und seine Speichermedien: Ausgangsüberlegungen

3

Produkt eines wissenschaftlichen, intellektuellen Netzwerkes.7 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts nahm die Vermittlung von Wissen in Enzyklopädien durch Gelehrte wieder ab. Sie professionalisierte sich insofern, als dass nun spezielle Verlage wie das Bibliographische Institut oder F. A. Brockhaus die Verbreitung von Wissen übernahmen. Damit war das Lexikon vom Geist einer aufgeklärten Elite losgelöst und wurde zum Gegenstand erfolgreicher Firmengeschichten und Unternehmerbiographien. Die europäischen Nachschlagewerke des 19. Jahrhunderts verband jetzt immer weniger die Vorstellung, wissenschaftliches in allgemeines Wissen zu transformieren, wie dies noch bei der Encyclopédie oder etwa der voluminösen Allgemeinen

Encyclopädie

der Wissenschaften

und Künste (1818-1889) von Ersch

und Gruber der Fall gewesen war. Enzyklopädien nahmen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vielmehr eine nur schwer zu durchschauende Position ein, da sie die Macht hatten, sowohl das zu Wissende als auch dessen Interpretation festzulegen. Sie präsentierten einen gezielt auf die jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse abgestimmten und deswegen beschränkten Wissenskanon. Es ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit, herauszufinden, welche Akteure und Strukturen diesen beschränkten Kanon im >Dritten ReichDritten Reich< noch in der SBZ/DDR noch in der demokratisch organisierten Schweiz ein offenes Medium zur Vermittlung von Wissen (und Wissenschaft) waren, sondern der politisch motivierten Einflussnahme auf die Allgemeinbildung der jeweiligen Bevölkerung dienten. Außerdem verfolgten die Werke nationale Ziele auf einer globalen Ebene. Sie brachten nationale Perspektiven in ein als allgemein gültig deklariertes Werk ein und setzten zugleich auf deren globale Verbreitung. Um dies zu zeigen, richtet sich das Augenmerk der vorliegenden Arbeit weniger auf den Inhalt der Werke, als vielmehr auf die sich hinter den Enzyklopädien verbergende »Politik des Wissens«: auf die an der Deutungsmacht beteiligten Akteure und auf die Bedingungen, unter denen die als allgemein ausgewiesenen Wissensinhalte in den Wissensspeicher kamen. Nicht ausschließlich, aber vorwiegend entlang der beiden großen deutschen Enzyklopädieverlage F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut wird im Folgenden nach denjenigen Strukturen und Zum Vergleich der Konzeptionen von Diderot und Neurath vgl. Hans-Joachim Dahms: Vienna Circle and French Enlightenment. A Comparison of Diderots »Encyclopédie« with Neuraths »International Encyclopedia of Unified Sciences«, in: Nemeth/Stadler (Hgg.), Encyclopedia and Utopia, S. 53-61 sowie Walter Tega: Atlases, Cities, Mosaics. Neurath and the Encyclopédie, in: ebd. S. 63-77.

Einleitung

4

Personen gefragt, die an der Produktion und Verbreitung von so genanntem Allgemeinwissen beteiligt waren. Mit den hier thematisierten Verlagen handelt es sich um zwei Unternehmen, die bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges jeweils in Leipzig ansässig waren und dann in der SBZ/DDR enteignet wurden. Beide Verlage siedelten sich daraufhin in der westlichen Besatzungszone an und etablierten ihre Firmen in der Bundesrepublik neu.8 In der DDR wurden sie unter ihrem alten Namen als so genannte Volkseigene Betriebe weitergeführt.

Forschungsüberblick9 Bei den Recherchen für dieses Buch haben sich Quellen aufgetan, aus denen zwischen dem Leipziger F. A. Brockhaus Verlages und der Library of Congress in Washington Geschäftsbeziehungen hervorgehen - und zwar inmitten des Kalten Krieges. Diese, freilich dünn gesäten Dokumente, lassen sich nicht im Kontext bisheriger Forschungen interpretieren. Um die Quellen dennoch angemessen zu Wort kommen zu lassen, hat es sich als sinnvoll erwiesen, einen gesonderten Literaturüberblick über die Geschichte des Buch- und Verlagswesen in der SBZ/DDR zu geben. In Kapitel IV. 1 werden spezifische Probleme der Historiographie für diese Zeit angeschnitten. Allgemeine Enzyklopädien sind insbesondere für drei Themenbereiche von Erkenntnisinteresse. Sie sind erstens für begrifFsgeschichtliche Studien zentral, sie geben zweitens Aufschluss darüber, wie nationale Identitäten in vermeintlich allgemeinen Wissensbeständen konstruiert werden, und sie sind drittens Medien, an denen grenzübergreifende, globale Transfers analysiert werden können. Dabei stehen sich die letzten beiden Punkte keineswegs diametral gegenüber, sondern sie ergänzen sich vielmehr. Die historiographischen Traditionen dieser drei Bereiche

1984 fusionierten beide Verlage zur Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim. 2009 trennte sich die AG Bibliographisches Institut vom Namen F. A. Brockhaus in der Firmenbezeichnung und verkaufte die Rechte an die Bertelsmann AG. Für aktuelle Forschungen zu Enzyklopädien generell sei auf die umfangreiche Bibliographie des Zürcher Forschungsprojektes »Allgemeinwissen und Gesellschaft«, (22.01.2010) sowie in Auswahl auf mehrere zentrale Sammelbände und Monographien verwiesen: Arndt Engelhardt/Ines Predöhl (Hgg.): Themenschwerpunkt »Kaleidoscopic knowledge: on Jewish and other encyclopedias«, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 9 (2010); Franz Michael Eybl (Hg.): Enzyklopädien der frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung, Tübingen 1995; Michel/Herren/ Rüsch, Allgemeinwissen und Gesellschaft; Christel Meier (Hg.): Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit (Münstersche Mittelalter-Schriften 78), München 2002; Tomkowiak (Hg.), Populäre Enzyklopädien.

Forschungsüberblick

5

sollen im Folgenden diskutiert werden, um im Anschluss daran einen Überblick über die vorliegenden Verlagsgeschichten sowie über die Forschungen zur nationalsozialistischen und schweizerischen Buchgeschichte zu geben. Reinhart Koselleck hatte in den 1960er Jahren betont, dass eine »Kontroll-Lektüre« der großen Lexika nicht nur zur »Wiedergabe, sondern auch zur Interpretation der Begriffsgeschichte« Pflicht sei.10 Die Geschichtlichen Grundbegriffe hatten sich den allgemeinen, »historisch gewordenen Lexika und Enzyklopädien«11 als Quellengattung zugewandt, um mit ihrer Hilfe die politische und soziale Sprache der neueren Zeit in Deutschland zu analysieren. Begründet wurde dieser Ansatz mit der Hypothese, dass sich in allgemeinen Enzyklopädien »das Wissen und das Selbstverständnis einer Generation niedergeschlagen« habe.12 Die Annahme, dass in den Werken paritätisch die Erkenntnisse »erst der gelehrten, dann der gebildeten Welt, schließlich der publizistisch erfassten Öffentlichkeit«13 zur Sprachen kommen, geht davon aus, dass sich in allgemeinen Nachschlagewerken dasjenige Wissen niederschlägt, das zuvor andernorts ausgehandelt wurde. In dieser Auffassung sind Enzyklopädien lediglich Sammelbecken und Speicher eines längstens abgesicherten und gesellschaftlich ohnehin für gültig befundenen Wissens. Diesem begriffsgeschichtlichen Ansatz war in den 1950er Jahren die Zeitgeistforschung vorausgegangen, die Enzyklopädien zwar für einen anderen Themenbereich nutzte, ihnen aber die gleiche, an der Entstehung von Wissen unbeteiligte Rolle zuschrieb.14 Hans-Joachim Schoeps betrachtete Enzyklopädien als Quellen, mit denen sich das »Lebensgefühl einer Generation« am zuverlässigsten erschließen ließe, da sie dem 10

Reinhart Koselleck: Richtlinien für das »Lexikon Politisch-Sozialer Begriffe der Neuzeit«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), H. 1, S. 81-99, hier S. 97. Vgl. dazu auch ders: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz sowie einem Nachwort von Carsten Dutt, Frankfurt a. M. 2006 sowie Ders.: Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels, in: Hans Erich Bödeker (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 14), Göttingen 2002, S. 29-47. Hans Ulrich Gumbrecht, damaliger Mitarbeiter der Geschichtlichen Grundbegriffe, reflektierte unlängst über die Begriffsgeschichte, Ders.: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006.

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Koselleck: Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe 1, S. XIII-XXVII, hier S. XXV. Ebd. S.XXIVf. Ebd. S. XXV. Hans-Joachim Schoeps: Was ist und was will die Geistesgeschichte. Über Theorie und Praxis der Zeitgeschichtsforschung, Frankfurt a.M. 21970 [Erstauflage 1959]. Mit Schoeps orientierte sich auch Gudrun Mackh an den >objektiven< Enzyklopädien, vgl. Dies.: Wandlungen in der gesellschaftlichen Stellung der Frau, abgelesen am Auflagenvergleich der Brockhaus Enzyklopädie und anderer Lexika, Diss. Univ. Erlangen-Nürnberg, Nürnberg 1970.

12 13 14

6

Einleitung

damaligen »Leser allgemeine und für seine Zeit gültige Erkenntnisse« dargeboten hätten.15 Schoeps verfolgte mit einem mentalitätengeschichtlichen Zugriff ausgewählte Stichworte entlang der verschiedenen Auflagen des Brockhaus'. Dabei sprach er den Werken einen »höchstmöglichen Grad an Objektivität«16 zu und sah sie von hohem Erkenntniswert, um Veränderungen eines Wirklichkeitsbewusstseins zu untersuchen.17 Insbesondere die Begriffsgeschichte hat einen außerordentlich großen Beitrag dazu geleistet, historische Gegebenheiten und Phänomene sprachlich sowie sozial und kulturell zu kontextualisieren. In Bezug auf Enzyklopädien vernachlässigt der begriffsgeschichtliche Ansatz allerdings, dass sich hinter der Entstehung dieser Werke ein dichtes Geflecht von zivilgesellschaftlichen Akteuren, ökonomischen Interessen und politischen Ambitionen verbirgt. Er blendete aus, dass Enzyklopädien möglicherweise sogar die Macht haben, Standards und Normen des Wissens zu beeinflussen und dass sie zum Verhandlungsort von Wissen werden können. Eine positivistische Sichtweise auf Enzyklopädien läuft Gefahr, den Möglichkeiten der Textsorte, nämlich ein bestimmtes Wissen, festzuschreiben und zu platzieren, anderes hingegen auszublenden und zu verschweigen, unreflektiert aufzusitzen. Für eine differenzierte Perspektive auf das Problem von Objektivität und Wissensplatzierung haben in den 1970er und 1980er Jahren neben vereinzelten Historikern insbesondere Politikwissenschaftler und Soziologen gesorgt. Sie legten Studien vor, mit denen sie die begriffsgeschichtlichen Prädispositionen bezüglich Enzyklopädien eher indirekt als gezielt relativierten. Andreas Dörner hat Anfang der 1980er Jahre die politische Lexik in Wörterbüchern untersucht und einen Beitrag zur politischen Kulturforschung geleistet. Deutlich formulierte er: »Wörterbücher bieten mit Sicherheit keine >authentische Darstellung des Wortschatzes^ wie Duden-DUW [gemeint ist die Auflage von 1983, IP] von sich glauben machen will, sondern sie konstruieren eine relativ eigenständige Textwelt«.18 15

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Hans-Joachim Schoeps: Geistesgeschichte im Spiegel des Grossen Brockhaus, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 5 (1953), S. 174-178, hier S. 174; vgl. auch Schoeps Fortführung dieses Aufsatzes in: ebd. 7 (1955), S. 342-350 (Teil II) und ebd. 10 (1958), S. 82-85 (Teil III). Ebd. 5 (1953), S. 174. Von diesem Ansatz zeigte sich auch der damalige Chefredakteur von FAB, Karl Pfannkuch, beeindruckt, vgl. Ders.: Zeitgeist um die Jahrhundertwende. Methodisches - Philosophisches - Literarisches, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 14 (1962), S. 98-123. Andreas Dörner: Politische Lexik in deutschen und englischen Wörterbüchern. Metalexikographische Überlegungen und Analysen in kulturwissenschaftlicher Absicht, in: Ders./Gregor Meder: Worte, Wörter, Wörterbücher. Lexikographische Beiträge zum Essener Linguistischen Kolloquium, Tübingen 1992, S. 123-145, hier S. 128. Aufschlussreich für den Zusammenhang von Sprache und Macht ist darüber hinaus die soziologi-

Forschungsüberblick

7

Dörner gab zahlreiche Anregungen für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der historischen Sozialwissenschaft und der politikwissenschaftlichen Kulturforschung, diese wurden jedoch kaum aufgegriffen. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive beschrieb Utz Haltern Mitte der 1970er Jahre die Politisierung und Nationalisierung von Wissen in allgemeinen deutschsprachigen Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts, womit er ebenfalls die begriffsgeschichtlichen Überlegungen relativierte.19 Ausgehend von Jürgen Habermas Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit thematisierte Haltern eine Einflussnahme allgemeiner Lexika auf die politische Bildung des Bürgertums und wies den Konversations-Lexika einen national-liberalen Grundkonsens nach. Das politische Sendungsbewusstsein konnte er an den großen, luxuriös ausgestatteten und preisintensiven Ausgaben festmachen, beobachtete aber auch, dass es sich in den kleineren und günstigeren Ausgaben für die unteren Bevölkerungsschichten fortsetzte.20 Halteras frühzeitiger Ansatz ist erst später wieder aufgegriffen worden; Arbeiten, die Enzyklopädien als Ausdruck gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse betrachten und die Bedeutung der Werke für die Herausbildung einer national geprägten Identität thematisieren, sind zumeist jüngeren Datums. Maßgebend ist an dieser Stelle Ulrike Spree, die vor ca. zehn Jahren eine Brücke zwischen den begriffsgeschichtlichen Studien von Koselleck und Fragen nach der Politisierung von Wissen schlug.21 Sie thematisierte in erster Linie Gattungsspezifika deutscher und britischer Enzyklopädien, zugleich fragte sie aber auch nach dem Angebot eines politisch konnotierten Orientierungswissens.22 Spree arbeitete heraus, dass die Intention von allgemeinen Lexika sich zwischen der Vermittlung von Faktenwissen, der Vergewisserung bestimmter Wertvorstellungen und einer spezifischen Form politischer Agitation bewegt: »Lexika leisteten nicht nur einen Beitrag zur politischen Bildung, sondern hatten sich gleichzeitig die Vermittlung von detaillierten Spezialkenntnissen aus allen Wissenschaftsbereichen an ein breites Publikum zum Ziel gesetzt.«23

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sehe Studie Claus Mueller: Politik und Kommunikation. Zur Politischen Soziologie von Sprache, Sozialisation und Legitimation, München 1975. Utz Haltern: Politische Bildung und bürgerlicher Liberalismus. Zur Rolle des Konversationslexikons in Deutschland, in: HZ 223 (1976), S. 61-97. Die Affinität des liberalen Bürgertums zu den Enzyklopädien stellte auch Monika Estermann fest, vgl. dies.: Lexika als biblio-kulturelle Indikatoren. Der Markt für Lexika in der ersten Jahrhunderthälfte, in: Archiv für Geschichte des Buchhandels 31 (1988), S. 247-258. Ulrike Spree: Das Streben nach Wissen. Eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädien in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Diss. Univ. Bielefeld, Tübingen 2000. Ebd. insbes. S. 229-269. Ebd. S. 8.

8

Einleitung

Oftmals angeregt von Benedict Andersons berühmter Studie über die Imagined Communities (1983) sind unlängst Arbeiten entstanden, die nach den Zusammenhängen bei der Festschreibung von Wissen und der Herausbildung nationaler Identitäten fragen. Neben Bildungsvorstellungen thematisieren diese Arbeiten, wie Wertekategorien und gesellschaftliche Normen in die Enzyklopädien Eingang gefunden haben. Innovative Ansätze für die Frage nach Enzyklopädien und ihrem Angebot an Identität stiftendem Orientierungswissen sind in den vergangenen Jahren aus dem interdisziplinären Forschungsprojekt »Allgemeinwissen und Gesellschaft« hervorgegangen, innerhalb dessen an der Universität Zürich mittelalterliche und neuzeitliche Enzyklopädien untersucht wurden.24 Nadine Kavanagh hat in diesem Kontext herausgearbeitet, dass australische Enzyklopädien gerade nach der Unabhängigkeit Australiens vom britischen Empire zur Festigung der nationalen Identität entstanden sind.25 An den zumeist gescheiterten jüdischen Enzyklopädieprojekten des 19. Jahrhunderts konnte Arndt Engelhardt eine enge Verbindung zur Herausbildung eines modernen jüdischen Selbstverständnisses nachweisen, denn neben einer Fundierung der >Wissenschaft des Judentums< sollten sie eine Tradierung und Popularisierung von jüdischem Wissen vornehmen.26 Die in der Zwischenkriegszeit entstandene Encyclopaedia Judaica wiederum stellt er als ein wissenschaftliches und politisches Großprojekt dar, das nicht mehr - wie noch die Werke des 19. Jahrhunderts - eine jüdische Integration favorisierte, sondern eine national geprägte, kollektive Zugehörigkeit konstruieren sollte.27 In diese Forschungstradition stellt sich auch die vorliegende Arbeit, indem sie nach der enzyklopädischen Neuausrichtung bei politischen Brüchen fragt. Dabei liegen weder für die Enzyklopädieprojekte des 19. Jahrhunderts noch für diejenigen des >Dritten Reichest der Schweiz und der SBZ/DDR vergleichbare Studien vor.28

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Allgemeinwissen und Gesellschaft. Enzyklopädien als Indikatoren für die Veränderung der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen, Bildung und Information, . Nadine Kavanagh: Conjuring Australia. Encyclopeidas and the Creation of Nations, Diss. Univ. Zürich, Saarbrücken 2009 sowie Dies.: A Mind-Map of A Nation: The Australien Encyclopedia, in: Michel/Herren/Rüesch, Allgemeinwissen und Gesellschaft, S. 247-273. Arndt Engelhardt: Ordnungen des Wissens und Kontexte der Selbstdefinition - Zur Besonderheit deutsch-jüdischer Enzyklopädieprojekte im 19. Jahrhundert, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 3 (2005), S. 81-100. Arndt Engelhardt: Die »Encyclopaedia Judaica«. Verhandlungen von Deutungshoheit und kollektiver Zugehörigkeit in jüdischen Enzyklopädien der Zwischenkriegszeit, in: Michel/Herren/Rüesch, Allgemeinwissen und Gesellschaft, S. 225-246; vgl. hierzu auch Jeffrey Veidlinger: »Emancipation: See Antisemitism:« The Evreiskaia entsiklopediia and Jewish Public Culture, in: Engelhardt/Prodöhl (Hgg.), Kaleidoscopic knowledge. Lucas Maier hat in der Lizentiatsarbeit an der Universität Basel die Entstehungsbedingungen des »Schweizer Lexikons« thematisiert und im Gegensatz zu mir auch Zugang

Forschungsüberblick

9

Für die bürgerlich-liberale Gesellschaft im Deutschland des 19. Jahrhunderts gehören Untersuchungen zum Verhältnis von bürgerlichen Ordnungs- und Wertvorstellungen und der Festschreibung von Wissen in allgemeinen Enzyklopädien, abgesehen von einigen kleineren Arbeiten, zu einem Forschungsdesiderat. So hat Uwe Puschner die Bemühungen von Konrad Duden um eine orthographische Vereinheitlichung der deutschen Sprache in einen Kontext mit den nationalen und liberalen Überzeugungen nach 1848 gestellt und den Duden als einen deutschen Erinnerungsort thematisiert.29 Für die Festschreibung von nationalen Stereotypen in enzyklopädischen Texten ist die Arbeit von Stephan Scholz zum Polenbild in deutschsprachigen Konversationslexika aufschlussreich.30 Scholz wies einen Zusammenhang zwischen den zeitgenössischen Vorstellungen einer modernen Gesellschaftsordnung als Nationalstaat und deren negativer Spiegelung in den enzyklopädischen Einträgen zu Polen nach. Die politische Situation Polens ließ eine nationalstaatliche Kategorisierung nicht zu, so dass sich in den allgemeinen deutschen Nachschlagewerken häufig Stigmatisierungen und die Rede von einer vorgeblichen polnischen Minderwertigkeit und Rückständigkeit wiederfanden. Der Ansatz von Scholz eröffnet zahlreiche neue Fragestellungen, ließe sich damit doch generell untersuchen, inwiefern vermeintlich allgemeine Enzyklopädien für die Verbreitung eines prätentiösen Wissens sorgten. Die Arbeit von Karsten Behrndt zu den Nationskonzeptionen in deutschen und britischen Enzyklopädien des 18. und 19. Jahrhunderts ist zwar in ihrer Quellenpräsentation detailreich und umfassend, aber Behrndt vermag es nicht, seine Fundstellen interpretierend und analysierend zusammenzuführen.31 Bei Anja zum

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zum Privatarchiv von Gustav Keckeis, dem maßgeblichen Initiator des Werkes, erhalten: Lukas Meier: Wiederaufbau zum Nachschlagen. Das Schweizer Lexikon in sieben Bänden (1945-1948), Lizentiatsarbeit am Historischen Seminar der Universität Basel, betreut durch Prof. Dr. Heiko Haumann und Prof. Dr. Josef Mooser, SoSe 2002 [unveröffentlicht], Die Arbeit ist in der Bibliothek des Historischen Seminars der Universität Basel nachgewiesen (Signatur HS AS 19/539). Mir liegt eine durch den Verf. autorisierte Kopie vor, für die ich ihm herzlich danke. Uwe Puschner: Der Duden, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte III, München 2001, S. 26-39, 690-692; vgl. bezüglich der KonversationsLexika auch: Ders.: »Mobil gemachte Feldbibliotheken«. Deutsche Enzyklopädien und Konversationslexika im 18. und 19. Jahrhundert, in: Literatur, Politik und soziale Prozesse. Studien zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Weimarer Republik, Red. Martin Huber (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Sonderheft 8), Tübingen 1997, S. 62-77. Stephan Scholz: Die Entwicklung des Polenbildes in deutschen Konversationslexika zwischen 1795 und 1945 (Zeitgeschichte - Zeitverständnis 7), Münster 2000. Karsten Behrndt: Die Nationskonzeption in deutschen und britischen Enzyklopädien und Lexika im 18. und 19. Jahrhundert, Diss. Freie Univ. Berlin, Frankfurt a. M. u. a. 2003.

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Einleitung

Hingsts veröffentlichter Magisterarbeit zur Geschichte des Großen Brockhaus war es nicht Gegenstand der Fragestellung, nationale Bezüge herauszuarbeiten, so dass ihre ansonsten sehr hilfreiche Studie an dieser Stelle kaum dafür kritisiert werden kann, den Zusammenhang von nationaler Identität und deren medialer Repräsentation nicht beleuchtet zu haben.32 Übertragen ließe sich die Frage nach der Aushandlung einer nationalen Identität in Enzyklopädien auch auf die deutschsprachigen enzyklopädischen Zeitschriften und Pfennigmagazine, welche die Verlage F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut Mitte des 19. Jahrhunderts als Ergänzungen zu ihren Nachschlagewerken herausgaben. Die enzyklopädischen Zeitschriften mit programmatischen Titeln wie Die Gegenwart oder Unsere Zeit begleiteten und kommentierten nicht nur die Ereignisse um und nach 1848, sie präsentierten sich zugleich als liberale Plattform und fingen die politische Stimmung in Deutschland ein. Ihr Quellenwert für die politische Bildung des Bürgertums lässt sich nur erahnen, denn eine Auswertung der enzyklopädischen Nebenwerke des 19. Jahrhunderts liegt bislang nicht vor.33 Nicht zu vernachlässigen für die Frage nach dem Verhältnis von Enzyklopädien und national ausgerichteten Wissensbeständen mit Blick auf das Deutsche Reich sind die Arbeiten von DDR-Historikern. Sie haben sich gemäß der sozialistischen Bildungsideale auf den mit allgemeinen Lexika verbundenen Volksbildungsanspruch konzentriert, dabei aber sehr wohl die liberalen bürgerlichen Traditionen der beiden in Leipzig ansässigen Unternehmen Bibliographisches Institut und F. A. Brockhaus herausgestellt. Hans Dietrich hat 1985 in einer bislang kaum wahrgenommenen Dissertation den F. A. Brockhaus Verlag als ein »geistiges Zentrum« im 19. Jahrhundert präsentiert und dabei insbesondere thematisiert, wie sich in den Enzyklopädien Vorstellungen von nationaler Identität wiederfinden.34 32

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Anja zum Hingst: Die Geschichte des Großen Brockhaus. Vom Conversationslexikon zur Enzyklopädie (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem deutschen Bucharchiv München 53), Wiesbaden 1995. Otmar Seemann hat einen dankenswerten Index erstellt, vgl. Otmar Seemann: Enzyklopädische Information im 19. Jahrhundert. Gesamtindex »Zeitgenossen« - »Die Gegenwart« - »Unsere Zeit« (Die Ergänzungswerke zum Brockhaus-Konversationslexikon), München 1995. Vgl. auch Hugo Wetscherek (Hg.): Bibliotheca lexicorum. Kommentiertes Verzeichnis der Sammlung Otmar Seemann. Eine Bibliographie der enzyklopädischen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart, unter besonderer Berücksichtigung der im deutschen Sprachraum ab dem Jahr 1500 gedruckten Werke, bearb. von Martin Peche, Wien 2001. Die Arbeiten Seemanns sind leider oft unzureichend belegt, ζ. B. Otmar Seemann: Konversationslexika und Enzyklopädien in der Frühzeit des Brockhaus-Lexikons (1809-1820), in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 18/19 (1993/94), S. 52-60. Hans Dietrich: Der Verlag F. A. Brockhaus als ein geistiges Zentrum des liberalen deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, Diss. Univ. Leipzig, Leipzig 1985; vgl. für das

Forschungsüberblick

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Tatsächlich befragten Historiker aus dem so genannten Ostblock Enzyklopädien weniger nach einer Vermittlung von vermeintlich allgemeinem Wissen, als vielmehr nach deren nationaler Prägung.35 Darüber hinaus hat Tamara N. Rumjanceva auf die weiten europäischen Verflechtungen des F. A. Brockhaus Verlages verwiesen und das Netzwerk des Verlages zwischen Deutschland und Russland thematisiert.36 Zwar hat sie - eventuell auf Grund von ideologischen Vorgaben die im St. Petersburger Brockhaus & Efron Verlag publizierte jüdische Enzyklopädie vollständig ausgeblendet, nichtsdestotrotz vermochte sie es aber, die Unternehmungen des F. A. Brockhaus Verlages im deutsch-russischen Wissenschafts- und Intellektuellenmilieu der Jahrhundertwende zu verorten.37 Im Zuge neuerer methodischer Überlegungen zum Kulturtransfer und zu transkulturellen Austauschprozessen sind Enzyklopädien vor einiger Zeit für Fragen nach globalen Verflechtungen und als Transfermedien ins Blickfeld historischer Arbeiten gerückt. Der Begriff des Kulturtransfers wird für historische Beziehungen und Kontakte zwischen Gemeinschaften verwendet, um auf einer Ebene kulturellen und sozialen Austausche Rückschlüsse auf die Wahrnehmung anderer Gemeinschaften zu ziehen.38 Ina Ulrike Paul befragte Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts nach der Rolle, welche die Werke bei der Wahrnehmung fremder Kultu-

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Bibliographische Institut die sich an Jürgen Habermas Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit orientierende Arbeit von Christine Milde: Carl Joseph Meyers »Universum«. Ein Beitrag zur Geschichte der Publizistik des deutschen Vormärz, Diss. Univ. Leipzig, Maschinenmanuskript, Leipzig 1990. Hans-Joachim Diesner/Günter Gurst (Hgg.): Lexika gestern und heute, Leipzig 1976. Tamara Nikolaevna Rumjanceva: Die Firma F. A. Brockhaus und ihre Verbindungen nach Russland. Zur Geschichte der russisch-deutschen Beziehungen auf dem Gebiet des Buchwesens um die Jahrhundertwende, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 102 (1988), S. 491-496. Für das Bibliographische Institut und deren globalen Verflechtungen sind in der DDR ebenfalls kleinere Arbeiten entstanden, die zumeist dessen Netzwerke in die USA thematisieren, vgl. Harri Günther: »Nicht bloß erklären, auch den Leser erwärmen...« 150 Jahre allgemeines Lexikon im Bibliographischen Institut. Teil 1 u. 2, in: Bbl. (Leipziger Ausgabe) 156 (1989), S. 652-654 u. 672-674; Ders.: Bildungskonzeption auf zwei Pfeilern. Meyers Volksbibliothek für Länder-, Völker- und Naturkunde - ein Kompendium der Sachliteratur im 19. Jahrhundert. Aus der Geschichte des Bibliographischen Instituts, Teil 1 u. 2 in: Bbl. (Leipziger Ausgabe) 155 (1988), S. 46-48 u. 83-85. Wegweisend waren Anfang der 1990er Jahre Michel Espagne/Matthias Middell (Hgg.): Von der Elbe an die Seine. Kulturtransfer zwischen Sachen und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert, Leipzig 1993; vgl. zu den Konzeptionen Johannes Paulmann: Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien. Einführung in ein Forschungskonzept, in: Rudolf Muhs/Johannes Paulmann/Willibald Steinmetz (Hgg.): Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Bodenheim 1998, S. 21^t3.

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ren einnahmen.39 Und Ulrike Spree hat den Ansatz des Kulturtransfers für die deutschen und britischen Enzyklopädien und insbesondere für die Verbindungen zwischen dem Brockhaus und Chambers's Encyclopaedia ausgebaut.40 Unlängst sind schließlich im Zuge dieser neueren methodischen Überlegungen zu transkulturellen Verflechtungen jüdische Enzyklopädien auf ihre Verbindungen zu anderen, vermeintlich allgemeinen Enzyklopädien befragt worden. Dabei stellte sich heraus, dass jüdische und andere Wissenswelten sich wesentlich stärker aufeinander beziehen lassen, als dies bislang angenommen wurde.41 Es lässt sich resümieren, dass der Quellenwert, den Enzyklopädien innerhalb geisteswissenschaftlicher Forschungen zugemessen wird, in den vergangenen Jahren drei großen Wandlungsprozessen unterlag. In den 1960er und 1970er Jahren nutzen begriffsgeschichtliche Arbeiten Enzyklopädien, um sie nach der zeitgenössischen politischen und sozialen Sprache zu befragen. Allerdings wurden dabei die Begleitumstände, unter denen das Wissen in seinen Speicher kam, vernachlässigt, so dass derartige Studien Gefahr laufen, die Deutungsmacht von Enzyklopädien auszublenden. Bereits wenige Zeit später thematisierten Politikwissenschaftler, Soziologen und Historiker vor allem an den Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts die Politisierung von enzyklopädischem Wissen und grenzten sich implizit von der Begriffsgeschichte ab. In diesem Zuge ist nach dem Wert der Werke für die Herausbildung einer nationalen Identität oder kollektiven Zugehörigkeit gefragt worden. Diese Arbeiten weisen darauf hin, dass Enzyklopädien eine Deutungshoheit über Wissen besitzen und somit gleichsam die Macht haben, gesellschaftliche Normen und Standards festzulegen. Die jüngste Forschergeneration schließlich thematisiert Enzyklopädien als Transfermedien für den Fluss von Ideen, Werten und Symbolen in einem globalen Kontext. Den jüngeren Arbeiten ist gemein, dass sie die Enzyklopädie als Speichermedium in den Mittelpunkt stellen und aus kulturhistorischer Perspektive das gebotene Wissen und vor allem seine Produzenten untersuchen. Bereits Ulrike Spree hat festgestellt, dass die Geschichte von allgemeinen Lexika oft in Verlagsfestschriften erzählt wird, die nicht selten im Auftrag des Unternehmens geschrieben werden und eine erfolgreiche bürgerliche Familien- bis Patri-

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Ina Ulrike Paul: Stichwort »Europa«. Enzyklopädien und Konversationslexika beschreiben den Kontinent (1700-1850), in: Dieter Albrecht/Karl Otmar Freiherr von Aretin/Winfried Schulze (Hgg.): Europa im Umbruch 1750-1850, München 1995, S. 29-50 sowie Dies.: »Wache auf und lies...«. Zur Tradierung von Nationalstereotypen in europäischen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, in: Tomkowiak (Hg.), Populäre Enzyklopädien, S. 197-220. Ulrike Spree: »The Translation of Useful Knowledge«. Allgemeine Enzyklopädien als Medien der Wissensübermittlung, in: Muhs/Paulmann/Steinmetz, Aneignung und Abwehr, S. 71-88. Engelhardt/Prodöhl, Kaleidoscopic knowledge.

Forschungsüberblick

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archengeschichte präsentieren.42 Diese zahlreich vorhandenen Arbeiten künden in der Tat vom Bemühen um eine mit dem Unternehmen abgestimmte Geschichtsschreibung.43 Einige Festschriften besitzen jedoch trotz dieser Ausrichtung einen unschätzbaren Wert, da sie auf Quellen zugreifen konnten, die heutzutage oftmals nicht mehr existent sind. Von einem Luftangriff auf Leipzig im Dezember 1943 war vor allem das Verlagsviertel der Stadt betroffen und auch die Firmengebäude der beiden hier im Zentrum des Interesses stehenden Verlage wurden dabei weitgehend zerstört. Zwar befinden sich vor allem zum F. A. Brockhaus Verlag zahlreiche Archivmaterialien im Leipziger Staatsarchiv, dennoch aber ist die Firmengeschichte von Eduard Brockhaus von 1905 unentbehrlich für die Geschichte der Firma im 19. Jahrhundert.44 Für das Bibliographische Institut ist aus dem gleichen Grund die Verlagsgeschichte von Johannes Hohlfeld von 1926 noch immer äußerst aufschlussreich.45 Spätere Firmengeschichten sparen in ihren Darstellungen oftmals die Zeit des Nationalsozialismus aus. Obwohl die nationalsozialistische Politik im Bereich des Buch- und Verlagswesens bereits vielfach Gegenstand historischer Forschungen war, hat eine kritische Auseinandersetzung der (seit 1984 vereinigten) Verlage mit ihrer Vergangenheit in der Zeit des Nationalsozialismus bislang kaum stattgefunden. Das Standardwerk für die Literaturpolitik im >Dritten Reich< ist die Arbeit von Jan-Pieter Barbian, der die Zensurmaßnahmen und die vielschichtige Interessenlage der beteiligten Behörden aufgeschlüsselt hat.46 Die Geschichte des Börsen-

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Spree, Streben nach Wissen, S. 13. Daneben signalisieren die Veröffentlichungen anlässlich der Geburtstage von Mitgliedern der Firmenleitung eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung des jeweiligen Unternehmens, etwa Heinrich Brockhaus/Heinrich Eduard Brockhaus/Heinrich Rudolf Brockhaus: Die Firma F. A. Brockhaus in Leipzig zum 100-jährigen Geburtstage von Friedrich Arnold Brockhaus, 4. Mai 1872, Leipzig 1872; Dr. c. h. Hans Brockhaus Fünfundsiebzigster Geburtstag. Als Handschrift gedruckt, Wiesbaden 1964; Johannes Hohlfeld: Hundert Jahre Bibliographisches Institut. Gotha - Hildburghausen - Leipzig 18251926, Leipzig 1926; Bruno Mariacher (Hg.): Dichterisch wohnet der Mensch. Briefe, Erinnerungen und Beiträge zum siebzigsten Geburtstag von Gustav Keckeis, Zürich 1954. Heinrich Eduard Brockhaus: Die Firma F. A. Brockhaus von der Begründung bis zum hundertjährigen Jubiläum 1805-1905, Leipzig 1905. Johannes Hohlfeld: Das Bibliographische Institut. Festschrift zu seiner Jahrhundertfeier, Leipzig 1926. Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im >Dritten ReichDritten Reich< entstanden, so dass die Rahmenbedingungen und die politische Akteure bekannt sind. Darüber hinaus sind auch gut fundierte Firmengeschichten entstanden, die die vielschichtigen Grenzen zwischen Anpassung und Zwang auf Ebene der Unternehmen ausloten. So ist etwa die Arbeit der Unabhängigen Expertenkommission zur Erarbeitung der Geschichte des C. Bertelsmann Verlages von großem, übergreifendem Wert für die Erforschung des nationalsozialistischen Buchwesens.50 Der

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bau, Funktion und rechtliche Grundlagen einer Körperschaft des öffentlichen Rechts im nationalsozialistischen Regime, Diss. Univ. Bonn, Aachen 1995. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels 1825-2000. Ein geschichtlicher Aufriß, hg. im Auftrag der Historischen Kommission von Stephan Füssel, Georg Jäger, Hermann Staub, Frankfurt a. M. 2000, (insbes. die Texte von Jan-Pieter Barbian: Der Börsenverein in den Jahren 1933 bis 1945, S. 91-117 sowie Reimar Riese: Der Börsenverein in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik, S. 118-160) vgl. zum Börsenverein auch: Reimar Riese: Der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1945-1990. Stationen seiner Entwicklung, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 10 (2000), S. 174-248 sowie Thomas Bille: Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1945-1948. Aspekte der Verlagspolitik in der sowjetischen Besatzungszone, in: ebd. 2 (1992), S. 165-208; Otto Seifert hat im Gegensatz zu den vorher genannten Studien unsauber und generalisierend gearbeitet: Otto Seifert: Die große Säuberung des Schrifttums. Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1933 bis 1945, Schkeuditz 2000. Die Rezension von Jan-Pieter Barbian (Misslungener Versuch, (3.7.2001)) ist in ihrer Kritik zutreffend. Wenig sorgfaltig ist auch Otto Seifert: »Falle der eiserne Vorhang durch den Einmarsch der Russen, so ergebe sich vielleicht ein ost- und ein westdeutscher Börsenverein...«. Der Buchplatz Leipzig im Frühjahr 1945, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 10 (2000), S. 143-174. Edelgard Bühler/Hans-Eugen Bühler: Der Frontbuchhandel 1939-1945. Organisationen, Kompetenzen, Verlage, Bücher (Archiv für Geschichte des Buchwesens 3), Frankfurt a. M. 2002. Jürg Zbinden: Sternstunden oder verpasste Chancen. Zur Geschichte des Schweizer Buchhandels 1943-1952, Diss. Univ. Zürich, Zürich 1995; Martin Dahinden: Das Schweizerbuch im Zeitalter von Nationalsozialismus und Geistiger Landesverteidigung, Diss. Univ. Zürich, Zürich 1987. Saul Friedländer u. a. (Hgg.): Bertelsmann im >Dritten ReichDritten Reiches< thematisieren bislang noch nicht vor. Trotz der vielfachen Anregungen werden die Zeit des Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit, für die hier im Zentrum des Interesses stehenden Verlage, in den mehr oder weniger professionell gearbeiteten Verlagsgeschichten zumeist nur marginal oder mit dem Bedürfnis einer Rechtfertigung dargestellt. Für das Bibliographische Institut hat Heinz Sarkowski in den 1970er Jahren eine Verlagsgeschichte vorgelegt, in der er die Unternehmensleitung für die Jahre von 1933 bis 1945 als fremdbestimmt und ohne Spielraum zum selbständigen Agieren darstellte.52 Insbesondere das zwischen 1936 und 1942 erschienene Meyers Lexikon unterlag in seiner Lesart vollständig dem Einfluss der Zensurbehörden. Die nationalsozialistischen Verflechtungen der Unternehmensleitung sowie ihre umfangreichen Geschäftsbeziehungen zur Wehrmacht sparte Sarkowski vollständig aus. Auf Seiten der sozialistischen Firmenleitung waren die Wahrung des weltbekannten Verlagsnamens und die Positionierung der eigenen enzyklopädischen Tätigkeit als Anliegen der Volksbildung mit Rückbezug auf das 19. Jahrhundert so attraktiv, dass der Volkseigene Betrieb Bibliographisches Institut ebenfalls eine Firmengeschichte erarbeiten ließ. Eine zeitgleich mit der Herausgabe von Meyers neuem Lexikon (1961-1969), dem ersten großen allgemeinen Lexikon der DDR, erschienene Festschrift dokumentiert die Absicht der DDR-Historiographie, Bildungsideale zu tradieren und sich in deren Nachfolge zu stellen.53 Allerdings wird in dieser Festschrift die Geschichte des Verlages im >Dritten Reiches< kaum berücksichtigt. In der aktuellen Firmengeschichte des F. A. Brockhaus Verlages präsentiert Thomas Keiderling reich illustriert die Bandbreite des unternehmerischen Schaf-

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Die >rechte Nation< und ihr Verleger. Politik und Popularisierung im J. F. LehmannsVerlag 1890-1979, Berlin 2002. Der Vollständigkeit halber sei hier auch auf die wenig aufschlussreiche Dissertation von Roman Warwas verwiesen, Ders.: Der Verlag J. F. Lehmanns und sein Beitrag zum 3. Reich. Eine Beurteilung anhand der Monographien des Verlages von 1933-1945, Diss. med. HS Hannover 2002. Friedländer (Hgg.), Bertelsmann, hier S. 422-424. Vgl. zum BI im Zweiten Weltkrieg insb. Kap. II.3 dieser Arbeit. Heinz Sarkowski: Das Bibliographische Institut. Verlagsgeschichte und Bibliographie 1826-1976, Mannheim, Wien, Zürich 1976. Karl-Heinz Kalhöfer (Hg.): 125 Jahre Meyers Lexikon 1839-1964, Leipzig 1964.

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Einleitung

fens im 20. Jahrhundert.54 Seine Darstellung zu den Verlagsgeschäften während der NS-Zeit ist stark von der Annahme einer Hilf- und Ausweglosigkeit der Firma gekennzeichnet, die in gewisser Hinsicht auch gegeben war. Zugleich vermag er es jedoch kaum, die Situation des Verlages umfassend zu beleuchten, was sicherlich auch der Kürze der Darstellung geschuldet ist.55 Es sei abschließend ein Wort zu den zahlreichen populärwissenschaftlichen Publikationen erlaubt. Der Umfang publikumswirksamer Veröffentlichungen zu Enzyklopädien und ihren Verlegern ist immens. Bereits in den 1860er und 1870er Jahren berichtete das Familienblatt Daheim über die Entstehung eines Konversations-Lexikon.56 Dieses gesellschaftliche Interesse an den Werken erstreckt sich bis in die Gegenwart, so dass Brockhaus und Meyer immer wieder Gegenstand populärer Veröffentlichungen sind.57

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Thomas Keiderling (Hg.): F. A. Brockhaus 1905-2005, Leipzig, Mannheim 2005. Keiderling orientiert sich für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts stark an der vorhergehenden Festschrift von Arthur Hübscher: Hundertfünfzig Jahre F. A. Brockhaus 1805-1955, Wiesbaden 1955. Vgl. auch Thomas Keiderling: Die Betriebsfeiern bei F. A. Brockhaus. Wirtschaftliche Festkultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Beucha 2001, in der er zwar die Brockhaus'schen Feiern und Feste im >Dritten Reich< beschreibt, aber jegliche Einordnung in nationalsozialistische Festkultur und deren ideologische Symbolhaftigkeit verweigert. Wie ein Konversationslexikon gemacht wird, in: Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen 20 (30.8.1879), S. 770-772; Deutsche Buchhändler III. Meyer von Hildburghausen, in: ebd. 4 (2.5.1868), S. 491^94 sowie 4 (9. Mai 1868), S. 504-506. Eine Auswahl: Werner Bartens/Martin Halter/Rudolf Walther: Letztes Lexikon. Mit einem Essay zur Epoche der Enzyklopädien, Frankfurt a. M. 2002; Adalbert Brauer: Geschichte, Schicksal und Wert älterer und neuerer »Konversationslexika«, in: Aus dem Antiquariat. Beilage zum Bbl. (Frankfurter Ausgabe) 8 (1983), S. A l - A l l ; Erich Carlsohn: Lebensbilder Leipziger Buchhändler. Erinnerungen an Verleger, Antiquare, Exportbuchhändler, Kommissionäre, Gehilfen und Markthelfer, Meersburg am Bodensee 1987, S. 25-29 (Bibliographisches Institut) u. S. 31-34 (F. A. Brockhaus); Christine Giel: Das Bibliographische Institut, in: Andreas Herzog (Hg.): Das literarische Leipzig. Kulturhistorisches Mosaik einer Buchstadt, Leipzig 1995, S. 224f.; Erhard Hexelschneider: Der Brockhaus Verlag und die Slawen, in: ebd. S. 162f.; Karl-Heinz Kalhöfer: Leben und Werk deutscher Buchhändler. Leipzig 1965, S. 50-56 (Friedrich Arnold Brockhaus) u. S. 82-98 (Carl Joseph Meyer); Ernst Herbert Lehmann: Geschichte des Konversationslexikons, Leipzig 1934; Werner Lenz: Kleine Geschichte großer Lexika. Ein Beitrag zum internationalen Jahr des Buches, Gütersloh u.a. 1972; Gerhard Menz: Deutsche Buchhändler. 24 Lebensbilder führender Männer des Buchhandels, Leipzig 1925, S. 83-100 (Carl Joseph Meyer) u. S. 145-162 (Das Haus Brockhaus); Rudolf Walther (Hg.): Brockhaus - was alte Lexika zu sagen haben. Von Männlein & Weiblein, Tüftlern & Erfindern, Leib & Seele. Ein amüsanter Streifzug durch das volle Menschenleben, Leipzig, Mannheim 2000.

Fragestellung

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Fragestellung Die »Politik des Wissens« argumentiert, dass allgemeine deutsche Enzyklopädien, die im >Dritten ReichDritten ReichEigene< in Abgrenzung vom >Anderen< zu betonen. Zwar erheben Enzyklopädien den Anspruch, einen als allgemein gültig definierten Wissenskanon wertfrei zu speichern und einem großen Leserkreis zugänglich zu machen, aber das dargebotene Wissen unterliegt immer gewissen Auswahlkriterien. Es muss von einem bestimmten Personenkreis als dafür würdig befunden werden, Eingang in den Wissensspeicher zu finden, oder um eben umgekehrt explizit als überflüssig und als zu löschend definiert zu werden. Durch den Vorgang des Ein- und Aussortierens von Wissen sind die in Enzyklopädien dargebotenen Informationen nur noch vermeintlich allgemein, und aus dem insgesamt vorhandenen Wissen wird mittels der Enzyklopädie ein zu Wissendes. Diese Aushandlungsprozesse verlaufen in Diktaturen und Demokratien freilich verschieden, dennoch wird an sie jeweils die Vorstellung herangetragen, zu einem gesellschaftlichen Konsens beizutragen. Die in Hypertexten versteckte Art der Wissensvermittlung diente nicht nur in der NS-Zeit und in der SBZ/DDR der politisch motivierten Beeinflussung und

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In Anlehnung an zwei Plädoyers für die Pluralität historiographischer Perspektiven: Jost Dülffer: Europäische Zeitgeschichte - Narrative und historiographische Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), S. 51-72 sowie Matthias Middell: Europäische Geschichte oder »global history« - »master narratives« oder Fragmentierung? Fragen an die Leittexte der Zukunft, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hgg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 214-252. Jürgen Kocka: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Herrmann Weber zum 75. Geburtstag, in: Deutschland Archiv 36 (2003), S. 764-769, hier S. 769.

Methodische Überlegungen

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Instrumentalisierung von Wissen, sondern auch in der Schweiz. Zentral für die Herausgabe aller thematisierten Werke waren neben unternehmerischen immer auch kulturpolitische Interessen. Im Nationalsozialismus und in der SBZ/DDR waren diese von ideologischen Vorgaben und Eingriffen durch die Zensur gekennzeichnet. Bei der Umsetzung hatten die zivilgesellschaftlichen Akteure sowie die Unternehmen selbst im >Dritten Reich< noch wesentlich größere Freiräume als später in der SBZ/DDR. In der Schweiz wiederum fehlte zwar die behördlich verordnete Ausrichtung enzyklopädischer Wissensvermittlung, allerdings stand auch dieses Enzyklopädieprojekt nicht losgelöst von aktuellen kulturpolitischen Bedürfnissen. Staatliche Akteure hatten ein nachdrückliches Interesse an der Verwirklichung eines national ausgerichteten Lexikons, das explizit als allgemeines Wissen auftreten sollte, um weit über die schweizerischen Grenzen hinaus nicht nur gültig zu sein, sondern auch, um die Rolle der Schweiz im Europa der Nachkriegszeit zu stärken.

Methodische Überlegungen Seit einigen Jahren lenken die Debatten über methodische Vorgehensweisen bei historischen Studien den Blick verstärkt auf transnationale Prozesse. Dabei rücken zunehmend Fragen nach den Verflechtungen zwischen verschiedenen Akteuren und ihre gegenseitige Beeinflussung in den Mittelpunkt des Interesses.60 Das Ziel neuerer Arbeiten ist es, mithilfe der Visualisierung von Netzwerken, den Nationalstaat als narrativen Rahmen zu öffnen; Teleologien sollen vermieden und neue Forschungsperspektiven gefunden werden.61 Der analytische Ausgangspunkt dieser neueren Ansätze liegt auf dem Fluss von Ideen, Institutionen und Praktiken und 60

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In einer tiefgreifenden Auseinandersetzung hat Ian Tyrrell unlängst die zahlreichen Argumentationslinien zur transnationalen Geschichte der letzten Jahre zusammengeführt und dabei eindrucksvoll gezeigt, wie umfassend der Ruf nach Globalität und Netzwerkanalysen die scientific community nicht nur in den USA, sondern auch in Europa im Moment prägt. Vgl. Ders.: Reflections on the transnational turn in United States history. Theory and practice, in: Journal of Global History 4 (2009), S. 453474. Als besonders gelungene Arbeit unter Einbezug globaler Verflechtungen gelten Christopher Bayly: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914, Frankfurt a.M., New York 2006 sowie Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, München 2009. Für methodische Debatten insb. bei der Verbindung von kulturellen und ökonomischen Fragestellungen vgl. Hartmut Berghoff und Jakob Vogel: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, in: Dies. (Hgg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M. 2004, S. 9-41.

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Einleitung

geht jeweils von konkreten Problemen und Verbindungen aus. Eine derartige Arbeitsweise hat in den letzten Jahren unter Schlagworten wie »histoire croisée«62, »Kulturtransfer«63 und »entangled history«64 in geschichts- und kulturwissenschaftliche Arbeiten Eingang gefunden. Diese neueren Diskurse bilden einen zentralen Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit. Der Reiz dieser Ansätze liegt darin, dass sich mit der Analyse ökonomischer, kultureller und politischer Verflechtungen nationale und kulturelle Grenzen aufbrechen lassen, um globale Entwicklungen konziser zu beschreiben. Dabei geht es nicht darum, die Grenzen zu verwischen oder gar aufzulösen, sondern sie transparent zu machen. Mit einer zunehmenden Untersuchung von Transferleistungen, Aneignungsund Abwehrstrategien, Adaptionen und Übersetzungen ging eine vorsichtige Zurückdrängung des historischen Vergleichs einher.65 Auch für die vorliegende Arbeit bietet ein Vergleich nach wie vor zahlreiche Erkenntnismöglichkeiten, etwa wenn es um Gemeinsamkeiten bei der Positionierung und Festschreibung von Wissen in Diktaturen geht. Eine vergleichende Perspektive auf die Vermittlung von Wissen in der SBZ/DDR und dem nationalsozialistischen Deutschland müsste sich jedoch institutionell und strukturell begrenzen und würde sich auf die Anordnungen der staatlichen und parteiamtlichen Gewalt beschränken. Ausgehend von den Herrschaftsinstrumenten würden in erster Linie Zensurmaßnahmen und die ideologische Ausrichtung der Werke untersucht werden. Um allerdings personelle und institutionelle Kontinuitäten in gleicher Weise wie ihre Veränderungen in den Praktiken der Wissensvermittlung umfassend thematisieren zu können, gilt es, Analysekategorien zu wählen, die es vermögen, eine zeitliche und räumliche

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Michael Werner/Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der »histoire croisée« und die Herausforderung des Transnationalen, in: GuG 28 (2002), S. 607-637. Matthias Middell: Kulturtransfer und Historische Komparatistik - Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ 10 (2000), S. 7-41; Jürgen Osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001; vgl. für die Enzyklopädien als Medien des Kulturtransfers Spree: Translation. Sebastian Conrad/Shalini Randeria: Einleitung. Geteilte Geschichten - Europa in einer postkolonialen Welt, in: Dies. (Hgg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M., New York 2002, S. 9-47. Johannes Paulmann: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: HZ 267 (1998), S. 649-685; Hartmut Kaelble: Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt?, in: H-Soz-u-Kult, .

Methodische Überlegungen

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Verbindung zwischen unterschiedlichen Staats- und Gesellschaftsformen aufzubauen.66 Da es nicht um einen systemischen Vergleich der Wissensvermittlung gehen soll, wird die Frage nach Kategorisierung des >Dritten Reiches< und der SBZ/DDR etwa unter den Begriffen Totalitarismus, Diktatur und Politische Religion weitgehend ausgeblendet. An dieser Stelle bietet sich eine pragmatische Vorgehensweise an, nach der die Konzepte jeweils dort angewandt werden sollten, wo sie in besonderem Maße spezifische Erkenntnismöglichkeiten bieten: bezüglich der Funktionsweise und der Organisation von Herrschaft, ihrer Instrumente und Intentionen hat sich der Begriff Totalitarismus durchgesetzt; der Begriff Politische Religion wiederum bietet sich für die Frage nach der Mobilisierung von Trägergruppen sowie für die Beschreibung der quasi religiösen Züge der Ideologie an.67 Tatsächlich scheint der Begriff der Politischen Religion, wie ihn aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive maßgeblich Emilio Gentile aufgearbeitet hat, für die vorliegende Untersuchung am gewinnbringendsten, weil er auf die Mechanismen der Ideologie abzielt.68

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Zum geschichtswissenschaftlichen Verständnis von Transnationalisierungsprozessen vgl. neben dem bereits erwähnten Aufsatz von Tyrrell, Reflections, für die deutschsprachige Geschichtswissenschaft insbes. Eckart Conze: Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension in der Internationalen Geschichte, in: Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hgg.): Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse Aussichten (Studien zur Internationalen Geschichte 10), München 2000, S. 117-157; Hartmut Kaelble, Martin Kirsch, Alexander Schmidt-Gernig: Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M., New York 2002, S. 7-33; Jürgen Osterhammel: Transnationale Gesellschaftsgeschichte. Erweiterung oder Alternative?, in: GuG 27 (2001), S. 464-479; Albert Wirz: Für eine transnationale Gesellschaftsgeschichte, in: GuG 27 (2001), S. 489^198. Günther Heydemann/Detlef Schmiechen-Ackermann: Zur Theorie und Methodologie vergleichender Diktaturforschung, in: Günther Heydemann/Heinrich Oberreuter (Hgg.): Diktaturen in Deutschland - Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003, S. 9-54, hier S. 23. Vgl. auch: Hans Maier/Michael Schäfer (Hgg.): »Totalitarismus« und »Politische Religionen«. Konzepte des Diktaturvergleichs, Bde. 1 u. 2 (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 16 u. 17), München 1996 u. 1997 sowie Friedrich Pohlmann: Deutschland im Zeitalter des Totalitarismus. Politische Identitäten in Deutschland zwischen 1918 und 1989, München 2001. Aufschlussreich ist darüber hinaus Markus Huttner, der begriffs- und ideengeschichtliche die Totalitarismusdebatten in den 1920er und 1930er Jahren untersucht hat, Markus Huttner: Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs- und Theoriebildung in Großbritannien (Extremismus & Demokratie 14), Bonn 1999. Vgl. Emilio Gentile: The Sacralisation of Politics in fascist Italy, Cambridge 1996 sowie

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Einleitung

Eine Geschichte von Verflechtungen, etwa zwischen dem Enzyklopädieprojekt der Schweiz und den renommierten deutschen Verlagen am Ende des Zweiten Weltkrieges, produziert keineswegs nur eine geteilte oder gemeinsame Geschichte. Das Schweizer Lexikon wurde von schweizerischen Verlegerkreisen mitten im Kriegsende entworfen, der erste Band erschien noch im August 1945. Das Werk ist Ausdruck einer nationalen und internationalen Positionierung als vorbildliche Demokratie in Europa. Die Suche nach einer nationalen schweizerischen Identität entstand in einem Prozess der Abgrenzung vom restlichen Europa, mit dem die Schweiz allerdings nicht nur durch die Tatsache verbunden war, dass sie sich in dessen Mitte befand, sondern auch durch zahlreiche ökonomische Verflechtungen insbesondere mit den Achsenmächten. 69 Es war ein Bestandteil der schweizerischen Identitätsfindung nach 1945, die Diskussion um eine mögliche moralische Verantwortung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zu vermeiden, was durch die Vernichtung von Akten und die Verhinderung unabhängiger historischer Forschungen bewusst auch seitens der Staatsräson unterbunden wurde. Aber es war nicht nur ein staatlich gesteuertes Geschichtsmanagement, sondern auch ein gesellschaftliches Bedürfnis, eher die moralische und demokratische Stärke der Schweiz zu betonen und einen auf Neutralität gestützten sinn- und identitätsstiftenden gesellschaftlichen Grundkonsens zu finden, als mühsame Debatten darüber zu führen.70 Das Schweizer Lexikon war Teil dieses identitätsstiftenden Konzepts. Es war jedoch - und das ist zentral bei der Frage nach Verflechtungen und Austauschbeziehungen - zugleich ein Projekt, das nicht losgelöst von seinem deutschen Nachbarn entstand, sondern vielmehr tief mit der Situation des deutschen Buch- und Verlagswesen bei Kriegsende verbunden war. Erst als das Leipziger Buchhandelsund Verlagszentrum Ende 1943 zerstört war, planten die Schweizer einerseits, den neuen Umschlagplatz für deutschsprachige Bücher zu bilden und andererseits, das Schweizer Lexikon in Abgrenzung von den deutschen, nationalsozialistisch eingefärbten Lexika herauszugeben. Es ist demnach also kein Paradox, wenn eine Zunahme von Austausch und Interaktion nicht nur homogenisierende Wirkungen entfaltet; die Thematisierung von Informationsflüssen, Verkehrswegen und Transferleistungen macht nationalstaatliche sowie institutionelle Grenzen überhaupt erst visualisierbar.

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Ders.: Die Sakralisiening der Politik, in: Hans Maier (Hg.): Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt a. M. 2000, S. 166-182. Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg, Zürich 2002. Sacha Zala: Geltung und Grenzen schweizerischen Geschichtsmanagements, in: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hgg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003, S. 306-325; ausführlich auch Ders.: Gebändigte Geschichte. Amtliche Historiographie und ihr Malaise mit der Geschichte der Neutralität 1945-1961 (Bundesarchiv Dossier 7), Bern 1998.

Methodische Überlegungen

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Die Frage nach der gesellschaftspolitischen Bedeutung von Enzyklopädien wird umso dringlicher, weil ihre Historizität netzwerkartige Interaktionen hervortreten lässt.71 Allgemeine Lexika wurden sowohl erarbeitet als auch gelesen von einem offenen, instabilen Netzwerk, welches wegen seiner Flexibilität zwar schwer zu kontrollieren war, das sich aber auf Grund seiner grenzübergreifenden Wirkung offensichtlich als attraktiv für eine nationale Inanspruchnahme erwiesen hat. Allgemeine Enzyklopädien sind das Medium einer national geprägten Zivilgesellschaft, die sich beeilt, ihre Begriffswelt und ihr Selbstverständnis anderen Nationen als >Allgemeinwissen< anzubieten. Aus diesem Grund lässt sich das Netzwerk und die sich mit ihm verbindende Fragestellung der vorliegenden Arbeit nicht eingeengt auf den nationalstaatlichen Rahmen denken. Ulrike Spree und Utz Haltern haben das Angebot der Enzyklopädie, orientierendes Wissen bereit zu stellen, als eine Form der politischen Bildung interpretiert.72 Diese Politisierung des Wissens, die sich schon im Vormärz abzeichnet, lässt sich mit einem kulturhistorischen und nicht institutionell fixierten Politikbegriff beschreiben. Thomas Mergel versteht Politik als soziales Handeln, als ein »Netz von Bedeutungen, Symbolen und Diskursen«, mit dem Wirklichkeiten konstruiert werden.73 In dieses breite Politikverständnis fließt das Aushandeln eines Grundkonsens' über den Gehalt politischer Kultur ein, der in der neueren Nationalismusforschung thematisiert wird.74 Enzyklopädien lassen sich hier einbetten, da sie mit Neuauflagen auffallend häufig politische Systemwechsel und Staatengründungen begleiten und weil sie Ausdruck einer nationalen, zivilgesellschaftlich organisierten Identitätssuche sind.75 Schließlich erlaubt es ein weiter Politikbegriff auch, die Instrumentalisierung von Wissen nachzuzeichnen sowie die Grenzen und

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Zum Begriff des Netzwerks vgl. Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003, S. 20-24 sowie Matthias Schulz: Netzwerke und Normen in der internationalen Geschichte. Überlegungen zur Einführung, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 17 (2004), S. 1-14. Spree, Streben nach Wissen, insb. S. 229-269; Haltern, Politische Bildung, S. 76-90. Thomas Mergel: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: GuG 28 (2002), S. 574-606, hier S. 604; vgl. auch: Eckart Conze: »Moderne Politikgeschichte«. Aporien einer Kontroverse, in: Guido Müller (Hg.): Deutschland und der Westen. Internationale Beziehungen im 20. Jahrhundert (Festschrift für Klaus Schwabe zum 65. Geburtstag), Stuttgart 1998, 19-30. Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 41995 [Erstauflage 1988]; Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, München 3 1996 [Erstauflage 1993], S. 90-95; Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus, Mythos und Realität seit 1780, Bonn 32005 [Erstauflage 1990]. Madeleine Herren: General Knowledge and Civil Society. »An Accurate and Popular View of the Present Improved State on Human Knowledge«, in: Michel/Herren/Rüesch, Allgemeinwissen und Gesellschaft, S. 489-511.

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Einleitung

die Reichweite des zumeist auf freiheitliche und demokratische Selbstbestimmung ausgerichteten Konzepts der Zivilgesellschaft zu hinterfragen. Der unscharfe Begriff der Zivilgesellschaft wird in der Regel als die Sphäre zwischen Staat, Wirtschaft und Familie erklärt, die sich in einer solidarisierten Form mit demokratischfriedlichem Fokus organisiert, um politische Wirkungen auszuüben.76 Unter Zivilgesellschaft ist im vorliegenden Fall ein von der Wirtschaft organisiertes Netzwerk von Wissenschaftlern und Experten zu verstehen, welches zur Erarbeitung enzyklopädischer Inhalte im 19. und 20. Jahrhundert notwendig war, auch wenn die Entstehung der Werke sich über mehrere Verlegergenerationen hinweg immer mehr professionalisierte. Das Anliegen der Volksbildung mit seinem prestigeträchtigen Zugewinn auf Seiten der Produzenten und das Mitwirken an einer als allgemein gültig deklarierten Wissensvermittlung sind eine Bühne der Zivilgesellschaft. Es war im langen 19. Jahrhundert ein Kernanliegen der Zivilgesellschaft, Bildung generell zu fördern.77 Die an Enzyklopädien mitwirkenden Wissenschaftler und Redakteure signalisierten auch in der NS-Zeit noch, dass sie an einer gewissen, freilich ideologisch beeinflussten Schulung der Gesellschaft interessiert waren. In der Werkzeitschrift des F. A. Brockhaus Verlages wurde die Lexikonredaktion des Unternehmens als »Universität im Kleinen« dargestellt.78 Jedoch nähmen die Redakteure nur eine Mittlerrolle ein, sie koordinierten »zwischen den Wünschen und Zielen der Firmenleitung, den Forderungen der Lexikonbenutzer einerseits und den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Instituten, Forschungsanstalten, Akademien, Verwaltungen, Behörden und Firmen andererseits.«79 Hinter den Konturen der Vermittlung von Wissen, Bildung und Information tritt also auch zu diesem Zeitpunkt ein Netzwerk zutage, das sich als eine Verbindung von staatlichen-administrativen, zivilgesellschaftlichen und privaten Knotenpunkten verstehen lässt,80 und damit greift 76

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Vgl. Dieter Gosewinkel/Dieter Rucht/Wolfgang van den Daele/Jürgen Kocka: Einleitung. Zivilgesellschaft - national und transnational, in: Diess. (Hgg.): Zivilgesellschaft national und transnational (WBZ Jahrbuch 2003), Berlin 2004, S. 11-26; Jürgen Kocka: Zivilgesellschaft in historischer Perspektive, in: Ralph Jessen/Sven Reichardt/Ansgar Klein (Hgg.): Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert (Bürgergesellschaft und Demokratie 13), Wiesbaden 2004, S. 29-42; Ralph Jessen/Sven Reichardt: Einleitung, in: ebd. S. 7-27. Vgl. Lothar Gall/Andreas Schulz (Hgg.): Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert (Nassauer Gespräche 6), Stuttgart 2003; bezüglich der Enzyklopädien belegt dies Spree, Streben nach Wissen. Der Fabianer. Werkzeitschrift der Betriebsgemeinschaft F. A. Brockhaus Leipzig, Nr. 24 (März 1942), S. 264. Ebd. Nr. 25 (Mai 1942), S. 274. Ines Prodöhl: Die Usurpation des Wissens. Zivilgesellschaftliche Netzwerke und Enzyklopädien als Transfermedien im >Dritten ReichDritten Reiches< restriktiven Bestimmungen unterlagen, konnten die weit reichenden internationalen, zivilgesellschaftlichen Netzwerke erfolgreich durch den totalitären Staat usurpiert werden.81 Die Dimension der internationalen Geschäftsbeziehungen des F. A. Brockhaus Verlages sowie dessen Wahrnehmung im Ausland bis Ende der 1930er Jahre, die im ersten Teil der Arbeit thematisiert werden, signalisieren das Agieren einer Zivilgesellschaft im Nationalsozialismus - selbstverständlich mit zensureilen und administrativen Einschränkungen. Dieser scheinbar paradoxe Zusammenhang zwischen nationaler Identität, staatlicher Kontrolle und globaler Verbreitung eines Mediums, dessen Entstehung in weiten Teilen in den Händen der Zivilgesellschaft lag, verweist auf das Konzept von >soft powerSoft power< bezeichnet attraktive, nach außen gerichtete nationale Macht, in diesem Fall US-amerikanische Macht, die nicht streng politisch orientiert ist, sondern sich als anerkannter Ausdruck der Mehrheit der Gesellschaft präsentiert: »Soft power [...] is the ability to achieve goals through attraction rather than coercion. It works by convincing others to follow or getting them to agree to norms and institutions that produce the desired behavior. [...] If a state can make its power legitimate in the eyes of others and establish international institutions that encourage others to define their interests in compatible ways, it may not need to expand as many economic or military resources.«82

Der Vorschlag von >soft power< wird für die US-amerikanische Außenpolitik diskutiert; in die Auseinandersetzung hat aber die Reflexion über eine Historisierung bislang kaum Eingang gefunden. Das ist insofern schwierig, als dass das Konzept auf Demokratien zugeschnitten ist und Mechanismen beschreibt, die während Kriegen und in Diktaturen ausgehebelt werden. Der Ansatz ist aus dem gleichen Grund aber auch ebenso reizvoll, da er sich gut auf Politische Religionen übertragen lässt und sich mit ihm beschreiben lässt, wie zivilgesellschaftliche Macht für politische, harte Zwecke nutzbar gemacht werden kann. Joseph S. Nye, einer der Hauptvertreter des politikwissenschaftlichen >soft powersoft power< in Politischen Religionen ließe sich dann daraus ableiten, dass diese die vielfaltigen Kommunikationskanäle, ζ. B. Enzyklopädien, nutzten, um innen- und außenpolitische Ziele mit attraktiven Mitteln zu verfolgen. So wird der Versuch einer Ausbreitung kultureller und ideologischer Macht in Form von attraktiv verpacktem, nämlich scheinbar objektivem Allgemeinwissen erklärbar. Mit Hilfe des Konzepts der weichen Macht< sind dann die Möglichkeiten des Agierens einer Zivilgesellschaft und deren Wirkungsfeld im Ausland beschreibbar, denn Enzyklopädien wollen auch außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen als der performative Auftritt ihrer nationalen Selbstbehauptung gelesen werden.

Quellenlage und Gliederung der Arbeit Eine Geschichte, deren narrativer Schwerpunkt auf Vernetzungen liegt, kann keinen homogenen Quellenbestand auswerten; vielmehr erfordert ein ständiger Perspektivenwechsel eine breite Auswahl möglichst heterogener Quellen als Basis. In der vorliegenden Arbeit sollen die Bedingungen, unter denen das Wissen in die Enzyklopädien gelangte und der Prozess unter dem sich die gesellschaftliche Bedeutung von Wissen wandelte, gezeigt werden. Aus diesem Grund müssen neben den Werken selbst, sowohl staatlich-administrative Quellen, als auch die Geschäftsunterlagen der Verlage ausgewertet werden. Insgesamt wird die Arbeit chronologisch vorgehen und sich nacheinander auf die Enzyklopädieprojekte im >Dritten Reichsoft power< beschrieben werden. Sowohl die Schweizer als auch die Deutschen Verleger und Kulturpolitiker verstanden ihre enzyklopädischen Pläne als einen kulturpolitischen Beitrag, um das nationale Ansehen im Ausland zu heben. Nach der Zerstörung des Leipziger Buchhandels- und Verlagszentrum im Dezember 1943 planten einflussreiche Schweizer Verleger, die Position der vormaligen Buchstadt im europäischen Rahmen zu übernehmen. In diesem Kontext entstanden um den Schweizer Verleger Gustav Keckeis Überlegungen für die Herausgabe eines allgemeinen Lexikons, das dann ab 1945 tatsächlich unter dem Titel Schweizer Lexikon erschien. Entgegen dem das Nationale betonenden Titel hatte es sich allerdings explizit zum Ziel gesetzt, europäische Kulturgüter zu bewahren, und es sollte deswegen insbesondere außerhalb der Schweiz wahrgenommen werden. Der Vorsteher des Eidgenössischen Departement des Innern, Philipp Etter, verfolgte die Planungen mit großem Interesse und wohlwollendem Zuspruch.88 Die kulturpolitische Abteilung des Auswärtigen Amtes unter Leitung von Franz Alfred Six beobachtete die Bemühungen ihrerseits mit Misstrauen und unternahm zusammen mit dem Propagandaministerium und der PPK zahlreiche Anstrengungen, um den Schweizer Lexikonplänen sowohl mit Hilfe des F. A. Brockhaus Verlages als auch des Bibliographischen Instituts zuvor zu kommen.89 88

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BA Bern, E 3001 (Β) Eidgenössisches Departement des Innern, Rubrik 11.10.4, Eidg. Kommission für den Schutz des Schweiz. Buchverlages gegen Überfremdung (1944), Rubrik 11.08, Bd. 42, Schweiz, allgemeines Lexikon (1942-1945), Rubrik 11.08, Bd. 67, Schweiz, allgemeines Lexikon (1945-1947). Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, Kult. Pol. Lit., R. 66841, Schweizer Lexikon.

Quellenlage und Gliederung der Arbeit

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Auch der vierte und letzte Teil thematisiert den Aspekt der >soft power< und zwar anhand der deutschen Übersetzungen aus der Bol'saja Sovetskaja Enciklopedija. Zunächst werden jedoch die entschädigungslose Enteignung für das Bibliographische Institut und den F. A. Brockhaus Verlag analysiert. Bei letzterem gab ausgerechnet ein neues, freilich bereits vor dem Erscheinen umfassend zensiertes Lexikon, der Volks-Brockhaus von 1950, den Anlass, um den Verlag zu enteignen. Die wiederholte Zensur an den Werken des F. A. Brockhaus Verlages und schließlich seine Enteignung bedeuteten aber auch, dass es die DDR nicht schaffte, sich mit einem neuen, allgemeinen Lexikon auf dem deutschsprachigen Markt zu behaupten. Die SED vermochte es nicht, das Wissen im Sinne der kommunistischen Ideologie als allgemein gültig in einem Lexikon festzuschreiben. Dem Dilemma begegneten die neuen Machthaber, indem sie die Verantwortung für diese Aufgabe dem >großen Bruder< zuwiesen. Die SED hielt in den 1950er Jahren private und Volkseigene Verlage dazu an, einzelne, ins Deutsche übersetzte Artikel aus der sowjetischen Enzyklopädie in Form kleinerer Hefte herauszugeben. Die SED agierte hierbei im Hintergrund und übergab die Koordination offiziell einem »Büro zur Auswertung der Sowjetenzyklopädie«.90 Das Bemühen, den ostdeutschen Bürgern die Kultur und Gesellschaft der Sowjetunion auf diese >weiche< Art nahezubringen, ging also maßgeblich von deutschen Stellen aus, und es wird deswegen zu fragen sein, inwiefern hier von einer Selbst-Sowjetisierung gesprochen werden kann. Von einer Zivilgesellschaft jedenfalls kann bei diesem Unternehmen tatsächlich keine Rede sein. Die »Politik des Wissens« geht auf einen Punkt nicht ein. Sie thematisiert nicht, wie in der Bundesrepublik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges enzyklopädisches Wissen neu ausgerichtet wurde und beschäftigt sich nicht mit der Neugründung bzw. dem Wiederaufbau der F. A. Brockhaus GmbH in Wiesbaden und der Bibliographisches Institut AG in Mannheim. Hinter der Entscheidung, diesen Bereich auszuschließen, verbergen sich zwei Gründe. Zum einen ist es das Ziel der vorliegenden Arbeit, die Deutungshoheit von Enzyklopädien im Spannungsfeld von nationaler Identität und politischer Veränderung herauszuarbeiten. Dies würde sich selbstverständlich auch für diejenigen Enzyklopädien anbieten, die in der frühen Bundesrepublik entstanden. Gleichwohl wäre eine diesbezügliche Ausweitung mit einer starken Konzentration auf die Geschichte der beiden Verlage einhergegangen und hätte die generelle Frage nach der Bedeutung enzyklopädischer Wissensvermittlung in den Hintergrund verwiesen. Mit der notwendigen Thematisierung des Neuanfangs und der Frage nach den Beziehungen zu den enteigneten, aber gleichnamigen Betrieben in der DDR, etwa in Bezug auf Markenrechte oder auf den Wettlauf um die Deutungshoheit von Wissen, wäre

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BArch, SAPMO, ZK der SED, Abteilung Wissenschaften, DY 30/ IV 2/9.04/678.

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Einleitung

der Fokus zu stark auf eine reine Verlagsgeschichte gerichtet worden, und dieser wäre der Gesamtanlage der Arbeit nicht gerecht geworden. Ein zweiter Grund liegt in der schwierigen Quellenlage bezüglich der Verlagsgeschäfte in der frühen Bundesrepublik. Während sich die Situation der Verlage im >Dritten Reich< und in der SBZ/DDR mithilfe der im Sächsischen Staatsarchiv offen einsehbaren Materialien rekonstruieren lässt, sind mögliche Quellen für die Zeit der Bundesrepublik nicht vergleichbar gut zugänglich. Die Verlagshäuser in Wiesbaden (F. A. Brockhaus) und Mannheim (Bibliographisches Institut) hatten seit ihrem Neuanfang jeweils ein kleines Archiv aufgebaut, das seit 1984 im Firmensitz in Mannheim fortgeführt wurde. Es diente in erster Linie der Archivierung der Publikationen, der Verlag hat mir im Herbst 2003 aber freundlicherweise gemale die Lexikonredaktion im Bibliographischen Institut betreffen, einzusehen.91 In dieses Mannheimer Verlagsarchiv ist hingegen das private Firmenarchiv der vormaligen F. A. Brockhaus GmbH, das insbesondere für die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieg und der Zusammenlegung beider Unternehmen aufschlussreich sein dürfte, nicht überführt worden. Dieses Archiv befindet sich im Privatbesitz der Brockhaus Familie, und es war mir nicht zugänglich.92

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Mein herzlicher Dank geht an Marion Winkenbach, damaliges Vorstandsmitglied der AG Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus, Mannheim. Im Folgenden werden Quellenangaben aus dem Archiv mit »BIFAB-Archiv« belegt, da der Bestand nicht über ein Findbuch zugänglich ist, beziehen sich weitere Angaben auf die Titel der Aktengefäße. Diese Dokumente waren Keiderling (Hg.), F. A. Brockhaus 1905-2005, und vermutlich auch Hübscher, Hundertfünfzig Jahre, zugänglich.

Kapitel I: Netzwerk Wissen. Deutschsprachige Lexika im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Die Rekonstruktion von Enzyklopädieprojekten aus dem 19. Jahrhundert lässt die Vorstellung eines Wirbelwindes aufkommen. Dieses Bild drängt sich auf, weil Enzyklopädien in dieser Zeit zu einem einzigartigen Erfolgsmodell wurden. Nach bisherigem Erkenntnisstand fegte der Wirbelsturm vornehmlich durch Europa, er hatte aber auch eine Reihe kräftiger Ausläufer in Übersee, etwa in Australien und in den USA. In ihm verbarg sich ein zerstückeltes, aber mit unzähligen Querverweisen versehenes Wissen. Die zentrale Frage bei dieser Feststellung ist, was Enzyklopädien so erfolgreich machte? Eine Antwort darauf lautet, dass Enzyklopädien über den Deckmantel des allgemeinen Wissens nationale Identitäten konstruierten. Sie waren so erfolgreich, weil sie gleichermaßen Modernität und Fortschritt im Rahmen der jeweiligen Nation zelebrierten. Enzyklopädische Wissensvermittlung wurde im 19. Jahrhundert maßgeblich von deutschen Verlegern geprägt, wobei vor allem die Werke aus dem F. A. Brockhaus Verlag anderen Unternehmungen als Vorlage dienten. Sie wurden unermüdlich mit oder ohne Zustimmung des Verlages übersetzt, adaptiert und angepasst. Sie fanden insbesondere auf Grund ihrer leicht zugänglichen Texte eine wahrlich globale Verbreitung. Die Enzyklopädien hielten jedoch gerade wegen der zahlreichen Veränderungen im Prozess der Übersetzung und Anpassung jeweils ähnliche Inhalte bereit. Sie boten Orientierungswissen an, das zumeist rechtsstaatlich und national geprägt war. Enzyklopädien waren so attraktiv, weil über ihre netzartig verwobene Form der Wissensvermittlung die kulturpolitische Aushandlung von Identitäten und Gemeinschaften vorangetrieben werden konnte. Davon fasziniert waren in erster Linie bürgerliche Schichten, die in >ihrer< jeweiligen Enzyklopädie den Grundkonsens des gesellschaftlichen Miteinanders aushandelten. Das Wissen erwies sich wegen seiner zerstückelten Art der Darbietung als veränderbar, es wurde von Auflage zu Auflage und von Adaption zu Adaption modifiziert, aber es verwob auch Universalität mit einer national konnotierten Deutungshoheit über die Zeitgeschichte. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, wie nationale und identitätsstiftende Zuschreibungen auf die global herumwirbelnden Textbausteine passen. Wie lässt sich die Beobachtung von der Übertragbarkeit und Internationalisierung eines nationalen Produktes, dessen Erscheinen in nahezu jedem Staat Anlass zur präzisen Ausmessung nationaler Identitätsfindung gab, erklären? Möglicherweise hatten transkulturelle Austauschprozesse, wie sie gegenwärtig von Anthropologen im Kontext von Modernisierungstheorien thematisiert werden hier einen historischen Vorläufer. Arjun Appadurai beschrieb in den 1990er Jahren am

Kapitel I: Netzwerk Wissen

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Beispiel von elektronischen Medien Migration, Transfer und Umdeutung von kulturellen Praktiken, Identifikationen und Imaginationen.1 Die in ihrer historischen Funktionalität damit vergleichbar beweglichen Textbausteine wiederum sind Kennzeichen von nahezu allen westlichen Enzyklopädien seit der Frühen Neuzeit. 2 Enzyklopädien sind demzufolge eine Quellengattung, die es ermöglicht, die Aushandlung globaler Identifikationsmechanismen und den Transfer von Wissen, Bildung und Information zu untersuchen.

1. Das Erfolgsmodell des Konversations-Lexikons Die Aushandlung von Orientierungswissen Kurz nachdem Friedrich Arnold Brockhaus 1823 gestorben war, rechnete die zweite Firmengeneration die Auflagenhöhe der verschiedenen, seit 1812 in Umlauf befindlichen Ausgaben des Konversations-Lexikons zusammen.3 Dazu zählten die Exemplare sämtlicher Auflagen, die Übersetzungen und schließlich auch die Raub- und Nachdrucke, für die sich das Unternehmen zumindest einen ideellen Verdienst anrechnen wollte.4 Für den kurzen Zeitraum von elf Jahren ergab sich bei dieser Rechnung eine Gesamtauflage von ca. 70.000 Exemplaren. Zwar lässt sich anhand dieser Zahl der Wirkungsgrad des Konversations-Lexikons kaum ermitteln, da die Lesefahigkeit von ca. 25 Millionen erwachsenen Einwohnern in den deutschen Staaten regional verschieden war. Sie schwankte auf Grund unter-

Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minnesota 2005 [Erstauflage 1996]. Für das 18. Jahrhundert vgl. Clorinda Donato: Übersetzung und Wandlung des enzyklopädischen Genres. Johann Georg Krünitz' »Oeconomische Encyklopädie« (17711858) und ihre französischsprachigen Vorläufer, in: Hans-Jürgen Lüsebrink/Rolf Reichardt (Hgg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich - Deutschland 1770 bis 1815, Bd. 2 (Deutsch-französische Kulturbibliothek 9), Leipzig 1997, S. 539-565; Madeleine Herren/Ines Prodöhl: Kapern mit Orangenblüten - die globale Welt der Enzyklopädie, in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Seine Welt wissen. Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Katalog zur Ausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Darmstadt 2006, S. 42-53. Vorwort, in: Allgemeine deutsche Realencyclopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexicon), 10 Bde., Leipzig: FAB 61824 (u. 1 Suppl.-Bd. 1829), hier Bd. 1, S.XXV. Vgl. zu den frühen Auflagen sowie zu den Schwierigkeiten um den Nachdruck Roland Schäfer: Die Frühgeschichte des Großen Brockhaus, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 3 (1993), S. 69-84; Otmar Seemann: Konversationslexika und Enzyklopädien in der Frühzeit des Brockhaus-Lexikons (1809-1820), in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 18/19 (1993), S. 52-60.

1. Das Erfolgsmodell des Konversations-Lexikons

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schiedlicher mentalitäts- und konfessionsbedingter Traditionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen 20 % und 45 %.5 Doch trotz der Schwierigkeiten, die Reichweite des Lexikons einzuordnen, dürfte die Zahl von 70.000 Exemplaren für 1823 äußerst beeindruckend sein. Sie stieg im Laufe der folgenden Jahre sogar exponential an: Die siebente Auflage (1827-1829) musste zweimal gedruckt werden und lag 1830 bereits in einer Höhe von allein 36.000 Exemplaren vor.6 Hätten zu diesem Zeitpunkt alle Einwohner der Stadt Leipzig lesen können und außerdem die Kaufkraft für ein derartiges Werk besessen, so hätte das Conversations-Lexicon wohl in jedem Haushalt einen Platz gefunden, denn die Einwohnerzahl Leipzigs belief sich nur auf ca. 41.000 Personen. Beeindruckend sind sowohl diese Zahlen als auch Brockhaus' Einschätzung, nach der die Beliebtheit des Lexikons ein Kennzeichen des Zeitgeistes sei.7 In der Tat lag die Nachfrage nach den Werken in einem allgemeinen Trend. Die steil ansteigende Produktionskurve ist Ausdruck einer abnehmenden Analphabetenquote und einer zunehmenden, extensiven Lektüre. Ein ähnlicher Zuwachs ist bei der Anzahl von Leihbibliotheken und Buchhandlungen, Kolportagehändlern und Zeitungshallen zu beobachten, und dieser wiederum stand in Wechselwirkung mit den technischen Fortschritten bei den Druckverfahren. F. A. Brockhaus hatte im Rahmen eines generellen Aufschwungs in der Buchbranche ein besonders lukratives Geschäft aufgetan, das alsbald auch von anderen Verlegern und Bildungsbürgern aufgegriffen wurde.8 Hans-Ulrich Wehler präsentierte das maßgeblich von Brockhaus geprägte Konversations-Lexikon sogar als das »Paradebeispiel«9 für den zunehmenden Erfolg sachbezogener Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der Forschungsliteratur wird die Beliebtheit des Konversations-Lexikons oftmals mit der von ihm selbst propagierten Bildungsabsicht erklärt. Dabei ist herausgearbeitet worden, dass die Werke des 19. Jahrhunderts das aufgeklärte Ziel 5

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Hans Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, München 42005 [Erstauflage 1987-2003], S. 520f.; vgl. auch: Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, München 1999 [Erstauflage 1991], S. 252f. Heinrich Brockhaus (Hg.): Ε Α. Brockhaus in Leipzig. Vollständiges Verzeichnis der von der Firma F. A. Brockhaus in Leipzig seit ihrer Gründung durch Friedrich Arnold Brockhaus im Jahre 1805 bis zu dessen hundertjährigem Geburtstage im Jahre 1872 verlegten Werke. In chronologischer Folge mit biographischen und literaturhistorischen Notizen, Leipzig 1872-1875, S. LVII. Vorwort, in: Conversations-Lexicon [6. Aufl. Brockhaus], Bd. 1, S. XXV. Eine Übersicht über die Vielzahl deutschsprachiger Enzyklopädieprojekte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt Anja zum Hingst: Die Geschichte des Großen Brockhaus. Vom Conversationslexikon zur Enzyklopädie (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem deutschen Bucharchiv München 53), Wiesbaden 1995, vgl. daneben auch: Brauer, Geschichte, S . A l - A l l Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 525.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

der Vermittlung von Wissen, Bildung und Information in einem universell gültigen Kontext verfolgten.10 Doch gerade neuere Studien weisen darauf hin, dass der Zusammenhang von Bildungsanspruch und Universalität in Enzyklopädien nicht losgelöst von der Frage nach den Deutungs- und Interpretationsangeboten des dargebotenen Wissens erklärt werden kann.11 Schließlich stand hinter dem Konzept der enzyklopädischen Wissensvermittlung im 19. Jahrhundert das Gesellschaftsbild des aufgeklärten, liberalen Bürgertums. 1820 brachte der Firmengründer Friedrich Arnold Brockhaus (1772-1823) seine liberalen Gesellschaftsvorstellungen in einer Denkschrift an den preußischen Staatskanzler von Hardenberg zum Ausdruck.12 In einem nachweisbar direkten Zusammenhang zu den Enzyklopädien stehen weder der Brief selbst noch die Umstände seiner Entstehung, denn Brockhaus hatte sich auf Grund von polizeilichen Maßnahmen gegen seine Verlagswerke an von Hardenberg gewandt. Der Text gibt jedoch auf so konzise Weise Auskunft über Brockhaus' bürgerliches, liberales Selbstverständnis, dass er gleichsam als programmatisch für seine gesamte Verlagstätigkeit gelten kann. In dieser Schrift erläuterte Brockhaus seine Vorstellung vom Verhältnis des Staates zu den Bürgern. Er sprach davon, dass seine Werke den »Charakter einer gemäßigten >Liberalität«< trügen, da »ich mich in meinem Verstände und nach meinen Ansichten nur zu dieser bekennen kann.«13 Brockhaus definierte auch, was er unter einer »gemäßigten >Liberalität«< verstand: »der Wunsch nach der Herrschaft möglichst guter Gesetze, nach Gleichheit vor dem Gesetze, nach Entfernung aller Willkür«.14 Diese Präzision ist im Kontext der gemäßigten, frühliberalen Wertvorstellungen zu lesen, in denen >Liberalität< als IntegrationsbegrifT verstanden und Staat und Gesellschaft nicht als ein Gegensatzpaar begriffen wurden.15 Zwar signalisieren die von Brockhaus beim Wort >Libera10

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Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon, erweiterte Neuausgabe Frankfurt a. M., Leipzig 2004, hier S. 104-112; zum Hingst, Geschichte des Großen Brockhaus; Hübscher, Hundertfünfzig Jahre, S. 70f.; Georg Meyer: Das Konversations-Lexikon, eine Sonderform der Enzyklopädie. Ein Beitrag zur Geschichte der Bildungsverbreitung in Deutschland, Diss. Univ. Göttingen, Göttingen 1965. Michel/Herren, Unvorgreifliche Gedanken, S. 9-74; Herren, General Knowledge S. 489511; Spree, Streben nach Wissen, hier insb. S. 77-81. Friedrich Arnold Brockhaus: Ehrerbietigste und unterthänigste Vorstellung an Se. Hochfürstliche Durchlaucht den Herrn Fürsten Staatskanzler von Hardenberg, 26.5.1821, zit. nach: Heinrich Eduard Brockhaus: Friedrich Arnold Brockhaus. Sein Leben und Wirken nach Briefen und andern Aufzeichnungen geschildert, 3 Bde., Leipzig 1872-1881, hier Bd. 3, S. 200-205. Ebd. S. 202. Ebd. Vgl. auch Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 50), Diss. Univ. Heidelberg, München 2001, S. 200f.

1. Das Erfolgsmodell des Konversations-Lexikons

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litätx gesetzten Anführungszeichen noch eine gewisse Distanz zum Begriff, aber er brachte mit seinen Erläuterungen deutlich zum Ausdruck, dass er unter selbigem eine überpolitische aufgeklärte Gesinnung verstand. Mit >Liberalität< verband sich für Brockhaus keine parteipolitische Forderung, sondern ein ungebrochenes Vertrauen in die konfliktfreie Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft.16 Brockhaus musste hinzufügen, dass ihm selbst kein Gesetz, das den liberalen Charakter »in seiner Reinheit genommen«17 propagiere, in einem anderen Staate bekannt sei. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, dieses politische Verständnis als Zielvorgabe für die Zukunft zu formulieren. Brockhaus' Forderungen nach rechtsstaatlichen Garantien entstanden in der Auseinandersetzug mit den für ihn kontinuierlich wiederkehrenden Problemfeldern: der Zensur auf der einen und den leidigen Nach- bzw. Raubdrucken auf der anderen Seite. Gerade deswegen kann das Dokument, mit dem er ursprünglich gegen staatliche Sanktionen protestierte, auch als ein Beitrag zu Fragen über die bestmögliche Konstitution einer Gesellschaft und als Ausdruck seines zivilgesellschaftlichen Engagements gelesen werden. Es ist das Programm seines Verlages. Aus heutiger Perspektive verbirgt sich in diesem Programm allerdings auch eine gewisse Drohung, denn Brockhaus konnte sich einer Tatsache sehr wohl bewusst sein: Sowohl die Forderungen auf Seiten der Liberalen als auch die obrigkeitlichen Maßnahmen, die von einer zunehmenden Schicht aus Verwaltungsbeamten umgesetzt wurden, erforderten gebildete Bürger, die aktiv an den gesellschaftspolitischen Aushandlungen teilnahmen. Die Enzyklopädie war also auch deswegen so erfolgreich, weil sie Bildung und politische Urteilsfindung zugleich versprach. Bereits Utz Haltern wies nach, dass das Engagement der großen Verleger für ihre Enzyklopädien neben unternehmerischen Interessen in dem gesellschaftspolitischen Anliegen gründete, einen mündigen und wissenden Bürger herauszubilden.18 Mit der Zunahme enzyklopädischer Texte ging seit den 1830er Jahren im deutschsprachigen Raum ein Trend zum so genannten Universal-Lexikon einher. Ulrike Spree hat herausgearbeitet, dass die großen, um 1848 in Deutschland verbreiteten Lexika, zu denen die verschiedenen Auflagen von Pierers Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit ebenso zählen wie die allgemeinen Lexika des F. A. Brockhaus Verlages und des Bibliographischen Instituts, gemäß ihren Vorworten jeweils ein ähnliches Ziel verfolgten: universelles Wissen verbreiten.19 Zugleich stellte Spree fest, dass das Konzept der Wissensvermittlung ein modernes Programm im Zuge liberaler Aushandlungsprozesse war und das Wissen nur so lange

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Vgl. Haltern, Politische Bildung, S. 69-76. Brockhaus, Leben und Wirken, S. 202. Haltern, Politische Bildung. Spree, Streben nach Wissen, S. 39-41.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

>universell< war, wie es mit liberalen Wertvorstellungen übereinstimmte. Der zur Diskussion stehende gemäßigte Liberalismus trat mit einem universellen Anspruch auf, und in diesem Rahmen konnten Fehldeutungen eine Neuausrichtung und Umorientierung erhalten. Treffend ist dies im Programm der enzyklopädischen Zeitschrift Die Gegenwart formuliert, die 1848 Ordnung in das gesellschaftspolitische Durcheinander bringen wollte: »Mit diesem humanen Geiste werden wir gewiß auch inmitten der Wirren und Stürme des Tages die Besonnenheit und jene vernünftige Ruhe bewahren, die zu tieferer Beurtheilung der Parteien und Persönlichkeiten erforderlich ist, und deren Mangel unsere Aufgabe verrücken und die universelle Tendenz des Werkes gefährden würde.«20

Hinter dieser Form des liberal gebundenen Wissens verbargen sich keine parteilichen Strömungen oder die Verlängerung parlamentarischer Debatten, als vielmehr die Chance, im Namen der Universalität vermeintliche Irrlehren eines Gesellschaftsbildes aufzuzeigen.21 Gleichzeitig war damit die Möglichkeit gegeben, die liberale Deutung von Wissen im 19. Jahrhundert in den verschiedenen Auflagen und insbesondere in den Ergänzungswerken immer wieder neu zu verhandeln. Ein bezüglich des Liberalismus wesentlich radikaler und progressiver auftretendes Konzept verfolgte der mit Brockhaus konkurrierende Verleger Joseph Meyer (1796-1856).22 Dieser hatte 1839 im Vorwort zur ersten Auflage seines Conversations-Lexicons für die gebildeten Stände23 programmatisch formuliert, dass das »Monopol des Wissens« gebrochen werden müsse. Er verstand die Enzyklopädie als Medium zur Wissenspopularisierung, und Bildung sollte seiner Ansicht nach ein allgemein zugängliches Gut sein. Der »Aristokratie des Wissens«, so der streitbare Liberale, sei »eine populäre Enzyklopädie ein Dorn im Auge«:24 »Sie mögen sich beruhigen. Wir schleudern keine Blitze, die blenden, oder tödten. Das Licht des Könnens und Wissens, welches wir verbreiten, wirkt wohlthätig auf Alle, denen es leuchtet, und sie selbst, die es hassen, nehmen an seinen Segnungen Theil.«25

In dem enzyklopädischen Bildungskonzept verbarg sich jedoch nicht nur das Ideal eines allgemein zugänglichen Wissens, wie es zunächst scheinen mag, sondern es

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24 25

Vorwort, in: Die Gegenwart 1 (1848), S. VIII. Spree, Streben nach Wissen, S. 65. Vgl. Sarkowski, Institut, S. 42-48. Vorwort (1839), in: Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. In Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern, hg. von Joseph Meyer, 46 Bde., Hildburghausen u. a.: BI '1840-1855, hier: Bd. 1 (1840), S. VI. Ebd. S. XII. Ebd. S. VI.

1. Das Erfolgsmodell des Konversations-Lexikons

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enthielt wiederum die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft auszuhandeln und sich damit als >imagined community< eine Identität zu geben. Meyer versicherte seinen Lesern nämlich auch, dass das im Lexikon festgeschriebene Wissen eine gewandte Unterhaltung garantiere und darüber hinaus die Feinheiten im sozialen Umgang vermittle. Bildung werde »jetzt mehr nach dem Grade bestimmt, in welchem einer das wissenschaftliche, künstlerische, schöngeistige und politische Leben der Gegenwart in sich aufgenommen« habe.26 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Enzyklopädien die kulturellen Codes einer Gesellschaft propagieren, und dass sie Ausdruck einer gemeinschaftlichen Selbstdarstellung sind. Das Medium gibt einer Kultur die Möglichkeit, sich ihrer selbst zu vergewissern, indem es auf einer weiten Ebene Orientierungswissen anbietet.27 Damit geht einher, dass Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts die Geschichtlichkeit ihrer jeweiligen Gegenwart präsentieren und eine uneingeschränkte Deutungshoheit über die Zeitgeschichte beanspruchen: »Im großen Drama unsere Zeit - ist der erste Act ein vergangener«, lautet 1839 der erste Satz im Vorwort von Meyers Conversations-Lexicon.2* Es scheint, als ob von da an das Lexikon die Aufgabe übernehmen wollte, die Vergangenheit zu ordnen und sie durch die getroffene Auswahl der präsentierten Einträge zu deuten und zu interpretieren. Meyer schrieb seinem Lexikon im Untertitel auf die Fahnen, in »Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern« herausgegeben worden zu sein. Dieser Untertitel signalisiert, dass sich das Werk innerhalb einer bestimmten, für Wissen und Information empfänglichen Gesellschaft etablieren und die ihr angehörenden Mitglieder gleichsam verbinden wollte. Auf diese Weise verlagert Meyer allerdings das von ihm selbst provokativ angeprangerte »Monopol des Wissens« auf eine Enzyklopädie und auf das sich hinter ihr verbergende, liberal orientierte Bürgertum. Mit der Übertragung der Deutungshoheit auf die Enzyklopädie wurde aus dem reichen Fundus des potentiell Wissbaren ein im Indikativ festgelegt zu Wissendes. Hinter dessen Aushandlung wiederum verbarg sich ein schwer greifbares Netz aus Personen mit jeweils eigenen politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder privaten Ambitionen. Im Zuge des Wandels der liberalen Strömungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde aus dem liberalen Gesellschaftsmodell ein politisches Konzept mit zunehmend nationalen und konstitutionellen Forderungen. Insbesondere

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Vorwort, Conversations-Lexicon (1. Aufl. Meyer), Bd. 1, S. VIII. Vgl. für diese Argumentation Michel/Herren, Unvorgreifliche Gedanken, hier S. 47-51 sowie Puschner, Deutsche Enzyklopädien, S. 62-77. Vorwort, Conversations-Lexicon (1. Aufl. Meyer), Bd. 1, S. V.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

Joseph Meyer war ein glühender Verfechter des politischen Liberalismus.29 Als nach der Reichseinigung die politischen Unruhen um 1848 in Vergessenheit geraten waren und sich ihrer nicht mehr mit der Schärfe revolutionärer Forderungen erinnert wurde, zeichnete Meyers ehemaliger Redakteur Friedrich Hofmann den Zusammenhang zwischen enzyklopädischer Wissensvermittlung und politischer Bildung nach. 1887 veröffentlichte er in der Familienillustrierten Die Gartenlaube einen Rückblick, in dem er das zwischen 1840 und 1855 erschienene ConversationsLexicon ausdrücklich im Kontext der Revolution verankerte: »Ach wir jubelten mit, und unser Werk jubelte mit; hatten wir doch mit ihm uns aufs Eifrigste bemüht, das, was plötzlich als >die große Zeit< vor uns stand, herbeizuführen. Es war ein wundervoller Traum, dem jedoch ein blutiges Ende folgte und ein namenloses Elend, welches über Tausende hereinbrach. Und von dieser Zeit, wie überhaupt von der Zeit seines Erscheinens ist Meyers Großes Konversationslexikon das treueste Spiegelbild.«30

Die Verbindung von Bildung, Universalität und Identität ist bei Enzyklopädien als eine dynamische Wechselwirkung zu verstehen. Das Bildungskonzept von Enzyklopädien beruht auf der Teilnahme und Beeinflussung gesellschaftspolitischer Prozesse. Diese aktive Partizipation wird gemeinhin der Zivilgesellschaft als einer »Sphäre der Selbständigkeit von Individuen und Gruppen, ein Bereich der Dynamik und Innovation und ein Ort der Anstrengung für das Gemeinwohl« zugeschrieben.31 Die Zivilgesellschaft braucht jedoch eine gemeinsame Informationsbasis und gerade wegen ihres universellen Anspruchs bilden Enzyklopädien hier hervorragende Kommunikationsmedien. Gleichzeitig verbergen sich hinter der Enzyklopädie natürlich Angehörige der Zivilgesellschaft als Autoren. Im Vormärz ging das zivilgesellschaftliche Engagement, welches sich darauf richtete, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft über das Medium der Enzyklopädie auszuhandeln, von den gebildeten Kreisen des Bürgertums aus. Die damit einhergehende Identitätsbildung wirkte sich auch auf diejenigen Bevölkerungsschichten aus, von denen sich das Bürgertum durch seine Kritik abzusetzen ver-

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Vgl. zu den daraus resultierenden Schwierigkeiten mit der Zensur Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 83-90, 109-126. Hohlfeld veröffentlicht auch Auszüge aus seiner Reformadresse vom 12.5.1848 und Briefe an seinen Sohn Herrmann Julius, die eindrücklich Meyers radikal-liberale Ansichten belegen. Friedrich Hofmann über das Meyersche Conversations-Lexicon, in: Die Gartenlaube (1887), S. 705f., zit. nach: Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 107f. Jürgen Kocka: Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Manfred Hildermeier/Jürgen Kocka/Christoph Conrad (Hgg.): Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. BegrifT, Geschichten, Chancen, Frankfurt a.M., New York 2000, S. 1340, hier S.21.

1. Das Erfolgsmodell des Konversations-Lexikons

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suchte, wie etwa den Adel.32 Die sich in Enzyklopädien versammelnden Anschauungen waren nicht homogen, sie divergierten und veränderten sich im Laufe der Zeit. Enzyklopädien boten in diesem vielschichtigen Prozess der Aushandlung eine Kommunikationsbasis und durch ihre Beliebtheit und die starke Verbreitung erreichten sie einen Großteil der lesefahigen und kaufkräftigen Bevölkerung. Die Aktivitäten der Zivilgesellschaft des 19. Jahrhunderts mit ihren dynamischen Netzwerken sind in Bezug auf die Enzyklopädien bislang nur in ihrer Gesamtheit zu fassen. Die bürgerlichen Forderungen nach Mitbestimmung und Selbstverwirklichung lassen sich kaum an vereinzelten Kontakten nachweisen. Dennoch gibt es einige herausragende Persönlichkeiten, die mit ihrer Biographie die zivilgesellschaftlichen Schnittstellen besonders gut verdeutlichen. Der gemäßigte Liberale Heinrich Brockhaus (1804-1874), der den Verlag ab 1823 für die nächsten 50 Jahre leitete, ist auf Grund seiner zahlreichen Engagements im öffentlichen Leben ein herausragendes Beispiel für diejenigen Netzwerke, die sich zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur ergeben konnten. Heinrich Brockhaus war keineswegs nur Verleger und Buchhändler und als solcher in dementsprechenden Standesorganisationen vertreten. Er saß außerdem im Ausschuss des Kunstvereins ebenso wie in demjenigen der Leipziger Bank, war zwischen 1842 und 1847 wiederholt sächsischer Landtagsabgeordneter, in den 1830er und 1840er Jahren Vertreter in der Leipziger Stadtverordnetenversammlung und schließlich auch Mitglied in verschiedenen Leipziger bürgerlichen Gesellschaften wie der »Harmonie« und der »Erholung«.33 Das Spektrum an kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Verbindungen ist ausgesprochen gut über die Selbstzeugnisse der Verleger und über die oft inszenierten Verlagsgeschichten der Unternehmen nachzuweisen. Was sich heute hinter dem Stichwort des >history marketingTatsachen< reduziert werden. Offenbar war sich auch die Gesellschaft des >Dritten Reiches< weitgehend darüber einig, dass ein allgemeines Lexikon gesicherte Informationen anbieten sollte. Allerdings verbargen sich hinter dieser Form des Wissens keineswegs wertfreie Ideale einer faschistischen Moderne, die sich in einer militarisierten Sprache vom bürgerlichen Bildungsideal distanzierte. Dahinter stand auch hier die perfide Strategie, dem Leser Sicherheit zu geben und dem Werk Autorität zu zuschreiben. Der Trend, reines Faktenwissen zu vermitteln und nicht die Urteilskraft des Lesers zu fördern, ist in deutschsprachigen Lexika seit dem 18. Jahrhundert zu beobachten.38 Dieser Vorgang entstand einerseits aus dem Bemühen, Komplexität zu reduzieren, etwa bei der Vermittlung von Wissenschaften. Andererseits sollten der damit einhergehende Indikativ und die Vermeidung von Fragen den Eindruck erwecken, Lexika vermittelten ausschließlich gesicherte Informationen. Ulrike Spree sprach in diesem Kontext von der »autoritativen Gültigkeit«39, die Lexika somit erhielten.

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Sigismund Radecki: Altes vom Büchertisch, in: Frankfurter Zeitung (Reichsausgabe), 2.8.1942. Spree, Streben nach Wissen, S. 57. Ebd. S. 239, vgl. zu dieser Vorgehensweise insb. auch S. 149-200.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

Auch der Gründer des Bibliographischen Instituts, Joseph Meyer, verpflichtete seine Redakteure in den 1830er Jahren zu Klarheit in Sprache und Form: »Ein kräftiger, markirter, frischer Styl, der die reichte Mitte hält zwischen der abstrusen Compendienform und dem laxen Ton der Unterhaltungsliteratur, ist bei allen größeren Artikeln zu adoptiren, bei kleineren Artikeln aber muß eine noch größere Präcision eintreten, und hier, wo es nur darauf ankommt, Fakta hinzustellen, ist selbst die Ersparung eines Wortes, ja einer Silbe, als Gewinn anzusehen.«40

Hinter dieser Maxime steht allerdings die schwierige Entscheidung darüber, was Fakten sind und inwiefern nicht auch sie trotz oder gerade wegen der neutralen Sprache eine Deutungsvorgabe mitliefern können. Der Spagat zwischen scheinbar neutralem Wissen und einer sich dahinter verbergenden Interpretation war Meyer nicht entgangen. Kennzeichnend ist in diesem Kontext der Eintrag »Adel«, dessen Polemik trotz der zunächst sachlichen Unterscheidung in »Geburtsadel« und »Verdienstadel« nicht zu übersehen ist. Die Vorrechte des Geburtsadels, so der Text, gingen automatisch auf die Kinder und Enkel über, ganz unabhängig von deren eigenen Verdiensten. Bis dahin erscheint die Argumentation sinnvoll zu sein, doch der Text geht noch einen Schritt weiter, indem er darauf hinweist, dass durch die Geburtenregelung »auch der bis zum Schurken herabgesunkene immer von Adel«41 bliebe. Damit bringt der Text selbstverständlich ein Missbilligen dieser obrigkeitlichen Verhältnisse zum Ausdruck. Der Eintrag ist sicherlich ein besonders plakatives Beispiel für die Möglichkeiten, trotz der gebotenen Kürze eines Lexikoneintrages Deutungsvorgaben mitzuliefern. Er ist darüber hinaus allerdings auch ein Beispiel, das zeigt, dass Enzyklopädien sich auf Grund ihrer schwierigen Zensierbarkeit als attraktiv für die Vermittlung von Wissen erwiesen, das mit der Obrigkeit nicht konform ging.42 Und schließlich führt dieser Artikel vor Augen, dass Meyers oben zitierte Vorgaben für das Schreiben einer Enzyklopädie nur im Rahmen seines liberalen Gesellschaftsbildes denkbar sind und dass sich die Enzyklopädie wiederum gezielt an gleichgesinnte liberale Bürgerliche wandte. Die Einträge zu politischen Fragen schrieb Meyer oftmals selbst und ergriff damit im Sinne seiner eigenen Überzeugungen persönlich Partei für die bürgerlichliberalen Strömungen der 1848er Revolution. Da wo das »Gemüth mitredet«43, etwa bei Fragen der Religion, Philosophie oder Politik, müsse, so Meyer, die Darstellung einen Schwung bekommen. Die Redakteure sollten versuchen, »nicht bloß 40

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Reglement für die Herren Mitarbeiter am großen Meyer'schen Conversatons-Lexicon, 1834, zit. nach Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 104. Stichwort »Adel«, in: Conversations-Lexicon (1. Aufl. Meyer), S. 321, vgl. auch Langewiesche, Bürgerliche Adelskritik. Vgl. dazu auch das nachfolgende Kapitel. Reglement für die Herren Mitarbeiter am großen Meyer'schen Conversatons-Lexicon, 1834, zit. nach Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 104.

1. Das Erfolgsmodell des Konversations-Lexikons

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die Sache zu erklären, sondern auch den Leser zu erwärmen.«44 Seine Vorstellungen von Bildung und Objektivität waren funktional in die Wechselbeziehung von Staat und Gesellschaft eingebunden und offenbarten einen politischen Wesenskern.45 Die Produktion von allgemeinen Lexika verlagerte sich im 19. Jahrhundert zunehmend auf spezialisierte Firmen und Unternehmerdynastien wie F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut. Damit einher ging die zunehmende Unsichtbarkeit derjenigen Personen, die als Redakteure, Wissenschaftler, Fachleute, Politiker und Kaufleute an der Produktion des Wissens beteiligt waren. Zwar galten Spezialisten in den jeweiligen Vorworten als Garanten für den Wahrheitsgehalt und mithin die Qualität der Werke, aber das eigentliche personelle und institutionelle Netz und seine zivilgesellschaftliche Ausrichtung entzog sich immer mehr dem Blickfeld der Leser. Noch im Vorwort der fünften und sechsten Auflage des Konversations-Lexikons legte der F. A. Brockhaus Verlag nicht nur namentlich Rechenschaft über die Mitarbeiter des Lexikons ab, sondern er gab auch ihren Wohnsitz und ihre Profession mit an, um dem Werk Glaubwürdigkeit und Autorität zu verleihen.46 Zudem wurde im Vorwort eine Übersicht über die Bücher der Redaktionsbibliothek gegeben, es wurden die Neuanschaffungen der letzen Jahre sowie die aktuellen Zeitungsabonnements genannt und letztlich auch die formalen Kriterien für die Abfassung der Lexikonartikel erläutert.47 Die Artikel selbst enthielten dann weder den Namen des Autors noch waren sie mit einer Literaturangabe versehen. Es setzte ein stetig zunehmender Prozess der Ent-Personalisierung ein. Mit den späteren Auflagen des Konversations-Lexikons verschwanden selbst minimale Angaben über die Autorschaft, und es war kaum mehr möglich, die Herkunft der Texte nachzuvollziehen. Im Vorwort der siebenten Auflage findet sich nur noch ein Verzeichnis derjenigen Mitarbeiter, die sich besonders umfangreich an dem Werk beteiligt hatten.48 Die Anonymisierung des Wissens wurde alsbald systematisch verfolgt, und selbst bei Leseranfragen wurde schließlich nur noch selten der Name des Autors preisgegeben.49 Umgekehrt erfolgte die Namensnennung - etwa in dem im Zuge der 1848er Revolution entstandenen Ergänzungswerk Die Gegenwart - nur 44 45 46

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49

Ebd. Vgl. zu Meyers Bildungsbegriff Milde, Meyers »Universum«, S. 55-68. Im Vorwort zur 6. Auflage des »Conversations-Lexicons« von FAB (S. XII-XV) werden alle Mitarbeiter seit der 1. Auflage namentlich angegeben, für diese Liste berief sich der Verlag auf das Vorwort der 5. Auflage, wo ebenso verfahren worden sei. Ebd. S. IX-XII. Vorwort, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversatios-Lexicon), 12 Bde., Leipzig: FAB 71827[-1830], S. V-VII, hier S. Vif. Erhard Hexelschneider: Russisches im Brockhaus-Archiv, in: Archiv - Geschichte Region (Veröffentlichungen des Sächsischen Staatsarchivs Leipzig 7), Leipzig 1994, S. 108-124, hier S. 121.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

noch auf ausdrücklichen Wunsch des jeweiligen Autors.50 Sicherlich garantierte der Verlag seinen Autoren damit auch einen gewissen Schutz vor der Zensur, gleichwohl band er so aber auch Wissen und Informationen nicht mehr an eine bestimmte Person, sondern an das Unternehmen. Anders verhielt es sich bei der von den beiden Hallenser Professoren Johann Samuel Ersch (1766-1828) und Johann Gottfried Gruber (1774-1851) herausgegebenen Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, die F. A. Brockhaus ab 1831 ebenfalls im Verlag hatte.51 Hier wurden die Texte sehr wohl mit dem Namen des Autors versehen und sie enthielten auch zahlreiche Literaturangaben. Dieser Unterschied erklärt sich daraus, dass das Werk ein anderes Konzept verfolgte: es ging hier nicht um die Vermittlung eines breiten Allgemeinwissens, sondern um die Popularisierung der sich, um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert transformierenden Wissenschaften und um die Verbreitung von Fachwissen, das von ausgewiesenen Spezialisten zusammengetragen wurde. Sie sollten auf Grund ihrer speziellen Qualifikationen und mit ihrem Namen die Fundiertheit der Informationen garantieren. Die oftmals weniger bekannten Namen der Redakteure und Mitarbeiter, die an den verschiedenen Auflagen des Brockhaus beteiligt waren, lassen sich eruieren, weil das Unternehmen ein Archiv besaß, das bis zur Zerstörung des Verlagsgebäudes während eines Bombenangriffs auf Leipzig im Dezember 1943 offenbar sehr gut organisiert war. In den 1870er Jahren konnte mit Hilfe dieses Archivs ein präzises und zahlreiche Zusatzinformationen beinhaltendes Werkverzeichnis erstellt werden,52 und zum hundertjährigen Jubiläum von 1905 zeichnete Heinrich Eduard Brockhaus für seine hauseigene Firmengeschichte ein eindrückliches Panorama der Mitarbeiter, Autoren und Redakteure und griff dafür ebenfalls auf das interne Archiv zurück.53 Doch obwohl die Namen der an der Entstehung des Lexikons beteiligten Personen auf diese Weise zugänglich sind, bleibt das sich hinter den Werken verbergende, personelle und institutionelle Netzwerk auffallend unschein50 51

52 53

Schlußwort, in: Die Gegenwart, Bd. 12 (1856), S. X. Heinrich und Friedrich Brockhaus übernahmen 1831 die gesamte Verlagsbuchhandlung Johann Friedrich Gleditsch, vgl. Heinrich Eduard Brockhaus, Firma F. A. Brockhaus, S. 107. Heinrich Brockhaus, Vollständiges Verzeichnis 1805-1872. Heinrich Eduard Brockhaus, Firma F. A. Brockhaus. Darüber hinaus wurde das Werkverzeichnis aktualisiert: Vollständiges Verzeichnis der von der Firma F. A. Brockhaus in Leipzig seit dem Jahre 1873 bis zu ihrem hundertjährigen Jubiläum im Jahre 1905 verlegten Werke. In alphabetischer Folge mit biographischen und literaturhistorischen Notizen, Leipzig 1905. Die zahlreichen Mitarbeiter und Autoren der enzyklopädischen Zeitschriften, die als Begleitprodukte zum Konversations-Lexikon herausgegeben worden sind, hat Otmar Seemann dokumentiert, vgl. Seemann, Enzyklopädische Information, S. 8-16.

1. Das Erfolgsmodell des Konversations-Lexikons

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bar. Das zivilgesellschaftliches Engagement dieser bürgerlichen, gemäßigt liberalen und national orientierten Personen ist über die Werke dokumentiert, doch sie selbst treten in den Hintergrund und sind heute nicht mehr als maßgebliche Publizisten einer Epoche bekannt, die mit ihrem Schaffen das Gesellschaftsbild einer Generation prägten.54 In der heutigen Wahrnehmung, die ganz entschieden von der Entscheidung des Verlages geprägt ist, die Autoren und ihre Quellen nicht mehr mit anzugeben, ging die Wissensvermittlung allein vom Unternehmen F. A. Brockhaus, Leipzig, aus. Bekannter sind oftmals nur die Redaktionsleiter. August Kurtzel betreute neben der 10. und 11. Auflage des Konversations-Lexikons auch die Herausgabe der Ergänzungswerke, etwa Die Gegenwart sowie die ersten Bände von dessen Nachfolger, Unsere Zeit.55 Sein Stellvertreter war der unscheinbare Oskar Pilz. Als dieser 1872 starb, ging die Leitung der Lexikonredaktion auf Gustav Stockmann und Karl Wippermann über. Dem Juristen Wippermann war auf Grund allzu liberaler Ansichten eine universitäre Laufbahn ebenso versagt wie der Staatsdienst, so dass er eine umfangreiche publizistische Tätigkeit in Angriff nahm. Dazu zählten neben den Arbeiten am Konversations-Lexikon auch Zeitungsartikel für die Deutsche Allgemeine Zeitung und die Dresdner Zeitung, aber auch zahlreiche biographische Einträge für die Allgemeine Deutsche Biographie.56 Trotz dieser Ikonen, zu denen in früheren Jahren auch Friedrich Christian August Hasse und Karl August Espe zählten, bleiben die Redaktion und der Kreis der Mitarbeiter hinter dem Namen »Brockhaus« versteckt. Es verband sich mit dem vermittelten Wissen trotz liberaler Individualitätskonzepte kein individuelles Wissen, das kraft persönlicher Autorität für Qualität sorgte, sondern ein Universalwissen, das mit einem Firmennamen verbunden wurde (und wird).

Liberale und nationale Identität im Spiegel enzyklopädischer Nebenwerke In Deutschland erwiesen sich insbesondere zwischen dem Vormärz und der Reichsgründung fortlaufend erscheinende, enzyklopädische Zeitschriften als attraktiv für eine gesellschaftspolitische Ausrichtung von Wissen. Eine Vorreiter54

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Die Namen der Mitarbeiter des Meyerschen Konversations-Lexikons nebst biographischen Skizzen sind verzeichnet bei Armin Human: Carl Joseph Meyer und das Bibliographische Institut von Hildburghausen - Leipzig, Hildburghausen 1896, S. 18-25. [= Sonderdruck aus: Schriften des Vereins für Meiningische Geschichte und Landeskunde 23 (1896)]. Heinrich Eduard Brockhaus, Firma Brockhaus, S. 180 u. 209. Hermann A. L. Degener: Wer ist's? Unsere Zeitgenossen, Berlin, Leipzig 41909, S. 339.

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rolle nahm hier Joseph Meyer ein, der ab 1833 eine Mischung aus Enzyklopädie und Zeitschrift nutzte, um seine liberalen Auffassungen ohne Einschränkungen durch die Zensur verbreiten zu können. Im Zuge der 1848er Revolution erschienen auch bei F. A. Brockhaus enzyklopädische Zeitschriften. Der Verlag hatte bei seiner Wahl für dieses Format allerdings weniger die Zensur im Blick, als vielmehr die Möglichkeit, über die Ergänzungswerke fortlaufend Korrekturen am liberalen Gesellschaftsbild vornehmen zu können. Ein weiterer Unterschied in den enzyklopädischen Nebenwerken beider Verlage liegt darin, dass im Gegensatz zu Die Gegenwart und Unsere Zeit, die bei F. A. Brockhaus erschienen, das so genannte Meyers Universum kein Medium zur gemeinschaftlichen Aushandlung eines identitätsstiftenden Orientierungswissens war. Meyers Universum war ein Organ des Herausgebers persönlich, in dem nur er seine bürgerlich-liberalen und oftmals radikalen Ansichten verbreitete. Dem Universum57 vorausgegangen waren zwei gescheiterte Zeitungsprojekte. Meyer, dessen Geschäft damals noch im thüringischen Hildburghausen angesiedelt war, hatte in Zusammenarbeit mit Philipp Jakob Siebenpfeiffer für 1832 die Herausgabe der Zeitung Hausfreund geplant, sah sich auf Grund von Problemen mit der Zensur aber gezwungen, das Projekt schon nach dem Erscheinen einer Probenummer wieder einzustellen.58 Ab Mai 1832 konnte schließlich zweimal wöchentlich Zeitung der Volksfreund erschienen, wo er mit bissigem Spott radikale liberale Ansichten vertrat.59 Der Volksfreund wurde zwar vorzensiert, aber trotzdem schon nach nur wenigen Ausgaben bereits im September des gleichen Jahres verboten. Meyer musste also andere Möglichkeiten erwägen, um seine Vorstellung vom Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft zu verbreiten und um zugleich die Konflikte mit der Zensur zu umgehen. Mit Meyers Universum entschied er sich für ein reich bebildertes und im Umfang großes Format, weil in der Bundesakte von 1815 respektive in Folge der Karlsbader Beschlüsse bestimmt worden war, dass Werke in einem Umfang von über zwanzig Bogen zensurfrei seien. Auf diese Weise bildete ab 1833 nun Meyers Universum das Sprachrohr des streitbaren Meyer.

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Meyer's Universum oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde, Hildburghausen: BI 1 (1833/34)—21 (1860); Meyer's Universum. Ein Jahrbuch für Freunde der Natur und Kunst mit Abbildungen der interessantesten Stätten der Erde und Beschreibungen, Hildburghausen: BI 1862 (1861), 1863 (1862), 1864 (1863). Die Zeitschrift erschien unregelmäßig, für den genauen Erscheinungsverlauf vgl. Sarkowski, Das Bibliographische Institut, S. 215f. Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 83-86. Der Volksfreund. Ein Blatt für Bürger in Stadt und Land, Hildburghausen: BI 1 (19. Mai 1832) - 35 (18. Sept. 1832). Vgl. zu dieser Zeitschrift Milde, Meyers »Universum«, S. 42-54.

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Meyers Universum war auf den ersten Blick ein Bildwerk, das mit Stahlstichen von Gebäuden und Landschaften der europäischen und außereuropäischen Welt zu faszinieren suchte. Doch die Abbildungen waren in erster Linie Meyers Bühnenbild, vor dessen Hintergrund er in schmalen Begleittexten ein »scharfes Gedankenschwert«60 zückte. Wie er selbst behauptete, kümmerte es ihn in seinem wortreichen Kampf für Freiheit und Gleichberechtigung nicht, »ob er Ritter treffe oder Pfaffen, Fürsten oder Könige«.61 Das Programm der Zeitschrift war kämpferisch, liberal und bürgerlich. Noch 1850 äußerte Meyer rückblickend: »Der Geist der aus diesem Buche spricht bleibt immer der nämliche. [...] Freiheit und Recht für alle Völker unablässig fordernd, will er die Humanität als das höchste Zeil des Menschenlebens geltend machen [...].«62

Es war eine äußerst erfolgreiche Idee, Stahlstiche mit nur wenigen, aber in gesellschaftspolitischer Hinsicht treffsicheren Bemerkungen zu versehen. Das Spektrum der qualitativ hochwertigen Abbildungen reichte von Stadt- und Landschaftsansichten über Fürstenhöfe bis hin zu berühmten Bauwerken.63 Die Bilder machten die Zeitschrift nebst ihrer subversiven Kritik so beliebt, dass ganze Jahrgänge ins Polnische, Ungarische und Slowenische übersetzt wurden, daneben finden sich vereinzelte Ausgaben in niederländischer, dänischer und schwedischer Sprache.64 Zwischen 1850 und 1857 erschienen in New York acht Bände einer amerikanischen Ausgabe in deutscher Sprache. Diese hatte Meyers Sohn Herrmann Julius übernommen, allerdings überwachte der Vater das Projekt aus der Ferne mit Adleraugen und achtete präzise darauf, dass an seinen Texten nichts verändert oder gar umgeschrieben wurde.65 In den frühen Jahren fanden sich die liberalen Forderungen Meyers in nahezu allen Verlagsobjekten. Seine Ansichten waren so radikal, dass Meyer offenbar selbst in Verlegerkreisen ein wenig angesehener Geschäftspartner war.66 Darüber hinaus jedoch waren seine Werke seit jeher eine Zielscheibe für die Zensur, und 60

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Werbeanzeige für das »Universum« von 1850, zit. nach Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 88. Ebd. Ebd. Vgl. Angelika Marsch: Meyer's Universum. Ein Beitrag zur Geschichte des Stahlstiches und des Verlagswesens im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe Nordost - Archiv), Lüneburg 1972. Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 90. Kennzeichnend ist in diesem Kontext ein Brief an seinen Sohn: »[...] daß ich keine Veränderung des Titels, Vorrede etc. dulde u. Du die Hefte unverändert zu lassen hast, wie sie sind und ich sie liefere.« Joseph Meyer an Herrmann Julius Meyer, 14.5.1852, zit. nach: Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 168. Nicht zuletzt auf Grund seines ungewöhnlichen Geschäftsgebarens, vgl. Sarkowski, Das Bibliographische Institut, S. 25f.

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davon ausgenommen war schließlich auch das Universum nicht.67 Schon drei Jahre nach der ersten Ausgabe setzte sich Herzog Bernhard II. von Sachsen-Meiningen, in dessen Hoheitsgebiet der Verlagssitz Hildburghausen lag, über die Zensurbestimmungen der Bundesakte hinweg. Er ordnete an, dass die Werke des Bibliographischen Instituts ohne Ausnahme vollständig zu zensieren seien. Ob diese Zensurbestimmung bei Meyer direkt in die Idee eines Lexikons mündete, in der die Wissensvermittlung auf Grund von tückischen Stichworten und verwobenen Querverweisen schwer zu kontrollieren war, muss offen bleiben. Tatsache ist jedoch, dass das ab 1840 erscheinende Conversations-Lexicon und das Universum nicht nur dadurch miteinander verbunden sind, dass die Stahlstiche nun wiederverwendet wurden. Vielmehr gab Joseph Meyer die erste Auflage seines Lexikons den ca. 32.000 Abonnenten des monatlich erscheinenden Universums als kostenloses Beiwerk mit. Nur diejenigen Interessenten, welche die Zeitschrift nicht bezogen, mussten das Lexikon käuflich erwerben.68 Mit dieser Zugabe verband sich ein hoher materieller Wert, aber es war wiederum eine geschickte Möglichkeit, unter dem Deckmantel der allgemeinen Bildung, liberale politische Ansichten zu verbreiten. Meyer's Universum bildet im Bereich der enzyklopädischen Wissensvermittlung sicher eine Ausnahme, denn das Credo bestand nicht in der gemeinschaftlichen Aushandlung gesellschaftlicher Wertvorstellungen. Dennoch veranschaulicht das Universum die Verbindung von allgemein zugänglichen Informationen und einer Politisierung von Wissen. Nach Meyers Tod 1857 wurde aus dem Universum immer mehr eine kontemplative Serie mit rein geographisch-völkerkundlichem Charakter, der jeglicher Bezug zum politischen Zeitgeist abhanden kam. Das verweist auf die enge Verbindung mit den persönlichen liberalen Zielsetzungen des Verlegers. Neuen Schwung bekamen die enzyklopädischen Nebenwerke im Bibliographischen Institut dann erst wieder mit der Reichsgründung. Generell lässt sich festhalten, dass diese enzyklopädischen Zeitschriften mindestens ebenso beliebt waren, wie die Enzyklopädie selbst.69 Im Gegensatz zum Bibliographischen Institut herrschten im F. A. Brockhaus Verlag eher gemäßigte liberale Ansichten, was sich eindrücklich am Programm des Ver-

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1850 wurde »Meyer's Universum« in Preußen verboten, was Meyer gegenüber seinem Sohn mit den Worten kommentierte »wäre die Rotte einig, so würde das Buch schon in ganz Deutschland verpönt sein«, Joseph Meyer an seinen Sohn Herrmann, 12.8.1850, zit. nach Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 296. Hohlfeld, Das Bibliographische Institut, S. 105. Andere Werke aus dem BI sind: Ergänzungsblätter zur Kenntnis der Gegenwart, 7 Bde., Hildburghausen: BI 1866-1871; Deutsche Warte. Umschau über das Leben und Schaffen der Gegenwart, 9 Bde., Hildburghausen: BI 1871, Otto Wiegand 1872-1873; Meyers deutsches Jahrbuch, Hildburghausen 1872-1873.

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1. Das Erfolgsmodell des Konversations-Lexikons

lages ablesen lässt.70 Das verlegerische Handeln war von einer Nähe zum Zeitgeist bestimmt, die mit einem Gespür für Werke verbunden war, die sowohl die Zensur überstehen würden als auch die Bedürfnisse bürgerlicher Leser nach politischer und gesellschaftlicher Orientierung befriedigten sollten.71 An dem Aushandlungsprozess einer politischen Kultur und einer bürgerlichen Selbstvergewisserung waren neben den großen Enzyklopädien insbesondere die kleineren Ergänzungswerke beteiligt. Im Laufe der Jahre erhielten diese Werke zunehmend Zeitschriftencharakter, sie verfolgten aber weiterhin einen allumfassenden und allgemeingültigen Anspruch. Unter der Redaktion von Wilhelm Adolf Lindau erschien als Ergänzung zur siebenten Auflage des großen Konversations-Lexikons ein kleineres, nur vier Bände umfassendes Conversations-Lexikon

der neuesten Zeit und Literatur

(1832-1834).

Indem es zusätzliche Stichworte und Aktualisierungen anbot, bezog es sich zwar auf das Hauptwerk, war gleichzeitig aber als eigenständige Enzyklopädie angelegt und konnte separat erworben werden. Ein vorangestelltes Motto verortete das Werk eindringlich im Rahmen gegenwartsbezogener Deutungsmuster: »Der Tugend ihre eignen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen.«72 Es ist Shakespeare, mit dem der Verlag hier kokettierte und mit dem er das neue Nachschlagewerk gleichsam als aktuelle Orientierungshilfe anbot. Das Lexikon enthielt in erster Linie biographische Einträge zu den Personen des im weitesten Sinne öffentlichen Lebens in Deutschland und Europa, daneben fanden sich mit Stichworten wie »Dienstpragmatik«, »Auslieferung«, »Pressefreiheit«, »Emigration«, »Erziehungswesen« auffallend häufig Einträge zur Fragen der Verwaltung, des Militärs und des Völkerrechts. Auf diese Weise trugen die Ergänzungsbände dazu bei, auf einer zivilgesellschaftlichen Ebene Fragen zur Staatsräson und zur gesellschaftlichen Verfasstheit auszuhandeln. Damit war das Prinzip der kleineren Ergänzungen, die explizit gegenwartsbezogen und nicht nur Supplemente zum Hauptwerk darstellten, so vielversprechend, dass es für nahezu alle Auflagen des 19. Jahrhunderts beibehalten wurde. Besonders praktisch erwiesen sich die Ergänzungen und Erneuerungen als mit der 1848er Revolution die neunte Auflage des Hauptwerkes gerade abgeschlossen war und die sich überschlagenden Ereignisse nun in den Ergänzungsbänden interpretiert und verhandelt werden konnten. Da mit der Planung des Zusatzwerkes unter dem Titel Die Gegenwart. Eine encyklopädische

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Darstellung der neuesten

Zeit-

Die umfangreiche Palette der publizierten Werke ist in den beiden Verlagsverzeichnissen dokumentiert: Heinrich Brockhaus, Vollständiges Verzeichnis 1805-1872 sowie O.A., Vollständiges Verzeichnis 1873-1905. Vgl. Dietrich, Brockhaus als geistiges Zentrum. Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Literatur, 4 Bde., Leipzig: FAB 1832— 1834, Titelblatt.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

geschickte für alle Stände bereits im Jahr zuvor begonnen worden war, konnte der erste Band noch 1848 erscheinen.73 Er wartete sogleich mit Augenzeugenberichten über die Pariser Februarrevolution und die Straßenkämpfe vom Juni auf.74 Doch trotz des Aktualitätsbezugs sollte das Werk nicht den Charakter einer Tageszeitung erhalten, sondern die Geschehnisse einordnen. Das Ziel war die Suche nach einem bürgerlichen Konsens über liberale Wertvorstellungen inmitten der Ereignisse von 1848. Es lasse sich, so das Vorwort, eine Richtung entdecken, in welche sich die »elektrischen Strömungen der Zeit« bewegten, die Gegenwart habe »gewissermaßen wol einen Standpunkt gewonnen«, von dem aus es berichte.75 Damit schrieb Die Gegenwart sich selbst keinen polemischen oder tendenziösen Charakter zu, sondern die Hoheit über die Deutung und Interpretation der Ereignisse. Die ersten Bände zehren von der Revolution und ihrem Scheitern: Dazu zählen Berichte aus Baden, Hessen, Württemberg, Sachsen, Schleswig-Holstein und Berlin; vergleichende Darstellungen zur Situation in Belgien, Polen, Russland, Ungarn und England; Themen zum Deutschen Bund und zur panslawistischen Bewegung sowie immer wieder biographische Einträge. Zugleich fand die Aushandlung und Transformation aktueller juristischer und politischer Diskurse in allgemeines Wissen statt. Es ist eine im weitesten Sinne politische Kultur, die in zumeist anonymen Artikeln einen Austragungsort erhielt. Es standen keine wissenschaftlichen oder technischen Erkenntnisse im Vordergrund, sondern Fragen nach einer nationalen und gesellschaftlichen Organisation. In der Gegenwart präsentierte sich der Zeitgeist der Gesellschaft im Spannungsfeld von Liberalismus und Nationalismus. Die Gegenwart fand 1856, nachdem sich das nationalliberale Prinzip des enzyklopädischen Ergänzungswerkes überholt hatte, ein Ende. Die Redakteure präsentierten die enzyklopädische Zeitschrift im Schlusswort des letzten Bandes als bürgerliches Monument der Ereignisse von 1848 und wiesen ihr damit einen Platz in der Zeitgeschichte zu: »Die >Gegenwart< [...] entfaltet den zeitgeschichtlichen Stoff und Gehalt in epischer Breite, um denselben aus dem Interesse und dem Bewusstsein des Zeitlebens selbst heraus zu erläutern, indem der Stoff geordnet erfaßt wird, die treibenden Ideen ausgewiesen und die Menschen in ihren Thaten und ihrer Denkungsart beurteilt werden.«76 73

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Vorwort, in: Die Gegenwart. Eine Enzyklopädische Darstellung der neuesten Zeitgeschichte für alle Stände, 12 Bde., Leipzig: FAB 1848-1856, hier Bd. 1, S. V. Zur vorhergehenden, 8. Auflage des Konversations-Lexikons hatte der Verlag eine Ergänzung mit ähnlichem Titel herausgegeben: Conversations-Lexicons der Gegenwart, 5 Bde., Leipzig: FAB 1838-1841. Die Französische Revolution vom Februar 1848, in: Die Gegenwart 1 (1848), S. 1-60; Der Pariser Straßenkampf vom Juni 1848, in: ebd. S. 209-231. Vorwort, in: ebd. S. VII. Schlußwort, in: Die Gegenwart 12 (1856), S. IX.

1. Das Erfolgsmodell des Konversations-Lexikons

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Das zivilgesellschaftliche Netz aus Redakteuren, Wissenschaftlern und Politikern schuf sich selbst ein Denkmal der Revolution, indem es das Werk als zeithistorische Enzyklopädie der 1848er Revolution präsentierte. Die Gegenwart wollte »die factische Wahrheit und die wissenschaftliche, leidenschaftslose Auffassung, gegenüber der Einseitigkeit und Maßlosigkeit der Partei und der Wandelbarkeit der Tagesmeinung«77 vermittelt haben. Mit dieser Auffassung rückte die Redaktion nicht unbedingt von ihrem früheren, liberalen Selbstverständnis ab, sicherte dem Lexikon aber eine universelle Gültigkeit im Rahmen eines liberalen Gesellschaftsbildes. Indem die Redakteure des F. A. Brockhaus Verlages der Gegenwart den Charakter einer objektiven Berichterstattung zuschrieben, präsentierten sie ihr Werk als maßgeblich gültige Quelle der Zeit. Diese historische Inszenierung setzte sich auch im nachfolgenden Projekt fort, das ab 1857 unter dem Titel Unsere Zeit erschien. Rückblickend stellten die Radakteure es hier als Aufgabe des vorangegangenen Mediums, Die Gegenwart, dar, die politischen Ereignisse der Epoche um und nach 1848 dokumentiert zu haben.78 Sie gaben auf diese Weise vor, wie sie zu lesen ist, nämlich als ein objektives Nachschlagewerk. Unsere Zeit kam zwar auch als Ergänzungswerk zum eigentlichen Konversations-Lexikon auf den Markt, nämlich zur elften, zwischen 1864 und 1867 erschienenen Auflage, aber es war nun zugleich auch ausdrücklich als Jahrbuch angelegt. Es erschien mit sich wandelnden Titeln und unter wechselnden Chefredakteuren zwischen 1857 und 1891.79 Neben in der Regel mehrere Seiten umfassenden Abhandlungen waren sowohl Nekrologe als auch kleinere Mitteilungen enthalten, und die Artikel wurden zunehmend wieder mit dem Namen des Autors versehen. Unsere Zeit entfernte sich von den formalen Vorgaben des Konversations-Lexikons und bekam Merkmale einer Zeitschrift. Inhaltlich war Unsere Zeit allerdings noch immer darauf bedacht, möglichst umfassende Informationen für einen breiten Leserkreis zu liefern, denn es verfolgte die Absicht, »den Charakter einer populären Encyklopädie« beizubehalten.80 Indem die Zeitschrift sowohl eine Tiefenschärfe mit allzu konkreten Ausführungen als auch eine parteiliche Einfarbung des

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Ebd. S.X. Vorwort, in: Unsere Zeit 1 (1857), S. V. Unsere Zeit. Jahrbuch zum Conversations-Lexikon, Leipzig 1857-1864; Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart. Monatsschrift zum Conversations-Lexicon. Neue Folge, Leipzig 1865-1874; Deutsche Revue der Gegenwart. Neue Folge, Leipzig 1875— 1879; Deutsche Revue der Gegenwart, Leipzig 1880-1891. Im Folgenden immer mit »Unsere Zeit (Jahr)« nachgewiesen. Eine Übersicht über den gesamten Erscheinungsverlauf und die Namen der Herausgeber und Redakteure bietet Otmar Seemann, Enzyklopädische Information, S. 15f. Vorwort, in: Unsere Zeit (1857), S. V.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

Wissens weit von sich wies, stellte sie sich wieder in die enzyklopädische Tradition des bürgerlichen Konzepts von Bildung und Aufklärung.81 Sie wollte das »Zeitleben« in Staat und Gesellschaft sowie in Wissenschaft und Kunst »in einem geschlossenen Gesamtgemälde zur Anschauung« bringen.82 In Unsere Zeit lässt sich generell der Einbezug von weit gefassten Themen mit diversen Informationen beobachten. In den Artikeln wurde zumeist kein Infragestellen oder Zweifeln an gesellschaftspolitischen Zusammenhängen vorgenommen, sondern vielmehr ein gängiges Wertesystem gefestigt. Informationen zum Bau des Suezkanals, Nachrichten aus China sowie Reiseberichte aus Afrika schlossen die außereuropäische Welt mit ein. Und in Abhandlungen über Kautschuk, Baumwolle und Zucker wurden die Errungenschaften der westlichen Industrialisierung gefeiert. Dennoch waren es in erster Linie Nachrichten aus Europa, über europäische Künstler und Schriftsteller, über den europäischen Fortschritt und europäische Entwicklungen, die das Bild prägten. Es war eine kulturpolitische Zeitschrift, eine Art bürgerliches Unterhaltungsblatt, wodurch sie in Abgrenzung zu ihrem Vorgänger Die Gegenwart zu dokumentieren schien, dass sich bürgerlich liberale Kreise nun kontinuierlich dem Obrigkeitsstaat angenähert hatten. Die Notwendigkeit, neben dem eigentlichen enzyklopädischen Hauptwerk, dem KonversationsLexikon, das Korrektiv einer politischen Erläuterung in Form von Ergänzungsbänden einzuschalten, war offensichtlich überflüssig geworden. Der Eindruck der Anpassung verstärkt sich bei einem Blick auf die Biographie des langjährigen Chefredakteurs von Unsere Zeit, Rudolf Gottschall (1823-1909). Er übernahm die Redaktion 1864 und prägte die Zeitschrift bis zu seinem Rücktritt 1887.83 Gottschall war es, der ihr in diesen zwanzig Jahren ein ausgesprochen kulturpolitisches Profil gab. Zwar war er 1841 noch auf Grund allzu liberaler Meinungen und politischer Aktionen von der Universität Königsberg verwiesen worden,84 doch näherte er sich nach den stürmischen Jahren immer mehr den obrigkeitlichen Vorstellungen des deutschen Nationalstaates an. Er gehörte schließlich zu denjenigen Liberalen, die sich trotz einer vormaligen revolutionären Abneigung gegenüber feudalen Rechten späterhin adeln ließen.85

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Ebd. Ebd. Zuvor wurde die Zeitschrift von August Kürzel geleitet, ab 1887 übernahm sie Friedrich Bienemann. Adolf Hinrichsen: Das literarische Deutschland, Berlin u. a. 21891 sowie Franz Briimmer: Deutsches Dichterlexikon, Eichstätt 1876-1877, hier Bd. 1, beide über: World Biographical Information System Online, Nationallizenz, Zugang über UB Heidelberg, (26.9.2007). Gottschall wurde 1877 geadelt, vgl. Heinrich Eduard Brockhaus, Firma F. A. Brockhaus, S. 204.

2. Die Dynamik des Wissens

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2. Die Dynamik des Wissens Die Nationalisierung von Wissen bei Übersetzungen und Adaptionen In den zwanzig Jahren zwischen 1829 und 1849 bearbeitete der F. A. Brockhaus Verlag insgesamt 660 Titel, darunter befanden sich ca. 90 Übersetzungen. 86 Dieser hohe Anteil an Übersetzungen weist zum einen auf ein Netz von Geschäftskontakten außerhalb der deutschen Kleinstaaten hin und lässt zum anderen darauf schließen, dass das Verlagsprogramm auf die Vermittlung anderer Kulturen ausgerichtet war. Übersetzt wurde zumeist aus den Sprachen der großen Monarchien im europäischen Mächtegleichgewicht, daneben aber auch Werke aus dem Polnischen, Ukrainischen und Schwedischen.87 Vermutlich weil Herrmann Brockhaus (18061877), der dritte Sohn von Friedrich Arnold Brockhaus, Ordinarius für ostasiatische Sprachen an der Universität Leipzig war, nahmen asiatische und orientalische Werke um die Jahrhundertmitte zu. Zentral wurden nun Übersetzungen aus dem Persischen und Sanskrit. Herrmann Brockhaus war zudem Gründungsmitglied der Morgenländischen Gesellschaft (1845) und Redakteur ihres im F. A. Brockhaus verlegten Publikationsorgans Abhandlungen

der Deutschen Morgenländischen

Gesell-

schaft.88 Doch der Verlag übersetzte nicht nur aus einer jeweiligen Sprache ins Deutsche, sondern auch in diese: neben Lessing und Kant erschienen auf Französisch Werke zu Ökonomie und Politik, die der Brockhaus & Avenarius Verlag in Paris besorgte.89 Diese vielseitigen Geschäftskontakte spiegeln sich bei den enzyklopädischen Werken. Nicht ohne Stolz verkündete der F. A. Brockhaus Verlag bereits 1823 im Vorwort zur sechsten Auflage, dass es Editionen des Brockhaus in dänischer, schwedischer und niederländischer Sprache gebe.90 Gut fünfzig Jahre später bibliographierte das Werkverzeichnis neben diesen Sprachen auch Bearbeitungen in ungarischer, russischer, polnischer, tschechischer, französischer, italienischer, spanischer, englischer, portugiesischer und selbst bengalischer Sprache und will glau-

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Heinrich Eduard Brockhaus, Firma F. A. Brockhaus, S. 162; vgl. auch Heinrich Brockhaus, Vollständiges Verzeichnis 1805-1872. Heinrich Eduard Brockhaus, Firma F. A. Brockhaus, S. 128. Daneben war er ab 1856 Redaktionsleiter bei der »Allgemeinen Encyclopädie« von Ersch und Gruber. Für das Konversations-Lexikon übernahm er die Gesamtredaktion der zehnten Auflage (1851-1856), vgl. Hübscher, Hundertfünfzig Jahre, S. 91 sowie Heinrich Eduard Brockhaus, Firma F. A. Brockhaus, S. 60. Ebd., S. 129. Vorrede, in: Conversations-Lexicon [6. Aufl. Brockhaus], Bd. 1, S. XXIVf.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

ben machen, dass es sich dabei jeweils um Adaptionen des Brockhaus'schen Konversations-Lexikons handelte.91 Es ist fraglich, inwiefern die aufgelisteten Werke sich im Einzelnen auf den Brockhaus zurückführen lassen, es ist allerdings bekannt, dass sich das Konversations-Lexikon nach deutschem Vorbild tatsächlich als Erfolgsmodell durch das 19. Jahrhundert zog. 92 Die globale Begeisterung beschränkte sich keineswegs auf die Werke aus dem F. A. Brockhaus Verlag, ebenso pflegte das Bibliographische Institut weitreichende Geschäftskontakte zumindest innerhalb Europas. So verkaufte es gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Übersetzungsrechte der fünften Auflage von Meyers Lexikon (1893-1897) nach London an die Times, nach Holland und nach Schweden, und die Übersetzungsrechte der sechsten Auflage (1902-1908) vermarktete das Institut in Italien, Spanien und Polen.93 Die Beobachtungen von der Übersetzung deutscher Enzyklopädie und der dann folgenden Anpassung des Wissens an nationale Gegebenheiten widerspricht nicht sondern ergänzt die These, wonach Enzyklopädien im 19. Jahrhundert zu Bestandteilen einer zunehmend national konnotierten Identitätsbildung wurden.94 Gerade die Titel und die Paratexte signalisieren, dass sie trotz aller universellen Ansprüche eine Identität stiftende Sinngebung vornehmen, die eine Gemeinschaft

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Heinrich Brockhaus, Vollständiges Verzeichnis 1805-1872, S. XXXII-XXXVI. Die internationalen Geschäftsbeziehungen des Brockhaus Verlages sind für das 19. Jahrhundert noch nicht systematisch ausgewertet worden. Vgl. für die Kontakte zu »Chambers« Ulrike Spree, Streben nach Wissen, S. 293-310 sowie Dies., Translation, S. 71-88 (Der Text ist eine gestraffte Zusammenführung der in der Dissertation formulierten Erkenntnisse); für Brockhaus' Kontakte nach Russland vgl. Erhard Hexelschneider: Kulturelle Begegnungen zwischen Sachsen und Russland 1790-1849 (Geschichte und Politik in Sachsen, 13), Weimar u.a. 2000, S. 478-490, sowie Ders.: Russisches im Brockhaus-Archiv; daneben finden sich v. a. in den Festschriften Hinweise auf Adaptionen und Netzwerke, vgl. Dorottya Lipták: Die >Sammlung gemeinnütziger Kenntnisse< von Otto Wigand. Zur Geschichte des ungarischen >BrockhausChambers' Enzyklopäde. Ein Wörterbuch des universalen Wissens für das VolkConversations-Lexikon< auch in der Neuen Welt bekannt wird.«103

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Zu den Zusammenhängen um den Deutschen Bund und die national-liberalen Forderungen der Studenten vgl. Dann, Nation und Nationalismus. Nekrolog auf Franz Lieber, in: Unsere Zeit (1873, erste Hälfte), S. 72f. Gerhard Weiss: The Americanization of Franz Lieber and the »Encyclopedia Americana«, in: Lynne Tatlock/Matt Erlin (Hgg.): German Culture in Nineteenth-Century America. Reception, Adaption, Transformation, Rochester, NY 2005, S. 273-287. Aus den Tagebüchern von Heinrich Brockhaus, 5 Bde., Leipzig 1884—1887, hier Bd. 1, S. 144.

2. Die Dynamik des Wissens

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Um die Jahrhundertmitte wurde die Encyclopaedia Americana von deutscher Seite als ein löblicher Transfer deutscher Kultur nach Nordamerika gefeiert und zugleich das Fehlen ähnlicher Leistungen für die jüngste Zeit bedauert. Die Deutschen würden ihr Heimatland inzwischen nicht mehr so repräsentieren, »wie man es von den Angehörigen einer Nation zu erwarten und zu verlangen« habe.104 Im Laufe der Jahre geriet die Verbindung zwischen Lieber und Brockhaus zunehmend aus dem Blick. Johann Kaspar Bluntschli kam in einem Nachruf auf Lieber, den er 1879 sogar in der enzyklopädischen Zeitschrift Unsere Zeit veröffentlichte, bereits ohne einen Hinweis auf die Americana aus.105 In europäischen Darstellungen verschwand schließlich auch das sich hinter der Enzyklopädie verbergende Konzept der Verbreitung eines möglichst umfassenden und allgemeinen Wissens. Vermutlich auf Grund des Titels, der das nationale und identitätsstiftende Moment in den Vordergrund rückte, sowie wegen Liebers späteren staatsrechtlichen Arbeiten sah sich Reinhold Pauli für den Eintrag zu Lieber in der »Allgemeinen Deutschen Biographie« sogar dazu veranlasst, die Encyclopaedia Americana als »Staatswörterbuch«106 und nicht mehr als Medium zur Vermittlung von allgemeinem Wissen zu bezeichnen. In den USA erntete die Americana zunächst keineswegs nur Zustimmung. Ihr wurde die Verbreitung eines allzu europäischen Wissens vorgeworfen und seitens der Rezensenten wurde eine sich stärker an der amerikanischen Kultur und Gesellschaft orientierende Ausrichtung eingefordert.107 Die Encyclopaedia Americana bildete ihrerseits trotzdem die Vorlage für eine britische Adaption unter dem Titel The Popular Encyclopaedia (1833-1841), die in insgesamt vier Auflagen in Glasgow erschien.108 In diesem Fall strichen die Bearbeiter um den Chefredakteur Alexander Whitelaw diejenigen Artikel wieder aus dem Lexikon heraus, die einen starken Bezug auf Amerika hatten, ließen aber solche mit deutschem Bezug und Ursprung stehen.109 Bereits in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich auch die Verbindungen des F. A. Brockhaus Verlages nach Russland zurückverfolgen. Sie betrafen zunächst Schwierigkeiten mit der Zensur und in diesem Kontext Einfuhrverbote

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Hermann Marggraf: Deutsche Literatur, Wissenschaft und Kunst im Auslande, in: Die Gegenwart 12 (1856), S. 216-288, hier S. 284f. Johann Kaspar Bluntschli: Erinnerungen an Franz Lieber, in: Unsere Zeit (1879, 2. Jahreshälfte), S. 721-725. Reinhold Pauli: Franz Lieber, in: ADB 18 (1883), S. 566-576, hier S. 568. Michel/Herren, Unvorgreifliche Gedanken, hier S. 51; Weiterführend bezüglich der Rezeption der »Americana« in den USA ist Herren, General Knowledge, S. 500. Spree, Streben nach Wissen, S. 289-293. Ebd. S. 290.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

für das Konversations-Lexikon.110 Geplante Übersetzungsprojekte russischer Literatur ließen sich zwar zurückhaltend an, dennoch beobachtete Heinrich Brockhaus, der die Geschäfte des Verlages von 1823 bis 1874 leitete, weiterhin intensiv den russischen Markt.111 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts strebte die Firma die Erweiterung ihrer kommerziellen und kulturellen Beziehungen an und übersetzte russische Klassiker wie Gogol, Puskin, Lermentov und Dostojevskij.112 Auch baute die Firma ihre Position als Kommissionär und Lieferant im russischen Zarenreich aus und belieferte seit den 1880er Jahren verschiedene Universitäten und Bibliotheken wie etwa die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek in St. Petersburg und die Universitätsbibliotheken in St. Petersburg, Odessa, Vladimir und Kiew.113 Ende des 19. Jahrhunderts kam zwischen Eduard Brockhaus und dem russischen Kaufmann Il'ja Abramovic Efron (1847-1917) eine Zusammenarbeit zur Herausgabe einer russischen Enzyklopädie nach Brockhaus'schem Vorbild zustande. Brockhaus lieferte die Skizzen, Zeichnungen, Karten und Chromlithographien für die Illustrationen, Efron organisierte die Übersetzung der Beiträge, stellte ein Redaktorenteam zusammen und übernahm die Druckarbeiten.114 Auf diese Weise erschien im eigens gegründeten Brockhaus & Efron Verlag in St. Petersburg innerhalb von 14 Jahren das 86 Bände umfassende Encyklopediceskij slovar (1890-1904), das auf der 13. Auflage des Conversations-Lexikons beruhte. Zwischen 1899 und 1902 wurde es um eine kleinere, nur 3 Bände umfassende Ausgabe ergänzt. Obwohl an der großen Encyklopediceskij slovar zahlreiche russische Wissenschaftler mitgearbeitet hatten, unter ihnen der Chemiker Dimitri Mendelejev, der Philosoph Vladimir Solovjov und der Biologe Andrej Beketov, sah sich die Redaktion um Ivan E. Andreevskij einer starken Kritik ausgesetzt. Diese richtete sich sowohl gegen den deutschen Ursprung eines russischen Werkes als auch gegen die wenig an die russische Kultur, Wissenschaft, Politik, Literatur usw. angepassten Wissensinhalte.115 Dem Chefredakteur des Unternehmens, Ivan E. Andreevskij 110 111 112

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Hexelschneider, Russisches im Brockhaus-Archiv. Hexelschneider, Kulturelle Begegnungen, S. 478-490. Rumjanceva, Die Firma F. A. Brockhaus, S. 491-496. Die deutschen Übersetzungen waren so erfolgreich, dass sie bereits in zeitgenössischen, russischen Zeitschriften als ausgesprochen umfangreich wahrgenommen worden sind. Rumjanceva wertet diesbezüglich insbesondere die um die Jahrhundertwende erschienenen Jahrgänge von »Kniznyi vestnik« und »Istoriceskij vestnik« aus. Ebd. S.493f. Ebd. S. 494, vgl. auch Heinrich Eduard Brockhaus, Firma F. A. Brockhaus, S. 366f. Ausführlich dargestellt bei Erhard Hexelschneider: Der »Brockhaus« erobert den russischen Markt. Zur Entstehungsgeschichte des »Brockhaus-Efron«, in: Keiderling (Hg.), F. A. Brockhaus 1905-2005, S. 207-218 u. 401.

2. Die Dynamik des Wissens

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wurde vorgeworfen, die Artikel aus der deutschen Vorlage vorbehaltlos und ohne Anpassungen an die Gegebenheiten in Russland übernommen zu haben. Erst als nach seinem Tod 1891 ein neuer Chefredakteur die Leitung des Projektes übernahm, wurden die Artikel nicht mehr nur übersetzt, sondern erhielten eine stärkere Ausrichtung auf Russland.116 Die Adaptionen erlauben es, ein verwobenes, transnationales Netzwerk mit zahlreichen Querverweisen und Wechselwirkungen zu rekonstruieren. Diese Verbindungen gehen in der Regel sogar noch einen Schritt weiter, als es die narrativen, nationalen Erzählrahmen der Enzyklopädie eigentlich zulassen: Der jüdische Kaufmann Efron hatte enge Kontakte zur jüdischen Gemeinde in St. Petersburg, so dass im gleichen Verlag auch eine Evrejskaja Enciklopedija (1908-1913) erscheinen konnte. Einige der Redakteure und Mitarbeiter arbeiteten wiederum wenige Jahre später an der in Berlin publizierten Encyclopaedia Judaica (1928-1934) mit.117 Inwiefern es inhaltliche Überschneidungen in den einzelnen Werken, die sich letztlich auf den Brockhaus zurückführen lassen, gibt, ist bislang allerdings noch offen. So zahlreich die enzyklopädischen Unternehmungen in Form von Übersetzungen oder Adaptionen innerhalb und außerhalb Europas auch waren, das Konzept herumschwirrender Textbausteine hatte seine Grenzen. Diese lagen vor allem darin begründet, dass aufmerksame Leser eine zu vorbehaltlose Übersetzung von Wissen mit deutschen respektive wenig einheimischen Bezugspunkten bemängelten. Dennoch tat diese Kritik dem Erfolg der Werke und insbesondere den Adaptionen keinen Abbruch. Möglicherweise erklärt die Kritik sogar gerade den Erfolg des Konversations-Lexikons nach deutschem Vorbild. Das Medium lässt Fragen zum globalen Leben und zu Prozessen der Angleichung von Normen und Werten zu, denn seine adaptierfahigen Textbausteine sind Bestandteil einer fließenden Annäherung sozialer Praktiken. Vielleicht kann mit Hilfe der Enzyklopädie sogar die zivilgesellschaftliche Aushandlung und Herausbildung globaler Wertvorstellungen nachgezeichnet werden,118 denn durch ihre nationalisierte Wissensvermittlung und ihr Angebot an Orientierung und Identität vermittelten Enzyklopädien jeweils ähnliche Inhalte. Diese wurden in den einzelnen Adaptionen zwar ausdifferenziert, ähnelten sich in ihrer Struktur aber. Auf diese Weise lässt sich das nationalisierte Erfolgsprodukt Enzyklopädie als ein globales Phänomen des westlichen 19. Jahrhunderts aufbrechen.

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Rumjanceva: Firma F. A. Brockhaus, S. 495. Arndt Engelhardt: Palimpsests and Questions of Canonisation. The German-Jewish Encyclopedias in the Weimar Era, in: Journal of Modern Jewish Studies 5 (2006), S. 301-321. In Anlehnung an Appadurai, Modernity at Large, S. 27-47.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

Deutschsprachige Enzyklopädien und ihre Verleger zu Beginn des 20. Jahrhunderts 1902 wurde im Vorwort der sechsten Auflage des Meyer die Aufgabe der Enzyklopädien neu definiert. Diese Neudefinition bezog sich keineswegs nur auf die aktuelle Auflage und damit auf die sich im Zuge zeitgenössischer Entwicklung verändernden Anforderungen an ein allgemeines Nachschlagewerk, sondern sie legte auch rückblickend die Funktion der Werke im 19. Jahrhundert neu fest. Die Enzyklopädie wurde als ein entpolitisiertes Medium der allgemeinen Unterhaltung präsentiert, und ihre Inhalte bagatellisiert. Der Gedanke, dass über genau dieses Medium liberale Gesellschaftsvorstellungen ausgehandelt wurden, findet sich hier nicht mehr. Früher habe das Lexikon in erster Linie die gesellschaftlichen Codes der Zeit definiert, es sei »Stoff und Stütze für die Unterhaltung über >Staats- und gelehrte Sachen< in geselligen Kreisen« gewesen.119 Offensichtlich war es unerheblich geworden, dass sich diese geselligen Kreise aus Personen zusammensetzten, die liberal gesinnt waren und aktiv an der Gesellschaft teilnahmen. Ebenso scheint es nicht mehr relevant gewesen zu sein, dass gerade die Enzyklopädie mit ihren schwer zu kontrollierenden Textbausteinen dazu beitrug, eine gesellschaftliche Konstitution auszuhandeln. Doch im Kontext der Annahme, dass Enzyklopädien eine gewisse Hoheit über das zu Wissende haben, mag es als ein geschickter Schachzug erscheinen, die Aufgabe der Enzyklopädie des 19. Jahrhundert nun rückblickend als ein reines Unterhaltungsmittel zu definieren. Bewusst oder unbewusst wird ihr auf diese Weise zwar eine gewisse belanglose Universalität, zugleich aber auch wieder die Deutungshoheit über die jeweilige Zeitgeschichte zugewiesen. Die Abgrenzung vom 19. Jahrhundert leistete der neue Meyer zum einen durch den schwungvollen Rückblick auf vergangene Auflagen und zum anderen durch aktuelle Perspektiven auf die Gegenwart. An eine Enzyklopädie werde jetzt die Anforderung gestellt, akkurat und verlässlich allgemeines Wissen bereit zu stellen. Es solle ein »Vertrauensmann der Familien wie der Gelehrtenwelt« sein und die »Macht und den Trost des Wissens den weitesten Kreisen« zugänglich machen.120 Zwar sei es mitunter schwierig, so das Vorwort weiter, ein Urteil in politischen Fragen zu finden, jedoch müsse auch hier immer an erster Stelle der Versuch stehen, eine unparteiische und objektive Berichterstattung zu leisten. Es gelte, »als obersten Gesichtspunkt nur das nationale Interesse im Auge zu behalten«.121 Die 119

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Meyers großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 20 Bde., Leipzig: BI 6 1907-1909, Bd. 21 Ergänzungen und Nachträge (1910), Bd. 22 Jahres-Supplement 1909-1910 (1910), Bd. 23 Jahres-Supplement 1910-1911 (1912), Bd. 24 Jahres-Supplement 1911-1912 (1913), 3 Bde. Kriegsnachtrag 1916,1917,1920. Ebd. Bd. 1 (1907), Vorwort. Ebd.

2. Die Dynamik des Wissens

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betonte Überparteilichkeit und Objektivität bei politischen Themen ließ sich also nicht auf Fragen der internationalen Zusammenarbeit übertragen, vielmehr war die gepriesene Objektivität auf den Rahmen der Nation begrenzt. Wenige Jahre zuvor noch war Allgemeinwissen nur so lange allgemein und universell gültig, wie es liberal orientiert war, jetzt stand die nationale Identität als Bezugsrahmen des allgemeinen Wissens an erster Stelle. Damit hatte sich die Aufgabe der Enzyklopädie im Laufe der Zeit nur wenig gewandelt, sie war noch immer ein Medium kollektiver Identitätsfindung. Die nationale Ausrichtung verhinderte nicht, dass auch die Übersetzungsrechte der sechsten Auflage eben dieses Meyers ans Ausland verkauft wurden. Noch hatte sich das Prinzip der global herumschwirrenden, anpassungsfähigen Textbausteine mit den jeweils ähnlichen Botschaften nicht überholt. Verlagshäuser in Italien, Spanien, Polen, Dänemark und Ungarn interessierten sich für Meyers großes Konversations-Lexikon, um auf die dort versammelten Wissensbestände für eigene Produktionen zurückzugreifen.122 Die Anpassung von Allgemeinwissen und Nationalität im Zuge genereller europäischer Annäherungen von Wertvorstellungen und Normen war offenbar noch immer möglich. Die sechste Auflage wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg um diverse Supplemente ergänzt. Während und nach dem Krieg erschienen insgesamt drei Nachtragsbände, die sich explizit auf den Krieg und seine Folgen bezogen. Die Neubearbeitung des gesamten Werkes erschien als siebente Auflage dann erst wieder ab 1924, als sich das Bibliographische Institut von der generell schwierigen Wirtschaftslage erholt hatte. Sie lag 1933 abgeschlossen vor. Das Bibliographische Institut wartete um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in beinahe jedem Jahrzehnt mit einer Neuauflage seines großen Lexikons auf. Im Gegensatz zur häufigen Erscheinungsweise des Meyer, tat sich der F. A. Brockhaus Verlag schwer mit den Neuauflagen seines Flaggschiffs. Als sich im Zuge des Ersten Weltkrieges die Nachfrage nach Informationen innerhalb der deutschen Bevölkerung verstärkte, konnte er nichts anbieten, das nur annährend mit den drei Nachtragsbänden zum Meyer vergleichbar war. F.A.Brockhaus hatte das ^.Jahrhundert mit der 14. Auflage, die zwischen 1892 und 1895 erschienen war, verabschiedet. Modern in Aussehen und Qualität war sie ein großer Erfolg und konnte auf Wunsch zusammen mit einem passenden Wandregal bezogen werden. 1913 waren von dieser Auflage 300.000 Exemplare verkauft worden. Mit dem Ersten Weltkrieg nahm die Brockhaus-Redaktion minimale Ergänzungen an der 1892 erstmals erschienen 14. Auflage vor und brachte diese 1920 in einem fünften Neudruck nochmals auf den Markt.123 Die neue, 15. Auflage begann dann erst 1928 zu erscheinen.

122 123

Menz, Hundert Jahre Meyers Lexikon, S. 55. Keiderling (Hg.), F. A. Brockhaus 1905-2005, S. 99.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

Der lange Zeitraum von fast 40 Jahren zwischen der 14. und 15. Auflage lässt sich aus der Summe verschiedener Ereignisse erklären. Zunächst sorgte eine Reihe von Veränderungen in der Firmenleitung und insbesondere im Redaktionsteam für Umstellungen und Unruhe im Unternehmen. Als der Erste Weltkrieg begann, war der Verlag offenbar mitten in den Vorbereitungen für eine neue Auflage, doch mit ihm wurden viele Mitarbeiter des Redaktionsstabes eingezogen, was sie in der Arbeit um einige Jahre zurückwarf.124 Auf der anderen Seite hatte F. A. Brockhaus mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg konzentrierte sich der Verlag daher zunächst auf kleinere enzyklopädische Werke. Zwischen 1922 und 1923 erschien das vormalige kleine KonversationsLexikon als vierbändiger Brockhaus. Handbuch des Wissens. 1925 kam der nur einbändige Kleine Brockhaus auf den Markt, der sich als ebenso ein großer Erfolg entpuppen sollte wie schließlich der einbändige Volks-Brockhaus, der 1931 erstmals und dann bis in die Nachkriegszeit in zahlreichen Neuauflagen erschien. Der Erste Weltkrieg sorgte bei F. A. Brockhaus für Veränderungen bezüglich der internationalen Geschäftskontakte, die insbesondere Kooperationen bei der Produktion von Enzyklopädien betrafen. Die Zusammenarbeit mit Efron in St. Petersburg fand im Ersten Weltkrieg ein Ende. 1911 war eine zweite Auflage der großen Encyklopediceskij slovar in Angriff genommen worden, die jedoch fünf Jahre später nach 29 von geplanten 48 Bänden abgebrochen wurde. In der Zwischenkriegszeit kam eine Wiederbelebung der Beziehungen zu Efron sowohl in St. Petersburg als auch in Berlin zustande, wo nun jeweils eigenständige Brockhaus & Efron Verlage gegründet wurden. Die geschäftliche Zusammenarbeit blieb zwar bis 1931 (St. Petersburg) bzw. 1933 (Berlin) erhalten, doch keiner der beiden Verlage gab mehr Enzyklopädien heraus.125 Auch viele der anderen internationalen Geschäftsverbindungen des F. A. Brockhaus Verlages endeten mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges, lebten in der Zwischenkriegszeit jedoch wieder auf. Zwischen 1919 und 1930 verkaufte der Verlag die Reproduktionsrechte seiner enzyklopädischen Werke u. a. nach Barcelona, Mailand, Edinburgh, Amsterdam und Budapest.126 Die geschäftlichen Kontakte blieben nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten größtenteils erhalten, oft124 125 126

Keiderling (Hg.), F. A. Brockhaus 1905-2005, S. 30. Hexelschneider, »Brockhaus« erobert den russischen Markt, S. 209. Unter der Leitung von Hans Brockhaus wurden von den Teilhabern des Verlages systematisch geordnete Firmenhefte geführt, die Informationen über den jeweiligen Stand der Arbeiten wiedergaben sowie über Ziele und Aufgaben unterrichteten. Die lose gehefteten, unpaginierten Blätter wurden per Durchschlag intern weitergeleitet. Sie dienten der Kommunikation der Firmenleitung und wurden ggf. modifiziert. Das Firmenheft zur Zusammenarbeit mit den ausländischen Verlagen von Hans Brockhaus selbst ist im Verlagsarchiv des Bibliographischen Instituts & F. A. Brockhaus AG Mannheim, erhalten, hier: Hans Brockhaus, GB A 43, Fremde (ausländische) Verlage.

2. Die Dynamik des Wissens

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mais rissen sie ein zweites Mal erst im Verlauf des Zweiten Weltkrieges ab. Noch 1935 notierte der damalige Yerlagschef Hans Brockhaus, dass der Verlag die Materialien aus dem Großen Brockhaus bislang nur an den Elsevier Verlag in Amsterdam verkaufen konnte.127 Er schob daraufhin Werbemaßnahmen an, erneuerte alte Geschäftskontakte und konnte schließlich erwirken, dass der Verlag in den späten 1930er Jahren Farbtafeln, Karten und Bilder aus dem Großen Brockhaus an Verlagshäuser in ganz Europa verkaufte. Der ungarische Verlag Dante Könyvkiado in Budapest erwarb die Bilder aus dem Großen Brockhaus für ein sechsbändiges ungarisches Lexikon; der J.H.Schulze Verlag aus Kopenhagen benötigte in den Jahren 1937 bis 1940 die Galvanos von Abbildungen für ein dänisches Lexikon. Daneben bezogen weitere Verlage aus Warschau, Lemberg und Oslo bis 1940 Tafeln, Bilder und Karten sowohl aus dem Großen Brockhaus als auch aus dem vierbändigen Brockhaus Allbuch.m Diese Geschäftskontakte belegen, dass F.A. Brockhaus ein international sehr gut vernetzter Verlag war, der es vermochte, seine Beziehungen bis in die Kriegsjahre hinein aufrecht zu erhalten. Bei der Herstellung des zwischen 1928 und 1935 erschienenen Großen Brockhaus, der 15. Auflage des Konversations-Lexikons, kamen nicht nur eine Reihe technischer Neuerungen zur Anwendung, sondern sie wurde zudem von einem ausgefeilten Marketingkonzept begleitet. Verschiedene Broschüren, die teilweise Zeitungsformat hatten und regelmäßig erschienen, waren auf Sortimenter, Buchhändler und natürlich potentielle Kunden zugeschnitten, um eine möglichst wirksame Werbung zu gewährleisten.129 So forderte der Verlag beispielsweise einen Überblick über Berufe und Beschäftigungsverhältnisse der Käufer des Großen Brockhaus bei seinen Sortimentern an, um die Werbemaßnahmen noch besser auf das potentielle Käuferprofil abzustimmen. Im Gegenzug erhielten die Buchhändler für ihre Informationen ein Werbe-ABC, das nur für den internen Gebrauch bestimmt war und das ihnen die passenden, auf die einzelnen Berufsgruppen zugeschnittenen Verkaufsargumente nahebringen sollte.130 Gerade eine schlechte Wirtschaftslage, so begründete der Verlag dieses Vorgehen 1931, erfordere eine eindringliche und persönliche Werbung.131 Tatsächlich ist es erstaunlich, dass der Große Brockhaus, für dessen Herausgabe ab 1925 intensive

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Ebd. der Eintrag von Hans Brockhaus ist auf den 15.1.1935 datiert. Ebd. Ausführlich bei Keiderling (Hg.), F. A. Brockhaus 1905-2005, S. 102-107. Keiderling sieht die Ursache für diese umfassenden Werbemaßnahmen in der Konkurrenz zum BI begründet. Nicht zu unterschätzen ist jedoch die von Weltwirtschaftskrise und Inflationen geschüttelte, marode Wirtschaftslage in der Weimarer Republik und die damit bei F. A. Brockhaus einhergehende Sorge um den Absatz des Werkes. SächStA, FAB, MF 576, Werbedrucksachen (um 1920-1944), 117-126. Ebd. 78.

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Kapitel I: Netzwerk Wissen

Vorbereitungen getroffen wurden, ausgerechnet in einer Zeit weitreichender wirtschaftlicher Krisen erschien. Ausschlaggebend dafür dürfte die umfassende Werbung gewesen sein, die sich auf ein durchdachtes System an Freiexemplaren für Besprechungen, auf ein breites Repertoire an Zeitungsannoncen, die auf das Profil der jeweiligen Leserschicht zugeschnitten waren, und sogar Filme, die Einblicke in die Fertigung des Werkes gaben, erstreckte.132 Eine gesonderte Werbebroschüre für die Schweiz pries den Brockhaus als »Nachschlagewerk für alle, die deutsch sprechen« an und präsentierte zahlreiche Ausschnitte und Abbildungen aus Stichworten zur Schweiz neben Rezensionen in Schweizer Zeitungen.133 Mit einem Schwerpunkt auf globalen Themen wurde der Brockhaus in diesen Broschüren als ein zukunftsorientiertes Werk präsentiert, das die fremde Welt in die Wohnstube holte. In einer Werbebroschüre, die thematisch auf Ostasien zugeschnitten war, wurde 1932 ζ. B. die Stadt Harbin als globales Tor zwischen Europa und Asien präsentiert: »Charbin ist eine eigenartige Stadt, in der osteuropäische und asiatische Wesen nebeneinanderstehen und einander durchdringen.«134 Tatsächlich wurde Harbin in der Zwischenkriegszeit in Europa als Zentrum eines internationalen Austausche wahrgenommen und spielte mit seinem Eisenbahnknotenpunkt eine wichtige Rolle für den Handel mit Soja.135 Und so erstaunt es auch nicht, dass Harbin neben Shanghai, Casablanca, New York und vielen anderen globalen Orten der Welt zu denjenigen zählte, an denen der F. A. Brockhaus Verlag eigens Korrespondenten und Mitarbeiter hatte.136 Nach 1933 unterlagen die Geschäftsbeziehungen der Verlage zwar einer wirtschaftlichen Kontrolle, aber die Verlagswerke wurden nicht als staatlich zensiert ausgewiesen. Darüber hinaus sind sie im Ausland noch immer als eine Bühne der deutschen Zivilgesellschaft präsentiert worden. So verfasste die deutsche (und in Deutschland lebende) Schriftstellerin Gabriele Reuter 1935 für die New York Times eine Rezension zum Großen Brockhaus, in der sie das Werk als anerkannte Autorität in familiären Konflikten beschrieb. Ihre Rezension schrieb sie explizit in der Absicht, Auswanderern in den USA einen Begleiter deutscher, bürgerlicher 132

Ebd. Die Filme und Lichtbildvorträge sind auch beworben worden. Sie wurden zusammen mit passenden Vortragstexten kostenlos an die Interessenten versandt, SächSt, FAB, MF 576, 37-41. 133 Ebd. 83-85. 134 Der G.B.-Verkäufer, Nr. 5 (5. März 1932), ebd. Der Text ist dem Stichwort »Charbin« im »Großen Brockhaus«, Bd. 3 (1929), S. 734 entnommen. 135 Ines Prodöhl: »A miracle bean«. How Soy conquered the West, 1900-1950, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington, DC, 46 (Spring 2010), S. 111-129 und David Wolff: To the Harbin Station. The liberal alternative in Russian Manchuria, 1898-1914, Stanford, CA 1999. ne vgl. eine offenbar zeitgenössische Karte bei Keiderling (Hg.), F. A. Brockhaus 19052005, S. 103 (leider ohne Jahr und ohne Quellenangabe).

3. Zusammenfassung

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Familientradition in die Hände zu geben.137 Damit ist die Frage nach der kulturpolitischen Rolle von Enzyklopädien auch in totalitären Staaten relevant, weil ihre Historizität zumindest im >Dritten Reich< noch Netzwerke mit zivilgesellschaftlichem und transnationalem Potential aufweist.

3. Netzwerk Wissen. Zusammenfassung Allgemeine deutschsprachige Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts verhandelten gesellschaftliche Wertvorstellungen. Sie waren ein zivilgesellschaftliches Forum, über das bürgerliche, liberale Fragen zur politischen Ordnung und zur kulturellen Identität thematisiert wurden. Besonders eindrücklich dokumentieren die enzyklopädischen Nebenwerke wie Die Gegenwart und Unsere Zeit diese Verhandelbarkeit von Wissen, denn in ihnen wurden aktuelle Fragen zum gesellschaftlichen Miteinander in Europa thematisiert. Sie trugen formal zunehmend Zeitschriftencharakter, verstanden sich aber dennoch als Medium zur Vermittlung eines möglichst allgemeinen Wissens. Das Konzept des Konversations-Lexikons kann zwischen dem Vormärz und der Jahrhundertwende als eine Form der politischen Konsensbildung gelesen werden, die insbesondere von Deutschland ausging. Diese Art der Konsensbildung hatte liberale, bildungsbürgerliche Konturen, aber sie bezog ihr demokratisches Potential nicht aus dem Prozess der Parlamentarisierung. Wissen war für die gesellschaftliche Identität und die Konstruktion einer >imagined community< zentral; die Enzyklopädie war das Medium, in dem in gewisser Hinsicht eine gesellschaftliche Selbstorganisation unter den Bedingungen des Obrigkeitsstaates möglich war. Das Angebot der Enzyklopädie, Orientierung und Identität in scheinbar kontextlosen Stichworten auszuhandeln, erwies sich auch in anderen Ländern als höchst attraktiv. Das Brockhaus'sche Vorbild wurde seit den 1830er Jahren vielfach übersetzt und adaptiert. Damit ist die Enzyklopädie ein Medium, dessen Entstehung transnationale Strukturen aufweist. Neben den übertragbaren Textbausteinen arbeiteten auch die anonymen Redakteure grenzübergreifend, und zwar oftmals bei verschiedenen Enzyklopädieprojekten. Die Brockhaus-Adwptionen verweisen zudem auf einen Fluss von Ideen, Werten und Symbolen, den die Enzyklopädie mit ihrem Orientierungsangebot ermöglichte. Insbesondere der F. A. Brockhaus Verlag pflegte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert zahlreiche Geschäftskontakte außerhalb der deutschen Klein137

Gabriele Reuter: A Famous German Encyclopedia, in: New York Times, 24.8.1935, S. BR 8. Zu Gabriele Reuter und ihren Rezensionen für die Times vgl. Lynne Tatlock: Our Correspondent in Weimar. Gabriele Reuter and >The New York TimesDritten Reich< Im Juli 1940 korrespondierte das Bibliographische Institut mit der Reichsschrifttumskammer (RSK), um zu einem abgesicherten Text für den Eintrag »Schriftwalter« in Meyers Lexikon zu gelangen.1 Die RSK schrieb auf die Anfrage hin das gesamte Stichwort und formulierte im letzten Satz: »Schriftwalter werden berufsständisch durch die Reichsschrifttumskammer in einer besonderen Gruppe erfasst«. 2 Diesen Eintrag nahm der Verlag dankend entgegen, schob jedoch die Frage nach, ob speziell Verlagsredakteure ebenfalls als »Schriftwalter« zu bezeichnen und berufsständisch in der RSK organisiert seien. Das bestätigte die Kammer und konstatierte, dass Verlagsredakteure »entweder für ihre Tätigkeit als Lektor oder als Buchhändler« Mitglieder der RSK seien.3 Doch das Bibliographische Institut wollte sich auch mit dieser Auskunft nicht zufrieden geben und hakte ein zweites Mal nach, weil nach seiner Ansicht noch immer offen war, wohin solche »Verlagsredakteure gehören bzw. wie sie zu bezeichnen sind, die weder reine Lektoren noch Buchhändler sind, wie ζ. B. die Mitglieder der Redaktorenstäbe eines Lexikons«.4 Mit Datum vom 21. September 1940 und somit fast drei Monate nach der ursprünglichen Anfrage bestätigte die RSK kurz und knapp, dass auch Lexikonredakteure als »Schriftwalter« zu bezeichnen und in der RSK organisiert seien.5 An diesem Schriftwechsel lassen sich auf einzigartige Weise drei typische Merkmale der nationalsozialistischen Literaturpolitik im Allgemeinen und bei der Erstellung von allgemeinen Nachschlagewerken im Besonderen ablesen: Erstens war dem Bibliographischen Institut ganz offensichtlich selbst nicht klar, in welcher Form die Redakteure seines Lexikons berufständisch organisiert waren. Das lag an den als undurchsichtig empfundenen Zuständigkeitsbereichen und den sich oft wandelnden Kompetenzzuweisungen; die Unklarheit hatte ihre Ursache in der nicht abgestimmten und konkurrierenden Arbeitsweise staatlicher und parteiamt-

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BI an RSK, 3.7.1940, BArch R 56 V/279, Bibliographisches Institut, 1937-1944 [Die Akte besteht aus einer losen Blattsammlung]. Ebd. Der von der RSK formulierte Eintrag »Schriftwalter« ist auf den 7.8.1940 datiert. Nachfrage des BI vom 21.8.1940 und Antwort der RSK (Zitat) vom 30.8.1940, ebd. BI an RSK, 18.9.1940, ebd. RSK an BI, 21.9.1940, ebd.

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Kapitel II: Zwischen Business und Zensur

licher Dienststellen.6 Zweitens zeigt der Schriftwechsel, dass die Ausarbeitung der Inhalte von allgemeinen Enzyklopädien im >Dritten Reich< auf einer besonderen Form der Zusammenarbeit zwischen den privatwirtschaftlich arbeitenden Verlagen und den verschiedenen, mit Schrifttumsfragen befassten Behörden beruhte. Letztere übersandten den Verlagen in manchen Fällen fertige Einträge, an denen kaum etwas verändert werden durfte. Drittens zeigt die Auseinandersetzung um den letztlich nur wenige Zeilen langen Eintrag »Schriftwalter«7, von welch bürokratischen Hürden das Verfahren zur Erstellung von Lexikoneinträgen gekennzeichnet war. Das Beispiel gewährt einen Einblick in den Aufwand, der für allgemeine Nachschlagewerke betrieben werden konnte. Enzyklopädische Werke sind in der NS-Zeit und insbesondere vor dem Zweiten Weltkrieg nicht von staatlichen Institutionen zensiert worden. Für ihre Kontrolle war entgegen dem Bild, das das einleitende Beispiel vermittelt, die gängigerweise mit Literaturpolitik befasste Reichsschrifttumskammer nur am Rande zuständig. Die Überwachung von allgemeinen Lexika fiel vielmehr in den Einflussbereich der 1934 gegründeten Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NSSchrifttums (PPK). Allerdings wurden die Enzyklopädien der PPK nicht offiziell unterstellt. Eine generelle Regelung, mit Hilfe derer etwa Schulbücher, Kalender, wissenschaftliche Bücher und zahlreiche andere Publikationsarten direkt der PPK zugewiesen wurden, war zu keinem Zeitpunkt für Enzyklopädien getroffen worden. Doch auch wenn es keine offiziellen Vereinbarungen gab, so konnte sich die PPK als Zensurbehörde für Enzyklopädien durchsetzen. Leiter der PPK war Philipp Bouhler, faktisch lagen die Entscheidungen in der Hand seines Stellvertreters Karl-Heinz Hederich. Die PPK legte besonderen Wert auf die parteipolitischen Stichworte, wobei sie freilich selbst definierte, welche das sein sollten. Die Eingriffe gestalteten sich dahingehend, dass die Mitarbeiter der PPK bestimmte Artikel persönlich schrieben und die Verlage für die Texte ein Honorar zu zahlen hatten; eine Vorzensur des gesamten Werkes war bei Enzyklopädien ebenso wenig vorgesehen wie bei anderen Publikationen. Im Folgenden wird an Hand der Werke aus dem Bibliographischen Institut und dem F. A. Brockhaus Verlag auf zwei Ebenen nach der kulturpolitischen Bedeutung gefragt, die allgemeinen Enzyklopädien in der Zeit des Nationalsozialismus zugeschrieben wurde. Zum einen soll mit Hilfe der spärlich überlieferten administrativen und unternehmerischen Quellen die Entstehung der Enzyklopädien the6

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Nach wie vor ist das maßgebliches Referenzwerk, das Licht in die undurchsichtige und oft unkoordiniert arbeitende Literaturpolitik während des Nationalsozialismus bringt, Barbian, Literaturpolitik. Der Eintrag ist letztlich eindeutig, die Redakteure von Nachschlagewerken zählen demnach auch zu den »Schriftwaltern«, vgl. Meyers Lexikon, 9 Bde. u. 1 Ergänzungsband, Leipzig: BI 8 1936-1942 [im Folgenden ML], hier 9 (1942), Sp. 1249.

1. Enzyklopädische Informationen und nationalsozialistische Literaturpolitik

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matisiert werden. Es soll nach der Rolle gefragt werden, die durch die etablierten Lexikonverlage auf der einen und durch Staat und Ideologie auf der anderen Seite an die Werke herangetragen wurden. Das Zusammenspiel von Redakteuren und Zensoren soll in Bezug auf Konflikte ebenso thematisiert werden wie hinsichtlich beidseitig willkommener Kooperationen. Um herauszufinden, wie die Art der Wissensvermittlung über Enzyklopädien funktionierte, welche Aufgabe ihnen etwa in Paratexten zugeschrieben wurde und inwiefern sie für ideologische Zwecke instrumentalisiert wurden, soll parallel dazu nach den Inhalten der Werke gefragt werden: Was stand in einer während des Nationalsozialismus erschienenen Enzyklopädie? Dazu werden hauptsächlich die jeweiligen Flaggschiffe der Verlage, die 15. Auflage des Großen Brockhaus (1928— 1935) und die 8. Auflage von Meyers Lexikon (1936-1942), miteinander verglichen. Jedoch werden hier keine >richtigen< oder >falschen< Aussagen nachgewiesen, sondern es wird versucht, die speziellen Kanäle der Wissensvermittlung freizulegen und die Funktionsweise enzyklopädischen Wissens im >Dritten Reich< nachzuzeichnen. Diese sich gegenseitig ergänzende Arbeitsweise, die sowohl nach den Umständen, unter denen das Wissen in das Lexikon kam, als auch nach den Inhalten des zu Wissenden fragt, kennzeichnet die ersten beiden Unterkapitel. Mit Beginn des Krieges geriet die Produktion von Enzyklopädien zwar ins Stocken, sie hörte jedoch weder im Bibliographischen Institut noch im F. A. Brockhaus Verlag gänzlich auf. Geschickt jonglierte der F. A. Brockhaus Verlag zwischen verschiedenen parteiamtlichen und staatlichen Instanzen, um seine privatwirtschaftlichen Interessen zu sichern. Hingegen wusste das Bibliographische Institut mit der Wehrmacht Geschäfte abzuschließen, so dass der Verlag zwar die Produktion von allgemeinen Nachschlagewerken einschränkte, aber diejenige von Sprachführern und kriegswichtigem Kartenmaterial ausbaute. Wie sich die Verlagsgeschäfte nach 1939 jeweils gestalteten, ist Gegenstand des dritten Unterkapitels.

1. Enzyklopädische Informationen und nationalsozialistische Literaturpolitik Zensurbehörden und Zensoren Am 15. März 1934 verfügte der Stellvertreter des >Führers und Reichskanzlersnationalsozialistisch< erschienen, diese aber gleichsam die Ideologie usurpieren konnten. Nicht zu unterschätzen ist jedoch, dass mit Gründung der PPK auch dem NSDAP Verlag Franz Eher&Nachf. ein Vorzugsrecht für den Verlag nationalsozialistischer Publikationen eingeräumt wurde.10 Mit diesem Schritt wurden wirtschaftliche Interessen und ideologische Fragen miteinander verzahnt. Zu den zentralen Aufgaben der PPK gehörten neben der Prüfung von nationalsozialistischen Publikationen die Kontrolle der korrekten Wiedergabe von Reden und Zitaten Adolf Hitlers, die Überwachung von Kalenderschrifttum sowie die Zensur von Schulbüchern." Als zuständige Behörde für die Kontrolle von Enzyklopädien etablierte sich die PPK, ohne dass dies jemals schriftlich fixiert wurde. Die von Heß erteilte Verfügung zur Gründung der PPK sah eine Prüfung von Enzyklopädien nicht vor, auch finden sie keine Berücksichtigung in späteren Vereinbarungen, die mit anderen Reichs- und Parteibehörden getroffen wurden, um die Zuständigkeiten der PPK zu regeln.12 Wie sich zeigen wird, hatte dies bis zum

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handel [im Folgenden Bbl.], Nr. 102 (21.4.1934), S. 367f.). Vgl. Barbian, Literaturpolitik, S. 298 sowie eine Zusammenstellung der von den Verlegern im Einzelnen zu beachtenden Verfügungen, Bekanntmachungen und Bestimmungen der PPK: Verleger-Mitteilungen der Parteiamtlichen Prüfungskommission, Rundschreiben 3, Berlin (7.12.) 1938, Als Manuskript gedruckt, Verwendung nur für den internen Verkehr der Verlage mit der parteiamtlichen Prüfungskommission, hier A 1, S. 3-4. Ebd., A l , S. 3. Ebd. Aufgaben und Aufbau der PPK vom 11.5.1942, BArch R 43 11/585, Gliederung der Kanzlei des Führers der NSDAP sowie Arbeitsbericht für 1939-1942 (1942), Bl. 36-59. Die so genannten Arbeitsvereinbarungen, die die PPK zwischen 1935 und 1941 mit anderen staatlichen und parteilichen Behörden wie etwa der Wehrmacht und dem Reichserziehungsministerium ausgehandelt hatte, sind aufgelistet in ebd. Bl. 57-59. Ausführlich sind sie zugänglich in den 1938 u. 1939 erschienenen Verleger-Mitteilungen der PPK.

1. Enzyklopädische Informationen und nationalsozialistische Literaturpolitik

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Ende des Zweiten Weltkrieges die Folge, dass die PPK ihre Zuständigkeit für allgemeine Lexika immer wieder neu behaupten musste. Die PPK hatte ihren Sitz zunächst in München, zog jedoch im Herbst 1934 nach Berlin um. Dieser Umzug stand in Zusammenhang mit der Errichtung der Kanzlei des Führers der NSDAP, deren Leiter Philipp Bouhler (1899-1945) wurde. Mit der Parteimitgliedschafts-Nummer zwölf zählte Bouhler zu einem der frühen und treuen Anhängern Hitlers, 1922 wurde er zweiter Geschäftsführer der NSDAP, 1923 nahm er am >Hitlerputsch< in München teil und 1925 war er schließlich Reichsgeschäftsführer der NSDAP. Beruflich spezialisierte er sich auf das Presse- und Verlagswesen und wählte hier völkisch-nationale Themen. Er begann 1920 in München ein Volontariat im J. F. Lehmanns Verlag,13 im Jahr darauf wechselte er zum Franz Eher Verlag. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 wurde er zum NSDAP-Reichsleiter ernannt und war somit Hitler direkt unterstellt, 1936 wurde er SS-Obergruppenführer. Bouhler ist im Kontext des »Dritten Reiches< weniger in seiner Funktion als Leiter der Kanzlei des Führers bzw. der Parteiamtlichen Prüfungskommission bekannt, als vielmehr auf Grund seiner zentralen Rolle bei den >EuthanasieEuthanasie< im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten LebensDritten Reich< nicht nur von negativen Maßnahmen etwa in Form von Verboten oder Auflagen zur Änderung gekennzeichnet war. Die PPK konnte auf diejenigen Arbeiten, die im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie für gut befunden wurden, auch fördernd und unterstützend wirken. Zudem war der Vermerk für die Verleger von wirtschaftlicher Bedeutung, weil die so ausgezeichneten Bücher in der Regel in Parteibüchereien angeschafft und bei Schulungen eingesetzt wurden. Der Absatz derartiger Bücher war also garantiert und deswegen bemühten sich die Verlage oftmals, den Vermerk zu erhalten. Falls die Art und Weise der Darstellungen über die NSDAP jedoch nicht den Erwartungen der PPK gerecht wurde, verlangte sie von den Verlagen (in seltenen Fällen auch direkt von den Autoren) Änderungen im Titel oder am Inhalt des Werkes.19 Für den Fall, dass die Publikation »der wahren Absicht der Bewegung« widersprach, konnte die PPK ein Verbot aussprechen und die Werke vom Markt ziehen.20 In ihren Entscheidungen war die Dienststelle niemandem verpflichtet, ihre Arbeit blieb parteiintern: Weder die Gutachten, die im Rahmen eines Prüfungsverfahrens erstellt wurden, noch die Namen der Gutachter wurden bekannt gegeben.21 Mitteilungen an die Öffentlichkeit wurden untersagt, auch allgemein 17

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Die Gebühr betrug das Sechsfache des Ladenpreises, vgl. Ausführungsbestimmungen des Vorsitzenden der PPK vom 16.4.1934, in: ebd. A2, S. 5. Bekanntmachung des Vorsitzenden der PPK vom 2.10.1934, in: ebd. A 5, S. 1 If. Hederich, Parteiamtliche Prüfungskommission, S. 11 f. Bekanntmachung des Vorsitzenden der PPK vom 11.4.1935, in: Verleger-Mitteilungen, A 7, S. 15. Die Verbote wurden sowohl dem Verlag mitgeteilt als auch im Börsenblatt veröffentlicht, z.B. Bbl. 101 (27.9.1934), S. 845. Bekanntmachung des Vorsitzenden der PPK vom 11.4.1935, in: Verleger-Mitteilungen, A 7, S. 15.

1. Enzyklopädische Informationen und nationalsozialistische Literaturpolitik

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durften die Namen und die Anzahl der externen Gutachter nicht nach außen dringen. Damit arbeitete die PPK vor allem in den 1930er Jahren unbehelligt und im Verborgenen. Zugleich war sie diejenige Behörde, die so umfassend wie keine andere nationalsozialistische Schrifttumsstelle in die inhaltliche Gestaltung von Publikationen eingriff.22 Zwar war die Etablierung der PPK nicht ohne Komplikationen mit anderen, ebenfalls mit Schrifttumsfragen befassten Dienststellen von statten gegangen, doch die PPK vermochte sich zumindest in den 1930er Jahren kontinuierlich zu behaupten und ihre Zuständigkeitsbereiche auszubauen. So war Philipp Bouhler in den ersten Jahren insbesondere auf die Zusammenarbeit mit Max Amman, auf dessen Initiative die PPK eigentlich zurückging, und mit Alfred Rosenberg, der über sein im Aufbau befindliches Reichsüberwachungshauptamt ebenfalls eine Zensurinstanz über nationalsozialistisches Schrifttum etablierte, angewiesen.23 Dem literaturpolitischen Durchsetzungsvermögen der PPK kam es zugute, dass Philipp Bouhler am 17. November 1934 von Hitler zum Leiter der Kanzlei des Führers der NSDAP ernannt wurde und somit einen persönlichen Zugang zum >Führer< hatte. Und außerdem konnte die PPK auf Grund einer Anordnung von Hitlers Stellvertreter vom 6. Januar 1936 selbständig »Parteidienststellen oder einzelne Parteigenossen mit bestimmten Aufgaben betrauen«24 und sie zur Mitarbeit heranziehen. Das stellte eine enorme Aufwertung der PPK und ihres Aufgabenfeldes dar. Bouhler und Hederich bauten die Zuständigkeit der PPK in den 1930er Jahren kontinuierlich aus. In ihren Einflussbereich fiel etwa auch die Erstellung der Nationalsozialistischen Bibliographie (NSB), in der sämtliche, »der nationalsozialistischen Bewegung dienende Schriften« verzeichnet wurden.25 Hier sollte »die gesamte schrifttumspolitische Arbeit der NSDAP ihren Niederschlag« finden.26 Die NSB wurde von einem »Arbeitskreis« erstellt, dem unter Leitung von Philipp Bouhler die verschiedenen, mit Schrifttumsfragen befassten Dienststellen in Partei und Staat angehörten. Für die Arbeit an der NSB wurde im Februar 1935 eine

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Barbian, Literaturpolitik, S. 317. Die Zusammenhänge sind aufgearbeitet in ebd. S. 298-308. Bekanntmachung des Vorsitzenden der PPK vom 11.4.1935, in: Verleger-Mitteilungen, A 14, S. 21. Aufgaben und Aufbau der PPK, BArch R 43 11/585, Bl. 49; Nationalsozialistische Bibliographie. Monatshefte der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums [im Folgenden NSB], 1 (1936)-9 (1944). Einleitung, in: NSB 1 (1936), H. 1. Um seinen Anspruch durchzusetzen, sah sich Bouhler allerdings gezwungen, andere Bibliographien zur nationalsozialistischen Literatur zu unterbinden, vgl. eine Bekanntmachung über Sonderzusammenstellungen von nationalsozialistischer Literatur außerhalb der NSB vom 30.4.1936, in: Verleger-Mitteilungen, A 17, S. 23.

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Kapitel II: Zwischen Business und Zensur

Auskunftsstelle der PPK in der Deutschen Bücherei Leipzig errichtet,27 die zunächst unter der Leitung des Juristen Karl-Helmut Patutschnik stand.28 Die NSB war in erster Linie auf kulturpolitische und ideologische Zwecke innerhalb Deutschlands ausgerichtet, doch auch das Auswärtige Amt zeigte vor allem während des Zweiten Weltkrieges ein reges Interesse an der Zusammenstellung verschiedener Listen, um sie im Ausland und in den besetzten Gebieten zu verwenden.29 Die PPK erstellte nach den Wünschen des Auswärtigen Amtes Titellisten, die für ausländische Buchaustellungen geeignet schienen, sie lieferte monatlich Listen mit Neuerscheinungen für den wissenschaftlichen Buchaustausch mit dem Ausland, sie stellte Buchverzeichnisse für auslandsdeutsche Schulbüchereien zusammen, und sie versorgte sogar den slowakischen Rundfunk mit Sendematerial über das deutsche Buch- und Verlagswesen und die deutsche Gesandtschaft in Bukarest mit Listen über musterhaftes nationalsozialistisches Schrifttum.30 Nachdem dieses literaturpolitisch bedeutsame Aufgabengebiet in die Zuständigkeit der PPK gefallen war, kamen im Laufe der Zeit immer mehr Bereiche hinzu. In einem Arbeitsabkommen mit dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung wurde ihr im Juli 1937 auch die Überwachung des wissenschaftlichen Schrifttums übertragen.31 Damit hatte sie einen weiteren Ausbau ihrer Zuständigkeitsbereiche erfahren. Bis zum Beginn des Krieges gelang Bouhler und Hederich die Etablierung der PPK zur mächtigsten Zensurinstanz der NSDAP. Sie schafften es, den Kreis der Angestellten auf knapp 130 Beschäftigte zu erhöhen.32 Hederich war ab Sommer 1937 in der Nachfolge des gestürzten Heinz Wismann33 schließlich auch Leiter der Abteilung Schrifttum im Propagandaministerium und wurde zum Ministerialrat erhoben. Seine umfassenden Pläne für die Stellung der PPK als ein zentrales Amt für Schrifttumsfragen in Staat und Partei bewirkten jedoch, dass konkurrierende Amtsträger der NSDAP entschieden gegen ihn vorgingen. Im Oktober 1938 musste er den Posten als Leiter 27

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Verfügung von Reichsleiter Philipp Bouhler vom 26.2.1935, in: Bbl. 102 (28.2.1935), S. 158f. Karl-Helmut Patutschnik (1911-1981) war seit dem 16.8.1934 bei der PPK angestellt; am 18.7.1939 wurde er Geschäftsführer des Hauptamtes für Kommunalpolitik in der Reichsleitung der NSDAP, BArch (ehem. BDC), I 381, Karl-Helmut Patutschnik; vgl. auch Barbian, Literaturpolitik, S. 302, Anm. 22 und Klee, Personenlexikon, S. 451. Aufgaben und Aufbau der PPK, BArch R 43 11/585, Bl. 49. Ebd. Bl. 50f. Ausführlich bei Karsten Jedlitschka: Die »Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums«. Zensurfelder und Arbeitsweise am Beispiel des Münchner Lektors Ulrich Crämer, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 62 (2008), S. 213-226. Aufgaben und Aufbau der PPK, BArch R 43 11/585, Bl. 44. Zu Wismann vgl. Barbian, Literaturpolitik, S. 173-175.

1. Enzyklopädische Informationen und nationalsozialistische Literaturpolitik

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der Schrifttumsabteilung im Propagandaministerium wieder abgeben. Etwa ab diesem Zeitpunkt büsste die PPK ihren Einfluss in der Literaturpolitik ein. Sie konnte zwar weiterhin bis Kriegsende existieren, verfügte jedoch kaum mehr über Entscheidungsgewalt in der nationalsozialistischen Literaturpolitik.34 Der Diplom-Ingenieur Karl-Heinz Hederich (1902-1976) wurde mit Gründung der PPK zunächst Geschäftsführer, ab 1936 Bouhlers Stellvertreter. Hederich, der gelernter Schlosser (1918-1920) war, wollte ursprünglich Bauingenieur werden. In einem Lebenslauf von 1937 gab er an, sich nach der Ausbildung bei verschiedenen Firmen hauptsächlich in Nürnberg und München durchgeschlagen zu haben, um zunächst das Reifezeugnis (1925) und dann das Ingenieursstudium an der Technischen Hochschule München (1931) finanzieren zu können.35 Anschließend kam er zur Reichsbahn und arbeitete dort bis 1933. Zur NSDAP gelangte er frühzeitig und wurde bereits im November 1922 Parteimitglied, seither engagierte er sich aktiv in nationalsozialistischen Studentenvereinigungen. 1932/1933 war er Schriftleiter der Burschenschaftlichen Blätter, im Mai 1933 wurde er zusammen mit seinem späteren Kollegen in der PPK, Gerhard Krüger, von Rudolf Heß zum »Beauftragten der NSDAP für die Behandlung aller die studentischen Verbände angehenden Fragen« ernannt. Im gleichen Jahr wurde er schließlich auch stellvertretender Bundesführer der deutschen Burschenschaft.36 Es gab mehrfach Versuche missgünstiger Rivalen im NS-System, Hederich als faktischen Leiter der PPK auszuschalten. 1936 ermittelte das Reichsrevisionsamt gegen ihn und monierte weniger generelle Missstände im Abrechnungswesen der PPK als vielmehr Hederichs private Vergünstigungen.37 Es war wohl seine Position als Bouhlers Stellvertreter, die ihn hier vor größeren Konsequenzen bewahrte. Die Machtkämpfe innerhalb der NSDAP nahmen jedoch zu, sie führten dann vermutlich auch dazu, dass Hedereich von April 1942 bis Dezember 1943 aktiven Wehrdienst leisten musste.38 Zwar wurde er nicht direkt an die Front sondern lediglich nach Schwedt an die Oder verbannt, aber dennoch sorgte diese Maßnahme dafür, dass er für immerhin mehr als anderthalb Jahre seine Ämter nicht wahrnehmen konnte. 34 35 36

37 38

Ausführlich in ebd. S. 298-308. BArch (ehem. BDC), E 44, Karl-Heinz Hederich. Biographische Angaben aus Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 6), Heidelberg 2004, S. 72. Hederich war nach dem Krieg im Internierungslager Fallingbostel inhaftiert (bis 1948), anschließend zog er sich nach Rheydt (Mönchengladbach) zurück, wo er bis 1972 als Diplomingenieur in einer Stahlbaufirma arbeitete (ebd.). Ausführlich im folgenden Kapitel dieser Arbeit. Entlassungsschein, Schwedt, 14.12.1943, BArch (ehem. BDC), E 44, Karl-Heinz Hederich.

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Kapitel II: Zwischen Business und Zensur

Der Einfluss der Parteiamtlichen Prüfungskommission auf den Großen Brockhaus Die Publikation des Großen Brockhaus war bereits weit fortgeschritten, als die parteiamtliche Prüfungskommission 1934 gegründet wurde. Eine Einflussnahme seitens der PPK auf den Inhalt des Werkes kann nach rein formalen Kriterien lediglich die letzten Bände, etwa ab dem 17. Band und der Buchstabenfolge »Schra...« betroffen haben. Dieser sowie die beiden folgenden wurden noch 1934 publiziert, im Jahr darauf erschien schließlich der 20. Band. Ebenfalls 1935 wurde noch ein Nachtragsband veröffentlicht, der im Gegensatz zu den letzten Bänden des eigentlichen Hauptwerkes wesentlich stärker vom Nationalsozialismus geprägt ist. Das lag daran, dass hier zum einen die generellen Veränderungen seit 1933 einen Niederschlag fanden und dass die PPK auf diesen Band zum anderen einen nachweislich stärkeren Einfluss ausübte als auf die letzten Bände des Hauptwerkes. Für die Frage nach der Zensur am Großen Brockhaus sind derart formale Kriterien zentral, da andere Quellen, die über eine konkrete Zensur durch parteiamtliche oder staatliche Stellen Auskunft geben, kaum vorhanden sind. Der Aktenbestand der PPK ist 1943 fast vollständig zerstört worden, im Bundesarchiv befindet sich lediglich ein kleiner Restbestand. Umgekehrt lässt sich auch auf Seiten des F. A. Brockhaus Verlages wenig über die Einflussnahme der PPK herausfinden. 1943 ist das Leipziger Verlagsgebäude zerstört worden, und die erhaltenen Geschäftsunterlagen befinden sich zumeist im Privatbesitz der Familie Brockhaus.39 Die wenigen, zur PPK im Bundesarchiv überlieferten, Quellen sind in ihrer Aussagekraft für die Mitarbeit der Behörde am Großen Brockhaus begrenzt. Es findet sich dort eine Stellungnahme, in der Karl-Heinz Hederich Auskunft über die Arbeit der PPK am Lexikon gibt. Hederich sah sich 1936 gezwungen, seine Zusammenarbeit mit dem F. A. Brockhaus Verlag und insbesondere daraus hervorgegangene private Einkünfte vor Philipp Bouhler zu rechtfertigen.40 Das Reichs-

39

40

Diesen Bestand konnte Thomas Keiderling einsehen, er bleibt bezüglich der konkreten Arbeit der PPK am »Großen Brockhaus« aber unscharf. Offenbar hat er auch den Restbestand zur PPK im Bundesarchiv nicht gegengelesen, um zu einer kritischen Einschätzung zu gelangen, vgl. sowohl Keiderling (Hg.), F. A. Brockhaus 1905-2005, S. 161-165 sowie Ders.: Enzyklopädisten und Lexika im Dienst der Diktatur? Die Verlage F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut (»Meyer«) während des Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (erscheint 2010). Auch Hübscher, Hundertfünfzig Jahre, behandelt die Zensurproblematik nur am Rande. Auseinandersetzungen über die auszuarbeitenden Inhalte zwischen Lexikonredaktion und PPK werden nicht konkret angesprochen sondern lediglich allgemein behandelt, vgl. S. 246f. Karl-Heinz Hederich, Stellungnahme zum Revisionsbericht vom 27.8.1936 an Philipp Bouhler vom 13.10.1936, BArch NS 11/8, Revision der PPK durch das Reichsrevisions-

1. Enzyklopädische Informationen und nationalsozialistische Literaturpolitik

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revisionsamt der NSDAP hatte der PPK und insbesondere Hederich den Vorwurf gemacht, Gelder der Partei zu veruntreuen. Im vorliegenden Schreiben verwahrte sich Hederich gegenüber seinem Vorgesetzten dagegen und begründete seine Entscheidungen ausführlich. Das bedeutet, dass der Text stark vom Duktus des Rechtfertigens gekennzeichnet ist, nichtsdestotrotz lassen seine Aussagen aber Rückschlüsse auf die Arbeit der PPK am Großen Brockhaus zu. Nach den Ausführungen Hederichs sei der Verlag noch vor Gründung der PPK an Philipp Bouhler herangetreten und habe um »die Bearbeitung eines größeren Beitrags im Brockhaus-Lexikon« gebeten.41 Es lässt sich nicht mehr nachvollziehen, worüber Bouhler schreiben sollte. Wesentlich zentraler als die Frage nach dem Inhalt ist in diesem Zusammenhang allerdings die Feststellung, dass sich das Interesse des Verlages auf Bouhler und nicht auf eine Institution wie die PPK richtete. Das bedeutet, dass der Verlag auf der Suche nach jemandem war, der quasi als Experte offiziell Auskunft über den Nationalsozialismus geben konnte. F. A. Brockhaus kann mit der Anfrage bei Bouhler gar nicht darauf abgezielt haben, das Lexikon vorauseilend zensieren zu lassen, denn zum einen gab es offiziell keine Zensur im Nationalsozialismus und zum anderen war die PPK zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gegründet. Vermutlich richtete sich der Verlag ausgerechnet an Bouhler, weil dieser eine zentrale Figur des Nationalsozialismus war und seit den 1920er Jahren hohe Funktionen in der NSDAP, zunächst als Reichsgeschäftsführer und dann als Reichsleiter, wahrnahm und diese ihn als einen zuverlässigen Ansprechpartner auswiesen. Laut Hederichs Darstellung sei der Verlag nach der gut verlaufenen Zusammenarbeit mit Bouhler auch an ihn herangetreten, und so habe Hederich gegen ein Honorar von 250,- RM einen Artikel selbständig verfasst. Und schließlich habe der Verlag kurze Zeit später der PPK etwa 100 Stichworte vorgelegt, die dann für den Ergänzungsband zum Großen Brockhaus vorgesehen waren.42 An diesem Punkt schreibt Hederich notabene nicht mehr von einer Anfrage bei ihm oder Bouhler persönlich, sondern er nennt die PPK als eine zuständige Dienststelle, an die der Verlag sich gewandt habe. Freilich geht aus Hederichs Darstellung nicht hervor, inwiefern er oder Bouhler einen gewissen Druck auf den Verlag ausgeübt hatten, damit dieser die Einträge dort vorlegte. Ganz offensichtlich aber hatte hier ein fließender Wechsel von Expertenwissen hin zu einer Zensurbehörde stattgefunden, und die Grenzen zwischen Zensur und Mitarbeit verschwammen in einer Undefinierten Grauzone.

41 42

amt der NSDAP für den Revisionsabschnitt 1.7.1936-31.10.1938 (1936-1939), [unpaginiert]. Ebd. [S. 6], Ebd.

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Kapitel II: Zwischen Business und Zensur

Hederich will glaubhaft machen, dass der größte Teil dieser 100 Stichworte »gar keine prüfungspflichtigen Themen« behandelte, was er auch damals schon so gesehen habe. Deswegen habe er dem Verlag eine »Bearbeitung« dieser Stichworte seitens der PPK angeboten und dafür »Bearbeitungsgebühren« veranschlagt.43 Die Arbeit sei »ausserhalb der Dienststelle erledigt« worden, was Hederich so deutlich hervorhob - er sprach sogar von Sonntags- und Nachtarbeit - , um nachzuweisen, dass eine parteiamtliche Prüfung durch die PPK und im Sinne ihrer Zuständigkeiten nicht gegeben war. Er macht dies so explizit, um in einer freilich undurchsichtigen Logik zu begründen, warum er die veranschlagten »Bearbeitungsgebühren« von 1.000,- RM nicht wie normalerweise üblich auf dem Konto Prüfungsgebühren der PPK verbucht habe, sondern auf demjenigen der Nationalsozialistischen Bibliographie.44 Offenbar war der private Zugriff auf dieses Konto einfacher, denn von dem überwiesenen Geld beanspruchte er 500,- RM für sich selbst, 200,- RM habe er dem beteiligten PPK-Angestellten Karl-Helmut Patutschnik zugestanden und, um »Missdeutungen zu vermeiden«45, auch die Reichsleitung mit 300,- RM bedacht. In dem gesamten Schreiben wurde Hederich nicht müde, die Initiative des Verlages hervorzuheben. Eingedenk der Entstehung des Dokuments ist allerdings nicht zu vergessen, dass er dies tat, um die eigenmächtige Einführung von privat kassierten »Bearbeitungsgebühren« zu begründen. Tatsächlich wird diese Form der Zusammenarbeit zwischen PPK und Verlag nicht frei von einer gewissen Repression gewesen sein, die nicht unbedingt auf direkten Einfluss der PPK entstanden sein muss, sondern vielmehr dem System inhärent war. Es lässt sich vermuten, dass der F. A. Brockhaus Verlag sich mehr oder weniger freiwillig einer Zensur aussetzte und sich mit diesem Vorgehen erhoffte, einen gewissen Schutz erkauft zu haben. Einschlägige Stichworte wurden auf diese Weise von Experten der nationalsozialistischen Ideologie geschrieben und schienen damit vor einer Kritik und dem damit möglicherweise einhergehenden Verbot des Werkes sicher. Dieses Vorgehen ist auch wahrscheinlich, weil die Firmenleitung generell darauf bedacht war, einen beinahe freundschaftlichen Umgang mit staatlichen und parteilichen Stellen zu pflegen, um in erster Linie seine Geschäfte zu sichern.46 Hederich begründete die eigenmächtige Einführung von im Vergleich zu den Prüfungsgebühren höheren »Bearbeitungsgebühren« damit, dass es nicht »gerechtfertigt« sei, Verleger, die von der Mitarbeit der PPK einen »privatwirtschaftlichen Nutzen« zogen, mit den gleichen Gebühren zu belasten, wie diejenigen, deren

43 44 45 46

Ebd. Ebd. [S. 7], Ebd. [S. 8], Vgl. Keiderling, Enzyklopädisten und Lexika.

1. Enzyklopädische Informationen und nationalsozialistische Literaturpolitik

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Werke lediglich geprüft werden.47 Außerdem trage die Arbeit am Lexikon - am Brockhaus ebenso wie an dem zum Zeitpunkt der Revision im Sommer 1936 im Entstehen begriffenen Meyer - einen eigenständig schriftstellerischen Charakter und keineswegs den einer Prüfung im Sinne des Auftrags der PPK.48 Wie sehr sich diese Mitarbeit allerdings tatsächlich in der Grenze zur Zensur bewegte, erschließt sich daraus, dass die Verlage nicht erfuhren, wer die Artikel letztlich geschrieben hatte. Die Namen der Autoren habe Hederich nicht bekannt gegeben, um zu vermeiden, »dass die Verlage aus dieser Mitarbeit besondere Vorteile ziehen«. Auch wollte er verhindern, dass einzelne Sachbearbeiter der Dienststelle, die für eine solche Mitarbeit in Betracht kamen, »geschäftlichen Belästigungen durch den Verlag ausgesetzt werden.«49 Freilich ist die ganze Argumentation nicht nur angesichts des Umstands, dass den Verlagen die Namen der scheinbar selbständig schriftstellerisch tätigen PPKMitarbeiter nicht bekannt gegeben wurden, einigermaßen fraglich. Die >Mitarbeit< der PPK bei der Entstehung des Großen Brockhauses erinnert vielmehr an die Handhabung bei der üblichen Prüfung von nationalsozialistischer Literatur. Während die PPK dem F. A. Brockhaus Verlag nicht die Namen der Autoren mitteilte, so verweigerte sie bei den üblichen Prüfungen die Nennung der Gutachter. Und in beiden Fällen wurde das Verfahren jeweils als bezahlte Dienstleistung ausgewiesen. Die Ähnlichkeiten mit der üblicherweise stattfindenden Prüfung sind frappierend. Ganz offensichtlich hatte Hederich den Brockhaus also einzig deswegen als eine so große Ausnahme dargestellt, um seine finanzielle Eigenmächtigkeit gegenüber den Anschuldigungen des Reichsrevisionsamtes zu rechtfertigen. Die Akten zum Revisionsverfahren sind nicht mehr zugänglich, ebenso wenig ist der eigentliche Revisionsbericht erhalten, auf den sich Hederich bezieht.50 Dennoch ist aus Hederichs Reaktion erkennbar, dass sich das Interesse der Revisoren nicht gegen generelle Missstände innerhalb der PPK richtete sondern direkt gegen ihn. Gemessen an Hederichs Stellungnahme monierten die Revisoren hauptsächlich seine persönlichen Bereicherungen: neben Geldern für die >Bearbeitung< des

47 48 49 50

Hederich, Stellungnahme, [S. 10], BArch NS 11/8. Ebd. [S.9], Ebd. [S. 13]. Von der zu Reichsschatzmeister Franz Xaver Schwarz gehörenden Revisionsabteilung der NSDAP haben sich nur Akten über die Ermittlungen gegen den Heilpraktikerbund erhalten, vgl. Reichsschatzmeister, BArch NS 1, in: Inventar archivalischer Quellen des NS-Staates, hg. v. Heinz Boberach, München 1991, Teil I, Bd. 3/1, S. 461-463 sowie Diether Degreif: Franz Xaver Schwarz. Das Reichsschatzmeisteramt der NSDAP und dessen Überlieferung im Bundesarchiv, in: Friedrich P. Kahlenberg (Hg.): Aus der Arbeit der Archive. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und zur Geschichte. Festschrift für Hans Booms, Boppard am Rhein 1989, S. 488-503.

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Kapitel II: Zwischen Business und Zensur

Brockhaus wurden noch die private Nutzung des zur Dienststelle gehörenden Kraftwagens sowie seine zu große Wohnung, für die er eine zu geringe Miete zahle, beanstandet. Die Nebeneinkünfte für die Bearbeitung des Großen Brockhaus waren vermutlich nur Vorwand und Aufhänger, um Argumente insbesondere gegen die Leitungsebene der PPK in der Hand zu haben. In dieser Revision offenbart sich die nationalsozialistische Führungsebene von ihrer diffamierenden und von persönlichen Interessen getriebenen Seite. Es waren wohl Machtkämpfe innerhalb des Systems, die dazu führten, dass das Verfahren überhaupt angeschoben wurde. Die Etablierung der PPK als Zensurinstanz war für andere, mit Schrifttumsfragen befasste Dienststellen nicht ohne Konkurrenz von Statten gegangen, und eventuell war die Revision ein Druckmittel, um an der besonders guten Stellung der PPK noch einmal etwas zu ändern. Dies vermutete jedenfalls Philipp Bouhler, der sich in dieser Angelegenheit hinter seinen Stellvertreter Hederich stellte. Bouhler äußerte sich gegenüber Reichsschatzmeister Fanz Xaver Schwarz mit den Worten: »[I]ch kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß dieser Bericht nicht nur eine Höchstleistung bürokratischer Pedanterie darstellt, sondern darüber hinaus von einer mir unverständlichen Gereiztheit gegenüber meiner Dienststelle diktiert ist.«51

Dass die Zusammenarbeit zwischen der PPK und dem F. A. Brockhaus Verlag bezüglich des Großen Brockhaus nicht ganz so einmütig verlaufen war, wie Hederich es in seiner Stellungnahme präsentierte, lässt sich mit Äußerungen des Verlages oder Einträgen im Lexikon nur schwer belegen. Ob Hederich nicht doch einigermaßen Druck auf den Verlag ausgeübt hatte, die Lexikonartikel zum Nationalsozialismus von ihm überarbeiten zu lassen, ist zwar wahrscheinlich, muss an dieser Stelle aber offen bleiben. Abgesehen von den nachweislich von Hederich bearbeiteten Artikeln »Österreich« und »Nationalsozialismus - Weltanschauung« im Ergänzungsband des Großen Brockhaus',52 lassen sich die im Einzelnen vom ihm und Karl Helmut Patutschnik >bearbeiteten< oder besser >zensierten< Artikel nicht benennen. 53 Der Stellungnahme Hederichs zum Revisionsbericht lässt sich lediglich entnehmen, dass es insgesamt etwa 100 Artikel waren, die von den Mitarbeitern der PPK für den Großen Brockhaus und insbesondere für dessen Ergänzungsband geschrieben wurden.

51 52 53

Philipp Bouhler an Franz Xaver Schwarz, 16.10.1936, BArch NS 11/8. Hederich, Stellungnahme, [S. 9 u. 11], BArch NS 11/8. Zwar hatte es seitens der PPK Belege über die Arbeit am »Brockhaus« gegeben (so Hederich in der Stellungnahme gegenüber Bouhler) aber sie haben die Zeit offenbar nicht überdauert.

1. Enzyklopädische Informationen und nationalsozialistische Literaturpolitik

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Die Tücken geordneter Informationen und ihrer Kontrolle Die nationalsozialistischen Machthaber sahen eine vollständige Vorzensur von Enzyklopädien nicht vor. Die PPK etablierte sich zwar als zuständige Behörde für diejenigen Stichworte, die Staat, Partei und Ideologie betrafen, aber die Frage danach, was dazu konkret zählte, erwies sich als ein weites Feld. Von den Bänden der 15. Auflage des Großen Brockhaus waren zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme bereits zwei Drittel publiziert. Der 1935 erschienene Ergänzungsband beinhaltete zahlreiche Informationen über die nationalsozialistischen Veränderungen und wurde somit der aktuellen politischen Lage gerecht. An ihm hatten die Mitarbeiter der PPK nachweislich mitgewirkt und gegen die Zahlung so genannter Bearbeitungsgebühren selbständig Artikel verfasst. In den letzten Bänden des eigentlichen Hauptwerkes jedoch bewegten sich die Redakteure an den Grenzen und Möglichkeiten eines Überwachungsstaates, dessen Kontrollmechanismen die Entstehung allgemeiner Nachschlagewerke nicht vollständig abdeckte. In den nach 1933 erschienenen Bänden des Großen Brockhaus finden sich zuweilen Textstellen, die den Leser angesichts ihrer verblüffenden Perspektive stutzig machen. Es gibt Einträge, die reichlich versteckt nach der alten zivilgesellschaftlichen Aufgabe der Enzyklopädie fragen lassen. Beispielhaft dafür ist das 1935 erschienene Stichwort zur Zensur, in dem zwischen einer »Vorzensur«, die präventiv wirke und mit der Auflage von Änderungen einhergehe, und einer »Nachzensur«, die repressiv wirke und das Werk jeweils verbiete und beschlagnahme, unterschieden wird.54 Natürlich verwies der Große Brockhaus an dieser Stelle darauf, dass es eine Vorzensur in Deutschland offiziell nicht gebe, verwunderlich ist hieran also nicht, dass die PPK oder andere Stellen trotz ihrer faktischen Eingriffe mit keinem Wort erwähnt werden. Erstaunlich ist vielmehr, dass die Nachzensur im Vergleich zur Vorzensur explizit als die »mildere Art der Zensur« 55 bezeichnet wird! Wieso sollten das Verbot eines Werkes und der damit einhergehende hohe finanzielle Verlust für einen Verlag >milder< ausfallen als ein paar Zensureingriffe? Es ist in diesem Zusammenhang zum einen evident, dass sich der Große Brockhaus auf diese versteckte Weise über das de facto vorhandene Zensursystem öffentlich beklagte. Zentral ist zum anderen aber die mit diesem Beispiel verbundene Frage, wie der Brockhaus und seine späten Bände eigentlich funktionieren.

54

55

Mit Bezug auf Art. 118 der Reichsverfassung von 1919; § 1 VO zum Schutz von Volk und Staat vom 28.2.1933 setzt Art. 118 der Reichsverfassung bis auf weiteres außer Kraft. Zensur, in: Der große Brockhaus. Handbuch des Wissens in 20 Bänden, Leipzig 15 19281935 [im Folgenden GB], hier 20 (1935), S. 591.

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Kapitel II: Zwischen Business und Zensur

Seinem Anspruch nach verfolgte Karl-Heinz Hederich als stellvertretender Leiter der PPK das Ziel, sämtliche Einträge, die den Nationalsozialismus in direkter und indirekter Weise betrafen, zu kontrollieren: »Die Bewegung hat ein entscheidendes Interesse daran, dass lexikonartige Veröffentlichungen weltanschaulich nach Möglichkeit ihren Bestrebungen gerecht wird, auch in solchen Darstellungen, die sich nicht unmittelbar mit dem Nationalsozialismus befassen, ζ. B. in Artikeln über >ArbeitertumKarl Marx< usw.«56

Allerdings zeigt nicht nur das obige Beispiel zum Stichwort »Zensur«, dass sowohl der PPK als auch anderen, mit Schrifttumsfragen befassten Dienststellen in Reich und Partei zumindest für den Großen Brockhaus entgangen war, dass enzyklopädische Wissensvermittlung im Einzelnen raffinierter und subversiver verlaufen kann. Gemessen am Anspruch der PPK erstaunen Einträge, deren Aussagekraft keineswegs konform mit der nationalsozialistischen Politik und Ideologie gingen. So verwundern etwa die noch 1934 erschienenen, umfassenden Informationen über Verfahrensweisen und Rechtsverhältnisse bei demokratischen Wahlen. In Stichworten wie »Wahlausschuss«, »Wahlfreiheit«, »Wahlrecht« und »wahlverhindert« wird auf beinahe vier Seiten die gesamte Prozedur ausgesprochen ausführlich erklärt.57 Keineswegs sind derartige Einträge Zeugnis einer schnell veraltenden Wissensvermittlung, deren Aktualisierungsmöglichkeiten angesichts von schwerfälligen Zeilenumbrüchen und alphabetischer Gebundenheit beschränkt waren. Sie sind ganz im Gegenteil von einer geradezu ohnmächtigen und unbeteiligten Aktualität gekennzeichnet. So ist auch die ausgesprochen ausführliche und umfassende Darstellung des Völkerbundes auffallend. Verblüffend ist daran, dass der 1934 erschienene Eintrag das Deutsche Reich nicht unter denjenigen Ländern auflistete, die dem Völkerbund nicht angehörten, obwohl das nationalsozialistische Deutschland bereits im Oktober 1933 seine Völkerbundsmitgliedschaft aufgekündigt hatte. Vielmehr argumentierte der Große Brockhaus an dieser Stelle streng gemäß der Völkerbundsatzung, nach der eine Kündigung erst innerhalb von zwei Jahren als erfolgt angesehen werden könne, wenn »das Mitglied zu dieser Zeit alle seine internationalen Verpflichtungen erfüllt« habe.58 Deutschland wird hier ebenso wie Japan als Beispiel für genau diese Regelung genannt und damit war Deutschland in der Darstellung des Brockhaus noch Mitglied des Völkerbundes. Es ist zu bezweifeln, dass nationalsozialistische Zensurbehörden diese, ihrer aktuellen internationalen Politik widersprechenden Einträge geduldet hätten, wenn sie darauf aufmerksam geworden wären. 56 57 58

Hederich, Stellungnahme, [S. 5f.], BArch NS 11/8. GB 19 (1934), S. 738-742. Völkerbund, in: GB 19 (1934), S. 643-646, hier S. 643.

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Diese mehr oder weniger zufällig gefundenen Einträge lassen vermuten, dass die Lexikonredaktion des Verlages nicht vollends mit den ideologischen Vorgaben des Nationalsozialismus konform ging. Offenbar versuchte die Redaktion, differenzierende Sichtweisen im Rahmen ihrer Möglichkeiten einzubringen, ein systematisches Vorgehen lässt sich hierin jedoch nicht erkennen. Auch die Suche nach Reflexionen seitens des Verlages über die Art und Weise der Wissensvermittlung gestaltet sich als schwierig. Im Stichwort Konversations-Lexikon wurde mit Bezug auf die aktuell vorliegende Auflage 1931 lediglich der Anspruch betont, das »gesamte Wissen« aufnehmen und in einer »umfassenden volkstümlichen Enzyklopädie« präsentieren zu wollen.59 Der Verlag machte nicht transparent, nach welchen Einschluss- und Ausschlusskriterien er über die Aufnahme oder Auslöschung von Personen, Themen und Ereignissen befand und behandelte die Entscheidung darüber, was das >gesamte Wissen< im Einzelnen sei, als einen Arkanbereich. Hans Brockhaus hatte zwischen 1931 und 1933 unter Mitarbeit seiner Redakteure ein »Lexikon-Archiv« erarbeitet, in dem er die Grundsätze für die Herausgabe allgemeiner Nachschlagewerke zum internen Gebrauch zusammenstellte.60 Hier bezeichnete er eine »strenge Sachlichkeit und Überparteilichkeit« als obersten Grundsatz und begründete die objektive Darstellung damit, dass er das »Trennende im deutschen Volk zu vermeiden und das Gemeinsame zu betonen« versuche. Er verdeutlichte dies am Beispiel von religiösen Themen: es gelte auch hier eine »objektive Berichterstattung [...], so daß sich der Kathole über die protestantische Auffassung und der Protestant über die katholische einwandfrei unterrichten kann, was zweifellos zum gegenseitigen Verständnis beiträgt.«61 In den 1950er Jahren hatte Arthur Hübscher für die Festschrift zum 150jährigen Firmenjubiläum zwar auf die mit dem Anspruch von >objektiver< Berichterstattung verbundene Problematik verwiesen, sie aber zugleich bagatellisiert, indem er die Frage an Hand der Aufnahme sämtlicher Insektennamen und Bonbonarten thematisierte. Ebenso wenig schafft es die aktuelle Festschrift zum 200jährigen Firmenjubiläum, den Prozess der Entscheidungsfindung nachzuzeichnen. Beide Arbeiten verweisen darauf, dass der Verlag seinen Mitarbeitern Objektivität und Sachlichkeit auferlegte, sie können die Grenzen dieser >objektiven< Berichterstattung aber nicht transparent machen.62 Eine systematische Suche nach Einträgen, die den Nationalsozialismus mit dem impliziten Verweis auf eine >objektive< Berichterstattung in einem seiltanzähn59 60 61

62

Konversations-Lexikon, in: GB 16 (1931), S. 439. Vgl. Keiderling (Hg.), F. A. Brockhaus 1905-2005, S. 108f. Hans Brockhaus, Lexikon-Archiv, 1931-1933, zit. nach Keiderling (Hg.), F. A. Brockhaus 1905-2005, S. 109. Vgl. Hübscher, Hundertfünfzig Jahre, S. 245f. und Keiderling (Hg.), F. A. Brockhaus 1905-2005, S. 102-109.

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Kapitel II: Zwischen Business und Zensur

liehen Akt herausforderten, gestaltet sich auf Grund der Textsorte als schwierig. Das freilich dürfte den Redakteuren bewusst gewesen sein. Tatsächlich jedoch fallt in den 1933 bis 1935 erschienen letzten Bänden des Großen Brockhaus eine passive und unbeteiligte Objektivität auf, die von einem hohen Grad an Aktualität geprägt ist. Verbirgt sich hinter dem Satz, dass aus dem »Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« nach 1933 hauptsächlich eine Rechtsschutzorganisation für Juden geworden sei63 der Hinweis, dass sich Juden auf der Suche nach Hilfe hierhin wenden können? Dieser Eintrag verwundert ebenso wie die Tatsache, dass es offenbar noch immer möglich war, jüdische Personen ohne die bedingungslose nationalsozialistische Rassenpolitik anzusprechen: Leopold Zunz (1794-1886) und Chaim Weizmann (1874-1952) erhielten jeweils noch 1935 einen Eintrag als jüdische Gelehrte, in denen ihr Wirken geehrt und nicht diffamiert wurde.64 Allerdings findet sich in Artikeln, die direkt oder indirekt die zeitgenössische Situation der Juden betrafen, keine Kritik an der nationalsozialistischen Politik.65 1934 wurde in den letzten Bänden des Hauptwerkes eine Neuerung bezüglich der Personeneinträge eingeführt. Mit dem expliziten Hinweis auf eine »jüdische Abstammung« wurden nun eine Reihe deutscher Künstler und Avantgardisten stigmatisiert.66 Diese Neuerung trug offenbar der nationalsozialistischen Rassenideologie Rechnung, ob sie auf Grund einer Zensuranweisung erfolge oder aber Ausdruck vorauseilenden Gehorsams ist, muss offen bleiben. Dennoch waren diese Anpassung und die damit verbundene öffentliche Diffamierung kein Hinderungsgrund dafür, dass die Personen noch immer geehrt oder anerkannt wurden. Die Gedichtsammlungen von Franz Werfel enthielten im Brockhaus von 1934 noch immer »sehnsüchtige Stimmungen von weichlicher, verzückter Inbrunst, die selbst im Verworfensten noch eine brüderliche Verwandtschaft« enthalten können.67 63 64

65

66

67

Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in: GB 20 (1935), S. 601f. Weizmann, Chajim, in: GB 20 (1935), S. 148 und Zunz, Leopold, in: GB 20 (1935), S. 720f. Zur Situation der Juden in Deutschland vgl. als Überblick die vierbändige, von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner im Auftrag des Leo Baeck Instituts herausgegebene Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, München 1996/97 [Taschenbuchausgabe 2000], hier v. a. Bd. 4: Avraham Barkai/Paul Mendes-Flohr/Steven M. Lowenstein: Aufbruch und Zerstörung (1918-1945), zu den Jahren ab 1933 vgl. S. 193-359. Der Hinweis auf eine »jüdische Abstammung« etwa bei: Tucholsky, Kurt, in: GB 19 (1934), S. 165; Werfel, Franz, in: GB 20 (1935), S. 232; Zweig, Arnold, in: GB 20 (1935), S. 741; Zweig, Stefan, in: ebd. Aber nicht bei: Hasenclever, Walter, in: GB 8 (1931), S. 216; Feuchtwanger, Lion, in: GB 6 (1930), S. 184; Chaplin, Charlie, in: GB 3 (1929), S. 781. Werfel, Franz, in: GB 20 (1935), S. 232.

1. Enzyklopädische Informationen und nationalsozialistische Literaturpolitik

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Georg Trakls »wenige, doch formvollendete, schwermütige Gedichte«, die ebenso wenig der im Nationalsozialismus akzeptierten Literatur entsprachen, konnten noch von »einer außergewöhnlichen] Feinheit des Gefühl« zeugen.68 Allerdings sind die Einträge jeweils vom Bruch um 1933 gekennzeichnet. Es steht für die Redaktion nicht in einem Gegensatz, Arnold Schönberg für die Zeit zwischen 1925 und 1933 als Leiter der Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste in Berlin auszugeben und zugleich zu formulieren, dass er als »Verleugner der Naturgesetze der Musik weithin abgelehnt« würde.69 Die Einträge werfen eher Fragen auf, als dass sie Antworten geben. Wieso zum Beispiel lebte Arnold Zweig plötzlich im Ausland und aus welchem Grund wurden seine Kriegsromane neuerdings »als zersetzend« abgelehnt?70 Ähnlich rätselhaft bleibt die Auflistung aller literarischen Werke von Kurt Tucholsky am Ende seines Personeneintrags. Sollte diese Zusammenstellung der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen und dem Vergessen von Werk und Autor entgegenwirken? Mit dem passiv formulierten Zusatz, dass etwa Tucholsky »pazifistisch-marxistische Anschauungen« vertreten und »in herausfordernder Form deutsche Gefühle und Überlieferungen«71 bekämpft habe, ist der Text geradezu von einer ohnmächtigen Akzeptanz der Realität gekennzeichnet. Es sind unbeteiligte Aussagen, die die vermeintliche Objektivität des Großen Brockhaus auszeichnen und die ihn einen undurchsichtigen Kurs durch das zu Wissende fahren lassen. Die Einträge sind, was die politischen Veränderungen angeht, akzeptierend und hinnehmend. Derart passive Positionen sind wenige Jahre später in Meyers Lexikon undenkbar, auch wenn sich dies gerade für diejenigen Einträge, die im Brockhaus von den nationalsozialistisch bedingten Anpassungen betroffen waren, nicht belegen lässt. Genau die Buchstabenfolge, für die eine ideologische Repression auf den Großen Brockhaus angenommen werden kann, ist von Meyers Lexikon nicht mehr erschienen. Der letzte publizierte Band endet mit dem Eintrag »Soxhlet«. Eine Durchsicht von Artikeln zu Schriftstellern, die mit den Bücherverbrennungen stigmatisiert worden waren, zeigt, dass der Meyer diese Autoren nicht durch die Verweigerung eines enzyklopädischen Eintrags aus dem öffentlichen Bewusstsein zu streichen suchte. Indem hier eindeutige Zuweisungen vorgenommen werden, fügten sich diese Stichworte vielmehr in die Wissensordnung der NS-Ideologie. Aus der »jüdischen Abstammung« des Brockhaus wurde zunächst die konkrete Zuordnung gemäß der nationalsozialistischen Rassenlehre.72 Schließlich wichen die passiven 68 69 70 71 72

Trakl, Georg, in: GB 19 (1934), S. 21. Schönberg, Arnold, in: GB 16 (1933), S. 769. Zweig, Arnold, in: GB 20 (1935), S. 741. Tucholsky, Kurt, in: GB 19 (1934), S. 165. Frühere Formen der Stigmatisierung jüdischer Autoren, Künstler und Gelehrter in völkischen biographischen Sammelwerken thematisiert Gregor Hufenreuter: »... ein großes

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Formulierungen des Brockhaus einer scharfen, zweifellosen und propagandistischen Sprache: Feuchtwanger wurde zu einem deutschfeindlichen, »wegen seiner Hetze ausgebürgerten« Schriftsteller.73 Sein 1930 erschienener Roman »Erfolg« sei eine »gemeine Beschimpfung der nat[ional]-soz[ialistischen] Bewegung« und überhaupt seien seine späteren Werke »übelste Pamphlete«. 74 Walter Hasenclever schreibe »unreife« Dramen und »manieriert-verkrampfte« Lustspiele.75 Aus politischen Gründen verfolgte Autoren wie die Manns wurden in Meyers Lexikon in ähnlicher Weise diffamiert: Heinrich Mann als »typischer] Vertreter des Kulturbolschewismus im Deutschland der Systemzeit« habe durch »verleumderische Schmähschriften gegen das neue Deutschland« selbstverschuldet das Recht auf die deutsche Staatsangehörigkeit verwirkt. 76 Die »Pamphlete gegen das Dritte Reich« seines Bruders Thomas hätten dafür gesorgt, dass dieser ebenso von der »deutschen Volksgemeinschaft ausgeschlossen«77 worden sei wie sein Sohn Klaus Mann, der »krankhaft-perverse Novellen und Bühnenstücke« schreibe.78 Es ist das Leitmotiv der nationalsozialistischen Kulturpolitik, das sich in diesen enzyklopädischen Einträgen ausbreitet und das Wolfgang Benz mit den Worten »Diffamierung als Methode und Ausgrenzung als Absicht« 79 treffend auf den Punkt gebracht hat. Damit stehen die Einträge in Meyers Lexikon in einem deutlichen Gegensatz zu denjenigen im Großen Brockhaus, wo noch keine verbalen Angriffe auf die ausgegrenzten Künstler vorgenommen worden sind. Gemessen an den Texten im Meyer lassen sich die Darstellungen im Großen Brockhaus nicht eindeutig im Rahmen der nationalsozialistischen Propaganda verorten. Unter dem Deckmantel einer >objektiven< Berichterstattung fand vielmehr eine stille und passive Anpassung an die nationalsozialistischen Interpretationsmuster statt. Die hinnehmenden Aussagen lasen sich zwar mit dem nationalsozialistischen Terror, vor dem der F. A. Brockhaus möglicherweise zurückschreckte, erklären, sie sind jedoch nicht aufgrund von Zensureingriffen entstanden. Wenige Artikel wie das Stichwort »Zensur« positionieren sich subtil gegen das System, sie bilden jedoch die Ausnahme. Von einer

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Verzeichnis mit eingestreuten Verbrechern«. Zur Entstehung und Geschichte der antisemitischen Lexika Semi-Kürschner (1913) und Sigilla Veri (1929-1931), in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 15 (2006), S. 43-63. Feuchtwanger, Lion, in: ML 4 (1938), Sp. 48. Ebd. Haselclever, Walter, in: ML 5 (1938), Sp. 898. Mann, Heinrich, in: ML 7 (1939), Sp. 968. Mann, Thomas, in: ebd. Ebd. Wolfgang Benz: Mythos und Skandal. Traditionen und Wirkungen der Bücherverbrennung des 10. Mai 1933, in: ZfG 51 (2003), S. 398-406, hier S. 403.

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systematischen Kritik am nationalsozialistische Deutschland kann für den Grossen Brockhaus ebenso wenig die Rede sein wie von einem versteckten Widerstand gegen das Regime.

2. Funktionen des zu Wissenden. Der Nationalsozialismus und Meyers Lexikon (1936-1942) Das Bibliographische Institut und die nationalsozialistische Sozial- und Wirtschaftspolitik 1939 gab das Bibliographische Institut aus Anlass der 100-Jahr-Feier von Meyers Lexikon eine Festschrift heraus.80 Der Leipziger Zeitungswissenschaftler Gerhard Menz stellte das Unternehmen und die Enzyklopädie als sein Flaggschiff in eine langjährige Tradition mit der deutsch-nationalen Gesinnung. Kennzeichnend dafür ist Menz' Rückblick auf die Resonanz, die Meyers Lexikon in den 1920er Jahren erfahren hatte: »Daß der >Meyer< die Kolonialschuldlüge beispielsweise als das anprangerte, was sie ist, daß er an den Geist von Locamo nicht glauben mochte, gegenüber den Pazifisten kein Blatt vor den Mund nahm, daß er das Verhalten der Max von Baden, Erzberger, Scheidemann brandmarkte, für die Fememorde die richtige Kennzeichnung fand, der Rosa Luxemburg keinen Heiligenschein wob - alles das und noch viel mehr zog ihm selbstverständlich seitens der Systempresse die heftigste Kritik zu, die ihm aber auch zum schwersten Vorwurf machte, daß er eine Elisabeth Bergner, einen Charley Chaplin nicht für würdig erachtete, ihnen entsprechend blumige Biographien zu widmen.«81

Das Zitat zeigt zum einen, dass Lexika trotz allem Objektivitätsanspruch vermeintlich allgemeines Wissen ohne weiteres einseitig fixieren können. Diese quasi auf dem Höhepunkt des nationalistischen Revanchismus formulierte Einschätzung ist zum anderen allerdings auch Ausdruck einer wohl überlegten zeitgenössischen Positionierung des Bibliographischen Instituts. Menz zeichnete für die Enzyklopädien des Verlages eine historiographische Linie von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus und positionierte das Unternehmen deutlich im Rahmen der aktuellen ideologischen Bedürfnisse. Die im Einvernehmen mit dem Bibliogra80

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Menz, Hundert Jahre. Zu Menz siehe Arnulf Kutsch: Gerhard Menz, in: NDB 17 (1994), S. lOlf. Menz, Hundert Jahre, S. 77; Menz bezieht sich auf: Meyers Lexikon. In vollständig neuer Bearbeitung, 12 Bde., Leipzig: BI 71924-1930, Ergänzungsbd. 13 (1931), 14 (1932), 15 (1933), Atlas-Ergänzungsbd. 1933.

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phischen Institut verfasste Festschrift von 1939 ist als das Verlangen nach einer möglichst langjährigen Verortung auf der >richtigen< Seite des politischen Selbstverständnisses zu lesen. Die Neuauflage von Meyers Lexikon 1936 ist in dieser Lesart dann auch die Folge der Veränderungen im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme. Dem neuen Deutschland musste auch ein neuer Meyer »aus dem neuen Geist heraus«82 zur Seite gestellt werden: »Die neuen Betriebsführer, Dr. Otto Mittelstaedt [...] und Dr. Helmuth Bücking [...] empfanden als Nationalsozialisten diese Notwendigkeit ganz unmittelbar und setzten mit diesem Einsatz die Familientradition glücklich fort.«83 Tatsächlich ist eine positive Ausrichtung auf den Nationalsozialismus signifikant für das Agieren des Bibliographischen Instituts nach 1933. Die Firmenleitung reagierte auf den Machtwechsel und seine Folgen mit einer Reihe von innerbetrieblichen Anpassungen und arbeitete dem System bereitwillig zu. Es ist Ziel dieses Kapitels, sich der Anpassung der Unternehmensleitung an die nationalsozialistische Wirtschafts- und Sozialpolitik intensiv zu nähern, bevor die achte Auflage von Meyers Lexikon, die von 1936 bis 1942 in neun Bänden erschien, untersucht wird. Als zwischen 1928 und 1932 drei von vier Enkeln des Verlagsgründers gestorben waren und der letzte 1933 ausschied, verjüngte sich die Leitungsebene des Verlages grundlegend und langfristig. Zum 1. April 1933 übernahmen der 31jährige Otto Mittelstaedt und der 34jährige Helmuth Bücking den Vorstandsvorsitz des seit 1915 als Aktiengesellschaft firmierenden Unternehmens. Mit der Wahl Mittelstaedts sicherte sich die Familie Meyer, die mit 50 % Hauptanteilseigner war, eine familiäre Bindung zur Firmenleitung: Otto Mittelstaedt (1902-1981) war mit einer Urenkelin des Firmengründers verheiratet.84 Er hatte allerdings keinerlei Erfahrung mit der Familientradition und besaß auch keine entsprechende Ausbildung, etwa als Kaufmann, Buchdrucker oder Verleger. Mittelstaedt hatte in Leipzig und München Physik studiert und 1928 als Schüler von Peter Debye mit einer Dissertation über den Kerr-Effekt promoviert.85 Die Arbeit im Verlagswesen war für 82 83 84

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Menz, Hundert Jahre, S. 57. Ebd. Adalbert Brauer: Otto Mittelstaedt zum Gedächtnis, in: Leipziger Neueste Nachrichten 28 (1981), Nr. 9, S. 5. Universitätsarchiv Leipzig, Promotionen bis zum Jahr 1991, Otto Mittelstaedt, (4.12.2006). Otto Mittelstaedt war vom Wintersemester 1921/ 22 bis Sommersemester 1923 an der Universität München eingeschrieben, vgl. Studentenkartei des Universitätsarchivs der Ludwig-Maximilian-Universität München. Der Kontakt zu den Physikern brach Zeit seines Lebens nicht ab. Zu Mittelstaedts 70. Geburtstag etwa ehrte Werner Heisenberg seinen aus der gemeinsamen Münchner Studienzeit bekannten Freund mit einer Festgabe für die »Wissenschaftliche Redaktion«, einer innerbetrieblichen Zeitschrift des BI Mannheim, vgl. Werner Heisenberg: Physikalische und wissenschaftspolitische Gesichtspunkte beim Bau von Großbeschleu-

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Mittelstaedt neu, doch das Manko konnte verlagsintern ausgeglichen werden, indem ihm der erfahrene Helmuth Bücking (1899-1970) als Vorstandsmitglied zur Seite gestellt wurde. Bücking konnte zwar keine direkte Verbindung zur Familie Meyer nachweisen - er war >nur< mit der Schwester von Mittelstaedt verheiratet besaß dafür aber Erfahrungen im Buch- und Verlagswesen. Bücking war gelernter Buchhändler und hatte sich als solcher auf den Reisebuchhandel spezialisiert. Da er zu Beginn des Zweiten Weltkrieges einberufen wurde, schied er ab 1939 de facto für die laufenden Geschäfte des Unternehmens aus.86 Unter der jungen und dynamischen Leitung von Bücking und Mittelstaedt erholte sich das Bibliographische Institut von der Wirtschaftskrise und wurde in den 1930er Jahren ein finanzkräftiges Unternehmen. Hatte der Verlag 1926 noch 750 Beschäftigte, so waren es 1931 nur noch 409, doch diesen Rückgang konnte die Verlagsleitung in den 1930er Jahren kontinuierlich wettmachen. 1935 waren es bereits wieder über 700 Arbeitnehmer und bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges stieg die Zahl der Mitarbeiter auf nahezu 1.000 Personen an.87 In einem für die Jahre 1935 und 1936 erstellten Sozialbericht präsentierte sich das Bibliographische Institut als warmherziger Arbeitgeber mit vielseitigen sozialen und kulturellen Angeboten. Das Unternehmen besaß einen Rentenfond und eine werkseigene Krankenkasse, es gab eine Mandolinengruppe, einen Männerchor und eine Gymnastikgruppe. 88 Ein ähnliches Bild zeichnete die 1935 auf Initiative der Deutschen Arbeitsfront (DAF) gegründete Betriebszeitung Meyers Nachrichten,89 Danach sorgte eine Kantine mit Dachgarten täglich für ein warmes Mittagessen, eine Kinderkrabbelgruppe kümmerte sich vor allem während des Krieges um die Kleinkinder der arbeitstätigen Frauen, das Erholungsangebot »Kraft durch Freude« organisierte Ferienreisen und Betriebsausflüge und ein Betriebsarzt untersuchte regelmäßig den Gesundheitszustand der Arbeitnehmer.90

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nigern. Festgabe für Otto Mittelstaedt, in: Die wissenschaftliche Redaktion 7 (1972), S. 62-74. Er kam zunächst an die Ostfront und wurde nach einer Verwundung Ende 1944 nach Griechenland versetzt. Das geht aus Informationen der Betriebszeitung »Meyers Nachrichten« hervor, in der regelmäßig Briefe und Grüße von ihm veröffentlicht wurden. Zum 1.1.1935 waren es 711, zum 1.1.1937 dann 823 und Mitte 1939 bereits 987 Betriebsangehörige, vgl. Sozialbericht des Bibliographischen Instituts AG Leipzig für die Jahre 1935 und 1936, SächsHStA Dresden, Ministerium für Wirtschaft, Bibliographisches Institut AG Leipzig (1937-1938), 1653, 30 sowie Getraude Gebauer, Barbara Kegler: Einleitung zum Findbuch Bibliographisches Institut Leipzig, Leipzig 1999/2000, Sächsisches Staatsarchiv Leipzig. Sozialbericht 1935 und 1936, SächsHStA, 1653, 30. Meyers Nachrichten. Werkzeitung für die Betriebsgemeinschaft des Bibliographischen Instituts AG., Leipzig [im Folgenden MN], 1 (1. Mai 1935)-11 (15. Februar 1945). MN 4 (31.3.1939), H. 11.

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Das System von sozialen Absicherungen und kulturellen Angeboten spiegelt sich in der Betriebszeitung Meyers Nachrichten, die der Verlag ab Mai 1935 in unregelmäßigen Abständen, zumeist jedoch einmal im Monat herausgab. Selbstverständlich zeigt die Betriebszeitung auch das Perfide der nationalsozialistischen Sozialpolitik, etwa in der häufig verbreiteten Propaganda und in der unermüdlichen Beschwörung der >VolksgemeinschaftWir