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German Pages [304] Year 2010
Literatur und Leben Neue Folge Band 78
Rüdiger Görner
Die Pluralektik der Romantik Studien zu einer epochalen Denk- und Darstellungsform
Böhl au Ver l ag Wien · Köln · Weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78528-6 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von A bbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau.at http ://www.boehlau.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Druck : Impress, Slowenien
Inhalt
Einführendes Brouillon.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil : Präludierende Etüden
I
Schattenrisse und andere Ansichten vom Ich Identität als pluralektisch-ästhetisches Phänomen . . . . . . . . . .
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II
Politisches Bilden in der frühen Romantik oder : Auf dem Wege zu einer pluralektischen Kulturpoetik . . . . . . . .
36
III
„Schwer verläßt, / Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort“ Zur Mythopoetik des Anfangs bei Hölderlin und Novalis . . . . . .
46
IV
Pluralektik – Kulturalektik am Beispiel von Friedrich Schlegels Versuch über Georg Forster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
Zweiter Teil : Romantische Pluralektik (Die Mainzer Vorlesungen)
V
Pluralektik und enzyklopädische Poetik : Denkstrukturen bei Novalis und einige Folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
VI
Kritik als Pluralektik und der Sinn der ‚negative capability‘.. . . . .
95
VII Pluralektische Klangformen (am Beispiel Schuberts) und romantische Fensterblicke.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
110
VIII Retrospektive Prophetien : pluralistische Zeitkonzeptionen in der Romantik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144
IX
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Zu einer romantischen Ästhetik des Unbewussten . . . . . . . . . .
6
Inhalt
Dritter Teil : Spätromantische Coda
X
Poetische Klangkreise. Über Schumann und sein Deuten Eichendorffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
182
XI
Religion im Exil. Zu Heines Götterlehre. . . . . . . . . . . . . . .
200
XII Lenaus poetische Grenzerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XIII Stifters romantisches Realismuskonzept . . . . . . . . . . . . . . .
224
XIV „Das Farbenwesen im Regentropfen“. Gottfried Kellers plurale Ontologie des Anscheins in Kleider machen Leute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
239
XV
Nachspiel mit Nietzsche : Zur Romantik-Kritik eines spätromantischen Unzeitgemäßen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
Plurale Schlussworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
280
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
282
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführendes Brouillon
Vielfalt, poetisiertes Leben, das Spekulative aber auch Kritische, Sehnsucht nach Beheimatung sowie der Versuch, durch ästhetisierte Wissenschaft und Wahrnehmungswissenschaft sich seiner selbst zu vergewissern, alles das – und immer auch unendlich mehr – verbindet sich mit dem auf Entgrenzung hin angelegten Epochenbegriff Romantik. Das Romantische ist ein Zustand, der unvermutet eintreten kann, selbst mitten in Epochen, die sich programmatisch von der Romantik distanzierten. Es kann einem ‚romantisch‘ zumute sein, nicht dagegen ‚klassisch‘ oder ‚realistisch‘. Genauer gesagt : durch das romantische Empfinden unterläuft sich das Epochenspezifische der Romantik selbst. In der Romantik fächern sich einander überlagernde Spektren auf. Sie verlagerte die Auseinandersetzung mit der Revolution von 1789 ins Seelische, durchlebte die europaweiten Erschütterungen von 1830 und 1848/49, umfasste aber auch die Phasen zweier, zensurgeprägter Restaurationen, 1815–1830 und dann nach 1850 bis in die späte Phase des 19. Jahrhunderts. In ihr artikuliert sich das Wechselverhältnis von tiefem religiösem Empfinden und Kunstreligion. So bezeichnete Heinrich Heine bekanntlich die romantische Poesie, diese Wechselbeziehung auf den Begriff bringend, als eine „Passionsblume, die dem Blute Christi entsprossen“.1 Die Romantik verzweigte sich – bildkünstlerisch bis in die dunkle Neoklassik eines Anselm Feuerbach, musikalisch bis zu Brahms und Bruckner, wissenschaftlich bis in die Analyse der Mythologien, literarisch bis in die subtilen Grenzwerte zum Realismus und Symbolismus. In der Bildhauerei ergaben sich ohnehin besondere Konstellationen, die mit der europaweiten Nachwirkung des Klassizismus verbunden sind. So schufen etwa Christian Daniel Rauch und Bertel Thorvaldsen ihre klassizistisch geprägten Skulpturen in der romantischen Kunstperiode. Und im Sinne dieser Parallelismen war es nur folgerichtig, dass Felix MendelssohnBartholdy 1830 in Rom Thorvaldsen in dessen Atelier mit seinem Klavierspiel inspirierte. Zu einem Ereignis von europäischer Tragweite wurde dann Thorvaldsens Rückkehr nach Dänemark im Jahre 1838, verbunden mit der Entscheidung, seine Sammlungen „dem Volk“ zu übergeben. Volksnähe sollte nun auch im Geiste romantischen Empfindens vom klassizistischen Erbe ausgehen. Was die 1 Heinrich Heine, Die Romantische Schule. In : Ders., Sämtliche Werke. Bd. III. Hg. v. Klaus Briegleb. München 1997, S. 361. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Heine-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl).
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Einführendes Brouillon
Wirkung der Romantik anbetrifft, so haben neoromantische Tendenzen bis hin zum Gefühlskitsch, aber auch die politisch-ideologische Instrumentalisierung des ‚romantischen Erbes‘ im 20. Jahrhundert diese Epoche diskreditiert und oft eine sachliche Besinnung auf die in sich plurale und entschieden anti-ideologische Substanz der Romantik verhindert. Im Romantischen manifestierte sich die Wörtlichkeit der Musik und die Musikalität des Wortes. In der Musik eröffnete sich dem Romantiker ein scheinbar grenzenloser Raum, der nicht nur das Poetische und Visuelle umfasste, sondern in beide gleichsam hinein wirkte oder ‚spielte‘. Das Musikalische erwies sich Romantikern als ein Spiel-Raum mit Zeit und Emotion ; in ihm war fließendes Interagieren verschiedenster Ausdrucks- und Zeitmomente möglich. Novalis sprach von einer wechselseitigen Durchdringung der Künste, vor allem der „Plastik und Musik – nicht blos Vermittelung“.2 Echte Romanzen und wahre Gedichte „bedürfen keiner Zergliederung“, schrieb Robert Schumann in einer Rezension neuer Klavierstücke des heute vergessenen englischen Komponisten William Sterndale Bennett im Jahre 1837.3 Um das zu unterstreichen, zitierte er folgende Verse aus Schillers Gedicht „Die Erwartung“, von denen er glaubte, sie entsprächen dem „hundertstimmigen Plaudern und Plätschern“ der Bennettschen Kompositionen : „Mein Ohr umtönt ein Harmonienfluß, / Der Springquell fällt mit angenehmem Rauschen, / Die Blume neigt sich zu des Westes Kuß / Und alle Wesen seh’ ich Wonne tauschen.“4 Zwar war Schillers Blume in diesem Gedicht nicht mit romantischer Bläue eingefärbt und die „Wonne“ dieser Verse wusste nicht wirklich von nächtlicher Sehnsucht oder träumerischen Akkordfolgen. Aber Schumanns Prinzip, durch Poesie das Musikalische zu paraphrasieren, darf man mit Fug ‚romantisch‘ nennen, auch wenn hierbei die ironisch-kritische Dimension, über die das sogenannte Romantische seit den Frühschriften Friedrich Schlegels auch verfügte, ins Hintertreffen geriet. 2 Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe. Hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. II : Das philosophisch-theoretische Werk. Darmstadt 1999, S. 364. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Novalis-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl). 3 Robert Schumann, Schriften über Musik und Musiker. Hg. v. Josef Häusler. Stuttgart 1982, S. 148. 4 Ebd.; Original in : Friedrich Schiller, Sämtliche Werke in fünf Bänden. Erster Band : Gedichte Dramen I. Hg. v. Helmut Koopmann, 8. durchges. Aufl. München 1987, S. 401–403 („Lieder“). Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Schiller-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl).
Einführendes Brouillon
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Die Romantik war in allen ihren Phasen vor allem ein musikalisches Ereignis wie keine Epoche vor oder nach ihr. Romantiker dachten, dichteten, ja, malten musikalisch und die romantischen Musiker komponierten dichtend. Noch Richard Wagner lebte von dieser Symbiose, nicht anders als sein schließlich kritischster Jünger, Friedrich Nietzsche, der Denkkompositionen in oft dissonant musikalisierter Sprach-Form vorlegte. Das Lied in allen Dingen Auf die schlichteste, aber beziehungsvoll poetische Formel hat diese innige Beziehung von Musik und Wort Eichendorff gebracht, und zwar in seinem Vierzeiler „Wünschelrute“ aus dem Jahre 1838 : „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“5 In der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik sollte noch der junge Nietzsche gut dreißig Jahre später schreiben : Diejenigen, welche die Musik zur „Muttersprache haben, stehen mit den Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Verbindung“.6 Bezieht man beide Ansätze aufeinander, dann ergibt sich der folgende Zusammenhang : Solche „Musikrelationen“ zu den Dingen können bestehen, weil in ihnen ein Lied verborgen ist, das es zu wecken gilt, sofern wir über das magische Wort verfügen, um das Lied zu befreien und in Einklang mit der Welt zu bringen. Der frühe Friedrich Schlegel ging in seinem kleinen, um einen Skandal buhlenden Roman Lucinde (1799) schon wie selbstverständlich davon aus, dass jeder „echte Buchstab“, jedes wirklich empfundene Wort ein „Zauberstab“ sei und damit in der Lage, es mit dem zauberhaftesten Medium, der Musik, zumal jener des „lieberasenden Herzens“, von gleich zu gleich aufzunehmen.7 5 Joseph von Eichendorff, Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Bd. I : Gedichte, Versepen. Frankfurt am Main 1987, S. 328 („Wünschelrute“). Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Eichendorff-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl). 6 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke in 15 Einzelbänden. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. I, München 1988, S. 135. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Nietzsche-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl). 7 Friedrich Schlegel, Lucinde. Ein Roman. Hg. v. Karl Konrad Polheim. Stuttgart 1977, S. 25. Ähnlich hatte ein Jahr zuvor Novalis in seinen Aufzeichnungen formuliert : „Alle geistige Berührung gleicht der Berührung eines Zauberstabs. Alles kann zum Zauberwerckzeug werden.“ (II, 354).
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Wiederholt finden sich in der Prosa der Romantik Schilderungen, die zeigen, wie eine im Inneren des Menschen lange leblos gewesene, scheinbar abgestorbene Musik plötzlich erwacht, ausgelöst durch einen bestimmten Gesang oder ein Instrument. E.T.A. Hoffmann, der wohl musikkundigste unter den romantischen Schriftstellern, hat jedoch auch einen Zustand geschildert, in dem ein solcher Gesang seinen Nimbus verliert und ins Banale umschlägt. So in seiner Musikerzählung Die Fermate. In ihr erinnert sich ein Komponist an seine musikalische Erweckung durch eine Sängerin, die er später wieder trifft. Sein Urteil könnte ernüchternder nicht ausfallen : „Es ist aber das Erbteil von uns Schwachen, dass wir, an der Erdscholle klebend, so gern das Überirdische hinabziehen wollen in die irdische ärmliche Beengtheit. So wird die Sängerin unsere Geliebte – wohl gar unsere Frau ! – Der Zauber ist vernichtet, und die innere Melodie, sonst Herrliches verkündend, wird zur Klage über eine zerbrochene Suppenschüssel oder einen Tintenfleck in neuer Wäsche. – Glücklich ist der Komponist zu preisen, der niemals mehr im irdischen Leben die wiederschaut, die mit geheimnisvoller Kraft seine innere Musik zu entzünden wusste.“8 Von der göttlichen Stimme zur geifernden Matrone – noch der nach-romantische Komponist Richard Strauss sollte diese allzu menschliche Verwandlung seiner eigenen Frau, der Sängerin Pauline de Ahna, in seiner Sinfonia domestica (op. 53, 1903) liebevoll-ironisch thematisieren. Hoffmanns Ironie machte vor der Musik nicht halt. Er, der neben Robert Schumann subtilste, in jedem Falle literarischste Musikkritiker der Romantik, vermochte nicht nur den Rang von Beethovens c-moll-Symphonie angemessen zu würdigen und das Musikfeuilleton sprachlich auf ungeahnte Weise zu bereichern ; er schuf zudem bizarre Musikergestalten, allen voran den Kapellmeister Johannes Kreisler, die den Zustand grotesker Enthusiasmierung schonungslos bloßstellen. Gleiches gilt für seine Darstellung des verzückten Hörers, etwa des Ich-Erzählers der Don Juan-Novelle, der sich rettungslos in Donna Anna verliebt und kaum noch zwischen Oper und Wirklichkeit unterscheiden kann. Es ist eine imaginierte Liebe, in der dieses Ich glaubt, von Donna Anna buchstäblich gesungen zu werden, und damit seine eigentliche Existenz zu gewinnen ; denn das „Selbstgefühl“9 in der Romantik, um Manfred Franks Ausdruck zu gebrauchen, war dezidiert musikalisch.
8 E.T.A. Hoffmann, Rat Krespel, Die Fermate, Don Juan. Hg. v. Josef Kunz. Stuttgart 1977, S. 54. 9 Manfred Frank, Selbstgefühl : Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt am Main 2002.
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Musik verbindet sich nicht nur in dieser Erzählung mit „zauberischem Wahnsinn“, der den Erzähler den „leisen Geruch feinen italienischen Parfüms“ als einen über ihn gleitenden „warmen elektrischen Hauch“ empfinden lässt. Musik löst synästhetische Wahrnehmung aus, ein Verschmelzen aller sinnlichen Eindrücke – diese Hoffmannsche These bleibt bis zum Liebestod in Wagners Tristan und Isolde gültig. Nur Heinrich Heine überbot Hoffmanns auf die Musik bezogene Ironie noch, indem er – vor allem im Buch der Lieder – das romantische Singen und bacchantische Tanzen ins Gespenstische steigerte und mit dem vielfach variierten ‚Todund-das-Mädchen‘-Motiv verknüpfte. So ruft Bruder Hein eine schlafende Jungfer mit seinem für sie unwiderstehlichen Spiel : Die Jungfer schläft in der Kammer, Der Mond schaut zitternd hinein ; Da draußen singt es und klingt es, / Wie Walzermelodein. […] Die Jungfer ergreift es gewaltig, Es lockt sie hervor aus dem Haus ; Sie folgt dem Gerippe, das singend Und fiedelnd schreitet voraus. Es fiedelt und tänzelt und hüpfet, Und klappert mit seinem Gebein, Und nickt und nickt mit dem Schädel Unheimlich im Mondenschein. (I, 118f.)
Die Sprachklänge der Poesie Heines und Eichendorffs, so grundverschieden sie einerseits sind, finden andererseits jedoch durch ihre betonte Liedhaftigkeit komplementär zueinander. Heines Loreley „Ich weiß nicht was soll es bedeuten, / Daß ich so traurig bin“ verlockt ebenso zum Gesang wie Eichendorffs Lieder aus dem Taugenichts, den er selbst ja auch als den „neuen Troubadour“ bezeichnete. Andererseits schrieb Heine Verse, etwa „Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen“, oder „Ich unglückselger Atlas ! Eine Welt, / Die ganze Welt der Schmerzen, muß ich tragen“ (I, 118), die weniger offensichtlich musikalisch wirken und die doch Schubert zu unvergleichlichen Vertonungen veranlasst hat. Was wäre daraus zu folgern ? Dass der romantische Dichter stets auch mit und für das Gehör geschrieben hat. Seine Worte sind wie die Klänge des Komponisten Energien, bereit zur Übertragung und zur Verwandlung. Was das kon-
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kret bedeutet, zeigt sich noch in den Vier letzten Liedern von Richard Strauss, die spätromantischen Eichendorff mit neuromantischem Hermann Hesse zusammenführen, um die Gefühlssubstanz dieser Dichtungen im Jahre 1947 mit scheinbar anachronistischen musikalischen Stilmitteln zu entzeitlichen. Im Netz von Tönen Auf seinen Wanderungen erlebt Ludwig Tiecks fiktiver frühromantischer Dichter Franz Sternbald im gleichnamigen Roman aus dem Jahre 1798 vor seiner Ankunft in Antwerpen einen besonderen Augenblick künstlerischer Eingebung. Es handelt sich um einen lyrischen Dialog zwischen einem Dichter und einer Stimme. Der Dichter findet in der Begegnung mit der Stimme von außen zu seiner Bestimmung : „So will ich mich zu Harfentönen retten, / Im Waldhornsklang einheimlich sein ! / Mein Sinn soll sich in Flötenwollust betten, / Mich lullen Zaubermelodien ein.“ Worauf die Stimme antwortet : „Und dort wird ich in jedem Tone klingen, / Dir süße Bilder vor die Seele bringen.“10 Sie kann ihm einen poetisch fruchtbaren Zustand verheißen, in dem die Musik ihm eine bleibende „Gespielin“ sein wird. Zu seiner späteren Dichtung wird dann ein „Lied der Einsamkeit“ gehören, aber das Wechselspiel von Musik und Gedicht bleibt Franz Sternbald ein nicht lösbares Problem. Der Roman endet folglich auch mit einem der Musik gegenüber ausgesprochen ambivalent eingestellten Gedicht, das Sternbald notiert, nachdem er in seine Zither gegriffen hatte. Er sieht sich zum einen in einem „Netz von Tönen“ gefangen, zum anderen getrieben von der Furcht, nie das wahre Lied finden zu können. Wenn er Musik hört, das „alte Waldhorn“ etwa, später das Lieblingsinstrument der Spätromantiker, vergeht er beinahe vor Entzücken, aber er kann sich nicht sicher sein, ob seine Worte und Gefühle tragfähig bleiben werden. Singende ‚fahrende Gesellen‘ bevölkern die romantische Prosa. Es ist eine Prosa, in der sich Lied und Erzählung gleichsam gegenseitig ins Wort fallen. Erklärtes Vorbild war der Volkslied-Ton, wie ihn Johann Gottfried Herder beschwor und Clemens Brentano mit Achim von Arnim in Des Knaben Wunderhorn zum – freilich subtil artifiziellen – Ereignis werden ließen. Wie nachdrücklich diese Paarung von Wort und Musik im Zeichen einer immer aufs Neue behaupteten Nähe zur Natur und ihrer Klangwelt wirkte, belegt der Umstand, dass der 10 Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen. Studienausgabe. Hg. v. Alfred Anger. Stuttgart 2004, S. 169 f.
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junge Gustav Mahler zwei Jahre nach Wagners Tod die Lieder eines fahrenden Gesellen dichtete und komponierte. Mahlers Vertonungen seiner eigenen Gedichte im romantischen Ton, seine Kompositionen aus dem Wunderhorn sowie die Kindertotenlieder nach Friedrich Rückert illustrieren den Zauber, der ungebrochen von einer bewusst poetisierten Musik und der musikalisierten Poesie ausging. Novalis forderte von der Sprache, wieder Musik zu werden. Dieser Auftrag blieb buchstäblich allen Romantikern Verpflichtung, unabhängig davon, wie ironisch, gewitzt oder politisch sie sich gaben oder tatsächlich waren. Doch keiner von ihnen verschrieb sich dieser Aufgabe ausschließlicher als Mörike und Eichendorff. Allenfalls Nikolaus Lenau vermochte Ähnliches zu leisten, freilich nur in sprachlichen Moll-Tönen, in dunkel-melancholischer Einfärbung, wie diese Stelle aus dem Gedicht „Nachhall“ belegt : Ein Wandrer läßt sein helles Lied erklingen : Nun schweigt er still und schwindet in den Föhren ; Ich möchte länger noch ihn singen hören, Doch tröst ich mich : er kann nicht ewig singen. Der Wandrer schweigt, doch jene Felsen bringen Mir seinen Widerhall in dunklen Chören, Als wollten sie sein Lied zurückbeschwören, Nun ist es still – den Quell nur hör ich springen.11
Der Klang der Natur obsiegt. Worauf der Mensch alleine hoffen kann ist, dass seine Kunst in der Natur ein Echo findet. Er hofft jedoch in einer Sprache, die ihrerseits reine Musik zu sein scheint. Eichendorff dichtet : „Ich hör’ die Bächlein rauschen / Im Walde her und hin, / Im Walde in dem Rauschen / Ich weiß nicht wo ich bin.“ (I, 173) Schumann vertonte dieses Gedicht „In der Fremde“ in a-moll in seinem Liederkreis op. 39. Man könnte aber behaupten, dass Eichendorff dies schon selbst unternommen hatte ; dafür sorgt allein schon das zweifach gebrauchte Wort „rauschen“ – einmal als Zeit- dann als Hauptwort – sowie das wiederholte „Im Walde“, die offene Bewegung „her und hin“. Und man gewinnt den Eindruck, als werde das Einbekenntnis völliger Orientierungslosigkeit („Ich weiß nicht, wo ich bin“) von diesem betörenden Sprachklang überlagert und damit abgeschwächt. Die zweite Strophe lautet : „Die Nachtigallen schlagen / Hier in der Einsamkeit, / Als wollten sie was 11 Nikolaus Lenau, Gedichte. Auswahl und Nachwort von Heinz Rieder. Stuttgart 1985, S. 48 f.
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sagen / Von der alten, schönen Zeit.“ (I, 807) Dieser Mangel an Orientierung, die in der ersten Strophe zum Ausdruck kommt, überträgt sich nun auf vage Vermutungen („als wollten sie was sagen“), auf Möglichkeiten, die sich jedoch als unwirklich erweisen. Dieses grammatisch-inhaltliche Muster bleibt auch in den beiden übrigen Strophen erhalten, ja, die irrealen Scheinwelten potenzieren sich im Verlauf des Gedichts. Wenn es das gäbe, eine zwielichtige Musik, kein Notturno sondern nur ein Crépuscule, eine leichte Dämmermusik, die sich auf die Neige, das Verschatten versteht, dann würde man den Klang dieser Sprache wohl so beschreiben können : „Die Mondesschimmer fliegen, / Als säh’ ich unter mir / Das Schloß im Tale liegen, / Und ist doch so weit von hier.“12 Und was folgt, ernüchtert zwar, bleibt sprachklanglich aber in der Schwebe : „Als müsste in dem Garten, / Voll Rosen weiß und rot, / Meine Liebste auf mich warten, / Und ist doch lange tot.“13 Eichendorff brachte den Irrealis zum Klingen, dieses „Als wollte“, „Ich säh’“, „als müsste“, „als flöge“. Sprachliche Grammatik und musikalische Struktur gehen in seinem Dichten ein unlösliches Verhältnis ein. Er versteht sich auf den Ausdruck von Sinnestäuschungen, deren klangliche Werte jedoch ausgesprochen sprachwirklich sind. Bei Mörike und seinem Verhältnis zur Musik denkt man in erster Linie an seine Novelle Mozart auf der Reise nach Prag, die mitten in der Spätromantik und im Frührealismus an biedermeierliche Klassizität erinnert. Der musiksinnige Lyriker Mörike, der gleichsam auf seinen Hugo Wolf wartete, scheint heute allenfalls noch in Umrissen präsent durch Gedichte wie „An eine Äolsharfe“ , „Auf eine Lampe“ oder „Auf den Tod eines Vogels“. Mörike verdankt die Spätromantik jedoch auch eines seiner bemerkenswertesten Musik-Gedichte mit dem Titel einer Arie aus Mozarts Oper Titus : „Ach nur einmal noch im Leben“ aus dem Jahre 1845. Dem Gedicht vorangestellt ist ein Musikzitat, die ersten zwei Takte der Einleitung zu dieser Arie. ‚Waldeinsamkeit‘ nach früher Heterogenität Der Anfang des Gedichts erinnert das Hauptmotiv des acht Jahre zuvor entstandenen Poems „An eine Äolsharfe“, bietet aber auch eine parodistische Variation von Eichendorffs Lieblingswort „Waldeinsamkeit“ : 12 Ebd. 13 Ebd., S. 174.
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Im Fenster jenes alt verblichnen Gartensaals Die Harfe, die, vom leisen Windhauch angeregt, Lang ausgezogne Töne traurig wechseln läßt In ungepflegter Spätherbst-Blumen-Einsamkeit, Ist schön zu hören einen langen Nachmittag. Nicht völlig unwert ihrer holden Nachbarschaft Stöhnt auf dem grauen Zwingerturm die Fahne dort, Wenn stürmischer oft die Wolken ziehen überhin.14
„Spätherbst-Blumen-Einsamkeit“ – das ist die aufs Hausgarten-Format reduzierte „Waldeinsamkeit“ und diese ganze erste Strophe bietet eine motivisch vielfach überlagerte Variation der Arie „Ach nur einmal noch im Leben !“, freilich im Bereich der Naturlaute und -geräusche. Die eigentliche Überraschung liefert dieses Gedicht danach : Die Gartentür, die sich auf „rostgen Angeln schwer“ dreht, nennt der Dichter „musikalisch mannigfach begabt“. Ihr Drehgeräusch erinnert ihn an die ersten Noten dieser Arie. Aus der Windharfe ist ein kleines Gartentor geworden, vom Dichter als „die Alte“ oder „die Elegische“ angesprochen. Diese Tür nun bezeichnet die Verdinglichung des Gesangs ; in ihr ist die Erinnerung an ein „schönes Kind / Des Pfarrers Enkeltochter“ von einst gespeichert, die wohl auch sang. Immer wenn die Gartentür sich öffnet, hört der Dichter die Stelle aus dem Titus : Alsbald ließ ich sie Die Stelle wiederholen ; und ich irrte nicht ! Denn langsamer, bestimmter, seelenvoller nun Da capo sang die Alte : ‚Ach nur einmal noch !‘ Die fünf, sechs ersten Noten nämlich, weiter kaum, Hingegen war auch dieser Anfang tadellos. (I, 807)
Nicht das besondere Musik-Ding, das Instrument, das die Musik erzeugt, sondern das alltägliche Ding, in dem bedeutende Musik-Kunst aufgehoben ist, interessiert Mörike hier. Kein Eichendorffscher Konjunktiv, keine Möglichkeitsformen : dieses Knirschen der Gartentür in ihren alten Angeln schafft in und durch die Imagination eine unverhofft klangreiche Wirklichkeit. 14 In : Eduard Mörike, Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hg. v. Helmut Koopmann. Bd. I. 6. Aufl. Darmstadt 1997, S. 806. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Mörike-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl).
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Die Verlagerung im literarischen Umgang mit Musik in der Romantik – von der quasi sakralen Kunst zu ihrer Verdinglichung im Instrument, dem von romantischen Dichtern ein eigenes Schicksal zugebilligt wird – gehört zu den auffälligsten Unterschieden zwischen früh- und spätromantischer Poetisierung der Klangwelt. Wilhelm Heinrich Wackenroders frühromantischer Tonkünstler Joseph Berglinger etwa lebt sein „merkwürdiges musikalisches Leben“, wie der Titel dieser 1796 entstandenen Novelle sagt, im Zeichen heiliger Inspiration und des dauernden Wechsels von Dur und Moll ; er leidet zwar an der schnöden Welt des Alltags, kann seine musikalische Phantasie jedoch als Gegenmittel einsetzen und bis zu dem Punkt steigern, dass er auf dem Höhepunkt seines Schaffens – nach der Komposition einer unerhörten Passionsmusik – stirbt. Bezeichnenderweise „füllte er seinen Geist mit der höchsten Poesie“15, wie es in der Novelle heißt, bevor er Musik zu komponieren in der Lage ist. Was ihn am meisten sorgt ist, nicht zu den Menschen durchdringen zu können mit seiner Musik ; so schließt auch sein Gedicht an Cäcilia, die Heilige der Musik mit dieser Bitte : „Öffne mir der Menschen Geister, / Daß ich ihrer Seelen Meister / Durch die Kraft der Töne sey ; / Daß mein Geist die Welt durchklinge, / Sympathetisch sie durchdringe, / Sie berausch’ in Phantasey ! –“ Das scheint deswegen möglich, weil sich dieser Tonsetzer von Cäcilia beinahe wahnhaft inspiriert glaubt : „Deine wunderbaren Töne, / Denen ich verzaubert fröhne, / Haben mein Gemüth verrückt. / Löse doch die Angst der Sinnen – / Laß mich in Gesang zerrinnen. / Der mein Herz so sehr entzückt.“16 Bezauberung dieser Art sei künstlich erregter Wahnsinn, bemerkte Novalis – jedoch billigend (II, 390). Wusste sich die frühromantische Musik auf dem Weg zu ihrer Emanzipation vom deutenden Wort, so verweist zumindest die spätromantische Literatur über Musik wieder auf die Gebundenheit der Klangwelt, ihre Abhängigkeit vom Instrument – eben auch dem Instrument Sprache. Die Spätestromantiker Brahms und Hugo Wolf fanden zuletzt geradezu programmatisch zum Wort zurück – anders etwa als Anton Bruckner, dessen umgreifendes, wesentlich an Schubert anknüpfendes symphonisches Werk aus umfänglichen rein musikalischen Romanen besteht, die nur eine Protagonistin kennt : die Musik – auf ihren ‚Lehr- und Wanderjahren‘ durch die Welt der Klänge, unterwegs zu ihrem eigenen ‚Nachsommer‘, unterwegs zu sich selbst. 15 Wilhelm Heinrich Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Silvio Vietta und Richard Littlejohns. 2 Bde. Heidelberg 1991, Bd. 1, S. 144. 16 Wackenroder, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 136f.
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Was versuchen diese Studien zu ästhetischen Fragen (in) der Romantik ? Sie fragen nach Erscheinungsformen einer Denkweise, die über das Dialektische hinausging. Indem das Romantische das Sinnliche so emphatisch bejahte und mit der ‚intellectualen Anschauung‘ in Verbindung zu bringen bemüht war, erweiterte es die Dialektik in eine Trans- oder Pluralektik. Im Romantischen kristallisiere sich die „Lektüre des Heterogenen“, wie Novalis notierte (II, 770). Er war es auch, der eine „Theorie der Berührung“ und des Übergangs entwerfen wollte. Dieses Alles-mit-Allem-Berühren bedeutet für ihn das „Geheimniß der Transsubstantion“ (II, 622). Diese Möglichkeiten im „Mannigfaltigen“, dieses dezidiert plurale Bewusstsein erscheint ja gerade aus heutiger Perspektive als überraschendes Korrelat zur politisch und gesellschaftlich sanktionierten Diversität, Polyzentrizität und Interkulturalität, die im permanenten Grenzübertritt ihre charakteristische Bewegungsform gefunden hat. Ihre bevorzugte politische Form war und ist föderal ; ihr ästhetischer Impuls polyrhythmisch ; ihre Logik arabesk. Der unverwechselbare Beitrag der Romantik zur Ideengeschichte ist ihre pluralektische Schein-Methode, die sich mit Mythologischem verbrämte, im Roman exponierte und in der poetischen Musik selbst besang. Einige charakteristische Beispiele seien nachfolgend insbesondere auf die Frage hin untersucht, wie die Romantik – noch bis in ihre Spätformen hinein – pluralektische Ansätze in Reflexion und Darstellung entwickelte. Erstmals habe ich den Begriff der Pluralektik im Zusammenhang mit einer frühen Studie zum Föderalismus geprägt und zu zeigen versucht, wie er sich zur Beschreibung gerade dieser politischen Lebensform eignet, deren intensivste Ausprägungen ja in die Zeit der Romantik fallen – vom Staatenbund zum Bundesstaatsgedanken.17 In jüngster Zeit erfolgte dann der Versuch, diesen Begriff kulturkritisch fruchtbar zu machen.18 Einige der hier vorgestellten Studien konnten im Rahmen von Tagungen und Kolloquien zur Diskussion gestellt werden, deren Ergebnisse in die überarbeiteten Vortragsfassungen eingegangen sind. Die Studien V–VIII gehen auf einen kleinen Zyklus von Vorlesungen zurück, die ich im Rahmen einer Gastprofessur am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Johannes Gutenberg Universität zu Mainz im Sommersemester 2008 gehalten habe. Dem Institut und seinem Leiter, Professor Dr. 17 Rüdiger Görner, Einheit durch Vielfalt. Der Föderalismus als politische Lebensform. Köln 1995. 18 Ders., Das Zeitalter des Fraktalen. Ein kulturkritischer Versuch. Wien 2007, S. 71–90 („Vom Denken in der Fraktale zur Pluralektik des Denkens“). Vgl. auch : Ders., Denkbrüche oder : Von der Dialektik zur Pluralektik. In : Scheidewege 37 (2007/2008), S. 279–295.
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Dieter Lamping, gilt mein besonderer Dank für diese ideale Möglichkeit förderlichen Austauschs – im Sinne eines fruchtbaren pluralektischen Interagierens. Für die redaktionelle Betreuung dieses Bandes, das Erstellen des Registers sowie des Literaturverzeichnisses danke ich meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin, Dr. Carly McLaughlin (Queen Mary und Bamberg). Es ist mir überdies ein Bedürfnis, den Böhlau Verlag und seinen Leiter, Dr. Peter Rauch, meiner dankbaren Verbundenheit für die Verwirklichung dieses Projekts zu versichern.
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und andere Ansichten vom Ich Ansichten vom Ich I Schattenrisse Schattenrisse und andere
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Identität als pluralektisch-ästhetisches Phänomen
Mit dem Aufkommen des Schattenrisses als Form des Porträts rückte die Nachtseite des Daseins ins Blickfeld. Nicht das ‚wahre‘ Gesicht des Menschen zählte, sondern sein durch Fantasie zu einem möglichen Antlitz ergänzter Umriss. Im Schatten erkannten vor allem die Romantiker das Abbild menschlicher Individualität ; seine risshafte Fixierung aber bedeutete auch, dass der Romantiker das Schattenhafte der Existenz bejahte und das Schattenhafte sogar als angemessenen Ausdruck des menschlichen Daseins verstand. Der Schattenriss legt den Betrachter auf die Profillinie eines Gesichts fest ; dessen Züge bleiben dabei jedoch im Dunkeln. Anregt durch Johann Gottlieb Fichte stellte sich die Frühromantik, namentlich Novalis, der Aufgabe, diese Schattenrisse aufzuhellen, ohne dabei das Dunkel über den inneren Abgründen des Ich zu lüften. Kein Frühromantiker ging ausschließlicher von der Frage nach der Identität als dem Urgrund poetischen Denkens aus als Novalis. Identität versuchte er bildlich zu erfassen, das Bewusstsein als „Bild des Seyns im Seyn“ zu definieren (II, 10). Früh irritierte Novalis an Fichtes emphatischer Identitätssetzung („Ich = Ich“), dass dieser „zu willkührlich“ zu viel „ins Ich hineingelegt“ haben könnte, und er gewinnt ein deutliches Gefühl dafür, dass sich die Selbstsetzung des Ichs einer Selbstbezeichnung verdanken muss, die jedoch nicht geklärt hat, um welche Art von Zeichen es sich dabei handelt. Gleichzeitig verlagerte Novalis das gesamte „Weltall“ ins Innere des Menschen. Seine These – „nach Innen geht der geheimnißvolle Weg“ – wurde zum Signum einer ganzen Epoche. ‚Identität‘ bedeutete für ihn eben nicht nur eine operativ-analytische Aufgabe, sondern die Erfahrung der „Ewigkeit mit ihren Welten“, also den verschiedenen Zeitebenen, im Inneren. Die Außenwelt nannte er eine bloße „Schattenwelt“ (II, 232). Diese These überstand zwar weder den Realismus noch den Naturalismus ; doch erst Hugo von Hofmannsthal rechnete mit diesem Identitätskonzept programmatisch ab, indem er in seinem Gespräch über Gedichte (1903) die Behauptung vertreten lässt : „Wir besitzen unser Selbst nicht : von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück […] Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag.“19 19 Hugo v. Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Bd. VII. Erzählungen, Er-
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Doch selbst dieser Widerruf der romantischen Identitätskonzeption implizierte ein wechselhaftes (angesichts von Hofmannsthals Metapher müsste man wohl sagen ‚flatterhaftes‘) Verhältnis von Innen und Außen, was wiederum auf Novalis zurück verweist. Denn dieser hatte notiert : „Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen – ist er in jedem Puncte der Durchdringung.“ (II, 232) In seiner Auseinandersetzung mit Fichtes Identitätskonzeption verdeutlichte sich Novalis auch den Grund seines so lebhaften Interesses an dieser Frage. „Die Entstehung des Triebes“ beschäftigte ihn, die Ursache für das unwillentliche Wollen des Menschen. Er ging dabei von einer „Wechselwirkung des Ich in sich selbst“ aus (II, 232) und davon, dass im Menschen der Drang angelegt sei, etwas „fortzusetzen“, einschließlich sich selbst. Seine (durchaus Fichtesche) Unterscheidung zwischen dem „reinen“, unbedingten, mit sich selbst identischen Ich sowie dem „getheilten“, bedingten Ich und die zwischen beiden bestehende spannungsvolle Wechselwirkung hielt er für den Hauptgrund dafür, dass es den „Trieb Ich zu seyn“, und zwar ganz und gar, nämlich „rein“ Ich zu sein, gebe (II, 39). Novalis beschäftigte des Weiteren, wie sich die Ich-Identität weiter differenzieren lasse, damit erkennbar werde, was genau mit wem im Ich interagiert und eine Wechselbeziehung eingeht. Sein nächster Schritt liest sich wie folgt : Analytisches Ich ist Ich mit Bewußtseyn – synthetisches Ich, ohne Bewußtseyn. Im Synthetischen Ich schaut sich das analytische Ich an. Das Anschauende Ich wird sein eignes Angeschaute – das synthetische Ich ist gleichsam Spiegel der Realität. Das Bild ist für das sich bewußte Ich Realität […] Das analytische Ich wechselt immer wieder mit sich selbst – wie das Ich schlechthin – in der Anschauung – Es wechselt Bild und Seyn. Das Bild ist immer das Verkehrte vom Seyn. Was rechts an der Person ist, ist links im Bilde (II, 47).
Identität ist somit auch eine Frage der Optik, der bildhaften Wahrnehmung des Eigenen. Vor allem aber spiegelt sich in ihr ein Differenzierungsvermögen ; anders gesagt : je entwickelter dieses Differenzierungsvermögen im Einzelnen ist, desto intensiver die Identitätserfahrung. Gefordert sei, so kann man dieses Notat verstehen, die Selbstanschauung des Ichs. Das führte Novalis wenig später dazu, zwischen dem „practischen Ich“ und dem „theoretischen Ich“ zu unterscheiden, fundene Gespräche und Briefe, Reisen. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main 1979, S. 497.
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wobei das „praktische“ (auch politisch20) handelt und das „theoretische“ sich selbst sucht. Diese differenzierten Überlegungen hinderten Novalis jedoch nicht daran, von Fichte sich lösend, eine Volte zu schlagen : „Ich = N[icht]I[ch] – höchster Satz aller Wissenschaft und Kunst.“ (II, 331) Was ist damit gesagt, was erreicht ? Eine ironische Paradoxie, eine Parodie der Logik ? Wenn das Ich gleichzusetzen ist mit allem, was es nicht ist, dann entsteht damit eine Vorgabe für „Wissenschaft und Kunst“, die im Widersprüchlichen ihr sinnfälligstes Material erkennt. Wissenschaft der Kunst ‚Wissenschaft‘ und ‚Kunst‘ sehen sich dabei ihrerseits in ein ähnliches Gleichwertigkeitsverhältnis eingebunden wie das Ich und Nicht-Ich. Bildlich gesprochen ließe das Verhältnis von Ich zu Nicht-Ich auch noch diese Deutung zu : das Nicht-Ich ist gleichsam der dingliche Schatten des Ichs. Gleiches wäre dann auch für Kunst und Wissenschaft anzunehmen : Handelt der Künstler im Menschen, so steht der Wissenschaftler in ihm im Schatten ; wirkt der Wissenschaftler im Menschen, dann wirft er Schatten auf das in ihm gleichfalls angelegte Künstlertum. Die gleichermaßen vorhandenen Qualitäten im Menschen beschatten sich wechselseitig. Somit wäre das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse bestimmt, wenn es um die Lösung der Identitätsfrage geht : Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung müsste demnach die Erforschung dieses Wechselverhältnisses sein und der Bedingungen, unter denen das eine das andere im Menschen ‚beschattet‘, beziehungsweise dominant in Erscheinung tritt. Desgleichen stellte sich die Frage, was mit dem Künstlerischen im Menschen geschieht, wenn seine wissenschaftliche Tätigkeit im Vordergrund steht und umgekehrt. Die ästhetische Antwort auf diese Fragen hängt mit Gestaltungsproblemen zusammen. In der romantischen Künstlernovelle zum Beispiel ergibt sich oft eine Verbindung zwischen dem kritischen Verhältnis von Künstlertum und praktischem Lebensvollzug sowie von Naturerfahrung (oder -erforschung) und Erweiterung des sprachlichen Ausdrucks, gewöhnlich bedingt durch sprachschöpfende neue Metaphern.
20 Novalis betont, dass „die Politik für das practische Ich schon im Begriff des Sollens begründet“ sei (II, 55).
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Bekanntlich beschäftigte die Frühromantiker diese ästhetische Seite der Identitätsproblematik und des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft, allen voran Wilhelm Heinrich Wackenroder in seinen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Er postulierte eine unbedingte Identität von Künstler und Kunstwerk : „Jedes schöne Werk muss der Künstler in sich schon antreffen“, lautete seine Maxime.21 Aber es ist dann insbesondere die Betrachtung der Werke Leonardo da Vincis, die ihn dazu zwingt, Aussagen über das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft zu wagen. Er bringt sie schließlich auf den Begriff „Wissenschaft seiner Kunst“ und erklärt : In der Wissenschaft seiner Kunst war vielleicht nie ein Maler erfahrner und gelehrter als Leonardo. Die Kenntniß der inneren Teile des menschlichen Körpers und des ganzen Räder- und Hebelwerks dieser Maschine – die Kenntniß des Lichts und der Farben und wie beyde aufeinander wirken und sich eines mit dem andern vermählt – die Lehre von den Verhältnissen, nach welchen die Dinge in der Entfernung kleiner und schwächer erscheinen ; – alle diese Wissenschaften, welche in der Tat zu dem wahren, ursprünglichen Fundamente der Kunst gehören, hatte er bis in ihre tiefsten Abgründe durchdrungen.22
Die Tragweite dieses Satzes hat goethe’sche Ausmaße, denn die wissenschaftliche Erkenntnis als Grundlage für künstlerische Gestaltung zu verstehen, hatte für Goethe die Überwindung der Sturm-und-Drang-Periode bedeutet und damit den Abschied vom rein emotionalen Subjektivismus und die Hinwendung zu ‚klassischer‘ Objektivität, die das Phänomen selbst zur Sprache zu bringen suchte. Unter den Romantikern dagegen konnte diese Suche nach wissenschaftsbegründeter ästhetischer Gestaltung und ihr Bekenntnis zu radikaler Subjektivität im Zeichen einer mystischen Ganzheitserfahrung nebeneinander bestehen. Dieses Nebeneinander erzeugte seinerseits den Anschein völliger Gleichwertigkeit von Subjektivität und Objektivität. Die „Wissenschaft seiner Kunst“ meint aber auch die schiere techné Leonardos, sein Können als Künstler, das sich seinen (anatomisch-[mal-]technischen) Kenntnissen verdankt. Die „Poetik“ seiner Kunst, das genial Geschaffene, aber auch vom nur Handwerklichen her Gemachte, alles das gehört im Sinne des Zitats nicht minder zu seiner „Wissenschaft“. 21 Wackenroder, Werke, a.a.O., Bd.1, S. 72. 22 Ebd., S. 77.
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Spiel und poetische Verfahrensweisen Obgleich in Wackenroders Herzensergießungen und ihrem Leonardo-Kapitel die Wissenschaftlichkeit der Kunst (und damit die auf eine vollendete Handhabung der techné gegründete Perfektion ihrer Ausführung) als Ideal vorgestellt wird (etwa auch anhand der Beziehungen zwischen Leonardos mathematischen Kenntnissen und seiner Kennerschaft der Musik !), klingen doch auch Zweifel an dieser postulierten Identität von Kunst und Wissenschaft an : Der forschende Geist der ernsthaften Wissenschaften scheinet dem bildenden Geiste der Kunst so ungleichartig, daß man fast, dem ersten Anblicke nach, zwei verschiedene Gattungen von Wesen für beide glauben möchte.23
Soweit Wackenroders kurzer selbstkritischer Einwurf. Aber er führt ihn nicht weiter aus, vor allem wohl auch deswegen, weil er zwar die Verfahrensweise der Wissenschaften beschreibt, aber nicht jene der Kunst. In dieser Hinsicht hatte zwei Jahre vor dem Erscheinen der Herzensergießungen Schiller vorgearbeitet, indem er den Spieltrieb als schaffenspsychologische und, allgemeiner, als anthropologische Größe etablierte. Schillers Konzeption des Spiels als Hauptfaktor seiner ästhetischen Handlungstheorie wurde mehr oder weniger stillschweigend von den meisten Frühromantikern übernommen, insbesondere ihre identitätsphilosophische Dimension, die sich in Schillers Worten so anhört : „[…] der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.“24 Man mag ergänzen : Unbewusstes mit Bewusstem. Im Sinne der „ästhetischen Erziehung“ Schillers, die Wissenschaft (in seinem Falle Physiologie und Medizin) durch und im Spiel sublimiert, erfährt der Mensch spielend die Identität mit sich selbst, aber nur dann, wenn es im Spiel gelingt, Stoff- und Formtrieb zu vermitteln, um auf diese Weise einen, wie Schiller sagt, „mittleren Zustand“ zu erreichen. Wenn er diesen Zustand verfehlt, setzt er auch seine Identität aufs Spiel. (Die Doppeldeutigkeit dieses Satzes ist intendiert !) 23 Ebd., S. 78. Vgl. dazu die grundlegenden Ausführungen von Ernst Behler, Frühromantik. Berlin/ New York 1992, hier : S. 164–188. 24 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In : Schiller, Werke. Hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 5 Bde. München 1962, Bd. V, S. 570–669, hier : S. 612 f.
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Anders Hölderlin, der Schillers „ästhetischer Erziehung“ – nach allem was sich sagen lässt – eher kritisch gegenüber stand. Er berief sich, radikaler als dies Schiller je gewollt hatte, auf die Notwendigkeit, mit dem Widersprüchlichen leben zu müssen, auch wenn es den Menschen mitten in tragische Verhältnisse führen würde. Obzwar Hölderlin seine Vorstellung von Identität nur skizzenhaft niedergelegt hatte, vor allem in seinem Essay Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes, wirkt sie, aufs Ganze gesehen, erstaunlich geschlossen. Hölderlin tritt darin als poetischer Analytiker extremer Lebenszustände auf und als Anwalt ihrer Ausmittlung. Identität verortet er zwischen den Gegensätzen, wofür er ein eigenes Wort prägt, das „Harmonischentgegengesetzte“. Die Wissenschaft im Sinne Fichtes oder Novalis’ spielt dabei eine allenfalls untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt steht dagegen die Suche nach der Selbstvergewisserung des Ich. Für Hölderlins Hyperion steht jedoch auch das in Frage : „Ich habe nichts, wovon ich sagen möchte, es sei mein eigen.“25 Schließt diese Feststellung das eigene Ich ein, das Hölderlin nicht (mehr) zu „haben“ glaubt ? Noch für Ernst Bloch blieb diese Konstellation das Primärproblem der Identitätsphilosophie. Das Nicht verstand er (in der Tübinger Einleitung in die Philosophie) als ein Nicht-Haben, welches das Nicht-Haben des eigenen Ichs einschloss.26 Verhalten sich nun diese poetischen Ansätze einer ästhetischen Identitätskonzeption nicht ihrerseits wie Schattenrisse zu ihren Urbildern ? Das (nicht-kantische) Nachdenken über Identität, das zwischen 1794 und 1800 beinahe zu einem Modethema unter jungen (deutschen) Intellektuellen geriet, gewann im Denken des frühen Schelling etwas geradezu Bunt-Schillerndes. Seine frühen Schriften kolorierten, wenn man im vorigen Bild bleiben will, die Schattenrisse des bald idealistisch gesetzten, bald romantisch verklärten Ichs. Obgleich auch Schelling (wie zur gleichen Zeit Fichte) von der Selbst-Setzung des Ichs ausging, entwarf er jedoch Identitätsszenarien, die (anders als bei Fichte) Räume und Möglichkeiten für ihre künstlerische Umsetzung eröffneten. Zu fragen ist freilich auch, weshalb die Identitätsproblematik in jener Zeit so prominent werden konnte. Was beflügelte das Spekulieren oder wissenschaftlich25 In : Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Jochen Schmidt. Bd. 2. Frankfurt am Main 1994, S. 15. Der Bezug auf das Harmonischentgegengesetzte findet sich in : Ebd., S. 532 ff. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Hölderlin-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl). 26 Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt am Main 1977, S. 13–45.
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systematische Ergründen des scheinbar mit sich selbst identischen Ichs in jener Phase ? Nach allem, was sich dazu sagen lässt, dürfte sich darin eine fundamentale Orientierungskrise im Gefolge der Französischen Revolution gespiegelt haben, die mit dem jakobinischen Terreur ein buchstäblich erschreckendes Beispiel dafür geliefert hatte, wie die praktische Verwirklichung idealistischer Prinzipien (égalité – liberté – fraternité) sich selbst pervertierte. Die Revolutionäre glaubten, mit sich selbst und ihren Idealen im Reinen, wenn nicht ‚identisch‘ zu sein ; doch die Radikalisierung ihres Verhaltens sprach eher für das Gegenteil. Die Eigendynamik, welche die geschichtlichen Ereignisse zu entfalten begannen, führten zur (das Ausland zunehmend befremdenden) Entfremdung der Revolutionäre von ihren (basis-)demokratischen Grundüberzeugungen und zu krimineller Radikalisierung. Mit der Guillotine bedienten sie sich des krudesten und grausigsten Spaltungsinstruments jeglicher Identität. Man kann nun umgekehrt die identitätsphilosophische Eingenommenheit junger deutscher Intellektueller als konstruktive Antwort auf den Terreur deuten. Bezeichnenderweise fällt sie ja auch zusammen mit dem Ende der jakobinischen Schreckensherrschaft jenseits des Rheins. Urformen des Ichs Der frühe Schelling nun entwarf zwischen 1794 und 1800 eine Konzeption von Identität, die danach in Kunstphilosophie münden konnte. Identität im nationalpolitischen Sinne zu deuten – auch das eine unmittelbare Nachwirkung der Ereignisse in Frankreich – überließ er Fichte ; denn eine solche qualitative Einschränkung der Identitätsphilosophie erschien Schelling suspekt. Darin dürfte auch einer der Hauptgründe dafür zu suchen sein, dass er der Geschichtsphilosophie als philosophische Disziplin eine entschiedene Absage erteilte.27 Schelling glaubte sich zunächst auf dem Weg zu einer Denkästhetik und fragte dementsprechend nach der „Form der Philosophie überhaupt“ (I, 13–38). Auch in seinem ersten und wichtigsten Versuch zur Identitätsphilosophie und Bestimmung der Subjektivität steuerte er anfangs auf das Formproblem zu und bestimmte die „Urform des Ichs“ 27 Vgl. dazu seine geradezu polemische Erörterung „Ist eine Philosophie der Geschichte möglich ?“ (1797/98), die in erster Linie das mechanistisch-teleologische Weltbild kritisierte. In : Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Ausgewählte Schriften. Hg. v. Manfred Frank. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2003, S. 297–304. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren SchellingZitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl).
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als „reine Identität“ (I, 67). Das Ich steht darin für etwas, was nur durch sich selbst ist (I, 111). Er versteht es als Einheit, prinzipiell unteilbar, das Viele ebenso wie die „Realität“ enthaltend (I, 76). Wirklich ist demnach, was im Ich vorhanden ist, was selbst auf Gott zutrifft. Schelling zitiert als Motto zur ersten Auflage seiner Abhandlung Vom Ich als Princip der Philosophie (1795) Verse aus Alexander Popes Essay on Man, die besagen, dass die Spur Gottes im Menschen sei (I, 40). Schelling versuchte, das Ich als etwas Unbedingtes zu etablieren, eine Auffassung, von der er sich bereits nach 1800 verabschieden sollte. Ausdruck dieser Unbedingtheit ist eine tautologische Kausalität : „Ich bin, weil Ich bin.“ (I, 57) Unüberhörbar ist der Anklang an die Selbstbestimmung Jesu : „Ich bin der ich bin.“ Für Schelling erfüllt sich damit jedoch auch ein wesentlicher Aspekt seines philosophischen Formdenkens. Schon im ersten Paragraphen seiner Abhandlung Vom Ich findet sich die These : „Es muß einen letzten Punkt der Realität geben, an dem alles hängt, von dem aller Bestand und alle Form unsers Wissens ausgeht, der die Elemente scheidet und jedem den Kreis seiner fortgehenden Wirkung im Universum des Wissens beschreibt.“ (I, 52) Dieser „Punkt“, so möchte man ergänzen, ist das mit sich selbst identische ich, das freilich fähig ist, ein Nicht-Ich zu setzen, um auf diese Weise Vielheit zu generieren. In seinen Überlegungen zur unbedingten Natur des Ichs kam Schelling auch auf die Substanz des Wortes ‚unbedingt‘ zu sprechen. Er verwies darauf, dass in ihm das Wort ‚Ding‘ den Ausschlag gebe. Etwas, das bedingt sei, hänge von Dingen ab. Das Unbedingte dagegen könne nicht zum „Ding gemacht werden“ (I, 56). Dieses Unbedingte aber, das Absolute, verweigere sich, so Schelling, konventioneller Begrifflichkeit. Man mag hier den Ursprung der poetischen These Stefan Georges sehen, dass kein Ding sei, „wo das Wort gebricht“. Unbedingtheit bedeutet Unverfügbarkeit. Auf das Ich bezogen meint das : Freiheit im Verhältnis zu den Anderen. Es erfordert laut Schelling aber auch sein „Anschauen“ der Dinge und der Welt selbst „erringt“ (I, 106). Da es aber alle „Realität“ und schlechterdings „alles“ setzt und sich „gleich mit sich selbst“ setzt (ebd.), „niemals aus sich heraus geht“ (ebd., 107), meint dieses Anschauen vor allem Selbstbetrachtung oder -beobachtung und Selbstreflexion. Deutete Novalis das Ich als ein Keimen, Friedrich Schleiermacher als das Produkt der Schrift oder, mit Friedrich Kittler gesagt, als Ergebnis eines bestimmten „Aufschreibsystems“, so betonte der frühe Schelling die Selbstwahrnehmung als „Organ“ oder Mittel der Selbstbestimmung. Wenn nun Schelling so emphatisch betont, dass das „absolute Ich“ niemals über sich selbst hinaus gehe, also seine Selbst-Setzung eigenmächtig überschreite,
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dann scheint sich darin auch der Wunsch auszudrücken, das Ich vor Selbstspaltung oder Selbstzerteilung zu bewahren. Zugespitzt formuliert : diese Art der Selbstsetzung versucht jener Form des Wahnsinns Einhalt zu gebieten. Doch bleibt die wahnhafte Selbstübersteigerung ein wesentliches Problem einer solchen identitätsphilosophischen Konzeption. Eine weitere Problematik gesellt sich dieser frühromantischen Identitätsphilosophie hinzu : Welcher (künstlerische) Spielraum entsteht eigentlich durch die setzende Gleichung ‚Ich=Nicht-Ich‘ ? Steht sie in irgendeiner Beziehung zum romantischen Interesse am Doppelgänger-Motiv ? Ist nicht der Doppelgänger das Nicht-Ich schlechthin, das aber in seiner bedrohlichen Existenz von jenem Ich abhängt, der dieses Doppelgänger- [Nicht-] Ich imaginiert und als gefährliche zweite Realität erfährt ? Im Sinne unseres Eingangsbildes gesprochen, wirkt der Doppelgänger wie ein Schattenriss, der sich verlebendigt hat. Aus der Identitätsgleichung wird eine Spielanleitung und ein Scheinzusammenhang, der sich vom Nicht-Ich aus definiert. Der Doppelgänger, ob bei E.T.A. Hoffmann, Wilhelm Müller, Edgar A. Poe oder noch bei Dostojewski, ist Ausdruck potenzierter Identität, aber, wenn man so will, im Zustand ihrer Selbstbedrohung. Es ist ein Nicht-und-doch-Ich, das über sich hinaus gewachsen ist, verwandt allenfalls mit dem „Geisterwissen“, wie der späte Friedrich Schlegel das „magnetisch-magische Wissen“ nannte.28 Der Doppelgänger ist das Gestalt gewordene Ich=Nicht-Ich in seinem pathologischen Aggregatzustand. Schelling versuchte dieser Problematik dadurch zu entkommen, dass er die Mythologie und Kunst als [Ur-]Quellen der Daseins- und Selbstfindung zu erschließen versuchte. Auffällig ist nun, dass er auch seine Grundlegung einer Philosophie der Kunst identitätstheoretisch begründete. Stellte er doch kategorisch fest : „Kunst beruht […] auf der Identität der bewußten und bewußtlosen Thätigkeit. Die Vollkommenheit des Kunstwerks als solchen steigt in dem Verhältniß, in welchem es diese Identität in sich ausgedrückt erhält.“ (…) Die Folge daraus war, dass er die Schönheit in der „Identität des Subjektiven und Objektiven“ begründet sah. Im Künstlerischen glaubte Schelling diese Identität in der Musik verwirklicht. In seiner Philosophie der Kunst weist er den Rhythmus als Inbegriff ästhetischer 28 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler [u.a.]. München [u.a.] 1958ff., Bd. XXXV, S. XXXVII. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Schlegel-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl). Vgl. dazu : Andrew J. Webber, The Doppelganger : Double Visions in German Literature. Oxford 1996 ; Ingrid Fichtmer (Hg.), Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern/Stuttgart/Wien 1999.
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Selbsterfahrung aus. Im Rhythmus verinnerliche sich die Zeit, argumentiert er. In der Musik aber gestalte sich Zeit. Rhythmische Zeit- und kompositorische Sinnstruktur entsprechen in einem musikalischen Kunstwerk einander, so Schelling. Hiermit entsteht qua Komposition eine Kongruenz, die sich als ästhetische Identität beziehungsweise Identität im Ästhetischen (oder ästhetischen Akt) versteht. Der entsprechende „Schattenriss“ hierzu fände sich im musikalischen ‚Nachtstück‘, dem Nocturne, gewissermaßen der Sonate in Schattenrissform. Identität und Kunstakt Wie aber stellt sich der ästhetische Vollzug dieser Identitätsproblematik in Sprachkunstwerken der Romantiker dar ? In der Prosa, und nur von ihr sei nachfolgend die Rede, ereignete er sich in der Hauptsache durch die ironische Brechung ‚klassischer‘ Persönlichkeitsbilder. Die klassischen ‚Helden‘ werden zu sich selbst kompromittierenden Sonderlingen und Käuzen. Hoffmanns Krespel etwa zerlegt Geigen, wenn er über Musik spricht ; aber indem er dies tut, führt er – gleichsam nebenbei – auch den analytischen Anspruch der Wissenschaften ad absurdum. Nicht die Lebenssituationen an sich stellen sich uns in der romantischen Prosa als etwas Absurdes dar (wie etwa im modernen absurden Theater), sondern die Eigenheiten der Menschen produzieren absurde Konstellationen. Aber explizieren wir die romantische Identitätsproblematik in ihrem novellistischen Spiegel einmal nicht anhand solcher Texte, die in der Ironisierung der Frage nach Identität sich erschöpfen, sondern an einem Beispiel, welches diese Frage selbst zum Handlungsträger und Gegenstand einer poetischen Untersuchung gemacht hat. Ich meine Clemens Brentanos Chronika eines fahrenden Schülers, die er 1803 veröffentlichte, also kurz nach Abschluss seines Romans Godwi oder das steinerne Bild der Mutter, dessen collagehafter Charakter und vielschichtige Erzählstruktur die Romantechniken des 20. Jahrhunderts antizipierte. In der Chronika anders als im Godwi ‚lebt‘ das Bild der Mutter, aber jenes des Vaters kann in Johannes, der Hauptfigur dieser äußerst gerafften Erzählung, nur in der Traumwelt entstehen. Obgleich sich Johannes zu fragen gedrängt fühlt : „Was bin ich, und warum bin ich ?“29, spricht sich in dieser Frage weniger ein bedrü29 Clemens Brentano, Werke. Studienausgabe. Hg. v. Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek, Friedhelm Kemp. 4 Bde. München 1963–1968, Bd. 2, Hg. v. Friedhelm Kemp (1963), S. 604.
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ckendes Anliegen als vielmehr Verwunderung aus. Verwunderung über die schiere Tatsache seiner Existenz. Man gewinnt sogar den Eindruck, als käme es für Johannes gerade darauf an, das letzte Geheimnis seiner Identität nicht zu lüften, das heißt, den Schwebezustand zwischen seinem Ich und Nicht-Ich zu erhalten. Bezeichnend ist, dass Johannes seine Identität primär ästhetisch bestimmt sieht. Es ist die Erzählung seiner Mutter, deren Inhalt uns nicht mitgeteilt wird, obgleich oder vielmehr weil sie das Geheimnis seiner Existenz und Herkunft enthält ; es ist der Vorgang des Erzählens, der ihn glauben macht, dass er „ein ganz neues Leben“ anfange. Die Identität, auf die es ihm ankommt, hat jedoch, wie er gleich zu Anfang der Erzählung versichert, nichts mit ihm selbst zu tun, sondern mit der Natur und seiner Mutter. Diese vermittelt sich ihm dadurch, dass die Natur in Gestalt eines Vogels und seine Mutter zugleich zu singen scheinen. Das Unisono von Natur und Mensch sichere, meint Johannes, eine Art elementarer Identität, in der auch Traum und Wirklichkeit in Eins gesetzt werden. Für Brentano selbst hatte diese elementare Identität freilich keinen Bestand. Im Gegenteil. Wie Karl-Heinz Bohrer überzeugend gezeigt hat, gehört es zum romantischen Verständnis von Identität, sie, paradox gesagt, im Selbstverlust zu finden, besonders bei Brentano, wie vor allem seine Briefe an Savigny und seine Geliebte, Sophie Mereau, zeigen. Bohrer befindet : „In den Briefen Brentanos ist die Ich-Problematik also nicht einfach mit Melancholie, Verdüsterung, Pessimismus zu übersetzen, der romantischen ‚Stimmung‘, sondern mit der Identitätsfrage : Wer bin ich ?“30 Insbesondere in seinen Liebesbriefen sollte diese Frage nach der eigenen Identität zu einem Experiment mit der eigenen Subjektivität werde. Brentano schreibt : Und ich sehne mich mit einem liebevollen romantischen Weib, einen poetischen Bund zu schließen und mitten in dem wirklichen prosaischen Leben eine freie poetische phantastische Lebensart anzufangen ; […] sobald ich glücklich bin durch Dich, so habe ich keine Begierde mehr, einen Namen zu haben, und was dein ist, soll mein sein. Ich, das heißt ich, wie ich eine Person in der Welt bin, befinde mich sehr übel ; man begehrt allerlei von mir, man sagt mir, um sich selbst durch Reden die Zeit zu vertreiben, ich sei geistvoll, witzig, ich hätte Talent, ich sollte doch schreiben, und man denkt gar nicht daran, dass ich dadurch in die größte Angst gerate.31 30 Karl-Heinz Bohrer, Theorie der Trauer. München 1988, S. 167. 31 Zit. nach : ebd., S. 169.
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Nicht die ‚Krankheit zum Tode‘ spricht aus diesen Zeilen, sondern der Wille zur Selbstauflösung in der Liebe. Der ästhetische Schleier der Produktion ist gerissen. Verbrämung des Identitätsproblems hilft nicht mehr ; es offenbart sich als nackte Angst vor der künstlerischen Produktion selbst. Die Ansprüche der sozialen Welt an das Ich drohen, es sich selbst zu entfremden. Das aber bedeutet, dass Brentano dieser Selbstentfremdung durch seine Selbstauflösung in der Liebe quasi zuvor kommen möchte. „So habe ich keine Begierde mehr, einen Namen zu haben“ – das ist auch eine Art Selbstschutz. Denn ohne Namen ist der Mensch nicht nennbar, kann von anderen nicht länger aufgerufen und in Anspruch genommen werden. Mittels dieser Namenlosigkeit hofft Brentano also augenscheinlich, einen „transsubjektiven Zustand“ zu erreichen. Traumwelten und Wiederholungen Um diesen Zustand zu sichern, bedarf es nunmehr aber einer neuen Erfahrungswelt : jener des Traumes. Daher die Traumsucht des Romantikers, daher die Traumbilder, die als transreales Dasein vorgestellt werden, in der Chronika nicht anders als im Taugenichts oder zuvor in den Hymnen an die Nacht. Freud sollte ein Jahrhundert später diesen Vorgang auf die Formel bringen : „Traum schafft Identitäten“ und erkennen, dass diese Traumidentitäten ihrerseits eine „Lustquelle“ sind.32 Die Lust, das Transreale zu erfahren, mag daher auch hinter dieser Briefstelle Brentanos stehen, die aber in jedem Falle eines zeigt, dass nämlich der romantische Identitätsbegriff sich nicht nur von ästhetischen Ansätzen herleitet, sondern auch von psychologischen, und das, obgleich Novalis diese psychologische Dimension eindeutig zugunsten krypto-logischer Erklärungen des Identitätsproblems zurückzudrängen versuchte, um den, wie sich bald herausstellte, falschen Anschein ihrer rein rational-ästhetischen Lösung zu wahren. Bei Brentano kommt jedoch eine weitere Qualität hinzu, die der Identität zwischen Mensch und Natur ein besonderes Gepräge verleiht : die religiöse Be32 In : Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte und Prinzessin Georg von Griechenland. Hg. v. Anna Freud, E. Bibring, W. Hoffer, E. Kris, O. Isakower. 18 Bde. Bd. 1–17. London 1940–1952. Bd. 18. Frankfurt am Main 1968. Bd. 2–3 : Die Traumdeutung. Über den Traum, 4. Aufl. Frankfurt am Main 1968–1969, hier : Bd. 2, S. 345.
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stimmung des Menschen, die Schelling ebenso wie Novalis aus ihren identitätsphilosophischen Reflexionen weitgehend ausgeklammert hatten. Religion hatte – gerade vom systematischen Standpunkt – ihren dezidierten Eigenwert, so bei Schelling und vor allem bei Schleiermacher. Brentano hielt dagegen die religiöse Erfahrung für eine wesentliche Bedingung des eigenen Selbstverständnisses. Seine Chronika belegt, dass im Glauben die Identitätsproblematik aufgehoben sei, auch wenn die Suche nach dem eigenen Wesenskern als eine weltliche beschrieben wird. Zu bedenken ist, dass jene Figuren, mit denen romantische Autoren die Ergründung der Identität verbunden hatten, weitgehend als Reisende vorgestellt werden, als Menschen im Transitorium. Der „fahrende Schüler“ ist naturgemäß ebenso unterwegs wie Eichendorffs Taugenichts oder Chamissos Schlemihl. In ihnen findet sich ein Gedanke vorgebildet, den erst die existentialistische Identitätsphilosophie des 20. Jahrhunderts weiter ausführen sollte : Unterwegs-Sein meint, sich auf dem Weg zu sich selbst befinden. Reisen bedeutet, sich offen zu halten für das Ereignis der Identitätserfahrung (oder -entzweiung), auf die man zwar zuleben muss, die aber letztlich nach langer Bewusstseinsarbeit ‚ein-tritt‘ in unser Leben. Mit Adalbert von Chamissos Novelle Peter Schlemihls wundersame Geschichte sei nun ein weiterer Text aufgerufen, der das Spiel mit der Identität auf kuriose Weise beschreibt : Schlemihl verkauft seinen Schatten ; er veräussert, wenn man so will, seine Aura. Das Kuriose der Erzählstruktur dieser Novelle gehört zu diesem Spiel : Er tritt hin und wieder aus seiner Geschichte und redet den Autor unmittelbar an : „Und so, mein lieber Chamisso, leb ich noch heute.“33 Schlemihl wandert zwischen den Welten, von einer Bewusstseinsebene zur anderen, vom Wunderbaren zum Skurrilen, aus dem Dunkeln seiner anfänglichen Unbewusstheit ins grelle Licht der Erkenntnis, die nicht einmal mehr einen Schattenwurf gestattet. Mit seinem Schatten verkauft Schlemihl nun keineswegs auch sich selbst. Er wird nur radikaler auf seine eigene Existenz zurückgeworfen. Seine Verzweiflung über diesen Zustand ergibt sich vor allem aus der Erkenntnis, dass er dieses schwarze Abbild seines alter ego braucht, um seine eigene Ganzheit erfahren zu können. Der Schatten als Schutz, als Garant der Normalität. Ohne Schatten fällt Schlemihl ein Sonderstatus zu, den er als unablässiger Wanderer ohne soziale Verwurzelung ohnhein innehat, dessen er sich aber mit Schatten 33 In : Adalbert von Chamisso, Werke. Hg. v. Werner Feudel und Christel Laufer. 2 Bde., Leipzig 1981. Bd. 2, S. 15–79, hier : S. 78.
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nicht bewusst gewesen war. Sein schattenloses Dasein stempelt ihn zum Außenseiter, bis er sich – auf wundersame Weise – an einem Ort wiederfindet, der seine Identität angenommen hat : das Hospiz Schlemihlium. Ironischerweise wird ihm dort seine eigene Identität quasi vorgeführt, und zwar von Ärzten, die ihn selbst nur mit einer Nummer anreden. Inzwischen weiß er aber mit seiner ‚eigenen‘ Identität nichts mehr anzufangen. Wir erfahren : „Ich hörte etwas, worin von Peter Schlemihl die Rede war, laut und vernehmlich ablesen, ich konnte aber den Sinn nicht fassen.“34 Schließlich aber sehnt sich Schlemihl nach seiner „alten Lebensordnung“ zurück, die ihm gleichsam als Ersatzschatten dienen soll. Und genau dies ist ihm vergönnt : „Sowie ich wieder Kräfte bekam, kehrte ich zu meinen vormaligen Beschäftigungen und zu meiner alten Lebensweise zurück.“35 Fortan besteht seine Identität aus dem Wieder-Holen seiner Vorzeit vor dem Schattenverkauf. Dass es sich dabei nicht um eine bloße Wiederholung seiner früheren Lebensverhältnisse handelt, ergibt sich, wie er seinem Urheber, dem Autor Chamisso, gegenüber versichert, schon aus dem Umstand, dass er nunmehr über Welterfahrung verfügt, mit der er seinen Rekurs auf sein Vorleben anreichern kann : Ich habe, soweit meine Stiefel gereicht, die Erde, ihre Gestaltung, ihre Höhen, ihre Temperatur, ihre Atmosphäre in ihrem Wechsel, die Erscheinungen ihrer magnetischen Kraft, das Leben auf ihr, besonders im Pflanzenreiche, gründlicher kennengelernt, als vor mir irgendein Mensch. Ich habe die Tatsachen mit möglichster Genauigkeit in klarer Ordnung aufgestellt in mehreren Werken, meine Folgerungen und Ansichten flüchtig in einigen Abhandlungen niedergelegt.36
Schlemihl hat empirische Naturforschung betrieben, um den Verlust seines Schattens zu kompensieren. Er hat sich erweitert und einen Schatten des Wissens um sich gelegt. Diese wissenschaftlich begründete Erweiterung der Erfahrung und sein Zurückgehen auf seine ursprünglichen Lebensverhältnisse und Gewohnheiten, beide konstituieren nunmehr seine Identität, die inzwischen zu einem aktiven, erkenntnislichten Schatten geworden ist. Chamissos Gedanke, dass das mit neuem Wissen und Erfahrung angereicherte Wieder-Holen zur Quelle menschlicher Identität werden könne, nimmt im Kern 34 Ebd., S. 76. 35 Ebd., S. 78. 36 Ebd.
Schattenrisse und andere Ansichten vom Ich
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jene Identitätskonzeption vorweg, die Kierkegaard mit seiner Schrift Die Wiederholung von 1843 entwickeln sollte und die gewissermaßen den Schlusspunkt hinter die romantische Identitätssuche gesetzt hat. Kierkegaard sah im (Zeit- und Erfahrungs-)Phänomen der Wiederholung eine Möglichkeit, die Erinnerung als etwas Schöpferisches zu begreifen und sie, im griechischen Sinne, als eine Form des Erkennens zu deuten. Wiederholung fördere, so Kierkegaard, Identität, sofern sie als Mnemosyne begriffen werde37, die Hölderlin in der zweiten Fassung seines gleichnamigen Gedichts als ‚Echo‘ eingeführt hatte, das die Erinnerung widerhallen lasse. Kunst, Natur und Gefühl vereinigen sich bei Hölderlin und in Kierkegaards Bekenntnisschrift in Gestalt erinnernder Wiederholung. Wissenschaftliche Einsichten und religiöse Erfahrung, ästhetische Gestaltung der Selbsterfahrung und schattenrisshafte Selbstdarstellung verstanden sich somit im romantischen Denken und Empfinden als Einheit ; und die Poesie, die Sprache und Musik, die dieser Einheit Ausdruck verleihen wollten, erlebte der Romantiker als das Licht in der Nachtseite des Daseins.
37 Søren Kierkegaard, Die Wiederholung. Hg. v. Liselotte Richter. Frankfurt am Main 1984, S. 7 f.
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Politisches Bilden in der frühen Romantik oder : Auf dem Wege zu einer pluralektischen Kulturpoetik
Nichts wirkt frühromantischer als das so genannte „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ (II, 575–577) ; entworfen wurde es zwischen Sommer 1795 und Frühjahr 1796 von einer Trias, die (noch) zwischen poetischem Philosophieren und philosophischem Dichten schwankte. Subversives hatte diese (noch) verschworene Gemeinschaft im Schatten Kants, der Französischen Revolution und des Glaubens an die Schönheit im Sinn : denn Hegel, Schelling und Hölderlin plädierten in ihrer wohl gemeinsam verfassten Skizze dafür38, den Staat als Auslaufmodell zu betrachten. Man hatte sich einiges vorgenommen ; das „elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung“ sollte „bis auf die Haut entblößt“ werden (II, 576). Der Staat galt als verhasst, weil er den a priori freien Menschen auf mechanistische Weise instrumentalisiere. Gleiches traf nach Ansicht der Trias auf die Physik zu, die das Schöpferische in der Natur nicht aufzufassen verstehe und daher ohne eine Meta-Perspektive verkümmern müsse. Aus dieser Einschätzung der Dinge ergab sich für die Trias zwingend die Forderung nach einer ästhetischen Theoriepraxis, die das intellektuell Entworfene in Schönheit sogleich auch umzusetzen verstünde : „Der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter“ und entsprechend konnte eine „Philosophie des Geistes“ nur eine „ästhetische Philosophie“ sein (ebd.). Geistreich sein bedeute, seinen „ästhetischen Sinn“ unter Beweis stellen können. Der Dichtkunst attestierte man, dass sie „alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben“ und ihren eigenen Kreis schließen werde : Am Uranfang aller Kultur sei sie Wegweiserin der Menschheit gewesen ; und genau diese Aufgabe werde sie am Ende wieder erfüllen, da nur sie eine „sinnliche Religion“ stiften könne. In ihr verwirkliche sich dann eine „Mythologie der Vernunft“, sinnlich gewordenes Denken und philosophisch gewordene Sinnlichkeit. Als die soziale Realität den romantischen Idealismus in Erklärungsnöte und an den Rand des Offenbarungseides brachte, half die ‚Dichtkunst‘ bei der Schadensbegrenzung, indem sie die romantische Ironie in Selbstparodie überführte. Das vollzog sich in und durch Heinrich Heine und wurde auf bleibende Weise bühnenreif in Georg Büchners Spiel mit der Lust und den Sinnen in Leonce und Lena. Der werdende Staatsminister Valerio plant ein Dekret, in dem der Staat 38 Dazu umfassend : Frank P. Hansen, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Rezeptionsgeschichte und Interpretation. Berlin 1989.
Politisches Bilden in der frühen Romantik
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Arbeit unter Strafe und den Müßiggang in den Weihetempel stellt, um seine Selbstauflösung zu feiern. Herrscher und Minister wollen sich in den Schatten legen und Gott, es gibt ihn hauptsächlich als Garanten der Lüste, um „Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion“ zu bitten.39 Die „sinnliche Religion“ des „Systemprogramms“ hatte ihr Glaubensbekenntnis gefunden, und das zu einer Zeit, als die Historisierung der Jesus-Figur – und damit die Entzauberung ihrer Zeitlosigkeit – nicht mehr aufzuhalten war. Im „Systemprogramm“ nun findet sich eine Formel, die zeigt, welchen Inhalt diese Art der Religion ursprünglich haben sollte : „Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst“ (II, 577). Diese Formel enthält das Prinzip gleiche Glaubenswerte für Verschiedenes, gegründet auf einen Theismus, der im Göttlichen Vielheit und Einheit am Werke sieht, welche gleichermaßen der Kritik und dem Gefühl, der Phantasie und ihrer kunstvollen Umsetzung zugute kommen. Denn in der Logik des „Systemprogramms“ ist ja, wie gesehen, der an das Göttliche reichende, „höchste Akt der Vernunft“ ein ästhetischer. Mit solchen Formeln und Vergleichen versuchten sich die Verfasser des „Systemprogramms“ weniger in Lesarten des Vorhandenen als vielmehr daran, Denk- und Schaffensmuster als eine zukünftige Poetik lesbar zu machen. Staatskritisch ist diese Poetik, will aber gleichzeitig gemeinschaftsbildend sein, und zwar durch die Forderung nach der Möglichkeit, dass alle ihre „Kräfte“, also Veranlagungen, „gleich“ ausbilden können (II, 577). Noch in einer späten, auf (Goethes) Tasso bezogenen Notiz des einen Mitverfassers des „Systemprogramms“, Hölderlin, bebt dieser ungeheure Anspruch dieses „Programms“ nach : „politisch Sorgen herzungewisse“ (I, 444). Selbstbestimmung durch das „Sprachorgan des Gefühls“ Dass dieser Systementwurf fragmentarisch blieb oder als Fragment überliefert wurde, liegt in der Konsequenz des darin erkennbaren Ansatzes. Denn der systematische Anspruch kontrastiert scharf mit den disparaten Thesen. Im eigentlichen Sinne ‚lesbar‘ werden sie am ehesten in Schellings vier Jahre später vorgelegtem System des transcendentalen Idealismus (1800), namentlich in dessen abschließen39 Georg Büchner, Dichtungen. Hg. v. Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Frankfurt am Main 2006, S. 129.
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Erster Teil : Präludierende Etüden
der Überlegung zum Charakter des „Kunstproduktes“. Schon die Tatsache, dass Schellings System, das eine Geschichte des Wechselverhältnisses von materieller und rein intellektueller Weltauffassung entwickelt und mit ihr die deduktive Darstellung der „Selbstbestimmung“, dass dieser Denkweg auf die Kunstphilosophie zuläuft, versucht den Hauptsatz des „Systemprogramms“, wonach die Philosophie des Geistes ästhetische Philosophie sei, zu illustrieren, wenn nicht einzulösen. Schellings kunstphilosophisches Finale zu seinem System des transcendentalen Idealismus ist für uns gerade deswegen von zentralem Interesse, weil es eine frühromantische Position aufgreift, sie aber aus dem Bereich des Intuitiv-Spekulativen herauslöst und in ein kausales Bestimmungsverhältnis überführt. Es handelt sich um Schellings These von der „Identität des Bewussten und Bewusstlosen im Ich“ und der Notwendigkeit, sich dieser Identität ‚bewusst‘ zu sein (I, 680). Weiter argumentiert Schelling jedoch, dass der „künstlerische Trieb“ im Ich durch den „Widerspruch zwischen dem Bewussten und dem Bewusstlosen im freien Handeln“ in Bewegung gesetzt werde. Das bedeutet, die behauptete Identität von Bewusstem und Bewusstlosem im künstlerischen Subjekt kann nur widerspruchsvoll, also spannungsreich sein. Ästhetische Produktion führe dann, so Schelling, zu dem Versuch eines Wechselspiels von Widerspruch und Harmonie, wobei er der Poesie eine Sonderstellung einräumt. Sie leite sich unmittelbar aus dem „Bewusstlosen“ ab (I, 686). Kunst versucht laut Schelling, das Ungenügen an den Widersprüchen zu „befriedigen“, was in sich zweideutig ist ; kann damit doch ihre Auflösung gemeint sein, aber eben auch – und weitaus wahrscheinlicher, wenn man Schellings Argumentationszusammenhang bedenkt – das Bedienen von Widersprüchen, das Ihnen-Nahrung-Geben. Worauf es Schelling am Ende des Systems offenbar ankam, verdeutlicht, nein, verrät er durch ein ganz und gar nicht idealistisches, sondern durch und durch ‚romantisches‘ Bild, das jeden Gedanken an Systematik negiert : Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht ; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten (I, 696).
Offenbar leuchtet hier bereits Orplid von ferne ; zumindest wusste sich Schelling damit an der Schwelle zur Mythologie, die er schon bald als eine Lesart der Natur und des Geistes, also einer wiederum widerspruchsvollen Einheit, zu begreifen lernte.
Politisches Bilden in der frühen Romantik
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Aus einem mit Schelling nicht unverwandten Befund über das Verhältnis von Natur und Poesie schloss Novalis, dass es darauf ankomme, die Welt zu romantisieren, das heißt, sie – in seinen Worten – qualitativ zu potenzieren.40 Um das aber zu können, müsse die Welt erst entziffert werden ; daher hielt es Novalis für unumgänglich, Lesehinweise zu geben, die auch das Schreiben bestimmen sollten. Somit stand für Novalis auch fest, dass die „erste Kunst Hieroglyphistik“ sei (II, 360). Aus diesem Lesen von Zeichen ergab sich für Novalis die Poesie, die er zum „Helden der Philosophie“ erklärte (II, 380). Poeten und Philologen, jene also, die das intensivste Verhältnis zur Sprache haben, nannte Novalis „Wahrsager aus Chiffren“ und gab ihnen die Gattungsbezeichnung „Letternauguren“ (II, 387). Was er daraus als Stilist zu gewinnen hoffte, enthüllt er, wenn er sagt, dass man einmal etwas so über Goethes Wilhelm Meister schreiben müsse, wie Lichtenberg Hogarth gesehen und kommentiert habe (II, 356). Das meint, Novalis dachte prinzipiell in Verhältnissen, Entsprechungen. Allgemeine Aussagen verglich er mit mathematischen Formeln ; seine eigenen Fragmente nannte er, den Begriff ‚Marginalie‘ verwörtlichend, „Noten an den Rand des Lebens“ geschrieben (II, 385). Diese Ansätze gewinnen in einer der Notizen der Teplitzer Fragmente Gestalt, welches lautet : „Ob das Erst Sehn und dann Lesen oder das Umgekehrte vorzuziehen ist ? Kunst sehn zu lassen – Kunst zu schreiben.“ (II, 397) Bedenkt man, dass für Novalis das Auge „ein Sprachorgan des Gefühls“ war (II, 333), dann gewinnt man eine Vorstellung von der, zeitgemäß gesagt, Interaktivität, die Novalis zwischen Sehen und Gesehenem, Wahrgenommenem und darüber Geschriebenem konstatierte. Dieses Denken und Darstellen in Entsprechungen, das auch bei Novalis zur problematischen Analogie von Staat und Körper, in seiner Formulierung sogar zu einer „physiologischen Politik“ (II, 559) führte, hatte eine ganz spezifische Auswirkung auf seinen Begriff vom Bilden. Glaubte er doch an die Möglichkeit einer „Lebensordnungslehre“, welche die „Kunst der ConstitutionsBildung“ [sic !] in sich trage (II, 549). Damit ist ebenso ein Lebensgesetz gemeint wie die politische Verfassung, die sich Novalis eher wie eine Sammlung von Spielregeln vorgestellt zu haben scheint. Damit es zu umfassender Bildung und „Wissenschaft“ kommen könne, müsse dem Philosophen, so Novalis, Orpheus erscheinen (II, 571) ; das will besagen, das Denken müsse ‚musikalisch‘ werden. „Associationen und Gesellschaft“, „Lust und Unlust“ , das Bilden von Wissen und das Wissen über den Bildungsprozess, vermutete Novalis, könnten sich „musikalischen Verhältnissen“ ver40 Vorarbeiten 1798, Nr. 105 (II, 334).
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danken, einer orphischen Inspiriertheit, die auch dem Politischen zugute komme. Novalis führt diese „Verhältnisse“ wohl am sinnfälligsten in seinem Fragment Die Christenheit oder Europa (1799) vor. Darin entfaltet er einen ästhetischen Politikansatz, der von Schillers ästhetisch motiviertem, aber auch politisch intendiertem Erziehungskonzept profitiert, ihn aber ins Geschichtsmetaphysische erweitert. Was ist damit behauptet ? Geschichtspoetische Projekte Schiller hatte sein Plädoyer für eine ästhetische Erziehung zuletzt damit begründet, dass, wenn der in sich vielfältige Geschmack regiere, es nie zu einer „Alleinherrschaft“ kommen könne. Der „Staat des schönen Scheins“ verwirkliche allein Freiheit in Würde und Anmut (V, 669). „Ästhetische Ganzheit“ lautete der Name für sein Programm. Das Selbstbewusstsein des Ich ist darin eingeschlossen. Novalis ging jedoch davon aus, übrigens unter dem Stichwort „Politik“ in Das Allgemeine Brouillon formuliert, dass wir erst die „Keime zum Ich“ seien (II, 549) ; der Wachstums- und Bildungsprozess sei mithin selbst erst im Werden begriffen. Sein einziges politisches Manifest, Die Christenheit oder Europa, enthält nun ein kulturpoetisches Programm, das Analyse und Entwurf zugleich sein wollte. Novalis formulierte den Entwurf als anti-protestantischen Protest, da der Protestantismus die Religion verstaatlicht, nationalisiert und dadurch ihre kosmopolitische und „friedensstiftende“ Wirkung untergraben habe (II, 737). Mehr noch : Novalis wirft Luther und dem Protestantismus vor, sich zum Evangelisten aufgeschwungen und den „Buchstaben“ sakralisiert zu haben. Luther habe sich gegen das Religiöse vergangen, weil er die Religion lesbar gemacht habe, so des Frühromantikers Hauptvorwurf. Die Philologie, diese „höchst fremde irdische Wissenschaft“, habe sich in Religionsangelegenheiten „gemischt“ ; und nun sei ihr „auszehrender Einfluß unverkennbar“ (ebd.). Der Buchstabe, das Wort, habe den „religiösen Sinn“ verdorben. Quasi zeitgleich forderte Hölderlin in seiner Patmos-Hymne, „dass gepfleget werde / Der feste Buchstab“ (I, 356), um dadurch und durch „gutes Deuten“ den Bezug zum nahen, aber „schwer zu fassenden“ Gott neu herzustellen. Novalis nun erkennt im Protestantismus und seiner „Lesart“ des Religiösen den Beginn einer Verweltlichung und der Politik im modernen Sinne. Und die Politik sieht er wiederum als eine Lesart des Protestantischen ; hatte es doch den „Universalstuhl“ des einen Glaubens für vakant erklärt und die Fürsten zu Macht-
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spielen eingeladen, die Novalis allesamt für Kompensationsveranstaltungen hielt, welche den Verlust der Einheit wettmachen sollten. Scharfsinnig erkennt er auch folgendes Phänomen : „Historisch merkwürdig bleibt der Versuch jener großen eisernen Maske, die unter dem Namen Robespierre in der Religion den Mittelpunkt und die Kraft der Republik suchte […].“ (II, 744) ‚Merkwürdig‘ bleibt auch das Novalissche Fragment selbst, das eine Erneuerung der Religion vermittels radikaler Kultur- und Wissenschaftskritik zu erwirken hoffte. Gleichermaßen wird dieses Fragment als Selbstkritik, ja, Beichte lesbar. Denn Novalis kritisiert die „Vielseitigkeit ohne Gleichen“, die „schöpferische Willkühr“ und „unendliche Mannigfaltigkeit“ (II, 745) in den durch die säkularisierenden Tendenzen der Reformation freigesetzten Künsten und Wissenschaften. Er spricht von ihrer „glänzenden Politur“, den Scheingewinnen an Einsichten, wobei sein eigenes, der „Mannigfaltigkeit“ verpflichetes Verfahren in den zahllosen Studien, Notaten und Fragmenten einer ähnlichen ‚Willkür‘ zu unterliegen scheint. Durch die „Poesie“ will er die Kultur retten und die Erneuerung des Religiösen bewerkstelligen : „Reizender und farbiger steht die Poesie, wie ein geschmücktes Indien dem kalten, todten Spitzbergen jenes Stubenverstandes gegenüber. Damit Indien in der Mitte des Erdballs so warm und herrlich sey, muß ein kaltes starres Meer, todte Klippen, Nebel statt des gestirnvollen Himmels und eine lange Nacht, die beiden Enden unwirthbar machen.“ (II, 746) Wissenschaft führe zu einem mechanistischen Weltbild, so Novalis, und damit zur Verleugnung des Heiligen. Diese sich aufspaltenden Wissenschaften nennt Novalis „fürchterliche Erzeugnisse eines Religionsschlafs“. Und er folgert : „Wo keine Götter sind, walten Gespenster“ ; zu ihnen gehören für ihn die „Philanthropen und Encyklopäisten“, die nur durch den „Herzschlag der neuen Zeit“ von ihrer Stubengelehrsamkeit erlöst werden können. Diesen Herzschlag nennt Novalis einen „Bruder“, der einen „Schleier für die Jungfrau“ webe ; mit ihr ist die neue Religion gemeint, die wiederum eine neue Art des Lesens erfordere : „Der Schleier ist für die Jungfrau, was der Geist für den Leib ist, ihr unentbehrliches Organ dessen Falten die Buchstaben ihrer süßen Verkündigung sind ; das unendliche Faltenspiel ist eine Chiffren-Musik […]“ (II, 747). Ein halbes Jahrhundert später wird Heinrich Heine beschreiben, wie die Götter sich selbst zu Gespenstern geworden sind, zu karnevalesken Figuren im Exil.41 Nach dieser kulturkritischen Auslassung lenkt Novalis wieder auf das Politische um, fordert eine „politische Wissenschaftslehre“, einen „Staat der Staaten“ 41 Vgl. Kapitel XI dieses Bandes : Religion im Exil. Zu Heines Götterlehre.
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zur Friedenssicherung in Europa. „Es wird so lange Blut über Europa strömen“, schreibt er, „bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Werke des Friedens vornehmen, und ein großes Liebesmahl, als Friedensfest […] gefeiert wird.“ (II, 749) Novalis hofft auf eine Europa wieder „aufweckende“ Religion. Eine Interessengemeinschaft reichte ihm nicht ; er suchte nach einem gemeinsamen Nenner, der das friedliche Interagieren, die „bunte Vermischung“ langfristig tragfähig zu machen verstünde. Politisches Bilden und religiöse Selbsterweckung gehen in diesem Entwurf einher. Novalis, der selbst von einem starken enzyklopädistischen Interesse bestimmt, wenn nicht getrieben wurde, von dem Versuch nämlich, alles ihm erreichbare Wissen aufeinander zu beziehen, favorisierte, zumindest in diesem fragmentarischen Manifest, die poetisch-religiöse Wendung ins Vorreformatorische. Harmonische Entgegensetzungen Die Nationen, „von heiliger Musik getroffen“ – gezähmt von einer Kunst, die aus der Vermählung von Orpheus mit Cäcilie hervor gehen sollte, die aber als Partitur eben nicht mehr lesbar gewesen wäre. An den Grenzen der Lesbarkeit bildet sich dann aber (wieder) der Glaube, ein potentiell gefährliches Phänomen, weil diese ‚Bildung‘ den Irrglauben mit einschließt. Worauf weist ein solches thetisches Argumentieren, ein Reden, das stets behauptet, das „wahre“ Angesicht der Zeit, die „wahre“ Religion, den „wahren“ Staat zu meinen und punktgenau sagen zu können, was Wissenschaft, Sinn, Geschichte, Physik und Ironie genau sei ? Es zielte offenbar auf eine Punktierung des Denkens im konzisen Fragment, eine betont offene Gattungsbezeichnung, die Novalis selbst für diesen theoretischen Text über das Europäische gebrauchte, obgleich er ihn durchaus zusammenhängend vorgetragen hatte. Als erster hatte Carl Schmitt in seiner vielleicht unverfänglichsten, erstmals 1919 erschienenen Schrift Politische Romantik auf diese Punktualität im frühromantischen Denken und Schreiben hingewiesen.42 Schmitt zeigte in seiner zur damaligen Zeit bei weitem scharfsichtigsten Analyse des romantischen Kulturverständnisses, dass sowohl Novalis wie auch der frühe Adam Müller, aber auch Friedrich Schlegel 42 Carl Schmitt, Politische Romantik. 4. Aufl. Berlin 1982, S. 110 ff.
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ein Ausdrucksdenken betrieben, das Eindruck machen wollte ; daher Prägungen wie „lyrische Staatsphilosophie“, „poetische Finanzwissenschaft“, „musikalische Agronomik“, das „Gegensätzisch-Occasionelle“. Hinter solchen Formulierungen verbarg sich jedoch auch eine durchaus vom appellativen Effekt absehende Intention, nämlich zwischen divergenten Medien, Wissenschafts- und Lebensbereichen zu vermitteln. Das verbale Artefakt, die artifizielle Wortformation, so extrem und überspannt sie auch klingen mochte, sie versuchten umzusetzen, was Adam Müller in seiner Lehre vom Gegensatz (1804) entwickelt hatte, nämlich die Idee eines Ausgleichens von Widersprüchen. Dies sollte dadurch geschehen, dass die gegensätzlichen Positionen oder Auffassungen in ihrer aufeinander bezogenen Widersprüchlichkeit ihre eigene Dynamik entdecken und für die wechselseitige Vermittlung fruchtbar machen sollten. Den auf diese Weise entstehenden Ausgleich definierte Müller nicht als Synthese, sondern als einen in jedem Fall poetisch fruchtbaren Schwebezustand, der seine eigene Begrifflichkeit generiere. Die einschlägigen Forschungen zu Adam Müller konzentrieren sich zumeist – im Gefolge Carl Schmitts – auf seinen Beitrag zur politischen Romantik und konservativen Staatstheorie nach seiner Konversion zum Katholizismus, auf seine Kritik an Adam Smith und dem Modell des angelsächsischen Liberalismus.43 Diesen Ansatz hat vor allem Jochen Marquardt aufgebrochen, indem er das Müllersche Vermittlungskonzept auch auf den Bereich zwischen ästhetischer Theorie und politischer Geschichtskonzeption bezieht und zeigt, wie der ursprüngliche Ausgleichsgedanke auch in Müllers späteren Schriften noch wirksam blieb.44 Was Müller 1804 entworfen hatte, lässt sich mithin weniger mit Hegels Begriff von Dialektik verbinden, als mit Hölderlins Kunstwort vom „Harmonischentgegengesetzten“, das er in seinem großen Versuch Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes einführte (II, 527–552). Diese harmonische Entgegensetzung, von der Hölderlin als einem Wesensmerkmal des poetischen Aktes spricht, richtet sich im Grunde gegen Fichtes Konzeption der Ich-Identität. Hölderlin fordert vom Ich, dass es von sich selbst zu abstrahieren verstehe. Darin erkannte er einen Ausdruck der Freiheit des Ichs. Das, was das Ich von sich und seinem eigenen Zustand zu abstrahieren versteht, befinde sich in einem spannungsvollen Gegensatz zum 43 Vgl. u.a. Benedikt Koehler, Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik. Stuttgart 1980. 44 Jochen Marquardt, Vermittelnde Geschichte. Zum Verhältnis von ästhetischer Theorie und historischem Denken bei Adam Heinrich Müller. Stuttgart 1993.
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Ich, wobei das Ich und das von ihm Abstrahierte, um sich weiter zu entwickeln, einen „harmonischen Gegensatz“ zueinander bilden müssen. Folgerichtig führen diese Gedanken Hölderlins zu einem „Wink für die Darstellung der Sprache“, da sein Hauptanliegen ja poetologischer Art ist. Aus der „schöpferischen Reflexion“ dieses sich harmonisch stabilisierenden Gegensatzes sei dann laut Hölderlin die poetische Sprache entstanden (II, 551). Diese Sprache, ihre Tonfärbung und ihre Aussagefähigkeit bewirken, dass der Denkprozess lesbar wird, aber auch dass sich alle Stoffe in die Zeichen dieser Sprache übersetzen oder „transportieren“ lassen. Denn das gelebte und durchdachte Material dränge, bedeutet Hölderlin, zur Sprache. Der beständige Wechsel im Ausdrucksregister der poetischen Sprache schaffe, so entgegengesetzt die Thesen und Sprachbilder auch sein mögen, einen dichtungsimmanenten Ausgleich, eine ästhetisch ansprechende Harmonie. Diese antinomischen Verhältnisse zwischen Reflexion und sprach-sinnlicher Form, intellektuellem Anspruch und poetischer Wirkung, aber auch die augenscheinliche Bemühung um 1800, schematisch-kategoriale Denkansätze im Gefolge Kants, wenn nicht zu umgehen, dann doch stark zu modifizieren, führte zu einer pluralektischen Mehrdimensionalität im intellektuellen Verfahren. Das Ausgreifen auf den Orient und Indien als den Romantik-typischen Topoi programmatischer Erweiterung des kulturellen Wahrnehmungshorizonts, bei Novalis im Christenheit oder Europa-Fragment lässt sich paradoxerweise sogar von einem indozentrischen Weltbild sprechen, man denke an das bereits zitierte Wort von „Indien in der Mitte des Erdballs“, bedeutete eine intellektuelle Herausforderung, die im sprachlichen Ausdruck eine neue sich bei Georg Forster bereits abzeichnende kulturpoetische Metaphorik erforderte.45 Der Pluralektik im Denkmodus entsprach demnach eine Art Kulturalektik in der Beschreibung der eigenen Welt im Zusammen- oder Widerspiel mit den neuen Welten, was dann am Ende der literarischen Spätromantik ihr narratives, wissenschaftlich fundiertes Kompendium in Alexander von Humboldts Kosmos finden sollte.46 Dieser „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ lieferte einen empirisch fundierten Weltroman, der sich als „harmonischentgegengesetzte“ Entsprechung zur romantischen Forderung nach Universalpoesie lesen ließ.47 45 Vgl. hierzu u.a.: Ernst Behler, Das Indienbild der deutschen Romantik. In : Germanisch-Romanische Monatsschrift 49 (1968), S. 21–37. 46 Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Ediert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette und Oliver Lubrich. Frankfurt am Main 2004. 47 Schmitt, Politische Romantik, a.a.O., S. 60 u. 115–152.
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Man kann diese pluralektischen oder kulturalektischen Ansätze als schiere „Buntheit“ kritisieren und als Illustration eines bloßen Occasionalismus, wie dies auch Carl Schmitt vor allem mit Blick auf Adam Müller getan hatte ; und wenn Müller in seiner Lehre vom Gegensatz Astrologie neben Nationalökonomie stellte und Medizin neben Literatur, von Novalis Brouillons zu schweigen, dann ist die Kritik nicht von der Hand zu weisen, dass nichts Interessantes unberührt belassen werden sollte. Sie übersieht jedoch, dass diese Lust am Assoziativen, Kontrastiven, aber eben auch Flächendeckenden die poetische Beschwörung der Tiefen und seelischen Abgründe entgegen stand. Auch hier verwirklichte sich das Prinzip Korrespondenz, Entgegensetzung und Entsprechungsdenken. Bekanntlich schließt ‚Buntheit‘ komplementäre Farbgebung ein. Deutbar ist sie kaleidoskopisch, prismatisch, in jedem Fall aber als Ausdruck lebendiger Erfahrung.
46 III „Schwer verläßt, / Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort“
Zur Mythopoetik des Anfangs bei Hölderlin und Novalis Aller Anfang ist ungeschickt. Novalis (1798)
Untersuchen wir nun diese soeben behauptete Nähe zwischen Novalis und Hölderlin eingehender, und zwar in Bezug auf ihr Verhältnis zum Anfänglichen und seiner poetologischen Folgen. Bewusstsein ist ein Sein im Stande des Wissens – eines Wissens über sich selbst, so ungesichert und fragwürdig es auch sein mag. Wer nach dem Ort des Bewusstseins um 1795 fragte, als diese Thematik virulent wurde, positionierte sich wie zuvor gesehen in der Auseinandersetzung über Fichtes These, nach der sich das Ich durch „intellektuelle Anschauung“ selbst setze. Fichte hatte damit den Gedanken zu einem Akt der Handlung erklärt und das Denken als einen Vollzug definiert, was man auch als Konsequenz oder Spielart der Genie-Ideologie begreifen konnte. Zumindest eines hatte Fichtes These für sich ; sie relativierte das Kantische Erkenntnisproblem, indem sie den Blick auf das lenkte, was das Ich vermag und damit weg von dem, woran es zu scheitern drohte, nämlich am Wahrheitsgehalt des Erkannten. So fällt auf, dass es bei denjenigen, die Kant aus dem Blickwinkel Fichtes aufnahmen, bei Hölderlin zum Beispiel und Novalis, anders als etwa bei Kleist, zu keiner so genannten Kant-Krise kam. (Schiller war einer solchen krisenhaften Erfahrung in seiner Auseinandersetzung mit Kant auch deswegen entkommen, weil er auf ästhetische und nicht auf erkenntniskritische Erfahrung gesetzt hatte.) Im Hinblick auf deren jeweilige Auseinandersetzung mit Fichte hat insbesondere Manfred Frank schon früh Vergleiche zwischen Hölderlin und Novalis angeregt.48 Ein weiteres, von den Fichte-Reflexionen beider Dichter nicht unberührtes Vergleichsgebiet eröffnet sich, wenn man ihr Verhältnis zum ‚Anfang‘ als einer Reflexionsfigur untersucht ; denn zu den utopischen Ansätzen des 48 So bereits in : Manfred Frank, Das Problem ‚Zeit‘ in der deutschen Romantik, München 1972, bes. S. 130–232 ; ders. mit Gerhard Kurz, Ordo inversus. Zu einer Reflexionsfigur bei Novalis, Hölderlin, Kleist und Kafka. In : Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel. Hg. v. A. Anton, B. Gajek und P. Pfaff, Heidelberg 1977, S. 77–97 ; ders., Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt am Main 1989, bes. Die 15. Vorlesung, S. 248–261. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Jeremy Adler, Organist of the Soul. Novalis the arch-Romantic but also the forerunner of Wittgenstein and Proust. In : Times Literary Supplement v. 13. Oktober 2000, S. 3 u. 4.
„Schwer verläßt, / Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort“
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Denkens an den Schnittstellen oder besser : Überlappungen von Spätaufklärung, Idealismus und Frühromantik gehörte jenes stark von Rousseau beeinflusste Interesse am Uranfänglichen in der Kultur. So schrieb Novalis nach der Lektüre von Robinson Crusoe seinem Bruder, dass dieses Werk das „Handbuch des klugen Mannes“ sein solle ; denn man könne nicht oft genug wiederholen, dass „wir alle mehr oder weniger Kinder“ seien und daher die Pädagogik „den ganzen Umfang des menschlichen Wissens und Strebens“ umfassen solle. Dem folgt der Zusatz : „Man kann oft von einem Kinde lernen, was man bei Nationen brauchen kann.“49 Bereits zwei Jahre zuvor hatte er sich vorzustellen versucht, wie es wäre, wenn er sich als ein neuer James Cook „triumphierend mit neuen Entdeckungen und verehrt von unkultivierten Menschen als Stifter ihrer Cultur und Aufklärung“ auf einer Weltumsegelung befinde (I, 536 f.). Dieser Denkbewegung in Richtung Uranfängliches entspricht noch in einem auf Zukunft gestimmten Brief vom Februar 1799 das Projekt, seinen geographischen Erfahrungshorizont zu erweitern ; immerhin konnte er sich in diesem Brief vorstellen, durch Reisen zu den polaren Regionen Norwegens und Schottlands einerseits und den griechischen Inseln andererseits vermittels einer Handelsmission seine „historische und philosophische Sehnsucht zu befriedigen.“ (I, 691). Reale und imaginierte Räume waren in Novalis’ Schaffen inzwischen zum Ort umfassender Mythisierungen geworden, namentlich in seinem fragmentarischen ‚Naturroman‘ Die Lehrlinge zu Sais, wie überhaupt durch die von Goethes Wilhelm Meister und Schlegels Lucinde angeregte Hinwendung zum romanhaften Erzählen ; galt ihm doch jetzt der Roman als die „Mythologie der Geschichte“ (II, 830). Das Mythologische begriff Novalis als Erzähler der Lehrlinge zu Sais in seiner instrumentellen Funktion, nämlich als Darstellungsmedium für das Uranfängliche : „Noch früher findet man statt wissenschaftlicher Erklärungen, Mährchen und Gedichte voll merkwürdiger bildlicher Züge, Menschen, Götter und Thiere als gemeinschaftliche Werkmeister, und hört auf die natürlichste Art die Entstehung der Welt beschreiben.“ (I, 206) Zum romantischen Projekt wurde nun die Verbindung von ‚wissenschaftlicher Erklärung‘ und mythologischem ‚Mährchen‘-Erzählen, von ausgeführter ‚Erwartung‘ und skizzierter ‚Erfüllung‘, um die beiden Teile des Ofterdingen auch als programmatische Vorgaben zu verstehen, wobei man es beinahe als konsequent bezeichnen kann, dass Heinrich von Ofterdingens ‚Erfüllung‘ nicht wirklich zur Ausführung kam ; ihre Ausarbeitung hätte den Sehnsuchtscharakter dieses Erzählprojekts gestört. 49 Brief an den Bruder Erasmus, Wittenberg Anfang 1793 (I, 536 f.).
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Magie der Ursprünge Für Novalis hatte dieses Projekt zumindest im Rahmen des ‚Naturromans‘ einen ebenso konkreten wie paradoxen Sinn, die „Zerspaltungen in unserem Inneren“ zwischen Anschauung und Reflexion aufheben zu helfen (I, 205). Entstanden seien sie durch die Benennung der „mannichfachen Gegenstände“ der Sinne. Paradox ist an diesem Projekt, dass es den Gebrauch jener Begriffe voraussetzt, welche diese ‚Zerspaltungen‘ des Bewusstseins angeblich verursacht oder zumindest befördert haben. Von einer prinzipiellen Hoffung hängt das Gelingen dieses Projekts ab : Vielleicht ist es nur krankhafte Anlage der späteren Menschen, wenn sie das Vermögen verlieren, diese zerstreuten Farben ihres Geistes wieder zu mischen und nach Belieben den alten einfachen Naturzustand herzustellen, oder neue, mannigfaltige Verbindungen unter ihnen zu bewirken (I, 205).
Mischen oder ineinander übersetzen – was hier gefordert ist, könnte man die freie Konvertibilität des poetischen Materials (zunächst also der sinnlichen Eindrücke und der auf sie folgenden begrifflichen Konkretisierung oder Kristallisierung) nennen ; und sie liefe letztlich auf ein „freies Übersetzen“ (II, 326) hinaus. Das ‚Ineinander‘ – man bräuchte ohnehin Sachregister für besondere Präpositionen in bestimmten Werkausgaben ! – dieses Wort für wechselseitige Verschränkungen vermittelt bei Novalis zwischen geistiger Erfahrung und wissenschaftlicher Einsicht – etwa im Falle des ‚Ineinander-Übergehens‘ bei chemischen Prozessen (II, 606 f.). Beim Übersetzungsvorgang kann dieses ‚Ineinander‘ von fremdem und eigenem Wort seinerseits „mythische“ Qualität annehmen. So unterscheidet Novalis zwischen „grammatischer, verändernder und mythischer Übersetzung“ (II, 252 ff.), wobei letztere die Übertragung aus dem Uranfänglichen in die Sprachbilderwelt der Mythologien meint. Bevor Novalis jedoch dazu aufrufen konnte, die Welt zu romantisieren, musste er sich mit dem „Fichtisierten“ Denken auseinandersetzen und mit der Frage, in welchem ursprünglichen Verhältnis „Seyn“, Ich und „Bewußtseyn“ in dieser Art Denken standen, und wie er sich selbst dazu stellen sollte. Die Fichte-Studien (1795/96) gehen von der prinzipiellen Unterscheidung zwischen dem unvordenklich Vorhandenen und dem Gesetzten aus. Dabei drängte sich Novalis schon bald die Frage auf, ob nicht Fichte „zu willkührlich alles ins Ich hineingelegt“ habe (II, 12) ; denn die Denkrichtung „aller Filosofie“
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müsse auf das ganze „Seyn“ gehen (II, 11). Durch das Ich und sein Wissen, so lässt sich Novalis Ansatz deuten, werde das „Seyn“ sich seiner selbst bewusst, und „Bewußtseyn“ entsteht. Das wiederum bedeutet, dass nur über den Anfang des Bewusstseins etwas ausgesagt werden kann, das auf authentischer Erfahrung beruht, nicht aber über das „Seyn“ an sich. Weiter fragt Novalis nach der Natur des Bewusstseins und kommt dabei auf die zentrale Funktion der Reflexion zu sprechen ; er versteht sie primär als eine Spiegelung, als ein Auf-sich-selbst-Zurückgehen des „Seyns“, wodurch sich Bewusstsein erzeuge.50 Andererseits behauptet er aber, dass „die Filosofie ursprünglich ein Gefühl“ gewesen sei, wobei er dann in Absetzung von Fichte die „Einheit des Gefühls und der Reflexion“ als „Urhandlung“ bezeichnet. Novalis sieht diese „Urhandlung“ durch „Triebe“ in der „intellectualen Anschauung“ aktiviert (II, 25), und es ist dieser Punkt, an dem sich (auch) das Poetische entzündet. Die Frage stellt sich freilich, ob ‚das Poetische‘ seinerseits Unanfänglichkeit beanspruchen könne, weil sich im poetischen Bild die „Einheit von Gefühl und Reflexion“ ausspreche, oder ob das Poetische immer schon ein (sprachlich) Vermitteltes sei. In seinen Skizzen aus dem Jahre 1798 findet sich Novalis’ Bemerkung, dass die Philosophie die „Theorie der Poesie“ darstelle und zeige, dass diese „Eins und alles sey“ (II, 380) – aber auch ein Erstes oder ‚Unvordenkliches‘ ? Anders gefragt, welches „Seyn“ hat die Poesie ? Oder ist sie nicht erst im Stadium des BewußtSeyns möglich ? „Der Liebe Reich ist aufgethan / Die Fabel fängt zu spinnen an. / Das Urspiel jeder Natur beginnt / Auf kräftige Worte jedes sinnt“, so heißt es im klösterlichen‘ Vorhof‘ oder Vorspiel zum zweiten Teil des Ofterdingen (I, 366). Das Uranfängliche präsentiert sich hier als ‚Spiel‘ mit „kräftigen Worten“, als poetisches Ereignis, das aus sich heraus Neues generiert. Schon Novalis’ frühen poetischen Versuche zeugen von seinem Interesse am Urbeginn und dessen poetischer Darstellung. In seinem an Schillers Gedichten Die Götter Griechenlands (1788) und Die Künstler (1789) orientierten Gesang Geschichte der Poesie (gleichfalls 1789) deutet er den Anfang der Dichtung als Nachahmung der Ureinheit von göttlichem Schöpfungsakt und der sich danach selbst in verschiedensten Formen offenbarenden Natur. Während Schillers große philosophische Gedichte bereits vom Ende der ‚naiven‘ Schönheit ausgehen („Schöne Welt, wo bist du ?“51), beziehungsweise von ihrer erkenntnispraktischen Instru50 Vgl. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, a.a.O., S. 253 f. 51 Die Götter Griechenlands (I, 172).
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mentalisierung wissen („Nur durch das Morgentor des Schönen / Drangst du in der Erkentnis Land“52), klammert Novalis diese zentralen Thesen aus und konzentriert sich allein auf die Geburt des ersten Liedes aus dem Mythos, wobei er diese ‚Geburt‘ ihrerseits als rein mythologisches Ereignis mit poetologischen Folgen feiert. Der mehr gefühlte als geahnte Logos des Mythos, des Ontischen und Poetischen antizipiert dabei die von Novalis später, wie gesehen, konstatierte Einheit von Gefühl und Reflexion. Verfehlt wäre es, zu behaupten, dass Novalis eine in sich schlüssige Theorie des Anfangs oder Ursprungs entworfen habe oder im Begriff gewesen sei, eine solche zu entwickeln. Charakteristisch für sein philosophisches Verfahren war das explorative Notat. Die Fülle und Disparatheit seiner Studien erforderten, dass er alles das, was über das Vermerken von empirischen Befunden hinausging, im Stadium des Angedacht-Seins beließ. Das ‚Andenken‘ bei Novalis ist nicht eine Variante der ‚memoria‘ (wie bei Hölderlin), sondern Prinzip seiner intellektuellen Methode. In seinen Aufzeichnungen treffen konstatierter Sachverhalt und wertender Gedankenblitz unvermittelt aufeinander. Diese Notate (auch in Gestalt unbeantworteter Fragen) repräsentieren ihrerseits Anfänge oder (wiederholte) Anläufe zur schlaglichtartigen Auseinandersetzung mit einem bestimmten Themenkomplex. Vielfach greifen solche Notate das Motiv des Anfangens auf : Aller wircklicher Anfang ist ein 2ter Moment. Alles was da ist, erscheint, ist und erscheint nur unter einer Voraussetzung – Sein individueller Grund, sein absolutes Selbst geht ihm voraus – muß wenigstens vor ihm gedacht werden. Ich muß allem etwas absolutes Vorausdenken – voraussetzen – Nicht auch Nachdenken, Nachsetzen ? / Vorurtheil. Vorsatz. Vorempfindung. Vorbild. Vor Fantasie. Project (II, 380 ; Hervorh. i. Orig.).
In dieser Reflexion wirkt das Kantische a priori nach, das einen authentischen Anfang zu beeinträchtigen scheint. Was Novalis hier betont, ist die Tatsache, dass kein vom Ich gemachter Anfang als ein Beginn ex nihilo gedacht werden könne. Wenn dagegen Novalis vom Ursprung spricht, bezieht er sich nicht auf ein „absolut Vorausdenkendes“, was den Schluss zulässt, dass für ihn der Ursprung und das Vorausgesetzte identisch waren. Differenziertere Überlegungen zum ‚Anfang‘ stellte Novalis in seinen „Materialien zur Enzyklopädistik“ 1798/99 an, dem Allgemeinen Brouillon. Unter dem Stichwort „Phil[osophie]“ findet sich folgender Eintrag : 52 Die Künstler (I, 174).
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Der Anfang des Ich ist blos idealisch. – Wenn es angefangen hätte, so hätte es so anfangen müssen. Der Anfang ist schon ein späterer Begr[iff ]. Der Anfang entsteht später, als das Ich, darum kann das Ich nicht angefangen haben. Wir sehn daraus, dass wir hier im Gebiet der Kunst sind – aber diese künstliche Supposition ist die Grundlage einer ächten Wissenschaft die allemahl aus künstlichen Factis entspringt. Das Ich soll construirt werden. Der Philosoph bereitet, schafft künstliche Elemente und geht so an die Construction. Die Naturgeschichte des Ich ist dieses nicht – Ich ist kein Naturproduct – keine Natur – kein historisches Wesen – sondern ein artistisches – eine Kunst – ein Kunstwerck (II, 485).
Das bedeutet auch, dass der oben zitierte Satz : „Ich muß allem etwas absolutes Vorausdenken“ sich auf das Ich selbst bezieht. Das Ich, das Novalis nun in Absetzung von Fichte als etwas „artistisch Konstruiertes“ versteht, geht demnach allem Anfang voraus und kann damit seinerseits nicht Anfang sein, aber auch kein Ursprung ; denn das Ursprüngliche zeichnet sich ja gerade nicht durch ‚artistische‘ Konstruktion aus. Mit dieser These, dass das Ich aus „künstlichen [hier auch im Sinne von künstlerischen] Elementen“ zusammengesetzt sei, relativierte Novalis die Tendenz Fichtes, das Ich zu verabsolutieren. Diese Zusammengesetztheit des Ichs, genauer : die disparaten Elemente, aus denen der Philosoph sein ‚Ich‘ und damit sein Verständnis von Subjektivität entwirft, ermöglicht es diesem ‚synthetischen‘ Ich, seinerseits Divergentestes zu beginnen – etwa den „ächten Anfang der NaturPoesie“ oder den zweiten Anfang der reinen (oder eben nur ‚bloßen‘) „KunstPoesie“, den Novalis in seinen „Poeticismen“ bereits ein ‚Ende‘ nennt (II, 325). Alpha und Omega Die Verschränkung von Anfang und Ende hatte Novalis schon im Blüthenstaub thematisiert, wo es heißt : „ Leben ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des Todes willen. Der Tod ist Endigung und Anfang zugleich.“ (II, 230 f.) Diese quasi existentielle Sicht des Anfangs sieht sich in seinen Aufzeichnungen überlagert von mythologisch-religiösen Bestimmungsversuchen des Anfänglichen. So hält er den Anfang prinzipiell für das „Unbekannte, Geheimnißvolle“ (II, 536) oder bezieht es auf das Buch der Bücher :
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Anfang einer neuen Periode : Jedes Menschen Geschichte soll eine Bibel seyn – wird eine Bibel seyn. Xstus ist der neue Adam. Begr[iff ] der Wiedergeburt. Eine Bibel ist die höchste Aufgabe der Schriftstellerey (II, 556).
Und unter dem Stichwort ‚Enc[yclopaedistik]‘ heißt es : Mit dem bloßen Stoff den Anfang in der Philos[ophie] der Wissenschaften zu machen ist eben so einseitig und antinomisch und unkritisch, als mit der bloßen Bewegung anzufangen. Mit dem Menschen anzufangen ist schon kritischer – mit dem idealischen Menschen d.h. mit dem Genius anzufangen noch kritischer – mit Gott anzufangen – ein Maximum der Kritik (II, 579).
Verbunden mit einem geschichtlichen Moment, dem der Reformation nämlich, gewinnen Novalis’ Überlegungen zur Problematik des Anfangs eine sakral-ästhetische Dimension : Daher zeigt uns auch die Geschichte des Protestantismus keine herrlichen großen Erscheinungen des Ueberirdischen mehr, nur sein Anfang glänzt durch ein vorübergehendes Feuer des Himmels, bald nachher ist schon die Vertrocknung des heiligen Sinns bemerklich ; das Weltliche hat die Oberhand gewonnen, der Kunstsinn leidet sympathetisch mit […] (II, 738).
Was für die Anfänge des Protestantismus gilt, trifft für Anfänge anderer Art gleichfalls zu : Die eigentliche Schwierigkeit besteht nicht nur im Finden des richtigen, ‚zündenden‘ Anfangs, sondern ebenso darin, das inspiriert Ursprüngliche oder ‚Feuer‘ der Begeisterung auch in der Folgezeit bei der Verarbeitung und Weiterführung der Anfänge zu erhalten, weiter anzureichern, gar zu steigern. Novalis impliziert, dass sich im Prozess der Säkularisierung dieses ‚Feuer‘ verliert. Man gewinnt den sehr bestimmten Eindruck, dass Novalis allein durch die ständig wieder aufgenommene Reflexion der Thematik des Anfangs dieses „Feuer des Himmels“ schüren wollte. Er unternimmt wieder und wieder neue Anfänge, um dem Problem ‚Anfang‘ beizukommen, was bedeutet, dass er dadurch den Umgang mit Anfängen (sich selbst) immer neu vorführt. In diesem Sinne wäre auch ein weiterer Bestimmungsversuch zu werten, der jedoch die theologische Dimension hinter sich lässt :
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Jeder Anfang ist ein Actus d[er] Freyheit – eine Wahl – Construction eines abs[oluten] Anfangs (II, 645).
Anfänge als Manifestationen der Wahl-Freiheit – diese These ignoriert bewusst die Bedingungen und Voraussetzungen, unter denen ‚Anfänge‘ überhaupt erst möglich werden. Aber den Grund für diese Vernachlässigung der Kontexte nennt Novalis auch ; geht es ihm doch (scheinbar) um den „absoluten Anfang“, den Anfang der Anfänge, das Urbild des Beginnens, wobei er dieses notwendig für eine „Construction“ hält. Damit schließt er an seine Überlegung zur Natur des Ichs an ; sollte doch, wie gesehen, das „Ich construirt“ werden. Dieses (philosophisch) konstruierte Ich konstruiert nun seinerseits, wie es scheint, den „absoluten Anfang“. Arbeit am Anfang Das Scheinen sei hier betont ; denn Novalis gibt gleichfalls im Allgemeinen Brouil lon zu bedenken, dass die Arbeit am Anfang, er sieht in ihr überraschenderweise einen „unphilosophischen oder halbphilosophischen Zweck“ (II, 622), „zu allen Irrthümern“ führe und fragt daher entsprechend radikal : „Wozu überhaupt ein Anfang ?“ (ebd.) In einem Brief vom 26. Dezember 1798 nennt er seine Reflexionen im Brouillon (er spricht von : „abgerissenen Gedanken“) „Anfänge interessanter Gedankenfolgen“ und behauptet : „Viele sind Spielmarken und haben nur einen transitorischen Werth. Manchen hingegen hab ich das Gepräge meiner innigsten Ueberzeugung aufzudrücken gesucht.“ (I, 680) Dass Anfängen eine transitorische Qualität zukomme, widerspricht nun prinzipiell dem Anspruch, einen absoluten Anfang konstruieren zu können, wenn sich auch, wie man einräumen muss, das Briefzitat auf die Form der eben nur ‚anfänglichen‘ Reflexionen bezieht. Die Frage stellt sich jedoch, ob sich mit (oder aus) solchen ‚Anfänglichkeiten‘ paradoxerweise doch ein ‚absoluter Anfang‘ herstellen lasse, ein synthetischer Beginn eines synthetischen Ichs. Unter den Bedingungen des Synthetisierens scheint eine Mythisierung des Anbeginns überflüssig ; und es zeigt sich tatsächlich – nicht nur im Falle der Art der Darstellung oder Reflexion des Anfangs – dass Novalis durch diese ‚abgerissenen Gedanken‘ eine Entmythisierung seiner Vorstellungen angestrebt haben könnte, eine Gegenbewegung also zu dem, was er in seinen poetischen Texten vorführte. Dichtend kann er sich der uranfänglichen „Vorzeit“ in mythologischer
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Metaphernsprache zuwenden (Hymnen an die Nacht) oder zu Beginn der Lehrlinge zu Sais nach den Urzeichen fragen, in den ‚Chiffren‘ Mythologeme sehen und in den Klängen der Ursprache einen geheimnisvollen „Accord aus des Weltalls Symphonie“ vernehmen. Unter dieser poetischen Voraussetzung gerät dem die Natur und deren Geheimnis erkundenden Ich jede Einsicht über die ‚Natur der Natur‘ zu einem selbstreferentiellen Erlebnis („Mich führt alles in mich selbst zurück.“ I, 203) ganz im Sinne der Grundkonzeption der Lehrlinge, dass, wer den Schleier der Göttin zu Sais lüfte, das „Wunder des Wunders“, nämlich „Sich selbst“ sehe (I, 234). Die Frage nach dem Anfang versteht sich im Grunde als eine praephysische Frage, obzwar sie meist im Kontext metaphysischer Entwürfe abgehandelt wird ; so auch bei Heidegger. In seiner Einführung in die Metaphysik geht er auf die Problematik des Anfangs in einer Weise ein, die dem romantischen Anliegen eine Wendung ins Archaische gibt und in der archaischen Dimension des (Ur-)Beginns eine romantische Mytho-Ontologie zumindest nicht ausschließt : Der Anfang ist das Unheimlichste und Gewaltigste. Was nachkommt, ist nicht Entwicklung, sondern Verflachung als bloße Verbreiterung, ist Nichtinnehaltenkönnen des Anfangs, ist Verharmlosung und Übertreibung des Anfangs zur Missgestalt des Großen im Sinne der rein zahlen- und mengenhaften Größe und Ausdehnung. […] Die Unerklärbarkeit dieses Anfangs ist kein Mangel und kein Versagen unserer Erkenntnis der Geschichte. Im Verstehen des Geheimnischarakters dieses Anfangs liegt vielmehr die Echtheit und Größe geschichtlichen Erkennens. Wissen von einer Ur-geschichte ist nicht Aufstöbern des Primitiven und Sammeln von Knochen. Es ist weder halbe noch ganze Naturwissenschaft, sondern, wenn es überhaupt etwas ist, Mythologie.53
Im Rahmen der Einführung steht diese Aussage Heideggers im Zusammenhang mit seiner These vom Grund. Der (anfängliche) Grund könne für Künftiges wahrhaft grundlegend oder „gründend“ – im Sinne des Hölderlinschen ‚stiftend“ sein oder sich als abgründig erweisen und daher als nicht tragfähig.54 Hölderlins variantenreiche Auseinandersetzung mit dem Anfänglichen, Ursprünglichen reicht von Reflexionen über die „Ur-Teilung“ bis zu seiner Übersetzung des Wortes αρχη mit ‚Uranfang‘ (statt, wie an dieser Stelle richtig, ‚Herr53 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik. 5. durchges. Aufl. Tübingen 1987, S. 119. 54 Ebd., S. 2.
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schaft‘ oder ‚Herrscherrechte‘ ; II, 888. V. 773) in seiner Version der Antigonae. Seine eigentlich poetische Gestalt erhielt es jedoch durch die Wortprägung des „Reinentsprungenen“ in der Hymne Der Rhein (I, 329. V. 46). Doch wenden wir uns zunächst dem ‚Urteil‘ zu, zudem sich bei diesem Begriffsfall auch unmittelbare Vergleiche zu Novalis ergeben. ‚Urteil‘ definiert Hölderlin in seiner Skizze von 1795 (Urteil und Sein55) als eine „Ur-Teilung“, wodurch „erst Objekt und Subjekt möglich wird“ (II,502), nicht als Spaltung, sondern Differenzierung und Voraussetzung für jegliche Unterscheidung. Ohne ‚Ur-Teilung‘ keine Erkenntnis. Wichtig ist, dass Hölderlin diese Differenzierung auch in das Ich hineinnimmt und zur Wesensbestimmung des Selbstbewusstseins heranzieht und behauptet, dass das „Ich nur durch diese Trennung des Ichs vom Ich möglich ist“ (II, 503). Hölderlins These lautet, dass von Selbstbewusstsein nur dann die Rede sein könne, wenn „ich mich mir selbst entgegensetze, mich von mir selbst trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesetzten als dasselbe erkenne.“ (II, 503) Dieser Selbsterkenntnisprozess führt demnach nicht zur Selbstentfremdung, sondern stärkt das Ichempfinden. Hölderlin auf dem Weg zum „Reinentsprungenen“ Mit diesem Ansatz, der das Differenzieren als grundlegende Denkform etablieren will, hatte Hölderlin bereits jene Formel vorweggenommen, die der Erzähler des Hyperion zwei Jahre später als „göttliche“ Urformel ontologischen Denkens feiern wird, nämlich Heraklits εν διαφρον εαυτω, das Eine in sich selbst unterschiedene (II, 94). Im Hyperion steht dieses differenzierende Prinzip jedoch bereits in einem eindeutig ästhetischen Kontext („das Ideal der Schönheit der strebenden Vernunft“), wogegen in Urteil und Sein dieses Prinzip der notwendigen Selbstentgegensetzung, die (noch) nicht, wie in Hölderlins späterem Wortgebrauch, „harmonisch“ zu sein braucht, sondern auch ‚kritisch‘ sein kann, auf die Grundlegung einer Fundamentalontologie zielt. Hölderlin zieht daraus in einem anderen, wohl vier Jahre später entstandenen Entwurf (Der Gesichtspunkt aus dem wir das Altertum anzusehen haben) eine kulturphilosophische, aber auch produktionsästhetische Konsequenz. Das Auffinden 55 Dazu eingehend Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795). Stuttgart 1992. Darin auch das Faksimile des zweiseitigen Entwurfs (S. 854 f.).
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des Ursprünglichen sei für den „zur Kunst geborenen Menschen“ deswegen so wichtig, weil er sich lieber mit dem „Rohen, Ungelehrten, Kindlichen“ befasse, mit dem bildbaren und weniger mit dem bereits gebildeten Stoff. […] wir träumen von Originalität und Selbstständigkeit, wir glauben lauter Neues zu sagen, und alles dies ist doch Reaktion, gleichsam eine milde Rache gegen die Knechtschaft, womit wir uns verhalten haben gegen das Altertum ; es scheint wirklich fast keine andere Wahl offen zu sein, erdrückt zu werden von Angenommenem, und Positivem, oder, mit gewaltsamer Anmaßung, sich gegen alles erlernte, gegebene, positive, als lebendige Kraft entgegenzusetzen (II, 507).
Auch hier geht es um Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung durch Abgrenzung oder Emanzipation vom klassischen Altertum. Ob die erstrebte „Selbständigkeit“ Traum bleibt oder verwirklicht werden kann, hängt in erster Linie davon ab, ob es dem Künstler gelingt, zum Uranfänglich-Archaischen vorzudringen. Auch Novalis’ Denken kreiste immer wieder um die Gegenüberstellung von antik und modern, wobei er die Frage nach Originalität und „Genie“ vor allem mit der Qualität des Urteils und des Urteilens verband. Im Brouillon stellte er eine regelrechte Hierarchie der Urteile auf, wobei er die „synthetischen Urtheile“ als „genialisch“ bezeichnete, nicht dagegen die „antinomischen“, von der Entgegensetzung ausgehenden (II, 568). Er spricht dabei von einer „ächten Scheidungslehre“, die seiner Auffassung nach „einer ächten Verbindungslehre – einer höheren Analytik und Synthetik zugleich“ entsprach (ebd.). Da er Scheiden und Verbinden in einem Entsprechungsverhältnis sah, stellt sich die Frage, was das Verbinden im Scheiden ermöglicht, und was das Scheiden im Verbinden. Nicht Novalis beantwortete diese Frage, sondern Hölderlin, und zwar mit seinem Versuch Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes. Scheiden und Verbinden können laut Hölderlin kraft der „schöpferischen Reflexion“ ineinander übergehen. Das „Produkt“ dieser Reflexion sei die (dichterische) Sprache (II, 551). Hölderlin argumentiert, dass es auf jeder Bewusstseinsstufe zu neuer Reflexion komme und damit auch zu einer je spezifischen Form des dichterischen Sprechens, die das „ursprüngliche“ Empfinden des Dichters und die „vergeistigende Kunst“ umfasse (II, 551). Dabei betont er, dass es sich bei dieser Sprache um die „Sprache der Kunst“ handele, was sich auch als genetivus subjectivus verstehen lässt : Der Dichter erweist sich als Agent der Kunst ; sie spricht durch ihn. Worauf diese Verfahrungsweise des poetischen Geistes hinarbeitet, ist die „unendlich schöne Reflexion“ : Der Modus der Reflexion kann auf diese Weise auch zu ihrem Inhalt
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werden. Damit ging Hölderlin, von einer mit Novalis „frappierend übereinstimmenden“ philosophischen Position56 herkommend, einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung auf eine ästhetisch-poetische Reflexion, welche die Einheit von „Analytik“ und „Synthetik“ – ganz im Sinne von Novalis – nicht nur vorführte, sondern zu sein behaupten konnte. Von ‚Sprache‘ handelt der letzte Teil des Fragments über die Verfahrungsweise und vom Prinzip des Poetischen für Vermittlung57 ; sie ist Mittel und Akteur im poetischen Prozess. Durch sie ereignet sich auch eine Verbindung von Unmittelbarkeit (sinnlicher Anschauung) und (Selbst-)Deutung des Gesagten. Bevor diese komplexen Prozesse in Gang gesetzt worden sind, kann es nach Hölderlin keine bedeutende, von Werten erfüllte Form der poetischen Darstellung gehen. Daher fordert er zum Zeitpunkt der Verfahrungsweise auch keinen bloßen Rekurs auf die Anfangszustände in der Kultur. Denn während der „Kindheit des gewöhnlichen Lebens“ (II, 544) gab es, so Hölderlin, noch keine eigentliche Erkenntnis (also auch keine ‚schöne‘ Reflexion) und überdies auch keine oder nur stark begrenzte Freiheit. Diesen Gedanken nimmt Hölderlin im vorletzten seiner überlieferten Briefe an Friedrich Wilmans wieder auf, wobei er ihn ins Positive wendet. Spricht er doch davon, dass er sich freudig dem „Leser opfern“ wolle, um sich mit „ihm in die engen Schranken unserer noch kinderähnlichen Kultur zu begeben.“ (III, 470) Einen solchen Weg zum Leser hin begeht Hölderlin mit seinen „Nachtgesängen“. Mit diesen Dichtungen will er den Leser in seiner „noch kinderähnlichen Kultur“ aufsuchen, seinem Geschmack scheinbar entsprechen und dadurch vermeintlich auf ihn eingehen. Bekanntlich handelt es sich bei den „Nachtgesängen“ um sechs Oden (fünf alkäische und eine asklepiadeische) sowie drei freimetrische Gedichte : Chiron, Tränen („Sapphos Schwanengesang“), An die Hoffnung, Vulkan, Blödigkeit, Ganymed, Hälfte des Lebens, Lebensalter, Der Winkel von Hahrdt. Dem, was Hölderlin als einen quasi infantilen Bewusstseinszustand diagnostiziert hatte, begegnet er also mit ausgesprochen komplexen Dichtungen, die seinen Spätstil in extremer Weise offenbaren : „schroffe Satzfügungen, ungewöhnliche Wortstellungen, fremdartige Bilder.“58 Ein Charakteristikum dieses Spätstils besteht in einer 56 Vgl. Frank/Kurz, Ordo inversus, a.a.O., S. 80. 57 Dazu Gerhard Kurz, Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin. Stuttgart 1975 ; Fred Lönker, Welt in der Welt. Eine Untersuchung zu Hölderlins ‚Verfahrungsweise des poetischen Geistes‘. Göttingen 1989. 58 So Jochen Schmidt in seinem Überblickskommentar zu den „Nachtgesängen“. In : III, 795. Zur Interpretation der Gedichte grundlegend : Ders., Hölderlins später Widerruf in den Oden „Chiron“, „Blödigkeit“ und „Ganymed“, Tübingen 1978. Zu den nicht-odischen Gedichten vgl. vor allem :
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gewissermaßen ‚avantgardistischen‘ Verwendung sprachlicher Archaismen ; das heißt, Hölderlin gebraucht sprachlich uranfänglich klingende Mythologeme, um sie die Erfahrung seiner Zeit anzureichern. Die Oden unter den „Nachtgesängen“ gelten Urworten oder mythologischen Urmotiven : Chiron entwirft eine Mythologie der Reflexion ; Tränen besteht aus einem sapphischen Gesang auf die Liebe, gefolgt von einem Gesang, der die Hoffnung preist aus Furcht davor, sie verlieren zu können ; daran schließt sich ein chtontisches Urwort an über den Vulkan und die durch ihn wirkende uranfängliche Kraft ; Blödigkeit im Sinne von Ängstlichkeit, Verzagtheit bildet das Gegenstück zur Hoffnungsode ; und Ganymed besingt die Erinnerung an den Ursprung : Der Strom, einst in den Bergeshöhen, wo er entspringt, durch Eis gefesselt, erinnert sich an seinen Wahlverwandten Ganymed, den Mundschenk der Götter und Urenkel des Okeanos und der Thetis, den schönsten unter den Sterblichen, den Zeus einst vom Gipfel des Idagebirges rauben ließ. Die Beschwörung des (Ur-)Anfänglichen schließt zumeist das Konstatieren eines Verlustes ein. In den Oden Chiron und An die Hoffnung geschieht dies in Form einer Frage : „Wo bist du ?“ Diese Frage richtet sich zum einen auf das „Nachdenkliche“, zum anderen auf die Hoffnung selbst. Man kann sie als unmittelbares Echo der Schlüsselfrage in Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands verstehen : „Schöne Welt, wo bist du ? – Kehre wieder, / Holdes Blütenalter der Natur.“ (I, 167) Man weiß, wie die erste, weitaus radikalere Fassung des Gedichts diese Frage beantwortet : Mit der Feststellung nämlich, dass die Götter sich auf Kosten der Menschen zurückgezogen und in Sicherheit gebracht und dabei „alles Schöne / Alles Hohe“ mit sich fort genommen haben. Dem Menschen bleibe in dieser hoffnungslosen Lage nur noch das „entseelte Wort“ (I, 173). Anders Hölderlin. Er setzt besonders in seinen geschichtsphilosophischen Hymnen auf einen Neuentwurf der ursprünglichen Lebens- und Daseinseinheit in der Zukunft durch die Neukonstituierung des Schönen und eine ästhetischpoetisch wirksame Reflexion.59 Diese Bewegung vom Uranfänglichen zum HeuWolfgang Binder, Friedrich Hölderlin „Der Winkel von Hardt“, „Lebensalter“, „Hälfte des Lebens“. In : Ders., Hölderlin-Aufsätze, Frankfurt am Main 1970, S. 350–361 ; Karl Eibl, Der Blick hinter den Spiegel, Sinnbild und gedankliche Bewegung in Hölderlins ‚Hälfte des Lebens‘. In : Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 222–234. Eibl weist u.a. nach, dass die wechselnden Metren in „Hälfte des Lebens“ ein konstitutives Element der eigentümlichen Bewegung in diesem Gedicht bilden (ebd., S. 225). 59 Vgl. Eibl, Der Blick, a.a.O., S. 231 f.; umfassend dazu : Jochen Schmidt, Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen ‚Friedensfeier‘, ‚Der Einzige‘, ‚Patmos‘. Darmstadt 1990.
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tigen und Künftigen versinnbildlicht sich in Hölderlins Dichtungen um 1800 besonders in der Fluss-Metapher. Neckar, Rhein, Donau/Ister, Skamander, Indus und Garonne werden zu Bildern eines Bewusstseins des Fließens, wobei auch dieses Bewusstsein selbst ins Fließen geraten kann. Diese Flüsse bilden Grenzen, verbinden aber auch und strömen über (politisch-kulturelle) Grenzen hinweg. Der Fluss kann so in Hölderlins Dichtungen zum Ausfluss des Anfangs werden, aber auch der Kulturen selbst, deren Reichtum in den Augen des betrachtenden Ichs überfließt. Dies erweist sich deutlich im Fragment Am Quell der Donau, an dessen Beginn der Ursprung des Flusses mit einem Kunstakt, dem Orgelspiel, in eins gesetzt wird. Das Erfüllt-Sein von Kunst und das Erfüllen des Auftrags der Kunst steht am Ende des Fragments. Dieser Auftrag sollte eigentlich das Ich des Fragments veranlassen „zu bleiben […], denn noch manches ist zu singen, / Jetzt aber endiget, seligweinend, / Wie eine Sage der Liebe, / Mir der Gesang, und so auch ist er / Mir, mit Erröten, Erblassen / Von Anfang her gegangen. Doch Alles geht so.“ (I, 324) Der Auftrag (der Kunst) bleibt unerfüllt. Was sich dagegen ‚erfüllt‘, ist der Auftrag, der von der fließenden Bewegung des Flusses ausgeht und sich auf das Ich überträgt und seinen Wanderwillen nährt. Diese „Wanderung“ muss sich vollziehen, auch wenn das Gedicht zunächst feststellt : „Schwer verläßt, / Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort.“ (I, 324 f.) Denn an diesem ‚Ort‘ waltet eine Uranfänglichkeit, die der Wandernde anderswo zu verlieren droht. Deswegen aber wird er nach ihr suchen, wo immer er hinkommt. Wenn es ein mythopoetisches Bild des Anfangs bei Hölderlin gibt, dann findet es sich in der Hymne Der Rhein, und zwar in der vierten Strophe : Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn Wie du anfingst, wirst du bleiben, So viel auch wirket die Not, Und die Zucht, das meiste nämlich Vermag die Geburt, Und der Lichtstrahl, der Dem Neugebornen begegnet. (I, 329, V. 46–53)
Dass Hölderlin das Wort ‚reinentsprungen‘ in der Rhein-Hymne prägt und mit ‚Rätsel‘ allitierieren lässt, darf wohl als eines der ganz wenigen Momente in seiner Dichtung gelten, in denen Existentielles und ironischer Sprachwitz eine delikate
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Verbindung eingehen.60 Die Welt des „Reinentsprungenen“ existiert wie jene des „Heilignüchternen“ (in Hälfte des Lebens) nahezu „bewußtseinsunabhängig“.61 Wesentlich hier ist, dass selbst die Kunst, der „Gesang“ nicht dazu in der Lage sind, das Rätsel des Uranfänglichen zu entmythologisieren. Was Hölderlin hier entwirft, nimmt im Kern vorweg, was Goethe im ersten seiner im Jahre 1817 entstandenen Urworte („Daimon“) das „Gesetz, wonach du angetreten“62 nennen wird. Auch bei Goethe ist es das erste Licht, das dem Neugeborenen durch sie planetare Konstellation am Tage seiner Geburt leuchtet, das alle anderen ‚Aufklärungen‘ über sein Wesen überstrahlt. Was bei Hölderlin fehlt, dem Nicht-Morphologen fehlen muss, ist der Verweis auf die „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Bei ihm ist die ‚Form‘ der ‚Gesang‘, der, wie gesagt, keine eigentlich aufklärende Wirkung haben darf ; eher soll er den Eindruck des Rätselhaften der Existenz im Stadium ihres Anfangs verstärken. Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob sich Hölderlins eigener Gesang, die „Rhein“-Hymne etwa, an dieses Gebot hält, die sich ja auch als eine dezidiert zivilisationskritische Aufklärungshymne lesen lässt. Hierfür spricht allein der explizite Hinweis auf Rousseau (V. 139) und die in seinem Namen beklagte Naturentfremdung in der modernen Zivilisation. Der Bezug auf Rousseau ist jedoch vor allem sprachspezifisch, und zwar betrifft er „die Sprache der Reinesten“ (V. 146), womit die Sprache der Uranfänglichen (der Götter) gemeint sein kann oder die Sprache der „Reinentsprungenen“. In jedem Fall liegt der Bezug zu jenem Denker nahe, der sich besonders der Frage nach dem Ursprung der Sprachen angenommen hatte. Rousseaus Ansatz bestimmt die Sprache (wie auch die Musik) primär als eine Form, den menschlichen Empfindungen Ausdruck zu verschaffen.63 Gleichzeitig definiert Rousseau „la parole“ als erste soziale Institution, die jedoch noch um ihre ‚natürlichen‘ Ursprünge gewusst habe.64 60 Schmidt verweist jedoch auf die Pindar-Nähe dieser stilistischen Eigenart und sieht sie auch im Zusammenhang mit einem regelrechten „Ursprungskult“, der bis auf die Geniezeit und den „Quellgeist“ bei Lavater zurückgeht (in : Hölderlin I, 860 f.). 61 Vgl. Eibl, Der Blick, a.a.O., S. 231. 62 Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Erich Trunz. München 1988, Bd. 1, S. 359. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Goethe-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl) 63 „Comme les premiers motifs qui firent parler l’homme furent des passions, ses premières expressions furent des tropes.“ In : Jean-Jacques Rousseau, L’Origine des Langues. Introduction et notes par Angèle Kremer-Marietti. Paris 1974, S. 97. 64 Ebd., S. 87. Derrida interpretierte Rousseaus Ansatz in dem Sinne, dass er behauptete : „A l’origine il y a le chant.“ In : Jacques Derrida, De la grammatologie. Paris 1967, S. 280. Diese Deutung
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Hinter diesen Anschauungen steht die Vorstellung einer uranfänglichen Einheit, aus der Mannigfaltigkeit in ihrer zunächst reinen also nicht dialektischen Form ‚entspringt‘. Diese Mannigfaltigkeit geht dann in eine fortwährende Differenzierung über, die aber ihrerseits kulturstiftend wirkt. Wenn sich diese Differenzierungsabläufe jedoch zu weit vom Ursprünglichen entfernen, scheint es im Sinne der poetischen Kulturphilosophie Hölderlins zu einem Umschlag und einer zumindest partiellen Rückorientierung des Bewusstseins zu kommen : Der Mythos von der Ureinheit gewinnt wieder Bedeutung und wird zum idealisierten Maßstab der weiteren Kulturentwicklung. Die Mythopoetik des Anfangs bei Novalis und Hölderlin richtete sich dabei auf die Frage des Anfangenkönnens und damit auf die Möglichkeit eines Neuanfangs angesichts der von beiden wahrgenommenen Phase der fremd- und selbstverschuldeten politischen Unmündigkeit der deutschsprachigen Kultur um 1800. Dabei erwies sich der Rekurs auf griechische Mythenbilder bei Hölderlin als probate Entsprechung zur christlichen Mythologie, die wiederum Novalis favorisierte. Anders als Hölderlin betrieb Novalis die Sakralisierung des Politischen, durch die er „Glauben“ und „Liebe“ zu den geistig-sinnlichen Anfängen des Handelns erklärte. Hölderlins Kulturprojekt schwankte zwischen einer Neufassung des „Nationellen“ als einer primär deutschen Konkretion des Politischen und einer transnationalen mythenbewussten Konzeption von Entwicklung. Novalis schien dagegen an einem teils wissenschaftlich, teils religiös gebundenen Identitätskonzept festzuhalten, in dessen Mittelpunkt die Bedeutung des Ich im Kulturprozess stand. Für beide erwies sich jedoch das Spannungsmoment zwischen entwicklungsbedingter Vielheit und idealtypischer (uranfänglicher) Einheit als zentrales Problem. Novalis erörterte dieses Problem wissenschaftsbewusster ; er vertraute der wissenschaftlichen Erkenntnis mehr als Hölderlin. Dieser wiederum entwarf seine Mythopoetik, indem er etwa den folgenden paradoxen Sachverhalte reflektierte und dichterisch gestaltete : Anders als Schiller in Die Götter Griechenlands sah Hölderlin die Gottheiten in ihrer Pluralität selbst in der neuen Zeit noch am Werke ; Hölderlin betont die Gleichzeitigkeit der pluralen Götterwelt und des scheint ‚hölderlingemäßer‘, wenn man die Bedeutung des ‚Gesangs‘ in seinem poetischen Vokabular bedenkt. Durch Rousseau erscheint diese Zuspitzung nicht unbedingt gedeckt, indirekt auch nur durch die Art, in der Hölderlin den französischen Philosophen in seiner Rhein-Hymne einführt : Zwar ist im Zusammenhang mit Rousseau auch vom „Weingott“ (Dionysos) und damit vom rauschhaften Gesang die Rede ; aber die „Sprache der Reinesten“ ist eben eine ‚reine‘ oder geläuterte Form der Entäußerung.
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Erster Teil : Präludierende Etüden
monotheistisch „Einzigen“, der sakrale (Christus) und profan-politische (Napoleon) Konnotationen haben kann. Sprachlich drückt sich diese Gleichzeitigkeit oder genauer : das Enthaltensein des Pluralen im Einen durch die Verwendung des unbestimmten Artikels in Verbindung mit ‚Gott‘ aus : ein Gott. Diese bekanntlich auch bei Goethe an zentralen Stellen vorkommende Wendung („… gab mir ein Gott zu sagen…“) ist noch in der Zeit von Hölderlins Entrücktheit nachweisbar, wie Zimmer in einem Brief an dessen Mutter vom 19. April 1812 überliefert („Die Linien des Lebens sind verschieden / Wie Wege sind, und wie der Berge Gränzen. / Was Hir wir sind, kann dort ein Gott ergänzen […]“, III, 671 f.). Es ist eine Zeit, in der Hölderlin zu verstärkter Bildung von Neologismen neigte, wie Wilhelm Waiblinger betonte (III, 712), zu sprachlicher Vielfalt, entsprungen aus dem sonst eher großen Schweigen oder blassen Lallen. Um jedoch die Gesamtbedeutung des mythopoetischen Verständnisses vom Anfänglichen im Werk Hölderlins annährend erfassen zu können, bedarf es des Hinweises darauf, dass sein eigenes Reflektieren mit dieser Frage begann, und zwar in seiner Magisterabhandlung aus dem Jahre 1790 über die Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen. Eine seiner Thesen lautet, dass die „Mythe vom Ursprung“ beiden Texten zugrunde liege und dass sie ihrerseits poetische Qualität dieser Mythe mit begründet hätten. Die Kernthese des jungen Hölderlin gilt dann dem Grundverhältnis von Analyse und Empfindung, von Ursprünglichkeit und ihrer (angemessenen) Versprachlichung : Wo wir zergliedern, wo wir deutliche Begriffe haben, empfinden wir schlechterdings nicht. Der Dichter will aber auf das Empfindungs- und Begehrungsvermögen wirken, oder welches einerlei ist, er hat Schönheit und Erhabenheit zum Zweck. Er muß also abstrakte Begriffe die ihrer Natur nach mehr zur Zergliederung, zur Auflösung in deutliche Begriffe reizen, so darstellen, dass sie klare Begriffe oder Total-Vorstellungen werden, das ist, er muß sie versinnlichen. Und dies ist das Werk der Personifikation abstrakter Begriffe. Die Personifikation abstrakter Begriffe aber war den Dichtern des Altertums weniger Zweck, als Notwendigkeit. Die Phantasie ist bei unkultivierten Völkern immer die erste Seelenkraft, die sich entwickelt. Daher alle Mythologien, Mythen, und Mysterien, daher die Personifikation abstrakter Begriffe (III, 467 f.).
Herder, auf den sich der junge Hölderlin seiner Magister-Schrift auch bezog, hatte 1769 angeregt, die Anfänge der griechischen Mythologie seefahrend zu lesen, und war wie später auch Karl Philipp Moritz von der Ortsgebundenheit der
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Mythen überzeugt.65 Hölderlins frühe Konzeption war vielversprechender, weil poesiegemäßer : Versinnlichung der abstrakten Begriffe durch ihre Personifikation eingedenk der ursprünglichen Phantasie. Doch weder er noch Novalis waren in ihrer Bemühung um mythopoetische Anfänglichkeit bereit gewesen, so weit zu gehen wie Friedrich Schlegel in seiner Rede über die Mythologie : Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter.66
Die von Schlegel geforderte Aufhebung der Vernunft zum Wohle der am heiligen Chaos orientierten Poesie schien Hölderlin und Novalis als Preis für die Uranfänglichkeit zu hoch, wobei sie wenn auch mit unterschiedlicher Intensität daran arbeiteten, die aufklärungsbedingte Vorrangstellung der Vernunft im intellektuellen Diskurs zu relativieren. Novalis’ wissenschaftlich-philosophische und Hölderlins primär poetische Projekte blieben jedoch gleichermaßen der Bemühung um das Anfängliche verpflichtet. So gleicht ihr Werk einem ebenso komplexen wie differenzierten Beschreibungs- und Deutungsversuch von verschiedenen „Lebenslinien“ zweier selbstkritisch bewusster Dichter, die beide glaubten, nahe mythischer Ursprünge „gewohnt“ zu haben.
65 Vgl. Karl Kerényi (Hg.), Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Wege der Forschung Bd. XX. Darmstadt 1982, S. 5. 66 In : Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie. In : Athenaeum, Bd. III. Berlin 1800. Nachdruck : Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1960, S. 103.
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Pluralektik – Kulturalektik am Beispiel von Friedrich Schlegels Versuch über Georg Forster
Wer in der Vielfalt der Kultur Bedingungen und Erscheinungsweisen kultureller Transfers untersucht, fragt stets auch nach der Übertragbarkeit kulturellen Bewusstseins von einem national – oder in der Sprache des späten 18. Jahrhunderts gesagt : nationell – geprägten Kontext auf den anderen. Bedenkt man jedoch in diesem Zusammenhang nationale Gegebenheiten oder kulturelle Vorgaben, dann kann nur in den seltensten Fällen von einer identischen Übertragung ausgegangen werden. In der Regel führten und führen dergleichen Transfers zu kulturellen Mischformen, Schnittmengen, wenn man so will, sich überlappenden Grenzbereichen, denen jedoch aufgrund ihrer inhaltlich exponierten oder exponierbaren Beschaffenheit ein gewisser Mittelpunktscharakter im kulturhistorischen Diskurs nicht abzusprechen ist. Transferfragen Ein zweiter Problembereich, der sich Untersuchungen über Kultur- und Wissenstransfers stellt, betrifft die Fragen : Was kommt andernorts unter welchen Bedingungen und mit welcher Verzögerung an ? Und welche potentiell das Wissen deformierende oder gar entwertende Wirkung geht von solchen Verzögerungen aus ? Wie bekommt der Qualität des Wissens ein Ortswechsel seiner Inhalte ? Darf von beliebiger Übertragbarkeit bestimmter Wissensformen ausgegangen werden ? Wie wissens- und kulturspezifisch ist das Gelingen des Projekts ‚Transfer‘ ? Und was sind die Maßstäbe solchen ‚Gelingens‘ ? Und eine weitere Frage : Inwieweit sind Transfers an bestimmte Individuen, man könnte sie Transferanten nennen, gebunden ? Gesichert ist zum Beispiel, dass die Entscheidung Alexander von Humboldts, im Jahre 1827 Paris zu verlassen und nach Berlin zu übersiedeln, einem „wahrhaft enzyklopädischen Wissenschaftstransfer nach Preußen gleichkam“ und wesentlich dazu beitragen sollte, dass sich das „wissenschaftliche Epizentrum“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert von Paris nach Berlin zu verschieben begann, wie Manfred Osten bemerkte.67 Zu den personengebundenen Transfers gehören des weiteren spezifische Über67 Vgl. seine Einführung zu Alexander von Humboldt : Über die Freiheit des Menschen. Frankfurt am Main und Leipzig 1999, S. 41.
Pluralektik – Kulturalektik am Beispiel von Friedrich Schlegels Versuch über Georg Forster
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setzungsleistungen. Anders verhält es sich, wenn von bestimmten kulturellen Tendenzen die Rede ist, für deren Beschreibung sich der Begriff ‚Transfer‘ weniger eignet ; hierfür ist der Terminus ‚Kulturwandel‘ weiterhin vorzuziehen. Denn ein Transfer ohne Wandel des transferierten Kultur- oder Gedankengutes bliebe funktionslos, weil im Wesentlichen nur als nicht integrierter Fremdkörper wahrnehmbar, und Transfer ohne Anverwandlung des Transferierten in der Zielkultur steril. Wiederum wäre zu unterscheiden zwischen intendiertem Transfer und einer sich ergebenden transfergleichen Übertragung oder Beeinflussung des Einen durch das Andere. Dass sich an den Rändern der jeweiligen Kulturformen die intensivsten Berührungen ereignen, man denke etwa an Mainz um 1793, dass der Grenzgang aber auch zu einer intellektuellen Existenzerfahrung werden kann, gewann gerade im späten 18. Jahrhundert an Bedeutung für jene jungen Dichter, die aktiv bemüht waren, ihren poetischen Erfahrungsraum zu erweitern. Das traf auf Wordsworth und Coleridge ebenso zu wie auf Hölderlin und den frühen Stendhal, der sein wohl entscheidendes Leseerlebnis in besagtem Jahre 1793 im Alter von zehn Jahren hatte, und zwar in Gestalt seiner kulturüberschreitenden Begegnung mit Cervantes’ Don Quijote. Der Fall des Henri Beyle ist im Sinne eines existentiell gewordenen ‚transfer culturel‘ ohnehin von besonderer Bedeutung, führte er doch zu einer regelrechten Namensübertragung : Der Geburtsort des von ihm bewunderten Winckelmann wurde zu seinem ‚nom de plume‘, zu einem ihm kulturell Wesentliches offenbarenden Pseudonym. Doch sei hier die Rede von einem Intellektuellen, der, wie Wolf Lepenies meint,68 von der prinzipiellen Übersetzbarkeit der Kulturen überzeugt gewesen war : Georg Forster, dem Mentor von Alexander von Humboldt. Als Reisender, Schreibender und Übersetzer lebte er Kulturanthropologie avant la lettre und das, was man heute unter kulturellem Transfer versteht. Und die Rede sei auch von der Wahrnehmung dieses, wenn man so sagen kann, interkulturellen Transferanten durch Friedrich Schlegel in dessen großem Versuch aus dem Jahre 1797 über Georg Forster mit dem nicht unmittelbar verständlichen Untertitel „Fragment einer Charakteristik der deutschen Klassiker“ (II, 78). Was er zunächst signalisiert und was bereits der erste Satz des Versuchs zeigt, ist Schlegels Bemühung, Forster als einen eindeutig deutschen Schriftsteller klassischer Dimensionen vorzustellen, auf die noch einzugehen sein wird. Tatsache ist, dass sich auch der Citoyen Georg 68 Wolf Lepenies, Des Schreibens ist zu viel, des Handelns ist zu wenig in der Welt. Anachronistische Gedanken zu Werk und Leben Georg Forsters. In : Neuer Zürcher Zeitung v. 8./9. Januar 1994, S. 65.
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Erster Teil : Präludierende Etüden
Forster, Deputierter des rheinisch-deutschen Nationalkonvents, als ein primär deutscher Schriftsteller verstanden hatte, mochte auch die Familie seines Vaters nordenglisch-schottischer Herkunft, und er selbst unter der polnischen Krone zur Welt gekommen sein. Gemeint war jedoch ein deutscher Schriftsteller eigenster Art, nämlich der vor Alexander von Humboldt meistgereiste, welterfahrenste homme de lettres : Vom Baltikum bis nach Feuerland, von London bis Tahiti : Sein Arkadien war Polynesien – im Gefolge des Vaters durchreiste er Russland und mit ihm, Reinhold Forster, durfte er sich James Cook bei dessen zweiter Weltumseglung 1777 anschließen, die ihn zum Autor machte. A Voyage around the World (deutsch 1778/80) zeigt den vierundzwanzigjährigen Forster bereits auf einem ersten Höhepunkt seiner polyglott geschulten Stilistik und scharfen Beobachtungsfähigkeit. Forster präsentierte sich als Ethnologe, vor allem aber als ein junger Schriftsteller, dem es besonders darum zu tun war, zu erkunden, was er an Gesehenem und Erlebtem sprachlich umsetzen konnte. Lepenies urteilt, dass Forster von Anbeginn „am Zusammenspiel von Vernunft, Gefühl und Phantasie“ gelegen gewesen sei.69 Phantasie scheint freilich nicht das richtige Wort ; denn sie hindert ja den Empiriker, der er als Reisender war, am sachgerechten Übertragen von Anschauung in Beschreibung. Empathie mit dem Anderen, Fremden war es, die Forsters Schriften auszeichnete, Einfühlungsvermögen ins Unvertraute. Denn der ‚kulturelle Transfer‘ beginnt nun einmal genau an dem Punkt, wo Wahrnehmung des Ungewohnten in Schilderung und diese Schilderung in Reflexion übergeht. Sein Medium des Transferierens war das Wort, mit dem er an fremden Küsten anlegte wie James Cook mit seinem Boot in Tanna, Bereich Neue Hebriden. Und was er mitnimmt, ist wiederum Sprache, ein Sinntransport, der eine Faszination mit dem Fremden voraussetzt. Der gelungene ‚transport‘, wie alles Doppeldeutige eine Quelle möglicher Paradoxa, meint im Französischen ‚Transport‘ im transferablen Sinne und ‚Hingerissenheit, eine Bedeutungsdimension, auf die auch Hölderlin mit dem Begriff des „tragischen Transports“ in seinen Anmerkungen zum Oedipus anspielte.70 Forsters Welterkundung kam nicht nur einem Bekenntnis zur Empirie gleich, sondern auch zur Prosa als Form der Vermittlung ; seine Schriften stellen mit69 Lepenies, Des Schreibens ist zu viel, a.a.O., 70 II, 850 u. Kommentar S. 1389. Hölderlin nennt den ‚tragischen Transport‘ im Grunde „leer“ und „ungebunden“, gebraucht den Begriff jedoch auch, um die „rhythmische Aufeinanderfolge der Vorstellungen“ zu kennzeichnen. Diesen mehrdeutigen ‚Transport‘ kann man jedoch auch auf seine eigene kulturvermittelnde Leistung, die Sophokles-Übersetzungen und die in diesen Tragödien sich zeigende Vorstellung vom Tragischen, beziehen.
Pluralektik – Kulturalektik am Beispiel von Friedrich Schlegels Versuch über Georg Forster
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hin die Frage nach dem Modus des Kulturtransfers, genauer gesagt : nach dem Modus, der den kulturellen Transfer am ehesten gelingen lässt. Hierbei zeigen sich um 1800 zwei prinzipiell verschiedene Formen der Vermittlung, deren eine Forster verkörperte, nämlich die erfahrungsgesättigte Beschreibung und Reflexion. Schiller stand für die Gegenseite und damit für eine phantasiebestimmte Darstellung des Fremden, die noch Meyerbeer im Gespräch mit Delacroix im Jahre 1853, Forster war längst vergessen, als vorbildliches künstlerisches Verfahren rühmen sollte.71 Wie baut man ein sinnvolles Verhältnis zum Fremden auf ? Diese Frage kehrt im Werk Forsters mit zunehmender Dringlichkeit wieder. Auch in der im April 1791 verfassten, geradezu programmatischen Vorrede zu seiner Übersetzung der indischen Dichtung Sakontala von Kalidasa stellte er sich diese Frage und beantwortete sie überraschend wie folgt : Deutschen mit ihrem politisch bedingten „eklektischen Charakter“ sei es eher möglich, das „Schöne, Gute, und Vollkommene, was hie und dort in Bruchstücken und Modifikationen auf der ganzen Erdoberfläche zerstreut ist, uneigennützig um sein selbst willen erforschen, sammeln und so lange ordnen, bis etwa der Bau des menschlichen Wissens vollendet da steht […].“72 Andere europäische Staaten, so impliziert Forster, betrieben Welterkundung aus kolonialem Interesse ; sie dehnten ihren Zentralismus auf andere Kulturen einseitig aus, anglisieren oder frankophonieren sie. Der deutsche Partikularismus dagegen, die Bruchstückhaftigkeit seiner politischen Struktur, lasse es erst gar nicht zu einem einheitlichen kolonialistisch-expansiven Vorgehen gegen die fremden Welten kommen. Zudem könne man „in den Werken der Kunst der Zuwachs unseres Wissens“ genießen (III, 290). Dies ist ein wesentlicher Punkt des Forsterschen Kunstverständnisses, das an Modernität kaum zu übertreffen ist. Denn in die Sprache einer strukturellen Ästhetik übersetzt, heißt das : Kunst wird dann anschlussfähig, wenn es ihren Interpreten gelingt, das in ihr eingeschlossene Wissen der Zeit zu erschließen. Im Verhältnis zum Fremden bedeutet das : Die Kunstprosa (Forsters) über das Fremde bewirkt einen Kultur- und Wissenstransfer, der für diejenigen bereichernd ist, die erkennen, dass man auch von den Naturvölkern Polynesiens lernen kann, wenn 71 Eugène Delacroix, Dem Auge ein Fest. Aus dem Journal 1847–1863. Hg. v. Kuno Mittelstädt, Redivierte Ausgabe von Günter Busch. Frankfurt am Main 1988, S. 189. 72 Georg Forster, Werke in vier Bänden, Bd. 3 : Kleine Schriften zu Kunst, Literatur, Philosophie, Geschichte und Politik. Hg. v. Gerhard Steiner. Frankfurt am Main 1970, S. 289. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Forster-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl).
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man darüber in Kassel und Wilna von Forster liest und hört. Dieses Interesse am wissensorientierten prosaischen Vermitteln vom Anderen bestimmt noch Forsters späte Parisische Umrisse (1793/94), in denen er zeigte, wie das Wissen im Zeichen der Revolution zum öffentlichen Ereignis wurde und politisch umgesetzt werden konnte.73 Forsters Sakontala, die auch in Auszügen in Schillers Zeitschrift Thalia erschienen war, begründete nicht nur einen regelrechten Indologismus um 1800 ; sie galt noch Heinrich Heine als gelungenstes Beispiel für die Übertragung indischer „Anschauungideen“ ins für Paradoxa so geeignete Deutsche. Heine ging in einer seiner Aufzeichnungen jedoch noch einen entscheidenden Schritt über Forsters Verständnis von poetisch-prosaischem Wissenstransfer durch das Kunstwerk (und gerade auch die Übersetzung !) hinaus. Er fragte nach den Bedingungen des Verstehens von solchem Wissen über das Fremde : „Die epischen Gedichte der Indier sind ihre Geschichte ; doch können wir sie erst dann zur Geschichte benutzen, bis wir die Gesetze entdecken, nach welchen die Indier das Geschehene ins phantastisch Poetische umwandeln […].“ (VI, 609f.) Heines Bemerkung deutet auf ein wesentliches Prinzip des hier in Rede stehenden Transfer-Problems : Wissen wird nur dann übertragbar, wenn die kulturspezifischen Wissensstrukturen, die jeweiligen kulturbedingten Formen des Wissenserwerbs und die soziale Funktion des Wissens mit erfasst und transferiert werden können. Indische Kultur, so Heine, sei deswegen für den Romantiker vorbildlich, weil sie die Poetisierung von buchstäblich allem angestrebt habe. Für Goethe, der sich auf Anregung von Forster ausführlich der SakontalaDichtung angenommen hatte, stand sie für die Einheit von sinnlicher Natur und ihrer geistigen Durchdringung („was reizt und entzückt […] was sättigt und nährt“).74 Das wiederum bedeutet, dass er auf die Anverwandlung dieses fremden Kulturgutes zielte, auf die metaphorisch-emblematische Einbeziehung ins eigene Werk. Der eigentliche Wissenswert der Sakontala-Dichtung war für Goethe weniger ausschlaggebend als für Forster selbst. Dieser nämlich betonte wiederholt, etwa in einem Brief an Christian Gottlob Heyne vom Januar 1791, dass man, um der Sakontala gerecht zu werden, „unsere Formen und unsern Ge73 Vgl. dazu auch Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München/Wien 1993, S. 154. 74 I, 206 („Will ich die Blumen des frühen […]“). Vgl. dazu : Gerhard Steiner : „Uns hat zu Männern geschmiedet die allmächtige Zeit“. Die Biographie der Beziehungen zwischen Goethe und Georg Forster‘. In : Detlef Rasmussen (Hg.), Goethe und Forster. Studien zum gegenständlichen Dichten. Bonn 1985, S. 7–19.
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sichtspunkt vergessen“ solle (IV, 641f.). Gerade in der Vermittlung des Fremden (durch Übersetzung und diskursive Interpretation) komme es darauf an, das Fremdartige der Vorlage zu erhalten, ein Prinzip, das auch Hölderlin bei seinen Sophokles- und Pindar-Übertragungen gegenüber seinem Verleger Wilmans vertreten sollte. Zwischen den Kulturen Handelte es sich um eine mögliche Vermittlungsaufgabe im Zusammenhang mit anderen, eher diskursiven Texten, so entschied verständlicherweise Forsters persönliches Urteil darüber, ob er eigene Übersetzungen in den kulturellen Beziehungskontext England-Frankreich-deutschsprachiger Raum einbringen wollte oder nicht. Im Dezember 1790 schrieb er : „Des Burke ‚Reflections on the Revolution in France‘ sind so elendes Gewäsch, dass ich es nicht zu übersetzen wage.“ (IV, 640) Er konnte sich nicht einmal wie später Novalis dazu bringen, in diesen Reflections ein „revoluzionäres Buch gegen die Revolution“ (II, 279) zu sehen.75 Forster verstand sich nie als interesseloser Makler zwischen den Kulturen, sondern als Anwalt eines vernunftbestimmten Republikanismus, der ihn nicht daran hinderte, Joseph II. zu verehren76, und eines Begriffes von Kultur, der sich aus beständiger „Erweiterung der Gränzen menschlicher Erfahrung“ ergab (III, 370). Er verstand sich als passionierter Antidogmatiker, der nur ein Prinzip zuließ : das „Gesetz der Vernunft“, das eine Kritik der Vernunft im Grunde ausschloss. Die Vernunft „aber gegen sich selbst sprechen lassen,“ urteilt er 1791 in seiner Vorrede zur Übersetzung von Comte de Volneys Untersuchung Les ruines, ou méditations sur les révolutions des empires, die in Leipzig konfisziert wurde und auf den Index kam, „heißt doch wohl mehr nicht, als einen metaphysischen Selbstmord begehen“ (III, 369). So sehr Forster kritische Kulturvermittlung pflegte, am Ende erlag er der Sogwirkung, die von Paris ausging. Nur Frankreich billigte er nach 1792 unumschränkten Zentralismus zu. „Paris empfindet, denkt, genießt und verdauet 75 Zur Burke-Rezeption vgl. die Angaben in Fußnote 198 in : Klaus Behrens, Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie (1794–1808). Ein Beitrag zur politischen Romantik. Tübingen 1984, S. 145. 76 Vgl. Ritchie Robertson : ‚Joseph II in Cultural Memory‘. In : Christian Emden/David Midgley (Hg.), Cultural Memory and Historical Consciousness in the German-Speaking World since 1500. Oxford/Bern/Berlin 2004, Vol. 1, S. 209–228.
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für das ganze Land“, heißt es in den Umrissen (III, 772). Und er ergänzt, seine eigene Zugehörigkeit zu Paris betonend, indem er nun verstärkt ‚bei uns in Paris‘ schreibt : „Hier allein ist Bewegung und Leben, hier Neuheit und Erfindung, Licht und Erkenntniß [ :] Paris ist der Kommunikationspunkt zwischen allen übrigen Städten, zwischen allen Departmenten der Republik.“ (ebd.) Dagegen warnt er die Amerikaner davor, ihrerseits europäischen Zentralismus zu imitieren, und erkennt, dass ihr „Föderalsystem“ ein ungewöhnlich hohes Maß an Flexibilität erlaube, das nicht aufs Spiel gesetzt werden sollte durch die Konzentration auf ‚eine‘ Hauptstadt. Auch dieses Beispiel zeigt, dass Forster kultur- und traditionsspezifisch zu denken gewohnt war und gewillt blieb. Wie nun deutete Friedrich Schlegel das Phänomen Georg Forster drei Jahre nach dessen Tod ? Schlegels Interesse an Forster war in erster Linie ästhetischer Art. Durch ihn, Forster, und nach Lessings prometheischer Vorarbeit, habe die deutsche Prosa zu sich selbst gefunden, und zwar als klassische Kunstleistung. Zustimmend hätte er Forsters Satz aus der Geschichte der Englischen Literatur vom Jahre 1790 zitieren können, in dem dieser sagt : „Ein guter Roman ist […] nicht minder wichtig und auch nicht minder selten als ein jedes, in seiner Art vortreffliches Kunstwerk“ (III, 303). Forster galt Schlegel, so sehr er ihn in seiner ‚Deutschheit‘ vorzustellen bemüht war, als ein Schriftsteller, der jegliche „eigensinnige Verbannung des Fremden“, die Schlegel untern den „Neuen“ glaubte ausmachen zu können, entschieden ablehnte und dieser ‚Verbannung des Fremden‘ als kulturwidrig entgegenarbeitete (II, 78). An Forster entwickelte Schlegel seine Idealvorstellung vom poetischen Intellektuellen. Drei Forderungen verband Schlegel mit diesem Ideal : Zum einen müsse der poetische Intellektuelle als Naturforscher und „Geschichtskünstler“ imstande sein, Natur und Geschichte zusammen zu denken. Zum anderen müsse man Weltbürgerlichkeit in sich haben. Und schließlich gehöre dazu, dass äußeres Erscheinungsbild und innere Verfassung kongruent seien. Forster galt Schlegel als Intellektueller und Künstler sowie als Verkörperung eines Kulturvermittlers : „Forster bewies auch darin seine universelle Empfänglichkeit und Ausbildung, daß er französische Eleganz und Popularität des Vortrags, und englische Gemeinnützigkeit, mit deutscher Tiefe des Gefühls und des Geistes vereinigte.“ (II, 93f.) In seiner Charakterisierung konnte Schlegel die im deutschen Diskurs um 1800 gängig werdenden Vorurteile über das bloß Zivilisatorische der französischen und englischen Kultur zumindest scheinbar aufwerten, weil er es in Forster untrennbar mit deutscher Tiefenschärfe verbunden sah. Erst im Bezug aufeinan-
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der wirkten diese Charakteristika genuin bereichernd, impliziert Schlegels Bemerkung. Georg Forster als frühromantischer Stichwortgeber Entscheidend bleibt aber Schlegels Einsicht in die Notwendigkeit, Natur und Geschichte aufeinander zu beziehen, bevor es zu einem transnationalen Austausch kommen könne. Forster war in seinen Augen als naturkundiger Geschichtskünstler dazu prädestiniert, Charakteristika verschiedener Kulturen in sich zu vereinigen, weil er einen Begriff von der Geschichtsmächtigkeit natürlicher Gegebenheiten hatte und von der Rückwirkung geschichtlicher Entwicklungen auf die Welt der Natur, etwa durch Kolonialisierung. Für Schlegel war Forster ein Philosoph, ohne deswegen „Vernunftkünstler“ gewesen zu sein (II, 98). Er habe über keine eigentliche Methode verfügt. Was er dagegen betrieben habe, sei „die Verwebung und Verbindung der verschiedenartigsten Kenntnisse“ gewesen (II, 99). Man hat auf die große Bedeutung dieser Betrachtung Forsters für die Entwicklung von Friedrich Schlegels eigenem Denken verwiesen77, für sein Verständnis von Kunst-Prosa und dem Primat der Prosa überhaupt. Auffällig ist, dass Schlegel dabei die politische Dimension der Schriften Forsters nahezu vollständig ausgeklammert hatte. So verweist er besonders auf Forsters Versuch Die Kunst und das Zeitalter vom Herbst 1789, nicht aber auf dessen umfangreiche Betrachtung Revolutionen und Gegenrevolutionen aus dem Jahr 1790. Schlegel imponiert der ästhetische Sinn des Natur- und Kulturhistorikers Forster, der sich gerade in besagter Arbeit Die Kunst und das Zeitalter artikulierte. Wäre Schlegel bewusst gewesen, dass Forster diese Abhandlung als unmittelbare Antwort auf Schillers knapp fünfhundert Verse umfassendes Gedicht Die Künstler verfasst hatte, er hätte womöglich noch entschiedener auf diesen Text verwiesen. Liest er sich 77 Bes. Franz Norbert Nennemeier, Friedrich Schlegels Poesiebegriff. München 1971, S. 181–194. Neben Nennemeier haben sich im Wesentlichen nur Heinz Schlaffer und Christa Krüger dieses Versuchs über Forster angenommen. Heinz Schlaffer : ‚Friedrich Schlegel über Georg Forster : zur gesellschaftlichen Problematik des Schriftstellers im nachrevolutionärem Bürgertum‘. In : Joachim Bark (Hg.), Literatursoziologie. Weinheim 1974, Bd. 2, Beiträge zur Praxis. Vgl. auch : Christa Krüger, Georg Forster und Friedrich Schlegels Beurteilung der Französischen Revolution als Ausdruck des Problems einer Einheit in Theorie und Praxis. Göppingen 1974. Nach 1975 scheint das Interesse an diesem Versuch weitgehend erloschen zu sein.
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doch wie eine in reflektierende Prosa übersetzte Version des großen Gedichts ; man könnte ihn als Variation über Schillers Vers „Nur durch das Morgentor des Schönen / Drängst du in der Erkenntnis Land“ lesen (I, 174, V. 34–35) – ein Deutungsverfahren, das Schlegel selbst zu jener Zeit formulierte. Forster betonte freilich, dass die Kunst zunächst selbsttätig „zur Pflegerin der Wissenschaft“ geworden sei (III, 129). Und weiter : „Das schöne Ebenmaas ihrer Bilder erzeugte jene abgezogenen Begriffe, mit denen der Mensch das Sinnenall umfaßte und bald auch die unabsehbaren Gefilde der intellektuellen Sittenwelt durchdrang“ (ebd.). Gemeint ist, was auch Schlegel beschäftigen sollte : Die Geburt der Kritik aus der Pragmatik des Umgangs mit dem Schönen. In Rede steht damit ein ‚Transfer‘ ganz anderer Art : Die Übertragung ästhetischer Kategorien auf den kritisch-wissenschaftlichen Diskurs, die in der Folge eine weitere Übertragung zeitigte : von der kritischen Begrifflichkeit zum neuen Kunstschaffen. Forster erkannte, dass in der Moderne seines Zeitalters ein ‚naiver‘ Rekurs auf das „urbildlich Schöne“ (Schlegel) nicht mehr möglich war : „[…] überall hatte die neue Kunst das Unglück, daß die Wissenschaft ihr längst zuvorgeeilt war, und anstatt daß man ehmals von dem Kunstwerk Regeln entlehnte, ward jetzt der Künstler verurtheilt, in den Fesseln der Theorie einherzugehen“ (III, 130). Was Forster mit kulturkritischer Geste noch beklagte, kann Schlegel als (neuen) Anspruch kritischer Reflexion zumindest tolerieren. Deutlich wird an diesen Positionen, dass schon bloße Ansätze zu kulturellen Transfervorgängen um 1800 diese Formen selbstbewusster Reflektiertheit bereits voraussetzten. Je offenkundiger es wurde, dass kulturelle Weiterentwicklung ohne kritische Reflexion nicht möglich sei, desto leidenschaftlicher unternahm man den Versuch, sich auf vermeintlich naïve Urzustände zu berufen, das Uranfängliche aufzusuchen. So sehr auch Forster in seinen Überlegungen zur Kunst diesem Denkmuster folgte, von einer Verklärung des so genannten Primitiven in seinen quasi ethnographischen Schriften kann nicht die Rede sein. In der Vorrede zur Reise um die Welt spricht Forster von einer „philosophischen Reisebeschreibung“ (I, 13), die er denn auch vorlegte, ‚philosophisch‘ im wörtlichen Sinne verstanden : aus Liebe zum weise reflektierten Wissen, das Idealisierung des Fremden nicht vorsah. In seiner Beurteilung Forsters schwankte Friedrich Schlegel zwischen Bewunderung für dessen kosmopolitische Selbstverständnis und Kritik an Forsters vermeintlicher Oberflächlichkeit, zwischen Gefallen an seiner kulturvermittelnden Rolle und (heute aberwitzig wirkendem) Insistieren auf Forsters repräsentativer Deutschheit nach dem Motto : „Wer nirgends fremd ist, kann auch nirgends ganz angesiedelt sein“ (II, 95). Aber Schlegel glaubte, darauf beharren zu müssen,
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dass der Mainzer Deputierte gerade auch in Paris im Deutschen angesiedelt geblieben sei. Bei der Interpretation von Schlegels essayistischer Charakteristik über Forster gilt es auch zu berücksichtigen, dass er sich darin eines republikanischen Kosmopoliten angenommen hatte, der ganz gegen den gräzisierenden Modetrend unter deutschen Intellektuellen, der griechischen Kultur keinen Vorrang eingeräumt hatte. Bedenkt man, dass für Friedrich Schlegels politisches und wissenschaftsästhetisches Denken von Anbeginn die griechische Poesie Vorbild gewesen war78, dann darf man in seiner Wertschätzung Forsters durchaus einen Akt intellektueller Selbstüberwindung erkennen. Hatte Schlegel anfangs Forster als einen Klassiker des Prosaischen vorgestellt, so konnte am Ende seines Versuchs dieser baltische Europäer mit Südsee-Erfahrung als Verkörperung des romantischen Ideals schlechthin in Erscheinung treten, nämlich als Anwalt der „Wiedervereinigung aller wesentlich zusammenhangenden, wenngleich jetzt getrennten und zerstückelten Wissenschaften“ (II, 99). Schlegel war hier augenscheinlich bereits unterwegs zu seiner wenig später in seinen „Bekenntnissen eines Ungeschickten“, genannt Lucinde, wie beiläufig formulierten Forderung nach einer „fröhlichen Wissenschaft der Poesie“, wobei er diese ‚Poesie‘ eben durchaus auch in der Prosa für umsetzbar hielt. ‚Fröhliche‘ Wissenschaft hatte Forster zwar nicht betrieben, wohl aber eine sinnenfrohe, den Sinnen zugewandte, sie bewusst einbeziehende Deutung der Daseinsverhältnisse, was sich in den Parisischen Umrissen wohl in konzentriertester Form findet. Paris war für Forster der Ort, wo geistige Genüsse sinnlich und sinnliche Freuden geistig werden, wo „die köstlichen Weine aus Languedoc, Champagne und Bourgogne, die unsere Nachbarn uns sonst austranken, jetzt nur republikanische Gaumen netzen“ und Lord Howe es trotz seiner „allmächtigen Flotte“ nicht mehr zuwege bringen, den (natürlich französischen !) „Austern, Hummern und Steinbutten ihr Futter“ abzuschneiden (III, 771). Forster preist die Märkte des republikanischen Paris in einer Art Prosagedicht, das Appetit machen soll auf den Republikanismus. Die kulturelle Transfer-Leistung einer solchen Beschreibung besteht darin, das Verlockende der republikanischen Wirklichkeit hervorzuheben, die scheinbare Konsumfreiheit, ohne jedoch der Idee des freien Welthandels das Wort zu reden. Forster dachte politisch weltbürgerlich, in ökonomischer Hinsicht jedoch, die Schlusspassagen der Parisischen Umrisse belegen es unzweideutig, eher protektionistisch. 78 Dazu u.a. Klaus Behrens, Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, a.a.O., S. 139. Es fällt auf, dass in Behrens ansonsten vorzüglicher Studie Schlegels Forster-Schrift kaum figuriert.
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Erster Teil : Präludierende Etüden
Das Andere kennen Was nun das konkrete Wissen als Objekt der Kommunikation angeht, so fällt in den Schriften Forsters auf, dass er Genauigkeit, statistische Befunde (wieder avant la lettre) vortäuscht, dadurch aber suggeriert, dass es nötig wäre, verlässliche Daten, etwas über die Mobilität der französischen und englischen Gesellschaft, zu haben, um sie vergleichen zu können. So ging er beispielsweise davon aus, dass nur jeder zwanzigste oder dreißigste Franzose seinen Ort verlasse ; dagegen werde „der vierte Theil der ganzen Volksmenge [Englands] wenigstens einmal im Jahr durch London getrieben“ (III, 772), wodurch er, dieser „vierte Theil“, „einen Grad von Unabhängigkeit, von Übung und von Klarheit im Denken erlange, den in Frankreich nur der Pariser haben kann“ (ebd.). Hinter dieser vorgetäuschten Faktizität und anderen behaupteten, aber nicht belegten Befunden Forsters zu diesem Themenkreis verbirgt sich die freilich nicht unzutreffende These, dass Mobilität und soziale (wie intellektuelle) Emanzipation zusammenhängen. Statistik und Stochastik harrten zu Forsters Zeit der Entwicklung und stellten ein damals noch unlösbares Problem dar, dem sich alle empirischen Untersuchungen zu Natur und Gesellschaft, so auch Alexander von Humboldt in seinem Kosmos-Projekt, gegenübergestellt sahen. Wo der exakte Nachweis scheitert, es ist ein allzu bekanntes wissenschaftsliterarisches Verfahren, erfüllt die Metapher entscheidende kommunikative Aufgaben. Für Forster war es die in den Treibhäusern von Paris reifenden Ananas,79 Sinnbild von Weltbezug, die Präsenz des Exotischen in der Seine-Metropole (III, 771). Anders als Friedrich Schlegel oder später Alexander von Humboldt sah Forster in der Selbstrevolutionierung der Gesellschaft eine Folge der Kommunikation von Wissen. In den Parisischen Umrissen liest sich das so : „[…] man wird mir zugeben müssen, daß die außerordentliche Verbreitung wissenschaftlicher Begriffe und Resultate in Paris der Grund von jener großen Empfänglichkeit seiner Einwohner für Revolutionsideen geworden ist“ (III, 773). Neugier auf das Unbekannte sei die Voraussetzung für beides, politischen und wissenschaftlichen Fortschritt. Dass sich diese Mentalität nicht unbedingt ‚transferieren‘ lasse, schien ihm nur zu bewusst gewesen zu sein. Womit sich Forster begnügen wollte – mit der Auffassung, dass das Denken an sich schon ein Handeln sei, jenem seit der 79 Vgl. Rüdiger Görner, „Ananas reifen in Paris“. Über Georg Forster. In : Die Presse/Spectrum v. 8. Januar 1994, S. VI.
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Aufklärung vor allem unter deutschen Intellektuellen beliebten Selbsttäuschungsmittel. Naturbetrachtung war Forster zuletzt nur noch im großstädtischen Kontext möglich, etwa in Gestalt der Frucht auf dem Markt oder der Ananas im Treibhaus der Revolution. Seine letzte Reise verlief entlang des Weges ins Politische, eben jene Wendung in Forsters Leben, die Friedrich Schlegel nicht wahrhaben wollte, obgleich er selbst von diesem Bereich ausgegangen war als Autor des Versuchs über den Begriff des Republikanismus, in dem er befand, dass Diktatur und Anarchie „notwendig transitorisch“ sein müssen, wenn sie irgendein ‚Gelingen‘ zeitigen wollen (VII, 14 und 25). Zuletzt hoffte auch Forster auf ein Ende des ‚Orkans‘ namens Revolution, auf die besinnende „Stille“ danach (Brief vom 28. Dezember 1793, IV, 958). Das letzte nur noch bedingt transferable Wissen, um das es ihm ging, war das Wissen über seine Schmerzen, über die Geduld im Leiden und das ultimative Paradoxon : Er, der Weltreisende von einst, erlag mitten im Paris der Früchte von Kultivation und Revolution der alten Seefahrerkrankheit, er diagnostizierte es genau, skorbustischer Gicht. „Was geschieht, muß geschehen“, schrieb der zum Teleologen gewordenen Intellektuelle Georg Forster (IV, 959). Und man braucht kein Existentialist zu sein, um anzuerkennen, dass der Zielort des finalen Transfers oder Übergangs allemal im kulturfremden Dunkeln bleibt. Doch noch auf seiner letzten Briefseite bekannte sich Forster zum Prinzip Neugierde, zu dem, was und wie andernorts mit welcher Wirkung ankommt, das Bekenntnis eines wahren Transferanten. Seiner Frau Therese schreibt er am 4. Januar 1794, die Rheinarmee hatte die Belagerung Landaus abbrechen und sich über den Rhein zurückziehen müssen : „Ich bin neugierig zu erfahren, wie sich der öffentliche Geist jenseits des Rheins [dazu] äußern wird […].“ (IV, 960). Dort schwieg sich der zensierte ‚öfftentliche Geist‘ über das Scheitern der restaurativen Koalitionsarmee aus und, abgesehen von Friedrich Schlegel und nach ihm noch Heinrich Heine und Varnhagen von Ense, schwieg man auch bald über ihn, Georg Forster, zu dessen im Sinne des Vermittelns bevorzugten Wörtern übrigens das französisch-englisch-deutsche Verb ‚deliberieren‘ gehörte. Die Essenz dieses Deliberierens besteht nun darin, die vermeintlichen Charakteristika in Rede stehender Kulturen immer wieder neu zu ‚erwägen‘, kritisch zu prüfen. Dadurch gerät auch die Bewertung der kulturellen Faktoren unweigerlich in Bewegung und mit ihr unser Verständnis von Kultur. Forsters Prosa, wie gesehen Mittel und Form seines Verständnisses von Vermittlung, schuf dabei gleichsam einen Raum für Wahrnehmungen und Gedankenbewegungen zwischen den Kulturen. Es spricht für Friedrich Schlegels Deutung von Forster als
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Erster Teil : Präludierende Etüden
Kulturtransferanten, dass er gerade diese Qualität der Forsterschen Prosa erkannt hatte, auch wenn er selbst an einer eher typisierenden Kulturbeschreibung glaubte festhalten zu müssen, indem er in Forster „französische Eleganz“, „englische Gemeinnützigkeit“ und „deutsche Tiefe des Gefühls und Geistes“ vereinigt sah. Was Schlegel freilich Forster nicht zubilligte, dass sich aus der ‚Vereinigung‘ solcher Charakteristika ein ganz eigener sozusagen ‚triangulärer‘ Charakter in Forsters Art der Kulturbeschreibung entwickelt hatte. In Forster begegnet man dem Idealfall eines zwischen drei Kulturen vermittelnden Transferanten, der sich nicht nur auf einen reinen Wissenstransfer beschränkte, sondern die Vermittlung zwischen den Kulturen stets auch als Erlebnis darstellte. Dass Forster auf den Erlebnischarakter solchen Transfers bestand, unterschied ihn von vielen seiner Zeitgenossen, die eher dem inhärenten Transferpotential des Wissens vertrauten.80 Forsters Darstellungsweise – selbst noch in den Parisischen Umrissen – belegt, dass er Kulturvermittlung, die Beschreibung des zum Eigenen werdenden Anderen, als Abenteuer verstand, als Wagnis, auf das einzugehen Signum seines Verständnisses vom Wert des Menschlichen geworden war.
80 Vgl. dazu Wolf Lepenies, Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert. München 1988.
Zweiter Teil : Romantische Pluralektik (Die Mainzer Vorlesungen)
V Pluralektik und enzyklopädische Poetik : Denkstrukturen bei 79 Novalis und einige Folgen
Angesagt ist seit der Frühromantik die Aufklärung über die Dialektik als Methode und Wissensinhalt, als Denk- und Handlungspraxis. Noch im Februar 1821 spricht Jean Paul in einem Brief an Hegel vom „dialektischen Vampyr des inneren Menschen“81 was zweierlei bedeutet : Die Problematik der Dialektik betrifft nicht nur die Methode des Denkens ; sie umfasst vielmehr den ganzen, also auch den „inneren Menschen“. Und weiter : Das Dialektische hat etwas potenziell ‚Blutsaugendes‘, also Existenzbedrohendes. Zu Recht gilt der Urheber einer sich auch Lessing verdankenden Empfindungstheologie, Friedrich Schleiermacher, als ein methodischer Dialektiker, der erfolgreich Hermeneutik und Dialektik miteinander zu verbinden wusste. Daraus jedoch zu folgern, dass er immer und nur Dialektiker gewesen sei, bei allem, was er gedacht und entworfen hat, erscheint zumindest fraglich. So behauptete Carl Lommatzsch, der Herausgeber der posthum erschienenen Ästhetik Schleiermachers (1819–25), einem Manifest romantischer Kunstreflexion, die er nur ein Jahr nach Erscheinen seiner Dialektik (1818) zu entwickeln begonnen hatte, in seiner Einleitung zu Schleiermachers Werk (1842), dass seine Ästhetik „einer der reichsten und eigenthümlichsten Gebilde seines dialectisch schaffenden Geistes“82 gewesen sei, ohne dafür irgendeinen Beweis anzuführen. Tatsache ist, dass Schleiermacher in seinen Vorlesungen über Ästhetik dialektisches Argumentieren geradezu vermied, führte er doch als zentrale ästhetische Kategorie einen Begriff ein, der undialektischer nicht hätte sein können : das „Gefühlsbewusstsein“ oder ästhetische Gefühl, das zwischen Denken und Wollen vermittle, ohne aber zu einer eigentlichen Synthese vorzudringen.83 Novalis hatte bereits erkannt, dass das Dialektische in der Aufklärung oft schon im Stadium einer bloß „dualistischen Denkstruktur“ gefangen blieb und gar 81 In : Jean Paul, Sämtliche Werke : Historisch-kritische Ausgabe III. 7, S. 171. 82 In : Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Ästhetik. Hg. v. Carl Lommatzsch. Berlin 1842. Nachdruck Berlin/New York 1974, S. III. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Schleiermacher-Zitate auf diese Ausgabe. 83 Vgl. dazu auch die wegweisende Studie von Thomas Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers. Stuttgart 1987, S. 123–141. Die dafür in Schleiermachers frühen „Monologen“ zu findenenden Grundlagen untersucht Ludwig Stockinger, „Wie ein Kunstwerk, welches im Freien ausgestellt Jedem Zutritt verstattet“. Die Kommunikation des frühromantischen Ich-Konzepts in Friedrich Schleiermachers ‚Monologen‘. In : Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Die Aktualität der Romantik. Text + Kritik Bd. 143. München 1999, S. 61–76.
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Zweiter Teil : Romantische Pluralektik (Die Mainzer Vorlesungen)
nicht zu einem eigentlichen, Erkenntnis fördernden Prozess vordringen konnte. Reinhart Koselleck hat in Kritik und Krise (1959) gezeigt, dass die „Dualismen des achtzehnten Jahrhunderts eine geistige Front“ aufrissen, „die, in sich vielfach gebrochen, oft durch den einzelnen Menschen hindurch ging, aber immer gleichbedeutend war mit Kritik. Gesetzte Begriffe setzten ihre Gegenbegriffe, die im selben Vollzug abgewertet und meist auf diese Weise ‚kritisiert‘ wurden.“84 Doch dieser so diagnostizierte Dualismus beschränkte sich nicht nur auf (Selbst-) Kritik, sondern hatte auf Seiten der „abwertenden Gegenbegriffe“ denunziatorische Wirkung. Koselleck befand : „Die Kritik steigerte sich in Gegenkritik zur Superkritik. Schließlich verdummte sie zur Hypokrisie. Die Hypokrisie war der Schleier, den die Aufklärung ständig webend vor sich hertrug und den zu zerreißen sie niemals imstande war“85 – oder imstande sein wollte. Der „Schleier der Maja“ wirkte poetischer. Woraus aber bestand diese ‚Hypokrisie‘ ? Aus hypertropher Kritik, maßloser Selbstüberschätzung bei entsprechender mangelnder Urteilskraft. Kants drei Kritiken hatten versucht, einen Weg aus dieser Krise der Kritik zu weisen, den Sinn von Kritik zu rehabilitieren. Aber er blieb bei diesem Versuch jener Methode im Prinzip treu, welche die Krise herbeigeführt hatte : der dualistischen Dialektik. Als wirkungsvoll erweist sich die Dialektik dann, wenn sie sich als Mittel der Argumentation begreift ; da kann sie als Methode geradezu expressiv sein. Als Diskursinhalt oder Instrument der Welterfassung greift sie aber zu kurz oder schlägt um ins Dogmatisch-Ideologische. Zu dieser Einsicht gelangte auch Friedrich Schleiermacher, der im Zusammenhang mit seinen Übersetzungen der Dialoge Platons 1831 nochmals ein abschließendes Kolleg über die Natur der Dialektik hielt, die in einer Kollegmitschrift überliefert ist. Man kann seine allesamt in Vorlesungsnachschriften vorliegenden, zwischen 1811 und 1831 gehaltenen Kollegs zur Dialektik als eine kritische Antwort auf Hegels Verwendung des dialektischen Prinzips lesen ; galt doch Schleiermacher die Dialektik zuletzt als eine „Darlegung der Grundsätze für die kunstmäßige (m. Hervorh.) Gesprächsführung im Gebiet des reinen Denkens“, eine „Kunstlehre des Sichverständigens wie überhaupt als eine „Kunstlehre des Wissens.“86 Schleiermacher wandte sich damit gegen eine Ideologisierung des Dialektischen, die er bei Hegel am Werke 84 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt am Main 1973, S. 103. 85 Ebd., S. 102. 86 In : Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe. Vorlesungen über die Dialektik. Teilband 2. Hg. v. Andreas Arndt. Berlin/New York 2002, S. 727 ff. Vgl. auch : Rüdiger Bubner, Zur Sache der Dialektik. Stuttgart 1980, S. 158.
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sah. Dialektik war für ihn, darin ganz Romantiker, eine quasi artistische Methode, Instrument einer Gedankenkunst und wenig außerdem. Grenzen der Dialektik Für den Romantiker gab es gute, keineswegs vernunftwidrige Gründe, den universalen Geltungsanspruch der Dialektik zu relativieren. Um 1800 wächst die Einsicht in die sprunghaft zunehmende Komplexität der Welterfahrung. Hölderlin schreibt in einem Brief vom Januar 1797 : „Man kann wohl mit Gewißheit sagen, daß die Welt noch nie so bunt aussah, wie jetzt. Sie ist eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Kontrasten. Altes und Neues ! Kultur und Roheit ! […] Unvernünftige Klugheit, unkluge Vernunft ! Geistlose Empfindung, empfindungsloser Geist ! Geschichte, Erfahrung, Herkommen ohne Philosophie, Philosophie ohne Erfahrung […] ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schamrot machen wird.“ (III, 251f.) Und Friedrich Schlegel sekondiert in seiner Lucinde (1799) : „Ich gebrauche also mein unbezweifeltes Verwirrungsrecht […] alles durcheinander in romantischer Verwirrung, so viel Worte so viel Bilder ; und das ohne alle Nebenbestimmungen und künstlichen Übergänge, die am Ende doch nur dem Verstande frommen und jeden kühneren Schwung der Fantasie hemmen.“87 Diese Sätze spielen gleichsam den Paradoxien, Oxymora, den Bildern und Fantasien zum Tanz auf. Was hier ins Wirbeln gerät, lässt sich nicht mehr in ein dialektisches Schema einbinden. Schlegel will stattdessen eine Mythologie, in der sich die „schöne Verwirrung der Fantasie“ wieder findet und ausdrückt. Auf die komplexer gewordene Welt um 1800 reagiert die Dialektik auch deswegen zunehmend dogmatisch, weil sie sich für die Erfassung, geschweige Durchdringung dieser Komplexität als untauglich erwies. Und das Defizitäre oder als Mängelwesen Entlarvte tendiert nun einmal dazu, dogmatisch zu werden, um so seine Mängel hinter der Fassade falscher Sicherheiten zu kaschieren. Es scheint, als habe Hegel das Beschränkte im dialektischen Verfahren erst dann wirklich erfahren, als er in seinen nach 1818 gehaltenen Vorlesungen zur Ästhetik nach dem Wesen der Kunst und den Aufgaben einer Philosophie der Kunst fragt. Dabei steht ihm vor Augen, dass er nur auch das Eindringen der Wissenschaften ins Bewusstsein mit zu reflektieren hat, ebenso das – potenziell regressive – Pro87 Friedrich Schlegel, Lucinde, a.a.O., S. 10.
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Zweiter Teil : Romantische Pluralektik (Die Mainzer Vorlesungen)
jekt der Mythologisierung der modernen Anschauungen. Kunst, so Hegel, stelle das „in sich selbst Gehaltvolle zu adäquater, sinnlicher Gegenwart heraus“, wobei der Philosoph dieses „Gehaltvolle und seine schöne Erscheinungsweise denkend zu begreifen“ habe.88 In diesem Begreifen findet sich das Dialektische als Methode oder gar Inhalt suspendiert. Denn Hegel erkennt, dass in seiner Zeit dabei ein Prozess mit im Spiel ist, der sich jeglichem dialektischen Zugriff entzieht : die „Auflösung der romantischen Kunstform“ und ihrer sinnlichen Erscheinung. Gleichzeitig sieht er, dass die literarische Kunstform seiner Moderne, der Roman, diese Auflösung darstellt, reflektiert und dadurch ‚aufhebt‘. Der Roman entwirft sich als einen erzählerischen Reflexionsraum, in dessen Tiefe sich die Bezüge und Verknüpfungen, aber auch Auflösungserscheinungen vervielfachen. Hegel selbst schreibt einen solchen Roman ; seine Hauptfigur ist der ‚Geist‘. Hegels Phänomenologie gleicht einem Entwicklungsroman im Stadium der Abstraktion von sich selbst. Erzählt werden die Abenteuer des Geistes auf dem Wege zum „absoluten Wissen“. Indem dieser philosophische Roman ausführlich das Kunstwerk vor dem Hintergrund der Kunstreligion reflektiert, begegnet er sich selbst. Das Selbstbewusstsein wird so in Selbstreflexion überführt. Ist der dezidiert erzählerische Duktus der Phänomenologie überhörbar ? „Es wird das Jetzt gezeigt ; dieses Jetzt. Jetzt ; es hat schon aufgehört zu sein, indem es gezeigt wird ; das Jetzt, das ist, ist ein anderes, als das gezeigte […].“89 Das Expansive in der Dialektik Hegels, um ein Wort Ernst Blochs zu gebrauchen, kommt hier zur Geltung. Sie betrifft die Forderung, dass der Geist gerade auch in paradoxen Verhältnissen heimisch werden solle. Hegel versteht seine Dialektik als eine „Bewegung der Begriffe“, wie er sie in der Wissenschaft der Logik freisetzt. In ihr hält er Denken und Sein für identisch und gewinnt die dem dialektischen Prozess innewohnende Bewegung aus der Substanz des bedachten Gegenstandes. Wissen als offenes System In der Frühromantik erlangte das Wissen Projektcharakter. Gleichzeitig thematisierte sie den Sinn des Wissens, verschrieb sich der Aufklärung über die Be88 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil. Mit einer Einführung hrsg. v. Rüdiger Bubner. Stuttgart 1977, S. 682. 89 Ders., Die Phänomenologie des Geistes. Mit einem Nachwort von Georg Lukács. Hg. v. Gerhard Göhler. 2. Erw. Auflage Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1973, S. 70.
Pluralektik und enzyklopädische Poetik : Denkstrukturen bei Novalis und einige Folgen
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weggründe, die hinter dem Erwerb bestimmten Wissens und dem Sammeln von Wissensdaten standen. Die andere Frage war, ob sich an eine ‚Entnützlichung‘ des Wissens und stattdessen an dessen Poetisierung denken lasse. Die verschiedenen Wissensbereiche verstanden die frühen Romantiker als offene Systeme, wie sie sich etwa in den Studien des Novalis, namentlich in seinem Allgemeinen Brouillon abbildeten. Man kann in dieser Wissensaufbereitung und ihrer Scheinsystematik einen Gegenentwurf zur Fichteschen Wissenssystematik sehen oder eine poetische collagengleiche Darstellung von Wissens- und Reflexionssegmenten. Eines fällt jedoch an Novalis’ Verfahren besonders auf : sein enzyklopädischer Anspruch, zu dem explizite Reflexionen über das Enzyklopädische als Verfahren gehörten. Überhaupt ist bemerkenswert, dass sich ein Dichter vom Enzyklopädischen, also dem ‚alles mit einem Auge Überschauen‘ angesprochen fühlte.90 Die Frage stellt sich, ob Novalis versucht hatte, das große aufklärerische Vorbild, die Enzyklopädie Diderots und d’Alemberts, zu übernehmen und als sein Projekt fortzuführen, oder ob es sich bei seinem „Brouillon“, also einer bloßen „Kladde“, um eine ironisch-parodistische Version des französischen Projekts gehandelt hatte. Eigenartig ist schon, dass Novalis innerhalb eines bloßen „Brouillons“ die Frage nach dem Enzyklopädischen sporadisch erörterte ; signalisierte er doch damit, dass er dieses enzyklopädische Prinzip dem betont eklektischen des „Brouillon“ unterordnete. Novalis ging dabei jedoch nicht systematisch alphabetisch oder sachgruppenspezifisch, sondern rein assoziativ vor. Hinzu kam bei ihm ein anderes Erkenntnisinteresse : Welche Art von „Lesbarkeit der Welt“, um Hans Blumenbergs oft bemühten Ausdruck auch hier zu gebrauchen, repräsentiert der Novalissche Ansatz ? Denn es scheint ja durchaus, dass das Prinzip „Lesbarkeit von Welt und Leben“ dem Allgemeinen Brouillon zugrunde liegt. Wie aber verhalten sich dieses Prinzip und Novalis’ Projekt zueinander ? Was ist es, was hier lesbar wird oder werden soll ? Neben dem französischen Enzyklopädie-Projekt als Kernstück der Aufklärung und Fichtes Wissenschaftslehre gab es für Novalis noch ein drittes Bezugssystem, von dem er profitierte und sich produktiv absetzte : Leibniz’ enzyklopädischer Ansatz, die Welt in ihrer Ganzheit zu erfassen. Dieser Anspruch führte Leibniz dazu, das Bild der Welt in kleinen Einheiten wieder aufzufinden, die ihm wiederum zu Sinnbildern von Kontingenz gerieten : die fensterlosen Monaden, in sich 90 Zum enzyklopädischen Interesse des Novalis vgl. auch : Jeremy Adler, Higher Light. In : Times Literary Supplement v. 18. April 2008, S. 3–5.
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geschlossene Wesenheiten mit einem vollständigen quasi genetischen Programm, das auf Entfaltung angelegt zu sein scheint. Die Monade ist eine Welt in sich, deren innere Einheit das Prinzip Vielheit und Veränderung einschließt.91 Horst Bredekamp hat die Monade zu Leibniz’ Projekt eines „Theaters der Kunst und der Natur“ in Beziehung gesetzt und im Naturalienkabinett der Kunstkammer des 17. Jahrhunderts den Ort des Leibnizschen Denkens zu ermitteln versucht.92 Dabei sieht Bredekamp in den Sammlungen „die Monade in äußerer Repräsentation“, wobei denn auch die Lesbarkeit der Welt ihren didaktischen Urort gefunden haben mag ; denn Naturalienkabinett und Kunstkammer schulen eine Art „Simultanblick“93 auf das spezifische Exponat und den durch die Sammlung geschaffenen Gesamteindruck. Die Vorstellung, dass Exponate in einer Sammlung im Blick des Betrachters gewissermaßen interagieren – ähnlich den Wissenssegmenten im Brouillon im Blick des Notierenden und des Lesers –, prägte zum Beispiel noch die bewusst chaotische Anlage des Londoner Victoriaand-Albert Museum, das geradezu als Sammelsurium und Tempel des Eklektizismus konzipiert war. Universalisierung des Bewusstseins Die Notate des Novalis nun, gerade auch jene, die sich auf das Stichwort „Encyclopaedistic“ beziehen, gleichen Gegenbildern zu den Leibnizschen Monaden ; sind sie doch mit Fenstern versehen und mit zerlegbaren Teilen ; sie verbinden Weltwahrnehmung und Thesensetzung, in Leibniz’ Terminologie gesprochen ‚Perzeption‘ und Reflexion. An einer Stelle seines Allgemeinen Brouillon gibt Novalis jedoch zu verstehen, dass er an Leibniz’ Denken partizipiere, insbesondere an der Idee der „praestabilirten Harmonie“, auf welcher er „auch die Schönheit“ beruhen sah (II, 654). Eine solche Vorstellung von Harmonie setzt freilich Monaden voraus, die durch ihre innere ‚Genügsamkeit‘ und Abgeschlossenheit diese „Praestabilierung“ und harmonische Überformung überhaupt erst ermöglichen. 91 Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie. Französisch/Deutsch. Übers. und hrsg. v. Hartmut Hecht. Stuttgart 1998, S. 15. 92 Horst Bredekamp, Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. Berlin 2004. 93 Christian Geyer, Gott denkt mit dem Auge. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 7. Februar 2005.
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Novalis betonte aber das Widerspiel von „Differentiiren“ und „Integriren“ als die eigentliche conditio jeglicher ‚Harmonie‘ im Geistigen (II, 483), und zwar wiederum unter dem Stichwort „Encyclopaedistik“. Zunächst ist zu fragen, wie Novalis diesen Begriff des Enzyklopädischen verwendet. Er war ihm augenscheinlich eine Möglichkeit von vielen, die Welt lesbar zu machen ; das Enzyklopädische galt ihm nicht als übergeordnetes Prinzip wie noch den französischen Aufklärern, sondern als eine Anschauungsform neben anderen. Er gebraucht den Begriff wahlweise synthetisch, systematisierend, programmatisch. Dann wieder subsumiert er es unter dem Stichwort Beobachtungen und Reflexionen, für die er sonst keine kategorisierende Bezeichnung findet. Schließlich verbindet Novalis damit so unterschiedliche Bereiche wie die „verschiedenen Härtegrade von Skulptur und Musik“ (II, 492) und die an Voltaire und Lichtenberg angelehnte Vorstellung einer „witzigen Physik“, zu der die „gefräßige Mathematik“ gehört, die genüsslich Begriffe wie etwa ‚das Unendliche‘ verschlinge (II, 501). Novalis’ Lesart von „fröhlicher Wissenschaft“, wie sie in etwa zeitgleich zum ersten Entwurf des Brouillon Friedrich Schlegel durch seinen Roman Lucinde ins Gespräch bringen wird, schloss pseudosophistische Absurditäten nicht aus. Gehörte doch zu seiner ‚Encyclopaedistik‘ auch die Feststellung : „Überall ist Sardinien, wo man allein schläft.“ (II, 503) Das vermerkt Novalis als Erläuterung in Klammern hinter seiner Forderung : „Universalisirung der geschichtlichen und geografischen Wesen.“ Zur „Dignität des Wortes“ Dem eigentlichen Sinn von Novalis’ Enzyklopädisierungsprojekt innerhalb des Allgemeinen Brouillon kommt man wohl näher, wenn man über das nachdenkt, was er über den Zusammenhang von ‚Encyclopaedistik und Grammatik‘ notierte : „Ein Satz ist die Potenz des Worts. Jedes Wort kann zum Satz, zur Definition, erhoben werden. Es giebt auch verschiedene Satzsysteme. Sätze werden zu Wissenschaften erhoben – Wissenschaft ist die Dignität des Satzes – und so läßt sich diese Erhöhung bis zur absoluten Universalwissenschaft fortsetzen.“ (II, 534) Novalis sieht sich hier im Begriff, die Geburt der Wissenschaft aus dem Geist der Grammatik darzustellen. Man könnte auch sagen : Er hält die Wissenschaft von der Sprache für die Urwissenschaft. Der Bau der Sprache gilt als Bauplan des Wissens überhaupt. Philologie ist die ursprunghafte intellektuelle Tätigkeit und gleichzeitig der enzyklopädische Ansatz schlechthin, von dem sich alle anderen Wissenschafts-
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disziplinen ableiten, gerade weil sich durch die Philologie das Sprach-und Selbstbewusstsein bilden kann, ohne dass jede andere Disziplin grundlos sein müsste. In dieser Philologie, die Novalis in text- und erkenntniskritischer Absicht zu entwickeln hoffte, wies er der Analogie eine Schlüsselstellung zu. Die, wie er schreibt, „Analogistik“ (II, 556) hat im Rahmen einer philologischen Enzyklopädistik die Aufgabe, das Material zu strukturieren, die Stoffsammlungen durch das Vergleichen in bedeutungsvolle Beziehungen zueinander zu setzen. Die enzyklopädische Dimension seines Brouillon unterstrich Novalis durch eine Analogie besonderer Art : Sein eigentliches Projekt, so gab er verschiedentlich zu erkennen, sei das Erarbeiten einer Bibel ; er nennt sie „die höchste Aufgabe der Schriftstellerey“ (II, 556). Als ihm sein Freund, Friedrich Schlegel, von seinen Arbeiten über Urgeschichte und Genesis, Mitteilung macht, beeilt sich Novalis ihm zu bestätigen, dass auch ihn, der „Körper der Wissenschaft“, das Buch, und mit ihm die „Idee der Bibel“ als des „Ideals jedweden Buchs“ beschäftige. Und weiter : „Die Theorie der Bibel, entwickelt, giebt die Theorie der Schriftstellerey oder der Wortbildnerey überhaupt – die zugleich die symbolische, indirecte, Constructionslehre des schaffenden Geistes abgiebt.“94 Novalis spricht ferner von einer „Universalmethode des Biblisirens“, die er mit dem ‚Prinzip Enzyklopädie‘ verbindet. Je mehr sein Material wächst, desto intensiver kreisen seine Überlegungen um die Frage, was dieses Brouillon sein soll : „Mein Buch muß die kritische Metaphysik des Recensirens, des Schriftstellens, des Experimentierens, und Beobachtens, des Lesens, Sprechens etc. enthalten“ nebst den „Klassificationen aller wissenschaftlichen Operationen“ (II, 598). Novalis will ein Kompendium des Wissens und der menschlichen Befindlichkeiten, eine Geschichte des Schmerzes und eine Verschlüsselung von Wissensdaten in Zahlen. Letzteres geht einher mit seiner These, nach der die Mathematik magisch und das Magische mathematisch werden solle, was im Rückblick unter den Bedingungen der computergesteuerten Wissensaufbereitung unserer Tage ganz neue Dimensionen gewinnt. Das Buch als Synthese Die philologische Seite der Enzyklopädistik behauptete Novalis auch mit Blick auf Jean Paul, diesen, wie er sagte, „encyclopädischen Humoristen“95. Voraus94 Hans-Joachim Mähl (Hg.), Novalis. Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 15. München 1976, S. 54. 95 Ebd., S. 192.
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setzung dafür, diesen umfassenden Humor Jean Pauls angemessen würdigen zu können, ist ein spezifisches Leseverhalten oder anders gesagt : Ein besonderes Verständnis vom Lesen, das Novalis in die Notate des Brouillon eingewoben hat. Neben seine These vom Leser als „erweitertem Autor“ stellte Novalis die Behauptung, dass das Schreiben darin bestehe, die Spuren des Gelesenen aufzunehmen und das Gelesene mit „willkührlichen Accenten“ zu versehen.96 Die Folgerung daraus lautet, dass nur der Lesekünstler unter den Autoren auch poetischer Künstler werden könne ; und Lesekünstler wiederum sei, wer das Lesen als eine „freye Operation“ aufzufassen und zu gebrauchen gelernt habe. Novalis ging davon aus, dass jedes Buch von Wert prinzipiell „zusammengesetzt“ und kompendienhaft angelegt sei und folglich ohne enzyklopädischen Anspruch gar nicht entstanden sein könne. Das wiederum verlangt vom Leser ein dezidiert enzyklopädisches Interesse. Solche Bücher sind gewissermaßen romanhaft, wie überhaupt das enzyklopädische Bestreben zum großen Roman als einem – fiktiven – Kompendium des Lebens und seiner Wissensgrundlage tendiert. Auch Novalis’ Brouillon will in diesem Sinne romanhaftes Archiv der Erfahrungen sein. In den Materialien zur Fortsetzung des Ofterdingen-Romans gebraucht Novalis das Bild vom „Schreiber im Webstuhl“ (I, 388), und man gewinnt den Eindruck, dass dieses ‚Verweben‘ für Novalis mit der Arbeit am Wissen identisch war. Der zweite Teil des Ofterdingen-Fragments schließt jedoch mit einem Bekenntnis zum Verwandeln des aufklärenden Wissens in Gewissen, aber auch in Freiheit, genauer : in die freie Meisterschaft, die sich in der Ausübung von wissensbegründeter Kunst zeigt. Ein Hauptcharakteristikum von Novalis’ (schein-) enzyklopädischem Verfahren ist, dass er die Wissenssegmente, man könnte auch sagen ‚Weltpartikel‘ in seine Kladde einträgt oder ‚einliest‘, um daraus partielle Entwürfe von Welt entstehen zu lassen. Seine Sprache bedient sich dabei einer Mischung von – mit Ernst Cassirer gesprochen – analogischem und symbolischem Ausdruck ; sie gibt Novalis’ Intention durchaus preis : Lesbar und neu entwerfbar soll das kodierbare Detail werden, die bezugsfähige und beziehungsreiche Einsicht. So sehr sein Denken am großen Ganzen und Einen orientiert ist, dieses Denken weiß um die Abhängigkeit der Einsicht vom Standpunkt des Betrachters. Im Ofterdingen etwa sieht sich Heinrich, der an der Unteilbarkeit der Erfahrung festhalten will, wie folgt belehrt : „Das Weltall zerfällt in unendliche, immer von größern Welten wie96 Ebd.
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der befasste Welten. Alle Sinne sind am Ende Ein Sinn. Ein Sinn führt wie Eine Welt allmählich zu allen Welten. Aber alles hat seine Zeit und seine Weise. Nur die Person des Weltalls vermag das Verhältnis unsrer Welt einzusehn.“ Zerfall und Konzentration befinden sich in dieser sinnlich-kritisch vermittelten „Phänomenologie der Erkenntnis“ (Cassirer) in einem Wechselspiel begriffen, wobei das entscheidende Wahrnehmungs- und Deutungsproblem noch folgt. In Novalis’ Roman formuliert es der greise Arzt Sylvester so : „Es ist schwer zu sagen, ob wir innerhalb der sinnlichen Schranken unseres Körpers wirklich unsre Welt mit neuen Welten, unsre Sinne mit neuen Sinnen vermehren können, oder ob jeder Zuwachs unserer Erkenntnis, jede neu erworbene Fähigkeit nur zur Ausbildung unseres gegenwärtigen Weltsinns zu rechnen ist.“ (I, 379) Die hier implizierte Frage richtet sich auf die Natur des Wissens und darauf, ob wir die uns vorgegebenen Zeithorizonte durch genuin ‚neue‘ Erfahrungen wirklich überschreiten können, oder ob wir nicht unwillkürlich Gefangene unserer eigenen Voraussetzungen bleiben. Wissensprozessualität Aber auch aus einem anderen Grund kann Novalis’ Konzeption von Wissen heute Aufmerksamkeit beanspruchen. Denn seine Aufzeichnungen im Brouillon dokumentieren Prozesse, durch die Wissen geschaffen werden soll. Man kann daher das Brouillon als eine Grundlegung des Wissens um 1800 lesen, deren fragmentarischer Charakter seinerseits ein Wissensdatum ist ; denn laut dem Brouillon ist Wissen nur als ein fragmentarisches möglich. Die Science Studies, die eine Geschichte des Wissens und der Vorgänge des zeitspezifischen Wissenserwerbs verfolgen, würden bei Novalis und seiner Konzeption des Enzyklopädischen ungewöhnlich fündig werden.97 Es sei darauf verwiesen, dass auch in der Übergangsphase von Spätromantik zu Realismus und Symbolismus das Enzyklopädische bei der Frage nach dem, was romantisch (noch) sei, die Rolle einer zur Kritik freigegebenen ästhetischen Kategorie einnehmen sollte. Das zeigt sich vor allem bei Baudelaire. In seinen Notes nouvelles sur Edgar Poe von 1857 gebraucht er das Enzyklopädische zunächst als positives Kriterium : „Par sa nature, par nécessité même, il est encyclopédique, 97 Sibylle Peters, Figuren des wissenschaftlichen Vortrags um 1800. Actio, Affekt, Anschauung – die Performance ‚Denken‘. In : KulturPoetik 5,1 (2005), S. 31–50.
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tandis que l’homme civilisé se trouve confiné dans les régions infiniment petites de la spécialité.“98 Artistischer Enzyklopädismus gegen zivilisatorisches Spezialistentum, diese Formel relativiert Baudelaire bereits zwei Jahre später mit Bezug auf ein Gespräch mit Théophile Gautier, der Baudelaire gefragt hatte, ob er gerne Wörterbücher lese. Baudelaire antwortete : „Par bonheur, j’avais été pris très jeune de lexicomanie […].“99 Die Relativierung liegt natürlich im eher abschätzigen Begriff ‚lexicomanie‘. Darauf Gautier : Ein Schriftsteller sei nur dann Schriftsteller, wenn er alles zu sagen, allem ein spezifisches Wort zur Verfügung zu stellen wisse. Man weiß übrigens auch von Rilke, dass er im Grimmschen Wörterbuch wie in einem Roman zu lesen pflegte. Zwar steht der enzyklopädistische Schreibansatz im Widerspruch zum reinen Ästhetizismus, auf den Baudelaire eigentlich zusteuerte wie nach seiner Ansicht auch Poe, dieser „écrivain des nerfs“100 ; aber er zeugt von prinzipiellem Wortvertrauen. Wer das Wörterbuch als Dichterbibel versteht, immunisiert sich gegen Sprachskepsis. Auf die parodistische Spitze trieb Gustave Flaubert das enzyklopädische Verfahren mit dessen Neigung zum Hyperpositivismus in seinem großen Romanfragment Bouvard und Pécuchet, die nur noch disparatestes Wissen akkumulieren, es nicht mehr zu verbinden (oder ‚zu vernetzen‘) verstehen und dabei und deswegen verdummen. Dieser Roman war jedoch nur Teil eines viel umfassenderen Projektes, nämlich von Flauberts Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit, ein Archiv der Sottisen, durch das er seinem Hass auf die stupiditas seiner Zeit und der Menschheit überhaupt ironisch-ernsten Ausdruck verschaffte. In diesen Texten veranschaulichte Flaubert, was es bedeutet, wenn der Umgang mit Sprache scheitert, und die „Realisierung des Begriffs“ (Hegel) misslingt. Entscheidend bleibt dabei das sinnbetonte Verhältnis zum Wort. Schon in Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen spielte dieses sinnorientierte Wortverständnis eine leitmotivische Rolle. So schreibt der Ich-Erzähler ganz zu Anfang : „Es muß noch viel Worte geben, die ich nicht weiß : wüsste ich mehr, so könnte ich viel besser alles begreifen.“ (I, 241) Später bezeichnet Klingsohr die Poesie als eine „strenge Kunst“ (I, 477), da erwägt er diverse Inhalte und Formen vor allem für diesen ‚Brief‘. Bruchstücke sollen es sein, „so romantisch, als möglich“ vorgetragen, ein Kommentar à la Lichtenberg, „ein Bericht, ein Gutach 98 Charles Baudelaire, L’Art Romantique. Littérature et Musique. Hg. v. Lloyd James Austin. Paris 1968, S. 181. 99 Ebd., S. 241. 100 Ebd., S. 171.
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ten, eine Geschichte, eine Abhandlung, eine Recension, eine Rede, ein Monolog oder Bruchstücke eines Dialogs“. Hinter diesen Formen des Schreibens, die er virtuos beherrschen will, stehen bestimmte Wissensqualitäten, die angemessen vermittelt werden wollen. Der „Brief an Schlegel“ soll zu einer Vorform eines Romans oder poetisch strukturierten Archivs des Wissens werden, einer „romantisierten“ (im Sinne von romanhaft aufbereiteten) Wissenschaftslehre in enzyklopädischer Absicht. Zu diesem Zweck musste das aufgefundene, freilgelegte, erweiterte Wissen sinnlich bestrickend wirken. Vielleicht kann dieses ambitiöse Wissens-Projekt des Novalis erst heute gelingen, aufbereitet im elektronischen Netz, doppelbödig genug, assoziativ verlinkt, tiefenscharf nach Pixelart, von epischer Speicherkapazität, seiner ursprünglich romantischen Sehnsucht nach dem Einen, auch dem einen Sinn, jedoch unweigerlich entfremdet. Korrespondenzen statt Dialektik Im zuvor schon ausführlich bedachten fragmentarischen Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus suchten Hölderlin, Schelling und Hegel (1795/96) die Parallelität sowie die Korrespondenz von „Monotheismus der Vernunft und des Herzens“ und dem „Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst“ zu etablieren. Anstelle der Dialektik setzen die jungen ‚Idealisten‘ mit der Idee der Schönheit die Ästhetik (II, 577). Sie wollten mythologisch philosophieren, Religion und Denken sinnlich erfahren. „Gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen“, lautete ihr Motto.101 Diese ‚Ausbildung‘ war jedoch nicht zum Selbstzweck gedacht, sondern sie sollte die Interaktion aller mit allen, eines jeden mit jedem befördern. Das Systemprogramm plädierte für die Poetisierung des Denkens, die von seinen Verfassern jedoch nur Hölderlin zu verwirklichen verstand. Schelling und vor allem Hegel betrieben später die Re-Schematisierung und Re-Systematisierung des Denkens, was auf eine Rehabilitierung der Dialektik hinauslief und auf eine Entmythologisierung des Philosophierens. Es wäre jedoch denkbar, im ‚Geist‘ des Hegelschen Systems einen mythologischen Rest zu sehen, der freilich eines nicht mehr zulässt, die „schöne Verwirrung“, deren Sinnbild für Friedrich Schlegel die „alte Götterwelt“ gewesen war.
101 Ebd.
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Sinnliche Religion drückte sich für die jungen Idealisten in den biblischen Legenden aus, aber auch in der geschichtsmächtigen Vorstellung der Dreieinigkeit. Bei Hölderlin findet sie sogar Eingang in die Struktur seiner geschichtsphilosophischen Hymnen, indem sie sich mit dem (pindarischen) triadischen Strophenmodell verbindet und damit der Vielheit und Mehrwertigkeit der poetischen Bilder ordnet, aber nicht einengt. Die Strophentriaden stellen sich scheinbar als strukturelle Entsprechungen zur Lehre der Dreieinigkeit dar, die wiederum in die eschatologische Konzeption eines im Diesseits verwirklichbaren „dritten Zeitalters“, wie sie Joachim von Fiore entworfen hatte, eingegangen war und sich noch für Hölderlins Geschichtsbild als prägend erweisen sollte.102 Auch Lessing hatte mit dieser Vorstellung sympathisiert, in seiner Erziehung des Menschengeschlechts jedoch vor dergleichen schwärmerischen Übereilungen gewarnt.103 Die triadische Grundstruktur der formalisierten Dialektik (These – Antithese – Synthese) hat gelegentlich dazu geführt, zwischen beiden triadischen Konzeptionen eine Verwandtschaft zu sehen. Differenzierend festzustellen ist jedoch, dass die Strophentriade auf keine Synthese zuläuft, die Dreieinigkeit ein Glaubensdogma ist und der Dreischritt in der Dialektik ein teleologisches Moment bezeichnet. Das entscheidende Problem stellt sich aber im Hinblick auf die Frage nach dem Umgang mit der Vielheit. Es ist daran zu erinnern, dass in der Ästhetik seit Edmund Burke die Einheit im Mannigfaltigen als Vollkommenheit definiert wurde. Berücksichtigt man diesen ästhetischen Lehrsatz, dann gewinnt man eine Vorstellung davon, wie ungeheuerlich Friedrich Schlegels Plädoyer für die Emanzipation der ‚Verwirrung‘ und der ganz und gar uneinheitlichen Mannigfaltigkeit seinen Zeitgenossen erscheinen musste. Dass er sie auch noch als ‚schön‘ zu bezeichnen wagte, markiert den entscheidenden Bruch zwischen klassischer und moderner Ästhetik. Analytischer ging Novalis vor. Er widerstand der Mythologisierung der Wissensproblematik, sondern konzentrierte sich stattdessen auf Beziehungsgeflechte. Dialektik galt ihm als Beschreibungssystem von Beziehungen. Nicht das Chaos und die Verwirrungen beschwor er wie sein Freund Friedrich Schlegel, sondern er sammelte – Wissenspartikel etwa, die er in den Beziehungsrahmen einer all102 Dazu u.a.: Michael Sutton, Elie Kedourie and Henri de Lubac, Anglo-French Musings on the Progeny of Joachim of Fiore. In : Middle Eastern Studies 41 (2005), No. 5, S. 717–733. 103 In : Gotthold Ephraim Lessing, Werke Bd. VIII. Hg. v. Helmut Göbel. Darmstadt 1996, S. 509 (§ 89).
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gemeinen Enzyklopädistik stellte. In seinem Allgemeinen Brouillon etwa meint das Enzyklopädische einen Raum, in dem die Bestandteile des Wissens miteinander agieren, einander ignorieren, aber in jedem Falle parallel existieren können. Novalis zählt zu den Sammlern unter den Romantikern. Er präparierte gleichsam Wissenssegmente ; sein Brouillon ist nicht nur Kladde, sondern auch Museum, in dem er diese Segmente für sich selbst ausstellte. Er will These, Antithese, Synthese, Gesammeltes, Gesetztes, Hypostasiertes gleichzeitig in Augenschein nehmen können. So zeigt er sich auch gleichermaßen an Linie und Raum interessiert. Seine Einträge bleiben virtuelle Passagen durch das Dickicht des Wissensmaterials ; wahlweise entflechtet und verdichtet er seine Einsichten durch diese Brouillon-Notizen. Er beobachtet die Vielzahl, sieht, wie das Mehrfache wirkt und bezieht dies auch auf die Innenwelt, die er als Resultat einer inneren Pluralität auffasst. Und dieser „innere Plural“ sucht in den gesammelten Material- und Wissensbeständen nach seiner Entsprechung. Dieses im Inneren angelegte Heterogene vereinigen zu wollen, würde die „Quadratur des Unendlichen“ erfordern (II, 690). Novalis betrieb dabei einen Material- und Reflexionsaufwand, der, im Verhältnis gesehen, nur in Benjamins Passagenwerk eine Entsprechung findet. Im Brouillon wie im Passagenwerk interagieren oder korrespondieren die Materialien miteinander, und zwar in einem Prozess mit offenem, unabsehbarem Ausgang. Plurale Entsprechungen In der Phänomenologie war Hegel jedoch zu der Einsicht gekommen, dass „der Künstler an seinem Werke“ erfahre, „dass er kein ihm gleiches Wesen hervorbrachte.“104 Kunst operiert daher im Bereich des Nichtidentischen, wie ja auch Hegels zuvor so bezeichneter Entwicklungsroman des Geistes, seine Phänomenologie, gerade darum den Geist seine intellektuellen ‚Lehr-und Wanderjahre‘ durchlaufen lässt, damit er schließlich die Identität mit sich selbst auffinde. Sie ist erreicht, wenn die – mit Hegel gesprochen – „Versöhnung des Bewußtseins mit dem Selbstbewußtsein“ im Zustand des absoluten Wissens gelingt.105 In der Phänomenologie erzählen auch die Begriffe von sich selbst. So stellt sich die Erinnerung als das „Innre der Substanz“ vor und die Geschichte als das „wis-
104 Hegel, Phänomenologie, a.a.O., S. 392. 105 Ebd.
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sende sich vermittelnde Werden.“106 Das Bewusstsein durchläuft diverse Stadien, beschreibt seine Wahrnehmungsweisen, zeigt, wie seine eigene Skepsis es in den Zustand melancholischen Unglücklichseins versetzt, wie es durch die Kunst neu zu glauben lernt und durch seinen Wissenstrieb sich mit sich selbst versöhnt. Dieses Wissen nun, „die Wissenschaft des erscheinenden Wissens“, die begriffene Geschichte als „Erinnerung und Schädelstätte des absoluten Geistes“107 bringt es am Ende ihrer Phänomenologie nicht zu einem genauen Zitat ; es verballhornt Schiller : „aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm seine Unendlichkeit“108 zitiert Hegel statt wie im Original : „aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches / schäumt ihm die Unendlichkeit“. Die Apotheose des einsichtsvollen Wissens endet also, ironisch genug, mit einem Zitat aus dem Frühwerk Schillers, seinen theosophisch bestimmten Philosophischen Briefen (1786), dem noch mit einem Verspaar, das in Schillers Briefen in einem Zustand gesprochen ist, den Hegel durch seine Phänomenologie ja gerade dauerhaft überwunden zu haben glaubte : „Ohne Anspruch“, schreibt Schillers Julius an einen gewissen Raphael, „uns selbst unbewusst, zielen wir dahin.“ Die ganze Strophe lautet : Freundlos war der große Weltenmeister, fühlte Mangel, darum schuf er Geister, selge Spiegel seiner Seligkeit. Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches, aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches schäumt ihm die Unendlichkeit (V, 353).
Der große Eine, der Schöpfer, leidet an Einsamkeit und schafft sich in ätherischer Gestalt gute Geister als Gesellschaft. Diese Vorstellung repräsentiert geradezu die Gegenwelt zur sorgfältig entwickelten, subtil ‚erzählten‘ Phänomenologie eines Geistes, der sich selbst zu genügen gelernt hat. Was aber brachte Hegel dazu, abschließend, abrundend, das ‚Geisterreich‘ aufzurufen ? Wäre doch Schillers „Wesenreich“, wenn überhaupt, für den Geist der Phänomenologie angemessener gewesen als das „Geisterreich“ theosophischer Provenienz. Oder handelte es sich hier um eine unerwartete Dialektik, mit der sein Unterbewusstsein ihn gleichsam überlistete ? Holte ihn hier seine eigene Frühzeit ein, die Erinnerung an seine 106 Ebd., S. 446. 107 Ebd., S. 447. 108 Ebd.
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auch von Schiller inspirierte, dem Tübinger Stiftsfreund Hölderlin gewidmete Hymne Eleusis ? War diese Erinnerung das „Innre“ seiner eigenen geistigen Substanz, das sich in diesem adaptierten Schiller-Vers so unvermutet hervordrängte ? Man sieht, die Dialektik verschiebt, ja, vertilgt ihre Inhalte. Was dann Marx an dieser Dialektik kritisierte, traf ihr Problem nur sehr bedingt. Im Nachtrag zur zweiten Auflage des Kapital schreibt er : „In ihrer mystifizierenden Gestalt war die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, […] ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.“109 Mystifizierend wirkt diese Dialektik nur, wenn sie den „Schaum der Unendlichkeit“, also ihrer scheinbar unendlichen Bewegung, durch einen irrationalen Umschlag ins „Geisterreich“ gewinnt. Doch erweisen sich tönerne Füße nicht unbedingt als eine verlässlichere Grundlage, wenn man dadurch den luftig-träumerisch veranlagten Kopf ersetzen will. Marx verkannte die Realität, ja, materielle Wirklichkeit des Hegelschen ‚Geistes‘, seine in Tätigkeit sich manifestierende Substanz. Es gibt eine sinnliche Erfahrbarkeit der Abstraktion. Das ist der Grund, weshalb Hegel dem „abstrakten Kunstwerk“ soviel Aufmerksamkeit schenkt und sein Verhältnis zum „lebendigen“ und „geistigen“ Kunstwerk reflektiert. Dass Marx gerade zur Kunst nichts wirklich Wesentliches einfiel, ist bezeichnend. Als weitaus verhängnisvoller erwies sich aber, dass er die Dialektik historisch-materialistisch instrumentalisierte und sie damit von ihrer Funktion in der kritischen Selbsterkenntnis und der individualpsychologisch wirkenden ErInnerung des wissend und damit verantwortlich gewordenen Ichs löste. Marx sah keinen Anlass zu fragen, ob die Dialektik an sich noch eine zureichende Methode der Welterfassung sei. Er konnte im Gegenteil davon ausgehen, dass gerade sie den gesellschaftlichen Grundkonflikt im Kapitalismus beschreibe. Die langfristig wirkungsvollste Relativierung der Dialektik erfolgte von anderer Seite.
109 In : Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Werke in 6 Bänden. Hg. v. Richard Sperl und Hanni Wettengel. 2. Aufl. Berlin 1971, S. 165f.
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Im Selbstverständnis der frühen Romantik nimmt die Idee und Funktionsweise der poetisch, aber eben nicht dialektisch vorgetragenen Kunstkritik einen solchermaßen zentralen Raum ein, dass sich über das Romantische im Grunde keine Aussage treffen lässt, ohne sich dessen kritischer Substanz und ihres geistig-poetischen Stellenwertes zu vergewissern. Kunst und Kritik sind nicht nur unlösbar aufeinander bezogen ; vielmehr postuliert die Frühromantik die Poesiefähigkeit der Kritik und die Kritikfähigkeit des Poetischen. Was nun bedeutet in diesem Zusammenhang ‚Kritik‘ und was ist mit ‚Poesie‘ gemeint ? Walter Benjamin hatte als erster erkannt, dass in der Frühromantik namentlich durch Friedrich Schlegel und Novalis alle sinnvolle Kritik im Kunstwerk angelegt gewesen war : Kritik verstanden beide als ironische Auflösung der Form, wodurch besonders für Schlegel, so Benjamin, der Blick auf die ‚unendliche‘ Gestaltenwelt frei geworden sei. Kritik definiert Benjamin im frühromantischen Sinne als Methode der Vollendung eines Werkes ; Kritik sei ein Experiment am Kunstwerk, wodurch das Kunstwerk sich seiner selbst bewusst werden könne.110 Benjamin zitiert Friedrich Schlegels Wort, nach dem „wahre Kritik“ nur von Werken Notiz nehmen könne, die etwas beitragen zur Entwicklung der Kunst.111 Er bezieht die Idee der Kritik jedoch auch auf Fichte und dessen 1794 erhobene Forderung, reflexives Denken und unmittelbare Erkenntnis wechselseitig durchdringen zu lassen ; Benjamin spricht von einem „Durch-Einander-Gegebensein“ beider Elemente.112 Identität als Perzeptionsprodukt In seinen Vorlesungen zur Ästhetik hatte Hegel keine Veranlassung gesehen, die Subjektivität und Identität des Künstler-Ichs in Frage zu stellen, auch wenn er befand, dass der Kritiker vor dem vollendeten Werk, das die Religion durch das ihm voraus gehende und es bedingende Kunstwollen und Kunstschaffen ersetzt habe, das Knie nicht mehr beuge.113 In seinem Denken gebot das Subjekt noch unange110 Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In : W.B., Gesammelte Schriften. Bd. I.1. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 65. 111 Ebd., S. 79. 112 Ebd., S. 19. 113 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil. Mit einer Einführung herausgegeben von Rüdiger Bubner. Stuttgart 1977, S. 170.
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fochten über die Form und ließ durch sie die (platonische) Idee weiterhin sinnlich scheinen. Zur Substanz dieses Scheinens gehörte die allgemein akzeptierte Denkmethode, über die gerade Hegel noch souverän verfügte, nämlich die Dialektik. In jenem Jahr (1818) ließen sich jedoch auch andere Töne vernehmen. Schopenhauer entwarf eine Willensmetaphysik, die darauf angelegt war, in der Nachfolge des späten Spinoza den cartesianischen Dualismus und mit ihm die Dialektik als dualistische Denkform zu überwinden. Schopenhauers radikale These, nach der alles, was Welt ist, in uns entspringe, sieht noch die meditativ-mystische Willensverneinung als Ergebnis eines alle Gegensätze hinter sich lassenden Willensaktes. Den schönen Künsten hatte Schopenhauer dabei die Aufgabe zugewiesen, die Phantasie anzuregen und die Dichtung schon deswegen über alle anderen Künste gestellt, weil sie mittelst bloßer Worte die Phantasie in Tätigkeit versetze. Was diese Phantasie jedoch für den Künstler, den Dichter bedeutet, erfährt man aus einem gleichfalls 1818 geschriebenen Brief des englischen Romantikers John Keats : A Poet is the most unpoetical thing of any thing in existence ; because he has no Identity – he is continually in for – and filling some other Body – the Sun, the Moon, the Sea and Men and Women who are creatures of impulse are poetical and have about them an unchangeable attribute – the poet has none.114
Was hier an selbstverleugnender Willensleistung noch übrig bleibt, ist die Bereitschaft des Dichters, sich für andere Zwecke herzugeben und als Sprachrohr für andere Dinge oder Wesen zu fungieren. Indem der Dichter sein Dichten exekutiert, löscht er sich schrittweise selbst aus. Keats weiter : When I am in a room with People if ever I am free from speculating on creations of my own brain, then not myself goes home to myself : but the identity of every one in the room begins to press upon me that, I am in a very little time annihilated.115
Es fällt auf, dass Keats diesen Befund nicht nur als Identitätskrise beschreibt, sondern als notwendige Voraussetzung und Folge des Dichtens. Es fehlt bei ihm der Hinweis darauf, dass diese Selbstauflösung ein schmerzlicher Vorgang sein könne. Keats konstatiert nur, analysiert den Prozess seiner Selbstaufhebung. Die 114 In : The Letters of John Keats. Hg. v. Maurice Buxton Forman. 4. Aufl. Oxford 1972, S. 227 (Brief an Richard Woodhouse). 115 Ebd.
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Anderen dringen in ihn ein und lösen ihn auf, beziehungsweise zwingen ihn dazu, vielgestaltig zu werden, indem er nicht umhin kann, ihre jeweilige Gestalt anzunehmen. Das ist keine meditativ begründete Willensverneinung ; eher könnte man von einer berufsbedingten Willenslähmung sprechen : der Dichter bleibt nur dann Dichter, wenn er sich selbst untreu wird. Von einem fruchtbaren dialektischen Wechselbezug unter Gleichberechtigten kann hier nicht mehr die Rede sein. Bei Keats ist allein von Bedeutung, dass der Dichter in der Vielfalt aufgeht und in der Vielgestaltigkeit weiterlebt. Was bedeutet das ? Dass die Identität des Ich von dem abhängt, was es aufnimmt, was es liest, sieht und hört und davon, wie es diese Eindrücke, Empfindungen und Gedanken verarbeitet, miteinander verknüpft oder eben nicht zueinander in Beziehung setzt. Damit verändert sich auch das Verständnis von Subjektivität : Sie meint nicht mehr ein souverän die Dinge sich unterwerfendes, sondern ein den Dingen unterworfenes Ich und damit einen Zustand, der die Entpersönlichung des Ichs zur Folge hat oder haben kann. Man könnte auch sagen, dass der „innere Plural“, um Novalis’ Ausdruck noch einmal aufzurufen, überhand nimmt. Demnach wäre es entscheidend, den Umgang mit diesem inneren Plural zu lernen, ist es doch unwahrscheinlich, dass er immer das Genie zum „Resultat“ hat. Man könnte nun mit Keats im „inneren Plural“ auch das Ergebnis des permanenten Aufnehmens äußerer Einflüsse sehen, wobei die verschiedenen Verarbeitungs- und Wirkungsweisen diesen Plural in einen Pluralismus der poetischen Formen überführen. Auf dem Weg zum symbolistischen Verständnis von Kunst richtete sich das Augenmerk zunehmend auf die Beziehungen innerhalb der Pluralitäten, ob der Formen, Klänge oder Worte, wobei sich mehr und mehr die Vorstellung durchsetzte, dass der Künstler diese Beziehungen eher ermöglicht denn gestaltet ; er bereitet das Material, zu dem auch die sein Ich potenziell unterminierenden Eindrücke gehören, in einer solchen Weise auf, dass sich Relationen ergeben können. Diese Geburt des Symbolismus aus dem Geist der Romantik beschreibt Baudelaire am Beispiel der Dichtung seines Freundes Théophile Gautier. Wer das Prinzip der ‚correspondences‘ wie Gautier erfasse, verfüge über den Urgrund aller Metaphernbildung. Diese ‚Korrespondenzen‘ hätten jedoch nichts Willkürliches ; denn, so Baudelaire : „Il y a dans le mot, dans le verbe, quelque chose de sacré qui nous défend d’en faire un jeu de hasard.“116 Hatte Hegel ‚er116 In : Charles Baudelaire, Théophile Gautier. In : ders., L’Art Romantique. Hg. v. Lloyd James Austin. Paris 1968, S. 250.
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innernd‘ das Innere des Wesens freizulegen versucht und Schopenhauer nach dem „Inneren Wesen der Kunst“ gefragt, um einen Anhaltspunkt zu gewinnen für die Wirkungsweise von Formen, so ging Baudelaire diesem Zitat zufolge einen entscheidenden Schritt weiter nach innen und in das vom Inneren der Kunst begründete Wirken nach außen. Er fragt nach der inneren Beschaffenheit des Wortes und entdeckt dessen ‚sakrale‘ Substanz, die jede Zufälligkeit in der Art seiner Verwendung ausschließe. Somit verfügt das Sprachmaterial laut Baudelaire über einen sakralen Determinismus, den der Dichter als zaubernder Priester aufzuspüren habe, um eindeutige (‚genaue‘) Korrespondenzen herzustellen. Manier savamment une langue, c’est pratiquer une espèce de sorcellerie évocatoire. C’est alors que la couleur parle, comme une voix profonde et vibrante ; que les monuments se dressent et font saillie sur l’espace profond ; que les animaux et les plantes, représentants du laid et du mal, articulent leur grimace non équivoque ; que le parfum provoque la pensée et le souvenir correspondants ; que la passion murmure ou rugit son langage éternellement semblable.117
Je vielfältiger diese Entsprechungen, desto wirkungsvoller ein Kunstwerk. Hat der zaubernde Dichter-Priester sein Sprachmaterial erst einmal trefflich beschworen, dann ruft die eine Entsprechung die andere hervor ; auf diese Weise entsteht auch ein ‚entsprechender‘ Raum, in dem sich diese ‚correspondences‘ entfalten können. Wie eine Vorwegnahme von Proust liest sich, dass ein bestimmtes Parfüm gewisse Erinnerungen hervorrufen könne. Baudelaire gibt überdies Auskunft darüber, wie solche genauen Entsprechungen (auf ihn) wirkten : Sie machten ihn schaudern („tressaillir“) und führten in ihm zu „convulsions nerveuses“, bis er sich selbst dieses Verfahren im Dichten angeeignet hatte und seinerseits zum zaubernden Priester-Dichter (der Hölle) machte. Wie zentral für Baudelaire dieses anti-dialektische Verfahren der ‚correspondences‘ gewesen ist, illustriert der Umstand, dass er diesem Anschauungsprinzip und Stilmittel in seinen Fleurs du Mal eigens ein Sonett widmete, dessen Quartette er in seinem großen Versuch über Richard Wagner et ‚Tannhauser‘ zitierte :
117 Ebd., S. 250 f.
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Correspondances La Nature est un temple où de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles ; L’homme y passe à travers des forêts de symboles Qui l’observent avec des regards familiers. Comme de longs échos qui de loin se confondent Dans une ténébreuse et profonde unité, Vaste comme la nuit et comme la clarté, Les parfums, les couleurs et les sons se repondent. Il est des parfums frais comme des chairs d’entfants, Doux comme les hautbois, verts comme les prairies, – Et d’autres, corrompus, riches et triomphants, Ayant l’expansion des choses infinies, Comme l’ambre, le musc, le benjoin et l’encens, Qui chantent les transports de l’esprit es des sens.118
Dieses Sonett deutet den Sinn der ‚Übereinstimmungen‘ oder Entsprechungen entschieden synästhetisch. Er erfüllt sich im Zusammenwirken von „wirren“, dem lebendigen Gebäude der Natur entwichenen Worten mit Ton, Duft und Farbe. Ihnen zugeordnet sind Räume, die auf Ausdehnung angelegt sind. Sie vermitteln eine Ahnung vom Unendlichen. Und doch besteht die Gefahr, dass der Mensch in diesem Wald der Entsprechungen vor lauter Symbolen das entscheidende Zeichen nicht sieht : Die Sprache der alles durchdringenden Verzückung, die artistische Konstruktion, die dieses Interagieren der sinnlich-geistigen Eindrücke überhaupt erst möglich macht. In der ‚correspondance‘ Baudelaires war der Übergang von der Dialektik zu einer von Entsprechungen bestimmten Pluralektik des Denkens schon vorgebildet.119
118 Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal/Die Blumen des Bösen. Übersetzt v. Monika FahrenbachWachendorff. Hg. v. Horst Hina. Stuttgart 1980, S. 18. Vgl. auch : Baudelaire, Richard Wagner et ‚Tannhauser‘. In : L’Art Romantique, a.a.O., S. 272. 119 Vgl. dazu : Rüdiger Görner, Denkbrüche oder von der Dialektik zur Pluralektik. In : Scheidewege. Zeitschrift für skeptisches Denken 37 (2007/2008), S.279–295.
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Baudelaires ‚Übereinstimmungen‘ schließen die coincidentia oppositorum ein, poetische Momente, in denen selbst Gegensätze zu Entsprechungen werden können : der Augenblick und „des choses infinies“ stimmen hier ebenso überein wie Hall und Widerhall, Duft und Klang. Die „confuses paroles“ entweichen dabei dem Tempelbau der Natur wie zufällig, wobei dadurch erst dieses Sonett möglich wird, wie überhaupt in diesem Gedicht die ‚correspondances‘ als Ermöglicher vorgestellt werden ; erst durch sie können Geist und Sinne („l’esprit et des sens“) in permanente Verzückung geraten, wie es im letzten Terzett heißt. In dieser poetischen Apotheose des romantischen Denkens und Empfindens in Korrespondenzen vermag alles mit allem übereinzustimmen, genauer : sich auf das jeweils Andere einzustimmen. In den „forêts de symboles“ sieht man freilich die Bäume vor lauter Bedeutungen nicht. Jede Form von natürlicher Ursprünglichkeit – und das ist der Preis für das Denken in Entsprechungen – sieht sich überlagert von beinahe beliebig vielen Bedeutungen, die sich mit den einzelnen Dingen verbinden lassen. Die Noetik, das Erkennen geistiger Gegenstände, ist in diesem Gedicht Baudelaires quasi ausgeschaltet, da es ausschließlich auf sinnliche Perzeption setzt und Korrespondenzen nur zwischen sinnlichen Phänomenen herstellt. ‚Geistig‘ wäre daran allenfalls das Herstellen solcher Beziehungen. (Poetisches) Sprechen bedeutet in dieser Tradition Entsprechungen herzustellen, ohne dass dadurch Abbildungen im Sinne Wittgensteins zustande kämen, dafür aber „Relationen“, die der frühe Nietzsche seinem Verständnis von Sprache und Wahrheit zugrunde gelegt hat. Entsprechend definierte er den Begriff als das Ergebnis eines „Gleichsetzens des Nicht-Gleichen“.120 Denn „jedes Wort wird dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d.h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss.“ (I, 879) Der Begriff habe laut Nietzsche einen Hang zur Abstraktion, aber auch zur Universalie, während der sprachbewusste Mensch den Drang zur Metaphernbildung habe, und das meint zum Produzieren von Relationen oder Analogien. Die erstarrte Phantasie, ebenso wie die wiederholt gebrauchte Metapher, hat dagegen die Tendenz, zum Begriff zu werden. Das animierte Sprechen entdeckt demgegenüber den Ausdruck in Entsprechungen neu und emanzipiert sich dabei idealerweise vom Begriff.121 120 Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (I, 880). 121 Zum Sprachdenken des frühen Nietzsche vgl. Heide Schlüpmann, Friedrich Nietzsches ästhetische Opposition. Stuttgart 1977, 18–77.
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Ein solches Sprechen ist „künstlerisch schaffend“ und sieht in der Relation zwischen Wort und Sache, aber auch zwischen Wort und Wort ein ästhetisches Prinzip am Werke. Denn ohne dass sie auch Schein oder Illusion produzierte, verlöre, wenn wir Nietzsche folgen, jede Relation ihren Reiz und ihre Chance, weiter zu wirken. Korrelatives Schreiben Wer in Korrespondenzen denkt und schreibt, stellt Beziehungen her, die sich nicht notwendigerweise dialektisch weiterentwickeln müssen, sondern als poetische Form durch sich selbst und die (ungewöhnliche) Art der gewählten Entsprechung wirken können. Dieses Verfahren hat T.S. Eliot in seinem Versuch Hamlet and his Problems (1919) als ausgesprochen ‚romantisch‘ bezeichnet122, was ihn wiederum dazu veranlasst hat, den Korrespondenzen sogenannte „objective correlatives“ entgegen zu setzen. Gemeint hatte Eliot damit gegenständliche Entsprechungen, eine sinnlich-dinghafte „Konkretisierung und Objektivierung“ einer unbestimmten „experience“ oder eines nur vagen Empfindens.123 Das ‚romantische Gefühl‘, das ungefähre Erahnen oder ahnungsvolle Ungefähre, das zuvor auch Rilkes sogenannte Ding-Dichtung und sein Malte überwinden wollte, sollte, so Eliot, durch ein System von konkretisierenden Entsprechungen greifbarer und dadurch überprüfbarer werden. Beharrlich hält die Eliot-Forschung daran fest, dass die Grundlage für dieses Denken in Korrespondenzen die Philosophie Francis Herbert Bradleys sei.124 Weitaus wahrscheinlicher ist jedoch, dass Eliot dieses Entsprechungsdenken von Edmund Husserl abgeleitet hat, mit dessen Logischen Untersuchungen er sich während seines Studienaufenthalts in Marburg im Sommer 1914 ausführlich auseinandergesetzt hatte.125 In seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie (1913) hatte Husserl nicht den Begriff der Korrespondenz gebraucht, sondern den der Korrelation, wenngleich auch die Logischen Untersuchungen erkennen ließen, dass er sich von
122 In : T.S. Eliot, Selected Essays 1917–1932. San Diego & New York 1932, S. 121–126. 123 Vgl. dazu u.a. Wolfgang Riehle, T.S. Eliot. Erträge der Forschung Bd. 106. Darmstadt 1979, S. 5 f. 124 Dazu ebd. u. ebd., S. 143. 125 Vgl. dazu : Rüdiger Görner, ‚‚Öd‘ und leer das Meer‘. Zu T.S. Eliots Rezeption deutscher Kultur. In : Ingo Breuer & Arpad Sölter (Hg.), Der fremde Blick. Perspektiven interkultureller Kommunikation und Hermeneutik. Bozen 1997, S. 249–263, bes. S. 253–255.
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der Idee der Korrelation von Gegenstand und Bewusstsein leiten ließ.126 Dieses Korrelationsverhältnis übertrug Husserl in seiner Phänomenologie auf „Ding und Dingwahrnehmung“127, was bedeutet, dass der junge Eliot zu jenem Zeitpunkt in Berührung mit Husserls Denken kam, als dieser den Durchbruch von den Untersuchungen zur Logik zur Phänomenologie vollzog, ein entscheidender Krisis-Moment in Husserls Denken, der im wesentlichen durch sein Beharren auf den beides verbindenden Korrelationsgedanken möglich wurde. Eliots fünf Jahre später entwickelte Vorstellung von „objective correlatives“ darf demnach als unmittelbare poetologische Adaption dieses Husserlschen Gedankens verstanden werden. Die ironische Pointe ist freilich, dass sowohl Husserl als auch Eliot (spät-) romantische Unschärfen im Denken und Sprechen durch eine Konzeption zu überwinden hofften, die selbst romantischen Ursprungs gewesen war. Denn die ‚Korrelationen‘ stellen sich als allenfalls logisch geläuterte poetische ‚Korrespondenzen‘ von der Art eines Baudelaire dar. Ihr Anliegen ist eng verwandt : durch Entsprechungen zwischen verschiedenen Sinnes- oder Erfahrungsbereichen tragfähige Deutungszusammenhänge oder deutungswürdige ‚neue‘ Bilder entstehen zu lassen. Husserl hatte selbst im Rahmen seiner Phänomenologie die Frage nach dem Bild und der Bildqualität von Zeichen gestellt, und zwar im Zusammenhang mit dem Problem der Wahrnehmung und Vergegenwärtigung von wirklichen und gedachten Objekten,128 also eine, wie Eliot gespürt haben muss, essentiell poetische Frage. Dass die Frage nach poetischen Korrelationen als Beschreibungsmodi von Wahrnehmungen in Form eines Restbestandes romantischen, aber eben auch phänomenologischen Bewusstseins virulent geblieben ist, belegt das Beispiel Raoul Schrotts und seines Gedichts „Niels Bohr – Korrespondenzprinzip“ aus dem Band Tropen. Über das Erhabene von 1998.129 Was hier ‚korrespondiert‘ sind „konsonanten und vokale“ mit „elementaren / teilchen“, Sprache mit Partikeln, das Licht, das sich mit den Dingen „paart“, wissenschaftliche Einsicht mit poetischer Ansicht.130 126 Elisabeth Ströker, Husserls Werk. Zur Ausgabe der Gesammelten Schriften. Hamburg 1992, S. 18 ff. 127 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie. In : Gesammelte Schriften Bd. V. Hg. v. Elisabeth Ströker. Hamburg 1992, S. 92. 128 Ebd., S. 232 ff. 129 Den Hinweis verdanke ich Karen Leeder (Oxford), die im Rahmen eines von Leonard Olschner und mir veranstalteten Forschungskolloquiums zum Thema „Poetry & Poetology after Celan“ dieses Gedicht im Rahmen ihres Beitrages „‚Ästhetik der Kälte‘ : epistemological experiment in contemporary German poetry“ erörtert hat. 130 Raoul Schrott, Tropen. Über das Erhabene. München 1998, S. 162–163.
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Im System der Korrespondenzen oder Korrelationen verschwindet das Ich. In den fünfzehn Strophen von Schrotts Gedicht kann es sich nur in dreien behaupten, wobei es sich in der dritten durch die Art seines Sagen entpersönlicht : „es ist immer ein ich das wir sagt“.131 Das erinnert an Keats und wiederum an Eliot, die, wie gesehen, beide diesen entsubjektivierenden Ansatz im Schreiben in Korrespondenzen betont hatten. Auch im Gedicht von Schrott ist erkennbar, dass diese Korrespondenzen zu keinen wirklich dialektischen Bezügen führen, die sich danach quasi eigendynamisch weiter entwickeln könnten. Demnach ließe sich als Korrespondenzprinzip eine Art Denkstilmittel identifizieren, durch das die dialektische Prozessualität still gestellt und dafür ein eher zirkulares Bewusstsein (neu) etabliert wird. Es ist nicht von Ungefähr, dass sich in Schrotts Gedicht die Zeilen finden : „die möwen / zieht es zurück in ihr zirkeln uferlos vertieft / bis die wolken ihre kreidestriche von neuem löschen“.132 Der Aussagewert der „negative capability“ Korrespondenzen, wie es sich aus dem Gesagten ergibt, sind weder Verknüpfungen von zwei verschiedenen Sinnqualitäten noch Übertragungen. Sie konstituieren analoge Verhältnisse in Gestalt von Wortvernetzungen, die neuen Sinn generieren sollen. Der ‚romantische‘ Rest daran liegt an der Vermutung, dass es einen solchen Sinn (immer noch) geben kann. Keats’ These von der Identitätslosigkeit des poetischen Ich, der vielleicht radikalsten Abweichung vom Subjektivitätskult der europäischen Romantik, findet ihre Entsprechung in seiner Rede von der „negative capability“, die er in seinem Brief vom 22. Dezember 1817 als eine besondere Disposition des Menschen beschreibt : „ […] that is when man is capable of being in uncertainties, Mysteries, doubts, without any irritable reaching after fact & reason.“133 Wozu der Dichter jedoch befähigt bleibt, ist der Schönheitssinn. Durch ihn lassen sich, so Keats, Widrigkeiten überwinden, beziehungsweise so miteinander ins Spiel bringen, dass sie in eine andere Zustandsform überführt werden können.
131 Ebd., S. 163. 132 Ebd. 133 In : John Keats, Letters. A selection. Hg. v. Robert Gittings. Oxford 1977, S. 43.
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Die ‚negative capability‘ verweist jedoch auf eine conditio humana, die das Aushalten widriger Umstände meint, also einen vor-ästhetischen Zustand, in dem sich noch nichts klären läßt und von einem dialektischen In-Beziehung-Setzen der „uncertainties“ und „doubts“ nicht die Rede sein kann. Diese innere Verfassung hat etwas Stoisches und bezieht sich auf eine Fähigkeit, die nur bedingt produktiv ist, daher von Keats als „negative“ bezeichnet, aber für die Erhaltung des eigenen Seins unverzichtbar. ‚Negative‘ ist diese Fähigkeit jedoch vor allem deswegen, weil sie mit vermeintlich negativen Phänomenen umzugehen versteht. Es handelt sich mithin um einen Seinszustand, der auf seine Transformation ins Werden hofft, aber sich der Verwirklichung dieser Hoffnung keineswegs sicher sein kann. Diese Einsicht in das Wesen des Seins, das von der „negative capability“ konditioniert ist, setzt, so sollte man meinen, ein hohes Maß an Reflexivität voraus und erfordert eine vergleichsweise systematische Herleitung der Begrifflichkeit. Vergegenwärtigt man sich aber den Briefkontext, in dem Keats diesen Gedanken vorgetragen hat, dann fällt auf, wie unvermittelt er in diesem Brief auftritt, wobei das Verb „auftreten“ durchaus bühnensprachlich gemeint ist. Keats spricht in diesem Brief von Shakespeare-Aufführungen (er hatte den großen ShakespeareDarsteller Edmund Kean als Richard III. gesehen), von Unterhaltungstheater und überhaupt von theatralischer Befindlichkeit. Und daran schließt sich übergangslos die Reflexion über „negative capability“ an. Man könnte auch sagen : ein bis dahin Unbewusstes findet plötzlich zu seinem Ausdruck, der vielgestaltig ist und den Gedanken wie eine Bühnenfigur auf dem Privattheater des Briefes behandelt. Die äolische Harfe als poetisches Instrument Die englische Romantik experimentiert zu jener Zeit nicht nur mit der Möglichkeit, „uncertainties, mysteries and doubts“ in Schach zu halten ; Samuel Taylor Coleridge versuchte, diese Zweifel, das Mysteriöse und Ungesicherte freizusetzen und ihrerseits wirken zu lassen, und zwar in Anlehnung an Friedrich Schlegel und Schelling. Sein Begriff für die Aufteilung eines Gedankens in diverse Diskursbereiche und seine damit verbundene fortschreitende Differenzierung nannte er „tautegory“ im Gegensatz zur Allegorie.134 134 Vgl. dazu bes. Paul Hamilton, Coleridge and German Philosophy. The Poet in the Land of Logic. London 2007, S. 4 u. 101–120.
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Wenn es eine Gestimmtheit gibt, die einer spezifischen Begriffsbildung vorausgeht oder eine solche begünstigt, dann hat Coleridge jener Stimmung, die der „tautegory“ förderlich sein konnte, in seinem Gedicht The Eolian Harp von 1795/96 vorgearbeitet.135 Dieses Gedicht ist unmissverständlich erotischer Natur ; die vom Wind der Harfe entlockten Töne entsprechen dem Erwachen intimer Gefühle im Dichter für seine Sara. Er hat seine Harfe bei Clevedon in den Westwind gestellt, mit Blick auf den Bristol Channel, um gewissermaßen die Temperierung der Natur zu ermitteln, den Einklang seiner mit ihrer Gestimmtheit : And now, its strings Boldlier swept, the long sequacious notes Over delicious surges sink and rise, Such a soft floating witchery of sound As twilight Elfins make, when they at eve Voyage on gentle gales from Fairy-Land, Where Melodies round honey-dropping flowers, Footless and wild, like birds in Pardise, Nor pause, nor perch, hovering on untam’d wing !136
Natur, Kunst und Reflexion durchdringen einander. Colderidge spricht vom Licht im Klang, vom Klang im Licht und vom Rhythmus in allem Denken. Überall hört er Musik schlummern und sieht Zeichen einer künstlerisch durchwirkten Natur und von Natur durchwirkten Kunst. Reflexion und Kritik lösen sich in diesen Klängen der äolischen Harfe auf, formieren sich aber auch neu, wobei ‚Kritik‘ hier ganz im Sinne Friedrich Schlegels das positive Herausarbeiten von neuen Sicht- und Empfindungsweisen meint. Philosophisch-reflexive Gedanken trägt Coleridge (nicht nur) in diesem Gedicht ausschließlich in poetischer Gewandung vor : „And what if all of animated nature / Be but organic Harps diversely fram’d, / That tremble into thought, as o’er them sweeps / Plastic and vast, one intellectual
135 In : Samuel Taylor Coleridge, Selected Poetry. Hg. v. Richard Holmes. Harmondsworth/London 1996, S. 36–37. 136 Ebd., S. 36 (V. 17–25) : „Nun aber streichen die langen Tonfolgen kühner, steigen und fallen über anmutige Täler und Hügel, ein so sanftes, behexendes Klingen, wie die Elfen im Dämmerlicht erzeugen, wenn sie des Abends aufs sandten Winden aus dem Märchenlande reisen, wo Melodien um Honig spendende Blüten, fußlos und wild wie Vögel im Paradies, rastlos auf ungezähmten Flügeln schweben.“
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breeze, / At once the Soul of each, and God of all ?“137 Das ist eine Variationsform des Pantheistischen, das zu einer eher hypothetischen Größe wird, die nur Bestand hat, wenn die Natur als eine „organische Harfe“ mit verschiedenen Rahmen verstanden werden kann, deren Klang sich in das Denken einspielt. Coleridge entwirft in diesem Gedicht eine Poetik des Reflektierens, die impliziert, dass das Denken nur ästhetisch legitimiert und konditioniert sein kann. Schon bei Coleridge schlafen Lieder in allen Dingen, aber eben auch Gedanken. Der Ton des Denkens entscheidet dabei auch über den Takt des daraus entstehenden Handelns. Vergleicht man dieses Gedicht mit Eduard Mörikes elegischen Strophen An eine Äolsharfe von 1837, dann fällt auf, dass die Reflexion sich in Klage verwandelt hat, Kritik in Ergebung. Mörike beschreibt eher den Zustand von ‚negative capability‘, dem Aushalten von Trauer (um seinen 1824 verstorbenen Bruder). Perpetuiert wird dieser Zustand durch die Sehnsucht nach der „melodischen Klage“, die von einer „luftgebornen Muse“, dem Wind und seiner Harfe, kommt. Als diese Sehnsucht sich erfüllt, stellt sie sich dann doch als ein Überraschungsmoment dar : Aber auf einmal, Wie der Wind heftiger herstößt, Ein holder Schrei der Harfe Wiederholt, mir zu süßem Erschrecken, Meiner Seele plötzliche Regung ; Und hier – die volle Rose streut, geschüttelt, All ihre Blätter vor meine Füße. (I, 689f.)
Die Harmonie von Natur und Klang scheint gestört ; denn der Klang der Windharfe umstreicht nicht mehr wie bei Coleridge eine vor Honig triefende Blume, sondern entblättert eine Rose. Sie aber kann zum finalen Sinnbild der Trauer und der ‚negative capability‘ werden. Vielgestaltige, aber auch sich auflösende Reflexion und ein Sich Sehnen nach Kunst, die ans Süchtige grenzt, dieses Spiel mit Pluralitäten kennzeichnet die Ro137 Ebd., S. 37 (V. 44–48) : „Und was wenn alles in der belebten Natur nur verschieden gerahmte Harfen wären, die sich ins Denken schwingen, als über sie körpergleich und riesig eine geistige Brise strich, gleichzeitig eines jeden Seele und von allen der Gott ?“
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mantik noch in ihrer Spätphase, wie Mörikes Beispiel belegt. Hinzu kommt ein Sich Umspielen von Ironie und Naivität, das Thomas Mann in seinen zwischen 1908 und 1912 entstandenen Notizen zu einem Literaturessay aufgegriffen hatte, wobei er unter dem Stichwort „Romantik und Kritizismus“ treffend bemerkte, dass die Naivität der Romantik ihr „Raffinement“ gewesen sei.138 Bekanntlich hat er dann die fiktive Fortführung dieser Arbeit unter dem Titel Geist und Kunst seinem Gustav Aschenbach überlassen, eine ironische Pointe, die ja auch besagen will, dass die Kritik nach Überformung verlangt und sei es in einer Gestalt, die der Selbstauflösung preisgegeben ist. Wie nun finden kritisches Bewusstsein und Äolsharfe zusammen ? In beiden Windharfen-Gedichten zeigen sich Hinweise auf selbstkritische Momente. Das von der Äolsharfe und der Geliebten bezirzte Ich des Coleridge-Gedichts fühlt sich zuletzt schuldig, weil es sich Christus entfremdet hat. In Mörikes Gedicht fällt auf, dass das Ich in völliger Inaktivität verharrt und einfach nur geschehen lassen kann, was Wind und Harfe auslösen. Auch die „plötzliche Regung“ der Seele bewirkt in diesem Gedicht kein vom Ich ausgehendes Handeln. Geschildert werden demnach Zustände, die zur Selbstkritik zumindest einladen. Demgegenüber schließt eine stoizistisch interpretierte „negative capability“ explizite Selbstkritik eher aus ; kommt es doch für das Ich unter jenem Vorzeichen vielmehr darauf an, diverse Zustände auszuhalten, ohne sie wirklich aufheben oder verwandeln zu können. „Ich bemitleide jeden, der den Zusammenhang seiner eigenen Gedanken kennt.“139 Diese These, vorgetragen von einem erklärten Gegner Immanuel Kants namens Flosky in Thomas Love Peacocks burleskem, die Romantik parodierenden Dialogroman Nightmare Abbey (1818), bringt auf den Begriff, wo die Grenzen romantischen Kritik-Verständnisses liegen. Hatte Franz Sternbald noch an der „Verworrenheit“ seiner Vorstellungen gelitten, so darf man behaupten, dass die romantische Kritik in zunehmendem Maße auf Systematik verzichtete, was selbst für jene Denker galt, die wie Schelling noch bis circa 1804/05 einen systematisierenden, wenngleich nicht explizit kritischen Anspruch erhoben. Romantische Kritik setzte partiell an, am einzelnen Phänomen, eingedenk der prinzipiellen Zusammenhangslosigkeit unserer Bewusstseinszustände und ihres Wechselspiels 138 Thomas Mann, Aufsätze. Reden. Essays. Band 1 : 1893–1913. Hg. v. Harry Matter. Berlin und Weimar 1983, S. 282. 139 Thomas Love Peacock, Nachtmahr-Abtei. Aus dem Englischen von Matthias Müller. Mit einem Nachwort von Werner Morlang. Zürich 1989, S. 76.
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mit dem Bereich des Nicht-Bewussten. Die Aufspaltung des Romans in verschiedene Stimmen eines Ichs ist ein solches Phänomen, das sich bei Tieck ebenso zeigt wie bei E.T.A. Hoffmann. In seinem Fantasiestück Die Abentheuer der Sylvester-Nacht (1815) zum Beispiel befürchtet einer der Protagonisten, dass er sein Spiegelbild verlieren könne, wobei er sich aber sogleich mit dem Argument tröstet, dass die Selbstbetrachtung ohnehin nur zu Eitelkeit führe und dazu, dass ein solches Bild „das eigne Ich in Wahrheit und Traum“ spalte.140 Friedrich Schlegel und die Frühromantik hatten dieses Phänomen eher als förderlich gesehen und gingen von einer Verdoppelung des Seins bereits im Ich aus. Dieses in sich verdoppelte Ich konnte mit sich selbst identisch oder zerworfen sein ; in keinem Fall aber war es mit der Natur identisch, weil sie kein Bewusstsein kennt, die Einsicht in die Selbstverdoppelung aber Bewusstsein voraussetzt. Schelling übrigens glaubte sich deswegen von der Kritik als dem leitenden Prinzip der Denkentwicklung verabschieden zu können, weil er den von Kant errungenen Sieg des „Kriticismus über den Dogmatismus“ glaubte für endgültig halten zu können.141 Was Schelling zu jener Zeit aber beschäftigte, namentlich in seinen Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (1806), war das Problem des Relationismus, also der Verhältnisbestimmungen zwischen den Erscheinungen sowie den Erscheinungen und dem postulierten beziehungsweise von ihm konstatierten Absoluten. So sah er das „Phänomen der Dinge“ auf einem „Doppelbild“ beruhen, das durch die nicht-reale Vorstellung von diesem Ding und seiner Realität bedingt sei. Das Relationale entwickelte sich bei Schelling zu einem Vorstellungs- und Reflexionsbereich, der den Begriff ‚Kritik‘ zunehmend ersetzte. Das durch Relationen, man könnte sie auch entstehende, auflösende und sich wieder neu ergebende Beziehungsgeflechte nennen, Hervorgebrachte nennt Schelling Gleichnisse oder Abbilder „der wahren und urbildlichen Identität“. Einschränkend behauptet er : „Das in der Relation Entstandene ist, inwiefern es bloß auf Relation beruht, auch ein bloßes Ens imaginarium, leeres Geschöpf ohne innere Einheit, ein Scheinbild (simulachrum), das ist und auch nicht, je nachdem es betrachtet wird.“ (I, 653) Was diesen Gebilden fehle, so Schelling, sei innere Einheit, ein Sinnkern (ein 140 E.T.A. Hoffmann, Die Abentheuer der Sylvester-Nacht. Hg. v. Barbara Neymeyr. Stuttgart 2005, S. 41. 141 So in seiner 1804 entstandenen „Proprädeutik der Philosophie“ (III, 128). Das kritische Bewusstsein hielt Schelling für solchermaßen etabliert, dass er in seiner posthumen Würdigung Kants („Immanuel Kant“, 1804) dessen vernunftkritische Leistung nicht einmal mehr erwähnte und statt dessen Kants Emanzipation der Kunst in der „Urteilskraft“ hervorhob (I, 13–20).
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Unum per se). Ihre Entstehung verdanke sich Zufällen ; daher sei ihre Schein-Einheit auch nur ein „Unum per accidens“ (I, 653) Durch diesen kritisch dargestellten Relationismus hatte Schelling jedoch einen Vorstellungshorizont entworfen, der auf quantenphysikalische Phänomene vorauswies. Die Quantenphysik spricht vom „entanglement“ als einer occasionalen Beziehungsform. Sie besagt, dass wenn zwei Systeme interagieren, also miteinander auf irgendeine Weise in Beziehung getreten sind, können und sollen sie fortan als eine Einheit oder ein System angesehen werden, da sie fortan gemeinsame Eigenschaften haben, auch wenn sie voneinander wegstreben. Was einmal in Beziehung miteinander gewesen ist, bleibt an Relationsqualität unverloren. Übertragen gesprochen : Wer je eine Beziehung eingegangen ist, bleibt von ihr gezeichnet ; das Verhältnis bewahrt sich selbst in und nach seiner Auflösung. In unmittelbarer zeitlicher Verwandtschaft zu diesen Aufzeichnungen Schellings sollte Goethe daran gehen, in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften diesen Relationismus im chemisch-zwischenmenschlichen Sinne zu personalisieren. Dieser interpersonale Relationismus, um nicht zu sagen : Schematismus, hört sich in den Worten des Hauptmanns wie folgt an : „Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen ; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält ; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung : A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne dass man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem anderen zuerst wieder verbunden habe.“ (VI, 276) Schellings intellektueller und Goethes chemisch-individualpsychologischer Relationismus haben gemeinsam, dass sie das Interagieren von Vorstellungen und Elementen, Dingen und Menschen interessiert, bei dem es zu kritischen Ansätzen im eigentlichen Sinne nicht mehr kommen kann. Es lässt sich eben nicht mehr sagen, so Goethes Hauptmann, wie diese Prozesse zeitlich ablaufen, allenfalls aber, dass selbst noch die Auflösungsprozesse aufeinander bezogen und die Spuren der jeweiligen Beziehungen erhalten bleiben. Was daran noch ‚romantisch‘ ist, lässt sich am ehesten in den Tagebüchern „schöner Seelen“ auffinden, wo sich diese Beziehungen weniger chemisch rein darstellen. Ihre Selbstkritik lässt keine „negative capability“ mehr zu, sondern führt zur Selbstauszehrung.
VII Pluralektische Klangformen und romantische Fensterblicke
Zum romantischen Anspruch eines, mit Novalis gesprochen, „Pluralism und Omnilism“ gehört auch das Einbegreifen der Musik in die Reflexion.142 Das Denken vertonen und die Musik denken – diese Forderung wurde zum Bestandteil des frühromantischen Kunst-Projekts und lässt sich bis in die Spätromantik Schumanns und Hugo Wolfs, selbst noch bis in die Romantik-kritische Brechung dieses Projekts bei Nietzsche verfolgen. Der alles einbegreifende „Omnilism“ oder „Pluralism“ des Novalis erkannte in den musikalischen Strukturen ein flexibles Beziehungssystem, das man philosophisch zu nutzen wusste. Die musikalische Grammatik mit ihrer klanglichen Syntax und den Tonarten als ihren Konjugations- und Deklinationsformen richtete sich – etwa in Schellings Kunstphilosophie – an der Bedeutung der rhythmischen Gefüge aus. Aus den rhythmischen Einheiten, wie Schelling nahe legt, generiere die Musik ihren Gesamtrhythmus, den Rhythmus des Einen im Vielerlei.143 Die inhaltliche Gewichtung des Rhythmus als „Musik in der Musik“ (Schelling) trug dann mit dazu bei, den Klang vom Wort zu emanzipieren und in Richtung „absoluter Musik“ vorzudringen.144 Hegel wiederum beschrieb das „Verhältnis des Inhalts und der Form im Romantischen“ wie überhaupt den „Grundton des Romantischen“ als musikalisch.145 Trotz der offenkundigen Tendenz romantischer Musik zum Abstrahieren von der Vokalmusik und zu einer Symphonik, die sich mit E.T.A. Hoffmann als eine „Oper der Instrumente“ verstand146, zeigte sich „das Romantische“ immer wieder gerade in der intensivierten Symbiose von Wort und Ton, nämlich in seiner wesentlichsten Klangform : im Lied. Die Musik, so wiederum Schelling, sei ein „reales Selbsterzählen der Seele“, wobei er betont, dass „die Formen der Musik die Formen der ewigen Dinge seien“, und zwar von ihrer „realen Seite“, also ihrer sinnlich-geistigen Realität aus betrachtet.147 Schelling ging sogar soweit, den Gehörsinn mit dem Selbstbewusstsein in Verbindung zu bringen, und zwar vermittelt durch unseren Zeitsinn, weil dieser rhythmisch und reflektierend konditioniert sei.148 So wie die Musik sich als 142 Das Allgemeine Brouillon Nr. 1004 (II, 699). 143 II, 318ff. (§ 77 – § 83). 144 Dazu noch immer grundlegend : Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik. München 1978. 145 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen zur Ästhetik. Bd. II. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1970, S. 141. 146 E.T.A. Hoffmann, Schriften zur Musik. Hg. v. Friedrich Schnapp. München 1963, S. 19. 147 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst. Darmstadt 1976, S. 28. 148 Ebd., S. 319.
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eine durch den Rhythmus begründete Struktur dazu eignet, Verschiedenheiten, Vielheiten in sich aufzunehmen, was sich in der Symphonie oder der symphonischen Dichtung idealtypisch zeigt, können auch die Sinne ein Zusammenstimmen verschiedenster Eindrücke koordinieren. Entsprechend bezieht die ästhetische Theorie der Romantik wahrnehmungspsychologische Phänomene in ihre Reflexionen mit ein. Folgerichtig fordert Novalis eine „Theorie der Berührung“ und des Übergangs als Teil einer Lehre von der Transsubstantiation, die beides einbegreifen soll : den Übergang vom Sinnlichen ins Geistige und umgekehrt. Die Sinne als Instrumente der Weltwahrnehmung gehören im romantischen Verständnis auch zum Inventar des Reflektierens. Was das Auge in den Blick nimmt, ans Ohr dringt, gerochen oder ertastet wird, prüft der kunstsinnige Romantiker auf seinen geistig-ästhetischen Wert und gewinnt daraus Anhaltspunkte für seine formenden Transformationen, zu denen auch die Abstraktion von eben diesen sinnlichen Eindrücken gehören können. Musik und Bewusstsein Musik als „Verklärung der sinnlichen Natur“ steht für eine Spielart romantischer Kunstauffassung, wie sie etwa Bettine von Arnim vertreten hat.149 Die andere ‚nicht-verklärte‘ insistierte auf der sinnlichen Qualität der Musik und führt sich auf Wilhelm Heinse und dessen Roman Hildegard von Hohenthal zurück (1795/96). „Unser Gefühl ist selbst nichts anderes“, schreibt Heinse, „als eine innre Musik, immerwährende Schwingung der Lebensneven.“150 Musik als Entäußerung einer Art emotionalen Physiologie – mit dieser These versuchte Heinse am Übergang von musikanalytischer zu musikpoetischer Betrachtung ein Zeichen für die Interpretation einer Kunst zu setzen, die noch in der Spätromantik als „Tat des Herzens“ verstanden wurde. Ist nun aber Musik das ‚reine‘ Unbewusste oder Ergebnis schöpferischen Kalküls ? Aufschlussreiche Überlegungen zu dieser Frage finden sich in Johann Wilhelm Ritters Reflexionen Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, die Analyse und gefühlsbetonte Deutung interagieren lassen, wie dieser Auszug belegt : 149 Bettine von Arnim, Sämtliche Werke, 7 Bde. Hg. v. Waldemar Oehlke. Berlin 1920 ff., Bd. 3, S. 261. 150 Wilhelm Heinse, Sämmtliche Werke. Bd. 5. Hg. v. Karl Schüddekopf. Leipzig 1903, S. 24.
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Wie das Licht so ist auch der Ton Bewußtseyn. Jeder Ton ist ein Leben des tönenden Körpers und in ihm, was so lange anhält, als der Ton, mit ihm aber erlischt. Ein ganzer Organismus von Oscillation und Figur, Gestalt ist jeder Ton, wie jedes Organisch-Lebendige auch. Er spricht sein Daseyn aus. […] Töne sind Wesen, die einander verstehen, so wie wir den Ton. Jeder Accord schon mag ein Tonverständniß unter einander seyn, und als bereits gebildete Einheit zu uns kommen. Accord wird Bild von Geistergemeinschaft, Liebe, Freundschaft, u.s.w. Harmonie Bild und Ideal der Gesellschaft. […] Alles Leben ist Musik, und alle Musik als Leben selbst – zum wenigsten sein Bild.151
Ritter entwirft hier eine organische Musikauffassung, die vom Bewusstsein ausgeht, aber auch von der These, dass es kein menschliches Verhältnis geben könne, das sich nicht auch musikalisch, d.h. in musikalischen Verhältnissen, ausdrücken ließe. Musik als Bild und Ausdruck des Harmonischen sieht sich zum gesellschaftlichen Modell erklärt und hält implizit alles (im kompositorischen Sinne unaufgelöst) Disharmonische für verworfen, weil es eine am Prinzip Konsens orientierte Gesellschaft unterminieren müsste. Gleichzeitig empfiehlt Ritter die Musik als Modell der Kommunikation. Denn im musikalischen Werk sei alles auf alles bezogen, jedes Teil auf das andere ; denn die Töne werden zu verständigen „Wesen“ erklärt, die gerade deswegen in Bezug zueinander treten können, weil sie sich ihrer selbst und der anderen Töne bewusst seien. Noch umfassender setzten Friedrich Schleiermachers Überlegungen zur Musik an, die er in seinen Vorlesungen über die Ästhetik entwickelte (366–429). Vom Standpunkt des Pluralektischen, also des wechselseitigen In-Beziehung-Setzens des sinnlichen wie gedanklichen Materials in der Kunst und im philosophischen Diskurs, bietet Schleiermachers Musik-Kapitel in seiner Ästhetik reiches Anschauungsmaterial. Töne und Gebärden versteht er als Ausdruck „bewegten Selbstbewußtseins“ (367), wobei ihn zunächst die Abstufungen im Übergang von Gesprochenem zu Gesungenem interessieren. Hierbei ist ihm um Definitionsgenauigkeit zu tun, etwa der Art : „[…] das sich dem Gesang annähernde Sprechen“ sei noch keine Musik, „sondern nur Übergang dazu“ (369), oder : „Das physische Element der Musik beruht also auf dem gemessenen Tone, und indem wir so den gesungenen Ton von dem gesprochenen unterscheiden, so liegt 151 Johann Wilhelm Ritter, Fragmente aus dem nachlasse eines jungen Physikers. Faksimile nach der Ausgabe von 1810. Heidelberg 1969, S. 232 ff.
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in jedem musikalischen Kustwerke nichts anderes, als ein Zugleichsein und eine Succession von solchen gemessenen Tönen“ (370). Diese musikalische Einheit von Gleichzeitigkeit und Nachzeitigkeit gilt Schleiermacher als Grund dafür, dass die Musik besonders geeignet sei, Gefühls- und Geisteswelt umfassend auszudrücken. Indem er jedoch darauf beharrte, dass die Musik den Zustand sinnlichen (also nicht ‚höchsten‘) Bewusstseins artikuliert, entfernte er sich vom Bild des ‚genial‘ aus sich heraus schaffenden Komponisten ; überhaupt fällt auf, dass Schleiermacher nicht vom Komponisten redet, sondern von der Musik als handelnder Kunst. Nachfolgend sei jedoch das Phänomen des Romantischen in der Musik aus kompositorischer Sicht am Beispiel Schuberts erörtert ; und das auch deswegen, weil man vermeint das, was das Romantische sei, geradezu prototypisch im Resonanzbereich von Schuberts Musik bestimmen, ja, greifen zu können. Schubert und die Idee musikalischer Landschaft Romantischer nie, so möchte man sagen, als in Schuberts Adagi, seinen Liedern, im sogenannten „Notturno“. Sobald man sich jedoch dem Musikalisch-Romantischen definitorisch nahe glaubt, entzieht es sich einem unweigerlich. Um es analoghaft zu sagen : Das Romantische gleicht, nicht nur in der Musik, einer Wanderschaft auf dem Wege zu Rätseln, wobei diese Wanderschaft ihrerseits selbst rätselhaft wird. Daher wohl auch das paradoxe Phänomen, dass sich – etwa im romantischen Liedschaffen – das Motiv des Wanderns zumeist als Zyklus vorgestellt sieht. Es suggeriert ein eben nur scheinbar raumgreifendes Wandern ; denn es verbleibt letztlich auf einer Kreislinie, deren Mittelpunkt das durch den oft zu hoch gespannten Anspruch gefährdete, mithin von Selbstzersetzung bedrohte Ich ist. Will man die einem beständig sich entziehende Essenz des Romantischen zu erfassen versuchen, dann verlangt dies, bei paradoxalen Beschreibungsformen Anhaltspunkte zu finden, im Widersprüchlichen, in unscharfen Relationen, etwa jenen zwischen Reflexion und Gefühlsausdruck, zwischen kohärenter künstlerischer Aussage und ihrem Aufbrechen ins Fragmentarische. Man kann allzu versucht sein, diese Gegensätze rein dialektisch aufeinander zu beziehen. Mit Blick auf Schubert hatte der junge Adorno diesen Versuch unternommen, wobei er aber zu dem für ihn erstaunlichen Eingeständnis kam, dass gerade die Dialektik die insgesamt unzureichendste Beschreibungsform für Schuberts Kunst sei. Sein
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Essay Schubert aus dem Jahre 1928 wurde fraglos zum wesentlichsten Stück Musikphilosophie, das über den Komponisten der Winterreise bekannt ist.152 Was nun genau sagt Adorno in diesem großen Essay ? Er arbeitet den Landschaftscharakter von Schuberts Musik heraus, freilich nicht im Sinne des Pastoralen, sondern in der Gestalt einer „Landschaft des Todes“. Er spricht vom bruchstückhaften, „niemals sich selbst genügenden […] kristallinischen Wuchs“ dieser Musik153 und davon, dass diese Landschaft, man fühlt sich erinnert an die Landschaft der Klage in Rilkes „Zehnter Duineser Elegie“, exzentrisch gebaut sei. Der Wanderer durchkreise sie, ohne fortzuschreiten. „Alle Entwicklung“, so Adorno, „ist [dieser Landschaft] vollkommenes Widerspiel, der erste Schritt liegt so nahe beim Tod wie der letzte, und kreisend werden die dissoziierten Punkte der Landschaft abgesucht, nicht sie selber verlassen“.154 Hierin sah Adorno die Neigung Schuberts zur Wiederholung als kompositorischem Verfahren begründet. Dessen Themen blieben im Wesentlichen „ohne dialektische Geschichte“ ; seine Variationenwerke griffen nie das Thema im zerlegenden, zersetzenden Sinne wirklich an, sondern umspielten es allenfalls in „kreisender Wanderschaft“.155 Gerade diese Wiederholungsfiguren erlauben aber, das Wiederholte zu reflektieren, was für den Musiker oft Modulation bedeutet, Tonartenveränderung des musikalischen Materials. Der Tod, so Adorno, sei eingesenkt in diese Musiklandschaft, wobei ihre Formen am ehesten als „Formen der Beschwörung des einmal Erschienenen“, also auch des Todes, zu begreifen seien. Gemeint ist damit vor allem Schuberts Eigenart, den Rahmen der Sonatenform nicht zum minutiösen motivischen Zergliedern des Themas zu nutzen (wie etwa bei Beethoven !), sondern die Themen als Themen immer wieder reflektierend in Erinnerung zu rufen. Was aber sind diese „dissoziierten Punkte“ der musikalischen Todeslandschaft Schuberts, in der es phasenweise ausgelassen zugehen kann, bis einem dann der Schritt schwer wird, wie in Schuberts dunkelstem Menuett, das seinen tänzerischen Ursprung vergessen und stattdessen einen schwermütigen Choral anstimmen möchte (D 600) ? Ein solcher „Punkt“ kann zum Beispiel der Ton Fis sein, der als ostinates Pochen in jedem Takt des Liedes „Die liebe Farbe“ in der Schönen 152 Adorno, Theodor W., Schubert. In : Metzger, Heinz-Klaus/Riehn, Rainer (Hg.) : Franz Schubert. „Todesmusik“ (= Musik-Konzepte 97/98) München 1997, S. 19–30. 153 Ebd., S. 22. 154 Ebd., S. 24. 155 Ebd.
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Müllerin gegenwärtig ist, oder das Gis im dreiteiligen Andantino der vorletzten Klaviersonate, um das ein resignativer Gesang wie manisch kreist. Was daran wäre jedoch „romantisch“ zu nennen ? Eine vermeintlich „unzureichende Geschlossenheit“ etwa, die später Tschaikowski am „a-Moll-Quartett“ monieren sollte156, oder Schuberts „übermäßige Längen“, die Schumann dagegen im Falle der „C-Dur-Sinfonie“ bekanntlich als „himmlisch“ bezeichnet und mit einem vierbändigen Roman von Jean Paul verglichen hatte ?157 An der Schwelle zur Frühromantik stand ein hier bislang noch nicht berücksichtigter Roman, dessen Kunstideologie Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck und Clemens Brentano maßgeblich beeinflusste : Wilhelm Heinses Ardinghello (1787). Spätestens die vierte und fünfte Auflage in den Jahren 1819 und 1821 hatte auch Wien erreicht, und es ist wahrscheinlich, dass der Roman im literarischen Zirkel Franz Schobers, der bis 1824 und dann wieder ab 1828 neueste deutschsprachige Literatur behandelte, Erwähnung fand. Im Ardinghello, der sich vor allem an der bildenden Kunst der Renaissance orientierte, beansprucht die Musik die Rolle einer alles überwölbenden, alles durchdringenden Kunst : „[…] die Welt ist eine Musik ! Wo die Gewalt der Konsonanzen und Dissonanzen am verflochtensten ist, da ist ihr höchstes Leben ; und der Trost aller Unglücklichen muß sein, daß keine Dissonanz in der Natur kann liegenbleiben.“158 Für Bruchstücke einer ästhetischen Konfession mag sie auch Schubert gehalten haben, die Entwürfe zu Bühnenwerken, die Klavierskizzen zu Symphonien und fragmentarischen Klaviersonaten. Andererseits : was liegt alles von Schubert ‚vollendet‘ vor – ein wahrer Melodienkosmos, eine vielgestaltige Feier der menschlichen Stimme in unzähligen Liedern, aber auch in Instrumentalstücken, die gleichsam zu Liedern wurden, wenn man beispielsweise an das „Impromptu in Ges-Dur, op. 90“ denkt, welches das Klavierspiel zum Gesang erhebt. Schon früh aber ließ Schubert die Klavierbegleitung des Gesangs zum gleichsam landschaftlichen Stimmungshintergrund eines Liedes werden. Das gelang ihm erstmals im November 1816, als er Matthisons Gedicht Geistertanz als Chorsatz vertonte (D494). Das Lied als Bewusstseinsform, das Singspiel als 156 Tschaikowski, Peter I., Erinnerungen und Musikkritiken. Hg. u. übers. v. Richard Petzoldt und Lothar Fahlbusch. Leipzig 1974, S. 145. 157 Zit. nach Braungart, Georg/Dürr, Walther (Hg.), Über Schubert. Von Musikern, Dichtern und Liebhabern. Eine Anthologie. Stuttgart 1996, S. 117. 158 Heinse, Wilhelm : Ardinghello und die glückseligen Inseln. [Eine italienische Geschichte aus dem sechzehnten Jahrhundert] ; Kritische Studienausgabe. Hg. v. Max L. Baeumer. Stuttgart 1975, S. 275.
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harmonische Erschließung von Welt, aus dem dann in Die Schöne Müllerin das Liederspiel wird. Doch Spiel nicht um des Spieles willen. Besonders das Lied entwickelte sich ihm zur Form der Selbstbehauptung. Freilich handelt es sich um die Selbstbehauptung eines Ichs, das sich zunehmend dichterischen Texten zuwandte, vor allem Wilhelm Müllers Gedichten, die wiederum ein Ich zeigen, das an aussichtsloser Liebessehnsucht zugrunde geht. Was hier zu Stimme kommt, ist – gerade auch im Hinter- und Untergründigen der Klavierbegleitung – das Destabilisierende im Ich. In seinem Schubert-Gedicht, das Franz Grillparzer wohl als Einladung zu dessen einzigem öffentlichen Konzert am 26. März 1828 konzipiert hatte, traf der Dichter mit seiner plakativen ersten Zeile und dem bereits eigenartig relativierenden zweiten Vers Anspruch und Lebensproblem des Komponisten : „Schubert heiß‘ ich, Schubert bin ich / Und als solchen geb‘ ich mich.“159 Anspruch insofern, als hier ein junger Komponist, aus dem Schatten Beethovens getreten, seine Identität behauptet und künstlerisch vor einer größeren Öffentlichkeit zu bekräftigen versucht. Lebensproblem in dem Sinne, dass es sich letztlich doch auch um ein Rollenspiel, um ein „Sich-so-oder-so-Geben“ handelt. Was ist das für eine Romantik, die Schubert in sich aufnahm, selbst schuf und seinerseits inspirierte ? Welches Zeitgefühl lag ihr zugrunde ? Einen „süß reflektierenden Sänger des Herzens“ nannte ihn Nikolaus Lenau in einem Brief mit jedoch durchaus Schubert-kritischem Unterton.160 Aber eben doch nicht nur. Es spricht aus diesen Kompositionen eine Romantik der punktierten Rhythmen heraus, wie Alfred Brendel bemerkt hat161, und ein Versuch, dabei auszugreifen, selbst im Fragment umfassend zu werden, Sätze ineinander übergehen zu lassen, wie im Falle der Wandererfantasie, der etwas Etüdenhaftes eignet. Die Bühnenstoffe, denen er sich zuwendet, entsprechen dem romantischen Klischee : viel Zauber und verklärte Ritterwelt, Mythos und das, was die Zensur sonst noch erlaubt. Es ist eine Zeit – Schubert durchschaute die Verhältnisse nur zu genau –, die, wie er in seinem Gedicht „Klage an das Volk !“ schreibt, „Großes zu vollbringen wehrt“.162 159 Zit. nach Braungart, Über Schubert, a.a.O., S. 48. 160 Zit. nach Ebd., S. 194. 161 Brendel, Alfred : Nachdenken über Musik (=Schuberts Klaviersonaten 1822–1828) München [u. a.] 61982, S. 106. 162 In einem Brief an Franz von Schober vom 21. September 1824. Siehe Schubert, Franz : Briefe, Gedichte, Notizen. Ausgew. und mit einem Nachwort versehen von Rüdiger Görner. Frankfurt am Main/Leipzig 31997, S. 56.
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In Schuberts eigentlicher Schaffenszeit wurde die Romantik zum ästhetischen Rückzugsgebiet für das politisch deformierte Bewusstsein. Soweit Schuberts Briefe und Aufzeichnungen überliefert sind, spiegeln sie eben diesen Zustand und beschreiben dort scheinraumhafte Landschaften, wo die politischen Verhältnisse keinen Spielraum mehr erlauben. Es war eine Welt, aus der etwa ein Carl Postl nur noch in einer neuen Identität, jener des Charles Sealsfield, und einem anderen Land, den Vereinigten Staaten von Amerika, einen Ausweg sah. Die Landschaft : In Schuberts Bewusstsein schien dies eine Verbindung gewesen zu sein aus der Topographie Wiens, Atzenbrugger Landpartien, etwas Salzburger Land und Steiermark sowie der Ahnung von Weite um Zelez. Landschaft : Sie konnte Vorlage sein, Anlass für ausladende briefliche Beschreibungsversuche von beträchtlicher sprachlicher Intensität (man denke an seinen epischen Brief, den er am 12. September 1825 seinem Bruder Ferdinand aus Gmunden schreibt !) und Hintergrund für kompositorisches Schaffen. Landschaft : Ort der Begütigung und des Sinistren, das es musikalisch zu erfassen galt. Landschaft : fließende Übergänge als wellenhaft bewegte Terzen, harsche Kontraste wie jene zwischen naturseligem, ländlerhaftem Singen und den kompromisslos hart wie Unheil einbrechenden Tutti im zweiten Satz der „Unvollendeten“. Das Spezifikum dieser Schubert‘schen Landschaft ist, dass in ihr als einem Gestaltungsraum oder musikalisch gestalteten Raum alles mit allem ins Spiel gebracht werden kann : das komponierende Ausloten der Traditionen und die versuchten Grenzüberschreitungen ins Neuland, das ihm am Ende die Lektüre von Fenimore Coopers Romanen bereithielt. Aber zu dieser Landschaft gehörte auch das Niemandsland, von dem Peter Gülke mit Blick auf das Fragment gebliebene geistliche Drama Lazarus gesprochen hat163, das Komponieren ohne Verankerung, im Irgendwo zwischen Leben und Tod, ein Schaffen, das sich jeglicher Auferstehungstheologie verweigerte. Schubert komponierte an einer Seelenlandschaft, deren Vorlage er knapp vor seiner Arbeit am Lazarus entdeckt hatte : die Hymnen und geistlichen Lieder des Novalis, poetische Transzendierungsversuche, teils in lyrischer Prosa, teils in prosahafter Lyrik, Nachtstücke, Topographien seelischer Befindlichkeiten. „Alles mit allem ins Spiel bringen“ : zum Beispiel hallensischen Pietismus in Gestalt von August Hermann Niemeyers szenischem Lazarus-Oratorium von 1778 mit Novalis‘scher Todessehnsucht : „Hinüber wall ich.“ Liegen hier dialek163 Vgl. Peter Gülke, Franz Schubert und seine Zeit (=Große Komponisten und ihre Zeit) Laaber 1991, S. 182.
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tische Bezüge vor ? Durchaus nicht. Schuberts Schaffen ließe sich spätestens ab 1820 weitaus eher als „pluralektisch“ beschreiben. Das spielerisch einen Assoziierungsraum bewirkende Pluralektische und weitaus weniger das schematisch Dialektische wurde Essenz von Schuberts künstlerischem Verfahren, dieses InBeziehung-Setzen von Divergentem, ein bloßes Andenken von Gedanken, die man wieder verlässt, wenn sie ans Unausdenkbare zu grenzen beginnen, das Spiel mit Paradoxa, das allen Themen oder Motiven auf kurz oder lang untreu wird, nur dem Spiel nicht, dem Lied, dem Umherstreifen in der zunehmend imaginären Landschaft. Dieser Zug zum Imaginären, zur Abstraktion, die aber noch sinnlich bleiben will, ist Wesensmerkmal des Pluralektischen im hier vertretenen Wortsinn. Das Musikalische als romantische Gesprächsform Und Schubert, dessen Liedschaffen von Hölty bis Heine, von Novalis bis Wilhelm Müller und Walter Scott reichte, der sich der Tradition und der unmittelbarsten Gegenwart in der Poesie stellte, dabei das Romantisch-Gefühlsbetonte, nicht das Abgeklärte in Goethes Dichtungen hervorkehrend, Schubert verstand sich auf jede Spielart des Musikpoetischen, auch in seinen Instrumentalkompositionen oder als Dichter am Klavier. Dieses Komponieren wollte Gespräch sein, Unbestimmtes in eine Bewegung versetzen, die weit über das Ende des Musikstücks hinausreichte. Es ist eine Musik, die noch als Fragment das Unaufhörliche suggeriert. Sie wiederholt, umspielt, unternimmt alles Erdenkliche, nur um nicht aufhören zu müssen. Der „Durchbruch zur großen Sinfonie“ gestaltete sich denn auch in der „Neunten“ als ein großes Kreisen und als Sehnsucht nach der „perpetua musica“, die, wenn sie zum Aufhören genötigt wird, getrost banal schließen kann, wie es denn auch am Ende des vierten Satzes der „C-Dur-Sinfonie“ geschieht, das man als eine Ironisierung der Zumutung des Enden-Müssens hören könnte. Bei aller Intimität dieser Musik – hinter ihr stand ein Komponist, der zum Großen entschlossen war, weil er die Sehnsucht nach dem ganz Anderen in sich spürte, eine Sehnsucht, deren Urgründe er am Anfang der so genannten „Unvollendeten“ mit ihren so nachdrücklich pochenden, drängenden, ans Ganze rührenden musikalischen Fragen auszuloten gewagt hatte. Was wäre nach der großen „C-Dur-Symphonie“ denkbar gewesen ? In unseren Tagen hat Luciano Berio in seiner Komposition Renderings etwas Bemerkens-
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wertes versucht : Jeglichem heute so modischen Vervollständigungswahn widerstehend, der aus Fragmenten abgeschlossene Werke verfertigen zu können glaubt, wandte er sich dem musikalischen Material zu, das auf eine zehnte Symphonie Schuberts hindeutete, um mit ihm variierend, transponierend und verfremdend zu arbeiten. Mit dem Titel Renderings könnte dieses Verfahren nicht angemessener benannt werden – meint er doch „respektvolle Wiedergabe“, Übertragung von einer Sprache in die andere. Und was gab Berio wieder ? Schuberts Ahnung des Großen, Weiten, noch in der bescheidensten musikalischen Wendung. Ob freilich Schubert seinem englischen Zeit- und Leidensgenossen John Keats zugestimmt hätte, der im Vorwort zu seiner gleichfalls Großes wagenden Dichtung Endymion einbekannte : „[…] there is not a fiercer hell than the failure in a great object“ ?164 Wer möchte es entscheiden. „Einst zeigt deine Uhr das Ende der Zeit“, konnte Schubert bei Novalis in der vierten der Hymnen an die Nacht lesen (I, 159). Aber gegen dieses Ende begehrte er auf – durch sein geradezu ans Rauschhafte grenzendes Singen, jenem Beschwören des Melodischen, dem „perpetuo mobile“ seiner, des Nicht-Tänzers, Tänze. Politische Untertöne Das Politische wurde zu einem jener Motive, die Schubert in einigen seiner Kompositionen pluralektisch verwob. Doch dieses Singen wollte noch mehr : das Schweigen in Zeiten politischer Restauration und Zensur brechen.165 Politisch ist die Schubert‘sche Romantik insofern, als diese Kunst einem quer durch die sozialen Stände reichenden Freundeskreis eine ästhetische Identität verlieh und eine Gegenwelt zum staatlich verordneten Tiefschlaf für kritische Köpfe eröffnete. Politisch wirkte Schuberts Schaffen zumindest auf den Freundeskreis dann, wenn er unmittelbar nach den Karlsbader Beschlüssen aus Schillers großem Gedicht Die Götter Griechenlands dessen elegischsten Teil, die zwölfte Strophe, vertont und als Tempo „langsam, mit heiliger Sehnsucht“ vorschrieb : „Schöne Welt, wo bist du ? Kehre wieder / Holdes Blütenalter der Natur !“, auch wenn er von einer Veröffentlichung aus nahe liegenden Gründen absah. Als politisch galt, dass er im Oktober 164 John Keats, Poetical Works. Hg. v. H(eathcote) W(illiam) Garrod. Oxford 1976, S. 54. 165 Vgl. dazu vor allem Friedrich Dieckmann : Franz Schubert. Eine Annäherung. Frankfurt am Main/Leipzig 1996, S. 75 ff.
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1819 Goethes aufbegehrende Hymne Prometheus vertonte. Unmissverständlich politisch klang, als Schubert 1822/1823 Franz v. Bruchmanns Gedicht Zürnender Barde vertonte, das insgeheim dem 1820 von der politischen Polizei verhafteten und ein Jahr später ohne Prozess aus Wien verbannten Tiroler Freund Johann Senn zugedacht war. Und als „politisch“ mochten die Freunde schließlich auch empfunden haben, dass sich Schubert des Textes Des Fremdlings Abendlied (1808) von Georg Philipp Schmidt annahm, eines prototypisch romantischen Gedichtes, das er einer 1815 in Wien erschienenen, von Ludwig Deinhardstein, dem späteren Chef der literarischen Zensur, herausgegebenen Anthologie unter dem unscheinbaren Titel „Dichtungen für Kunstredner“ entnahm. Wie ein Echo auf Schillers Frage „Schöne Welt, wo bist du ?“ lesen sich Schmidts Verse : Wo bist du, mein gelobtes Land, Gesucht, geahnt und nie gekannt ? Das Land, das Land so hoffnungsgrün, Das Land, wo meine Rosen blühn ? Wo meine Träume wandeln gehn, Wo meine Toten auferstehn, Das Land, das meine Sprache spricht, Und alles hat, was mir gebricht ?166
In diesen Zeilen fand Schubert versammelt, was inzwischen zu seiner ureigenen Erfahrung geworden war : die Frage nach dem Utopischen. Ist die Utopie das Land, in dem wir nie gewesen sind ? Oder ist es das Land, in dem wir noch nicht waren ? Man weiß, wie das Gedicht endet, mit einem paradoxen, anapästisch vorgetragenen Eingeständnis : „Da, wo du nicht bist, blüht das Glück.“ Schubert korrigiert, indem er die Aussage noch verschärft : „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück.“ Es fällt schwer, hier keinen Vorverweis auf Die schöne Müllerin, gar Die Winterreise zu hören. Schubert war eben keineswegs nur der Komponist romantischer Melodienseligkeit, sondern vor allem auch der Ernüchterung im Romantischen. „Schuberts Formen sind Formen der Beschwörung des einmal Erschienenen, nicht der Verwandlung des Erfundenen“, urteilte Adorno in seinem besagten Ver166 Zit. nach Ebd., S. 201.
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such über den Komponisten der Moments musicaux.167 Zu dieser Schubert’schen „Form“ gehöre, so Adorno weiter, auch die Frage nach der Gestalt des Finales, dessen Unzulänglichkeit etwa in der Wandererfantasie mit dem fragmentarischen Charakter der Unvollendeten zusammenzudenken sei. Anders gesagt : Schubert erfand nicht. Seine Formen erfassten den musikalischen Einfall, das tatsächlich Gehörte, um diesen Einfall dann Zug um Zug zu enthüllen. Mag hierin auch der Grund dafür liegen, dass Schubert ein problematisches Verhältnis zum bühnenwirksam Dramatischen hatte, dem nun einmal das Wissen um finale Zuspitzung gegebener Verhältnisse in jedem Stadium der Entwicklung innewohnt ? Niemand hat dies schärfer erkannt als Franz Liszt in seinem eingehenden, im Jahre 1854 verfassten Essay über Schuberts Oper Alfons und Estrella. Liszts These lautete : Schubert habe die kleineren Formen gebraucht, um Großes zu erreichen.168 Als zwei Jahre später Julius Stockhausen in Wien Die schöne Müllerin erstmals als geschlossenen Liederzyklus vortrug, erwog der Kritiker Eduard Hanslick in seiner Konzertbesprechung, was dies für das Verständnis Schuberts überhaupt bedeuten könnte : Durch einen solchen Vortrag ließe sich dieser „kleine, einfache Roman in Liedern“ endlich „dramatisch“ auffassen. Der Liederzyklus als bühnenreifes Ereignis, dramatische Größe im lyrischen Detail. Es dauerte dann aber bis Januar 2002, um die eigentliche Bühnenwirksamkeit dieses Zyklus zu erproben – so geschehen am Zürcher Schauspielhaus in Christoph Marthalers Inszenierung der Schönen Müllerin. Erkennbar wurde dadurch vor allem eine Art „großer Symphonie“, aber eben in Gestalt eines großen, szenisch-dramatischen Liederzyklus oder gespielten Gesangs, eines Kompendiums menschlichen Daseins. Im Werk Schuberts fand dieses Kompendium dann durch Die Winterreise ihre am Tragischen rührende Vervollständigung. Diese musikalischen Formen des „einmal Erschienenen“, um Adornos Formulierung aufzugreifen, wären demnach Klangbilder diverser Gemütszustände oder besser : Seinsverfassungen. Nur : Mit welcher Art von romantischer Musikästhetik setzen wir uns hier auseinander ? Ist das noch die musikalische Form eines „sich von innen heraus gestalteten Geistes“, wie Eduard Hanslick „das Romantische“ definierte ?169 Wusste 167 Adorno, Schubert, a.a.O., S. 25. 168 Vgl. Braungart, Über Schubert, a.a.O., S. 127. 169 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst. Unveränderter reprografischer Nachdruck der 1.Auflage Leipzig 1854 (=Bibliothek klassischer Texte) Darmstadt 1965, S. 34.
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sich Schubert etwa in Übereinstimmung mit einer romantisch-kosmologischen Ästhetik, die im Kunstwerk eine „Metapher des Universums“ sah ?170 Schwerlich. Der im Freundeskreis zunehmend vereinsamende Schubert wandte sich am Ende Gedichten zu, die von kosmischer Geborgenheit wenig, von ernüchternder Vereinzelung nur allzu viel wussten. Am Ende stehen Heine, ferne, trostlose Horizonte und ein Hirt auf dem Felsen, der traute Schäferstündchen nicht einmal mehr imaginieren kann, sondern eher jenem Mann am Felsenmeer gleicht, mit dem Moritz von Schwind 1823 das Thema „Einsamkeit“ allegorisch bearbeitet hatte. Das Desolate in der menschlichen Existenz, die scheinbar spurlos verklingende Emphase, die sich totlaufende Bewegung, die in den Leerlauf mündende ekstatische Aufwallung, diese Empfindungsbereiche prägten bereits die Moments musicaux (op. 94) ; spätestens in den Liedern des Schwanengesang kehrte diese Stimmungslage wieder. Spielen mit Übergängen Romantisch ? Zeigt es sich im Wechselspiel von Kontraktion und Expansion, durch das sich einige wenige Töne zu balladenhaften Epen auswachsen können wie im „c-moll-Impromptu“ (op. 90, No. 1), um dann am Schluss sich völlig in die Vereinzelung zurückzunehmen ? Hören wir dieses Romantische in der virtuosen, Chopin ahnen lassenden, achteltriolischen Brillanz, die – einmal mehr – die Idee ewiger Bewegung simuliert ? Ahnen wir im Zauber des dritten dieser Impromptus in Ges-Dur die transitorische Dimension romantischen Empfindens ? Oder ist es das Spiel mit Übergängen und Kontrasten, das die Schubert‘sche Romantik prägt, das Fließende, aber auch Gegenläufige seiner Klavierkompositionen ? Was zum Beispiel geschieht zwischen dem Andantino der späten „A-Dur-Klaviersonate“ und ihrem Scherzo ? Wie ist ein solcher Stimmungsumschwung denkbar, nachvollziehbar, glaubwürdig, zwischen den gehämmerten Akkorden, dieser von resignativer Empfindung ummantelten Verzweiflungsekstase, die sich in einen Zertrümmerungswahn zu steigern scheint, Brendel spricht sogar von „Anarchie“ – und darauf schiere Ländler-Welt, wiegende Rhythmik, heitere Gefühle bei imaginierter Ankunft auf dem Lande. Oder die rasch wechselnde Kontrastierung von Dur und Moll in der Begleitung zum Protestlied Der zürnende Barde, die Schubert in „exzessiv-dissonante Übergänge“ (Friedrich Dieckmann) zwingt. Und dagegen 170 Vgl. dazu Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik. München 1978, S. 34 ff.
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die „Neunte“, ein Meer von fließenden Übergängen, moderaten Kontrasten, die in suggestiver Selbstvergessenheit zu schwelgen scheinen. Man könnte die „romantische“ Dimension von Schuberts Werk in seinem Einspruch gegen das Skandalon des Enden-Müssens erkennen. Dabei ließe sich sein Lied-Werk als ein einziger großer Kunstakt werten, der die liedhafte Welterfassung wagte, ein Schaffensvorgang, aus dem ihm, quasi unter Hand, ein universalmusikpoetischer Anspruch erwuchs. Dem zunehmend an Unbehaustheit leidenden Ich galt es, eine Geborgenheit stiftende Bleibe in der Kunst zu schaffen und dem Leben eine Verfassung durch das „Lied“ zu geben. Diese Einsicht reichte von Hölderlin, über Novalis, Caspar David Friedrich bis Schubert und Schumann. In Goethes und Marianne von Willemers West-östlichem Divan (1819), zu dessen frühen Lesern Schubert zählte – er komponierte im März 1821 die beiden „Suleika“-Gedichte – stand ein Gedicht, das Schubert nicht zu vertonen brauchte, weil dessen Kunde bereits in jedem seiner Kompositionen gegenwärtig gewesen war und es in allen kommenden auch bleiben sollte. Ich meine das Gedicht Unbegrenzt : Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß, Und daß du nie beginnst, das ist dein Los. Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe, Und was die Mitte bringt, ist offenbar Das, was zu Ende bleibt und anfangs war. […] Nun töne Lied mit eignem Feuer ! Denn du bist älter, du bist neuer. (II, 23)
„Dein Lied ist drehend […], Anfang und Ende immerfort dasselbe“. Hier scheint bereits der Leiermann Wilhelm Müllers mit müder Hand zu winken. Denn es ist durchaus wahrscheinlich, wenn auch nicht nachweisbar, dass diese interkulturelle Feier des Dichterischen, die Goethe im Divan zum Erstaunen seiner Zeitgenossen vorgelegt hatte, bereits in diesem frühen Stadium auf Wilhelm Müller und seine um 1820, also ein Jahr nach der Veröffentlichung des Divan entstandenen „Reiselieder eines Waldhornisten“ gewirkt haben. „Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe“. Bei Müller und Schubert klingt dies nüchterner ; keine Rede
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mehr von kosmischer Geborgenheit. Der einzige symbolisch-kosmische Verweis in der „Winterreise“ ist das Lied Die Nebensonnen, das nur noch zwei ernüchternde Einsichten kennt : „Ach, meine Sonnen seid ihr nicht !“ und „Im Dunkel wird mir wohler sein.“ In Schuberts Vertonung folgt, anders als in Müllers Zyklus, auf diese herbe Einsicht Der Leiermann, das bloße „Drehen“ des Liedes, ganz ohne metaphysisches Potenzial. Das neue Programm des Schubert der letzten Jahre zeichnete sich ab : Entzauberung des Romantischen, entgeisterte Ernüchterung über die menschliche Existenz, der in der Klavierbegleitung des Leiermann eine des Harmonischen und rhythmischer Variation nahezu entwöhnte Tonfolge entsprach. Womöglich wäre gerade darin, in diesem Gegenentwurf zur selbstvergessenen Ländler-Welt, in der zuweilen radikalen Vereinzelung der Töne, wie sie auch aus manchen der späten Impromptus spricht, Schuberts eigentlichsten Beitrag zur Welt des Romantischen zu suchen. Es ist der Beitrag eines Komponisten, der eine große Landschaft aus dem Gefühl des Noch-nicht und Niemehr, aus lauter Abschieden eben, zu gestalten verstand. Und diese Abschiede, auch Hans Castorp bekam dies am Ende im Zauberberg, den Lindenbaum auf den Lippen und im Herzen, zu spüren, diese Abschiede, sie gehen uns mehr denn je auf Schritt und Tritt voran. Bildwerke und Blickpunkte Das Beispiel Schubert zeigte, wie die Formenvielfalt dieses Komponierens und pluralen Gestaltens, das auch die große akustische Sammellinse des Symphonischen mit einbegriff, sich zuletzt gerade dem Reduktionismus stellte. Der Minimalismus der Winterreise und die Expansivität der letzten Klaviersonaten bilden dabei eine spannungsvolle Relation, die noch beim späten Brahms und späten Liszt Wirkung zeigte. Hör-, Blick- und Denkrichtung gehören im romantischen Verständnis zusammen. Musik, so Jean Paul, sei „romantische Poesie durch das Ohr […] Keine Farbe ist so romantisch als ein Ton“.171 Die Gegenposition dazu findet sich in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre ; Natalie zitiert ihrem Freund Wilhelm gegenüber ihren musikliebenden Oheim, der die These vertrat, dass „wahre Musik allein fürs Ohr“ sei und der daher „eine Musik nicht anders als mit zugeschlossenen Augen anzuhören, um sein ganzes Dasein auf den einzigen reinen Genuß des 171 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. Hg. v. Wolfhart Henckmann, 4. Aufl. Hamburg 1980, S. 466.
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Ohrs zu konzentrieren.“ (VII, 543)172 Ganz nebenbei erfand besagter Oheim das versteckte Orchester, das dann der unablässige Goethe-Leser Richard Wagner im verdeckten Orchestergraben in Bayreuth aufführungspraktisch umsetzen sollte. Schuberts musikalischer und synästhetisch lauschender Blick auf die Landschaft wiederum, Beethoven hat ihn in der Pastorale im wörtlichen Sinne vorausgesehen, hatte größere Zusammenhänge im Sinn, die sich im Expansiven und wiederholenden Verschleifen von Motiven einiger Sätze in seinen Symphonien und Sonaten zeigt. Novalis Prosa Die Lehrlinge zu Sais beginnt mit einem ähnlichen Bild. Der Erzähler sieht in den „mannichfachen Wegen der Menschen“, wenn man sie verfolge, vergleiche, ihnen nachgehe, eine Chiffrenschrift entstehen, welche den Landschaften, Weiten, Naturphänomenen eingeschrieben sei. Man verstehe diese Schrift nicht, weil sie auch ein „Accord aus des Weltalls Symphonie“ sei (I, 201). Die Kunst, aber auch die Kunst des Deutens, vermittelt nun zwischen diesem klingenden Makrokosmos und dem Mikrokosmos der eigenen Erfahrung. In Novalis Prosa tritt dabei ein „Lehrer“ in Erscheinung, der alles Verstreute zu bündeln versteht und der über einen „entzündenden Blick“ verfügt. Was hier Feuer fangen soll, ist das Verständnis für die „hohe Rune“, das aus allen von den Menschen gegangenen Wegen bestehende Zeichen. Diese kosmischen, in Schlegels Sinne „universalpoetischen“ Dimensionen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass romantische Kunst größtenteils Kammerkunst war. Demzufolge blieb sie aber auch um Ausblicke bemüht, brauchte Fenster. Monadenhaft im Sinne der Leibnizschen „fensterlosen“ elementaren Sinneinheit verstand sich diese romantische Kammerkunst keinesfalls. In der Malerei häuften sich denn auch angefangen mit C.D. Friedrich die Fensterbilder ; in Musik und Poesie sollte der enge Raum der „Kammer“ ästhetisch erweitert oder gar „überstiegen“ werden. „Mich führt alles in mich selbst zurück“, sagt der Lehrer in Die Lehrlinge zu Sais. Aber der Autor dieser Prosa, Novalis, verstand sich, wie jeder Romantiker, auf den doppelten Blick. In Blüthenstaub notiert er : „Der erste Schritt wird ein Blick nach innen – absondernde Beschauung unseres Selbst – Wer hier stehn bleibt geräth nur halb. Der 2te Schritt muß wircksamer nach außen – selbstthätige, gehaltne Beobachtung der Außenwelt seyn.“ (II, 236) Dabei konnte die Außenwelt durchaus als bedrohlich erfahren werden, so etwa in der Gewitterszene in Goethes Werther oder in seiner Schilderung in der Italienischen Reise eines nächtlichen Ausbruchs des Vesuvs, den er aus sicherer Perspektive von einem großen 172 Vgl. auch : Peter Utz, das Auge und das Ohr im Text : Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990.
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Fenster aus beobachtet. Der Fensterrahmen schützt, begrenzt das sonst Uferlose, verpflichtet zu relativ konzentriertem Schauen, wobei seit Tilman Riemenschneiders berühmter Plastik dem „Fenstergucker“ diesem Blick immer auch etwas Sehnsüchtiges innewohnt. Kein Text, in dem sich die Spätform romantischen Erzählens bereits ankündigt, hat die Blick-Problematik so anschaulich und perspektivenreich reflektiert wie E.T.A. Hoffmanns Novelle Des Vetters Eckfenster (1822). Sinnigerweise wurde diese Erzählung in der Zeitschrift Der Zuschauer erstmals veröffentlicht. Was sich an Schubert beobachten ließ, trifft auch für diesen späten Text Hoffmanns zu : Sein erzählerischer Ansatz ist nüchterner geworden, minimalistischer, wenn man so will. Er verzichtet auf das Phantastische, Bizarre, Unheimliche.173 In dieser Novelle versucht Hoffmann, lebensgeschichtlich gesehen, letzte Momentaufnahmen erzählend zu fassen, wobei diese erzählten ‚Aufnahmen‘ stillschweigend miteinander korrespondieren, pluralektisch interagieren, um auf diese Weise ein pointilistisches Gesamtbild zu erzeugen. Hoffmann zeigt, wie man aus dem überreichen Angebot der Wirklichkeit diesen oder jenen Blick isolieren muss, sich vom Blickfang einnehmen lassen soll, um genau sehen zu können. Für die Komplementarität der Sehweisen sorgt die Novelle schon allein dadurch, dass es sich um Vettern handelt, die beide das Sehen – in diesem Fall auf den Berliner Gendarmenmarkt – neu lernen, so verschieden ihre Lebenssituation und ihr Alter auch sind. Der kranke, gewissermaßen ans Fenster und seinen Ausblick gefesselte Vetter vergleicht seinen Zustand mit dem eines alten Malers, der, vom Wahnsinn zerrüttet, „tagelang vor einer in den Rahmen gespannten grundierten Leinwand saß und allen, die zu ihm kamen, die mannigfachen Schönheiten des reichen, herrlichen Gemäldes anpries, das er soeben vollendet.“174 Der imaginäre Rahmen und das fiktiv-wirkliche Fenster stellt die erste von vielen Korrespondenzen dar in einem so betont analogiereichen Text. Die zweite Korrelation ist die zwischen Selbstanalyse und analytischem Blick auf das Markt-Treiben. Das Fenster erweist sich dabei dem kranken Betrachter als „Trost“, aber auch als eine Art Vergrößerungsglas, das ihm den Blick auf die Einzelphänomene des bunten Lebens gewährt ; denn „das Fixieren des Blicks erzeugt deutliches Schauen“, wie der Vetter seinen jüngeren Verwandten lehrt.175 173 E.T.A. Hoffmann, Des Vetters Eckfenster. Nachwort und Anmerkungen von Gerard Kozielek. Stuttgart 2002. Vgl. zu diesem Aspekt das Nachwort, S. 48 f. 174 Ebd., S. 4. 175 Ebd., S. 8.
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Den Gendarmenmarkt betrachten die Vettern nach eigenem Bekunden so, wie ihn William Hogarth gemalt haben würde ; und das bezeichnet eine weitere Entsprechung, jene nämlich zwischen dem vorgefertigten Bild, dem Kunsteindruck, und seiner Übertragung auf das wirkliche Leben, das für den kranken Vetter freilich nur ein vermitteltes Leben sein kann. Blick um Blick, Szene um Szene erzählen die Vettern einander, was sie sehen. Man könnte von einem wortverstärkten Sehen reden, wobei ihre Einschätzungen und Deutungen des Gesehenen durchaus voneinander abweichen, aber stets aufeinander bezogen bleiben. Weder reden noch sehen sie je aneinander vorbei, wenngleich der jüngere Vetter und Ich-Erzähler als Novize des Sehens noch der Einweisung durch den älteren bedarf. Die Blicke der beiden konvergieren jedoch bezeichnenderweise in der Art der Wahrnehmung eines Blinden. Beide rührt, dass der Blinde „mit emporgerichtetem Haupt“ etwas, das in der Nacht liegt oder in weiter Ferne, zu schauen scheint, das Licht des Jenseits womöglich. Klang und Blick interagieren in dieser Novelle nur mittelbar ; denn das Fenster bleibt geschlossen. Das Klangbild des Gendarmenmarkts ist der Phantasie der Betrachtenden und der Leser überlassen. Über Klänge werden Vermutungen angestellt. Von einer dieses Treiben spiegelnden „tollen Sinfonie“ ist die Rede, die vom Teufel komponiert und von einem „aufgezogenen Uhrwerk“ gespielt werde176, wobei einem dann wirklich Hören und Sehen vergehen würde. Sehen die beiden ein Mädchen und seinen leichten tänzerischen Schritt, denken sie sich die luftig-lustige Musik dazu. Solche Gedankenmusik steht in Einklang mit dem Gesehenen. Das Schrille, Dissonantische, der Schmerzenston bleibt der Stimme des älteren Vetters vorbehalten ; der Erzähler spricht von ihrer „herzzerschneidenden Wehmut“, zu der es keine klang-bildliche Auflösung mehr gibt. Ein weiteres für die romantische Musikästhetik charakteristisches Problemfeld ergibt sich aus dem vermeintlich sakralen Charakter der Musik, der mit ihrer gerade von den Romantikern konstatierten sinnlichen Unmittelbarkeit kontrastierte. Zwischen dem kunstreligiösen Postulat der ‚heiligen Musik‘ und ihrer funktionalen Verweltlichung entsteht somit ein besonderes – durchaus pluralektisch zu bezeichnendes – Widerspiel, das hier an den Beispielen Beethovens und Wagners in einem diesen Teil beschliessenden Exkurs betrachtet werden soll.
176 Ebd., S. 9.
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‚Heilige Tonkunst‘ und Säkularisierungstendenzen bei B eethoven und Wagner : Ein Exkurs in vier Stücken (I) Als sakrale Ursprungskunst widerstand die Musik von allen Künsten scheinbar am längsten Säkularisierungstendenzen, seit sie als Ritualgesang noch vor dem „Zeitalter der Kunst“ figurierte.177 Ob dabei zuerst das Kult-Bild war oder ein Urlied stellte sich dem jungen Nietzsche als kulturphilosophisches Problem von hoher Brisanz dar, zu einem Zeitpunkt also, als der romantische Kunstbegriff in sein Auflösungsstadium getreten war und dieser zunächst an Wagner und Schopenhauer orientierte Intellektuelle sich um die Theorie einer Geburt der (unabwendbar tragischen) Kultur aus dem Geist des Musikalischen bemühte. Urlied, Volkslied und apollinisches Epos deutete der junge Nietzsche als Objektivierungen einer dichtungsschwangeren Melodie ; folglich ging er davon aus, dass die Sprache die Musik nachahme : „Das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich“, so Nietzsche und er definiert die Musik, darin noch Schopenhauer und Wagner folgend, als Wille (I, 48–50). Von Schiller übernimmt er die These, dass allem Dichten eine „musikalische Stimmung“ vorausgehe (I, 43) und ‚hört‘ in der behaupteten Ur-Melodie den Zusammenklang von „Urschmerz“ und „Urlust“, die er einander wechselseitig befruchten sah und als Kultur zeugend begriff. Das Sakrale und Profane feiern sich dabei in Nietzsches Konzeption beide im dionysischen Kult mit seinen ekstatischen, rauschhaften Rhythmen. Das Dionysische ist im Verständnis des jungen Nietzsche im Gegensatz zum Apollinisch-Sokratischen das Noch-nicht-Säkularisierte ; denn für ihn war Säkularisation das Ergebnis sokratischer Reflexion. Hegel hatte ein halbes Jahrhundert zuvor diese Entwicklung auf einen kritischen Begriff gebracht, indem er die Kunst und das durch sie hervorgebrachte Schöne von ihrem durch ihn konstatierten vermeintlichen ‚Ende‘ deutete. Er behauptete, dass der „Geist seinen Inhalt aus dem Tone“ herausziehe und sich in der Hauptsache nur noch durch Worte kundgebe. „Der Ton“, so Hegel weiter, werde „zum Wortlaut und das Wort wiederum aus einem Selbstzwecke zu einem für sich selbständigkeitslosen Mittel geistiger Äußerung.“178 177 Vgl. für den komplementären Bereich der bildenden Kunst : Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990. 178 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen zur Ästhetik. Bd. III. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1970, S. 227f.
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Die weit reichenden Konsequenzen, die dieser solchermaßen umschriebene Reflexionsprozess für die Bedeutung gerade der sakralen Kunst – und damit auch einem Gutteil der Musik – haben sollte, wurde von Hegel bereits im ersten Teil seiner Vorlesungen zur Ästhetik behandelt. Unter dem Stichwort „Die Kunst im Verhältnis zur Religion und Philosophie“ benennt er das Schicksal einer sich durch und in Selbstvollendung erschöpfenden Kunst : Sie kann nicht länger „höchstes Bedürfnis des Geistes sein. Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen : es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.“179 Und doch spricht Hegel gleich im folgenden Satz von der Suprematie der Religion über die Kunst, weil diese im Verhältnis zu ihrem „absoluten Gegenstande“ über keine „Andacht“ verfüge. In der religiösen Andacht werde die Objektivität des Absoluten „gleichsam verzehrt und verdaut“ und damit „zum Eigentum des Herzens und Gemüts“.180 Auch die Subjektivität gehe in dieser Andacht auf, nicht aber in der Kunst.181 Dem Denken schreibt Hegel dagegen „innerste, eigenste Subjektivität“ zu.182 Carl Dahlhaus hat gezeigt, welche Auswirkungen dieser Ansatz auf die Musikästhetik gehabt hat.183 Er zitiert Tiecks Wort, nach dem „die Tonkunst das letzte Geheimnis des Glaubens“ sei, Mystik geradezu, geoffenbarte Religion. E.T.A. Hoffmann relativierte diese Auffassung Tiecks (und Wackenroders !), indem er die „heilige Tonkunst“ nur auf das Zeitalter zwischen Palestrina und spätem Händel bezogen wissen wollte.184 Das Besondere, ja, Moderne an Hoffmanns Reflexionen zur Musik ist, dass sie kompositionstechnische Verfahren bedenken und zwischen musikgeschichtlichen Entwicklungsstufen unterscheiden. Die fortschreitenden Säkularisierungsprozesse im Musikbetrieb hielt er durchaus für reversibel, und zwar durch eine bestimmte kompositorische Praxis, welche die Instrumentalmusik (also ‚absolute Musik‘) in den Dienst einer religiösen Geistig179 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen zur Ästhetik. Bd. I. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1970, S. 142. 180 Ebd., S. 143. 181 Vgl. dazu auch : Christoph Helferich, Kunst und Subjektivität in Hegels Ästhetik. Kronberg 1976. 182 Hegel, Vorlesungen, Bd. I a.a.O., S. 144. 183 Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik. A.a.O., bes. S. 91–104 („Instrumentalmusik und Kunstreligion“). 184 Hoffmann, Schriften zur Musik, a.a.O., S. 229 f.
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keit stellte, um Werke für eine Kirche zu komponieren, so Dahlhaus, „in der die christliche Form zum Symbol einer Religion geworden ist, deren Substanz jenseits der Form im Unnennbaren liegt.“185 Eine solche kompositorische Intention ist dann von Beethoven bis Mendelssohn, von Liszt bis Vaughan Williams, von Olivier Messiaen bis John Tavener nachweisbar. Die Pointe ist freilich, dass das, was Hegel als Grund für den vermeintlichen Niedergang der Musik-Kunst angegeben hat, ihre Abstraktion von Inhalten, der Rückzug des Geistes aus ihr, die Grundlage für ihre ‚absolute‘ Eigenwertigkeit werden konnte. Die Rede von der Instrumentalmusik als „reiner Kunst“ wurde zum Signum ihrer Tauglichkeit für das Gebäude „Kunstreligion“ in profaner Zeit. Der Künstler, ob Dichter, Musiker oder Maler, nahm die Säkularisationsprozesse als Aufweis für die „Dürftigkeit“ ihrer Zeit wahr, was – auch bei Hölderlin – bedeutete : eine bedürftige Zeit ; sie brauchte kunstreligiöse Werkformen als Kompensation für den Verlust des Sakralen. Durch diese Kompensationsfunktion, die sich die Kunst selbst zuschrieb, betrieb sie ihre eigene Sakralisierung. Dass auch die „Bedürftigen“ so reagierten, steht gleichfalls außer Frage. So gab das Theater an der Wien 1803 bei Beethoven ein religiöses Werk, halb Kantate, halb Oratorium in Auftrag, weil während der Fastenzeit keine Opernaufführungen gestattet waren. Beethoven antwortete mit seiner Komposition Christus am Ölberge (op. 85), einer Art Vorentwurf zu seinem Fidelio, einem demonstrativen Bruch mit der Welt der Bachschen Passionen, indem er die innere Dramatik eines Menschen zeigt, der durch sein Selbstopfer der Menschheit etwas Besonderes, über alles andere Hinausweisendes geben will. Tieck und Hoffmann hatten ja am Problem des Schreibens über die Beethovenschen Symphonien die Notwendigkeit erkannt, ihre Begrifflichkeit zu raffinieren und ihre bisherigen musikästhetischen Positionen zu überprüfen. Und bis heute stellen sich die brisantesten Fragen zum interagierenden Verhältnis von Heiligem und Profanen in der Musik am Beispiel von Beethovens (sakralen) Kompositionen, aber auch seinem Bestreben, in Chorfantasien und namentlich der neunten Symphonie, das Wort wieder in den Ton zurückzuholen, absolute Instrumentalmusik und Dichtung, beziehungsweise rituelle Texte im Falle seiner sakralen Werke wechselseitig aufeinander wirken zu lassen. Beethoven scheint bewusst gewesen zu sein, welchen Affront er mit Christus am Ölberge gewagt hatte ; denn schon in seinem nächsten Werk, der Messe in C-Dur (op. 86) besann er sich auf einen vergleichsweise konventionell ge185 Dahlhaus, Die Idee, a.a.O., S. 97.
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arbeiteten, deutlich an Haydn erinnernden Beitrag zu diesem Genre, der nicht im Entferntesten ahnen lässt, dass diese Messe vom Komponisten der Eroica, der Razumovsky-Quartette und der ersten Fassung des Fidelio geschaffen wurde. Noch weniger zeichnet sich in der C-Dur Messe der künftige Komponist der Missa solemnis (op. 123) ab, Beethovens eigentlichem Beitrag zum Thema „Kunstreligion“. Für das einleitende Kyrie der Missa schreibt Beethoven „assai sostenuto“ und ausdrücklich : „Mit Andacht“ vor, so, als wollte er – gleichsam gegen Hegel, wenn er denn dessen Position gekannt hätte – ein für allemal demonstrieren, dass das Andächtige ein integraler Wert von Kunst sein kann. (Man weiß, dass der fünfzehnjährige Bruno Walter eben jenes Kyrie vollständig kopierte und dies zu seinem musikalischen Initialerlebnis werden sollte. Später behauptete er mit explizitem Bezug zu Beethovens Missa die „Wesensnähe [der Musik] zur Religion“, wobei er betonte, dass „die Musik keineswegs nur in Verbindung mit Worten oder Vorstellungen aus der Sphäre des Religiösen an unsere Seele mit ihrer transzendenten Kunde“ rühre. Vielmehr seien es gerade „die Höchstformen der absoluten Musik, in denen sich das Walten des Logos am klarsten spiegelt und von uns gleichnishaft erahnt werden kann.“186) Adornos Verhältnis zur Missa solemnis (II) Die Missa solemnis lässt sich als ein Manifest und Schwellenwerk zugleich beschreiben ; Manifest, weil es Zeugnis ablegen will von weltfrömmiger Gesinnung, von der Möglichkeit, die Idee des Glaubens (mehr als den Glauben selbst) musikalisch umzusetzen ; Schwellenwerk, weil sich die Missa als Spätwerk testamentarisch ausnimmt, ohne jedoch als Ganzes wie die späten Klaviersonaten und Quartette Beethovens in die Moderne voraus zu weisen. Es handelt sich bei der Missa vielmehr um eine Schwellenkomposition zwischen dem Heute und der Welt des Archaischen, wie Adorno bemerkt hat.187 Überhaupt ist es Adornos Auseinandersetzung mit der Missa, die im Rahmen einer Diskussion über Säkularisationsprozesse in der Musik erhebliche Bedeutung beanspruchen kann. 186 Bruno Walter, Gedanken über das Wesen der Musik. In : Ders., Von der Musik und vom Musizieren (1957). Frankfurt am Main 1986, S. 19. 187 Theodor W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2004, S. 208 ff.
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Adornos großes Beethoven-Projekt geht bis in das Jahr 1937 zurück, wobei es ihm offenbar darauf ankam, aus dem Beethovenschen Kompositionsansatz eine musikphilosophische Ästhetik zu entwickeln. Nach Adornos eigenen Worten scheiterte dieses Projekt immer wieder an seinem Verhältnis zur Missa solemnis, die er in einem Rundfunkvortrag 1957 – einer seiner aufschlussreichsten musikhermeneutischen Analysen – als Beethovens „verfremdetes Hauptwerk“ bezeichnete.188 Diese Arbeit stand im Zusammenhang mit mehr oder weniger fragmentarischen Studien zu Beethovens Spätstil, wobei er nach der Niederschrift seines Missa-Vortrages nicht ohne eine an Thomas Mann gemahnende Feierlichkeit vermerkte : „Dank dass ich auch dies noch durfte“.189 Was war es, das er da ‚durfte‘ ? Begründen, weshalb er mit Beethovens Missa nicht zu Rande kam. Schon in seinen Vorstudien zu diesem Vortrag zeichnet sich ab, was es war, das Adorno so zu schaffen machte : In Beethovens Missa bemerkte Adorno die „Wiederholung des Wortes Credo“ und fügte hinzu : „[…] als ob er sich’s selbst einreden müsste.“190 Will sagen : Beethoven glaubte seinem eigenen Glauben nicht. Adorno gibt die nach seiner Auffassung in der Missa säkularisierenden Momente genau an. Erstens beziehe sich in der Missa der „transzendierende Augenblick“ nicht mehr auf den „mystischen Gehalt der Transsubstantion, sondern auf die Hoffnung ewigen Lebens für die Menschen“.191 Zweitens frage Beethoven mit seiner Missa, ob eine „objektive geistige Ordnung des Seins überhaupt noch möglich sei“192, die ja in Messen früherer Zeiten nie in Frage gestanden habe. Und drittens hält Adorno Beethovens Missa für ein Werk, das – durch Aussparungen, Abstraktionen und postulierte Absolutheiten – auf einem „Indifferenzpunkt“ balanciere, „der dem Nichts sich annähert.“193 Zudem vernimmt er eine archaisierende Tendenz, die im „kirchentonalen Einschlag“ sich zeige.194 Adorno hätte hinzufügen können, dass sich ein solcher auch in den späten Quartetten nachweisen lässt, etwa im a-moll-Quartett (op. 132), welches den Geist der spirituellen „Ruhe“ durch die Verwendung des Lydischen zu evozieren versucht. Adorno überdehnt jedoch seine Kritik an der Missa, wenn er das Enigmatische, etwa im „Agnus Dei“ 188 Ebd., S. 204–222. 189 Zit. nach ebd., S. 339. 190 Ebd., S. 204. 191 Ebd., S. 214. 192 Ebd., S. 215. 193 Ebd., S. 216. 194 Ebd., S. 208.
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mit dessen „kurzen Allegro- und Prestostellen“ das Absurde streifen hört.195 Soweit ist die Profanisierung in der Missa noch nicht gediehen. Eher veranschaulicht sich in ihr das immer wieder neu Ansetzen-Müssen in der Glaubensfindung, die Bemühung, jede Zeile des kanonischen Textes wie eine den um den Glauben Ringenden potentiell verankernde Maxime zu deuten und einzusetzen.196 Einen anderen Aspekt der schaffensimmanenten Tendenz zum Profanen – selbst bei der Bearbeitung sakraler Stoffe – übergeht Adorno im Falle der Missa überraschenderweise : Beethovens Interesse am schieren Material ‚Messe‘. Im Tagebuch vermerkte er bereits 1814, also gut vier Jahre vor dem Beginn der Arbeit an seiner Missa solemnis, die Frage nach der richtigen Betonung von „Eleison“ im Griechischen und fordert von sich, „alle Kirchenchoräle“ zu erforschen und die „Prosodie aller christkatholischen Psalmen und Gesänge“.197 Das lässt nicht nur darauf schließen, dass sich Beethoven bereits zu diesem Zeitpunkt mit dem Plan zu einer weiteren Messe-Komposition trug, sondern auch dass er nicht primär daran gedacht haben dürfte, den Glaubensinhalt zu vertonen, vielmehr den Glauben an das musikalische Material und seine Expressivität im Medium der Messe erneut zu erproben. Allein schon dieser Ansatz ist – etwa im Vergleich zu Bach oder Haydn – ein säkularisierendes Moment. Das Heilige verlagerte Beethoven gerade um 1815 eindeutig auf die Kunst. Sie nennt er ein „Heiligtum“ ; ihr will ihr opfern mit allen technischen Hilfsmitteln, die ihm zur Verfügung stehen, womit er nun vor allem die so genannten „Ohrenmaschinen“ meint.198 Sein wiederholt angesprochener „Streit mit Natur und Schöpfer“ lag auch, das sollte man nicht übersehen, in seinen enormen lebenspraktischen Problemen begründet ; gerade sie hat er als ein peinliches Profanum gesehen, gegen das er seine Kunst in Stellung brachte. In der Missa nun, so zumindest ihr Anschein, wollte er das Widrige an den profanen Lebensumständen – überwältigen. Die Missa geriet ihm zu einer mehrteiligen und vielschichtigen Glaubensmobilisierung, der die kolossale Anstrengung, der sie sich verdankt, durchaus anzumerken ist. Sie will den Hörer, um das Hegelsche Bild vom nicht mehr das Knie beugenden Reflexionsmenschen wieder aufzurufen, noch einmal in die Knie zwingen. Der Schluss des „Gloria“ wie das Finale der „Neunten“ gleicht einer Vergewaltigung des Hörers durch den Kunst195 Ebd., S. 217. 196 Vgl. das Nachwort zu : Rüdiger Görner, Ludwig van Beethoven, Briefe und Aufzeichnungen. Frankfurt am Main/Leipzig 1993, S. 117. 197 Vgl. dazu : Rüdiger Görner, Im Schatten der Einsamkeit. Zu Beethovens Tagebüchern. In : ders., Literarische Betrachtungen zur Musik. Frankfurt am Main/Leipzig 2001, S. 76–86. 198 Beethoven, Briefe und Aufzeichnungen, a.a.O., S. 54.
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akt, vergewaltigt durch ästhetisch mobilisierten Gottesruhm und Freudentaumel. Es handelt sich hierbei um eine beinahe ins Wahnhafte gesteigerte Dauerekstase, die Beethoven gleichsam für (über-) lebensnotwendig erklärt, eben weil das Profane das Heilige in eine Art Belagerungszustand versetzt hat. Nur : Was ist damit wirklich gesagt über dieses Werk, das so prekär schwankt auf dem Differenzpunkt zwischen Sakralem und Profanen ? Nahezu nichts. Denn wie erklären wir uns die Wirkung dieser jähen Ein- und Abbrüche in der Missa, diese kaum aushaltbare Spannung inmitten des Credo (vor dem „Et incarnatus est“), diese Momente der Scheinruhe, die eine ganze Ewigkeit in zwei leere Takte legt, rein instrumental aufgeworfene Fragemomente, die, hart am Rande des Zweifels, vom den Glauben beschwörenden Chor wieder aufgefangen und aufgelöst werden ? Wie hilflos erst werden unsere Erklärungsversuche, wenn es zum „Agnus Dei“ kommt und das Enigmatische den Hörer ganz gefangen nimmt, wenn der Mezzo-Sopran das „Miserere“ beinahe aufspaltet, zersingt, in einer kaum mehr stabilisierenden Balance hält, da gelingt Beethoven ein Credo in musicam veram de musica vera, das nach der Missa nicht mehr möglich war, ein Widerruf der Kunstreflexion geradezu, eine Serenität ohnegleichen, die Beethoven nur einmal noch unterbricht, unbegreiflicherweise mit Pauken, die zu einer Schlacht für das Lamm Gottes aufzurufen scheinen, und die am Ende sich noch einmal in Erinnerung rufen als Teil einer umfassend angesetzten Schlussfuge, die sich jedoch Phrase um Phrase in ihre Bestandteile aufzulösen scheint, ein Eindruck, der auch durch die finale knappe Emphase nicht mehr aufgehoben werden kann. Zu einer eigentlichen Entwicklung im musikthematischen Sinne kommt es in der Missa nicht, wohl aber zu einer Manifestation des Inkommensurablen, das selbst durch bloße „anreihende Formbildung“, wie Adorno sagt, Enigmatisches hervorzubringen versteht. Die zum beschwörenden Gestus der Missa gehörenden exzessiven Wiederholungen von Motiven mögen freilich auf ein verweltlichendes Element in dieser Komposition verweisen ; und sie tragen deutlich zum prekären Balanceakt dieses Werkes bei. Wesentlicher aber bleibt die Tatsache, dass die Balance zwischen Intensität und Pathos, Bekennertum und Überspielung des Zweifels, zwischen dem Willen zum Sakralen und dem unabwendbar Profanen doch bis zuletzt erhalten bleibt. Gesprochen habe Beethoven nie über Religion und Dogmen, so Anton Schindler in seiner Biographie über den Komponisten.199 Dagegen weiß dieser 199 Zit. nach : Anton Würz/Reinhold Schmikat (Hg.), Ludwig van Beethoven in Briefen und Lebensdokumenten. Stuttgart1961, S. 195.
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von einer „wirklich innerlichen“ Religiosität Beethovens zu berichten. Das Religiöse brachte er wenn dann nur als Klage über sein Schicksal oder als Signum des künstlerischen Schaffensaktes zum Ausdruck. So etwa in seiner Bemerkung : „Der Geist soll sich aus der Erde erheben, wohin auf eine gewisse Zeit der Götterfunke gebannt ist, und ähnlich dem Acker, dem der Landmann köstlichen Samen anvertraut, soll er aufblühen und viele Früchte tragen und also vervielfältigt hinauf zu der Quelle emporstreben, woraus er geflossen ist.“200 Der künstlerische Schaffensprozess, so mühsam er sich für Beethoven auch gestaltete, galt ihm als ein Reservoir des Sakralen, der Kunstakt als Opfer – für das „Heiligtum der Kunst“, womit gesagt ist, dass die von Beethovens Äußerungen und seiner Umgebung bezeugte Einheit von religiöser Inbrunst und künstlerischem Schaffen ihrerseits schon ein profanes Moment in sich trug, was freilich in erster Linie seiner ausgeprägten Subjektivität geschuldet war. Was bei Beethoven diese Subjektivität noch verstärkte, war der prononcierte, per se säkularisierende Willensakt, der mit dem Schöpfungsakt zuweilen konkurrierte, dann wieder konvergierte. Das Religiöse in der Kunst contra Kunstreligion (III) Als Beethoven mit der Arbeit an seiner Missa solemnis begann, veröffentlichte der junge Schopenhauer Welt als Wille und Vorstellung, eine philosophische Kritik, die im Willen den Hauptstörfaktor im Bereich des Spirituellen, aber auch des schöpferischen wie denkerischen Prozesses ermittelte. Schopenhauer begriff den Willen als entscheidendes säkularisierendes Moment in der Moderne und glaubte, durch Willensverneinung das Spirituell-Sakrale wieder erlangen zu können. Die Erschließung indischer Weisheitslehren als re-sakralisierende Katalysatoren waren dabei für Schopenhauer willensverneinende Hilfsmittel, wobei die indischen Dichtungen von der Sakontala bis zur Gita-Govinda gerade in ihrer etwa von Goethe bewunderten Sinnlichkeit eine Art profane Metaphysik entwarfen. Dass auch Beethoven sich zu jener Zeit dem Buddhistischen öffnete, mag als weiteres Zeichen seiner Weltfrömmigkeit gewertet werden ; dessen willensverneinende Dimension scheint sich auch ihm als potenziell hilfreiches Gegenmittel zu seinem inneren Konflikt zwischen Willen und künstlerischer Schöpfung angeboten zu haben. Doch ganz wie Beethoven im ‚Gloria‘ und ‚Credo‘ seiner Missa mit, wie Adorno unter Berufung auf Hermann Kretzschmar kritisierte, „kurzen musikalischen Bildern“ arbei200 Zit. nach ebd., S. 97.
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tete, so reflektierte er seine geistigen und lebensweltlichen Probleme auch : schlaglichtartig, Zusammenhänge eher erahnen lassend, denn entwickelnd. In seinem geschichtsphilosophischen, an Gottfried Hermann und Friedrich Creuzer orientierten Versuch Geistesepochen konstatierte Goethe um 1818 gleichfalls eine „Auflösung ins Alltägliche“ in einer Welt, die kaum mehr in der Lage sein werde, eine dem „Geist Gottes würdige“ Gestalt neu zu gewinnen (XII, 298– 300). Und doch habe es der Mensch so an sich, wieder „ins Geheimnis“ zurück streben zu wollen, dem Dämon gehorchend und Mythologien neu deutend, wie er dies selbst mit einer Rekonstruktion des Euripideischen Phaethon versuchte, dessen Fragmente er bezeichnenderweise „köstliche Reliquien“ nannte (XII, 310). Die Frage nach dem, was im Zeitalter der unablässigen Reflexion und wissenschaftlicher (Begriffs-)Arbeit geschuldeten Profanisierung an religiösen Werten für die Kunst noch verfügbar ist, entwickelte sich mehr und mehr zu einem Qualitätsmerkmal kulturkonservativer Ästhetik. So schreibt etwa der bedeutendste österreichische Nazarener, Joseph von Führich, im Jahre 1869 in seiner Abhandlung Die Kunst und ihre Formen, die prinzipielle Religiosität und mystische Dimension von Kunst behauptend : „Die Wissenschaft hat es mit Erforschung, Entdeckung, Entschleierung der Dinge zu tun. Die Kunst rechnet den Schleier, welcher die Dinge umgibt, mit zu ihrem Wesen, denn dieser Schleier ist, wie die Dinge selbst, des Schöpfers Werk.“201 Wagners Antidialektik (IV) Dass an diesem „Schleier“ auch Richard Wagner komponierend und reflektierend wob, steht außer Frage. Buchstäblich bis zuletzt begleitete ihn die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von „Religion und Kunst“ im Zeichen fortschreitender Säkularisierungsprozesse, eine Frage, die im Tannhäuser ebenso virulent war wie im Parsifal. Seinen großen, im Jahre 1880 geschriebenen Essay über diesen Komplex eröffnete er mit der leitmotivischen These : „Man könnte sagen, dass da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei den Kern der Religion zu retten […].“202 Dass diese „Rettung“ des religiösen Kerns durch die 201 In : Friedmar Apel (Hg.), Romantische Kunstlehre. Poesie und Poetik des Blicks in der deutschen Romantik. Frankfurt am Main 1992, S. 544 f. 202 In : Richard Wagner, Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden. Bd. 10 : Bayreuth. Späte weltanschauliche Schriften. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Frankfurt am Main 1983,
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Kunst beim späten Wagner nicht frei von Selbstironie war, bezeugt die Widmung seiner Parsifal-Dichtung für Nietzsche im Januar 1878 ; unterzeichnete er doch mit „Richard Wagner (Oberkirchenrath …)“, was bekanntlich den Bewidmeten nachdrücklich befremdete.203 Nie hat Nietzsche über Wagner scharfsinniger und gerechter geurteilt als in seinen Notizen im Umkreis zur Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung, „Richard Wagner in Bayreuth“. Die beiden „innersten Kräfte seines Wesens“, so Nietzsche über Wagner, seien „Wille und Intellekt“.204 Er sieht ihn auch deswegen „über der religiösen Bedeutung“ der Mythen stehen, derer er sich in seinen Musikdramen bediente. Und weiter : „Wagner fand einen ungeheueren Zeitpunkt vor : wo alle Religion aller früheren Zeiten in ihrer dogmatischen Götzen- und Fetischwirkung wankt : er ist der tragische Dichter am Schluß aller Religion, der ‚Götterdämmerung‘“ (VIII, 204). Dem hätte Wagner wohl nicht widersprochen, wenngleich er diesen „Schluß aller Religion“ im Sinne einer gesteigerten Erlösungsbedürftigkeit des modernen Menschen gedeutet hat, die auf menschenwürdige Weise eben nur noch die wahr scheinende und tönende Kunst befriedigen könne. Es fällt auf, dass der Versuch über Religion und Kunst seinerseits einen Säkularisierungsprozess weniger darstellt als unweigerlich entfaltet und versinnbildlicht. Denn Wagner beginnt zwar mit Reflexionen über die quasi religiöse Aufgabe der Kunst, bezeichnet die Musik „als die einzige dem christlichen Glauben ganz entsprechende Kunst“ und will die „Affinitäten einer Beethovenschen Symphonie zu einer reinsten, der christlichen Offenbarung zu entblühenden Religion“ nachweisen (X, 128ff.), aber genau das leistet er nicht. Stattdessen schweift er ins sehr Weltliche, handelt über Tierschutz, Vegetarismus, entfaltet die Schreckensvision einer „die rohesten Kräfte der niederen Naturgewalten in ein künstliches Spiel“ einbindenden Militarisierung der Welt und sagt ein Vernichtungsszenarium voraus, wenn sich der Mensch nicht besinne. Beschließen sollte diesen Versuch keine Wiederaufnahme religiös-ästhetischer Reflexionen, sondern ein betont weltliches Kapitel, jenes „Über das Weibliche im Menschlichen“, das von den „ekstatischen Zuckungen“ im „Prozeß der Emanzipation des Weibes“ handeln sollte, bekanntlich seine letzte Aufzeichnung am kunstreligiösesten Ort seines Weltkreises, in S. 117. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Wagner-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl). 203 Zit. nach : Dieter Borchmeyer/Jörg Salaquarda (Hg.), Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Bd. 1. Frankfurt am Main/Leipzig 1994, S. 296. 204 Notat vom Sommer 1875 (VIII, 215).
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Venedig. Aus Erlösung durch Kunst war die Emanzipation durch das Wechselspiel von Liebe und Tragik geworden – Wagner, eben der „tragischste Dichter am Ende aller Religion.“ Wenn Wagner nicht sich selbst ins Spiel brachte als kunstreligiöser Erlöser in profaner Zeit, dann bezog er sich mit Vorliebe auf Aeschylos, Shakespeare, Calderon, vor allem aber auf Beethoven. Über keinen Komponisten hat Wagner ausführlicher gehandelt als über Beethoven und besonders in einem frühen Text, seiner Pariser Novelle Eine Pilgerfahrt zu Beethoven, diesen Komponisten nachgerade paradigmatisch in den Zusammenhang des kulturellen Profanisierungsprozesses um die Mitte des 19. Jahrhunderts gestellt. Wie der Titel der Novelle andeutet, handelt diese Prosa von einer kunstreligiösen Verehrung Beethovens durch einen Polkas komponierenden, aus einer „mittelmäßigen Stadt des mittleren Deutschlands“ stammenden Dilettanten, der Beethoven als einen Heiligen anbetet (V, 87ff.). Wien bezeichnet er natürlich als das „Mekka meines Glaubens“ (V, 94) und bevor der Beethoven-Gläubige sich zu dessen Haus wagt, fastet und betet er geschlagene zwei Tage. Dass ihm ein allen Klischees entsprechender arroganter, dandyhafter, vor schierer Oberflächlichkeit nur so schwebender Engländer in die Quere kommt, der den europäischen Kontinent bereist, um Begegnungen mit Berühmten, eben auch mit Beethoven und danach Rossini, zu sammeln wie Jagdtrophäen, verschärft das Martyrium unseres Kunstpilgers nur noch. Schließlich kommt es dann doch zu einer Begegnung des Polka-Komponisten mit dem Halbgott, der diesem auffallend viel über seine kompositorischen Pläne qua Konversationsheft mitteilt. Der Grad des Kitsches dieser Novelle fällt so ins Auge, dass man nicht umhin kann, wohlwollend darauf zu schließen, Wagner habe den pseudosakralen Umgang mit Idolen karikieren und damit zeigen wollen, wie sehr dergleichen absurde Idolatrie zum Profanisierungsprozess beitrage. In seiner großen Zürcher Reformschrift Oper und Drama (1850/51) hatte Wagner die Prosa und besonders den Roman – ganz im Sinne Hegels – als „Kern der Poesie“ definiert (VII, 124). Desgleichen verkündete er seine Absicht, „auf der Basis der absoluten Musik das wirkliche Drama zustande zu bringen“ (VII, 21). Den erzählenden Roman zum Drama verdichten, eine Fähigkeit, die Wagner vor allem Shakespeare zugeschrieben hat (VII, 127)205, und dieses Drama dann der Musik zuführen, dies galt Wagner als der entscheidende Auftrag für eine Kunst der Zukunft. 205 Vgl. dazu die wichtige Arbeit von Yvonne Nilges, Richard Wagners Shakespeare. Würzburg 2007, bes. S. 90–109.
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Wagner bietet ein ganzes Begriffsarsenal auf, um das Verhältnis dieser Kunst zu den religiösen Restbeständen in der modernen Kultur zu benennen. Es reicht von der em“anzipierten Metaphysik“ bis zur „Neuromantik“. Den „dichtenden Romantikern“ bescheinigt er die Fähigkeit zur „römisch-katholisch mystischen Augenverdreherei“ (VII, 52). Die fortschreitende Profanisierung der Kunst sieht Wagner in dem quasi sexuellen Verhältnis zwischen Musik und Dichter erreicht : „Die Musik ist die Gebärerin, der Dichter der Erzeuger ; und auf dem Gipfel des Wahnsinnes war die Musik daher angelangt, als sie nicht nur gebären, sondern auch zeugen wollte.“ (VII, 144) So bizarr diese Argumentation Wagners auch scheinen mag, sie veranschaulicht einmal mehr die Bedeutung des Interagierens der Künste, ihre sich im Roman und schließlich im Musikdrama pluralektisch verwebenden Ausdrucks formen. Als Wagner aus Anlass der Beethoven-Feiern 1870 daran ging, seinen Beitrag dazu zu formulieren, wählte er Schopenhauers Willensanalyse als Mittel seiner essayistischen Würdigung des Komponisten der Neunten Symphonie, was Beethoven in erster Linie für ihn war. Auch Wagner wollte wie nach ihm Adorno seine Betrachtungen über Beethoven als einen „Beitrag zur Philosophie der Musik“ verstanden wissen (IX, 38). Wagner schreibt über Musik und Beethoven im Wissen um deren Beitrag zur Verweltlichung der Religion, reflektierte ihre Rolle im Säkularisierungsprozess, den sie als Gesellschaftskunst fördert, durch ihre Konnotation mit dem Sakralen jedoch auch aufzuheben, wenn nicht sogar umzukehren scheint. Die seit der Frühromantik betriebene Heiligung der Musik, die mit Beethoven ihren Gipfelpunkt erreichte, durchwirkt zwar auch noch Wagners Musikreflexionen, aber er rückt ihre erzieherische Funktion entschiedener in den Blickpunkt. Ganz wie Heinrich Heine lässt auch Richard Wagner seine Paris-Novellen und Aufsätze, wenngleich oft karikierend, von der „Öffentlichkeit“ handeln, die im Musikbetrieb zunehmend den Ton angibt und damit dessen Profanisierung beschleunigt. Andererseits vergöttert die Öffentlichkeit ihre Virtuosen, die ihnen vollendete Kunstfertigkeit vorführen und eine Absolutheit verkörpern, wie sie zuvor nur der Priester oder Souverän beanspruchen konnte. Auch der Beethoven-Essay läuft auf diese Frage zu, nachdem Wagner darin seine musikalische Willensmetaphysik abgehandelt hat. Genauer gesagt, der Wille wird umgelenkt und ist nicht mehr nur wie bei Schopenhauer Urbild der Musik, sondern richtet sich auf die Erlösung der Gesellschaft durch Musik. Wag-
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ner konstatiert ein „neues Humanitätsprinzip“, das aus der Demokratisierung des Kunstgeschmacks“ bestehe (IX, 102). Dagegen habe er nichts einzuwenden, solange dies nicht „die Herrschaft der Mode“ bedeute (IX, 105). Die Mode galt Wagner gleichsam als Gewand der Säkularisation, und er argumentiert, dass Beethoven nicht umsonst in seiner Neunten Symphonie Schillers Verse „Deine Zauber binden wieder / Was die Mode streng geteilt“ zitiert habe. Durch Musik und Freude solle die menschliche Natur wieder von dieser Modeherrschaft befreit werden. Dem folgt die Kernthese seiner Abhandlung : Gewiß darf es uns erscheinen, dass unsere Zivilisation, soweit sie namentlich auch den künstlerischen Menschen bestimmt, nur aus dem Geiste unserer Musik, der Musik, welche Beethoven aus den Banden der Mode befreite, neu beseelt werden könne (IX 106).
Davon erhofft er sich eine „neue, seelenvollere Zivilisation“, die er freilich für ein primär deutsches Ereignis hält, aufgrund der vermeintlich dem Deutschen eigenen „Tiefe und Innigkeit des Erfassens der Welt.“ (IX, 107) Diese national-kulturell konnotierte Form der neuen Musik-Religion habe jedoch durch Beethoven ihren Anspruch bereits verwirklicht. Wagner impliziert, dass er dieses Projekt auf der Musikbühne fortführe. Es fällt auf, dass Wagner wiederholt von der „sich gestaltenden Zivilisation“ spricht, also davon ausgeht, dass man die Gesellschaft unter dem Vorzeichen der Beethovenschen Musik getrost sich selbst überlassen könne. Beethovens Musik, ihr göttlich inspiriertes Ingenium und Willenswerk, setzte, so die These Wagners, einen autoprozessualen, aber nicht-dialektischen Vorgang in Bewegung, der gleichsam zwischen Säkularisierung und Re-Sakralisierung verlaufe. Wagner feiert Beethoven, namentlich seine symphonische Kunst, als erlösende Kraft und als „Weltbeglücker“, was wichtiger sei als Welteroberung (IX, 109). Keineswegs ging es Wagner darum, eine archaische Kulturutopie zu entwerfen, in der Heiliges und Profanes, Geist und Natur, Transzendenz und Faktizität (im Wortsinne von Mircea Eliade) nicht mehr getrennt wären. Wagner ließ sich ganz bewusst auf die gegebenen Zivilisationsverhältnisse ein, besann sich aber auf Beethoven als Erzieher. Entscheidend für seine Überlegungen zum Prozess der Säkularisierung ist nun, dass er Beethovens Subjektivität nicht als Form einer gleichsam privatisierten Bewusstseinsbildung begreift, sondern, ganz im Gegenteil als ein ästhetisches Weltereignis. Schmerz und Leiden Beethovens blendet Wagner dabei aus ; na-
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hezu pseudo-christologisch stellt er Beethoven als einen Überwinder vor. Durch die Musik Beethovens, aber auch den Diskurs über das Musikalische und seinen sozialen Sinn sieht Wagner einen Zeit-Raum entstehen, der sich gewissermaßen für seine eigene Musikbühne noch mehr ins Säkular-Religiöse öffnete. Vom Venusberg bis zur Amfortas-Wunde, von der Verzweiflung des Holländers bis zum Menschlichen und Allzugöttlichen des Goldrausches im Ring, zu schweigen von der Liebesmetaphysik des Tristan und der perfiden Beckmesser-Poetik in den Meistersingern, bietet diese Bühne Wagners in der Tat alles, was sich mit dem Themenkomplex Verweltlichung und Neosakralisierung verbindet. Diese Musikbühne, zumal in Bayreuth, begreift sich als Tempel der auf Erlösungsbedürftigkeit hin verschärften subjektiven wie gesellschaftlichen Widersprüche. Sie erklärte sich zum neuen musik-mythologischen Ort mit dem „Bühnenweihfestspiel“ als gattungspoetischer Apotheose des Willens und „Wähnens“ zur ins Politische umschlagenden Kunstreligion. Wagner arbeitete auf eine Gemeinde hin, suchte Jünger, von Nietzsche bis zu Heinrich von Stein. Wähnen und Wahn war dabei nicht nur eine bloße Alliteration. Seine wiederholten selbstvergewissernden Rückgriffe auf Beethoven und dessen im – Gegensatz zu Wagners Schaffen – alle musikalische Gattungen umfassendes Werk hatten dabei eine unabweisbar kathartisch-therapeutische Funktion zu übernehmen ; ein Umstand, den die Wagner-Glaubensgemeinde allzu leicht vergisst. Zu bedenken ist auch, dass Wagner nach Vollendung des Parsifal zum symphonischen Komponieren „absoluter Musik“ zurückehren wollte, wobei man ja dieses „Bühnenweihfestspiel“ auch als eine Art symphonischer Oper bezeichnen könnte. Wichtiger noch in unserem Zusammenhang ist die Einschätzung der IX. Symphonie Beethovens durch Wagner, die unter dem Eindruck seiner Schopenhauer-Lektüre zunehmend die ersten drei Sätze favorisierte, auf Kosten des Chorschlusssatzes, der ihm zunächst als Optimum gegolten hatte. Vor allem der Beginn der Symphonie schien Wagner nun etwas vom Charakter einer Urmusik zu vermitteln, durchaus dem Es-Dur-Dreiklang zu Beginn des Rheingold vergleichbar. Was hier erklang, war eine Musik aus dem Unbewussten, die auch wieder ins Unbewusste zurückführte. Profanisierung und Re-Sakralisierung in der Musik des 19. Jahrhunderts wurden in der Nachfolge Beethovens und zeitgleich mit Wagner besonders auch durch das Phänomen Franz Liszt zu einem öffentlichen Ereignis. Denn dieses ‚Phänomen‘ schloss nicht nur das Kompositorische ein, sondern auch die Art der Selbstdarstellung. Anders als Paganini, der eher als kulthafte Verkörperung des Dämonischen auf dem Konzertpodium verstanden wurde, gestaltete Liszt seine
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eigene Sakralisierung eben auch dadurch, dass er für alle sichtbar zum Geistlichen mutierte und (keineswegs nur seine eigenen) Kompositionen als Weiheakte zelebrierte. Denn Liszt komponierte und spielte zwischen Weimar und der römische Villa d’Este als Abbé und Kunstwart , als begnadeter Interpret, der sich als Solist zwar aus dem offiziellen Konzertleben verabschiedet hatte, aber durch seine Kompositionen präsent (und umstritten) blieb – von seinem Lebenswandel zu schweigen. Liszt in der Villa d’Este spielen gehört zu haben, wirkte offenbar auch auf kritische Geister elektrisierend ; hatten sie doch die Re-Sakralisierung der Kunst als performativen Akt erlebt, so auch den amerikanischen Dichter Henry W. Longfellow, den dieses Erlebnis (1869) mit dazu inspirierte seinerseits in vorgerückten Jahren ein religiöses Spiel zu schreiben : Christus : A Mystery (1872). Der Liszt der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts schrieb gleichsam gegen die ringsum triumphierende industrielle Revolution geistliche Werke großen Stils, Oratorien, Messen Chorsätze, unter anderem Die Legende der heiligen Elisabeth (1862), Christus (1866), die Ungarische Krönungsmesse (1867), das Requiem (1868). Alfred Brendel verweist darüber hinaus auf eine andere Dimension der sakralen Performanz dieses Künstlers : „Liszt war der Schöpfer des religiösen Klavierstücks, und ich finde seine religiösen Klavierstücke überzeugender als seine religiösen Kompositionen im Oratorienstil oder seine Messen. Wenn ich solche Stücke spiele, dann glaube ich daran, was er da komponiert hat. Das muß auch dem agnostischen, skeptischen Interpreten gelingen.“206 Diese Aussage ist auch signifikant für unsere Fragestellung : Im performativen Akt, im Kunstvollzug kann sich ein sakrales Moment einstellen, das zumindest für die Dauer der Aufführung das Profane aufhebt. Mehr noch : „Das Wunderbare an Liszt ist für mich, dass er nicht nur der Heilige Franziskus war, sondern auch ein wenig Mephisto. Es galt bei ihm immer diese Dualität, auch des geistlichen und des Weltlichen. Er war, wie er selbst einmal, allerdings in anderem Zusammenhang, gesagt hat, halb Franziskaner, halb Zigeuner.“207 Eine ganz andere Frage ist, wie das jeweilige Publikum dieses künstlerische Re-Sakralisierungsangebot aufnahm. Solange die Kunst nur Religionsersatz war, mochte dieses Angebot noch relativ unverfänglich gewesen sein. Als jedoch beides ins Politisch-Ideologische umschlug und das Mephistophelische daran Ober206 In : Alfred Brendel, Ausgerechnet Ich. Gespräche mit Martin Meyer. München/Wien 2001, S. 180. 207 Ebd., S. 181.
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hand gewann, wurde aus der künstlerischen Re-Sakralisierung der (klangliche) Vor-Schein eines ästhetisch nur noch mühsam verbrämten Willens zur kollektiven Selbstenthemmung, was nicht nur für die maßlose Instrumentalisierung der Musik in politisch-ideologischer Absicht katastrophale Folgen zeitigen sollte.
VIII Retrospektive Prophetien : pluralistische Zeitkonzeptionen in der Romantik
Im Vermehrwerten von Erfahrung zeigt sich eine bestimmte Art reflektierten Wahrnehmens. Schon Bernard de Fontenelle spricht 1686 von einer „pluralité des mondes“, wobei es ihm keineswegs um die Frage nach der besten dieser Welten ging, sondern darum, in ihrer Vielheit das Beste an ihnen zu sehen. Den Zugang zu diesen Welten gewährt bei Fontenelle eine Frage : „pourquoi pas ?“ Das Warum-Nicht eröffnet Möglichkeiten, Phantasieräume, Vorstellungswelten, die sich gleichzeitig zur Zeitgeschichte entwickeln. Obzwar Fontenelles Entretiens in aufklärerischer Absicht verfasst worden waren, lesen sich diese philosophischen Gespräche „zwischen einem Frauenzimmer und einem Gelehrten“, so die erste deutsche Übersetzung von Johann Christoph Gottsched aus dem Jahre 1726, eher wie vor-romantische Fantasiestücke über Weltbezüge.208 Im Erfinden von vernünftig bis heiteren Welten, die mal geozentrisch, mal heliozentrisch sein dürfen, unterhält sich die Aufklärung, entwirft aber dadurch auch Phantasiebereiche, durch die sich die aufklärerische Intention selbst unterminiert ; denn dadurch entstehen Kammern oder Hohlräume im Bewusstsein, die später der quasi romantische Empfindungskult fluten wird. Habe Mut, dich zu deinen Empfindungen zu bekennen, sollte Leitspruch der Romantik werden. David Hume verstand die „pluralité“ Fontanelles als „diversity“ und als anthropologisches Phänomen. In seinem Treatise of Human Nature führt er aus : „The mind is a kind of theatre, where several perceptions successively make their appearance ; pass, repass, glide away, and mingle in an infinite variety of postures and situations.“209 Es ist ein Bewusstsein, das die Fülle der Dinge konvergieren lässt, ohne Identitäten oder Einheit zu erzwingen. Auf Humes intellektueller Bühne spielt sich keine Komödie der Eitelkeiten ab, sondern ein ausgesprochen modernes Spiel, das selbst Regie führt, Vor- und Endspiel in einem ist, real und surreal : eine Abfolge von Wahrnehmungen, die sich um keinen eigentlichen Handlungszusammenhang schert. Auf dieser Bühne des Geistes irrlichten keine Geister ; sie ist experimentell in dem Sinne, dass sie allein auf Mimik und Gestik setzt (‚postures‘) und Situativi208 Dazu : Ursula Pia Jauch, Der Gelehrte und das Frauenzimmer. Eine erneute Lektüre von Fontenelles ‚Entretiens sur la Pluralité des Mondes‘. In : Neue Züricher Zeitung v. 17. November 1989. Fernausgabe Nr. 267, S. 45. 209 Zit. nach : Ebd.
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täten vorführt. Hier kann sich ein „Pilgrim’s“ oder „Rake’s Progress“ abspielen, der aber nicht unter Fortschritts- oder Entwicklungszwang steht, sondern einfach als ein Weg unter vielen wahrnehmbar wird.210 Hier spielen sich Wiederholungen ab mit nur geringfügigen mimischen Variationen. Coleridge wird dieses Phänomen wie erwähnt „tautegory“ nennen und es gegen die Allegorie abgrenzen.211 Schelling sollte ihm darin folgen und Coleridge ausdrücklich als den Urheber dieses Begriffs würdigen.212 Namentlich die englische Romantik konnte an Hume anschließen, weil sie seine Bevorzugung des Prinzips „correlation“ gegenüber bloßer Kausalität teilte und bereits von der Bühnentauglichkeit von Theorie, also der Performativität des Abstrakten überzeugt war.213 Einen solchen Bereich performativer Reflexion bieten in romantischen Theoriekonzeptionen, aber auch in der historiographischen wie poetischen Praxis Überlegungen zum Zeitproblem. Hier sollen nachfolgend drei Beispiele untersucht werden, die sich dem Zeitphänomen entschieden pluralektisch genähert haben, was in diesem Falle bedeutet : die verschiedenen Zeitebenen nicht als in sich abgeschlossen gegeneinander wirken zu sehen, sondern die prinzipielle Offenheit der Zeitformen zu betonen, ihr jeweiliges im Anderen Enthalten-Sein – ganz im Sinne des Anfangs der Four Quartets von T.S. Eliot : „Time present and time past / Are both perhaps present in time future / And time future contained in time past. / If all time is eternally present / All time is unredeemable.“214 Einbildungscharakter der Zeit Die raumzeitliche Gebundenheit unserer Wahrnehmungen, ja des Daseins überhaupt, ist eine kritische Vorgabe kantischen Denkens, an dem sich die Frühromantik nolens volens zu orientieren hatte. Aber nicht nur Kants Zeit-bewusste und die Zeit priorisierende Philosophie konditioniert, was in der Frühromantik 210 Bezeichnenderweise übersetzte auch Georg Christoph Lichtenberg Hogarth’s „Progress“ nicht mit ‚Fortschritt‘ sondern mit ‚Weg‘. Darauf verweist Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte ? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel 2006, S. 423. 211 Vgl. dazu : Paul Hamilton, Coleridge and German Philosophy. A.a.O., S. 59. 212 Ebd. 213 Ebd., S. 37–52. 214 In : T.S. Eliot, Collected Poems 1909–1962 (1963). Reprint London 1983, S.189 („Burnt Norton“). Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Eliot-Zitate auf diese Ausgabe.
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mehr und mehr in ein Experimentieren mit den Zeitverhältnissen überging, sondern auch Herders Geschichtsphilosophie, die den Menschen zwar noch als „zur Freiheit organisieret“ vorgestellt hatte215 ; doch schloss für ihn diese Freiheit keine Freiheit von der Zeit ein, vielmehr war diese Disposition des Menschen – laut Herder – integraler Bestandteil der geschichtlichen Entwicklung. Die Emanzipation von der Zeit deutet Herder als „Hoffnung“ an, da doch im Menschen die „Hoffnung zur Unsterblichkeit“ angelegt sei.216 Diese Hoffnung – und das zu veranschaulichen war die Leistung zahlreicher Romantiker – brachte das bis dahin schematische Zeitgefüge in Bewegung, hielt das Vergangene poetisch präsent und das Künftige erschloss sich paradox-ironisch genug, mit Friedrich Schlegel gesprochen, durch „rückwärts gewandte Prophetie“.217 Dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft der Zeit eine, wie Emil Staiger formulierte, „höhere Würde“ einräumte218, täuscht nicht darüber hinweg, dass er auch eine Kritik unseres Zeitverständnisses intendierte. Das ergibt sich aus seiner Behauptung, „alle Gegenstände der Sinne“ stünden notwendigerweise „in Verhältnissen der Zeit“ ; demgegenüber bezeichnet er die Zeit, unüberhörbar relativierend, „lediglich als eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung“, der daher keinesfalls „absolute Realität“ eingeräumt werden könne.219 Emil Staiger hat zutreffend erkannt, dass zumindest einige Romantiker, Clemens Brentano unter ihnen, die Zeit als Produkt ihrer Vorstellungskraft und ihrer Fähigkeit verstanden, die „Gegenstände der Sinne“ poetisch in sich „einzubilden“, im Sinne von ‚anverwandeln‘. Bei Novalis findet sich dieser Einbildungscharakter von Zeit noch um deren Erlebnisqualität erweitert.220 Hinzu kommt, Novalis hatte, wie die Frühromantik überhaupt, auf die Idee des „goldenen Zeitalters“ und damit auf den Hoffnungsanspruch des Menschen rekurriert, wie ihn Herder geschichtsphilosophisch etabliert hatte, und daraus eine veritable Utopie entwickelt.221 215 In : Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hg. v. Gerhard Schmidt. Frankfurt am Main o.J., S. 117 (Viertes Buch V). 216 Ebd., 130 (Viertes Buch VII). 217 Zu diesem Komplex grundlegend : Manfred Frank, das Problem ‚Zeit‘ in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung. München 1972. 218 In : Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters (1953). München 1973, S. 71. 219 Immanuel Kant, Critik der reinen Vernunft. Riga 1781, S. 52. 220 Vgl. Peter Küpper, Die Zeit als Erlebnis des Novalis. Köln/Graz 1959 (=Literatur und Leben. Neue Folge 5). 221 Dazu grundlegend : Hans-Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen
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Der eigentliche Beitrag des Novalis zu einem gewandelten Zeitverständnis liegt in Anderem, nämlich einer Art chemischem Zeitbegriff, den er in Das Allgemeine Brouillon skizziert. Darin denkt er über die „Zeit als Coprincip der chemischen Verwandtschaften“ nach und über die Wärme als „Beförderin der chymischen Geschwindigkeit“ (II, 576, Nr. 474–476). Als Entsprechung zur Topologie will Novalis eine „Kronologie“ entwerfen, welche die Zeit als Entwicklung ermöglichende Katalysatorin etablieren soll. Die „Kronologie“ ist ihm dabei ebenso „Zeitlängenbestimmung“ wie auch eine qualitative Größe. Novalis erkennt in den Vorgängen der Natur überall verwirklichte oder verwirklichende Zeitmomente, so auch in der Reizleitung, indem er zwischen langsamen und schnellen Reitzen unterscheidet (II, 577). Ganz wie die Kritik finde sich auch die Zeit überall. Sie gehöre zum Organischen wie Nicht-Organischen. Gerade der Bergbau-Fachmann Novalis wusste um die versteinerte Zeit, die ihn in den Mineralien oder Erdschichten anzusehen schien. Novalis kontrastiert diese organische, anhand der chemischen Prozesse beobachteten oder vermuteten Zeiterfahrung mit dem „Selbstbewußtseyn“, der in seiner idealen Form ein Zustand sei, „worinn es keine Zeitfortschreitung gäbe, ein zeitloser – beharrlicher immer gleicher Zustand“, der, wie er hinzufügt, „ohne Vergangenheit und Zukunft und doch veränderlich sei“ (II, 672, Nr. 832). Tagebuch als literarische Zeitform Novalis weiß, dass es eine besondere literarische Zeit-Form gibt, die mit diesen Problemen unmittelbar umgeht, nämlich das Tagebuch. Ein Tagebuch „ohne Reflexionen“ gilt ihm als eine „simple Relation“ zum aufgezeichneten Zeit-Punkt (II, 144, Nr. 415). Jene Zeit, welche die Reflexion über einen bestimmten Zeitpunkt oder eine Begebenheit in der Zeit braucht, scheint in jener Reflexion aufgehoben. Sie entspricht im Übrigen der Zeit, die für den von Novalis bedachten chemischen Kristallisationsprozess notwendig ist. Das aus Reflexionen bestehende Tagebuch enthält demnach mindestens zwei Zeitebenen : zum einen die aufgezeichnete ‚natürliche Zeit‘ und die Reflexionszeit, die der intellektuellsprachlichen Kristallisierung des Erlebten oder Gesehenen gilt. Voraussetzungen. Heidelberg 1965 sowie : ders., Philosophischer Chiliasmus. Zur Utopiereflexion bei den Frühromantikern. In : Die literarische Romantik. Hg. v. Silvio Vietta. Göttingen 1963, S. 149–179.
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Seine große Abhandlung über die Differenz von Lebenszeit und Weltzeit hatte Hans Blumenberg unter ein Motto von Novalis gestellt : „Die Zeit entsteht mit der Unlust“ und damit auf die subjektive Dimension der Zeiterfahrung verwiesen.222 Zeit als Ausdruck eines Unbehagens oder Ungenügens mit dem Gelebten und zu Lebenden führe, so Novalis, und mit ihm Blumenberg, zu zeitbewusster Reflexion. Das Tagebuch, der Brouillon, aber auch das Gedicht hielt Novalis für Kristallisationsformen solcher Reflexion über Zeit, wobei er den poetischen Reflexionen die Idee der Vorzeit oder der Goldenen Zeit vorbehält. In der letzten der Hymnen an die Nacht zeigt sich dies beispielhaft : Mit banger Sehnsucht sehn wir sie [die Vorzeit, R.G.] In dunkle Nacht gehüllet, In dieser Zeitlichkeit wird nie Der heiße Durst gestillet. Wir müssen nach der Heymath gehen, Um diese heilge Zeit zu sehn (I, 177).
‚Zeitlichkeit‘ wählte Novalis in der Athenäum-Fassung der Hymnen als Ausdruck für das, was in der Handschrift noch „hier auf dieser Welt“ hieß. Demnach war für ihn das Zeitliche gleichbedeutend mit In-der-Welt-Sein ; die „heilige Zeit“ dagegen, wie auch die „Vorzeit“, speisten eine nicht näher bezeichnete Sehnsucht. In der Vorzeit „brannten die Sinne licht in hohen Flammen“, wie es die letzte Hymne ausdrückt (I, 175) ; gemeint ist eine Zeitphase, in der noch Identität zwischen dem Menschen und seinem „Urbild“ herrschte – oder von einer solchen auszugehen war . Die Entfremdung des Menschen von seinen Ursprüngen durch zivilisatorische Prozesse hatte noch nicht stattgefunden, was aber auch bedeutet, dass der Mensch in jener Zeit nicht zu wirklicher Reflexion über sich selbst fähig gewesen war ; setzt diese doch den Abstand des Menschen zu sich selbst voraus. In dieser Vorzeit oder „alten Zeit“, so der Erzähler im Roman Heinrich von Ofterdingen, „muß die Natur lebendiger und sinnvoller gewesen seyn“ (I, 256), was besagen will : lebensnäher oder – wirklicher und sinnenreicher. Dem pluralektischen Interagieren der Zeitebenen entspricht auch die Vorstellung, dass die sinnlichen Wahrnehmungen, ihre Organe und die sinnlichen Entäußerungsformen eingedenk ihrer pluralen geistigen Inhalte miteinander bis zur wechsel222 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt am Main 1986, S. S. 7.
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seitigen Austauschbarkeit kommunizieren : „ […] wiewohl die Musik und Poesie wohl ziemlich eins seyn mögen und vielleicht eben so zusammen gehören wie Mund und Ohr, da der erste nur ein bewegliches und antwortendes Ohr ist“ (I, 257). Man kann auch im Heinrich von Ofterdingen seitens des Erzählers geradezu von einer poetisch-erzählerischen Strategie sprechen, dialektische Beziehungen nicht wirklich aufkommen zu lassen, ja, sie zu verhindern ; denn es handelt sich hier – auch im Bereich der Zeitebenen – nicht um kontradiktorische Entgegensetzungen und ihre den Fortschritt befördernde Synthese, sondern um ein Ineinandergreifen oder Zusammenspielen von Zeit- und Bewusstseinsqualitäten, die nichts zur Entscheidung kommen lassen, mit Ausnahme der „Sehnsucht zum Tode“. So bekennt etwa der Einsiedler gegenüber Heinrich, dass er in der Höhle mit ihren gesammelten Vorvergangenheiten glaube, sich in einem „Traum der Zukunft“ zu befinden (I, 308). Novalis stellt demnach neben die Einsichten in die chemische Wirkung der Zeit ihre mythische Qualität. Die Vermittlung zwischen beiden Bereichen versuchen der poetische Kunstakt und die in ihm nach romantischem Credo eingeschlossene Kritik. Kunst und Kritik werden zu Ermöglicherinnen dieses Wechselspiel von Zeitebenen und Zeitqualitäten. Im Denken Schellings sollte dieser Zusammenhang in wahlverwandter, wenn auch systematischerer Weise manifest werden. Schellings Zeitbegriff Zeit, schreibt Schelling in der zwischen 1802/03 in Jena entstandenen Philosophie der Kunst, „ist allgemeine Form der Einbildung des Unendlichen ins Endliche, sofern als Form, abstrahiert von dem Realen, angeschaut.“ (II, 319) ‚Einbildung‘ meint hier wohlgemerkt nicht ‚Imagination‘, sondern das Einarbeiten oder Eingearbeitet-Sein von Unendlichem oder Ewigkeitsgefühl ins zeitlich fassbar Endliche. Schelling entwickelt diesen Gedanken im Kontext seiner Ausführungen zum musikalischen Rhythmus, die in der These gipfeln, dass der Rhythmus die Musik in der Musik sei (II, 322). Dabei definiert er die Musik als die Kunstform, die am überzeugendsten Einheit in ihre Vielheit „einbilden“ könne. Dieses Denkmuster hat Schelling in seinen weiteren Ausführungen zur Zeit bereits erprobt, etwa wenn er behauptet, „das Princip der Zeit im Subjekt ist das Selbstbewußtseyn, welches eben die Einbildung der Einheit des Bewußtseyns in die Vielheit im Idealen ist (II, 319). Konnte sich Novalis noch ein „Selbstbewußtseyn“ denken, in dem es keinen „Zeitfortschritt“ gebe, argumentiert Schelling
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umgekehrt : die Zeit schreitet ins Bewusstsein, um auf diese Weise das Einbilden seiner Einheit in die Vielheit zu befördern. Schelling weiter : „Hieraus ist die nahe Verwandtschaft des Gehörsinns überhaupt und der Musik und der Rede insbesondere mit dem Selbstbewußtseyn begriffen. – Es läßt sich hieraus auch vorläufig […] die arithmetische Seite der Musik begreifen. Die Musik ist ein reales Selbstzählen der Seele […], aber eben deßwegen wieder ein bewußtloses, sich selbst wieder vergessendes Zählen.“ (II, 319) Man fühlt sich an Novalis’ These von der Ähnlichkeit von Mund und Ohr erinnert, die Schelling im übertragenen Sinne neu vorträgt, die daraus resultierende Synästhetie jedoch nicht als Synthese vorstellt, sondern als ein Einbeziehen des „Bewußtlosen“ ins Reflektierte. In seinen Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (1806) greift Schelling auf diesen Ansatz zurück, modifiziert ihn aber doch grundlegend. § 131 der Aphorismen konstatiert : „Die Zeit ist die Erscheinung der Einheit im Gegensatz der Unendlichkeit, die insofern in bloßer Relation zerfallen ist. In dem Werden und Vergehen der Dinge schaut das All sein eignes heiliges und unendliches Leben an.“ (III, 657) Später kommt Schelling noch einmal auf das Erscheinungsbild der Zeit zu sprechen und formuliert eine These über die Zeit, die er nicht mehr revidieren sollte : Die Zeit ist „die Einbildung der Identität in die Differenz, wodurch die wechselseitige Unabhängigkeit der Positionen verloren geht. Das Vorherrschen der Einheit drückt sich also durch das Leben der Dinge in der Zeit aus, womit zugleich das Bestehen und das unabhängige Seyn im Raume (die Unendlichkeit) negirt ist.“ (II, 667, § 187) Anders gesagt, die Zeit senkt sich in das Differente ein, die Differenz etwa zwischen dem Ich und Nicht-Ich, dem Wort und dem Schweigen, der Farbe und der Reflexion. Der Charakter der Zeit, ihre Zeitlichkeit, verbindet das Divergente miteinander und lässt Gedanken an das, was aus der Zeit herausfällt oder sie übersteigt, als irrelevant erscheinen. Die Zeitabläufe sind daher gleichsam die Rhythmen des „Lebens im Raum“ und seiner vielfältigen Relationen. Schelling fordert auch deswegen eine Poetisierung des Denkens, weil er von der Fähigkeit der Kunst überzeugt ist, die Identität zwischen Realem und Idealem zu zeigen. Für Schelling waren das die entscheidenden Vorgaben für seine Spätphilosophie, die ja als sinnstiftend für das spätromanische Denken und Kunstschaffen überhaupt angesehen werden darf, nämlich seine Hinwendung zur Mythologie und Offenbarung. Schelling räumt dem Christentum deswegen die größte geschichtliche und wirklichkeitsbezogene Bedeutung von allen Weltreligionen ein, weil in ihm sich die Weltwerdung Gottes als seine Wirklichwerdung ereignet habe. Die Geschichtlichkeit des „Seyns“ versteht Schelling als Aufweis
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eines Zeitbegriffs, der die Entfremdung des Menschen von Gott als eine historische, aber eben nicht endgültige Entwicklung begreift. In seiner Spätphilosophie instrumentalisierte er gewissermaßen seine früheren ästhetisch konditionierten Zeitvorstellungen, um durch sie die Heilsgeschichte philosophisch fruchtbar zu machen. Schellings mythological turn entsprach zwar durchaus Aspekten des spätromantischen Zeitgeists, aber er konnte nicht mehr jene integrative Kraft entfalten, die er sich gerade von dieser geschichtstheologischen Wende in seinem Denken langfristig erhofft haben mochte. Dass zu seinen Berliner Hörern 1841/42, als er die Philosophie der Offenbarung las, Alexander von Humboldt, Ranke, Burckhardt, Droysen, Savigny, Engels, Bakunin, Lassalle und Kierkegaard zählten, schien, im Nachhinein betrachtet, diese Hoffnung ja noch zu nähren. Doch die Mehrzahl dieser Hörer atomisierten Schellings Lehre eher als dass sie bereit gewesen wären, diese in seinem Sinne weiter zu entwickeln. Manche dieser Hörer, Kierkegaard unter ihnen, glaubten, dass Schelling zu einem neuen Begriff von Wirklichkeit unterwegs sei oder sie auf diesen Weg schicke. Doch zeigte sich Schelling – zur Enttäuschung vieler, gerade auch Kierkegaards – nicht bereit, die ins Rückwärtig-Mythologische reichende idealistische Prophetie einer sich in der Zukunft erfüllenden Vergangenheit aufzugeben.223 Kierkegaard schaltete in seine polemisch-ironische Schrift Philosophische Brocken oder Ein Bißchen Philosophie [sic !] (1844) ein „Zwischenspiel“ ein, in dem er eine polemische, auch aus der kritischen Auseinandersetzung mit Schelling hervorgegangene Doppelfrage stellte : „Ist das Vergangene notwendiger als das Zukünftige ? Oder ist das Mögliche dadurch, daß es wirklich wurde, notwendiger geworden, als es war ?“224 Kierkegaard fragt damit auch nach dem Entstehen oder sich Aufdrängen von Notwendigkeiten in der jeweiligen Zeit, aber auch nach der Rolle des Gewissens im Umgang mit solchen Notwendigkeiten, wobei er immer wieder eines konstatiert : Die unbedingte Einsamkeit, ja, Verlassenheit des mit dem Glaubenden ringenden (modernen) Menschen, der gerade darin in Christus sein Vorbild hat. In vielerlei Hinsicht bezeichnete der Berliner Auftritt Schellings einen Grenzwert zwischen spätromantischem Bewusstsein und dem Willen zum Aufbruch 223 Vgl. Walter Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. 2. Aufl. Pfullingen 1975. Vgl. auch : Sören Kierkegaard, Philosophische Brocken. Übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay „Zum Verständnis des Werkes“. Hg. v. Liselotte Richter. Frankfurt am Main 1984, S. 199 ff. 224 Ebd., S. 66–78.
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oder zumindest zu einer stärker an der Wirklichkeit ausgerichteten Neuorientierung des Denkens. Schelling lieferte, das sei doch gegen die damals von ihm Enttäuschten eingewendet, eine singuläre Mythologie des Denkens, indem er weiter auf das erzählerische Prinzip romantischen Darstellens baute und gewissermaßen den Denkprozess selbst zum Gegenstand seines philosophischen Erzählens machte. Aufschlussreicherweise hatte ebenso der junge Kierkegaard dieses mythologische Erzählen – auch in Gestalt von Märchen – ausdrücklich bejaht225 und einen eigenen stark ironisch-polemischen Erzählton für die Darstellung seines Denkens entwickelt. Solches Erzählen ist Zeitverarbeitung, Rhythmisierung von Inhalten, ein „Einbilden“ von Stoff und Struktur in die Leere unerfüllter Zeit. Dieser Umgang mit der Zeit findet sein komplementäres Gegenstück im Spätwerk Eichendorffs, wobei es kaum eine Übertreibung ist, wenn man behauptet, dass bereits der frühe Eichendorff an seinem Spätwerk geschrieben hat. Konsequenter hat kein Dichter der Romantik von Anbeginn das Späte und die Ambivalenz gegenüber dem Neuen auszudrücken verstanden als dieser schlesische Barde der Gegenzeit. Eichendorffs poetisierte Zeit Als Kierkegaard sich dem Zeitproblem auf besagte Weise stellte, verfasste Eichendorff sein Sonett „Das Alter“ : Hoch mit den Wolken geht der Vögel Reise, Die Erde schläfert, kaum noch Astern prangen, Verstummt die Lieder, die so fröhlich klangen, Und trüber Winter deckt die weiten Kreise. Die Wanduhr pickt, im Zimmer singet leise Waldvögelein noch, so du im Herbst gefangen. Ein Bilderbuch scheint Alles, was vergangen, Du blätterst d’rin, geschützt vor Sturm und Eise.
225 Søren Kierkegaard, Wie man Kindern Geschichten erzählt (Fragment aus dem Jahre 1837). In : Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5. November 2005 (Nr. 258), S. 46.
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So mild ist oft das Alter mir erschienen : Wart’ nur, bald taut es von den Dächern nieder, Und über Nacht hat sich die Luft gewendet. Am Fenster klopft ein Bot’ mit frohen Mienen, Du trittst erstaunt heraus – und kehrst nicht wieder, Denn endlich kommt der Lenz, der nimmer endet. (I, 447)
Von einer bilderbuchgeschützten Innerlichkeit berichtet dieses Ich, das selbst nicht wirklich in Erscheinung tritt. Es handelt sich um ein Buch der Erinnerungsbilder. Dass dieses diskrete Ich darin blättert, verdankt sich einer bestimmten zeitlichen und räumlichen Konstellation : Der Winter des Lebens scheint angebrochen. Draußen schläfert sich die Erde ein, die Natur pausiert. Im Zimmer dagegen richtet sich das bildliche Erinnern gegen das unerbittliche „Picken“ des Chronometers, wobei dieses Verb signalisiert, dass die Zeit ganz und gar den natürlichen Abläufen zuzuordnen ist. Dieses Ich zehrt in seinem Zimmer aber nicht nur vom Bilderbuch seines Gedächtnisses, sondern auch von jenen Symbolen der Natur (das gefangene „Waldvöglein“), die er noch vor Einbruch des Winters – freilich auf widernatürliche Weise – wahrgenommen hat. Beinahe scheint es, als habe der Alte diesen Vogel als Geisel genommen, um der Natur einen neuen Frühling abzutrotzen. Das erste Terzett nun scheint eine unverhoffte Wandlung einzuleiten. Goethes gleichnishafte Zeilen „Warte nur, balde / Ruhest du auch“ intertextuell paraphrasierend, dichtet Eichendorff : „Wart’ nur, bald taut es von den Dächern nieder“. Frühling liegt in der Luft. Der Bote am Fenster lockt das Ich hinaus ; und es geht ein ins Offene des werdenden Vergehens. Es ist ein Gedicht voller Korrespondenzen, die nicht eigentlich als polare Gegensätze verstanden werden, was sie im Grunde sind, sondern durch den schieren Ton des Gedichts in ein umfassendes Gebilde umgestaltet werden. „Der Vögel Reise“ der ersten Zeile entspricht am Ende die Reise des Alten in den ewigen Lenz. Die „weiten Kreise“ und das Zimmer korrespondieren ebenso miteinander wie das Verstummen der Lieder mit dem leisen Singen des gefangenen Waldvogels und dem Gesang des Sonetts. Verengung und Öffnung, Erinnerung und die Entpflichtung von ihr lassen dieses Alterssonett zu einem weiteren Beispiel jener Eichendorffschen komplexen Schlichtheit werden, die sein ganzes poetisches Werk auszeichnet. Das Präsentische ist der dominierende Zeitwert in diesem Gedicht, wobei auch die Art des Reimens dazu beiträgt, dass man selbst
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praeteritale Verben präsentisch aufnimmt „prangen“ – „klangen“ und Präsentisches als vergangen. Was Eichendorff diese poetischen Verschränkungen temporaler Verhältnisse immer wieder ermöglichte, war das Treffen des „Zauberworts“, seine ans Hypnotische grenzende Sprachkunst. Was im Vormärz-Sonett „Das Alter“ noch möglich war, eben jenes pluralektische In-Beziehung-Setzen von Zeiterfahrungen, vermag Eichendorff in seinem neunteiligen Zyklus „1848“ angesichts der politischen Zeitverhältnisse nicht mehr zu leisten. Nun erkennt er : „Kein Zauberwort kann mehr den Ausspruch mildern, / Das sündengraue Alte ist gerichtet“ (I, 451). Eichendorffs Auseinandersetzung mit der Zeit hatte neben der poetischen auch eine erinnerungspolitische Seite, die sich mit seiner ausführlichen zwischen 1842 und 1844 erfolgten Auseinandersetzung mit dem Kölner Dom-Projekt und vor allem der Wiederherstellung der Marienburg verband. In seinen grundlegenden Überlegungen zu Eichendorffs „Entdeckung der Erinnerung“ hat Wolfgang Frühwald auf die Funktion dieser von Eichendorff betriebenen Projekte, man könnte sie auch Monumente spätromantischen Bewusstseins in vorrevolutionärer Zeit nennen, für die Etablierung eines „kommunikativen Gedächtnisses“ in der deutschen Kultur hingewiesen.226 Diese gemeinsame Arbeit an den Monumenten sollte laut Eichendorff eine die sozialen Stände integrierende Funktion übernehmen, Identifikationsobjekte und -symbole schaffen, die über den Tag und die Stunde hinausgehen – genauer gesagt : zurück zu den christlich-mittelalterlichen Wurzeln einer die Revolution scheinbar obsolet machenden Sinnkultur. Eichendorff entdeckte in diesen Schriften, wie überhaupt in seinem sich der Zeitschichten immer wieder neu bewusst werdenden Schaffen, die „Tiefendimension der Zeit“ (Frühwald) und entwickelte daraus eine Art Tiefentemporalogie, die um die seelische Substanz des Zeitproblems, also des Umgangs mit dem Werden im Vergehen und dem Vergehen im Werden, wusste. Doch blieb Eichendorff stets Dichter genug, um die wechselseitige Verwandlung von kommunikativ-kollektivem in kulturelles Gedächtnis in erster Linie ästhetisch zu verstehen und erst dann nationalpolitisch. Spätromantische Diskurse über die Zeit, etwa auch jene Franz von Baaders oder, wie gesehen, jene Schellings, tendierten dazu, jeder Form von Zukunft eine Tradition zuzuschreiben, ein Phänomen, das sich schon in Eichendorffs Roman 226 Wolfgang Frühwald, Die Entdeckung der Erinnerung. Zu Eichendorffs historischen, politischen und autobiographischen Schriften. In : V, 845–876, bes. 855–869.
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Ahnung und Gegenwart findet, in dem sich das Ahnen in ein Instrument der Erkenntnis verwandelt sieht. Dabei gelangt der Erzähler zu einem verdichteten erkenntnispoetischen Bild von besonderer Intensität : „Alles Durchlebte und Vergangene geht noch einmal ernster und würdiger an uns vorüber, eine überschwängliche Zukunft legt sich, wie ein Morgenroth, blühend über die Bilder, und so entsteht aus Ahnung und Erinnerung eine neue Welt in uns, und wir erkennen wohl alle die Gegenden und Gestalten wieder, aber sie sind größer, schöner und gewaltiger und wandeln in einem anderen, wunderbaren Lichte.“ Einen solchen Zustand nannte Adorno „avanciertes Bewusstsein“, das es gestatte, „Vergangenes zu lieben“, aber auch die Brüche zwischen Vergangenem und Gegenwärtigen wahrzunehmen. Aus dem „Vergänglichen am Vergangenen“, so Adorno in seinem Essay über Eichendorff, lasse sich das „Gegenwärtige“ neu gewinnen ; er spricht sogar von „abzwingen“, wobei die „Einheit von Tradition und offener Sehnsucht nach dem Fremden“227 das „nicht-falsche“ Zeit-Bewusstsein konditioniere oder ihm – in Schellings Wortsinn – „eingebildet“ sei. Vorgebildet findet sich diese multiperspektivische Zeiterfahrung jedoch in Wilhelm Meisters Lehrjahre, und zwar im „Saale der Vergangenheit“, wo auf einem Sarkophag die Inschrift „Gedenke zu leben“ steht. Wilhelm Meister nimmt ihn als einen Saal „der Gegenwart und der Zukunft“ wahr, hergestellt durch „reine architektonische Verhältnisse“ zwischen diversen Stilebenen, die wiederum die Zeitschichten repräsentieren : „[…] so schien jeder, der hineintrat, über sich selbst erhoben zu sein, indem er durch die zusammmentreffende Kunst erst erfuhr, was der Mensch sei und was er sein könne.“ (VII, 540 u. 541) Zeit- und Kunsterfahrung gewinnt bei Goethe so eine anthropologische Komponente, die sich bei Eichendorff in dieser prononcierten Weise nicht mehr erkennen lässt. In einem knappen Sinngedicht unter dem bezeichnenden Titel „Symmetrie“ formulierte Eichendorff um 1810 auf konziseste Art sein Verständnis von Zeitwerten : O Gegenwart, wie bist du schnelle, Zukunft, wie bist du morgenhelle, Vergangenheit so abendrot !
227 Theodor W. Adorno, Zum Gedächtnis Eichendorffs. Coda : Schumanns Lieder. In : ders., Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften Bd. 11. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 68 f.
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Das Abendrot soll ewig stehen, Die Morgenhelle frisch drein wehen, So ist die Gegenwart nicht tot. (I, 110f.)
Werden hier der Vergangenheit und Zukunft Lichtwerte zugeordnet, kommt der Gegenwart ein konkretes Zeitmoment zu : die Geschwindigkeit, mit der sie vergeht. Eichendorff erreicht die symmetrische Verschränkung seiner Aussage dadurch, dass er die Farb- oder Lichtwerte, die in der ersten Strophe adjektivisch gebraucht werden, in der zweiten Strophe zum Subjekt und damit zum Handelnden erklärt. Hier von einem triadischen Geschichtsmodell zu sprechen ist zwar nicht verfehlt228, trifft den Sachverhalt jedoch nur bedingt. Denn die Schnelle, Geschwindigkeit oder Schnelllebigkeit der Gegenwart kann sich auch tot laufen, wie die Schlusszeile sagt ; sie bedarf daher der Einwirkung der Eigenschaften von Vergangenheit und Zukunft. Das Gedicht fragt nach der Konstituierung von Gegenwart, die sich eben nicht nur aus der Vergangenheit ableitet, sondern auch aus der „Ahnung“ der Zukunft und ihrem spezifischen Lichtwert. Die Gegenwart erweist sich so als ein pluralektisches Produkt von, wörtlich und übertragen gesehen, diversen Beleuchtungsverhältnissen. Sie bedarf der permanenten Interaktion von Erfahrenem oder erinnert Gewesenem und geahnt Künftigem. Zeit-Blicke in die Moderne Diese zwei dreizeiligen Strophen – und das führt zu den eingangs zitierten Versen T.S. Eliots zurück – lesen sich wie eine antizipierende Abbreviatur der zwischen 1935 und 1942 entstandenen lyrischen Komposition The Four Quartets. In ihr wurde Eliot von dem eingeholt, was er in seiner nahezu ganzen Schaffenszeit am entschiedensten abgelehnt hatte : das Romantische, und zwar im Hinblick seiner Zeitkonzeption. Eliots zum Teil auch an den späten Quartetten Beethovens orientierte Dichtung verfolgt das Zeit-Motiv geradezu obsessiv. Nie zuvor hatte er das Wort „time“ und sich aus der Zeit ergebenden Verhältnisse häufiger, repetitiver eingesetzt als in The Four Quartetts, dessen epochale Bedeutung man mit jener von Hermann Brochs Epos Der Tod des Vergil verglichen hat.229 Nicht erst die Kritik 228 Vgl. den Kommentar zu diesem Gedicht (VII, 900). 229 Wolfgang Riehle, T.S. Eliot. Wege der Forschung Bd. 106. Darmstadt 1979, S. 75.
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hat diese Dichtung als seine musikalischste erkannt, sondern auch Eliot selbst, der während der abschließenden Arbeit an den Four Quartets seinen Essay „The Music of Poetry“ schrieb, in dem er Themenwiederholung, Rhythmus, Wortklang und andere strukturelle Merkmale in ihrer poetischen Musikalität würdigte.230 Die poetisch-kompositorische Behandlung von Zeit kann dann durch ihre Thematisierung – wie im Fall der The Four Quartets – noch potenziert werden. Den erlebten und erinnerten Augenblick nennt Eliot „involved with past and future“ (192). Die Zeit davor und danach sei in dumpfes Licht getaucht – weder in Tageslicht oder Dunkelheit. Bemerkenswert daran ist, dass auch Eliot wie zuvor Eichendorff Zeitwerten bestimmte Lichtwerte zuordnet. „Words move, music moves / Only in time“ (194), wobei beide Medien die Transzendierung der Zeit ermöglichen sollen. Wie verhält sich der späte November zur „disturbance of spring“, fragt der zweite Teil von „East Coker“ und – ein ganz und gar an die Romantik erinnerndes Bild – wie die späten Rosen zum frühen Schnee („Late roses filled with early snow“, 198) ? Hier artikuliert sich das, was Adorno meinte, wenn er im Vorspann zu seinen Reflexionen über Eichendorff bemerkte : „der Rhythmus von Zeit ist verstört.“231 Je erratischer unsere vom Zeitgeist gestörte Zeitempfindung ist, so mag man ergänzen, umso obsessiver handelt man von der Zeit. Eliots Bildlichkeit und die Musikalität seiner Verse sind deutlich spätromantischen Ursprungs ; sein Reflexionsmodus dagegen von spätmoderner Gebrochenheit, die sich jedoch aufzufangen versucht durch formelhaftes Sprechen von der Art : „In my end is my beginning“ (204). Eliot unterscheidet in „The Dry Salvages“ zwischen der messbaren Zeit und einer vorvergangenen, ursprünglichen Zeit, an welche jene Glocke erinnert, die im Nebel hörbar wird. Wach liegend versucht dieses Ich die Zukunft zu ermessen, „Trying to unweave, unwind, unravel / And piece together the past and the future“ (206). Was hier in dunkler Gegenwart geschieht – nämlich zwischen Mitternacht und Morgendämmerung – sind wesentlich pluralektische Prozesse, gekennzeichnet durch diese Verben : unweave, unwind, unravel / and piece together ; gemeint ist damit ein vielfaches Entflechten und neues Verknüpfen. Eliots Zeitbestimmung geht noch weiter :
230 In : T.S. Eliot, On Poetry and Poets. 6. Aufl. London/Boston 1979, S. 26–38, hier : S. 38. Auf diesen Zusammenhang hat zuerst Helen Gardener aufmerksam gemacht. In : Helen Gardener, The Art of T.S. Eliot (1949). London/Boston 1985, S. 36–56 (Kap. II : ‚The Music of ‚Four Quartets‘). 231 Adorno, Noten, a.a.O., S. 69.
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Between midnight and dawn, when the past is all deception, The future futureless, before the morning watch When time stops and time is never ending. (206)
Das sind augustinische Zeitparadoxa, übersetzt in literarische Moderne und getaucht in das von der Romantik favorisierte Licht, das Zwielicht, die Dämmerung. In diesem Zwischen- oder Schwellenbereich entzeitlicht sich die Zeit und verzeitlicht sich das Zeitlose. Später konstatiert das Gedicht, dass es kein Ende mehr gebe, nur noch „additions“, Hinzufügen, Serialisierungen von Empfindungen, Dingen, Möglichkeiten, Erfahrungen des Scheiterns und vor allem : Zeitpunkten. Die Vergangenheit aber, so das Gedicht, habe ein anderes Muster ; es bestehe nicht aus Sequenzen, schon gar nicht aus Entwicklungen, sondern aus Erinnerungsmomenten, die sich je nach den Bedingungen für Erinnerung neu gruppierten. „Little Gidding“, das letzte der Quartets, weiß von einem Zustand „suspended in time“ (214). Das kann „aufgehoben“ in seiner eigenen Mehrdeutigkeit bedeuten und ausgesetzt. Für das Ich dieses Quartetts steht nur eines fest : „Here, the intersection of the timeless moment / Is England and nowhere. Never and always.“ (215) Um der aufgehobenen Ortung England wegen sieht sich das „Nevermore“ aus Edgar Allen Poes „The raven“ seinerseits suspendiert und um ein „Immer“ erweitert. Das könne aber nur so sein, heißt es in „Little Gidding“, wenn sich England – das war vor allem auch vor dem politischen Hintergrund des Jahrers 1942 gesagt – als geschichtliche Qualität begreife ; „for history is a pattern / Of timeless moments.“ (222) Genau in jener Phase als Eliot an „Little Gidding“ schreibt, entwirft der verfemte Max Beckmann seinen Zyklus Apokalypse. Eine seiner Lithographien setzt die apokalyptische These um „…dass hinfort keine Zeit mehr sein soll“. Um Mitternacht oder Mittag werden die Zeiger der Uhr von zwei bestirnten Figuren, Vertretern des Universums gewissermaßen, angehalten. Das Pendel wird zum Lot und weist ins Nichts. Ein Mensch oder Prophet oder der erstandene Erlöser liegt scheinbar entspannt unter der Uhr, wobei er wie die beiden Gestirnsträger und Zeit-Suspendierer eine Hand vors Gesicht hält vor Scham über das, was auf der Erde geschieht. Das Erfahren von Zeitbrüchen und zeitlichen Kontinuitäten vollzieht sich bereits in der Romantik parallel, verschärft sich aber in der literarischen Moderne durch den vergeblichen Versuch, gestaltend, reflektierend mit den Innovations-
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schüben in Technik, Wissenschaft und ihrer ideologischen Positionierung. Wo die Romantik noch durch Träumerei, Taugenichts-(Un-)Bewusstsein und selbstvergessene Schaffensmomente die Zeit zu stunden verstand, lässt sich dies im Wissen um das Kommen „härterer Tage“ in der Moderne oder Nachmoderne nur noch auf Widerruf erreichen.232 Dabei hatte sich schon die Romantik der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ausgesetzt, jener gemeinhin als entschieden ‚modern‘ ausgegebenen Zeiterfahrung, was sich in den genannten Denkmalsprojekten zur Beförderung des kommunikativen Gedächtnisses ebenso symbolisierte wie in der Tatsache, dass das Tragen von altdeutscher Tracht und Dürer-Kringellocken unter Intellektuellen Mode werden konnte, aus denen sich dann das Junge Deutschland rekrutierte. Auch in Fragen des Verhältnisses zu den Zeitwerten gilt – nicht nur in der Romantik – das Prinzip der „negative capability“, das Aushalten-Können von Widersprüchen, spielerischen Umformungen, Gleichzeitigkeiten und ihren Paradoxa. Oder um pluralektisch zu schließen : Zeit ist, wenn man die Uhr trotzdem stellt, wenn man, wie der späte Mozart, nur noch für Spieluhren komponiert, Sonnenuhren aufwendig restauriert und das im Wissen, dass heute nur noch die Cäsium-Zeitbasis gilt mit einer Gangabweichung von einer Sekunde in einer Million Jahren. Die Zeit ist auch nur ein Element, sagte Goethe, freilich eines, um das sich alles zu drehen scheint. Doch auch das Dreh- oder Kreismoment hat sich als entschieden romantisch erwiesen.233 Doch darüber zu handeln sei einer anderen Zeit vorbehalten.
232 Vgl. Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit. In : Dies., Gedichte. Erzählungen, Hörspiel, Essays (1964). München 2001, S. 14. Zur Interpretation u.a. Christian Schärf, Die gestundete Zeit. In : Mathias Mayer (Hg.), Interpretationen. Werke von Ingeborg Bachmann. Stuttgart 2002, S. 27–42. 233 Vgl. dazu meine Antrittsvorlesung am Queen Mary College, University of London vom Februar 2007 : From ‚Liederkreis‘ to the Eternal Recurrence of the Same. On Circularity in (German Late) Romanticism. In : KulturPoetik 7,2 (2007), S.149–165.
IX Zu einer romantischen Ästhetik des Unbewussten „The novels and poems come unwatched out of one’s pen“234
Wenn es laut Hegel ein „unglückliches“ Bewusstsein und nach Adorno ein Leben im „falschen“ gibt, dann kann dies naturgemäß nicht für das Unbewusste zutreffen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir über das Unbewusste keinerlei Aussage treffen können oder ohne jede Verantwortung für diese Ebene seien. Freud argumentierte bekanntlich, dass der Bereich des Unbewussten aus früher gemachten Erfahrungen oder erlittenen Enttäuschungen bestehe, die unter bestimmten Voraussetzungen wieder ans Tageslicht gelangten, wodurch wir uns dann fälschlicherweise überrascht fühlten ; denn wir sollten uns bewusst bleiben, dass alles was wir sind und tun nur vor dem Hintergrund der Vergangenheit erklärt werden kann.235 Wesentlich ist dann, wie wir mit dem aus dem Unbewussten Aufgetauchten umgehen. Das Unbewusste stellt sich somit als ein Reservoir von verdrängten Problemkomplexen dar, aber auch als ein Bereich schöpferischen Potenzials ; und es ist dieser letztere Aspekt, der seit Karl Philipp Moritz die kritische Aufmerksamkeit der Künstler wie auch der Kunstpsychologie und in unserer Zeit der Kreativitätsforschung auf sich gezogen hat.236 Rilke etwa verweigerte sich der Psychoanalyse, weil er befürchtete, dass sie das künstlerisch fruchtbare Feuchtgebiet des Unbewussten austrocknen würde. In seiner Zeit war es jedoch vor allem D.H. Lawrence, der die Bedeutung des Unbewussten und der Intuition für den schöpferischen Prozess umfassend zu erörtern versucht hat, und zwar in seinen beiden großen Versuchen Psychoanalysis and the Unconscious (1921) und Fantasia of the Unconscious (1923).237 In seinen einführenden Bemerkungen zu diesen Essays behauptete er, dass er nicht an die Evolution glaube, wohl aber an die Fremdartigkeit und schillernde Regenbogenhaftigkeit einer sich immer wieder erneuernden schöpferischen Zivilisation.“238 Das Unbewusste oder genauer : Nichtbewusste stellte für Lawrence einfach ein anderes Wort für ‚Leben‘ dar, was er mit einem 234 In : D.H. Lawrence, ‚Fantasia of the Unconscious‘ and ‚Psychoanalysis and the Unconscious.‘ Harmondsworth 1983, S. 15. 235 Dazu jüngst : Cord Friebe, Theorie des Unbewussten. Eine Deutung der Metapsychologie Freuds aus transzendental-philosophischer Perspektive. Würzburg 2005. 236 Die umfassendste Textsammlung findet sich bei Ludger Lütkehaus (Hg.), „Dieses wahre innere Afrika“. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. Frankfurt am Main 1989. 237 Lawrence, Fantasia, a.a.O. 238 Ebd., S. 14.
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Seinszustand verband, der durch Intuition, Sinnlichkeit und Emotionalität sich leiten lasse. Lawrence hielt das Unbewusste für das Zentralorgan der (unreflektierten) sinnlichen Wahrnehmung, wobei er die moderne Musik ausdrücklich von dieser Wahrnehmungsform ausnahm ; diese sei nämlich zu analytisch geworden und habe die Reflexion erfordernde Macht des Hässlichen entdeckt.239 Die Musik, aber auch die anderen Künste hätten in der Moderne, so Lawrence, ihre einstige sinnliche Unmittelbarkeit preisgegeben, also jenen Zustand, der sie mit dem Unbewussten verbunden hatte. Diese Preisgabe finde besonders augenfällig in der abstrakten Moderne statt ; sie ereigne sich jedoch nicht, meinte Lawrence weiter, wenn moderne Künstler wie Gaugin oder Der Blaue Reiter, aber auch Strawinski und Bartók das „Uranfängliche“ oder vermeintlich „Primitive“ entdeckten. Selbst Thomas Mann, wohl einer der reflektiertesten Schriftsteller in der Moderne, zollte den „Kräften des Unbewussten“ seinen Respekt, die er auf Schopenhauers Willensphilosophie zurückführte240, einer, wie er befand, entschieden romantischen Untersuchung der Natur des Nicht-Rationalen. Doch auch heute ist die Rolle, die das Nicht-Bewusste im künstlerischen Arbeitsprozess spielt, als Problem präsent. So beschreibt beispielsweise Harold Pinter sein Arbeiten wie folgt, als er die Frage eines Kritikers beantwortete, ob es nicht eine reine Bewusstseinsleistung sei, durch welche er in seinen Stücken die Handlung und seine Charaktere organisiere : I’m not aware of my consciousness working in that way at an early stage of writing. After it’s got to a certain point, I then work very hard on the text, quite consciously. In other words, I just don’t live in my unconscious the whole damn time. I keep an eye on it. But one of the most exciting things about being a writer is finding the life in different characters whom you don’t know at all. To a certain extent, you’ve got to let them live their own life. But there’s also a conflict constantly going on between you as the writer and them as the characters.241
Diese Argumentation entspricht weitgehend jener in Pinters Nobelpreis-Rede, die zum Teil der Charakterisierung des Schreibprozesses gewidmet war ; in beiden Fällen verstand er sich darauf, das Schreiben als ein beständiges Wechsel239 Ebd., S. 67. 240 Thomas Mann, Lübeck als geistige Lebensform (1926). In : Th.M., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. XI. Frankfurt am Main 1990, S. 385. 241 Harold Pinter in conversation with Michael Billington. In : The Guardian v. 14 März 2006, S. 11.
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spiel von Bewusstsein und Unbewusstheit zu kennzeichnen. Nach Pinter müsse das Unbewusste einen bestimmten kritischen Punkt erreicht haben, um durch den eigentlichen Schreibakt ins Bewusste überzugehen. Doch selbst während des Schreibens könne sich ein solcher Prozess auch kurzzeitig umkehren und eine reflektierte Phase ins Unbewusste zurückfallen. Das Unbewusste ist das in uns Unbegrenzte ; es lässt sich nie vollständig erkunden noch ganz aneignen. Wir können nur an der Grenze zum Bewussten einen kurzen Blick auf seine Eigenart werfen. Aber diese Grenze ist durchlässig, aber nur beschreibbar in ‚kritischen‘ Momenten wie denen von Pinter benannten. Robert Menasse behauptet, dass einige Kunstwerke über das hinausgehen, was ihre Urheber beabsichtigt hatten. Dadurch brächten sie den Künstlern eine Art Niederlage bei und verwiesen auf das Unbewusste zurück.242 Beide Positionen, Pinters Verständnis vom Zusammenspiel des Nicht-Bewussten mit dem Bewussten wie auch Menasses Auffassung, dass die nicht-bewussten Kräfte innerhalb des künstlerischen Arbeitsprozesses dazu führen können, dass das Kunstwerk die ihm ursprünglich zugrunde liegende Intention übersteigt, finden ihren gemeinsamen Nenner in Stefan Zweigs Essay aus dem Jahre 1938, Das Geheimnis des künstlerischen Schaffens.243 Darin gab Zweig zu erkennen, dass seiner Ansicht nach der Künstler ein hypnotisiertes Medium eines höheren Willens sei ; und was er in diesem Zustand hervorbringe, geschehe auf der Grundlage eines „beständigen Ringens zwischen Unbewusstheit und Bewusstheit.“ Auf ganz ähnliche Weise argumentierten später Arthur Koestler und George Steiner, indem sie behaupteten, dass der künstlerische Ausdruck einen bestimmten Aspekt des – im Wesentlichen unbewussten – Inkommensurablen verlebendige.244 Es fällt nicht schwer zu erkennen, dass diese und ähnliche Positionen, die den soziokulturellen Einfluss auf die künstlerische Produktion weitgehend ignorieren, idealistisch-romantischen Ursprungs sind.245 Jeder Versuch, die Bedeutung 242 Robert Menasse, Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurt am Main 2006, S. 45. 243 In : Stefan Zweig, Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. v. Knut Beck. Frankfurt am Main 1984, S. 384 ff. 244 Arthur Koestler, The Act of Creation. London 1964 und George Steiner, Grammars of Creation. London 2001. Erstaunlicherweise beziehen sich beide nicht auf Zweigs grundlegenden Essay ; Steiner seinerseits übergeht Koestlers Studie. 245 Vgl. die bahnbrechende Arbeit von Elke Völmicke, Das Unbewusste im Deutschen Idealismus. Würzburg 2005. Vgl. ebenso Hans-Georg Bensch, Perspektiven des Bewusstseins. Hegels Anfang
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des Nicht-Bewussten in der romantischen Ästhetik zu erfassen, sollte die Frage einschließen, ob und wie sich dessen Spuren im Werk selbst wahrnehmen lassen. Indem Hegel zu Beginn der Phänomenologie des Geistes die intellektuelle Kraft des ‚Bewusstseins‘ und ‚Selbstbewusstseins‘ betont, scheint er die nahe liegende Annahme zu übergehen, dass das Nicht-Bewusste einen erheblichen Anteil an der Art und Weise hat, in der das ‚selbstbewusste‘ ich die Welt wahrnimmt. Dieses Nicht-Bewusste bildet gleichsam die individualpsychologischen Voraussetzungen für unsere Perzeption von Welt. Hegel gestattet uns nur äußerst selten einen Blick auf die Bedingtheiten des Bewusstseins, beispielsweise dann, wenn er einräumt, dass dem „Bewusstsein in der Dialektik der sinnlichen Gewissheit das Hören und Sehen vergangen“ sei.246 Dies ist eine ausgesprochen ironische Aussage, denn sie besagt, dass die Widersprüche in der Art, wie wir Welt durch unsere Sinne wahrnehmen, unser Bewusstsein verwirren, wodurch es um seine kritischen Möglichkeiten gebracht werden könnte. In seiner Vorschule der Ästhetik, dieser ‚romantischsten‘ und ironischsten unter den ästhetischen Theorien der Romantik, führte Jean Paul den Begriff „Instinkt des Unbewussten“ als eine Art regulativen Vermögens unseres Inneren ein, der bei Künstlern eine bemerkenswerte, weil formgebende Wirkung zeitige.247 Wie nahezu alles andere in seiner Vorschule scheint auch dieser ausführliche Verweis auf den Instinkt in entschieden ironischer Absicht geschrieben worden zu sein, vor allem, wenn er behauptet, dass der Instinkt oder Trieb der Sinn der Zukunft sei.248 Doch mache dieser Sinn nur Sinn, wenn ihn ein künstlerisches Genie umsetze, den Jean Paul als Befreier des Lebens sah, weil er selbst den Tod zu verschönen verstehe. Jean Paul arbeitete an seiner Parodie ästhetischer Theorien, als Schelling in Jena seine Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1802/03) hielt. In einem ihrer wichtigsten Abschnitte stellte er die Behauptung auf, dass die Kunst auf der Identität des bewussten und unbewussten Handelns beruhe.249 Die Kunst führe uns zurück auf das, was Schelling „Urbilder“ nannte. Er ging sogar so weit, in der Kunst die Repräsentation oder neue Aufarbeitung solcher „Urbilder“ zu sehen, deren archetypische Qualitäten uns in enge Berührung mit uranfänglider ‚Phänomenologie des Geistes‘. Würzburg 2005. Bensch zeigt überzeugend die kritische Absicht von Hegels Begriff des Bewusstseins. 246 Hegel, Phänomenologie, a.a.O., S. 84. 247 Paul, Vorschule, a.a.O., S. 59 ff. 248 Ebd., S. 60. 249 Schelling, Philosophie der Kunst, a.a.O., S. 28.
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chen Vorstellungen vom Göttlichen und Lebensweltlichen brächten. Als solche resultierten „Urbilder“ aus einer ursprünglichen Transposition eines unbewussten Daseinszustandes in wahrnehmbare Wirklichkeit. Fichte wiederum ging von der Annahme aus, dass es eine Kraft gebe, die dem Bewusstsein gegenüberstehe, die aber nur gefühlt, geahnt, nicht aber erkannt werden könne. Diese These steht interessanterweise am Beginn jener Reflexionen über das Bewusstsein, die einer von Fichtes eigenständigsten Schülern, Novalis, anstellte : „Das Bewußtseyn ist […] ein Bild des Seyns im Seyn“, notierte Novalis in seinen Fichte-Studien (II, 10). Was ihn befasste, war der ontologische Status des Bewusstseins. Seiner Definition zufolge schließt Bewusstsein jegliche Unmittelbarkeit aus ; es ist aber aufs engste verknüpft mit Wissen, Reflektion und Repräsentation. Denn das Bewusstsein verstand Novalis als das Bild des Seienden im Sein. Schon bald jedoch sollte sich Novalis von diesem Fichteschen Ansatz verabschieden. In seinem Reflexionsmikrokosmos Blüthenstaub behauptet er, dass es das willkürlichste Vorurteil gewesen sei, zu vermuten, dass der Mensch nicht mit Bewusstsein die Sinne transzendieren könne. Im Gegenteil, behauptet Novalis jetzt, „der Mensch vermag in jedem Augenblick ein übersinnliches Wesen zu seyn.“ (II, 234) Diese Fähigkeit, sich selbst und seine eigene Sinnlichkeit zu überschreiten, sei, so Novalis, durch das Bewusstsein gesteuert, durch Selbsterfahrung und Dichtung. Wesentlicher Bestandteil dieses Prozesses ist die „Romantisierung“ der Welt, die Novalis selbst für seine dringlichste Aufgabe gehalten hat (II, 334). Dabei strebte er nicht zu einem Urzustand unbewussten „Seyns“ zurück ; sein Blick war der eines poetischen Denkers, der sich darauf richtete, sein eigenes Bewusstsein mehr und mehr zu erweitern, um es auf diese Weise dereinst transzendieren zu können. Novalis zielte weniger auf eine Ästhetik des Bewusstseins als auf eine Aisthesis, die Wahrnehmung der Funktionsweise des Bewusstseins und der Sinne, vor allem aber auf eine Intensivierung der Reflexion. So gesehen verstand Novalis die Gewinnung größtmöglicher Intensität als Hauptzweck des Reflektierens und des künstlerisch-poetischen Sich Ausdrückens.250 Was ‚Ausdruck‘ im Kontext von Novalis’ eigenem poetischem Schaffen bedeutete, zeigte sich etwa zu Beginn von Die Lehrlinge zu Sais und im ersten Teil des fragmentarischen Romans Heinrich von Ofterdingen. Der Erzähler bezieht sich auf die 250 Vgl. Erich Kleinschmidt, Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert. Göttingen 2004. Kleinschmidt sieht in Novalis den Hauptvertreter einer Intensitätskultur, wie sie sich bis 1800 entwickelt hatte.
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hieroglyphischen Zeichen in der Natur, die der Mensch entziffern müsse, um sein Vokabular zu bereichern. Je mehr solche Wörter wir von der Natur gelernt haben, so der Erzähler, desto wahrhafter könnten wir verstehen, was wir sehen und desto eindrücklicher könnten wir davon wortsprachliches Zeugnis geben. Zunächst jedoch müsse die Musik die Hauptbezugsquelle bleiben, wenn es darum gehe, unsere innersten Empfindungen auszudrücken. Was für die Hieroglyphen in der Natur zutrifft, gilt auch für die Töne. Sie existieren längst und warten darauf, entdeckt zu werden : „Die Töne liegen schon in den Saiten, und es gehört nur eine Fertigkeit dazu, diese zu bewegen um jene in einer reitzenden Folge aufzuwecken.“ (I, 255) Diese vielfältige Bezüglichkeit der Zeichen als der Grundlage pluralektischen Bewusstseins in der Romantik erinnert unmittelbar an die Bedeutung des Ornaments und der Hieroglyphe in Sternbalds Wanderungen ; und was die Novalisschen „Töne“ angeht, so kann in dieser Konzeption das klanglichpoetische Urbild der zuvor am Beispiel von Coleridge und Mörike besprochenen Symbolik der Äolsharfe gesehen werden. Die Analogie zur Musik ist auch deswegen so erheblich, weil sie verdeutlicht, wie stark die Romantik klanglich empfunden und eher in musikalischen denn dialektischen Zusammenhängen gedacht hat. Die Intervalle und der Quintenzirkel waren wesentlichere Erkenntnisanalogien als der dialektische Schematismus. Was Novalis angeht, so verwies er uns nicht auf unser Unbewusstes, um die klanglichen Sequenzen zu erkennen. Vielmehr ging er davon aus, dass das intensivierte Bewusstsein uns dazu befähigte, die Hieroglyphen und Klänge der Natur zu entziffern und wahrzunehmen. Und auf dieser Grundlage würde sich dann auch das Niveau unserer (künstlerisch-poetischen) Selbstentäußerungen erhöhen. Die Qualität unserer Selbstentäußerung, so schien Novalis anzunehmen, hinge damit ursächlich vom Charakter (und der Intensität) unseres Selbstbewusstseins ab. Poetische Traumwelten und Dämonen Um auf den Bereich des Unbewussten anzuspielen, bediente sich die Romantik der novellistischen Darstellung von Träumen und Phantasien. In dieser Hinsicht stellt Friedrich Schlegels Lucinde eher eine Ausnahme dar, handelt doch dieser kleine Roman von den großen durch das Zusammen- und Widerspiel der Sinne zu Tage liegenden, sehr bewussten Gefühlen. Auf ähnliche Weise gründet das Erzählen in Brentanos Godwi, aber auch schon in Heinses Ardinghello in gera-
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dezu autopoetischen Assoziationsfolgen und einem spielerischen Gebrauch von Analogien. Man könnte sogar von einem überbordenden oder karzinomartig wuchernden Erzählen reden, ein Verfahren, das nicht nur zu Joyce, sondern inzwischen auch mitten in die Gegenwartsliteratur führt.251 Anders dann bei E.T.A. Hoffmann, der genau komponierte Erzählstrukturen mit dem Unerwarteten, Unheimlichen, aus dem inneren Dunkel Kommenden interagieren lässt. Erzählungen, die geschichtliche Stoffe aufarbeiten, tendierten in der Romantik jedoch weniger dazu, das Unbewusste zu thematisieren. Gleiches gilt für Texte, in denen die Ironie dominiert ; denn sie ist das offenkundigste Anzeichen bewusster Reflektiertheit. Sofern ein Schatten als Bild interpretiert werden kann oder wie in Nietzsches Zarathustra als ein bildliches Echo des Unbewussten, dann sollte auch Chamissos Novelle Peter Schlemihls wundersame Geschichte in diesem Zusammenhang beachtet werden. Diese verstörende Geschichte eines Menschen, der seinen Schatten verkauft, um dafür ein Vermögen zu erlösen, das ihn aber unglücklich machen sollte, versinnbildlicht einen Zustand der Loslösung vom Eigenen, in dem weder Intuition noch Erinnerung eine sinnvolle Richtung weisen können. Schlemihls Unbewusstes scheint auch mit dem Schatten verschwunden zu sein. Er kann nicht einmal auf Augenblicke unwillkürlicher Erinnerungen hoffen, die einen Zugang zu seinem Unbewussten gewährten. In Bewegung versetzt ihn nur die Schattenlosigkeit, die ihn von Ort zu Ort treibt und von einer Enttäuschung zur nächsten. Erinnerungsbedingte Tropen des Sprechens schließen Anspielungen auf das Unbewusste keineswegs aus ; im Gegenteil können sie zu dessen Ikonen werden. Das zeigt sich in der romantischen Prosa oft dann, wenn die Protagonisten sich an eine bestimmte Szene in ihrer Vergangenheit erinnern und dann in ein Lied geradezu ‚ausbrechen‘, wobei das Lied zu einer Art aufgeführtem Gedicht wird. Solche ‚Lieder‘ stellen entweder die poetische Gestalt einer Erinnerung dar oder sie verdanken sich einer der Inspiration des Augenblicks geschuldeten Kreation, die sich jedoch aus den ästhetisch erschließbaren Tiefenschichten der Psyche zu speisen scheint. Dann wieder gibt es Fälle, bei denen ganz und gar unklar ist, wie es in einer bestimmten Situation zu einem die Erzählung unterbrechenden oder diese intensivierenden Gedicht kommen konnte. In Brentanos Godwi, um nur ein 251 So etwa bei Thomas Melle, Raumforderung. Erzählungen. Frankfurt am Main 2007, besonders in seinem Text „Wuchernde Netze“ (S. 144–166), in dem es heißt : „Der wuchernde Stil ist mir einfach ein plausibles Instrument, die Welt zu beschreiben“, auch wenn dann seine eigentliche Prosa nicht unbedingt ‚wuchert‘, sondern auf weite Strecken recht kalkuliert erscheint.
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solches Beispiel zu nennen, liegt eine sehr besondere, aber eben essentiell „romantische“ Form der Inspiration zum Gedicht vor : „Leise, wie ein Lied des Danks, zündete sich Eusebios Stimme am Monde an […].“252 Dieses besonders auffällige Bild einer sich am Mondlicht entzündenden poetischen Inspiration vermag jenen Zustand zu erreichen, den der Erzähler schon zuvor immer wieder als Ziel des Übergangs von der einen in die andere Bewusstseinsform genannt hat. Am offenkundigsten ist jedoch diese Verbindung von poetischem Ausdruck, unbeabsichtigter, unwillkürlicher Erinnerung und dem Zustand des Unbewussten, beziehungsweise der Abwesenheit von (kritischer) Reflexion in Eichendorffs liedgesättigter Prosa. Das folgende Beispiel steht für viele, wo die Gelenkstelle von Erzählen und Dichten den idealen Ort für die mémoire involontaire bereitstellt. Der Übergang von flächendeckendem Erzählen zu seelenentblößendem Dichten schafft einen Raum für das Hervorbringen von Bildern aus dem Unbewussten. Der Protagonist in Eichendorffs Novelle Eine Meerfahrt (1835/36) erlebt einen solchen Augenblick zu Beginn seiner verhängnisvollen Reise : Ich seh’ von des Schiffes Rande Tief in die Fluten hinein : Gebirge und grüne Lande, Der alte Garten mein, Die Heimat im Meeresgrunde, Wie ich’s oft im Traum mir gedacht, Das dämmert alles da drunten Als wie eine prächtige Nacht. (III, 358)
Die Meeresoberfläche verwandelt sich in den Augen des Seefahrers in eine Lupe, um durch sie Tiefenschärfe für das zu gewinnen, was in der Vergangenheit und in den Träumen liegt. Mit ihm sieht er bis auf den Meeresgrund und damit auf den Urgrund der Erinnerung und des Bewusstseins. Aber dadurch fördert es auch Bilder an die Oberfläche, die in den Meerestiefen des Unbewussten gefangen wa252 Clemens Brentano, Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman. Hg. v. Ernst Behler. Stuttgart 1995, S. 131. Vgl. dazu u.a. Dirk von Petersdorff, Ein Knabe saß im Kahne, fuhr an die Grenze der Romantik. Clemens Roman ‚Godwi‘. In : Arnold (Hg.), Die Aktualität der Romantik, a.a.O., S. 80–94. Petersdorff arbeitet überzeugend die „perspektivischen Brechungen“ der Subjektivität in diesem Roman heraus und betont den paradigmatischen Wert dieser Leistung Brentanos für postmoderne Diskurse.
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ren. Die schiere Fülle und beziehungsvolle Reichhaltigkeit dieser Bilder des Unbewussten kontrastieren scharf mit der Ruhe aber auch Leere, welche das Schiff umgibt. In ästhetisch-kompositorischer Hinsicht ist Eichendorffs Annäherung an das Nicht-Bewusste von allgemeinem Interesse, denn sie schreibt der Darstellung dessen, was sich der Vernunft entzieht, eine bestimmte Form zu : Sie erfordert ein Lied oder singbares Gedicht, um dieser Dimension des Daseins Ausdruck zu verleihen. Die Prosa allein kann laut Eichendorff solche Innenwelten nicht darstellen. Vielmehr bedarf es dieser toxisch-poetischen Wirkung des Liedgedichts, um die andere (Nacht-) Seite oder, wie Kant sagte, „dunkle Idee“ der Bewusstseinswelt zu erschließen. Schon die Frühromantik wusste, dass das Nicht-Identische im Ich, der unidentische Rest sozusagen, dem Menschen nicht bewusst sein könne, sondern zu dieser anderen Welt im Inneren gehöre. Schelling hatte überdies die Natur als unbewusste Tätigkeit des Geistes verstanden und wiederum den Geist als ein Sich-selbst-bewusst-Werden der Natur begriffen. Kritik gehörte, wie gesehen, zu jenen Instrumenten, die dann das Unbewusste zu Bewusstsein bringen sollten, wobei Dichter wie Wilhelm Hauff dazu ansetzten, das allzu Bewusste wiederum zu „romantisieren“, es in Phantasien aufzulösen, wie er dies etwa in der Erzählung Im Bremer Ratskeller vorgeführt hatte. In der Erzählung Der blonde Eckbert zeigte Ludwig Tieck wie ein Mensch daran zugrunde geht, dass er die Zusammenhänge in der dämonischen Natur zu begreifen lernt : er erträgt das Wissen um das Dämonische nicht und stirbt, als er die Natur in ein dialektisches Erfassen überführen könnte. Die Einsicht in den Zusammenhang der Dinge erweist sich als Verhängnis ; die Anwendung des dialektischen Prinzips als lebensgefährlich. Am vielleicht radikalsten ging Friedrich de la Motte Fouqué in dieser Hinsicht vor, indem er die Wahrheit über das Dasein, seine bewussten und unbewussten Seiten erst im Wahnsinn für erkennbar hielt ; so geschehen im Gespräch seiner Undine mit der Freundin (Bertalda) in der gleichnamigen Novelle.253 Der durch das Toxische oder Hypnotisierende des Gedichtrhythmus herausgeforderte „Sinn“ in Eichendorffs Dichtungen kann eine drogenähnliche Wirkung haben. Das erinnert durchaus auch an Thomas de Quinceys Drogenexperimente, der die gefährliche, aber auch poetisch stimulierende Wirkung von Opium als 253 Gerhard Stenzel (Hg.), Die deutschen Romantiker : Bd. II : Prosa. Stuttgart/Salzburg 1979, S. 784.
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erster eingehend als Schlüssel zum Unbewussten beschrieben hat. Das Denkmuster ‚Dialektik‘ hat hier seine Gültigkeit vollends verloren, wo es nur noch um fließende Verknüpfungsfolgen von (Schreckens-)Bildern geht. Quincey sprach von dem „creative state of the eye“ und der wachsenden „sympathy between the waking and the dreaming states of the brain“. Desgleichen wusste er von „phantoms of the eye“ zu berichten, die sich in künstlich erzeugter Dunkelheit zeigten.254 Um die üppige Bildlichkeit zu illustrieren, die ihm das Opium zu erschließen half, verwies de Quincey in seiner Selbstanalyse gleichsam selbstvergewissernd auf Wordsworth episches Gedicht The Excursion und dessen Abschnitt, in dem von einer „wonderous depth“ die Rede ist, in welche der Geist endlos sinke.255 De Quinceys Confessions fehlen nennenswerte Höreindrücke. Ganz anders verhält es sich bei deutschsprachigen Autoren der Romantik, die gerade über die Klangwahrnehmung das Nicht-Bewusste ins Gespräch bringen. Aber die fraglos klangdramatischste Darstellung des Unbewussten oder allenfalls teilbewusster Befindlichkeit in der Romantik bietet Hector Berlioz’ Symphonie fantastique, die er eine „Episode im Leben eines Künstlers“ nannte. Ihre fünf Sätze bezeichnen fünf Stadien eines Opium-indizierten Wechselspiels von Nicht-Bewusstsein und Reflexion, Traum und Selbstwahrnehmung. Robert Schumann war der erste, der in seiner weitsichtigen Würdigung von Berlioz’ Symphonie (1835) zeigte, wie viel bewusste kompositorische Anstrengung nötig ist, um das Unbewusste musikalisch angemessen auszudrücken.256 Allgemein bemerkbar ist nach 1820 die Aufwertung des Unbewussten gerade auch mit Blick auf die Schwelle vom (Spät-) Romantischen zur literarischen Moderne – in erster Linie in der Musik. Die ausführlichste Würdigung des Unbewussten und seines konstruktiven Beitrags zur modernen Kunst oder ‚Kunst der Zukunft‘ findet sich in Richard Wagners Aufzeichnungen Das Künstlertum der Zukunft (1849). Noch voll revolutionärer Gesinnung schreibt Wagner, Schelling ungenannt zitierend, dass das „Unbewusste die Tätigkeit der Natur“ sei und der Ursprung aller revolutionärer Gewalt. Der Künstler, so Wagner weiter, beziehe seine Kraft und sein Streben, etwas Neues zu schaffen, aus dem Unbewussten.
254 Thomas de Quincey, Confessions of an English Opium Eater. Hg. v. Alethea Hayter. Harmonds worth/London 1986, S. 103. 255 Ebd., S. 106 ff. 256 Robert Schumann, Schriften, a.a.O., S. 34–53. Vgl. dazu auch das nachfolgende Kapitel zu Schumann.
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[…] das Unbewußte ist eben das Unwillkürliche, Notwendige und Schöpferische, – erst wenn ein allgemeines Bedürfnis aus dieser unwillkürlichen Notwendigkeit heraus sich befriedigt hat, tritt das Bewußtsein hinzu, und das Befriedigte, Vergangene kann Gegenstand bewußter Behandlung durch Darstellung sein […] (V, 224).
Was Wagner hier formuliert, ist für jede Definition einer ‚Ästhetik des Unbewußten‘ wesentlich ; behauptet doch Wagner, dass jegliche schöpferische Kunst die Existenz einer unbewussten vorbereitenden Phase voraussetze. Für Wagners eigene Entwicklung bis hin zu seiner letzten Oper war dieser Ansatz von gleich großer Bedeutung. Denn gerade in Parsifal dramatisierte Wagner das Unbewusste. Das Ineinanderspielen der Leitmotive während der ganzen Oper bezeichnet einen Zustand der Verwirrung im Unbewussten, namentlich in Kundry, der Protagonistin dieser Sphäre. Auch deswegen hat man Wagners Parsifal sein psychoanalytischstes Werk avant la lettre genannt. In Oper und Drama hatte Wagner dann den Diskurs über das Unbewusste bereits auf die ästhetische Organisation der Gesellschaft bezogen und gefordert, dass es darauf ankomme, das „Unbewußte der menschlichen Natur in der Gesellschaft zum Bewußtsein zu bringen“, und zwar durch das Kunstwerk (VII, 191). Aber es war in einem entschieden nicht-wagnerianischen, dass die Ästhetik des Unbewussten zum Gegenstand einer Erzählung wurde, und zwar in Eduard Mörikes Novelle Mozart auf der Reise nach Prag von 1855, dem Musterfall spätromantischer Rezeption klassischer Vorgaben.257 Orangen als Inspiration und die Kunst des Druckfehlers In der Erzählung schreibt man das Jahr 1787 und befindet sich im Park eines fiktiven, im italienischen Stil gehaltenen Landsitzes in Böhmen, von dem sich Mozart auf seiner Reise zur Prager Premiere des Don Giovanni während eines kurzen Aufenthalts magisch angezogen fühlt. Mozart lässt sich bei einem Brunnen nieder und lauscht zufrieden dessen Plätschern. Dabei fixiert er einen Orangenbaum und mit einem nachdenklichen Lächeln greift er nach der nächsten ihm erreichbaren Orange, fühlt in seiner hohlen Hand deren sinnliche Form und verführerische Kühle. Diese sinnliche Erfahrung wiederum löst Erinnerungen an eine Szene in 257 Vgl. Tilmann Moser, Parsifals Weg vom Es zum Ich. Wagners Bühnenweihfestspiel aus psychoanalytischer Sicht. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung/Bilder und Zeiten v. 23. November 1985.
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seiner Jugend aus, besonders eine „längst verwischte musikalische Reminiszenz, auf deren unbestimmter Spur er sich ein Weilchen träumerisch erging.“ (I.6, 579) Diese sich miteinander verwebenden Erfahrungen bezeichnen die verwischte Grenzlinie zwischen dem Unbewussten und der konkreten Erinnerung ; sie bringen Mörikes Mozart schließlich dazu, die Orange zu pflücken. „Er sieht und sieht es nicht“, wie der Erzähler kommentiert. Schließlich durchschneidet er diese gelbe Kugel von oben bis unten. „Es mochte ihn dabei entfernt ein dunkles Durstgefühl geleitet haben, jedoch begnügten sich die angeregten Sinne mit Einatmung des köstlichen Geruchs.“ (I.6, 580) Aber die sinnliche Wahrnehmung als solche scheint ihm zu genügen. Völlige Zufriedenheit darüber erfüllt ihn. Jeglicher Hinweis auf eine bewusste Reflexion fehlt in diesem Erzählungsteil, wobei der Leser vergessen soll und auch tatsächlich vergessen kann, wie bewusst dieses Erzählen unbewusster Zustände komponiert ist. Der Erzähler erreicht diese Wirkung, indem er das kritische Bewusstsein erfolgreich durch subtil eingesetzte Sinnlichkeit beziehungsweise durch die sinnliche Subtilität der Bildlichkeit ablenkt. Mozart erscheint in dieser Episode abwesend und doch scheinen seine Intuition und das Unbewusste in ihm dergestalt zu arbeiten, dass sie eine bestimmte Art des schöpferischen Prozesses zu symbolisieren scheinen : „Er starrt minutenlang die beiden inneren Flächen an, fügt sie sachte wieder zusammen, ganz sachte, trennt und vereinigt sie wieder.“ (I.6, 580) Dieses anscheinend unbewusste Zusammenspiel von Trennen und Vereinigen wird durch die Intervention des Gärtners unterbrochen, und in Mozart stellt sich „das Bewusstsein, wo er ist, was er getan, urplötzlich“ ein. In seinem an die Gräfin gerichteten Entschuldigungsbrief bezeichnet sich Mozart als unschuldig, verbindet diesen Vorfall aber ausdrücklich mit dem Sündenfall, wenngleich er sagt, dass er leider keine „gute Eva“ für diese Versuchung verantwortlich machen könne. Seine eigentliche ‚Eva‘ war in diesem Augenblick jedoch das besagte Zusammenspiel von Unbewusstem und traumähnlichem Erinnern. Wie genau jedoch seine Erinnerung gewesen war, erschließt sich dem Leser später, wenn Mörikes Mozart detailliert und sehr bewusst über eine Begebenheit an einem Ort nahe von Neapel im Jahre 1770 berichtet. Einige sizilianische Schauspieler führten in den königlichen Gärten der Villa Reale eine bukolische Komödie der Leidenschaften auf, mit offensichtlich erotischen Konnotationen. Für den jungen Mozart erweist sich diese Darbietung als zweifache Initiation : in das Erotische und in den künstlerischen Prozess. Was er sieht, ist eine Parabel des Schöpferischen ; und die Art, in der er zwanzig Jahre später darüber berichtet, lässt seine Zuhörer glauben, dass sie einer verbalen Umsetzung einer symphonischen Komposition beigewohnt haben. Mozart schildert
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seine Erinnerungen als einen Triumph der Sinnlichkeit, eine Komödie der Sinne, in welcher das Spiel der Hauptakteur ist. Es ist das Spielerische an sich, das sich in einer Folge von Szenen selbst darstellt. Spielen um des Spielens willen – das ist das eigentliche Thema dieser komödiantischen Darbietung vor einer ohnehin verzaubernden Kulisse : dem Vesuv und der geschwungenen Küstenlinie des Golfs von Neapel. („Gerade vor sich hat man den Vesuv, links schimmert sanft geschwungen eine reizende Küste herein.“ I.6, 588) Aber der wichtigste Aspekt dieser Erinnerung und des Wechselspiels von Bewusstsein und Unterbewusstsein ist, dass er Mozart in Mörikes Novelle dazu inspirieren kann, das noch fehlende Duett für seine Oper Don Giovanni (Zerlinas „Giovinette, che fatte all’amore, che fatte all’amore“) zu komponieren. Der musikalische Charakter dieses Zwischenspiel-ähnlichen Duetts lässt vermuten, dass es seinerseits zwischen Zerlinas Bewusstsein und ihrer spielerisch wirkenden Unschuld steht. Das bedeutet, diese Episode bringt uns näher an das, was als Ästhetik des Unbewussten in der Spätromantik bezeichnet werden kann. Mörike zeigt, dass Schöpfungen von einer so entwaffnenden Unmittelbarkeit wie Zerlines Duett – etwa im Gegensatz zu Leporellos entschieden reflektierter Register-Arie – unmittelbar aus dem Unbewussten oder Halbbewussten zu strömen scheinen. Aber das Entscheidende ist, dass Mozart zunächst einmal über seine sinnlich vermittelte Erinnerungen sprechen musste, bevor sie zu dieser Komposition werden konnten. Die Orange in seiner Hand erinnerte ihn offenbar an jene Orangen, mit denen die „figli di Nettuno“ in dieser evokativen Pastorale spielten. Die Bedeutung dieser Episode hat auch mit der Frage zu tun, ob diese Art des unbewussten Schreibens eine Form von „écriture automatique“ in Mörikes Mozart auslöste. Oder verhält es sich so, dass solche Bewusstseinzustände etwas hervorbringen, was sich dann mit neuer Bedeutung künstlerischen Ausdrucks verbinden will ? Angesichts dessen, wie Mörike seinen Mozart darstellt, scheint er Letzteres im Sinn gehabt zu haben. Paradox gesagt : Das Unbewusste artikuliert sich in einem Augenblick plötzlicher Einsicht, wobei im Fall des fiktiven Mozart jede komponierte Note einen solchen Umschlagspunkt bezeichnet. Die Romantiker betonten diese Momente des künstlerischen Schaffens als Schwellen zwischen Unbewusstem und Bewusstsein, womit sie das Transitorische dieser Vorgänge hervorhoben. Aber sie kannten auch die plötzlichen Eruptionen der im Unbewussten angestauten Erfahrungen, Phantasien und Träume und deren Ausbrechen in vorgegebene Formen des Ausdrucks (wie die Lieder in Eichendorffs Prosa !).
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Im Narrativen kann die Ästhetik des Unbewussten auch einen symbolischen Ausdruckswert erlangen durch eine Reihe von Vorworten zu bestimmten Erzählungen, welche die verschiedenen Bewusstseinsstufen bedeuten, die der kreative Prozess durchlaufen hat. Beispielhaft zeigt sich dieses Phänomen in den verschiedenen Vorworten Jean Pauls und E.T.A. Hoffmanns zu einigen ihrer Prosawerke. So veranschaulichen die verschiedenen Vorworte des Herausgebers zu Hoffmanns Lebens-Ansichten des Kater Murr diverse Überlegungen zu den verschiedenen Stadien dieser literarischen Komposition, die sich anscheinend mehr dem Zufall verdanken als künstlerischer Absicht. Dadurch gibt sich jedoch der Wunsch des Herausgebers zu erkennen, der ein erzählerisches mixtum compositum vorstellen möchte, welches dem Zustand seines Inneren recht genau entspreche. Des Herausgebers wichtigste Behauptung lautet, dass Murr, der schreibende Kater, die meisten seiner Überlegungen über das Leben auf Seiten gekritzelt habe, die er aus den Erinnerungen des Komponisten Kreisler gerissen habe. Der Drucker habe dann beides verwechselt, aber auch gedruckt, des Katers Manuskript und die Autobiographie des Komponisten. Und aufgrund seines eigenen inneren Zustands habe der Herausgeber den chaotischen Zustand des Gesamtmanuskripts nicht bemerkt, als er es dem Drucker übergab. Künstlerische Autobiographie und animalischer Meta- beziehungsweise Zwischentext verhalten sich nicht dialektisch zueinander, sondern bilden ein Vexierspiel oder textliches Kaleidoskop, in Kreislers latente animalische Gelüste ebenso wie des Katers künstlerische Ambitionen durch den Kater-Text lesbar werden. In den Lebens-Ansichten setzen die Textschichten beim Verwirrspiel von Spuren des Bewussten und Unbewussten va banque und – gewinnen. Der Herausgeber von Murrs Aufzeichnungen behauptet aber auch, „dass Autoren ihre kühnsten Gedanken, die außerordentlichsten Wendungen, oft ihren gütigen Setzern verdanken, die dem Aufschwunge der Ideen nachhelfen durch so genannte Druckfehler.“258 Mit anderen Worten : Die Druckfehler verwandeln sich in Hebammen für außergewöhnliche Gedanken. Das ist keineswegs der einzige Höhepunkt romantischer Ironie im Zusammenhang mit philologischer oder herausgeberischer Arbeit ; aber diese Bemerkung scheint doch den Druckfehler als ein Zeichen oder eine Chiffre für unbewusste und daher nicht verantwortbare Mechanismen zu erachten. 258 E.T.A. Hoffmann, Die Elexiere des Teufels. Lebens-Ansichten des Katers Murr. Zwei Romane. Hg. v. Carl Georg von Maassen und Georg Ellinger mit einem Nachwort von Walter Müller-Seidel. 2. Aufl. München 1978, S. 298.
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In seinem Versuch „The Uncommon Reader“ zitiert George Steiner das Beispiel eines solchen Druckfehlers, der so genial ist, dass jede Form von editorischer Korrektheit dieses unbewusst von einem unbekannten Setzer hervorgebrachte poetische Sprachgebilde zerstören müsste : „The twentieth-century textual editor who has substituted ‚brightness fell from her hair‘ for Thomas Nashe’s ‚brightness falls from the air‘ may be correct, but he is, surely, of the damned.“259 Der entscheidende Punkt hier ist, dass die Ästhetik des Unbewussten ein Element des Unerwarteten innerhalb des künstlerischen Prozesses bezeichnet. Als in späten Dreißigern des 19. Jahrhunderts Honoré de Balzac in seiner Novelle Louis Lambert behauptete, dass das Unbewusste oder die „inconscience“, ein ganz neues Feld der Wissenschaft darstelle, bekräftigte er im Grunde nur, was die Romantiker zum damaligen Zeitpunkt bereits als Hauptgebiet ihrer künstlerischen Bestrebungen identifiziert hatten, namentlich Hoffmann, Schumann und Berlioz. Was diese Beispiele freilich zeigen ist, dass Reflexionen über das Unbewusste nur Annäherungen an dieses Phänomen sein können. Entsprechend lässt sich auch nicht von einer regelrechten Ästhetik des Unbewussten sprechen, sondern eher von einer Aisthesis des Unbewussten, einzelne punktuelle, freilich künstlerisch umsetzbare Wahrnehmungen dieses undurchdringlichen Bereichs, der immer auch von einem zeugt : der Fehlbarkeit unseres Wollens. Bewusst Unbewusstes Wenn der schöpferische Prozess in den verschiedenen Phasen der Romantik und ihrer literarischen wie theoretischen Diskurse einmütig als ein Vorgang angesehen wurde, in dem Unbewusstes künstlerische Form gewinnt, indem das Wollen und das Unverhoffte ineinander übergehen, dann lässt sich dieser Fall von ästhetischer Transformation wohl nur als eine Reihe von Grenzerfahrungen beschreiben. Entlang dieser dünnen Linie, die zwischen Bewusstseinszuständen und Wahrnehmungsformen verläuft, häuften sich die Versuche, das Undefinierbare zu definieren. Was die Künstlernovellen betrifft, so sehen diese Versuche einen Protagonisten vor, der zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein seine eigene Identität sucht. Er steht für ein Leben zwischen Natur und Zivilisation, Orientierung und Entfremdung, Erinnerung, Indifferenz und Betroffenheit sowie Selbstaufgabe. Der Musterfall einer solchen prekären Persönlichkeit ist Georg Büchners Lenz. Leere, das Emp259 George Steiner, No Passion Spent. Essays 1978–1996. London/Boston 1997, S. 7.
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finden von Nichtigkeit und Wahn konditionieren Lenzens gespaltene Identität : „[…] er war sich selbst ein Traum“, kommentiert der Erzähler und : „Was er tat, tat er mit Bewußtsein und doch zwang ihn ein innerlicher Instinkt.“260 Diese seelische Verfassung spiegelt sich in der Art seines Sprechens : „Im Gespräch stockte er oft, eine unbeschreibliche Angst befiel ihn, er hatte das Ende seines Satzes verloren ; dann meinte er, er müsse das zuletzt gesprochene Wort behalten und immer sprechen, nur mit großer Anstrengung unterdrückte er diese Gelüste.“261 Die Furcht davor, die Satzenden zu verlieren und seine Versuche, diese Symptome von Aphasie entgegenzuwirken, beschreiben Grenzerfahrungen und ihre sprachlichen Entsprechungen. Diese Satzenden scheinen jeweils in den Bereich des Unbewussten zurückzufallen, der für Lenz jedoch kein Reservoir von Möglichkeiten darstellt, sondern nur das Nichts offenbart. Büchners Lenz versucht, die Isolation zu durchbrechen und gleichzeitig gebraucht der diese Isolation wie ein Schutzschild, um die Ansprüche der Anderen abzuwehren. Büchners Erzähler bezieht sich häufig auf die bedrohlichen Laute der Natur, die Lenz umgibt und die er durchdringen will. Diese Klänge sind „gewaltig“, „entsetzlich“, „wild“, und das in einem Ausmaß, dass er fürchten muss, sich in ihnen aufzulösen („er verging fast unter den Tönen“262). Er ist besessen von einer bestimmten ‚idée fixe‘, nämlich vom Bild eines verstorbenen Mädchens, von dem er gehört hat. Das will besagen, dass ein Gerücht genügt, um sich in Lenz zu einem inneren Bild zu verfestigen, das ihn dann verfolgt. Als er das Mädchen schließlich findet, assoziiert er es mit der Erinnerung an seine frühere Geliebte. Es ist bemerkenswert festzustellen, dass Büchners Novelle eine geradezu unheimliche Analogie zu der zuvor erwähnten Symphonie fantastique von Berlioz liefert, die nur wenige Jahre vor der Entstehung des Lenz komponiert wurde. In jenen Zeitraum fällt übrigens auch Schumanns bereits genannte Eloge auf Berlioz’ symphonisches Meisterwerk. Die Analogie zwischen Berlioz’ symphonischem Protagonisten und Büchners Lenz reicht von der ‚idée fixe‘, der trancehaften Darstellung von Klängen, bis hin zum Gejagt-Werden durch das Phantombild einer toten Frau. Büchners Novelle ist keineswegs ein bloß romantischer Text. Sie nimmt den psychologischen Realismus vorweg, indem sie Lenz vehement jede Form eines 260 Georg Büchner, Werke und Briefe. Hg. v. Franz Josef Görtz mit einem Nachwort von Friedrich Dürrenmatt. Zürich 1988, S. 120 und 143. 261 Ebd. 262 Ebd.
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lebensverneinenden Idealismus angreifen lässt. In der Novelle verwirft Lenz den Idealismus, weil er die menschliche Natur ignoriere. In anderer Hinsicht jedoch überwiegt Lenzens Unentschlossenheit. Seine diversen Versuche, sich das Leben zu nehmen, werden als „halbe Versuche zum Entleiben“ beschrieben, wodurch Büchner auch signalisiert, dass sein Lenz kein zweiter Werther ist, sondern dessen entschiedenes Gegenteil. Wie die Vorlage seiner Figur, Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), der an einem akuten Goethe-Komplex gelitten hatte, ist auch Büchners Lenz ein Grenzgänger, der die Überkreuzungen von Reflexion und Wahnsinn an sich erfährt. Diese erzählerische Darstellung von Lenz spielt mit dem, was biographisch über das historische Vorbild bekannt war, und mit dem, was sich nur phantasievoll über seinen Geisteszustand erschließen ließ. In künstlerischer Hinsicht erbrachte diese Konstellation eine reizvolle Struktur : Büchners Novelle arbeitet mit zwei Schichten : jener der historischen Vorlage und dem imaginierten Lenz und den jeweiligen Bewusstseinszuständen, wobei diese ständig miteinander interagieren, was auch für den Erzähler und das Erzählte gilt. Die romantische Ästhetik oder Aisthesis des Unbewussten lässt sich im deutschsprachigen Kontext zwischen Mörikes Novelle über Mozart und Büchners Lenz verorten, zwischen Jean Paul, E.T.A. Hoffmann und Richard Wagner. Sie schloss die Aktivierung aller Sinne und Impulse ein, aller Vorstellungsebenen, Klänge und Stille in einem sozusagen virtuellen Projekt, genannt das Entwurzeln von Gewissheiten, die Entdeckung der Dunkelheit und darin der notwendigen Beleuchtung des Seelischen. Die romantisch-ironische Pointe besteht nun darin, dass zahlreiche Dichter, die an diesem ‚Projekt‘ mitwirkten, sich dessen kaum bewusst waren, sofern man von Justinus Kerner und Carl Gustav Carus absieht.263 Das Unbewusste wurde in der Romantik zur Entsprechung des so ausgeprägten montanen Interesses. In den Stollen und Schächten der Seele vermutete man Erze eigenster Art.
263 Vgl. etwa : Uwe Hendrik Peters, Studies in German Romantic Psychiatry. Justinus Kerner as a Psychiatric Practitioner/E.T.A. Hoffmann as a Psychiatric Theorist. The 1988 Bithell Memorial Lecture. Hg. v. Roy A. Wisbey. London 1990 ; Carl Gustav Carus, Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele (1846). Neuausgabe : Darmstadt 1964 ; ausführlicher dazu : Rüdiger Görner, The Hidden Agent of the Self. Towards an Aesthetic Theory of the Non-Conscious in German Romanticism. In : Martin Liebscher/Angus Nicholls (Hg.), The History of the Unconscious in Germany. Cambridge 2010 (in print).
Dritter Teil : Spätromantische Coda
Vorbemerkungen In der Spätzeit der Romantik überlagerten sich Junges Deutschland, Vormärz, Linkshegelianertum und ein aus dem Geist der Religionskritik wiedergeborener Materialismus, der im 18. Jahrhundert im wesentlichen nur den Maschinenchrakter des natürlichen Organismus betonte (etwa bei Hélvetius und La Mettrie), nun aber umfassender ansetzte. Max Stirner radikalisierte den Akt der Selbstbestimmung als Selbst- und Weltgenuss, wogegen Schopenhauer am Prinzip Willensverneinung und Selbstauflösung des Subjekts festhielt. Von außen drang die Märchenwelt Hans Christian Andersens herein und potenzierte noch, was an romantischem Märchengut seit Clemens Brentano und den Brüdern Grimm ohnehin schon eindrucksvoll genug vorlag. Andersen sollte im Jahre 1855 sogar seine Autobiographie unter dem Vorzeichen dieses Genres vorlegen unter dem Titel Das Märchen meines Lebens. Auch er war einer der vielen ‚letzten Romantiker‘, der einmal mehr belegte, wie europäisch dieses romantische Bewußtsein gewesen war. Das zeigte sich gerade in revolutionären Phasen am deutlichsten (1830 und 1848), etwa am Phänomen Adam Mickiewicz und der mit ihm verbundenen Polen-Begeisterung unter Dichtern und liberalen Publizisten, die geradezu ein Katalysator der politischen Romantik bis in ihre Spätzeit blieb.264 Schelling sah sich derweilen vom preußischen König, der des Hegelianismus überdrüssig war, nach Berlin berufen, wo er Vorlesungen hielt, in denen sich Kierkegaard langweilte, derentwegen er jedoch ursprünglich nach Berlin gekommen war, wo er dafür dann das „Prinzip Wiederholung“ entdeckte. Fouqué und Varnhagen von Ense irrlichteten in Berlin ; Eichendorff summierte die Romantik. Bettina von Arnim appellierte an das soziale Gewissen des preußischen Königs und setzte sich damit dem Kommunismus-Verdacht aus. Marx und Engels entwickelten aus ihrer Auseinandersetzung mit Max Stirner, Bruno Bauer und vor allem Ludwig Feuerbach ihre Kritik Die deutsche Ideologie, die von der „Produktion des Bewußtseins“ spricht265, welches im Kommunistischen Manifest zum Fanal einer neuen Zeit wurde. Im Zürcher Exil findet der verfolgte Barrikadenkämpfer Richard Wagner allmählich zu sich selbst und versucht (spät-) romantisches Erbe und musikdramatische Innovation zu einer ästhetischen Revolution zu verbinden.266 Die Spannweite der romantischen Oper von E.T.A. Hoffmanns 264 Vgl. dazu neuerdings : Roman Koropeckyj, Adam Mickiewicz. Cornell/Ithaka 2008. 265 In : Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Bd. 1. 3. Aufl. Berlin 1972, S. 229. 266 Grundlegend dazu : Eva Martina Hanke, Wagner in Zürich. Individuum und Lebenswelt. Schweizer Beiträge zur Musikforschung Bd. 9. Kassel 2007. Dazu auch der Katalog Laurenz Lüt-
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Dritter Teil : Spätromantische Coda
und Lortzings Undine bis Webers Freischütz wird er bis ins Extreme dehnen, bis zu Lohengrin und vor allem Tristan und Isolde. Eichendorff betreibt durch seine Literaturgeschichtsschreibung eine Kanonisierung der romantischen Schriftsteller267, wie dies vor ihm Heine getan hatte ; aber er erwägt auch eine Erweiterung dieses Kanons in Richtung Droste-Hülshoff, Stifter und Lenau. Desgleichen kann die Frage, ob Goethe, Schiller oder Kleist zur Romantik gehören, oder nicht, Faust etwa, die Jungfrau von Orleans oder das Käthchen von Heilbronn, die Gemüter bewegen. „Zerrissenheit“ lautet Eichendorffs Befund über seine Zeit, wobei er unterscheiden will zwischen jener „tragischen Zerrissenheit“ der frühen Romantik und der „modernen Zerrissenheit“, die keine innere Notwendigkeit habe, sondern nur modisch kokettiere.268 Die poetischen Figuren von Nikolaus Lenau und Anastasius Grün hält Eichendorff für solche Erscheinungen „moderner Zerrissenheit“, und er zitiert aus Lenaus Faust unter anderem folgende Zeilen : „In meinem Innern ist ein Heer von Kräften, / Unheimlich, eigenmächtig, rastlos heiß, / Entbrannt zu tief geheimnisvollen Geschäften, / Von welchen all’ mein Geist nichts will und weiß.“ (VI, 335) Wie Eichendorff dazu kommt, diesem Empfinden Genuität abzusprechen, verrät er nicht. Er zeiht Lenau jedoch „Byronscher Berserkerwut“, die allzu forciert in seiner Dichtung durchbreche (VI, 338). Zumindest ist damit eines angedeutet : Das spätromantische Dichten und Kunstschaffen ist nicht harmlos. Das belegt auch Bettina von Arnim, die mitten in ihrer sozialpolitischen Emphase alle Register romantischen Dichtens zog und eine Hymne auf den ungarischen Revolutionspoeten Alexander Petöfy verfasste, Petöfy dem Sonnengott. Traumbild, Schlaf und apollinische Helle, Phantasie und Aufklärung verbinden sich in dieser hymnischen Dichtung.269 Beinahe ist es, als wollte sich Bettine beweisen, dass solches Dichten noch möglich sei. Der Ton der Bettineschen Petöfy-Hymne erinnert an jenen Karoline von Günderrodes. Das teken (Hg.), Kunstwerk der Zukunft. Richard Wagner und Zürich (1849–1858). Zürich 2008, bes. S. 141–152 (Hans-Joachim Hinrichsen, Sinnreicher Zufall oder notwendige Konstellation ? Wagners Zürcher Schriften und Zürich). 267 In seiner Überblicksdarstellung „Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland“ (In : VI, 61–280) behandelt er Novalis, Wackenroder, die Brüder Schlegel, Adam Müller, Steffens, Görres, Arnim, Tieck, Werner, Brentano, Schenkendorf, Fouqué, Uhland, Kerner, Kleist, Platen, Hoffmann, Immermann, Rückert, Chamisso. 268 Eichendorff, Die neue Poesie Österreichs (In : VI, 335). Vg. das Kapitel „Lenaus poetische Grenzerfahrung“ in diesem Band (bes. S. 213–215). 269 Bettine von Arnim, Werke und Briefe. Hg. v. Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Bd. 3. Frankfurt am Main 1995, S. 671–676.
Vorbemerkungen
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Politische jedoch scheint wieder ganz ins Poetische zurückgenommen ; eine spätromantische Aufwallung, die sich der klassischen Lichtmetapher bedient, aber den Traum, den Schlaf als jene Phase feiert, in der alles mit allem in Verbindung treten kann, Hoffnung mit Resignation, Wissen mit Ahnung : Wie Vögel die kaum befiedert im Frühlicht flattern Nächtlich aufrauschen im Nest, Schlummertrunken ; Wähnend im Schlaf sich zu heben gen Abend oder gen Morgen, So aus Traumen auffahrend, ungewohnt schwebender Fühlung Nicht ihr vertrauend – sincket betäubt Ihr zurück Schüchterne Vögel Gedanken.270
Und doch scheint es, dass es vor allem religiöse Fragen waren, der Umgang mit dem Glauben und, konkret, mit dem historischen Jesus von Nazareth, welche dieses Wechsel- oder Spannungsverhältnis der eingangs genannten, sich zwischen, grob gesagt, 1830 und 1850 überlagernden Strömungen bedingten. „Religiöse Selbstentfremdung“, wie Marx in den Thesen über Feuerbach notierte271, Säkularisierungstendenzen im Zeichen des toten Gottes, die Historisierung von Jesus durch David Friedrich Strauss (Das Leben Jesu, 1835) und die schiere Wirkungsbreite von Feuerbachs Provokation Das Wesen des Christentums (1848) vereitelten, was Novalis für die spätere Zeit der Romantik erhofft hatte, nämlich eine neue „Religionserweckung“, wie er am Ende von Die Christenheit oder Europa schrieb. Die politisch-ideologische, aber auch die vor allem durch Wagners musikdramatisches Projekt aufrecht erhaltene künstlerische Ersatzreligion gewann die Oberhand. Gerede auch dieser Prozesse oder Konkurrenzverhältnisse wegen lohnt eine gründlichere Auseinandersetzung mit der Spätromantik, die im Rahmen dieser Arbeit jedoch nur an fünf Fallbeispielen geschehen kann.
270 Ebd., S. 673 f. 271 Marx/Engels, Werke, a.a.O. Bd. 1, S, 199.
X Poetische Klangkreise. Über Schumann und sein Deuten Eichendorffs
In einer Oktober-Nacht des Jahres 1833, man weiß es aus seinen Briefen, wird Robert Schumann von großer Angst heimgesucht. Es ist eine Angst, die ihn nach eigener Aussage nicht nur um den Schlaf bringt, sondern auch um seine innere Fassung. Diese Angst verdichtet sich in ihm zu einem peinigenden Schmerz. Schumann fürchtet in jener Nacht, soweit sich dies sagen lässt, den Verstand zu verlieren, neben sich zu stehen, so aufgespalten zu sein wie eine Figur E.T.A. Hoffmanns oder Jean Pauls und sich nicht mehr auszukennen in seinen eigenen Pseudonymen Julius, Eusebius, Florestan oder Raro, deren Fülle später nur noch von Fernando Pessoas sprichwörtlich multiplen Identitäten überboten werden wird. Es war, als habe Heines gespenstisches Gedicht Der Doppelgänger in Schuberts unfasslicher musikalischer Intensivierung damit begonnen, seine prekäre Patenschaft bei Schumann anzutreten. „Glauben, an den Schmerz glauben können … Aber er glaubte ja an den Schmerz, so tief, so innig, daß etwas, was unter Schmerzen geschah, diesem Glauben zufolge weder nutzlos noch schlecht sein konnte,“ heißt es in Thomas Manns novellistischer Schiller-Phantasie Schwere Stunde.272 Man spürt die Nähe dieser Empfindung zu jenem von Schumann durchlittenen Zustand, aber auch den Unterschied, der darin liegt, dass Thomas Manns Schiller durch diese Schmerzenserfahrung seinen Verstand schärft, was ihn zu Selbsteinsicht und Selbstüberwindung befähigt. Bei Schumann dagegen finden sich nichts als Parallelzustände, ein beständiges Wechselspiel von Emotionen, Sehnsucht nach heiligem Ernst und Jean Paulscher Ironie in einem. In Jean Pauls Roman Flegeljahre erlebt der musikenthusiasmierte Walt im Kapitel „Smaragdfluß : Musik der Musik“, wie sein Zwillingsbruder Vult, freud- und leidvolle Musik eher parodiert, denn aufführt.273 Genau so wollte auch Schumann von der Musik und dem Musizieren erzählen können. Was aus dieser Ambition wurde ? Eine neue Gattung, jene der novellistischen, vielstimmigen Musikkritik der „Davidsbündler“, einer Vereinigung für artistisch gespaltene Ichs. Bei Jean Paul konnte Schumann lesen, dass Klänge redende Schmerzen seien und dass sich Schmerzen gerne in Tönen verkleiden.274 Und man kann sich den 272 Mann, Gesammelte Werke, a.a.O., Bd VIII, S. 375. 273 Jean Paul, Werke, a.a.O., Bd III, S.140. 274 Siebenkäs (Ebd., Bd. I, S. 564).
Poetische Klangkreise. Über Schumann und sein Deuten Eichendorffs
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Komponisten gut im Gespräch mit den diametral verschiedenen, sich aber ergänzenden Jean Paulschen Zwillingen Vult und Walt vorstellen, verstrickt in einem Geflecht von unaufhebbaren Gegensätzen. Insbesondere lernte Schumann von Jean Paul eines : Die Kunst des Abschweifens, des freien Phantasierens, aber auch der Selbstunterbrechung des Gedankenstromes zugunsten einer Nuance, die es nachzuverfolgen galt. In Jean Pauls Roman Flegeljahre hörte Schumann von der Geburt des „Masken-Menschen“, des Wesens ohne Gesicht, auf das sich freilich jede Phantasie als Larve projezieren ließ.275 Und die Frage ist im Falle Schumanns schon berechtigt, ob auch Akkorde, Sequenzen, Klangszenen Masken sein können. Sollte man demnach die Papillons oder Scènes mignonnes sur quatre notes, den Carneval musikalische Maskeraden nennen und nietzschehaft behaupten, beim frühen Schumann sei nur die Klangmaske wahr gewesen ? Eben die Maske eines Künstlers, der aber bewusster als seine Vorgänger musik-poetische Kritik als Inspiration verstand – Kunstkritik und Skepsis gegenüber einer Gesellschaft, der er unter Aufbietung aller Phantasie auf eine bislang unerhörte Weise aufspielen wollte. Mehr noch : Dass Kritik poetisch-künstlerisch werden solle, dieses Gebot frühromantischer Ästhetik löste Schumann auf dem Gebiet der Musikkritik ganz und gar ein. Schumann experimentierte auf künstlerische Weise mit Rollen, welche Spaltungen des Bewusstseins einschlossen. Die quasi schizoide Disposition wurde zum Bestandteil seines Schaffens, Material, wobei sie nicht zu artifiziellen Wortund Tonspaltereien führte, sondern zu innermusikalischen Korrespondenzen und literarischen Komplementaritäten, etwa wenn am Ende des Carneval der ‚Marsch der Davidsbündler‘ emphatisch neu erklingt, über dessen Funktion der Literat Schumann keinen Zweifel aufkommen lässt. Nennt er ihn doch einen „marche contre les Philistins“, was im Zeitalter der Metternich-Restauration und ihrer Seligsprechung des zum Nachtwächtertum neigenden Spießbürgers ein unbedingter Affront war. Im Werk Schumanns empfiehlt sich die Musik als Dialogpartner der Literatur und als Klangbild des Unbewussten. Übrigens hörte Schumann Ähnliches vor allem in der Musik von Berlioz. Was er über dessen Symphonie fantastique, über die Ouvertüren Waverley und Les Francs-Juges und deren schiere Innovativität schrieb, belegt, wie tief er die Wahlverwandtschaft mit diesem einst opiumvergifteten, suizidalen Komponisten empfunden haben musste. Auch er, Berlioz, hatte 275 Vgl. Nikolaus Bacht, Jean Pauls Hörer. In : Musik & Ästhetik 10, 39 (2006), S. 67–80.
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Dritter Teil : Spätromantische Coda
sich an Schriftstellern orientiert. Sein Jean Paul hieß Chateaubriand und sein E.T.A. Hoffmann Charles Nodier. Und drei Jahre nach der Uraufführung der Symphonie fantastique schrieb Balzac in seiner Novelle Louis Lambert, dass sich im Unbewussten eine ganze „neue Wissenschaft“ verberge276, ein Wissen, das sich Schumann und Berlioz musikalisch zu erschließen bereits angeschickt hatten. Was Schumann anstrebte, war das Freisetzen der Phantasie in Musik und poetischer Musikkritik. Und was er zuletzt in der Musik des jungen Brahms erkannte (Neue Bahnen, 1853), der das Klavier wie ein Orchester zu handhaben schien, Sonaten entwarf, die „verschleierten Sinfonien“ glichen, und Lieder, „deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen“ konnte, das beschreibt recht genau auch seine eigenen kompositorischen Anfänge : Selbst der kleinsten, vermeintlich nur hingetupften Phrase vermochte Schumann Bedeutung, Potenzial zu verleihen. Feingliedrigkeit in der Struktur und immense Energie, frappierende Nüchternheit und entfesselte Leidenschaft werden in seiner Musik eins. Das vermeintlich Sprunghafte, das beispielsweise Tschaikowski an Schumanns Musik störte277, gehörte tatsächlich zur Aussage dieser Musik, die sich großen kompositorischen Zusammenhängen eher widerwillig unterordnete. Was in seiner Musik hörbar wurde, war die Emanzipation der einzelnen Phrase. Fast scheint es, als habe Schumann – besonders in seiner Kammermusik – deren jeweils spezifischen Klangwert ermittelt und ihn über den eigentlichen Ablauf des Musikstücks gestellt. Das war damals die „neue Bahn“, die er, Schumann, sich selbst geebnet hatte. Doch auf dieser Bahn ging nicht alles glatt. „Meine Hand verwildert sich immer mehr“, schreibt er Clara Wieck im Jahre 1839. Der Satz könnte von einer Figur E.T.A. Hoffmanns stammen, die sich ihrer eigenen Anatomie und Identität nicht mehr sicher ist. Gegen diese „Verwilderung“ half nicht einmal mehr der Chirogymnast, der die Handstellung beim Klavierspielen korrigierte, was für Schumann jedoch fatale Folgen haben sollte. Was gegen dieses „Verwildern“ half, einen Frühlingsmonat lang im Liederjahr 1840, das war besonders die Anverwandlung von Eichendorffs poetischer Welt. Begegnet ist man sich dann erst im Januar 1847 in Wien. Der Dichter trug sich mit folgenden Versen ins Stammbuch der Schumanns ein : „Es träumt ein jedes Hertz / Vom fernen Land des Schönen ; / Dorthin, durch Lust 276 Honoré de Balzac, Louis Lambert. In : Œuvres Complètes. Paris 1927. Vol. 31 : Études Philosophiques V, 86 («N’y aurait-il pas une nouvelle science dans ce phénomène ?»). 277 Pjotr I. Tschaikowski, Erinnerungen, a.a.O., S. 150–160.
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und Schmertz / Schwingt wunderbar aus Tönen / Manch’ Brücke eine Fey– / O holde Zauberei !“278 Das Schöne als Fremde, die Fremde als das Schöne, wo sich das Ich verliert, weil es nicht mehr weiß, wer und wo es ist, der Zauber als mögliche Brücke zum freilich auch Leid erfüllten Anderen, es scheint, als habe Eichendorff mit diesen Versen seinem Komponisten eine kleine Summa der Gedichte des Liederkreises op. 39 schenken wollen. Das Kreisen als musik-poetische Form Stichworte eines jungen Künstlers, der als Musiker sprechen und als Komponist dichten wollte, niedergeschrieben von Robert Schumann im September 1830 : Dichterleben. ‚In die See möchte’ ich hinaus‘ Eine große Heimat hab’ ich – die Welt. Die Wahlfahrt (sic !) nach dem Ozean – Und knüpft freundlich die Gegenwart An die Vergangenheit u. Zukunft – Warum ? – Warum ich weine ? Warum ich dichte ? Warum ich liebe ?279
Sich klar werden über das Unerklärliche, um dann doch auf Wahlverwandtes zu stoßen, wie auf Heinrich Heines Vers „Ich hab im Traum geweinet“. Schumanns Fragen betreffen auch das Problem der Authentizität dieses Liebens. Kann der Künstler sich selbst über den Weg trauen, wenn er liebt ? Ist er, der notwendig Werkbesessene, einer Geliebten überhaupt zumutbar ? Oder liebt er um seiner Kunst willen ? E – h – e sei ein sehr musikalisches Wort, bemerkte Schumann bei Gelegenheit und legte es als Zitat gleichsam in die linke Klavierhand.280 278 Zit. nach Joseph A. Kruse (Hg.), Robert Schumann und die Dichter. Ein Musiker als Leser. Düsseldorf 1991, S. 187. Eichendorffs Taugenichts las Schumann übrigens erst nach seiner Vertonung von op. 39. 279 Robert Schumann, Tagebücher. 2 Bände. Hg. v. Georg Eismann und Gerd Nauhaus. Leipzig 1971–87. Bd. I, S. 322. 280 Zit. nach Dietrich Fischer-Dieskau : Robert Schumann. Wort und Musik. Das Vokalswerk. Stuttgart 1981, S. 73 mit Bezug auf Mondnacht.
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Dieses quälende ‚Warum‘ in Schumanns Aufzeichnung, es ist ein Wegweiser in die Entgrenzung : Welt und Ozean bezeichnen unabsehbare Räume möglicher Selbstauflösung. Das Warum – es scheint immer wieder anzuklingen in den Papillons (op. 2) etwa, diesen Anti-Sonaten, diesen Kleinstversuchen der Musik über sich selbst. Von der dramatisch durchrhythmisierten Miniatur, die den Ausdruck ‚musikalischer Atomismus‘ rechtfertigte, bis zum ausgreifenden symphonischen Satz schrieb Schumann an einer „encyclopédie des nuances“, die noch für die Symbolisten ein betörendes Kompendium bedeutete, wie Paul Valéry überlieferte. Etwa in Maurice Maeterlincks Vers „O cet ennui bleu dans le cœur“ schwingt dieses Schumannsche Komponieren nach.281 Die aus Blau komponierte Musik und das ins Blaue liebende Herz, sie umkreisen jedoch eine potentiell prekäre Leere, eine lange Weile, die nach papillonhaften Akzentuierungen verlangt, aber auch danach, als ein Raum belassen zu werden, in dem sich Sehnsüchte nach dem ganz und gar Anderen bilden, das im Mondlicht aufscheinen oder in pianistischen Phantasien erklingen kann. Was aber ist das, was Schumann da erklingen lässt ? Träumerei, Angst vor dem Leerlauf, Bemühung in den Charakterstücken der Davidsbündlertänze (op. 6) oder des Carneval (op. 9) sich etwas Gesellschaft herbeizukomponieren oder die Fülle der Personen in ihm zum Tanz aufzufordern ? Nein, verniedlichen gilt nicht. Das Rebellische dieses Rhythmikers, das Aufwühlende dieses Synkopisten, das taktweise durch scheinbar besänftigende Perioden entschärft wird, man unterschätze es nicht. Wie gehört, richteten sich Schumanns frühe musikliterarische Feldzüge gegen das Biedermeierlich-Philiströse mit einer Intensität, die erklärt, weshalb sein Projekt scheitern musste, im Jahre 1839 die Redaktion seiner Neuen Zeitschrift für Musik nach Wien zu verlegen. Dort begegnete nicht nur die Metternichsche Zensur diesem neutönend komponierenden Intellektuellen mit größtem Argwohn. Hatte dieser Schumann etwa nicht behauptet, dass „Chopins Werke unter Blumen eingesenkte Kanonen“282 seien und damit in der Lage, den restaurativen Philistern den Garaus zu machen ? Und hatte er damit nicht auch für so manche seiner eigenen Stücke gesprochen ? Dem Neuen immer offen, dabei später zum großen Schweiger werdend, ein Feuerkopf mit behäbigen Attitüden, der Anti-Biedermeier, der sich scheinbar in der zweiten Restauration nach 1849 einrichtet, aus seinem im Revolutions281 Auf diesen Zusammenhang hat Wolfgang Stähr verwiesen : Wolfgang Stähr, Die Welt als KlangRede und Wort-Laut. In : Neue Züricher Zeitung v. 5./6. August 2006. 282 Schumann, Schriften, a.a.O., S. 91.
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jahr 1848 komponierten Album für die Jugend spielend, einem Bekenntnis zu den Trägern des Künftigen also, um dann vollends zum Opfer seiner mentalen Krisen zu werden – der Begriff auf den dieses Schumannsche Leben und Schaffen zu bringen wäre, ist in keinem Thesaurus aufzufinden. Roland Barthes hat das Radikale in Schumanns Musik betont, das „irgendwie mit dem Wahnsinn“ zusammenhänge, hat auf die „Dezentrierung des Subjekts“ im Carneval hingewiesen, auf die „Herrschaft des Intermezzohaften“, aber auch auf die entwaffnende Konkretheit seiner Realitätserfahrung, die jedoch stets von „Zergliederung und Spaltung“ bedroht sei.283 Doch selbst diese Dezentrierung verfügte über einen Mittelpunkt, um den sich komponierend kreisen ließ : eben der „reine, gegenstandslose Schmerz“. Dieser synkopierende Rebell suchte 1848 nicht die Barrikade, sondern den Ausweg in den Abstand vom politischen Geschehen. Und doch ist es Schumann, der 1850 in seiner Rheinischen Symphonie bewusster und scheinbar frohgemuter denn je sich wieder dem Volkstümlichen zu nähern versucht, eine betont „welthaltige Musik“ schreibt und eine „neue Unmittelbarkeit der Kommunikation“ gewinnt.284 Doch wäre Schumann nicht Schumann, wenn er nicht sogleich sein Gegenstück zu diesem Willen zur Kommunikation geschaffen hätte, ausgerechnet in Form einer Oper. Genoveva, die ihre missglückte Uraufführung 1850 erlebte, also im Jahr der dritten Symphonie und des Konzerts für Violoncello, verweigert sich einer Handlung und erschließt sich erst in unserer Zeit dem Hörer. Schumann zeigt in dieser seiner einzigen Oper den Menschen in seiner Geworfenheit ; er betreibt musikalischen Existentialismus avant la lettre, stimmt das Hohe Lied der Liebe an als Alternative zur gescheiterten Revolution. Wenn man mit Wagners Tristan, Camus und Beckett im Hintergrund Schumanns Genoveva inszeniert, dann betreibt man durchaus sinnvolles Regiemusiktheater, wie Achim Freyer dies im Jahre 2000 am Theater an der Wien mit seiner Inszenierung dieser Oper unter Beweis gestellt hat.285 Mit Schumanns kompositorischen Ansätzen weiß man sich auf unsicherem Terrain : einmal entschlossen scheinend, dann wieder labil, einmal selbstgewiss, ungestüm, aber auch nur wie auf Probe, dann wieder verstört, Musik, zu der 283 Roland Barthes : Schumann lieben. In : Frankfurter Rundschau v. 4. August 1990 (Zeit und Bild, S. 2). 284 Überzeugend dargelegt findet sich diese These bei Peter Gülke, Die Sprache der Musik. Essays zur Musik von Bach bis Holliger. Stuttgart/Weimar/Kassel 2001, S. 289. 285 Vgl. Wolfgang Schaufler/Achim Freyer : Wolfgang Schaufler im Gespräch mit Achim Freyer. Einsamkeit als Metapher für den modernen Menschen. In : Der Standard vom 25. Mai 2000, S. 15.
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Schemen und Schatten tanzen können, gleichsam schillernde Takte, oszillierend zwischen Tag und Nacht, Ruhelosigkeit und Traum, mal emphatisch klingend, mal resignierend. In quasi geraffter Sonatenform finden sich diese ambivalenten Momente in einer frühen Komposition wieder, die Schumann im Jahre 1829/30 Heidelberg abgewann, nämlich in der Toccata (op. 7), ein Empfindungskonzentrat widerstreitender Ausdrucksebenen, die sich dann in den Kinderszenen (op. 15) auch ins Nostalgische auffächern. Die Kinderszenen kann man als Formen musikalischer Erinnerung hören, als Verklärungsmomente und Schattenspiele. In ihnen wird der Klavierspieler zum Erzähler, die Komposition zum Organon und Bekenntnis zur Kindlichkeit in der Kultur, ein Ansatz, der noch in den Liederkreis nach Eichendorff hineinspielt, etwa in das Lied Alte Laute. Die Klavierkompositionen bis 1839 wechseln zwischen Charakterstück, Phantasie und Narrativ ; sie erkunden jede nur vorstellbare Ausdrucksnuance des intimen, beinahe selbstvergessenen Spiels. Erst die Kreisleriana (op. 16) aus dem Jahre 1838 implizieren durch die Widmung an Chopin eine Konzertöffentlichkeit, die in den frühen Kompositionen kaum mitbedacht gewesen zu sein scheint. Die Kreisleriana inszenieren gleichsam emotionale Verstörung ; sie leben von raschen Tempowechseln und kontrastiver Motivik. Was Schumann an Interpretationsvorgaben vorschreibt, versieht er mit „sehr“ oder „äußerst“, die Dringlichkeit und Intensität betonend, wobei diese Vorgaben – und das ist eine Besonderheit der Kreisleriana – ihrerseits zu musikalischen Inhalten werden. Wenn es heißt „sehr langsam“, dann ist damit die Verwirklichung des musikalisch Sehr Langsamen gemeint, „schnell und spielend“, das bedeutet, das Schnelle und Spielende an sich. Form ist veräußerter Inhalt und Inhalt verinnerlichte Form. Im Sinne der literarischen Vorgabe durch E.T.A. Hoffmanns Tonsetzer Kreisler und dessen kreisendem kompositorischen Verfahren charakterisieren auch die Kreisleriana die Idee des Zirkularen, des in sich Kreisens, das nicht auf die diealektische Entwicklung von Motiven setzt, sondern auf das Aneinanderreihen von Ausdruckswerten. So wahrt auch der Titel dieser Komposition das Prinzip der Identität von Form und Inhalt. Nur bleibt die Frage : Wie will Hoffmanns ‚Kreisler‘ gelesen sein, damit aus ihm Kreisleriana werden können ? Wie übersetzen sich sinnliche Eindrücke, Lektüre in künstlerisches Schaffen ? Gibt es eine künstlerspezifische Erfahrungsdichte oder Temperierung, die erreicht sein muss, bis das Erfahrene ins Eigene umschlagen und als Eigenes anverwandelt werden kann ? In der Arabeske (op. 18) und dem Blumenstück (op.19), das zu einem Lieblingsstück Claras wurde, findet Schumann zur Apotheose seiner frühen reinen Klaviermusik, den wohl bedeutendsten Beispielen musikalischer Lyrik jener Zeit.
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Zwischen den Kreisleriana und diesen das frühe Klavierwerk abschließenden Kompositionen steht die Fantasie in C-Dur (op. 17), ein musikalisches Zeugnis frühen Entsagens aus dem Jahre 1836, als Schumann jede Hoffnung auf eine Lebensvereinigung mit Clara aufgeben musste, ein Echo auf Beethovens Liederzyklus An die ferne Geliebte, eine im ersten anspielungsüberreichen Teil zwischen Sechzehntelnoten-Erregung und selbstversunken klingendem Legendenton schwankende Komposition. Was jedoch bei Schumann immer auch präsent ist – und was Clara am meisten an seiner Musik zu gefallen schien –, das war der Ausdruck des Sieghaften, Ungestümen, des Sich Aufschwingens, des „Lass-mich-nur-auf-meinem SattelGelten“. Es ist präsent, ob im zweiten Teil der C-Dur-Fantasie oder später im Hauptmotiv des ersten Satzes von Schumanns Klavierquintett (op. 44), aber, wie auch dessen „allegro brillante“ zeigt, dieses Frohlockende nimmt sich immer wieder selbst zurück, sieht gleichsam dabei zu, wie es sich verdüstert, scheint darüber zu reflektieren, wie es überhaupt zu diesem Sich Aufschwingen kommen konnte. Schumann komponierte die Selbstrelativierung seiner musikalischen Aussagen immer gleich mit. Im Falle der C-Dur Fantasie zog er zum Zwecke der Verdeutlichung seines Anliegens ein poetisches Motto heran, Verse aus Friedrich Schlegels Gedicht Die Gebüsche : „Durch alle Töne tönet / Im bunten Erdentraum / Ein leiser Ton gezogen / Für den, der heimlich lauschet.“ (V, 190f.) Leiser werden, so heißt die Botschaft dieser Fantasie, noch im Bewegten das Langsame entdecken, als ein Lauschender komponieren, das Lauschen selbst hörbar machen. Es ist, als wären die Verse Friedrich Schlegels nicht nur Motto, sondern auch Anlass zu dieser Komposition gewesen ; als versuchte die Vertonung, den Sinn dieser Verse herauszuhören und musikalisch zu verifizieren. Keine Transliterarisierung von Musik soll hier erreicht werden, sondern eine Transsonorisierung von Dichtung. Schumann schrieb bestimmten Formen einen „Lebenskreis“ zu, den sie zu durchlaufen hätten, in diesem Fall der Sonate, die er zur die Sonatenform gerade noch wahrenden „Fantasie“ werden ließ. Opus 17 beschreibt einen Grenzgang zwischen Ausdrucksmöglichkeiten, dem Erfüllen des ‚Lebenskreises Sonate‘ und der Suche nach einem Neubeginn in anderen Bahnen. Schumanns Sorge, sich ausgespielt zu haben auf dem Klavier, enthielt bereits das nervöse Potential, das zu erklären hilft, warum er sich so unbedingt der Liedkomposition öffnete als einem Versuch, das drohende Vakuum nicht nur zu füllen, sondern zu einem bereicherten Raum werden zu lassen.
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Liederkreise Seit März 1833 experimentiert Schumann wiederholt mit der Möglichkeit, „musikalische Gedichte“ zu schreiben, wie das Tagebuch vermerkt286, Kompositionsskizzen insbesondere Lieder von Heine zu unterlegen. Ein seltsames Paradox : der neben Carl Maria von Weber wohl literarischste unter den Komponisten der Zeit umging zunächst das Komponieren von Liedern. Vokalmusik schien seine Sache nicht. Heine löste denn doch Anfang 1840 sein Liedschaffen aus, und er stand zunächst unangefochten im Mittelpunkt von Schumanns Bemühen um die musikalische Deutung poetischer Texte.287 An diesen Kompositionsvorgängen, die dann zu Schumanns erstem eigentlichen ‚Liederkreis‘ nach Texten von Heinrich Heine führen sollte (op. 24) lässt sich nachvollziehen, wie zentral für Schumann die Idee einer „musikalischen Lyrik“ gewesen war.288 Denn Schumann experimentierte offenbar mit einem Verfahren, das man nach heutigem Sprachgebrauch das – in diesem Falle musikalische – „Überschreiben“ von Texten nennen würde.289 Das meint sowohl ‚vertonen‘ als auch die Wiedergeburt des Gedichts aus dem Geist seiner musikalischen Qualität einleiten. Der Komponist setzt gleichsam die inneren und äußeren musikalischen Werte eines Gedichts frei, macht sie sich zueigen, überformt sie. In diesem Verfahren kann man eine Parallelentwicklung zum ‚lyrischen Klavierstück‘ sehen, wie es der späte Schubert und Felix Mendelssohn-Bartholdy in seinen Liedern ohne Worte und eben auch Schumann selbst vor 1840 komponiert hatten.290 286 Schumann, Tagebücher, a.a.O., Bd. I, S. 417. 287 Dazu ausführlich : Arnfried Edler, Robert Schumann und seine Zeit. Laaber 1982, S. 212 ff. und Christiane Westphal, Robert Schumann : Liederkreis von H. Heine op. 24. München/Salzburg 1996. 288 Zu diesem Begriff vor allem Hermann Danuser (Hg.), Musikalische Lyrik. Teil 1 & 2. Laaber 2004. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Konzeption vgl. Jörg Krämer, ‚Lied‘ oder ‚Musikalische Lyrik‘ ? Ein problematischer Versuch, eine Gattung neu zu konzipieren. In : Musik & Ästhetik 10,39 (2006), S. 81–88. Krämer richtet sich gegen den Versuch Danusers, ‚musikalische Lyrik‘ als Gegenbegriff zum ‚Lied‘ zu etablieren. 289 In Analogie zu jenem Verfahren, wie es heute der Prosaist Thomas Lang praktiziert. Vgl. Thomas Lang, Die Zeit war zäh, wie Blei. Thomas Lang überschreibt Adalbert Stifter. In : Volltext 2 (2006), S. 18. 290 Dazu grundlegend Hans Joachim Kreutzer, Musikalische Lyrik zwischen Ich-Ausdruck und Rollenspiel. Die romantische Epoche. In : Hermann Danuser (Hg.) : Musikalische Lyrik, a.a.O., S. 125–138., bes. S. 128 ff. (Kap. V : Robert Schumanns ‚Scenen aus Goethe’s Faust‘).
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Was Schumann in Heine sogleich wahrnimmt, das ist die Zerrissenheit unter dem sprachlichen Wohlklang ; und eben sie fördert er zu Tage. Ein Beispiel für viele liefert das Lied Schöne Wiege meiner Leiden, das Schumann die Zeile beschert „Wahnsinn wühlt in meinen Sinnen“ ; die Vertonungsweise zeigt, wie „verrückt, verzweifelt das lyrische Ich“ ist, signalisiert durch die Achtelskalen im Klavier, die in der rechten Hand um ein Sechzehntel synkopisch verschoben, also ‚ver-rückt‘ erscheinen.291 In Warte, warte, wilder Schiffsmann geht Schumann so weit, funktionslose Septakkorde von der psychischen Labilität des lyrischen Ichs zeugen zu lassen, Tritonus-Sprünge im Gesangspart zu wagen, um dieses Ich Schmerz und Wut ausdrücken zu lassen. Heinesche Ironie und Bitterkeit – Schumann hat sie keineswegs ausgelassen, eher dagegen die Erotizismen des Dichters.292 Dieser Liederkreis (op. 24) bedeutete für Schumann eine Weiterentwicklung jener zirkularen Struktur, die er sich selbst in den Kreisleriana vorgebildet hatte. Er suchte nach Möglichkeiten der Abrundung, des definitiven Vollendens, des wirklichen Abschließens einer in sich zusammenhängenden Kompositionsfolge. Das Werk, zumal das zyklisch angelegte, sollte der psychischen Labilität Beständigkeit entgegen halten. In diesem Fall jedoch lieferte Heines Gedicht Mit Myrten und Rosen das Stichwort für einen neuerlichen Kranz von Vertonungen, die Schumann dann mit Myrten überschrieb, so als könne ein Kreis einen anderen aus sich hervorbringen. Im Falle der Myrten bilden hier räumlich-thematische Entgrenzungen einen Kreis, von Venezianischen Liedern nach Thomas Moore in der Übersetzung Ferdinand Freiligraths bis zu Rückerts Östlichen Rosen, einigen Highland Songs von Robert Burns und der exotisierenden Lotosblume von Heine. Dieses von Heine inspirierte „Liederjahr“ von 1840/41 erbrachte 139 Lieder und 12 Duette ; es begann am 1. Februar 1840 jedoch mit einem ShakespeareText und schloss am 16. Januar 1841 mit zwei Duetten aus Rückerts Liebesfrühling. Der Ablauf jenes Jahres ist in seiner Faktizität allzu rasch erzählt, aber auch heute noch in seiner künstlerischen Tragweite nur schwer zu begreifen. Diese Lieder gleichen einem großen Liebesgespräch mit Clara, das bestimmt war von seiner Angst, sie zu verlieren, aber besonders von seiner Sehnsucht, die von Claras Vater zunächst erwirkte Trennung zu überwinden. Psychogramme sind diese Liebeslieder, Juwelen des nämlichen Genres. 291 Vgl. Dieter Schnebel, Rückungen – Ver-rückungen. Psychoanalytische und musikanalytische Betrachtungen zu Robert Schumanns Leben und Werk. In : Musik-Konzepte. Sonderband Robert Schumann I. Edition text & kritik. München 1981, S. 56. 292 Vgl. Fischer-Dieskau, Robert Schumann, a.a.O., S. 43.
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Bei besagtem Shakespeare-Text, der dieses rational nicht fassbare, aufs Lied ausgerichtete Schaffensfieber auslöste, handelte es sich übrigens um den Gesang des Clowns aus Shakespeares letzter Liebesromanze Twelfth Night (1601), seiner wohl musikalischsten Dichtung, die wie keine andere die Bedeutung der Musik eigens thematisiert. Das Lied, ein Volks-Nonsense-Lied, steht am Ende dieser höfischen Farce als clowneske Relativierung des Spiels und Spielens mit Gefühlen. Und – wichtig für Schumann, der sich immerhin einmal mit dem Gedanken getragen hatte, eine große Arbeit über Shakespeare und die Musik zu schreiben – dieses Lied verweist auf die Kindheit und das bloße Spielen mit Worten, der Freude an ihrem Klang zuliebe : „When that I was and a little tiny boy, / With hey, ho, the wind and the rain, / A foolish thing was but a toy, / For the rain it raineth every day.“293 Zu jener Zeit hatte Schumann bereits seinen „Dichtergarten“ angelegt, eine nie beendete Anthologie mit Aussprüchen von Dichtern über das Verhältnis von Musik und Wort. Shakespeares Clown-Lied nun stand im Gestus zwischen Heines Gedichten sowie jenen Chamissos und Eichendorffs, die Clara für Robert ausgewählt hatte.294 Anders als der Heine-Liederkreis op. 24 und der Dichterliebe op. 48 nach Heine ergab sich während oder erst nach den Vertonungen der Eichendorff-Lieder ihre quasi kreisförmige Anordnung. Und es wurde Schumann wohl auch erst bei diesem gerafften Kompositionsprozess bewusst, dass er hier eine andere Seite romantischer Poesie vertonte. Mit Heine und Eichendorff hatte Schumann tatsächlich die polaren Möglichkeiten romantischen Bewusstseins musikalisch umgesetzt. In der Dichterliebe setzte sich das Problem des Unaufgelösten – im Sinne der Harmonik und der musik-poetischen Stimmung – fort, etwa in Gestalt der unaufgelösten Dominantseptime am Ende von Im wunderschönen Monat Mai oder der noch von Schönberg in der Harmonielehre von 1911 als staunenswert hervorgehobenen unaufgelösten Septakkordfolge im Lied Ich grolle nicht. Anders im Liederkreis op. 39, wo Dissonanzen kaum Stimmungsmerkmal sind, sondern allenfalls eingesetzt werden, um etwas geradezu mystisch zu verklären wie in Mondnacht. Das Aufbegehren so mancher Heine-Lieder, die gegenrhyth293 William Shakespeare, The Complete Works illustrated and annotated. Hg. v. Alfred Leslie Rowse. London 1984, S. 556 f.; Schumanns Vertonung posth. op. 127,5. 294 Vgl. David Ferris, Schumann’s Eichendorff Liederkreis and the Genre of the Romantic Cycle. Oxford 2000 und Beate Julia Perrey, Schumann’s Dichterliebe and early Romantic Poetics. Fragmentation of Desire. Cambridge 2002.
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mischen Akzente, die Selbstinszenierung des Klaviers, und sei es auf Kosten des Gesangs, alles das findet sich in op. 39 nicht. Stattdessen dominiert der Märchenton, das Wehmütige, aber auch Transzendierende, das Verklärende, das jedoch nie abgeklärt klingt, sondern verletzbar. Dieser „Kreis“ hat nichts KonzentrischKraftvolles ; eher handelt es sich bei ihm um einen Zauberkreis, von dessen Bann es kein Entkommen gibt. Das Magisch-Hypnotische dominiert in diesen Liedern, wie später auch in den Kerner-Liedern (op. 35), die er am Ausgang seines ‚Liederjahres‘ komponierte, aber nicht Liederkreis, sondern Liederreihe nannte. Die Kerner-Lieder, insbesondere Stille Liebe, Frage und Stille Tränen, scheinen die Atmosphäre des Eichendorff-Liederkreises erinnern und weiter verstärken zu wollen, obgleich dazwischen die eheliche Vereinigung von Robert und Clara stattgefunden hatte. Insbesondere Stille Tränen evoziert die Eichendorffsche Mondnacht mit ihrer bogenförmigen Melodieführung, den verschleierten Harmonien und dem Nachspiel, das anzudeuten scheint, dass nunmehr wieder das Klavier das letzte Wort haben wird, ein Eindruck, der jedoch im letzten Lied (Alte Laute) bereits revidiert wird : Stimme und Begleitung verfallen am Ende gleichzeitig dem Schweigen. Die Kerner-Liederreihe wirkt unabgeschlossen, unabschließbar ; sotto voce ist angesagt, gedämpfte Stille, aus Sorge, die Geliebte nur unzureichend besungen zu haben : „Dieser Schmerz hat mich bezwungen, / Dass ich sang dies kleine Lied, / Doch von bittrem Leid durchdrungen, / dass noch kein’s auf dich geriet“, wie es im Gedicht Stille Liebe von Kerner heißt.295 Vieles scheint wieder in Frage zu stehen ; und Schumann lässt denn auch seine Vertonung von Kerners Gedicht Frage auf einem unaufgelösten Akkord auf der Dominante enden. Das Irrealis als Zwielicht Zwölf Eichendorff- und zwölf Kerner-Gedichte, jedes Lied ein Apostel der Liebesbotschaft und der Versuch der Heiligung von Gefühlen : Auffallend, wie etwa die Lieder Wehmut (Eichendorff ) und Stirb, Lieb und Freud ! (Kerner) das Choralhafte beziehungsweise ein bachsches Orgelpräludium anklingen lassen. „Doch keiner fühlt die Schmerzen, / Im Lied das tiefe Leid“, dieses im Grunde zernichtende Empfinden kann nur die relative Stabilität der Klavierbegleitung 295 Justinus Kerner, Werke. Auswahl in sechs Teilen. Teil 2 : Gedichte. Hg. und mit Einleitungen v. Raimund Piffin. Berlin 1914, S. 155.
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aufheben und in Erinnerung an kirchenmusikalische Formen lindern. Kirchentonal schließt die Begleitung im Lied In der Fremde („Ich hör die Bächlein rauschen“) und Im Walde. Später wird Schumann auch im symphonischen Schaffen diese scheinbare oder allenfalls diskrete Sakralisierung vornehmen, nämlich im sogenannten Kathedralensatz seiner Rheinischen Symphonie, offensichtlicher in der späten, gebrauchsmusikhaften fis-moll-Messe (op. 147), dem Requiem (op. 148), aber schwerlich im doch eher weltlichen Requiem für Mignon (op. 98 b) nach den Chortexten aus den Exequien des achten Buches von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, eher eine musikszenische Folge, die einen RequiemCharakter allenfalls anklingen lässt oder parodiert. Auch das geplante weltliche Oratorium Luther sowie das Musikmärchen Der Rose Pilgerfahrt (op. 112), welche eine mehrfache Verwandlung einer Rose, zunächst in eine Frau, dann in einen Engel, vorsieht, gehören zu Schumanns Alternativentwürfen zu der herkömmlichen musikalischen Bearbeitung sakraler Stoffe, welche zudem die magisch-hypnotische, parapsychologische Sphäre, wie er sie bei Gotthilf Heinrich Schubert296 und Justinus Kerner kennen gelernt hatte, ablösen oder zumindest ergänzen sollte. Doch zurück zu den Eichendorff-Gedichten.297 Clara hatte, um Roberts Kunstsensibilität genau wissend, hauptsächlich Gedichte aus Ahnung und Gegenwart und dem Roman Dichter und ihre Gesellen für ihn zusammengestellt. Er selbst las erst im Winter 1840/41 den Taugenichts, der jedoch ohne musikalische Folgen blieb. Die kleine Sammlung glich einem Vademecum für Vereinsamte, Wehmütige, nach Liebe sich Sehnende. Nacht und Abgeschiedenheit, Geheimnis und Wald lauten die Motive und Stimmungen, denen Schumann in seinen Vertonungen musikpoetische Räume öffnet. Dabei spiegelte er die Tonarten der ersten und letzten drei Lieder und stellte durch diesen Spiegeleffekt den musikalischen Eindruck des Zyklischen her, der jedoch von der lyrischen Themenlage gleichfalls gegeben ist : fis-moll – A-Dur – E-Dur kehren am Ende als e-moll – A-Dur – Fis-Dur wieder. Oder sollte dieser Effekt das Zyklische herbeitäuschen, buchstäblich nur vorspiegeln ? 296 Zu Schumanns für 1823 und 1838 nachgewiesene Schubert-Lektüre vgl. Perrey 2002, a.a.O., S. 145 ff. 297 Vgl. u.a. Reinhold Brinkmann, Schumann und Eichendorff. Studien zum Liederkreis Opus 39. München 1997 (text & kritik), sowie den ausgesprochen anregenden Aufsatz von Paul Peters, Verzauberung des Verzauberten. Schumann und Eichendorff. In : Seminar 41, Heft 4 (2005), S. 380–403. Peters vertritt u.a. die These, dass Schumann den „erstarrten Wald“ und, mit Adorno gesagt, die „verblassende Sprache“ Eichendorffs neu vitalisiert, ja, erlöst habe.
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Der Liederkreis op. 39 versammelt Schwebezustände – jene zwischen Heimatgefühl und Entfremdung, zwischen sagenschwangerer Vergangenheit und ernüchternder Gegenwart, zwischen dem Zauber der Dämmerung und dem entzaubernden „sei wach und munter“, das Schumann bezeichnenderweise staccatohaft und rezitativisch umsetzt. Denn diese Aufforderung betrifft das liebessehnsüchtige, aber extrem labile Ich dieser Lieder unmittelbar, da es sich auch sich selbst gegenüber in Wachsamkeit üben soll. Das romantische Ich in seiner Spaltung oder Verdoppelung kann sich eben selbst nicht mehr über den Weg trauen. Dieses musikalische Schweben führt auch dazu, dass Eichendorffs Gedichte durch ihre Vertonung regelrechten Spannungszuständen ausgesetzt werden, durch die sie sich ihrerseits neu deuten lassen. Das geschieht beispielsweise durch die pointierte Verwendung von Wiederholungen, etwa des Ausdrucks „die schöne Waldeinsamkeit“ und der resignativen Aussage „Und keiner kennt mich mehr hier“, eine Zeile, die übrigens bei Eichendorff „Und keiner mehr kennt mich auch hier“ lautet (I, 281). Schumann schränkt also das Nicht-mehr-Gekannt-Werden auf den Bereich der Heimat ein, wogegen es Eichendorff als allgemeines Phänomen ausgibt. Welch’ ein Anfang, sofern bei einem Zyklus überhaupt von Anfang und Ende die Rede sein kann : Heimatsehnsucht und Erinnerung entwinden sich gebrochenen fis-moll-Arpeggien, die etwas von huschenden Schatten haben. Was die Gedichte an Heimat suchen, scheint die Vertonung zu liefern : die Musik eben, das Heimischwerden im Gesang, der löst, beglückt, beseligt. In der Kompositionsfolge dieser Lieder scheint eben ein „Zwielicht“ auf mystische Bilder und taucht alles ins Ambivalente, Ahnungsvolle ; gleichzeitig bietet es sich als Nahrung für Phantasien an, deren Überlegenheit über die Gegenwart sie still, beinahe ohne Emphase feiert. Fast alle Lieder des Liederkreises stehen im piano, im Tempo des Weltfremden, des Träumers. „Sprechend flüsternd“ lautet beispielsweise die Vortragsbezeichnung für „Schöne Fremde“. Schumann spürte offenbar, dass der EichendorffLiederkreis in seiner stillen Konzentration zum Inbegriff des Romantischen, zum Romantischsten also, werden konnte, gerade weil er das Dazwischen musikalisierte. Im Lied Zwielicht aus Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart bedeutet das musikalisch, dass die ersten vier Takte des Vorspiels das gesamte melodische und harmonische Material für das Lied enthalten.298 Aber was sagt das ? Dass diese Konzentration sich im Lied nicht weiter entwickelt, sondern ver298 Fischer-Dieskau, Robert Schumann, a.a.O., S. 78.
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strömt, verbreitet, um ein undefinierbares Gefühl des Unentschiedenen zu erzeugen, ‚Zwielicht‘ eben. In Eichendorffs Roman hört der Protagonist dieses Lied in einem dämmrigen Wald, ohne zu sehen, wer es singt ; auch ohne die Richtung bestimmen zu können, aus der es zu ihm klingt. Er bezieht es auf sich, ohne genau zu wissen, was dieser Bezug für ihn bedeutet. Die Tonartenfolge des Zyklus und ihre klanglich-symbolische Bedeutung nannte Adorno zu Recht „bis ins einzelne balanciert“.299 Gleiches gilt auch für die Thematik ; Bewegtes und Unbewegtes, Irrealität und Zustandsbeschreibung halten sich in etwa die Waage. Unwiederbringliches, Desillusionierendes („Aber Vater und Mutter sind lange tot, / Es kennt mich dort Keiner mehr“) konkurriert mit der scheinbaren Gegenwart der „schönen Waldeinsamkeit“, aber auch der Gefahr („Kommst nimmermehr aus diesem Wald“). Die bedrängende Phantasie bildet einen Gegensatz mit der leidvoll wahrgenommenen Ferne und der Anklang des Utopischen mit dem im Lied verborgenen „tiefen Leid“ („Es redet trunken die Ferne, / Wie von künftigem großem Glück“). So wie die „Träumerei“ das Zentrum der Kinderszenen ist, wie schon Alban Berg bemerkt hat,300 scheint die Mondnacht der Mittelpunkt des Liederkreises zu sein oder, genauer gesagt, die unbedingte Präsenz des Irrealen in diesem Zyklus : Dieses „Es war als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküßt“, dieses „Als flöge sie nach Haus“, die Seele, dieser Modus ist in nahezu jedem der vertonten Gedichte gegenwärtig : „Ich wünscht’ ich wär’“, „Ach wüßt’ es nur einer“, „Als säh ich unter mir“, „Als ob ich fröhlich sei“, „ist mir’s doch, als könnt’s nicht sein“. Der Irrealis als das zur Grammatik gewordene „Zwielicht“ relativiert oder überschattet sogar die selbstsicherste Sequenz dieses Zyklus, das Lied Schöne Fremde. Denn man kann dieser Emphase nicht wirklich trauen und damit auch nicht dem „künftigen großen Glück“. Zu drastisch ist der Stimmungswechsel zwischen diesem Lied und „Auf einer Burg“, dieser träumerisch-selbstversunkenen Vergangenheitsphantasie. Vielleicht ist somit er, dieser Stimmungswechsel selbst, der eigentliche Mittel- und Schwerpunkt des Zyklus. Zwischen beiden Liedern kann man sich eine lange Pause vorstellen, ein Innehalten, das dann nach dem Lied Auf einer Burg wieder konterkariert wird durch das Schein-Accelerando von „Ich hör’ die Bächlein rauschen“. Aber das erscheint das Besondere, dass das lyrische und singende Ich sich in diesen Gegensätzen, in diesem Irrealis einrichtet, darin aufgeht, doch so etwas wie Glück verspürt, dass es diese Schwebezustände bejahen kann. 299 Adorno, Noten, a.a.O., S. 89. 300 Zit. nach ebd., S. 88.
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Oft findet man Schumanns Wort zitiert, dass dieser Zyklus sein „Romantischstes“ sei – eben nicht nur seine „romantischste Musik“, wie man ihn oft fälschlich wiedergibt, sondern sein Inbegriff des Romantischen. „Melancholischer und glücklicher“ sei diese Komposition als sein „Heine’scher Cyklus“, wie er am 22. Mai 1840 nach Abschluss von op. 39 schreibt. Das war wenige Wochen, nachdem er in Berlin mit Clara zusammentreffen und dort Mendelssohn aus der Dichterliebe und Myrten vorspielen konnte. Wonach Schumann suchte und was er bei Eichendorff zu finden geglaubt hatte, war die Möglichkeit, eine „kunstvollere und tiefsinnigere Art des Liedes“ zu schaffen. Eichendorffs Dichtungen empfahlen sich ihm als „Herz der Welt“. 301 Töne und Worte werden Schumann dabei zu Sinnbildern und Vergegenwärtigungen von Gewesenem, wie Fischer-Dieskau meint.302 Der Ton, der gar nicht anders kann, als das Wort zu heben, zu umhüllen, diese Klangorbitale um die Wortkerne entpuppen sich als Entsprechung zum Sein, das nur noch im Unentschiedenen, Unentscheidbaren, am Rande der Selbstauflösung und des Verstummens verharren kann. Das Ich des Liederkreises, das leidend, aber bejahend singende, kennt einen Entfremdungszustand, wie das Liedgut ihn zuvor nur in der Winterreise Schuberts aufwies. Es kann nicht anders, als das Ungefähre lieben. Ein Jahr vor seinem Tod wählte Thomas Mann u.a. das Lied Zwielicht in einer Radio-Sendung, die seiner Lieblingsmusik gewidmet war. „Beklemmend, schaurig, hochpoetisch“, so seine Worte : „Eichendorffs ‚Zwielicht : Dämmrung will die Flügel spreiten …‘. Darüber, in Schumanns genialer Vertonung gar, geht mir nichts.“303 Von den Betrachtungen eines Unpolitischen bis zum Doktor Faustus ist Schumanns op. 39 in seinem Werk tatsächlich präsent als Apotheose des Romantischen. Inwendiges Tönen Was an Schumann immer wieder fasziniert, das sind die Intensitäten seiner Musik, selbst dann, wenn ihre Melodien abbrechen, neu ansetzen, einander widersprechen. In solchen Fällen ist es die Intensität des Gegensatzes, die er gele301 Zit. nach Fischer-Dieskau, Robert Schumann, a.a.O., S. 69 ff. 302 Ebd. 70 303 Zit. nach Ernst Loewy, Thomas Mann, Ton- und Filmaufnahmen. Ein Verzeichnis, zusammengestellt und bearbeitet vom Deutschen Rundfunkarchiv. Frankfurt am Main 1974, S. 117.
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gentlich durch dynamische Wendungen oder forcierte Übergänge noch zu steigern versteht, etwa die Verschmelzung des zweiten und dritten Satzes im viel zu lange304 geschmähten, von Joseph Joachims Urteil belasteten Violinkonzert von 1853. Doch dieses Spielen und Experimentieren mit Gegensätzen sollte man nicht als Zeichen der Unentschiedenheit des Komponisten auslegen oder gar als rein schizoides Phänomen pathologisieren. Die Intensivierung der Gegensätzlichkeiten erbringt die eigentümlich vitalisierende Motorik dieser Kompositionen und gehört zu dem, was man das Unberechenbare in Schumanns Werk nennen kann. Einem jungen Organisten hatte Schumann einmal geraten, Musik erst dann zu spielen, wenn er sie durch Lektüre „inwendig“ genau gehört hat. Diese Inwendigkeit, sie machte auch in der Poetik des 19. Jahrhunderts Karriere bis hin zu Gerard Manley Hopkins’ Begriff der „inscape“, war selbst der späte Nietzsche bereit, Schumann zuzubilligen : Er habe Eichendorff, Heine und die anderen Dichter, die er vertonte, „in sich“ gehabt. Nietzsche spricht dabei mit Blick auf das Schumannsche Lied von einem „Cultus“, wobei er ihnen, dem Kult und Schumann, immerhin eine „revolutionäre Romantik der Form“ zuschreibt (XIII, 133). Auf Lieder wie Zwielicht oder Stille Tränen trifft diese Charakterisierung durchaus zu. Nach Schumann mag man diese „revolutionäre Romantik der Form“ am ehesten noch Hugo Wolf, Gustav Mahlers Liederzyklen und Arnold Schönbergs George-Liedern und Verklärte Nacht nach Richard Dehmel zuordnen. In jedem Lied Mahlers, so hat Thomas Quasthoff bei Gelegenheit bemerkt, verberge sich ein kleiner Hörfilm.305 Auf Schumanns Eichendorff-Lieder scheint dies so nicht zuzutreffen ; eher gleichen sie Meditationen, in sich vielfältigen musikalischen Stillleben. Schumann zog, bei aller Neigung zu Gegensätzen, komponierend Kreise. So im dritten Wunderwerk des Liederjahres 1840, Frauenliebe und Leben nach Chamisso, aber auch im Spanischen Liederspiel (op. 74), den Spanischen Liebesliedern (op. 138), in betont lockerer Form in Bunte Blätter (op. 99) sowie in den FaustSzenen, die Schumann 1844 zu skizzieren begann, bezeichnenderweise mit dem dritten und letzten Teil (Fausts Verklärung) beginnend, vom düsteren d-moll der „Bergschluchten“ ins F-Dur des kreisenden Schwebens des „Chorus mysticus“ aufsteigend.306 Es ließe sich sogar ein Kreismoment im Verhältnis zwischen sei304 Uraufführung 1937 mit einem von Paul Hindemith bearbeitetem Violinpart. 305 Thomas Quasthoff, Quasthoff hört. In : Die Zeit v. 20. Juli 2006, S. 36. 306 Vgl. dazu vor allem die bedeutende Untersuchung von Hans Joachim Kreutzer, Faust, Mythos und
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ner letzten Klavierkomposition vor dem Liederjahr, Nachtstücke, und seiner letzten Klavierkomposition überhaupt, den fünf Bettina von Arnim gewidmeten Stücken Gesänge der Frühe (op. 133) ausmachen, scheint es doch, dass diese Gesänge die Nachtstücke erinnern und gleichsam abrunden wollen. Kreis und Vielfalt, Quintenzirkel und ‚Bunte Blätter‘ : in Schumanns Werk verschleifen sich musikalische Vertiefung und Auffächerung gerade auch der literarischen Eindrücke. Er literarisierte die Musik und löste damit eine Vorgabe der frühromantischen Ästhetik, aber auch E.T.A. Hoffmanns ein. Komponierend legte er dabei gleichzeitig die Wurzeln unter den Worten frei und ermöglichte es ihnen, sich mit den Klangstrukturen zu verschlingen. So wurden in seinen Vertonungen die Melodien zu, wenn man so will, luftwurzelhaften Entsprechungen der untergründigen Wortbedeutungen. Pluralektischer nie als in einer Schumannschen Vertonung.
Musik. München 2003, S. 85–101 (Kap. V : Robert Schumanns ‚Scenen aus Goethe’s Faust‘). Vgl. auch Peter Horst Neumann, Anmerkungen zu Robert Schumanns Szenen aus Goethes ‚Faust‘. In : Aurora 60 (2000), S. 37–43.
XI Religion im Exil. Zu Heines Götterlehre Ich kenne nichts Ärmer’s Unter der Sonn’ als euch Götter. (Goethe, Prometheus) Die Welt der Götter ist kein Objekt weder des bloßen Verstandes noch der Vernunft, sondern einzig mit der Phantasie aufzufassen. (Schelling, Philosophie der Kunst, 1802/03)
Auffällig genug, wie manche Zeitgenossen Heines den Dichter noch mit dem geniekulthaften Attribut des Göttlichen versahen. Schumann etwa nahm Heine in München als einen poetischen Halbgott und Musensohn, wenngleich mit spöttischem Minenspiel wahr.307 Und Georg Weerth schrieb in seiner feuilletonistischen Novellistik : „Seltsame Vögel gab es auf Erden – von Adam an bis auf Heinrich Heine. Adam wurde im Paradiese geboren und war ein Mensch ; Heine sah das Licht der Welt in Düsseldorf und ist ein Gott – nämlich ein Dichter.“308 Kaum hatte Heine München verlassen, öffnete dort die Glyptothek ihre Pforten, Leo von Klenzes im Auftrage Ludwigs I. den griechischen Göttern erbautes Asyl, ein Tempel, in dem man die Wiederkunft der Götter inmitten des bayerischen Katholizismus besichtigen und feiern konnte. Am teutonischen Äquivalent zur Glypthotek, der Walhalla, hatten indes die Arbeiten begonnen. Göttervielfalten Wortstatistiker unter den Philologen könnten den Nachweis erbringen, dass vor Heine wohl nur Hölderlin sich der ‚Götter‘ noch öfter als er angenommen haben dürfte. Dieser hatte über die „Götternacht“ geklagt und daran poetisch gearbeitet, ihre Wiederkehr vorzubereiten – mit Hilfe von Benjamin Hederichs Standard307 Robert Schumann : Brief an Heinrich von Kurrer, 9. Juni 1828, zit. nach : Friedrich Schnapp, Heinrich Heine und Robert Schumann. Hamburg, Berlin 1924, S. 16f. 308 Georg Weerth, Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski, in : Ders., Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. v. Bruno Kaiser, Berlin 1956/57, Bd. 4, S. 297.
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werk Gründliches mythologisches Lexikon.309 Nach Heinrich Heine, so darf man mutmaßen, hat unter den Dichtern wohl nur Gottfried Benn das Wort ‚Götter‘ annähernd so häufig gebraucht. Das reicht bei Benn bis zur Verwendung der Heineschen Formel vom „Maskenzug der Götter“310. Vermutlich bedurfte es der zum Zeitpunkt ihrer Verkündigung bereits spektakulär anachronistischen Nachricht vom Tod Gottes durch Nietzsches „tollen Menschen“311, damit der durch die kritischen Wissenschaften liquidierte Gott in Benns Gedichten gleichsam repluralisiert in Gestalt von Göttern sich wieder in Erinnerung rufen konnte, ohne dass er deswegen eine wirkliche Auferstehung erlebt hätte. Benn verfuhr mit seiner profanen Metaphysik gleichsam klinisch-ästhetisch und konnte deswegen behaupten, dass die „Kunst die Wirklichkeit der Götter“ sei. Wenn das zutrifft, dann wäre mit ihrem Exil aber auch dasjenige der Kunst gemeint. Kerstin Hensel hat als Echo auf Benns These geschrieben : „Bedeutung funken Götter“ – aus einem Exil, so ließe sich ergänzen, in ein anderes, das des Gedichts nämlich.312 Im Exil Heines kommen selbst Götter nicht nur auf schräge Gedanken, deren Neigungswinkel der Dichter als Gradmesser einer parodistischen Kunst ausgab, sondern beinahe auch auf den Hund, den Höllenhund Cerberus wohlgemerkt, dessen Winseln und Gebell sich wiederum in einen Heineschen Kunstwert ummünzen ließ. Doch erst als vom christlichen Glauben Vertriebene, so scheint es, gewinnen Götter eine haptisch-lebensweltliche Qualität. Was aber geschähe mit diesen Göttern, wenn ihr Exil je vorüber wäre ? Was die Frage einschließt, ob Heines Götter – ganz im Gegensatz zu Hölderlins feierlich gestimmter Beschwörung ihrer Realpräsenz – das Exil nur als eines ihrer vielen Verkleidungsszenarien begreifen oder ob sie im Exil ihrer letzten Bestimmung zugeführt worden sind. Man vergegenwärtige sich, dass noch zehn Jahre vor Heines parodistischem Versuch über die Götter Schelling seinen monumentalen Vorlesungszyklus Philosophie der Mythologie zum Abschluss gebracht hatte, die unter Ausschaltung jeglicher Ironie selbst das kritische Bewusstsein aus mythologischen Diskursen abzuleiten versuchte. Zu seinen Hörern zählten, wie bereits erwähnt, Jacob Burckhardt, Michail 309 Dazu vor allem Rüdiger Safranski, „Ich kann wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen“, Dankesrede zum Hölderlin-Preis 2006. In : Süddeutsche Zeitung v. 17./18. Juni 2006, S. 14. 310 Meer- und Wandersagen. In : Gottfried Benn, Das Hauptwerk. Hg. v. Marguerite Schlüter. Wiesbaden/München 1980, Bd. 1, S. 67. 311 Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären II. Globen. Frankfurt am Main 1999, S. 582 („Exkurs 5 : Über den Sinn des ungesprochenen Satzes : „Die Kugel ist tot“). 312 Vgl. Kerstin Hensels Gedicht Haupt in Masken, das mit diesem Benn-Motiv arbeitet. In : Benn beenden. Volltext 2 (2006), S. 35.
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Bakunin, Søren Kierkegaard und Friedrich Engels. Wer über Götter handelt, kann ihr anarchisch-revolutionäres Potenzial zumindest nicht ausschließen. Exil und Profanisierung Indem Heine in seinem eigenen Exil sich zuletzt wieder verstärkt der exilierten Götter annahm, behauptete er eine ambivalente bis prekäre Wahlverwandtschaft, nämlich jene zwischen künstlerischer Freiheit und säkularisierter Religion, zwischen Kunst und Narretei der Götter, beide Opfer christlicher Dogmatik.313 Eine dialektische Beziehung ließ sich zwischen diesen wahlverwandten Symptomen nicht mehr herstellen, wie überhaupt Heines Verhältnis zur Religion in seiner entzauberten Welt schwerlich mit dem Wort Dialektik bezeichnet werden kann. Was hier am Werke war, wäre viel eher eine „Ambivalektik“ zu nennen, die er gegenüber jeder Ausprägung des Religiösen zu empfinden schien. Überall fand Heine das vor, was sein Freund und Übersetzer, Gérard de Nerval, „les idoles brisés des dieux“ nannte, zerschlagene Götterbilder, denen nur eines abzugewinnen war : elegisch-ironisches, aber poetisch fruchtbares Empfinden über den unwiederbringlichen Verlust der einst so vielgestaltigen Götterwelt. Und warum diese Klage ? Weil eine solche Vielgestaltigkeit dieser pseudo-metaphysischen Welt diverseste Bezugsmöglichkeiten bot ; sie ließ sich mit Lebensnöten, Naturerfahrungen (bis in die Namengebung von Blumen wie Narzissen oder Hyazinthen), mit dem Kunstwollen überhaupt verbinden. Aber es kam Heine wie zuvor Schiller und Hölderlin, nur ironisch exaltierter, durchaus auf den Urbezug zu den Formen und Ausprägungen des Göttlichen an. In der Kulturentwicklung identifizierte Heine die Dämonisierung der Götterwelt durch die christliche Orthodoxie als das eigentliche Skandalon. Diskursiv entwickelt Heine diesen Gedanken erstmals in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland : Der Nationalglaube in Europa, im Norden noch viel mehr als im Süden, war pantheistisch, seine Mysterien und Symbole bezogen sich auf einen Naturdienst, in jedem Elemente verehrte man wunderbare Wesen, in jedem Baume atmete eine Gottheit, die 313 Vgl. dazu ausführlich Christoph Bartscherer, Heinrich Heines religiöse Revolte. Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte, Bd. 6, mit einem Vorwort von Joseph A. Kruse, Freiburg/Breisgau [u.a.] 2005.
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ganze Erscheinungswelt war durchgöttert ; das Christenthum verkehrte diese Ansicht, und an die Stelle einer durchgötterten Natur trat eine durchteufelte (III, 522f.).
Er brandmarkte die Verteufelung der Natur und der Götter, diese Entsinnlichung der Religion und versuchte, sie schrittweise auf poetischem Wege zumindest zu relativieren. Gegen die „ikonoklastischen Zeloten, die schwarze Bande der Mönche“ verteidigt Heine „die armen Emigranten“, die Götter von einst (VI, 401) Er will ihnen wieder eine Sprache geben, und zwar seine poetisch-ironische Sprache. Denn eines fällt auf : Die Götter, von denen er in seiner Polemik von 1853 handelt, verfügen über keine eigenen Worte. Sie sind weitgehend stumm ; aber sie handeln – vornehmlich in Niederösterreich, in Tirol, aber auch in Ostfriesland –, sei es, dass sie Vieh hüten wie Apollo, in cognito einem Kloster vorstehen wie Dionysos oder wie Merkur Handel treiben, etwa als Spediteur toter Seelen, vornehmlich in Richtung England, das Heine sich im Rückblick auf eigene einschlägige Erfahrungen jetzt gar als „Totenland“ vorstellt, „als das plutonische Reich“ und schlechterdings als Hölle (VI, 414). Man denkt bei dieser Wortkargheit der Götter auch an die Verse der Nelly Sachs, deren frühe, vermutlich durch Richard Cassirer vermittelte Heine-Lektüre nur selten beachtet worden ist : „Wortlos gerufen / schifft sich Göttliches ein“314, so Nelly Sachs noch 1960. Nun meint ‚wortlos‘ nicht ‚sprachlos‘. Das ‚Sprechen‘ haben die Götter auch in ihrer bei Heine travestierten Form ganz in ihre Gesten und Gebärden, in ihr körperliches Tun verlagert, maßgeblich in dem alljährlich stattfindenden Bacchanal in einem Tiroler Kloster, einem Ritual also, in dem Enthemmung und Sinnlichkeit sich selbst zelebrieren. Was spricht, sind die Körper dieser exilierten Götter, wie es ja auch nur folgerichtig ist, dass Heine seinen Nachtrag zu den Göttern im Exil als eine Tanzpantomime darstellt : Die Göttin Diana von 1854. Performative Pluralität Heines Götter im Exil erfüllen demnach alle Kriterien für ein kunstfähiges Verhalten, das man heute mit Erika Fischer-Lichte als die „Ästhetik des Performativen“ zu bezeichnen gelernt hat315, das Ergebnis einer umfassenden Auswertung 314 Nelly Sachs, Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort versehen v. Hilde Domin, 7. Aufl. Frankfurt am Main 1992, S. 98. 315 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004.
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von Judith Butlers kulturpoetischer Abhandlung Performative Acts and Gender Constitution aus dem Jahre 1988316 und entwickelt u.a. am Beispiel einer „performance“ der Künstlerin Marina Abramovic, die an einem Oktobertag des Jahres 1975 wie einer von Heines exilierten Göttern in Tirol, in diesem Fall nicht in einem Kloster, sondern in einer Innsbrucker Galerie, ihrem Körper eine Leidenssprache abnötigte. Ihrer Kleidung entledigt, aß sie langsam ein Kilo Götterspeise, nämlich Honig, und trank dazu in dionysischer Trance eine Flasche Rotwein ; mit ihrer Hand zerbrach sie ein Rotweinglas und ritzte mit einer Rasierklinge ein sternförmiges Monogramm in ihren Bauch, peitschte ihren Rücken und legte sich in der Manier des gekreuzigten Dionysos auf einen Eisblock. Einige Zuschauer sahen sich nach einer gewissen Zeit ihrerseits zur ‚performance‘ genötigt, die jedoch darin bestand, dass sie die leidende Venus ohne Schafspelz, Marina Abramovic, vom Ort ihrer selbstinszenierten Marter trugen.317 Wollust im Schmerz suchen, so nannte Heine in Die Götter im Exil das Verhalten der Korybanten im mönchischen Bacchantenzug ; und so deutet der angesichts eines solchen Bacchanals sprachlos gewordene, gut katholische junge Fischer, der heimliche Zuschauer diese göttliche und gleichzeitig allzu menschliche Ausschweifung (VI, 406f.). Anders als die Innsbrucker Galeriebesucher vermag dieser „arme Fischer“ jedoch zunächst nicht einzugreifen. Später zeigt er den unzüchtigen Vorfall bei einem geistlichen Gericht an, wie es heißt, was ihn jedoch teuer zu stehen kommt : Im Vorsitzenden des Femegerichts, dem Vorsteher besagten Franziskanerklosters, erkennt der Fischer niemand anderen als einen der nächtlich bacchantisierenden Mönche. Dieser legt dem Fischer das, was er zu sehen geglaubt hatte, als „Hirngeburten der Trunkenheit“ aus (VI, 408). Anders als die Leidensinszenierung der Marina Abramovic sieht sich die bacchantische ‚performance‘ der Götter in Heines Text also nicht durch Zuschauerintervention unterbrochen ; sie kann damit als „erfüllt“ und „gelungen“ bezeichnet werden, Kategorien, die im Falle der Innsbrucker Galerieinszenierung fraglich erschienen.318 Denn wie steht es um den Wert einer ‚performance‘, die für andere nicht auszuhalten ist und daher die Darstellung nicht zu Ende geführt oder, treffender gesagt, nicht bis zu ihrem Ende ausgereizt werden kann ? 316 Judith Butler, Performative Acts and Gender Constitution. An Essay in Phenomenology and Feminist Theory. In : Sue-Ellen Case (Hg.), Performing Feminism. Feminist Critical Theory and Theatre. Baltimore, London 1990, S. 270–282. 317 Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht, Sanfte Wende. Erika Fischer-Lichte findet eine Ästhetik für unsere Gegenwart. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22. Januar 2005, S. 44. 318 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, a.a.O., S. 34.
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Noch ein markanter Unterschied zwischen beiden ‚performances‘ lässt sich benennen : Heines exilierte Götter im Mönchsgewand leben von diesem einmal im Jahr stattfindenden Ritual, leben auf es zu, zehren danach von ihm. Nur dieses Ritual wahrt ihre prekäre Identität. Der Oktobertag des Jahres 1975 war für Marina Abramovic nicht wiederholbar. Wäre er der Beginn eines Rituals geworden, dann hätte er unweigerlich ihre völlige Selbstzerstörung herbeigeführt. Womit gesagt ist : Nicht alle ‚performances‘ sind ritualisierbar. Und was die Intervention der Anderen an ihrer Mitleidensgrenze anbetrifft : Abramovic hat sie das Leben gerettet, die Selbstinszenierung ihrer Leidenskunst aber verdorben, sofern diese Kunstform nicht auf das Herausfordern von Zuschauerintervention angelegt war. Eine Intervention erst voyeuristischer, dann entschlossen auftretender Christen hätte dagegen das ohnehin schon angeschlagene Selbstverständnis der exilierten Götter Heines vollends zerstört. Dass der extreme Kunstakt durch externe Interventionen um seinen Sinn gebracht würde, veranschaulichen nach Heines Götter-Inszenierung im Exil paradigmatisch Kafkas performative Leidensszenarien, sei es die Hungerkünstler-Parabel oder die Erzählung In der Strafkolonie. Befreiung zum Sinnlichen und instabile Identitäten In seiner „Vorbemerkung“ zu den Göttern im Exil schreibt Heine, dass „der Kirchenglaube“ den Göttern durchaus „eine wirkliche, aber vermaledeite Existenz“ zugebilligt habe (VI, 399). Wenn also der bocksbeinige Mönch dem Fischer vorwirft, er habe nur Hirngespinste gesehen, dann verrät er damit nur sich selbst. Der streng gläubige Fischer weiß nämlich, dass das Dogma ausdrücklich die Wirklichkeit dieser satanischen Gestalten bestätigt, worüber ein echter Mönch, zumal der Vorsteher eines Klosters im Bilde sein müsste. Mehr noch : Durch ihren sinnlichen Befreiungsakt und die Performanz ihrer Körpersprache konterkarieren diese Götter im klösterlichen Exil die Rede vom „Ende der Kunstperiode“. Sie zeigen, dass heilig-profane Kunst als Parodie weiterexistiert, solange diese Götter „den Cancan der antiken Welt“ tanzen, auch wenn sie nur noch wie „anmutige Phantome“ wirken und eine „bleiche Versammlung“ bilden. Das eben ist die Paradoxie dieser Kunst : Dass sie sinnenfroh ist, aber blutarm und doch für diese Götter lebenserhaltend. „Ästhetisches Grüseln“ kann dergleichen hervorrufen, „lüsterner Schauer“ (VI, 406), aber keinerlei Sinnstiftung mehr.
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Bekanntlich hat Judith Butler ‚gender‘ als eine instabile Identität definiert, die sich durch eine stilisierte Wiederholung von performativen Akten ergebe.319 Genau diesen Sachverhalt führt Heine nicht nur in Götter im Exil vor, sondern auch in seinem Tanzpoem Der Doktor Faust, das ja gleichfalls im unmittelbaren Umkreis zu Les Dieux en exil gehört. Das Geschlecht und seine Identität ist in diesen Texten Heines etwas Behauptetes, ebenso der „Umwandelung“ unterworfen wie die Götter selbst. So entpuppt sich einer der Mönche im Bacchanal als ein Jüngling mit „verschwimmend weichen Zügen“, die ihm „ein etwas weibisches Aussehen“ verliehen (VI, 405). Und sein Faust hat es plötzlich mit einer „Mephistophela“ zu tun, wobei Heine zu erinnern vorgibt, auf gewissen Volksbühnen zwischen Hamburg und Altona Aufführungen von Faust-Fragmenten aus dem Mittelalter gesehen zu haben, in denen die „tief vermummt in grauen Laken“ erschienenen Teufel „auf die Anrede Fausts : ‚Seid Ihr Männer oder Weiber“ zur Antwort gaben : „Wir haben kein Geschlecht.“ (VI, 380) In dieser androgynen Welt „instabiler Identitäten“ zählt nur die Bewegung. Daher ist der Teufel laut Heine auch „ein großer Tanzkünstler“ (VI, 390). Wenn alles in Bewegung gerät, auch die Standpunkte, dann kann sich selbst der Papst zum Fürsprecher der Renaissance machen und dabei den Homeros statt der Bibel lesen. Nur wiederholte, sich ritualisierende Performanz sichert annähernd Identität, auch wenn deren Qualität fraglich bleibt. Daher steht ein am Problem des Geschlechts orientiertes Bewusstsein seinerseits unter „kulturpsychologischem Wiederholungstrieb“.320 Heine führte genau das in seinen beiden Tanzpoemen oder poetischen Pantomimen Der Doktor Faustus und Die Göttin Diana sowie in Die Götter im Exil exemplarisch vor. Das Umtanzt-Werden erweist sich dabei als selbstständige Kunstform, eine rhythmische Bewegung, die Heine von Davids Tanz vor der Bundeslade ableitet (VI, 362) und die sich in ihren diversen infernalischen Ausprägungen bis zum Wahnsinnstaumel steigern kann. Durch die performativen Szenarien, die Heine als Kulturtypologien einer nach dem Ende der Kunstperiode nur mühsam anbrechenden Moderne entwirft, er319 Butler, Performative Acts, a.a.O., S. 270 : „In this sense, gender is in no way a stable identity or lucus of agency from which various acts proceed ; rather, it is […] an identity instituted through a stylized repetition of acts.“ Zum Übersetzungsproblem von ‚gender‘ vgl. neuerdings Robert Gillett, Judith Butler, ‚Das Unbehagen der Geschlechter‘, in : KulturPoetik 6 (2006), H. 1, S. 103–113, bes. S. 104f. 320 Vgl. ebd., S. 110.
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reicht er eine auch durch die ironischen Brechungen nicht wirklich beeinträchtigte Intensität321, die sich letztlich als Mitleid mit dem am „eisernen Gesetz des Fatums“ leidenden Göttern äußert. Am Ende versteckt sich da selbst Jupiter „hinter den Eisbergen“ des Nordpols, um dort mit Kaninchenfellen zu handeln (VI, 422). Richard Wagner sollte das kritischer sehen, indem er Götter zeigte, die an ihrem Selbstbetrug zugrunde gehen, korrumpiert vom materiellen Glanz, den sie einst geschaffen und von einer Macht, die sich – als Musik – verselbstständigt hat. Im Ring des Nibelungen ereignet sich am Ende der Kunstperiode ein periodisierbarer und ewig wiederholbarer Anfang einer das Leben sich unterwerfenden Kunstmacht. Entgötterte Vielfalt Bei Wagner findet sich jedoch noch ein anderer Text, der zumindest einen Aspekt von Heines Die Götter im Exil vorgezeichnet zu haben scheint : In seiner Ende Juli 1849, also vier Jahre vor Heines Travestie, unter dem unmittelbaren Einfluss Proudhons und Feuerbachs entstandenen Schrift Die Kunst und die Revolution sieht er die Götter in einer ersten sie travestierenden Säkularisationsphase auf der Bühne des griechischen Theaters, dann als moderne Industrielle. Dabei betont Wagner, dass vor allem der römische Verwandte des Hermes, Mercurius, diese Profanierung verschuldet habe, nämlich durch sein merkantiles Gebaren. (Vollends konsequent ist, dass Hermes in Max Frischs Homo faber dann nur noch als Name für eine Schreibmaschine in Erscheinung treten wird.) Indem nun Mercurius zum Gott der Kaufleute und der Betrüger werden konnte, habe er, so Wagner, die Pervertierung des Göttlichen eingeleitet, die sich im Industriezeitalter in diversen kapitalistischen Götzendiensten fortsetzte.322 Das Religiöse könne nur durch die Kunst wieder ins Leben zurückgeholt werden und dadurch, dass man Jesus und Apollon den „Altar der Zukunft“ errichte, dem Sozialrevolutionär und dem Idol der Künstler. Doch soll uns hier dieser Seitenblick auf Wagner nicht eingehender beschäftigen, auch nicht Heines Wirkung auf die europäische Mythentheorie seiner Zeit 321 Vgl. Erich Kleinschmidt, Die Entdeckung der Intensität. A.a.O. 322 Richard Wagner, Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Frankfurt am Main 1983, Bd. 5, S. 284f.; dazu auch Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner – die Revolution als Oper, München 1973, S. 34.
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in Gestalt von James Thomson und Denys l’Auxerrois, der Apollo in die Picardie schickte323, noch die hinlänglich untersuchte Wirkung von Heines Götterlehre auf Nietzsches dionysische Selbstbefreiung (auch von Wagner !)324, sondern die Tatsache, dass Heine mit seinen durchaus auch ernsten Götterscherzen auf eine Welt antwortete, die schon Schiller als „entgöttert“ bezeichnet hatte.325 Denn so sehr Heines Ansatz in Die Götter im Exil auf den Symbolismus vorauszuweisen scheint, aber auch auf die Ikonografie einer Pseudogöttin der Sinnlichkeit namens Olympia durch Edouard Manet, die neun Jahre nach Heines Tod den Pariser Salon skandalisierte326 und ihrerseits eine Paraphrase von Tizians Venus und der Orgelspieler darstellte, die wiederum Johann Heinrich Füssli um 1800 profanierend parodiert hatte, so wurzelte Heines Anliegen doch weitaus mehr in einem ironisch bearbeiteten Amalgam von klassizistischer Maßdoktrin und romantischer Universalpoesie, säkularisiertem Glauben, entzauberter Religiosität und Remythisierung der kulturellen Diskurse. Das einst Heilige der Götter sieht sich bei Heine durch ihre von ihm choreographierten performativen Akte umgelenkt auf das ästhetisch erfahrene Lebensweltliche, womit sich eher eine Antwort auf Schillers und Hölderlins Frage nach dem Wert einer Welt im Zeichen der Abwesenheit der Götter andeutet. Wilhelm Heinse, der Anakreon in der deutschsprachigen Prosa des späten 18. Jahrhunderts, ließ den Protagonisten Ardinghello seinem gleichnamigen Roman aus Lucca übrigens schreiben, dass die Götter nur dann noch anwesend seien, wenn sich der Mensch hedonistisch ganz dem Augenblick hingebe, „fern von Vergangenheit und Zukunft“. Ardinghello erfährt dann aber, wie aus einer solchen sinnlich-fiktiven Gemeinschaft mit den Göttern eine bloße „Gemeinschaft der Güter“ werden kann.327 Heine zog die letzte Konsequenz aus dem, was Schiller ein Jahr nach dem Erscheinen von Heinses Feier der Sinnlichkeit durch die Veröffentlichung der ersten Fassung seines Gedichts Die Götter Griechenlands bewirkt hatte : nichts Geringeres nämlich, als eine geradezu bewusstseinsrevolutionäre Skandalisierung des religiösen Empfindens. Das Elysium ist ausgestorben, von den Göttern bleiben nur „Gerippe“ zurück, die „schöne Welt“ von einst sieht sich zum Verlustpos323 Dazu in ersten Ansätzen Lia Secci, Die Götter im Exil – Heine und der europäische Symbolismus. In : Heine-Jahrbuch 15 (1976), S. 96–114. 324 Dazu vor allem : Linda Duncan, Heine and Nietzsche. In : Nietzsche-Studien 19 (1990) S. 336– 345. 325 Die Götter Griechenlands (I, 168, Vers 168). 326 Dazu u.a. Ross King, The Judgement of Paris. London 2006. 327 Heinse, Ardinghello, a.a.O., S. 135 und 371.
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ten erklärt. Der Preis für den „Einen“, Jesus also und den christlichen Glauben, so heißt es in dieser ersten von Wieland im Teutschen Merkur publizierten Fassung, sei der Untergang der schönen Götterwelt gewesen und damit des ästhetischen Sinnes, der nur mühsam wieder zurückzugewinnen sei.328 Wenn diese „schöne Welt“ wiederkehren soll, dann kann dies nur geschehen, so die Implikation, wenn sich irgendwo die Götter wieder aufspüren lassen. Pikant genug, dass Wieland selbst bereits 1774 zum Gegenstand einer als Totengespräch angelegten mythologischen Travestie geworden war, und zwar in Goethes Farce Götter, Helden und Wieland, deren ironische Qualitäten jenen Heines in nichts nachstehen. Ironielos, wie bereits angedeutet, hatte sich Hölderlin am Götterproblem abgearbeitet. Schon er sah sie als „Fremdlinge“, deren Sprache aus bloßen „Winken“ bestehe, gestischen Hinweisen, Zeichen, wie es in seiner Rousseau-Ode heißt (I, 238, Verse 29–32). Doch auch auf diese Sprache ist kein Verlass mehr : „Stumm ist der delphische Gott“.329 Dann wieder bezeichnet er diese Sprache der Götter als „das Wechseln und Werden“ in der Natur ; (I, 263, Verse 292f.) schließlich erweist sich ihm als die eigentliche Aufgabe des Dichters „die schweigenden Götter zu singen“.330 In der Wanderer-Elegie begegnet uns dann die Vorstellung, dass der (ins Fremde) Wandernde, ja, der der Heimat Entfremdete, Exilierte, die Götter bei sich habe, sie also auch selbst ihrer Welt entfremde (I, 275, Vers 101). In der Germanien-Hymne spitzt sich die Problematik zu. Die Götter gelten nun als „entflohen“, gar „gestorben“, und das Ich der Hymne fürchtet, dass es „tödlich“ für den Menschen sein könne, Götter wieder ins Leben rufen zu wollen (I, 334f, Verse 16f.). Gerade dieser Aspekt spielt ja auch für Heine eine erhebliche Rolle. So ist im Tanzpoem die Begegnung des Ritters mit Diana lebensbedrohlich. Gleiches gilt für die Wirkung der exilierten Götter auf den bleichen Fischer. Dass jedoch auch die Schönheit als Zeichen einer quasi göttlichen Repräsentanz tödliche Wirkung haben kann und dass man sie trotzdem oder auch gerade deswegen auf sich einwirken lässt, war bekanntlich eine Einsicht von Heines gräflichem Rivalen aus Ansbach. Mit seiner Travestie Die Götter im Exil führte Heine das Geistliche in säkularisierter Zeit als etwas Gespenstisches vor. Travestie und Parodie setzte er als Kritik an einer Re-Sakralisierung ein, die er den Nazarenern zum Vorwurf machte. Und 328 Vgl. Bartscherer, Revolte, a.a.O., S. 460ff. 329 Der Archipelagus (I, 261, Vers 228). 330 Elegie (I, 266, Vers 75).
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gleichzeitig erweist sich die Art der Parodie als eine Allegorese ohnmächtiger Macht (der Götter), wobei Heine am mythologischen Prinzip poetischer Darstellung durchaus fest hält – und das in post-aufklärerischer und (beinahe schon) post-romantischer Zeit. Doch das, was die exilierten (und desavouierten) Götter an Zeremonie in eigener, selbst-sakralisierender Sache noch zuwege bringen, kann letztlich nicht mehr sein als eine leere Botschaft. Bei aller Ironie und Pikanterie in der Darstellung der Götter im Exil – es bleibt der Eindruck von etwas Dunklem, Nicht-Geheuerem zurück, von etwas, das ein halbes Jahrhundert später Max Weber als gegenaufklärerische Gefahr identifizierte. Zu seiner Sorge wurde die Vorstellung, dass der moderne Mensch aus Schwäche die geschwächten Götter wieder stark machen könnte : „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“331 Man darf ergänzen : weil von uns wieder ins Leben gerufen, tragen sie diesen Kampf auf unsere Kosten aus. In Heines travestierender Dichtung ließe sich jedoch auch das erkennen, was René Schickele mit Blick auf D. H. Lawrence geschrieben hat : Um einen Gott zu stürzen, muß man einen anderen an seine Stelle setzen, und falls der Gott, wie in unserer Zeit kaum anders zu erwarten, sich nicht natürlich einstellt, muß man ihn von irgendwo herholen oder aus den Teilen alter Götter neu zusammensetzen. Wir kennen keine einzige rationalistische Revolution, die sich nicht durch karnevalistische Versuche solcher Art lächerlich gemacht hätte.332
Auf Heines Götter im Exil angewendet, würde das bedeuten : So unmöglich sich diese Götter auch machen, die Gefahr besteht, und Heine wollte sie mit seinem Text illustrieren, dass wir aus ihren karnevalesken Umtrieben und Masken uns einen neuen Gott zaubern. Was mit diesem ‚neuen Gott‘ gemeint sein kann, zeigt Heine auch : der vergöttlichte, aber inhaltsleere Ritus, ein Problem, das in unserer Gegenwart bedenkliche Aktualität gewonnen hat.333 331 Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1919). Nachwort von Friedrich Tenbruck. Stuttgart 2005, S. 34. 332 René Schickele, Liebe und Ärgernis des D. H. Lawrence (1935). In : Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. v. Hermann Kesten unter Mitarbeit v. Anna Schickele. Köln, Berlin 1959, Bd. 3, S. 733. 333 Vgl. u.a. Felix Johannes Krömer, Sakraler Pop. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26. Juli 2006.
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„Die Religion gewährte keine Freude mehr, sondern Trost ; es war eine trübselige, blutrünstige Delinquentenreligion“, heißt es in Die Stadt Lucca (II, 493). Heine imaginiert darin, wie „ein bleicher, bluttriefender Jude, mit einer Dornenkrone auf dem Haupte“ sein Kreuz auf den Göttertisch warf zum Entsetzen der hedonistischen Olympier. Dieser Leidende gleicht eher dem erlösungsbedürftigen ‚ewigen Juden‘ und weniger dem Erlöser. Wenn es für Heine einen Gott gab, an den zu glauben sich in profaner Zeit noch lohnte, dann war dies die Freiheit (II, 533).334 Religion, die Götter, sie galten Heine in erster Linie als poetischer Stoff. Ihre Unsterblichkeit verdanken sie letztlich dem Poeten, der Mythentravestie betreibt : „wir Götter / Werden alt wie Papageien, / Und wir mausern nur und wechseln / Auch wie diese das Gefieder.“ Das sagt der „ärmste aller Götter“, Heines Vitziputzli, der von den mordenden, kolonisierenden Christen nur eines lernen will : „die schöne Kunst der Lüge“ (VI, 74). Durch Lüge und Heuchelei, so die Implikation, habe sich die christliche Religion selbst säkularisiert. Und doch weiß Heine um die Wahlverwandtschaft des Poeten mit der Lüge, weiß es seit dem Buch der Lieder : „Habe mich mit Liebesreden / Festgelogen an dein Herz“ (I, 135).335 Über diesen Befund kam Heine, der an die Antinomie von liebender Gebundenheit und Losgelöstheit im Namen der Freiheit glaubte, bis zuletzt nicht hinaus. Die Mauser, Travestie statt Metamorphose und die lustvoll geübte Kunst der Lüge, sie waren Heines poetische Verfahrensmuster, prekäre Konfessionen oder Glaubensartikel des Zweifels in einer immer bruchstückhafter werdenden und entschieden profanen Welterfahrung.
334 Dazu vor allem : Andreas Anglet, „Ideenassoziation“ und Mythentravestie. Heines mythologische Archive. In : Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation. Hg. v. Annette Simonis und Linda Simonis. Köln 2004, S. 104–124, hier : S. 114. 335 Vgl. dazu ausführlich : Karin Sousa, Differenzen und die Folgen. Zu Heinrich Heines ‚Buch der Lieder‘. Tübingen 2007.
XII Lenaus poetische Grenzerfahrung
„Vielleicht ist die Eigenschaft meiner Poesie, dass sie mein Selbstopfer ist, das Beste dran“, urteilte Nikolaus Lenau über sich und sein eigenes Schaffen in einem Brief an Sophie von Löwenthal im Juli 1839 (VI, 72f.).336 Rudolf Kassners Wort, der Weg gehe von der Innigkeit zur Größe durch das Opfer, hätte Lenau zu diesem Zeitpunkt vielleicht als hilfreich empfunden. Denn etwas in dieser Art hatte der Dichter gegenüber seiner Herzensfreundin offenbar zum Ausdruck bringen wollen : Das innig Empfundene, Poesie Gewordene erlange seinen eigentlichen, womöglich ‚großen‘ Wert dadurch, dass es zum Opfer wird. Aber eben zum Selbst opfer. Was Lenau damit zum Ausdruck brachte, war in erster Linie der Anspruch unbedingter Authentizität in dem, was er poetisch geschaffen hatte. Selbstopfer als spätromantische Geste Kunst als Selbstopfer, das hat eine scheinsakrale, aber auch nihilistische Dimen sion ; denn diesem Opfer eignet zwar ein weihevolles Moment, das sich jedoch in Selbstbezüglichkeit erschöpft. Lenau opfert seine Sprach-Kunst keinem Gott, nur sich selbst. Oder ließe sich dieser Satz noch radikaler verstehen, etwa so : Durch die Kunst opfert er sich auf, wird mit ihr identisch, aber eben dadurch, dass er in ihr aufgeht, sich in ihr auflöst. Er weiß freilich, dass er ohne diese, sein Ich-Opfer annehmende Kunst nichts ist, als Persönlichkeit aber nach gelungenem Selbstopfer zu einem Nichts wird. Lenau hob diese prekär sakrale Dimension des künstlerischen Schaffens bereits 1832 hervor, als er an Chamissos Gedicht Das Kruzifix. Eine Künstlerlegende erinnerte und seine eigene Lage analog beschrieb. Hatte Chamisso in seinem Gedicht einen Maler vorgestellt, der sein Modell ans Kreuz nagelte, um den Todesschmerz bildlich vor sich zu haben, so konnte sich Lenau vorstellen, sich selber ans Kreuz zu schlagen, „wenns nur ein gutes Gedicht gibt“ (Brief vom 12. März 1832 ; V, 181). Eine solche Vorstellung übertrifft an selbstquälerischer Intensität sogar noch die am heiligen Sebastian orientierten Leidensekstasen eines Platen und nehmen eher das vorweg, was Georges Bataille in seiner ästhetischen Opfertheo336 Nikolaus Lenau, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Herbert Zeman und Michael Ritter. 7 Bde. Wien 1995 (Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle LenauZitate auf diese Ausgabe).
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rie entwickeln sollte : Das ästhetisch gedachte Selbstopfer als Form sadistischer Selbstentwirklichung, aber auch als eine ex negativo ausgelebte Antwort auf das Böse im Ich. Lenau war der Dichter des Zweifels, der Ungewissheiten, der melancholischen Unbestimmtheit. Er liebte das Ungefähre, selbst im exaltierten Höhenflug der Phantasie. Seine Albigenser, ein großes Lied vom antiklerikalen Widerstand, das das Skandalon der Gewissensverfolgung anprangert, kommentierte er mit den Worten : „Der Held des Gedichtes ist der Zweifel […]“ (VI, 89). Die zeitgenössische Kritik hatte dieses Wesensmerkmal von Lenaus Dichtung und Persönlichkeit durchaus wahrgenommen und benannt. So sprach Gustav Pfizer in der einflussreichen Augsburger Allgemeinen Zeitung im November 1842 von Lenaus „gesammter Poesie“ als einem „großen gewaltigen Concert des melancholischen Skeptizismus“ (VI,2, 322). Der Dichter selbst fühlte sich einmal verstanden. Wenige Wochen nach dem Erscheinen dieser Beurteilung schreibt er dem befreundeten Kritiker in überschwänglichem Ton : Deine Bezeichnung des Charakteristischen in mir : melancholische Skepsis hat mich innerlich ergriffen ; sie hat mich getroffen wie ein höchstes logisches Gericht, wie ein abstracter Zauberschlag, durch welchen mir mein Wesen erschlossen, die ehernen Schranken meiner Individualität sichtbar werden (VI, 272).
Lenau kannte jedoch auch eine Skepsis in verschärfter Form, von ihm selbst ‚Zerrissenheit‘ genannt : „Woher der düstre Unmut unserer Zeit, / Der Groll, die Eile, die Zerrissenheit ?“, fragt er in den Albigensern. Nicht er wagte darauf eine Antwort zu geben, sondern Eichendorff in seinem .ausgesprochen kritischen, im Jahre 1847 erschienenen Aufsatz Die neue Poesie Österreichs, der er modisches Liebäugeln mit dem Antichristentum vorwarf. Eichendorff räumte ein, dass in einer Zeit, „wo Alles von dem bisherigen Temporisieren, Leben und Lebenlassen, ungestüm, gewaltsam und überstürzend zu endlicher Entscheidung in den Din gen, im Guten wie im Bösen drängt“, die Kunst nicht neutral bleiben könne (VI, 348). Doch vermöge diese Zeitbedingtheit der Kunst nicht entschuldigen, wenn sie sich wie jene Lenaus, Anastasius Grüns und anderer bestimmten Moden anbiedere. Eichendorff sprach, worauf bereits hingewiesen wurde, von einer verwerflichen „Tendenz-Poesie“, was er im Falle von Lenau besonders bedauerte ; billigte er doch gerade diesem Dichter einen Sinn für das Elegische zu, der sich in einem „innigen Naturgefühl und unübertroffenen Klängen von Wehmut“ ausspreche (338). Unterminiert werde diese Kunst jedoch durch Lenaus ,Zerrissenheit‘.
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Selbstaufspaltungen als plurale Identitätskonstitution Was Eichendorff unter ,Zerrissenheit‘ verstand, erläuterte er wie folgt : Die Zerrissenheit der Romantik war noch der nachtönende Schmerz getauschter Sehnsucht und herben Mißlingens eines hochgemeinten Aufschwunges, und hat in sofern etwas Tragisches. Die moderne Zerrissenheit dagegen hat gar keine innere Notwendigkeit, sie wurzelt vielmehr, ohne vorgängige Geschichte und Erinnerung, einzig in der Unverträglichkeit der beiden künstlich in ihr verschlungenen Naturen : der poetischen Formel und des Nicolaischen Zopfs, also in der Impotenz einer unmöglichen Poesie und hat daher in ihrem Grundwesen etwas Lächerliches, das Schlimmste, was einer anfangenden Poesie begegnen kann (335).
,Moderne Zerrissenheit‘, so Eichendorff aus dezidiert katholischer Perspektive, sei somit bloßer Selbstzweck und im Grunde Ergebnis einer Positionslosigkeit. An anderer Stelle spricht Eichendorff aus, wozu dieser Zustand geführt habe, nämlich zu einer „Poesie der Negation alles Positiven“.337 Lenau hätte dieser Einschätzung wohl kaum widersprochen, wenngleich ihm diese ,Negation‘ von der Sache durchaus als einer ,inneren Notwendigkeit‘ ent sprungen vorgekommen sein dürfte. Und sie wiederum ergab sich aus seiner Erfahrung des Dazwischen-Stehens und der Unentschiedenheit. In ihr wäre das eigentlich ,Moderne‘ in Lenau zu suchen. Denn wo treffen wir Lenau an ? Zwischen Romantik und Vormärz, zwischen Rechtshegelianern und „Jungem Deutschland“, zwischen alter und neuer Welt, auf Reisen zwischen den Orten, nie wirklich nach einem Ort, schließlich zwischen persönlicher Bindung und kritisch-melancholischer Selbstbezüglichkeit. Bemerkenswert an diesem Urteil Eichendorffs ist freilich, dass er Lenaus Poesie als eine „anfangende“ bezeichnete, also offenbar glaubte, dass mit ihm und durch seine Art des Dichtens durchaus etwas Neues beginnen könne, so verwerflich ihm dieses ,Neue‘ auch schien. Man hat nach Jahrzehnten schematischer Zuordnung von Lenaus Werk zum Genre passiver Weltschmerzdichtung seinen ,Ästhetismus‘ als Ausdruck einer spe zifischen Form von Opposition gegen die Restauration gedeutet und entsprechend dessen Melancholie und Rebellion in einem wechselseitigen Bezug gesehen.338 337 Eichendorff, Zu den Gedichten von Lebrecht Dreves (In : VI, 389). 338 Das gezeigt zu haben ist ein großes Verdienst von Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Ästhetismus und Negativität. Studien zum Werk Nikolaus Lenaus. Heidelberg 1984.
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Und tatsächlich lassen sich im Werk Lenaus Vorformen dessen erkennen, was sich später – etwa bei Nietzsche und im Fin de siècle – zu einer regelrechten „ästhetischen Opposition“339 auswachsen sollte. Wirkungsvoll opponieren kann jedoch nur, wer sich seiner selbst sicher ist. Aber genau davon konnte bei Lenau keine Rede sein. Sophie von Löwenthals Frage, die sie Lenau in ihrem Brief vom 14. Juli I844 stellte, traf sein Grundproblem : „Wo wollen Sie denn eigentlich hin ?“ (VI/2, 430) In Lenaus Ortlosigkeit spiegelte sich auch seine Unfähigkeit, bei sich selbst anzukommen. Die Gründe dafür waren auch ästhetischer und nicht nur psychologischer Natur. In seinem Klagelied über das neue Deutschland von 1838, das Goethes Gedicht Schäfers Klagelied nachgebildet ist, benennt er sie entwaffnend schlicht : „Die Kunst ist herabgekommen / Und weiß wohl selber nicht wie […] / Poesie ist weggezogen […] / Dem Dichter ist gar so weh.“ (VI, 18f.) Dieses Lamento liest sich eben nicht als Anklage, sondern als Wort über einen bedauernswerten Zustand. Dem Dichter ist ‚weh‘ zumute, weil er in den sich auflösenden Traditionszusammenhängen nicht weiß, wohin mit seinen Versen und mit sich selbst. Vielfalt der grossen Stoffe Dabei greift Lenau nach den großen Stoffen wie Faust und Don Juan, porträtiert den einen in seiner Zerrissenheit angesichts seines Wissens- und Wahrheitsdranges und den anderen als einen von Genüssen Zerrissenen. „Oh, daß ein Mann von so viel Wissen / Kann sein im Herzen so zerrissen !“ urteilt Famulus Wagner über seinen Meister. Und Lenaus Don Juan schwankt zwischen flüchtigen Abenteuern und zermürbender Langeweile. Gerade dieses Spannungsgefüge ist es, das noch die Tondichtung Don Juan des jungen Richard Strauss prägte und durch die er Lenau zum Zeitgenossen der Moderne machte. Doch Don Juans Instabilität über trägt sich auf jene, die er flüchtig geliebt. Maria, der Name eines seiner Abenteuer, verflucht ihn mit Hinweis auf ihren eigenen Zustand, der ihm Menetekel bleiben soll : „Fahr’ hin ! Und ein zerrissnes Menschenleben / Soll dich mit Vorwurf quälend stets umschweben“ (IV, 302). Noch in seiner letzten Schaffensphase plante Lenau, seinen Don Juan mit ei nem anderen Stoff zu überbieten. Sophie von Löwenthal gegenüber kündigt er eine Selbststeigerung an, die, er ahnte es, zur Selbstvernichtung führen könnte. 339 Heidi Schlüpmann, Friedrich Nietzsches ästhetische Opposition. Stuttgart 1977.
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„Den solidesten Heiden von allen Heiden die je gelebt haben auf Erden“ will er bedichten. „Der größte wie der unglücklichste.“ Und er erläutert : Zudem ist mein Stoff unserer Zeit und all ihrem gierigen Nothgeschrei so ferne, daß mein Gedicht, wenn meine Kraft nicht darunter zusammenbricht, zwar der Vortheile momentaner Anklänge entbehren, dafür aber durch eine ideale Abgeschiedenheit und absolute Selbstbegründung die höhere Ehre eines wahren Kunstwerks ansprechen soll.340
War nicht dieser, sein größter ,Held‘ längst als der personifizierte ,Zweifel‘ identifiziert ? Oder handelte es sich dabei, nach allem, was sich erschließen lässt, um ein stark autobiographisch geprägtes Werk über eine Spielernatur, jetzt, da er in Baden-Baden weilte in permanenter Casino- und Spieltischnähe ? Hatte er doch schon früher bekannt, dass er zu jener Zeit, als er philosophische Studien betrieb, damit begonnen habe, Billard zu spielen. In jener Zeit habe er nur noch vom Billard geträumt. Sinnfälliger lässt sich der Zusammenhang von Denken und Spielen nicht ausdrücken. Auch Lenaus Mephisto verstand sich als eine Spielernatur und glaubte in Faust einen Spielball zu besitzen. Aber aus diesem Spiel sollte Ernst werden ; denn Mephisto nimmt sich vor, Faust in einem „Glutring hierhin, dorthin rennen“ zu lassen, auf dass er schließlich „sein eigenes Ich“ nach Skorpionart ersteche. Mephisto versteht sich dabei als ein verderblicher „Gegenschöpfer“ zum Göttlichen. Und Lenaus Faust wird sich am Ende tatsächlich erstechen an einem „Klippenstrand“, nachdem er feststellt, dass „Faust nicht mein wahres Ich“ sei : Ein Selbstopfer sehr konkreter Art. Dieses ,wahre Ich‘ Fausts wollte an der göttlichen Ordnung festhalten, in der freilich der Selbstmord nicht als probates Mittel der Gott-Schöpfer‑Verehrung vorgesehen ist. Dieser Faust, Lenau nicht unähnlich, scheitert an dem, was er verehren will. In Lenaus Dichtungen befinden wir uns ohnehin oft auf Klippen, im Gebirge, in Schluchten, an den Rändern des Daseins. Als er 1831 in Gmunden den Traunstein besteigt, schreibt er : Das ist eine Freude ! Trotzig hinabzuschauen in die Schrecken eines bodenlosen Abgrundes und den Tod hinaufgreifen sehen bis an meine Zehen und stehn bleiben und so Lange der furchtbar erhabenen Natur ins Antlitz sehen, bis es sich erheitert, gleich340 In : Lenau, Werke und Briefe, a.a.O., S. 369 f. (Brief vom 20. Juni 1844. Hervorhebung R. G.).
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sam erfreut über die Unbezwinglichkeit des Menschengeistes, bis es mir schön wird, das Schreckliche : Bruder, das ist das Höchste, was ich bis jetzt genossen […] (V, 95).
Lenau beschreibt hier nicht ohne die für ihn so typische Stilisierung den Zustand des amor horroris, der Liebe zum Grauen, die sich am Erhabenen als einem schaudererregenden Zusammenspiel von Schönem und Schrecklichem entzündet und noch in Rilkes Duineser Elegien ihre letzte Steigerung erfahren sollte : Grenzerfahrung und Lustgewinn werden. eins. Nur, wer will entscheiden, was hier in Lenaus Brief rhetorische Figur, was Übertreibung und was ,wahre‘ Empfindung gewesen war. Von der sprachlichen Qualität her steht dieses Briefzitat jedoch weit über manchen von Lenaus lyrischen Naturschilderungen. Und man ginge wohl nicht fehl, wenn man nicht nur diesen Brief in die Nähe eines poème en prose rückte. Klippen und Flüsse, Grenzflüsse zwischen Leben und Tod, Flüsse, die nach Brücken verlangen, obgleich sich auch diese als nicht minder gefährlich heraus stellen als die zu überwindenden Stromschnellen. So in Lenaus selten bedachter Dichtung Mischka (II, 15–19), deren beide Teile 1838 beziehungsweise 1842 ent standen sind. Zigeuner- und Husarenmilieu an den Flüssen Theiss und Marosch bietet sie, aber weitaus mehr als das. Es ist ein Epos über die Gewalt der Musik, ganz ohne heilige Cäcilie, aber dafür mit Mischka, dem Wundergeiger, dessen Kunst Seelen zu spalten vermag. Das „Zittern seiner Saiten“ vergleicht Lenau mit dem „Schwanken einer Brücke“ (II, 19), die nur Geister sicheren Fußes überqueren können. Mischka ist der notorisch unstete, aber ungemein wagemutige Grenzgänger : „Ist ihm jeder Ort doch bald entleidet / Und was heimisch, wird ihm zur Beschwerde“ (II, 233). Er ist ein Künstler, der durch seine Kunst anderen Genuss bietet, selbst aber als Witwer und Vater der „wunderschönen Mira“ asketisch lebt. Wahrend diese in ihrer ärmlichen Hütte dem Vater Saiten spinnt und dieser irgendwo zu einer Hochzeit aufspielt, nähert sich ein Edelmann der Hütte und wirbt um Mischkas Tochter. Mischka missbilligt später eine solche Verbindung kategorisch, entschließt sich dann aber doch, bei der über seinen Kopf hinweg veranstalteten Vermählungsfeier selbst aufzuspielen, nicht ohne zuvor seinen Geigenbogen mit dem Haar des schnellsten Rosses in des Grafen Stall zu bespannen. Nun wird Mischka zum Teufelsgeiger : sein Spiel, eine Musik der Rache, spaltet Seelen, Herzen und das frisch vermählte Paar. Mira macht sich auf und davon, flieht weinend in den Wald, ruft, wie es heißt, alle Götter um Hilfe, „bis sie tot
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zusammenbricht im Schilfe“ (II, 241) am Ufer der Marosch. Der junge Bräutigam, „von der Macht gejagt des Racheschalls“ (ebd.), reitet ihr nach in die Nacht, stürzt und findet nur seinen eigenen Tod. Am Ende verscharrt Mischka seine Geige im Grab seiner Tochter und verschwindet. Was nach bloßem Rühr- und Schauerstück klingen mag, enthüllt in Wirklich keit eine andere Version eines albtraumhaften Lenau‘schen Motivs, das, wie eingangs gesehen, sein Werk durchzieht : Kunst fordert Opfer aller Art ; und Kunst wird unweigerlich zum Opfer und zur äußersten Grenzerfahrung. Sinnbild dieser Grenze ist bei Lenau immer wieder Felsenschlucht und Fluss. Ob Theiss oder Donau, ob Marosch oder Neckar, jeder ,Blick in den Strom‘ (II, 422) ist die Begegnung mit dem Totenfluss Styx : „Die Seele sieht mit ihrem Leid / Sich selbst vorüberfliegen“ (II, 422). Man macht sich wohl schwerlich unzulässiger Stilisierung oder Teleologisierung schuldig, wenn man feststellt, dass es ganz und gar in der Konsequenz von Lenaus Dichten lag, dass er mit diesem, seinem wohl bekanntesten Verspaar enden sollte. Hier sieht sich quasi die geistige Essenz des Menschen beim Selbstopfer oder, weniger pathetisch, beim Verschwinden zu. Das Späte bei Lenau und Nachwirkungen Im Werk Lenaus treffen wir immer wieder auf existentiell-poetische ,Engführun gen‘, die im Ton oft verblüffend an Celans Zeilen, „Kam ein Wort, kam, / kam durch die Nacht, / wollt leuchten, wollt leuchten“341 erinnern. Die äußeren Zeichen solcher Lenau‘scher Engführungen sind abgesetzte Verspaare, zuweilen hexametrisch strukturiert (wie in seinem Gedicht Auf meinen ausgebalgten Geier [II, 22–26] und In der Neujahrsnacht 1839 auf 1840 [II, 393f.]) oder durch gereimte Kurzzeilen gleichsam thesenhaft wirkend (so etwa im Gedicht Einem Wanderer in Österreichischer Felsenschlucht [II, 407]). Die auch motivisch eng verwandten „Geier“- und „Felsenschlucht“-Gedichte verfügen über geschichtsphilosophisch-politische Momente, die allegorisch ummantelt sind. Beklagt das ‚Geier‘-Gedicht die politische Lethargie und Grabesruhe im nach-napoleonischen Europa, in der sich die Dichter daran gewöhnt haben, „zu singen toten Ohren“, vernimmt der Wanderer im „Felsenschlucht“-Gedicht, dass sich über und 341 Paul Celan, Engführung, in : Ders., Die Niemandsrose. Sprachgitter. Gedichte. Frankfurt am Main 1980, S. 134.
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um ihn etwas zusammenbraut, auch wenn er nicht genau beurteilen kann, was sich zu ereignen im Begriffe ist : „Wie weit Gewitter füllt die Luft, / Kannst du nicht schaun in deiner Kluft“ (II, 407). Die Zeichen der Natur deuten, das kam für Lenau geradezu einer unerlässlichen Bedingung gleich, um geschichtsphilosophische und zeitdiagnostische Aussagen machen zu können ; dies spricht sein Ich in den Waldliedern offen aus, auch wenn es einbekennt, dass es dazu zauberischer Kräfte bedürfe : „Wie Merlin / Möcht’ ich durch die Wälder ziehn / Was die Stürme wehen, / Was die Donner rollen / Und die Blitze wollen, / Was die Bäume sprechen, / Wenn sie brechen, / Möchte ich wie Merlin verstehen“ (II, 313). Nicht rationale Zeitkritik war damit gemeint, sondern ein intuitives Erspüren der Zeichen der Zeit durch das Beispiel der Natursymbolik. Ob man darin wirk lich eine Überwindung des romantischen Naturbildes sehen kann, ist zumindest fraglich. Im Grunde ist die Frage müßig, ob wir in Lenau einen ‚letzten Romantiker‘ oder ersten Realisten sehen. Diese Frage lässt sich von Gedicht zu Gedicht anders beantworten. Noch fraglicher ist, ob wir den Irrläufer und Grenzgänger Lenau als einen auf einer „Wallfahrt“ begriffenen Dichter sehen sollen, der sich, wie Reinhold Schneider im Jahre 1940 formulierte, „auf dem Wege zu heiliger Stätte“ befand.342 Schneider verstand Lenau als Verbündeten in innerer Emigration, nicht im Sinne eines hermeneutischen Verstehens freilich, sondern so wie man einen Verwandten zu verstehen versucht, von dem man zumindest vermutet, dass man mit ihm etwas gemein haben dürfte, und dann doch wieder davon überrascht ist, wie wenig greifbar dieses Gemeinsame ist. Von allen bekannten Reflexionen über Lenau erscheint mir die bescheidenste, knappste, wie beiläufig formulierte, am eindrücklichsten, jener kleine Text des frühen Robert Walser, Lenau I, dem übrigens kein Lenau II folgen sollte. Aber weshalb ? Weil Walser wie so oft auch im Falle seiner Miniatur Lenau I so lange ironisch mit Klischees arbeitet, bis der Leser vergisst, dass der Verfasser Klischees gebraucht hat. Walsers Lenau ist der prototypische Romantiker und NichtRomantiker, ein Zwischenwesen, das nicht weiß, woher, wohin und warum. Walser sieht ihn als Dichter der Widersprüche, der Paradoxa und zeigt, dass man sich Lenau, diesem „so schönen, so zigeunerhaft-romantischen Namen“, nur mit Hilfe von Paradoxa nähern kann :
342 Reinhold Schneider, Der Katarakt. Das Schicksal Nikolaus Lenaus. In : Nikolaus Lenau, Werke in einem Band. Hg. v. Egbert Hoehl, Hamburg 1966, S. 9–41, hier : S. 41.
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Das Leben liebte er nicht, und dennoch liebte er es um der darin enthaltenen Enttäuschungen willen. Er war in die Enttäuschungen, in die Hoffnungslosigkeit, in die Unergründlichkeit, in die harte Unentrinnbarkeit verliebt […] und auf den Genuß dessen, was nicht zu genießen ist, verstand er sich vortrefflich.343
Und die Werke Lenaus ? Robert Walser charakterisiert sie so, nachdem er zugibt, sie lange nicht mehr gelesen zu haben : „Unverwelkliches Welken, blühender, unsterblicher Gram, rosengleiches Verzagen und Klagen, immergrüner Schmerz, ewig junger, ewig lebendiger Tod.“344 Werk und Dichter werden so quasi zum Gerücht entrückt, das dennoch genau Auskunft über die Essenz dieser Dichtung des veredelten Schmerzes zu geben vermag. Und doch bleibt trotz des Walser‘schen Spiels mit Paradoxa, so brillant es auch wirkt, ein Ungenügen, das notwendigerweise mit dieser Art assoziativironischer Deutungsmethode verbunden ist, ein Unbehagen, das wiederum auf den Dichter Nikolaus Lenau und die mit ihm verbundene Frage zurückfällt, wie man die fortgesetzte Lektüre dieser Gedichte erträgt, die einen Gedanken unablässig bis manisch variieren : „Die ganze Welt ist zum Verzweifeln traurig“, so der Schlussvers des zweiteiligen Gedichts Einsamkeit von 1838. Lenau schien in seinem Inneren den Zustand der äußeren Welt durchlitten zu haben. Er eignete sich das Leid an, ohne dass er es in etwas anderes hätte verwandeln können. Solange dieses reale, aber auch wahnhafte Erleiden durch die poetische Form kontrollierbar war, ließ es sich für Lenau bewältigen und sogar zeitweise als einen Akt des ohnmächtigen Protests gegen die Zeitverhältnisse instrumentalisieren. Es hat denn auch tatsächlich den Anschein, als hätte sich am Ende das Reservoir der dichterischen Sprachformen Lenaus wirklich erschöpft, als seien sie ausgezehrt gewesen von diesem unausgesetzt sich regenerierenden Leiden. Grenzerfahrungen verschiedenster Art bestimmten Lenaus Werk. Zu ihnen gehörte auch das Magnetisiert-Werden durch den „renommierten Charlatan Dr. Fränkel“ (Brief vom 11./14. Juli 1844 ; VI, 287) in Baden-Baden. Aber auch Beispiele von bewusster oder geradezu zwanghafter Missachtung von Grenzen. Sein Faust liefert dafür das tragische Beispiel. Dessen Erkenntnis der Welt führt zu ihrer Fragmentarisierung ; sie zerschlägt Zusammenhänge. Lenaus Faust vermag nicht zu entsagen ; entsprechend ist er auch von keiner ,höheren Macht‘ zu retten, wie der Dichter selbst in einem Brief an Georg August von Hartmann vom 18. 343 In : Robert Walser, Das Gesamtwerk. Bd. 2. Hg. v. Jochen Greven. Genf/Hamburg 1971, S. 44. 344 Ebd., S. 45.
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Juni 1835 betonte. Der nicht rettbare Faust wurde ohnehin zu einem Grundmotiv in der Faust-Deutung, das von Grillparzers Faust-Entwurf bis zu Berlioz’ Oper Fausts Verdammnis reichte. Lenaus Faust ist nicht zu retten, weil er einen Gegenstand des Erkennens missachtet, nämlich die Grenze. Kurt F. Strasser schreibt in seiner Studie zu den ‚subtilen Revolutionen im Hause Osterreich‘, gemeint sind die ästhetischen Transformationen differenzierenden Bewusstseins zwischen Stifter und dem Hofmannsthal’schen Welttheater, dass der „subtile Aufklärer“, der nun einmal nicht mit dem Hammer philosophiert, sondern mit der Stimmgabel, Grenzen aufspüre und ihr Überschreiten allenfalls im Konditionalis erwägt. „Als hätt‘ des Lebens Gränz‘ ich überschritten“, so Grillparzers Jason.345 Plurale Grenzen, Grenzen des Pluralen In seinem Gedicht Meine Braut (I, 88) (gemeint war Lotte Gmelin ; es entstand vermutlich im November 1831) hatte Lenau eine Grenzerfahrung poetisch umgesetzt, deren bemerkenswerteste Dimension mit einem Adjektiv ausgedrückt war, dem man eine besonders subtile Natur zuzusprechen geneigt sein dürfte ; es lautet ,duftverloren‘ : An der duftverlornen Gränze […] Jener Berge tanzen hold Abendwolken ihre Tänze, Leichtgeschurzt im Strahlengold […] Deine Braut heißt Qual, – den Segen Spricht das Unglück über euch !
Handelt es sich hier um eine im Duft verlorene Grenze oder um eine Grenze, an der sich der Duft von belebter Natur und damit von lebendigem Bezug verliert ? Die Braut hat ihr menschliches Antlitz verloren ; sie geht in einer Natur auf, die Schauplatz des Übergangshaften, Flüchtigen geworden ist. Zurück bleiben Chimären in beständig wechselnder Wolkengestalt und Seelenqual. An dieser „duft345 Zit. nach : Kurt E. Strasser, ZauberSprache. Subtile Revolution im Hause Osterreich, Klagenfurt/ Salzburg 1995, S. 67f.
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verlornen Gränze“ ist es um das Ich geschehen. Es bleiben ihm in seiner Qual nur Naturbilder, in denen es selbst freilich nicht aufgehoben sein kann. Was liegt mit Lenaus Dichtung vor ? Eine sanfte Rebellion gegen das entschieden unsanfte Gesetz des Daseins ? Eine Rebellion gewiss, die von Anbeginn um ihre Ohnmacht wusste und dennoch verliebt blieb in die Geste des Aufbegehrens, die das Melancholische wie einen Nährstoff brauchte. Lenau steht aber auch für ein Dichten, das sich in der poetischen Sprache und wohl nur durch sie Mut machte, sich dem Vergeblichen, Sinnlosen, aber auch den subtil erkannten Grenzen, etwa jenen zwischen politisch gemeintem Kunst-Lied und konkretem politischem Aktionismus, zu stellen. Zu einer eigentlichen Grenzüberschreitung im Sprachkünstlerischen fand er jedoch nicht. Anders als Kleist, Büchner oder Grabbe lag ihm wenig am Sprachexperiment oder am Erproben neuer poetischer, geschweige dramatischer Ausdrucksmöglichkeiten. Sprachlich-poetische Konventionen gebrauchte er wie ein geistiges Stützkorsett. So reimte Lenau selbst dann noch, als die seelischen Widersprüche sich längst nicht mehr auf einen Begriff bringen ließen. Genauer gesagt, er reimte so, wie dies später Franz Werfel in seinem Gedicht Der Reim ironisch sanktionieren sollte : „Der Reim ist heilig. Denn durch ihn erfahren / Wir tiefe Zwieheit, die sich will entsprechen“.346 Das schwankende Charakterbild von Lenaus Dichtung hat vor allem mit der erdrückenden Quantität seiner poetischen Produktion zu tun und seinem offenkundigen Mangel an selbstkritischer Einschätzung. Er brauchte fraglos viele Anläufe, um das eine bedeutende Gedicht zu schaffen. Aber dieses fast manische, auch an ein ‚Äußerstes‘ grenzende Bedürfnis, alles und jeden zum Gedicht werden zu lassen, spiegelt Lenaus Willen, noch einmal das ganze Sein und Dasein als poetischen Ereignis zu begreifen. Kein Dichter nach Lenau hat mit dieser unbedingten Konsequenz versucht, auch um den Preis, verse- bis strophenweise ins Kitschige abzugleiten, diese unbedingte Poetisierung des Lebens im Zeitalter der Prosaisierung zu wahren. So gesehen, gleicht seine Dichtung einem Grenzgang oder Gratwandel zwischen Wert und Kitsch. Lenau war nicht wie Heine ein Virtuose der Ironie, der subtilen Doppeldeutig keiten und verschlüsselten Anspielungen, auch nicht wie Platen ein reiner Ästhet, der sich an klassischen Idealen orientiert hatte, die längst am Verblühen waren. Unzweifelhaft litt er an seiner von Zensur und biedermeierlichem Tiefschlaf ge prägten Zeit, am zwanghaften Reflektieren-Müssen jeglicher Erfahrung, an der 346 In : Franz Werfel, Gedichte aus den Jahren 1908–1945. Hg. v. Knut Beck. Frankfurt am Main 1993, S. 184.
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melancholischen Disposition seines Ich ; und doch konnte er sich der unwidersteh lichen Neigung zur Selbststilisierung nicht erwehren. In mancher Hinsicht dürfte Lenaus obsessives Reimen Bestandteil dieser Tendenz zur Ecce-poeta-Geste dieses Dichters gewesen sein ; denn im Reim stilisiert sich die Fähigkeit der Sprache zum Gleichklang als dem scheinhaften Klangbild des Harmonischen. So waren Lenaus Dichtungen vielleicht neu zu lesen : als Grenzwerte von Melos und Sinn.
XIII Stifters romantisches Realismuskonzept
Vielfältige Hinführungen zu Stifter Aus der Perspektive der Reflexion über Grenzen ergeben sich wie für Lenau so auch für Adalbert Stifter diverse paradigmatische Rezeptionsmuster, nachfolgend vertreten durch Hinweise auf Hebbel, Nietzsche, Rilke, Thomas Mann und Ilse Aichinger. Sie haben alle zunächst unwillkürlich nach den kleinen Formen im groß, beinahe überdimensional angelegten Gewebe der Stifterschen Texte gesucht, das Filigran in der immensen Erzählstruktur mehr oder minder irritiert oder fasziniert aufgespürt und auf die einzelne Stimme in dieser üppig orchestrierten Prosa gehört. Und gerade diese Art der Lektüre belohnt Stifter : seine Texte ermöglichen sie nicht nur, sie fordern filigranes Lesen heraus. Friedrich Hebbel war bekanntlich neben dem Kritiker und Herausgeber der Zeitschrift Der Grenzbote und Apostel des (sozialen) Realismus, Julian Schmidt, der wohl am meisten von Stifter verärgerte Leser. Den Nachsommer verglich Hebbel boshaft mit einem Handbuch gemeinnütziger Kenntnisse und urteilte : […] selbst derjenige, der dem Verfasser noch durch das Gebiet der Botanik mit Ruhe und Geduld gefolgt ist, muß einsehen, daß die ästhetische Tat aufhört, wo die Rezepte anfangen. Es ist aber durchaus kein Zufall, daß ein Stifter kam, und daß dieser Stifter einen ‚Nachsommer‘ schrieb, bei dem er offenbar Adam und Eva als Leser voraussetzte, weil nur diese mit den Dingen unbekannt sein können, die er breit und weitläufig beschreibt.347
Was Hebbel irritierte, war nicht einmal so sehr der Mangel an Dramatik in dieser Prosa, sondern Stifters angeblicher Verlust des erzählerischen Augenmaßes und Bewusstseins für die Grenzen des Genres – ein Kritikpunkt, der überdies Hebbels Skepsis gegenüber dem mehr und mehr vorherrschenden Novellismus in seiner Zeit preisgab. Der ausartende Genre [der Roman, R.G.] reißt sich mehr und mehr vom alles bedingenden, aber auch alles zusammenhaltenden Zentrum los und zerfällt in demselben Moment in sich selbst, wo er sich ganz befreit zu haben glaubt. Und das überschätzte 347 In : Friedrich Hebbel, ‚Das Komma im Frack‘. In : Werke, Bd. 3, Gedichte, Erzählungen, Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher. München 1965, S.684–687, hier : 686 f.
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Diminutiv-Talent [Hebbels Wort für Stifter, R.G.] kommt ebenso natürlich von Aufdröseln der Form zum Zerbröckeln und Zerkrümeln der Materie […].348
Hebbel sah Stifter demnach als pedantischen Nacherzähler des Endes der Kunstperiode. Man weiß, dass Nietzsche ganz anders auf dieses vermeintliche ‚Aufdröseln der Form‘ in Stifters Prosa reagiert hat. Er wertete den Autor als erzählenden Landschaftsmaler mit einer geradezu therapeutischen Wirkung.349 Doch Nietzsche dürfte Stifters Prosa nicht nur als Gegenbild zu seiner eigenen eruptiven Denk- und Schreibweise geschätzt haben, sondern auch als Arbeit eines Erzählers, der – gerade im Nachsommer – jenes Verfahren bereits erprobt hatte, das er, Nietzsche, zu Beginn von Menschliches, Allzumenschliches fordern sollte, nämlich eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen, ebenso aller jeder Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben : wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebniss [sic !] abschlösse, dass auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind ? (II, 24) Man glaubt, Stifters erzählerisches Verfahren, das Destillieren des erhebend oder bestürzend Besonderen aus dem Bodensatz des Alltäglichen, als Urmaterie von Nietzsches Physiologie des Denkens gedeutet zu sehen. Ilse Aichinger hat bekannt, dass sie durch die „ungeheuerliche[n] Sanftmut“ von Stifter in Zorn geraten sei, etwa als sie Stifter las „auf den schaukelnden Omnibussen, angesichts der Baumkronen von Hydepark [sic !] und Kensington, die sich aus dem Dunst hoben, und der aufblitzenden Kinoreklamen“, als Konstrastprogramm zu Bergkristall.350 Ihre kleine, aber eindrückliche, von überraschenden Assoziationen geprägte Betrachtung zu Stifter kreist um die Frage, weshalb in aller Welt man einen Stifter-Text weiterlesen solle, wenn man die ersten Sätze seiner stets aufs Neue psalmodierenden den „Ergebenheit in alles von der Natur Vorgegebene“ in sich aufgenommen habe, und Aichinger beginnt ihre Skizze mit einem Wort Thomas Manns über Stifter, das Urban Roedl alias Bruno Adler, der bedeutende Anwalt Stifters noch im Exil der dreißiger und 348 Ebd., S. 687. 349 Vgl. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie in drei Bänden. 2. Bd. München/Wien 1978, S.530. 350 Ilse Aichinger, ‚Weiterlesen. Zu Adalbert Stifter‘. In : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt am Main 1987, S. 85–89, hier : S. 88.
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vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, überliefert hat : „Was für ein aufregender, außerordentlicher, alle Augenblicke ins Extreme, man kann schon sagen : ins Pathologische vorstoßender Erzähler.“351 In seinem „Roman eines Romans“, Die Entstehung des Doktor Faustus, fand Thomas Mann dann zu jener seither viel zitierten Würdigung Stifters, die gerade in unserem Zusammenhang wesentlich ist : Man hat oft den Gegensatz hervorgekehrt zwischen Stifters blutig-selbstmörderischem Ende und der edlen Sanftmut seines Dichtertums. Seltener ist beobachtet worden, daß hinter der stillen, innigen Genauigkeit gerade seiner Naturbetrachtung eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam ist, wie sie etwa in der unvergeßlichen Schilderung des gewaltigen Dauer-Schneefalls im Bayerischen Wald, in der berühmten Dürre im „Heidedorf“ […] beängstigend zum Ausdruck kommt. Auch die Gewitter-Verwandtschaft des Mädchens im „Abdias“, ihre Anzüglichkeit für den Blitz, gehört in diesen unheimlichen Bereich. […] Stifter ist einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur, kritisch viel zu wenig ergründet.352
Letzteres gilt inzwischen wohl nicht mehr. Eher gewinnt man den Eindruck, dass es nur noch das Exzessiv-Elementar-Katastrophal-Pathologische sei, das die kritischen Stifter-Gemüter beflügelnd erregt. Vor dieser Tendenz hat bereits 1983 Erika Swales gewarnt und eindringlich darauf hingewiesen, dass Stifter immer wieder aus diesen extremen Erzähllagen, etwa den Schneewelten (Aus dem bayerischen Wald, 1867), zurück ins „Eingebürgerte“, bürgerlich Umgrenzte, maßvoll Entpathologisierte gefunden habe.353 Uns will scheinen, dass Stifter das Nachgetragene im Erzählen, um ein Wort Peter Härtlings zu gebrauchen, thematisiert habe, ein Nachtragen, das freilich eine gleichermaßen magisch-fiktivreale Gegenwart zu erwirken verstand. Dabei 351 Ebd., S.85. Zu Urban Roedl vgl. bes.: Joachim W. Storck, Adalbert Stifter im Exil. Urban Roedl (Bruno Adler) als Stifter-Biograph und Stifter-Interpret. In : Adalbert Stifter : Studien zu seiner Rezeption und Wirkung II : 1931–1988. Hg. v. Johann Lachinger. Linz 2002, S. 61–74. Dazu auch Eizaburo Onagi, Thomas Mann und Adalbert Stifter. Die Stifter-Rezeption Thomas Manns in seiner Exilzeit. In : Lachinger, Adalbert Stifter, a.a.O., S.75–83. 352 In : Mann, Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. XI, S. 237. 353 Erika Swales, ‚The Doubly Woven Text : Reflections on Stifter’s Narrative Mode‘. In : Adalbert Stifter Heute. Londoner Symposium 1983. Hg. v. Johann Lachinger, Alexander Stillmark und Martin Swales, S.37–43, hier : S.41.
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verweigerte er der Kunst ihre Emanzipation von der Natur und sozialen Kontexten ; und damit verweigerte er ihr eine Autonomisierung, wie sie die ästhetizistische Seite der Moderne anstrebte. Astromusik und andere poetische Klangphänomene Es gab für Stifter zwei makro-dimensionale Erfahrungen, die er selbst auch mit Musik oder Geräuschen in Verbindung gebracht hat : die Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842 sowie der Anblick des Meeres im Sommer 1857. Es sind dies die beiden wesentlichen, die Grenzen des Gewöhnlichen überschreitenden Erlebnisse seines Lebens gewesen, sofern man von seiner Entscheidung zum Suizid absieht, von ihr in dieser Grenzen erfahrenden Hinsicht überhaupt absehen kann. Was nun Stifters Betrachtung über die Sonnenfinsternis angeht, einen seiner dramatischsten, Hebbels Urteil spektakulär widerlegenden Texte, so gelingt darin dem Verfasser des Condor, der Feldblumen und des ersten Teils der Mappe meines Urgroßvaters die am Prinzip des Antinomisch-Paradoxen und skurril Sublimen orientierte Beschreibung eines als gespenstisch wahrgenommenen Naturphänomens, als eines „Abendwerdens ohne Abendröthe“ und „wesenlosen Schattenspiels“ ; und er gestattet sich bei dieser Schilderung das Wort vom „lastend unheimliche[n] vorgeblich Entfremden unserer Natur“354, womit er eine Zweideutigkeit aufblitzen lässt, die sein vorgeblich tiefes Einverständnis mit der Natur und dem Natürlichen im Sinne des späteren „sanften Gesetzes“ bereits zu diesem Zeitpunkt entscheidend relativiert. Bei dem Versuch, diese Sonnenfinsternis adäquat zu beschreiben, geriet Stifter nach eigenem Bekunden an die Grenzen seiner (bisherigen) sprachlichen Möglichkeiten : „Wäre ich Beethoven, so würde ich es in Musik sagen ; ich glaube, da könnte ich es besser.“ (XV, 15) Bezeichnend für den maßvoll experimentierfreudigen Schriftsteller ist nun, dass er diese Grenzerfahrung in eine Spekulation ummünzt, die über alles hinausgeht, was er bis dahin an ästhetischen Wagnissen eingegangen war : Könnte man nicht auch durch Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge von Lichtern und Farben eben so gut eine Musik für das Auge wie durch Töne für das Ohr ersinnen ? 354 In : Adalbert Stifters Sämmtliche Werke Bd XV. Hg. v. Gustav Wilhelm (1935). Hildesheim 1972, S. 10 (zit. im Text als XV, 10).
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[…] Sollte nicht durch ein Ganzes von Lichtaccorden und Melodien eben so ein Gewaltiges, Erschütterndes angeregt werden können, wie durch Töne ? (XV, 16)
Stifter fordert also synästhesierende Lichtspiele, eine „Lichtmusik“ gar, eine Ästhetik aus dem Geist der Physik.355 Eine solche an den Himmel gezauberte Lichtkunst gewann freilich in den dreißiger Jahre eine beklemmend politischpropagandistische Bedeutung, etwa in den notorischen so genannten Lichtdomen über gewissen braunen Städten ; in unseren Tagen ist es vor allem André Hellers überdimensionale Lichtästhetik gewesen nebst akustischen Bruckner-Lichtwolken über Linz und elektronisch-musikalischen, an den Wochentagen orientierten Lichtapotheosen eines Karlheinz Stockhausen, die das mögliche Ausmaß von Stifters spekulativer Grenzüberschreitung im Bereich der Lichtästhetik nachträglich, wenn auch mit grundverschiedenen Implikationen, illustrieren. Wann immer die Musik in Stifters Erzählen hineinspielt, vor allem in der großen novellistischen Studie Zwei Schwestern (1845), stellt sie sich als eine besonders eigentümliche Grenzerfahrung dar. „Höchste, edelste Kunst“ im musikalischen Vortrag, das sei das genau Begrenzte, „kein Haar darüber und kein Haar darunter“ (IV, 141), so hört und deutet der Ich-Erzähler das Violinspiel Camillas, von dem er zunächst glaubt, er handele sich um die virtuose Kunst der Theresa Milanollo, die er einst im Josephstädter Theater hörte, als diese mit ihrer jüngeren Schwester als Wunderkind-Duo auftrat. Eigentliche Wirkung erzielt diese Musik jedoch erst dann, als es Camilla gelingt, einen „letzte[n] Ton der Saiten“ wie einen „golden[n] Bliz“ zucken und „über die Gegend hinaus gehen“ (IV, 144) zu lassen. Diese „unerhörte“ Grenzüberschreitung führt dann scheinbar dazu, dass die Natur still steht. Selbst der Springbrunnen ist nicht zu hören. Freilich stellt sich später heraus, als der Erzähler mit der unmusikalischen, botanisierenden Schwester Maria bis zu den Grenzen ihres Gartens geht (ungezählt sind bei Stifter solche Gänge zu den Grenzen einen jeweiligen Besitzes, die nur selten überschritten werden !), dass die geigende Camilla zuvor den Brunnen abgestellt hat, um eben diese täuschende Wirkung zu erzielen. Phasenweise sprengt die Musik den Binnenrahmen des Erzählens in dieser Novelle. Der Erzähler gesteht, dass die Musik ihn zu sehr angegriffen habe (IV, 355 Hans Sedlmayr hat eine kunstgeschichtliche Kontextualisierung dieses Gedankens vorgenommen, die bis zu Cézanne führt. In : Adalbert Stifter. Die Sonnenfinsterniß am 8. July 1842. Hg. v. Aldemar Schiffkorn. Mit Beiträgen von Friedrich Witthauer, K. L. von Littrow, Hans Sedlmayr und Hans Eisner. Linz o.J., S.30–38, bes. S.36.
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145), sodass er kaum weiß wohin mit sich selbst. Schon seine Josephstädter Musikerfahrung hatte ihn und seinen Nachbarn mit einer verwirrenden „Plötzlichkeit“ bedrängt (IV, 92), die beide nicht verarbeiten konnten. Abhilfe verspricht eine erzählerische Hilfskonstruktion namens Verdinglichung der Musik. Die Art der Geige (eine Guaneri), die Beschaffenheit des Faches, in der sie aufbewahrt wird, die Qualität des Bogens und der Saiten sowie des Geigenharzes zählen. Bemerkenswert ist, dass der Erzähler, als er Camillas Spiel zuerst hört, von einem dinghaften Geräusch spricht, aus dem dann Klänge, eben die Töne einer Geige werden (IV, 141). Sinnigerweise verfällt auch er in dieser klangerfüllten Einsamkeit aufs Zeichen ; denn in dieser „Einsamkeit waren Linien von solcher Schönheit, dass sie mich reizten, ob ich sie nicht nachahmen könnte“ (IV, 187). Damit ist aber auch die Rückverwandlung der Klänge in Dinge vorgezeichnet, die sich dann am Ende der Novelle vollzieht. Die Reduktion der Kunst auf die reine Materialität scheint in vollem Gange. Die einmalige Grenzüberschreitung durch Camillas Spiel rächt sich. Das letzte Wort hat nicht ihre Kunst, sondern es gilt dem Potenzial der Hyazinthenzwiebel, die der Erzähler ihrer Schwester Maria nach seiner Abreise schickt. Im Zeichen der Blumenzwiebel wird entgegen allem Anschein „Maria allgemach und unvermerkt seine Gattin werden“ – heißt es im bizarren Nachwort, das eine sozusagen hypothetische Gewissheit über das künftige Schicksal der beiden mit absurder Penetranz verkündet. Der Ich-Erzähler in dieser Novelle schläft, sofern Camillas Spiel ihm nicht die Seelenruhe raubt, mit Goethes Italienischer Reise ein. Er, der für immer Theresa Milanollos Kunst als Urbild virtuoser Musik im Ohr hat und ihr nachhört, der nachzeichnet, was auf der Grenze zwischen Klang und stiller Einsamkeit noch wahrnehmbar ist, er reist auch Goethes Italienreise nach. Sie liefert ihm den Vorwand, die Schwestern zu verlassen. Stifter selbst reiste zehn Jahre später diesem Erzähl-Ich nach. Und so findet sich die am Ungeheuren orientierte Entsprechung zu Stifters Äußerungen über die Sonnenfinsternis von 1842 in seinem Brief an den befreundeten Verleger Gustav Heckenast vom 20. Juli 1857, geschrieben kurz nach seiner Rückkehr aus Triest und seiner Begegnung mit dem Meer. „Ich habe das Meer gesehen. Ich kann Ihnen mit Worten nicht beschreiben, wie groß die Empfindung war, welche ich hatte“ (XIX, 36). Was ihn neben den entgrenzenden Dimensionen des Meeres besonders faszinierte, war der jähe Wechsel von absoluter „atemloser Stille“ und dramatischer Geräuschkulisse, etwa bei einem nächtlichen Gewitter :
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Leider konnte ich der Finsternis halber das Schäumen des Meeres nicht sehen, sondern nur hören. Eben so hörten wir das Rufen der Schiffleute in den Tauen, das zeitweilige Läuten von Schifgloken, das Rasseln der Ketten der herabgelassenen Nothanker und mitunter einen Kanonenschuß. (XIX, 37)
Italien bedeutete für Stifter eine bis dahin verpasste Bildungschance und Horizonterweiterung : „[…] wäre ich vor 20–25 Jahren zum ersten Male und dann öfter nach Italien gekommen, so wäre auch aus mir etwas geworden. Das Herz möchte sich einem brechen bei Betrachtung gewisser Unmöglichkeiten“ (XIX, 39). Nach etwas Meer und Italien glaubt er zu sehen, „wie arm“ er im Grunde noch sei. „Selbst den ‚Nachsommer‘, so deutsch er ist, hätte ich anders gemacht, wenn ich ihn nach dieser Reise geschrieben hätte“ (XIX, 39). Und schließlich : „Wie müßte es schön sein, ein Werk auf einer solchen, aber großen und langsamen Reise zu dichten […].“ (XIX, 40) Das Späte, Vielfältige oder : Erzählen im Danach Was dagegen Stifter im Jahre 1857 vorlegen konnte, war ein Werk in Gestalt einer „großen und langsamen Reise“, von Grenzen aller Art durchzogen, dabei im Hinblick auf seinen ausgreifenden erzählerischen Ansatz diese geradezu demonstrativ überschreitend, von Annäherungen und Schwellenerfahrungen bestimmt sowie von der Sehnsucht nach metaphysischer Transgression erfüllt. Der Ich-Erzähler dieser „Reise“ ins Innere und Äußere gleicht, um Emil Staigers sinniges Wort zu gebrauchen, einem „Zeiger an der Sonnenuhr des Daseins, der nicht selbst gesehn sein will, sondern zeigen muß, zeigen auf die Dinge dieser Welt […].“356 Dieses Wort ist deswegen beziehungsreich, weil es sagt, dass der Mensch nicht mehr vermag, als durch seine Existenz eine bloße Schattenlinie auf die Schöpfung zu werfen, da er selbst ein Grenzfall ist zwischen Verstehen und Verkennen der Natur. Dieses Ich im Nachsommer immunisiert sich gegen romantische Schwärmerei durch umfassenden Wissenserwerb, der von der Mathematik ausgeht und dann in eine Serie von (schein-)systematisch betriebenen Wahrnehmungserfahrungen mündet, die allesamt mit der Formel beginnen : „Ich lernte kennen“. Dieses Ich nennt sich einen „großen Freund der Wirklichkeit der 356 Emil Staiger, Adalbert Stifter, „Der Nachsommer“. In : Meisterwerke deutscher Sprache. München 1973, S.164.
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Dinge“357 (4.1, 29) und erst die Freundschaft zum Realen und den Realien befähigt es, dann auch das symbolisch konnotierte „Rosenhaus“, vor einem Gewitter Schutz suchend, zu betreten, wo es sinnigerweise auf die Reisebücher Alexander von Humboldts stößt. Lesen heißt nun einmal Reisen – nicht nur bei Stifter. In dieses Kennen-Lernen der, wie der Erzähler sagt, „Umgebungen“ oder Umwelt ist das Schärfen des eigenen Blicks, ein Sehen-Lernen also, eingeschrieben. Dieses wiederum führt zur genauen Wahrnehmung der Landschaftsformationen. Bezeichnenderweise ist es die „Stufenfolge“ der die Stadt umgebenden Hügel, die dem Ich-Erzähler zuerst auffallen, permanente Übergänge also und Schwellen im Landschaftsbild (4.1, 33 f.). Später ist von den Vorbergen die Rede, „mit welchen das Hochgebirge gleichsam wie mit einem Übergänge gegen das flachere Land ausläuft.“ (4.1, 45). Dieser Blick nun, dieses Kennenlernen des Sehens, gibt dem Ich das Gefühl, sich auch im Zeichnen, also im Fixieren des Seienden versuchen zu können (4.1, 41 ff.). Wer jedoch genau sehen lernt, nimmt auch Grenzen und nicht nur Übergänge wahr. Nicht anders der Erzähler im Nachsommer (4.1, 74). In seinen Zeichnungen spiegelt sich dieses Gespür für Grenzen in der Art der Linienführung, die je „verstärkt oder gemäßigt“ ausfallen kann, je nach des Zeichners Akzentuierungsbedürfnis und der Anerkennung des Eigenwertes der gezeichneten Dinge (4.1, 102). Bei allem Lernen, kritischen Sehen und zeichnerischen Begreifen der Dinge widerfährt es dem Ich-Erzähler dennoch, dass ihm eine gelungene Aufführung von King Lear nicht mehr nur als ein Schauspiel vorkommt, sondern als „wirklichste Wirklichkeit“ (4.1, 197). Demgegenüber zeichnet er, inspiriert von diesem Höhepunkt „wirklicher Kunst“, weiter nur am Rande des Scheiterns. So will er etwa das zartfarbene Bild eines lesenden Kindes aus dem Besitz seines Vaters nachahmen, kopieren, was geradezu unweigerlich misslingt. Des Ich-Erzählers entscheidendes künstlerisches Problem stellt sich wie folgt dar : Er übt sich in der Vervollkommnung der Linienkunst, der Zeichnung, will durch klare Linien Grenzen ziehen und strebt doch seiner Natur nach auf Entgrenzung hin, auf eine transition in perpetua ; schließlich spürt er, wo immer möglich, Übergänge auf. Dann glaubt er, sie in der Dichtkunst zu finden, aber er ist kein Dichter. Rembrandt gilt ihm später als der Künstler, dem „die kunstgemäßen Übergänge“ etwa in den Gesichtsbildungen als einzigem ganz gelungen seien (4.2, 55). 357 In : Adalbert Stifter, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 4, 1 Hg. v. Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Stuttgart Berlin Köln 1997 (zit. im Text als 4,1 mit Seitenzahl).
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Bedeutsam hierbei ist, dass Stifter selbst die „Kunst des Übergangs“ gerade im Zusammenhang mit dem Nachsommer wiederholt thematisiert hat, insbesondere als es um die Frage möglicher Illustrationen ging. Dem Kupferstecher Joseph Axmann gegenüber betont Stifter in einem Brief vom 17. März 1857, dass dessen Umsetzungen einiger Zeichnungen von Peter Geiger, namentlich die „Mathilde“Bilder, einen Hauptfehler aufwiesen : In den Gesträuchen sind die verschiedenen Übergänge und Lichttheile ausgelassen, wodurch die Körperlichkeit Verlust leidet und das Hintere mehr als eine Fläche wird. Besonders gilt dies von der Schwärze hinter der Stuhllehne, die ganz gewiß durch Lichter und Übergänge zu unterbrechen ist […] (XIX, 11).
Übergangslose Grenzen, so wäre zu folgern, verursachen eine Schroffheit, die im Falle der Nachsommer-Prosa und -Konzeption einfach nicht ins Bild passen. Zurück nun zur mental-ästhetischen Disposition des Erzähler-Ichs, Heinrich Drendorf. Ein Werther ist er gewiss nicht. Bei Gewittern hat er Klopstock nicht parat. Dass ihm das Zeichnen wieder und wieder misslingt, stürzt ihn nicht wie weiland Werther in eine existentielle Krise. Er bleibt in Sachen Kunst seinem Versuchen und neuem Anlauf-Nehmen treu. Als Zeichner betreibt er, was Stifter als Schriftsteller zum Prinzip erhebt : Er erarbeitet Studien, nichts weiter. Er liest, und wenn er auch kein lesendes Kind malen kann, so malt er, von der Lektüre angeregt, kindlich, Stück um Stück der wahrgenommenen Umgebung : Ich malte je nach Laune bald ein Stück Himmel, bald eine Wolke, bald einen Baum oder Gruppen von Bäumen, entfernte Berge, Getreidehügel und dergleichen. Auch schloß ich menschliche Gestalten nicht aus und versuchte Teile derselben (4.2, 70).
Im Kapitel „Die Annäherung“ – das Wort verrät Stifters erzählpsychologisches Prinzip – erfahren wir, dass die Dichter in ihm das Malen „wieder hervorgerufen“ haben (4.2, 70). Dieses Malen ist ein Sich-der-Landschaft-Annähern, also eine versuchte künstlerische Potenzierung dessen, was ihn umgibt. Freilich handelt es sich um eine Potenzierung des Wirklichen auf der Grundlage von Parzellierungen der Natur, herausgehobenen Einzelheiten : „[…] ein Baum, ein Stein, ein Berg, ein Wässerchen in lieblichen Farben […]“ (4.2, 70). Und diese zeichnerische Verstärkung segmentierter Eindrücke droht den Gesamtzusammenhang zu dekontextualisieren ; modernistisch fürwahr.
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In einem Brief an Friedrich Culemann vom 3. Februar 1854 gesteht Stifter, dass es für ihn eine „große Kluft zwischen Fühlen und Ausdrücken“ gebe (XVIII, 205). Man kann den Nachsommer als einen umfassenden Versuch lesen, eben diese Kluft nicht zur unüberwindlichen Grenze werden zu lassen, sondern mit ihr zu arbeiten. Für den zeichnenden Erzähler gewinnt diese Kluft Bedeutung, als er sich die Frage vorlegt, wie es sich mit den Grenzen des „Darstellbaren in der Bewegung“ verhalte, was meint, welche Art Kunstmittel im notwendigerweise statischen Bild nötig sei, um dem Auge Bewegung vorzutäuschen (4.2, 92). Narrative Annäherungen Dieser Künstler und Ich-Erzähler lernt die Kunst des Scheiterns am großen Anspruch, wobei er sich darum bemüht, die Technik der Meister zu durchschauen, was ihm insbesondere dann gelingt, wenn er das Prinzip des Übergangs in der Kunst eines Tizian oder Reni analysiert (4.2, 101). Wonach er in dieser Kunst versucht, ist die unbedingte „Folgerichtigkeit der Übergänge“ (4.2, 107), die er in seinen eigenen Versuchen nur mühsam zuwege bringt. Im Kapitel „Das Fest“ des zweiten Bandes verlagert sich die Frage nach den ästhetischen Übergängen auf das Zeitliche, und zwar im Gespräch des Erzählers mit seinem „Gastfreund“, dem es vorbehalten ist, die zentrale geschichtsphilosophische und zivilationskritische These des Nachsommer in Form einer Prognose vorzutragen. Dieser Gastfreund betont, dass man sich in einer Übergangszeit befinde, deren Weltuhr ein besonderes Gewicht habe : die Naturwissenschaften. Es ist der Übergang vom kontemplativen Zeitalter in eine Welt, in der sich alles im Aggregatzustand befindet. Man kann die folgende Schlüsselstelle nicht oft genug zitieren, bezeichnet sie doch den Augenblick des Nachsommer, der die entscheidende Grenzüberschreitung von der Neuzeit in die Moderne nicht nur prognostiziert, sondern in einer auch szientistisch - sozialutopisch grundierten Spekulation bereits sprachlich vollzieht : Wir haben zum Teile die Sätze dieser Wissenschaften noch als totes Eigentum in den Büchern oder Lehrzimmern, zum Teile haben wir sie erst auf die Gewerbe, auf den Handel, auf den Bau von Straßen und ähnlichen Dingen verwendet, wir stehen noch zu sehr in dem Brausen dieses Anfanges, um die Ergebnisse beurteilen zu können, ja wir stehen erst ganz am Anfange des Anfanges. Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können,
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wenn wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können ? Werden die Güter der Erde da nicht durch die Möglichkeit des leichten Austausches gemeinsam werden, daß allen Alles zugänglich ist ? (4.2, 227)
Diese Entgrenzung durch Wissenschaft und Sozialisierung der Güterverteilung führt in dieser Prognose freilich zu einer Herrschaft der Geschwindigkeit, zu dem also, was schon Goethe geahnt hatte, der zweideutigen Macht des Veloziferischen.358 Im Diskurs unserer Tage nennt sich dieses Phänomen nach Peter Sloterdijk die „kinetische Revolution“. Wichtig nun ist, dass der Ich-Erzähler des Nachsommer diese These seines Gastfreundes zwar unwidersprochen akzeptiert, aber alles daran setzt, durch sein atemvolles, emphatisch bedächtiges, wenn nicht langsames Erzählen diesem Veloziferischen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er setzt auf eine längere Übergangsphase, die ‚ruhiger und in ihren Folgen dauernder‘ sein solle. Mehr noch : Fortan wird er intensiver als bisher Grenzzeichen wahrnehmen, die „Grenzeiche“ etwa (4.3, 22), und am Ort seiner künftigen Bestimmung Wege ausfindig machen, die Tangenten gleichen. Das Prinzip Approximation erhält in seiner Beschreibung den Namen „Berührweg“ (4.3, 15). Die Betonung der Umgrenzung von Feldern und Gärten will der Geschwindigkeit, die ‚draußen‘ herrscht, symbolisch Einhalt gebieten. Und gegen die pfeilschnelle Dynamik der wissenschaftlichen Entwicklung, in welche die innig-sinnige Naturbetrachtung im Geiste des „sanften Gesetzes“ umzuschlagen droht, setzt Heinrich auf entschleunigende wiederholte Gänge entlang des ‚Berührweges‘ mit seinen künftigen Schwiegereltern (4.2, 238). Dass mit dem „Berührweg“ auch eines der diversen erzähltechnischen Verfahren Stifters einen Namen gefunden hat, der das vorsichtige Herangehen an den Erzählgegenstand meint, steht außer Frage. Wohl erst bei Heimito von Doderer wurde jedoch diese Berührweg-Konzeption des Schreibens zu einem übergeordneten Thema, und zwar in der Art wie er die Tangente zu einer Erzähl- und Reflexionsfigur erklärte.359 358 Vgl. bes. dazu Manfred Osten : ‚Alles veloziferisch‘ oder : Goethes Entdeckung der Langsamkeit. Frankfurt am Main/Leipzig, 2003. 359 Vgl. dazu Rüdiger Görner, ‚Doderers tangentiales Schreiben. Zum Umriß einer Ästhetik‘. In : Gerald Sommer und Wendelin Schmidt-Dengler, ‚Erst bricht man Fenster. Dann wird man selbst eines.‘ Zum 100. Geburtstag von Heimito von Doderer. Riverside 1997, S. 69–70.
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So reich, so vielfältig sich die Begegnung des Nachsommer-Ichs mit der Landschaft gestaltete, Stifter lernte auch das Gegenbild kennen. Am Ende des bereits zitierten Briefes an Gustav Heckenast vom 20. Juli 1857 gesteht er : Da wir in der Gegend von Duino das Meer verließen, war der Eindruck fast niederschlagend, und die Gegend des Karst sah uns an wie Fließpapier. Und doch ist die Öde des Karst auch merkwürdig, und sein Bild haftet in meiner Seele […] (XIX, 39).
Es ließe sich argumentieren, dass Stifter hier erlebte, was er in verwandelter Form bereits beschrieben hatte, die Dürre und Karstwelt im Heidedorf etwa oder den ‚ausgeleerten Nachthimmel‘ in Der Heilige Abend / Bergkristall. Der Horizont der Natur, in welcher sie sich ihm auch immer darstellte, blieb als Grenzwert des Erzählens bekanntlich das Signum seiner Kunst. ‚Nachkommenschaften‘ als spätromantisch-realistisches Paradigma Von einer ganz anderen Art Öde ist dann in Stifters letztem gewichtigen Wort in Sachen Kunstschaffen die Rede, nämlich in seiner Anti-Künstlernovelle Nachkommenschaften (1864). Der Ich-Erzähler dieser Novelle mit dem bezeichnenden Namen Roderer wird „unversehens ein Landschaftsmaler“ und beabsichtigt zunächst, so viele Landschaften zu malen, dass am Ende seines (wie er hofft) langen Lebens „fünfzehn zweispännige Wagen mit guten Rossen“ (3.2, 26) mit Bildern voll gepackt werden können. Vor allem haben es ihm die Goldrahmen angetan, also der Grenzbereich des Bildes, derentwillen er diese Bilder malen will. Mit dieser Novelle war Stifter – gleichfalls „unversehens“ – nach Absurdistan gelangt. So lässt er sein Künstler-Ich vom Bau eines idealen Künstlerateliers träumen, und zwar am Ufer des Gosausees, dem Dachstein gegenüber, „mit sehr großer Glaswand“, um darin das perfekte Bild vom Dachstein zu schaffen. Am Ende aber gibt er diesen Traum auf, weil er befürchtet, dass „die Sache bekannt“ werden könnte und „die Zeitungen davon reden“, Reisende würden vorbeikommen, namentlich „Engländer werden auf den Höhen herumsitzen und mit Ferngläsern auf dein Häuschen schauen“ (3.2, 29). Was Roderer durch seine Art der Kunst, einer mit Jochen Schmidt gesagt, „tautologischen Reproduktion“360, letzt360 Deutsche Künstlernovellen des 19. Jahrhunderts. Hg. u. mit einem Nachwort v. Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 1982, S.438.
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lich erreicht, ist die Selbstentmachtung des Künstlers. Er ‚rodet‘, was an Sinnfiguren in der Kunst noch übrig war. Seine künftige Frau, Susanna, auch eine Roderer und Tochter eines entfernten Verwandten, fordert von ihm : „[…] du mußt deine Gewalt, die ich an dir sehe, auf irgend etwas Großes wenden und es erreichen, dann lieb’ ich dich grenzenlos“ (3.2, 80). Die Konzentration auf ein großes Bild, nicht auf Massenware, scheint von Susanna gefordert, Selbstbeschränkung, um schrankenlose Wirkung zu erzeugen. Er dagegen hatte vor, massenweise Moorbilder zu malen : „Moor in Morgenbeleuchtung, Moor in Vormittagsbeleuchtung, Moor in Mittagsbeleuchtung, Moor in Nachmittagsbeleuchtung […]. Moor im Regen hatte ich mir schon vorgenommen […] über das Moor im Nebel habe ich noch nicht nachgedacht“ (3.2, 38). Ironischer, absurder hat Stifter selten geschrieben, wobei er diese Kaskade des Sinnlosen noch dadurch überbietet, dass dieses von Friedrich Roderer geforderte ‚Große‘, ‚Einmalige‘ an künstlerischer Tat am Ende aus einem Autodafé besteht : Roderer verbrennt seine ganzen Selbstreproduktionen einschließlich der Rahmenhölzer, der Entwürfe, Pinsel und Paletten. Nur dadurch, durch diese wirkliche Grenzerfahrung, der Zerstörung des prominentesten, aber wertlosen Teils seiner Identität, gelingt ihm ein Stück Selbstbefreiung. In Nachkommenschaften führt Stifter konstrastives Erzählen paradigmatisch vor. Was wir hier vor uns haben, kann als parodistischer und dennoch ernst gemeinter Gegenentwurf zum Nachsommer gelesen werden. Handelt es sich doch um eine Parodie des genealogischen Prinzips (sogar die „kurzen, braunen Vollbärte“ der Roderers gleichen sich über die Generationen !) und des generativen Schaffens. Roderers Hervorbringungen verdanken sich reinem Epigonentum, wobei nicht einmal mehr das unmittelbare Vorbild dieses Epigonen erkennbar wird ; allenfalls ließe sich sagen, dass er zum Epigonen eines ganzen Genres wird. Aufschlussreich ist, dass dieser epigonale Künstler nur von seinem entfernten Verwandten, einem passionierten Genealogen, in seiner Kunst – wenn auch auf paradoxe Weise – bestätigt wird : Ihre Entwürfe, die ich genau angesehen habe, gehören zu dem Allerbesten, was die neue Kunst hervorgebracht hat, an Wahrheit übertreffen sie alles, was jetzt da ist ; und ebendeswegen werden Sie eines Tages sagen : das ist doch noch nichts als leeres Getue, ich werfe es zum Teufel (3.2, 50).
Was denn auch, wie gesehen, geschieht. Denn man könnte sagen : Die Moor-Bilder versinken in der künstlerisch nicht bewältigten Tiefe ihrer Naturvorlage.
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Eigenartig genug : Die Arbeit an Nachkommenschaften und Stifters parodistischer Umgang mit dem Problem Herkunft fällt in jene Zeit, in der er seine stille, aber ironieferne Feier des Genealogischen, Die Mappe meines Urgroßvaters, umzuarbeiten beginnt. Das weite Land der Herkunft will Grenzen, will pseudoanalytisch erfasst werden, um ein Wort über die Steppe aus seiner Erzählung Brigitta umzumünzen. Zu ermitteln, was die Grenzen des Besitzens und des Wollens sind, war für Stifter eine vorrangige ethische Aufgabe, wobei seine Kunst, im Erzählerischen fließende Übergänge zwischen Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Bewusstseinsebenen zu schaffen, zur Errichtung „sanfter Grenzen“ seiner Prosa und zu einer unwiderstehlichen Langsamkeit führte. Begann die Welt in Stifters Zeit sich auf „Accelerationen“ einzustellen, sogar in der bewegten Gestalt des Walzers, so setzte er mit seiner Sprachkunst auf Bedacht und Approximation, die allein schon im Tangentialen, in der bloßen Berührung ein Ereignis sah. Wer aber unter den schreibenden oder lesenden „Nachkommenschaften“ kann ihn wirklich noch unbehelligt entlang gehen, diesen „Berührweg“ im Nachsommer, wo die Grenzerfahrung zum scheinbar beliebig wiederholbaren sinnlichen Erlebnis werden konnte. Dass freilich planloses Wiederholen, Stifter spricht an einer Stelle vom ‚öden Kreislauf immer dasselbe zu erzeugen, und zu zerstören‘, einem überraschend frühen Zweifel am Prinzip Natur (in : Ein Gang durch die Katakomben, XV, 47–68, hier : 61), dass ein solches Verständnis von Wiederholung „gräßlich absurd“ sein müsse, ahnte er dunkel. Bei Stifter wird, sub specie modernitatis gedacht, das Widerspiel von Grenzsetzungen und angedeuteter Transgression zum Vorspiel kultureller Formationen. Wir haben es gelegentlich gestreift, Stifters Verhältnis zum Absurden. Nach eigenem Zeugnis kam er durch die Lektüre Jean Pauls und E.T.A. Hoffmanns auf den Geschmack, von Zeit zu Zeit Absurdes zu denken, das im frühen Stifter und noch im Autor der Nachkommenschaften ins Satirisch-Melancholische umschlagen konnte.361 Stifter als junger Dichter sprach ausführlich von seinen Grenzerfahrungen, etwa in einem an Mathias Greipl gerichteten Brief vom 4. Juli 1830, in dem es heißt, dass jedes Ausschweifen, sinnlicher und intellektueller Art, die „Überschreitung einer natürlichen Gränze“ darstelle (XVII, 26). Er weiß, dass er versucht war, „die Gränzen eines heiter-ruhigen Lebens [zu] überschreiten und in die Extreme [zu] fallen“. Gerade diesen Aspekt griff ein intensiver Stifter-Leser, Rainer Maria Rilke, in seinem 1913 entstandenen Essay Über den jungen Dichter, auf und machte diese Neigung des (frühen) Stifter im Sinne einer modernen 361 Vgl. etwa den Brief vom 16. August 1832 an Adolf von Brenner (nach : SW XVII, 29f.).
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Ästhetik anschlussfähig.362 Rilke spekulierte, dass für Stifter „sein innerer Beruf in dem Augenblick unvermeidlich geworden sei, da er, eines unvergeßlichen Tages, zuerst durch ein Fernrohr einen äußert entlegenen Punkt in der Landschaft herbeizuziehen suchte und nun, in völlig bestürzter Vision, ein Flüchten von Räumen, von Wolken, von Gegenständen erfuhr, einen Schrecken von solchem Reichtum, daß in diesen Sekunden sein offen überraschtes Gemüt Welt empfing.“ Wobei er seine mythologisch-erotische ‚Abschweifung‘ hinzufügte : „wie die Danaë den ergossenen Zeus“.363 Stifters Prosa scheint an jeder Stelle Ergebnis einer solchen Überwältigung und versuchten Bewältigung schierer Fülle und in Bewegung geratener Grenzen zu sein, die er jedoch Satz um Satz auch wieder neu zu ziehen bemüht war. Was aber an Leerem, an Zwischenräumen zwischen diesen Sätzen und syntaktischen Linien- und Grenzführungen blieb, hat er selbst als „schmerzvoll“ bezeichnet.364 Dieser Schmerz wurde dann in der so genannten Moderne vielleicht noch akuter, durchdringender, zur condition d’écrire schlechthin. Und nicht einmal der scherzhafte Ernst so mancher postmoderner Nachspieler konnte diesen Schmerz ganz betäuben.
362 Vgl. zu den biographischen Umständen vor allem : Joachim W. Storck, Adalbert Stifters ‚österreichisch‘. Die Sprache des Erzählers in der Deutung Rilkes. In : Adalbert Stifter Heute, S.152– 167. 363 Rainer Maria Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. v. Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski und August Stahl. 4. Bd., Frankfurt am Main/Leipzig 1996, S.674 f. 364 Vgl. Swales, The Doubly Woven Text, a.a.O. S.39.
„Das Farbenwesen im Regentropfen“ im Regentropfen“ XIV „Das Farbenwesen
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Gottfried Kellers p lurale Ontologie des Anscheins in Kleider machen Leute
Zum Spiel mit dem Schein gehört die Auffassung von der Pluralektik der Wirklichkeiten. Romantische Gabe war es, Welt als gelebte und imaginierte Welten zu begreifen sowie in der Wirklichkeit Vielheiten wirken zu sehen. Nur in Form von Wirklichkeiten konnte die romantische Theorie und Schreibpraxis Erfahrung analysieren, imaginieren oder gestalten. Wie das Beispiel Stifters erwiesen hat, lohnt die Untersuchung des Wirklichkeitsverständnisses besonders bei jenen Schriftstellern, in deren Werk Wirklichkeitsschilderungen und die Vorstellung seelischer Empfindungen ineinander übergehen und die Grenzen zwischen Emotion und Realie fließend sind. Was diese Grenzen ins Fließen bringt, ist oftmals der subtile Einsatz ironischer Erzählweisen. Nachfolgend soll das am Beispiel vom Gottfried Kellers Novelle Kleider machen Leute veranschaulicht werden. In ihr werden ‚Kleider‘ zu parodistischen Erscheinungsformen innerer Ambitionen, oder auch zu Mustern im Sinne der Pluralektik interagierender Wirklichkeiten und Illusionen. Diese Novelle führt vor, wie Illusionen qua Kleidung zu Wirklichkeiten erklärt und Wirklichkeiten verkleidet werden. Zu zeigen ist gleichfalls, dass sich Keller mit diesem travestierenden Erzählverfahren in eine nicht unbeträchtliche Tradition kleidungstheoretischer Ansätze stellte, die sich an einer (nicht nur parodistischen, sondern auch gesellschafts- und kulturkritischen) Ontologie des Anscheins versuchten. Im Verkleiden der Gefühle und im Spiel mit dem Anschein gewinnt Kellers Novelle den Charakter eines Paradigmas der Spätromantik ; arbeitet sie doch mit der Parodie des Überflüssigen. Denn die Spätromantik verstand sich auf den Umgang mit Redundanzen. Ironischer Realismus Ob das Täuschen vor allem des Schneiders Lust ist ? Ob diese ‚Lust‘ sich schließlich als Selbsttäuschung erweist ? Ob damit nicht auch alle Versuche der Selbsterkenntnis ad absurdum geführt werden ? Wem kämen Fragen dieser Art beim Lesen (und vor allem Wiederlesen) dieser wohl bekanntesten Seldwyla-Episode nicht in den Sinn ? Das gefertigte Ding, die Kleidung, erweist sich als handelndes Subjekt, wo-
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mit es seine zweckentfremdete Bestimmung eigendynamisch erfüllt. Daran kann auch der scheinmoralische Schlussteil der Novelle Kellers nichts ändern. Mit „Kleidern“ können im Seldwyla-Zyklus auch Namen gemeint sein. Das belegt eine weitere Novelle des Zyklus, die ein Sprichwort erzählend auslegt : In Der Schmied seines Glückes nennt sich ein gewisser Johannes Kabis um sich selbst einen vielversprechenderen „angelsächsisch unternehmenden Nimbus“ zu verleihen John Kabys.365 Die Frage nach dem vermeintlich persönlichkeitsbildenden Wert von Kleidung drängt sich in unserer Zeit, die im Zeichen von Mode- und Konsumdiktaten steht, verstärkt auf und hat inzwischen auch Eingang in populärwissenschaftliche Diskurse gefunden.366 Gottfried Keller hat in seiner Novelle diese Frage vor dem Hintergrund der (schweizer) Reaktionen auf den polnischen Aufstand von 1863/64 und seiner eigenen Erfahrungen als Sekretär des Zürcher Komitees zur Unterstützung der Polen erörtert, indem er seinen Protagonisten, Wenzel Strapinski, aus dem kulturellen Grenzraum Schlesien stammen lässt.367 Er ist ein Migrant, der aufgrund seiner Kleidung polnisch aussieht, ohne aber wirklich polnisch zu sein. W.G. Sebald hat darauf aufmerksam gemacht, dass auch diese Novelle im Zusammenhang mit dem von Keller scharf beobachteten Auseinandertreten von Eigen-und Gemeinnützigkeit zu sehen sei.368 Er sieht im Ort des Geschehens, in Goldach, eine „Art moralisches Utopien“, in dem sich vor allem eines zeige : ‚der Prozeß der Verdinglichung unserer besseren Ideen‘.369 Und diese Immobilien365 In : Gottfried Keller, Sämtliche Werke, Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. unter der Leitung v. Walter Morgenthaler, Bd. 5 : ‚Die Leute von Seldwyla‘. Zürich/Frankfurt am Main 2000, S.63 Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich alle weiteren Keller-Zitate auf diese Ausgabe (mit Band- und Seitenzahl). 366 Cf. Catherine Joubert/Sarah Stern, Zieh mich aus ! Was Kleidung über uns verrät. Aus dem Französischen von Christiane Seiler. München 2006. 367 Cf. Adam Lewak (Hg.), Gottfried Keller und der polnische Freiheitskampf vom Jahre 1863/64. Akten und Briefe. Zürich/Leipzig/Berlin, 1927 ; Margarethe Rothbarth, ‚Das Urbild Strapinskis in Kleider machen Leute‘, in Neue Züricher Zeitung Nr. 1873 (22.11.1942). Cf. auch den Kommentar in Keller, Werke, a.a.O., 21, 40, der auf Kellers Tätigkeit als Sekretär des Zürcher Komitees zur Unterstützung der Polen ab 1863 verweist und auf seine Erfahrungen mit dem Hochstapler Julian Schramm, der sich in besagtes Schweizer Polenkomitee eingeschlichen hatte. 368 W. G. Sebald, ‚Her kommt der Tod / die Zeit geht hin. Anmerkungen zu Gottfried Keller‘, in Sebald, Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere. München/Wien 1998, S.97–126, hier : S.99. 369 Sebald, ‚Her kommt der Tod‘, a.a.O., S.100.
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Verdinglichung moralischer Werte betrachtet Strapinski mit gläubigem Staunen ; treten sie doch als Häusernamen in Goldbuchstaben in Erscheinung : die Redlichkeit, die Hoffnung, die Liebe, das Recht und das Landeswohl. Zunächst lassen die Goldacher den dem Anschein nach edlen Fremden nicht zu Wort kommen, will sagen : Strapinskis vermeintlich polnischer Akzent kommt nicht zur Sprache. ‚[…] er hatte einst einige Wochen im Polnischen gearbeitet und wusste einige polnische Worte, sogar ein Volksliedchen auswendig, ohne ihres Inhalts bewusst zu sein, gleich einem Papagei‘ (V, 27). Das kommt Strapinski zugute, als man ihn bittet, ein polnisches Lied zu singen. Das KathinkaLied, das allen gefällt und niemand versteht, gehört nun zu des Fremden Kleidung ; es ist gleichsam seine akustische Maske. Wie spät es ist in Seldwyla Keller hatte in der Einleitung zum zweiten Seldwyla-Band (1873) den unpolitischen Charakter der Seldwyler betont (V, 9 f.), was auch für die Goldacher zutrifft, die den vermeintlichen Polen mehr als fremden Exoten bestaunen, ohne nach den Gründen für seine Migration zu fragen. Nettchens entwaffnend naive Reaktion auf das ‚Polenlied‘ ist hierfür symptomatisch : ‚Ach das Nationale ist immer so schön !‘ (V, 28). Zu bedenken ist jedoch, dass diese Keller-Novelle in weiteren kleidungsspezifischen Diskurszusammenhängen steht, denen nachfolgend etwas ausführlicher nachgegangen werden soll. Da ist zunächst einmal Jean Pauls „Komischer Anhang zum Titan“ zu nennen, der „Luftschiffer Giannozzo“, der auf seiner zehnten Fahrt eine „Kleiderordnung für sämtliche einwohnende Bücher unsers Landes“ entwirft. In ihr heißt es unter anderem : Bettler prunken schon in kouleurten humoristischen Habiten, aus einem teurn Gehäcke von allen Zeugen genäht, als wandernde Farbenpyramiden wie Motten einher, indes ihr Stand ihnen zuruft, gleich Grazien und Würmern bloß den spartischen Schleier der allgemeinen Zucht um sich zu schlagen ; wir wollen aber hoffen, dass es nur ausländische Bettler sind, welche freilich die spartische Nationalkleidung unseres Landes nichts angeht. Allein bei den Büchern ist der Kleiderluxus ebenso klar als enorm. Geistliche, andächtige Werke, die sonst im bescheidnen Priester-Ornat und Trauermantel einherwandelten, kleiden sich wie Gecken nach englischem Schnitt und tragen Tressen und reden doch von Gott.
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[…] Die sogenannten Monatsschriften haben zwar nichts an sich als die Haut, tätowieren sich aber diese bunt. […] Wir etc. etc. können nun nicht länger zusehen, dass das Gold und die Farbe, die sonst der Chrysograph und Rubrikator in die Bücher anbrachte, jetzt wie oft bei den Besitzern nur außen an ihnen klebe […] es soll jetzt von Uns verordnet werden, dass die sämtlichen Bücher-Schneidermeister, anstatt Tuchlieferanten zu sein, bei ihrer Heftnadel bleiben und nur Buchhefter, aber nicht Buchbinder sind.370
Was sich nach einer bloßen Grille anhört oder einer weiteren bizarren Phantasie des Luftschiffers, erweist sich nicht nur als hintergründige Demaskierung des Literaturbetriebs, der (schon damals) mehr auf Verpackung setzte und weniger auf Inhalte ; die „Kleiderordnung für Bücher“ schreibt ein Leseverhalten fest, das von der Maxime ausgeht : Einbände machen Bücher und Einbände werden als sinnliches Ereignis goutiert. Das sich à la mode kleidende Buch, das schon auch ‚im deminegligé broschiert‘ daher kommt, imitiert so das (Ver-) Kleidungsbedürfnis des Lesers und wird so zu dessen Spiegel. Der Eitelkeit des Buches scheint der Einband und seine Aufmachung zu schmeicheln. Bei Jean Paul folgt auf diese Episode bezeichnenderweise Giannozzos Betrachtung des Wechselverhältnisses von Meer und Sonne : „Welcher Goldblick ! Im Abendrot glüht Aurora an.“371 Damit impliziert der Luftschiffer einen bestimmten prunkenden Einband des Buches der Natur, das er jedoch kaum zu lesen weiß ; denn dessen „Kleid“, eben der Einband, blendet das Auge nur zu sehr. Schwer zu entscheiden ist, was hier als Metapher, was als unvermittelter Ausdruck gemeint ist, auch wenn diese Differenzierung nach dem Verständnis der modernen Metapherntheorie keinen Sinn machen kann.372 Offensichtlich ist jedoch, dass die metaphorische Dimension dieses Diskurses Vorläufer bei Herder und Lichtenberg hat. Herders großzügige Verwendung von Metaphern stieß schon bei seinen Zeitgenossen auf Kritik, die ihm vorwarfen, durch und aus Metaphern Kleider gemacht zu machen.373 370 Jean Paul, Werke in drei Bänden, Band II. Hg. v. Norbert Miller, 4. Aufl. München 1986, S.711f. 371 Ebd., S.713. 372 Cf. u.a. Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München 1986. 373 Cf. den aufschlußreichen Aufsatz von Wolfgang Müller-Funk, Der Leib des Schriftstellers – Die Seele des Lesers. Auch eine Theorie der Metapher : Georg Christoph Lichtenbergs ‚Sudelbücher‘, in Sprachkunst XXVIII (1997), S. 1–14, S. 9. ‚Mag sich doch derjenige, dessen Vermögensumstände schwach oder zweifelhaft sind, durch ein reiches Kleid Kredit zu verschaffen suchen, aber
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Lichtenberg nun hatte eine „Metaphern-Ordnung so wie eine Kleider-Ordnung“ erwogen.374 Wofür Lichtenberg plädierte, war eine (anti-puristische) Aufwertung des metaphorischen Sprechens ; denn der Metapher billigte er eine regelrechte Intelligenz zu, die jene ihres Verfassers oft überschreite.375 Dieser Eigenwertigkeit der Metapher entspreche dann auch ihre Eigendynamik, die sie in Diskursen entfalte ; mithin billigt Lichtenberg der Metapher einen ontologischen Wert zu wie implizite auch der Kleidung. Ganz so wie die Metapher mehr ist als nur Ornament der Sprache, käme auch der Kleidung eigene „Substanz“ zu. Darin mag man in der Tat den „Kern des sinnlichen Denkens“ von Lichtenberg und dessen Begründung sehen.376 Das Kleiden als poetischer Akt Was bedeutet das nun für die Deutung der Kellerschen Novelle ? Ihre metaphorisch-allegorische Bedeutung, aber auch ihre soziale Aussage haben einen Problemkern, der am sinnfälligsten mit dem nur vermeintlichen Paradox einer Ontologie des Anscheins bezeichnet wäre. Damit ist zweierlei gesagt : zum einen, dass der (An-)Schein durch die Erzählung einen quasi ontologischen Status gewinnt, und zum anderen, dass die Ontologie durch das Scheinhafte geschwächt, womöglich untergraben, gar als an sich scheinhaft enttarnt wird. Strapinskis Identität definiert der Erzähler genau : „So ward er [Strapinski] rasch zum Helden eines artigen Romanes, an welchem er gemeinsam mit der Stadt und liebevoll arbeitete, dessen Hauptbestandteil aber immer noch das Geheimnis war“ (V, 33). Wohlgemerkt, nicht im Sinne eines „mysterium tremendum“, sondern eines „mysterium ridendum“ ; denn die schiere Lächerlichkeit dieser Mystifikation läge für jeden kritischen Beobachter dieser Szenen auf der Hand. Strapinski wird zum Projekt seines eigenen Verhaltens und zum Objekt wie Produkt des Goldacher Willens zur Vorstellung. Indem er autobiographisches Erzählen verweigert, sich also nicht selbst erzählt, lässt er nur sein Verhalten sprechen. Dass er sich dabei auch entwickelt, steht für den Erzähler außer Frage. In zwei Sätzen leuchtet buchstäblich wer wirklich und dafür bekannt ist, kann es wagen, sich simpler zu kleiden.‘ So Herders Kritiker Christian B. H. Pistorius (ibid). 374 In : Georg Christoph Lichtenberg, Die Sudelbücher. In : Lichtenberg, Schriften und Werke. Band I. Hg. v. Wolfgang Promies. München/Frankfurt am Main 1968/94, S. 484 (F163). 375 Lichtenberg, Sudelbücher, a.a.O., S. 512 (F369). 376 Müller-Funk, Der Leib, a.a.O., S. 12.
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ein Bildungsroman in nuce im Zeitraffer auf, dessen metaphorische Wirkung an Stifters Prosa erinnert : „Mit jedem Tage wandelte er sich, gleich einem Regenbogen, der zusehends bunter wird an der vorbrechenden Sonne. Er lernte in Stunden, in Augenblicken, was andere nicht in Jahren, da es in ihm gesteckt hatte, wie das Farbenwesen im Regentropfen“ (V, 33). Strapinski kleidet sich mit dem, was man ihm zuträgt. Den Goldachern, die selbst den schmuckesten Ort bewohnen, der sich denken lässt, fehlt nur eines : ein Exot ; und dieser angebliche fremde Aristokrat soll nun diese Rolle übernehmen. Sie wollen ihn zu ihrem „Ereignis“ machen ; er soll ihnen ihren Reichtum und ihre Phantasien verkörpern. Aufklärung, Philanthropie, orientalische Märchenwelt und Gewerbefleiß nebst Fabrikantenpoesie leben in Goldach Seite an Seite. Aber nicht sie, nur Strapinski könnte dergleichen repräsentieren ; daher erklären sie ihn zu ihrem Projektionskörper, ein Fleisch gewordener Kleiderständer. Strapinski, der zunächst eher wie ein Landstreicher oder eine Vogelscheuche wirkt, soll unter der Aufsicht der Goldacher zu ihrem Paradiesvogel mutieren. Als ihre Kreation kann er zu ihrem Spiegel werden. So wollen sich alle Goldacher Hinterwäldler sehen : als exotische Adelige, die vor lauter Weltläufigkeit nicht wissen wohin – und daher auch nach dieser Verwandlung nur allzu gerne in Goldach bleiben. ‚Allerley-Wissenschaft‘ als pluralektische Übung : ‚Sartor Resartus‘ zum Beispiel „Die Kleider, ihr Werden und Wirken“, so lautet der Titel des wohl bekanntesten fiktiven Buches über diesen Themenbereich im Englischen. Sein Verfasser führt den Namen Diogenes Teufelsdröckh, seines Zeichens „Professor der AllerleyWissenschaft“ ; verlegt wurde das Buch vom Verlag „Stillschweigen & Company“ in einem deutschen „Weißnichtwo“ im Todesjahr Hegels. Es ist ein Buch „of boundless, almost formless contents, a very Sea of Thought“377, mit dem sich der fiktive Herausgeber einer geplanten Biographie über Teufelsdroeckh und Herausgeber weiterer Arbeiten dieses Allerleyisten in Thomas Carlyles skurrilem Roman 377 Thomas Carlyle, Sartor Resartus. Edited with an Introduction and Notes by Kerry McSweeney and Peter Sabor (Oxford, 1999), S. 8. Die beste greifbare Ausgabe im Deutschen : Thomas Carlyle, Sartor Resartus. Leben und Meinungen des Herrn Teufelsdroeckh, Übersetzung aus dem Englischen, Nachwort und Anmerkungen von Peter Staengle. Zürich 1991.
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Sartor Resartus (1833/34) beschäftigt. Carlyles Roman, der deutliche Spuren Jean Paulscher Ironie aufweist, erschien erstmals 1855 in deutscher Übersetzung. Somit bestand zumindest die Möglichkeit, dass Keller diesen Text gekannt haben könnte, zumal einer seiner engsten Vertrauten, Hermann Hettner, Anglist und Verfasser einer englischen Literaturgeschichte gewesen war.378 Etwa im „Ersten Buch“ seines Romans liefert Carlyle Ansätze zu einer Philosophie der Kleidung, die zumindest in Analogie zu Kellers Novelle gelesen werden können, weil sie die Interaktion im Vielerlei gleichsam einkleiden. Der Roman versteht die Kleidung als Maske des Körpers, wobei die erste Hauptthese von Teufelsdröckhs „Philosophie“ folgendes besagt : „Clothes gave us individuality, distinctions, social polity ; Clothes have made Men of us ; they are threatening to make Clothes-screens of us.“379 Später weiß der Erzähler noch von Thesen dieses Allerweltsgelehrten zu berichten, die er zwar als „close-bordering on the impalpable Inane“ diskreditiert,380 die jedoch eine keineswegs sinnlose Metapherntheorie beinhalten. Sie geht davon aus, dass alles Sichtbare emblematisch zu deuten sei : „Hence Clothes, as despicable as we think them, are so unspeakably significant. Clothes, from the King’s-mantle downwards, are Emblematic, not of want only, but of a manifold cunning Victory over Want.“381 Bekannt ist, dass Carlyle diese Art des Philosophierens, das seinerseits etwas Emblematisches hat, von Jonathan Swift und seiner satirischen Kleidertheorie in A Tale of a Tub abgeleitet hatte. Dort findet sich die These, dass die Verehrer des Schneiderwesens, die nicht davor zurückschreckten, den Schneider zu einem Götzen zu erklären, des Glaubens waren, das Universum sei „a large suit of clothes which invests everything“382 – das Wort im Sinne von Investitur verstanden, also „einkleiden“. Zu dieser Einkleidung der Welt gehört auch die Metaphorisierung ihrer Sprachen oder treffender : durch ihre Sprachen. Carlyles abstruser Gelehrter schlug gar eine Kodifizierung dieses Prozesses vor ; analog zu Montesquieus Esprit des Loi sollte es eine gesetzestheoretische Studie über den Esprit des Costumes ge-
378 So kommt Carlyle in deren Briefwechsel nicht vor. Jürgen Hahn (Hg.), Der Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Hermann Hettner. Berlin/Weimar 1964. 379 Carlyle, Sartor Resartus, a.a.O., S. 32. 380 Ebd., S. 58. 381 Ebd., S. 56. 382 Jonathan Swift, A Tale of a Tub and Other Works. Hg. und mit einer Einleitung von Angus Ross und David Woolley. Oxford 1986, S.36.
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ben.383 Davon wiederum will er eine Ursache-Wirkung-Philosophie von Kleidern ableiten, deren erzählerisch-sinnliche Seite in Kellers Novelle de facto vorliegt. In dieser „Kleiderarchitektonik“ übernehmen dann die Farben den Ausdruck der Gefühlswerte. In Kellers romantisch-poetischem Realismus nun spielt das „malerische Prinzip“ mimetischen Erzählens eine überragende Rolle.384 Und auch innerhalb dieses narrativen Ansatzes kommt der Farbe eine spezifische Bedeutung zu, die der Erzähler der Novelle Kleider machen Leute, wie gesehen, auf den Begriff das ‚Farbenwesen im Regentropfen‘ bringt. Dieser Ausdruck ist nicht nur Ergebnis von Strapinskis beschleunigtem Bildungsprogramm ; er kann geradezu als Leitwort von Kellers erzählkompositorischem Ansatz bezeichnet werden, sofern er sich um die Substanz im Schein und den Schein der Substanz bemüht, wie dies beispielhaft in Kleider machen Leute, aber etwa auch im Hadlaub der Fall ist. Die Erzählwelt stellte sich Keller als ein Orbis Pictus dar oder im Falle von Kleider machen Leute ganz im Teufelsdröckhschen Sinne als „Orbis Vestitus“.385 Kleiderphilosophie, bunte Stoffe als pluralektische Allegorie Kellers erzählpoetisches „Malen“ bejaht aus dem Blickwinkel des Realismus das Horazische ut pictura poesis-Prinzip, erweitert es aber in Kleider machen Leute um die Dimension des Travestierens. Denn die ‚Investitur‘ Strapinskis in einem Goldacher Gasthof ist in Wirklichkeit Travestie der wahren, sprich realen Verhältnisse. Die Farbenpalette in Kleider machen Leute gibt sich vergleichsweise bescheiden, verweista aber auf die bunte Vielfalt der Lebensmöglichkeiten : Gold dominiert, zumal in Goldach ( !), wo selbst die Kraftbrühe „braungold“ schimmert, Rot und zuletzt Dunkelgrün (der Samt von Strapinskis Mantel), das sich vom Schnee vorteilhaft absetzt und für Nettchen zu einer Signalfarbe wird (V, 49). Kellers eigentlicher Kunstgriff in Kleider machen Leute besteht bekanntermaßen darin, dass er die Entlarvung Strapinskis im Sinne der „Kleider-Philosophie“ durch einen Verkleidungsakt in Szene setzt. Mit einer Schlittenfahrt, einem Maskenzug und Maskenball, es ist Karnevalszeit, soll die Verlobung Strapinskis 383 Carlyle, Sartor Resartus, a.a.O., S.29. 384 Ute Schmidt-Berger, Nachwort zu Gottfried Keller, Hadlaub. Mit Bildern aus der Manessischen Liederhandschrift. Frankfurt am Main 1980, S. 152f. 385 Carlyle, Sartor Resartus, a.a.O., S. 30.
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mit Nettchen gefeiert werden. Die Seldwyler Schneiderzunft fährt unter dem Doppelmotto „Leute machen Kleider“ und „Kleider machen Leute“ vor (V, 40). Doch während des Maskenballs tritt der einstige Schneidermeister unseres zweifelhaften Helden in Erscheinung, und zwar in der Prachtgewandung des angeblichen Grafen von Strapinski. Er führt diesen buchstäblich vor nach der Art einer Travestie oder eines Spieles im Spiel, wobei nun den Kleidern eine entblößende Funktion und Wirkung zukommt. Das unausgesprochene Motto dieses Spiels heißt : Die Kleider durchschauen lernen, sie so scharf ins Auge fassen, bis sie ganz durchsichtig werden, eine nachgerade staunenswerte Entsprechung zu den in Carlyles Sartor vorgetragenen Thesen in Kapitel zehn, welches im Zitat des Kirchenvaters Chrysostomus gipfelt, der mit seinen „lips of gold“ verkündet hatte : „The true Shekinah is Man“.386 Wenn aber der Mensch die „wahre Schechina“, also die Gegenwart Gottes ist, dann ist er das nur in seiner Kleiderlosigkeit, im Zustand seiner leuchtenden Durchsichtigkeit. Indem Wenzels ehemaliger Meister die Hochstapelei seines verarmten Gesellen darstellt, bringt er ihn zu Fall, aber auch – zumindest partiell – zur Vernunft. Die eigentlich praktische Vernunft zeigt jedoch Nettchen. Nach Wenzels Fall steht sie zu ihm und fordert ihn auf, nachdem er sich wiederum in allzu phantasievollen Plänen zu verstricken droht : Keine Romane mehr ! Wie Du bist, ein armer Wandersmann, will ich mich zu Dir bekennen und in meiner Heimat allen diesen Stolzen und Spöttern zum Trotze Dein Weib sein. Wir wollen nach Seldwyla gehen und dort durch Thätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns verhöhnt haben, von uns abhängig machen (V, 57)!
Das wiederum zeigt, dass Nettchen eine Anwältin der listigen Vernunft geworden ist. Sie verleitet ihren Wenzel zu subtiler Rache, eine Rache, gegründet auf dem, worauf die Seldwyler selbst sich etwas einbilden : schieren Gewerbefleiß. Die Lust am Sich Einkleiden, die auch unter den Seldwylern verbreitet ist, diese Lust am Scheinzuwachs wollen sich die beiden zunutze machen. Regelrecht „abhängig“ sollen die Seldwyler von Strapinskis Schneiderkunst und Nettchens Geschäftstüchtigkeit werden. Unter Nettchens Einfluß entwickelt sich auch Wenzel zu einem homo oeconomicus, der zeigt, dass er durch das Fertigen von Kleidern zu einem „gemachten Mann“ geworden ist. Zuletzt entschließen sich die beiden als Arrivierte dazu, nach Goldach überzusiedeln, wobei die Wirksamkeit der Pointe 386 Ebd., S. 51.
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dieser Novelle durchaus fraglich ist : „Aber in Seldwyla ließ er nicht einen Stüber zurück, sei es aus Undank oder aus Rache“ (V, 62). Carlyles fiktive Philosophie der Kleidung lief auf eine Untersuchung des Dandys hinaus, der Körperschaft der Dandys, denen diese „Philosophie“ eine Tendenz zur Selbstvergötzung bescheinigte. Der Schneider stellt sich in dieser Körperschaft als Helfershelfer der Dandys dar ; er ermöglicht durch seine praktische Kunst, sein kleidsames Kunsthandwerk, dem Dandy seinen Auftritt. Laut Teufelsdröckh ist der Schneider eine Art Sklave im Luxussystem des Dandys. Im Schneider lebt zumindest latent die Sehnsucht danach, selbst einmal ein Dandy zu werden. Womöglich ist es dieses Sehnen, das ihn seine Lage ertragen lässt. Die Kleiderphilosophie in Sartor Resartus endet daher folgerichtig mit einem Kapitel, das zumindest die Emanzipation, wenn auch nicht die Dandyisierung des Schneiders, ja, seine Nobilitierung denkbar werden läßt. In der Verlobungs- und Karnevalsszene von Kleider machen Leute hat es dann den Anschein, als sei diese Nobilitierung vollzogen ; denn zunächst ‚thront‘ Strapinski als falscher Graf über dem Geschehen. Nach seiner Demaskierung und, wie gesehen, durch Nettchens Einfluss gelangt er zuletzt durch Aufbietung seines ganzen Gewerbe- und Kunsthandwerkfleißes in eine vergleichbare Stellung. Von Anbeginn ist freilich deutlich, dass Strapinski selbst als ‚armes Schneiderlein‘ ein geradezu dandyhaftes Verhältnis zu seiner eigenen Kleidung unterhält. Die einzigen Kleidungsstücke, die er besitzt, das „schwarze Sonntagskleid“ und „einen weiten dunkelgrauen Radmantel, mit schwarzem Samt ausgeschlagen“ (V, 11), passt nicht zu seiner sozialen Lage. Der Erzähler erläutert : Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, ohne dass er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde führte ; vielmehr war er zufrieden, wenn man ihn nur gewähren und im Stillen seine Arbeit verrichten ließ ; aber lieber wäre er verhungert, als dass er sich von seinem Radmantel und von seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die er ebenfalls mit großem Anstand zu tragen wusste (V, 12).
Die Kleidung versteht sich bereits hier als zweite Haut und geradezu existentielle Angelegenheit. Obgleich nicht mit täuschender Absicht angelegt, scheint ihr Träger doch prädestiniert oder zumindest anfällig zu sein für das, was der Erzähler wenig später die „selbstthätige Lüge“ nennt (V, 16), in die sich Strapinski im Goldacher Gasthaus verwickelt sieht. Dieser Selbsttätigkeit der Lüge, ihrer Eigendynamik setzt Strapinski fortan keinen Widerstand entgegen ; im Gegenteil, er lässt sich von ihr tragen und zu „äußersten Eulenspiegeleien“ verführen.
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Strapinski, ohne selbst wirklich zu lügen, wird zum Komplizen der Lüge. Er widerspricht keiner der Goldacher Mutmaßungen über ihn, wodurch er deren abstruse Phantasien nur weiter nährt. Diese Eigengesetzlichkeit des Lügens hat etwas Malerisches in seiner Phantasiehaftigkeit. Und genau dieses Wort gebraucht der Erzähler auch, um das Aussehen Strapinskis in seinem Radmantel zu beschreiben (V, 25), wobei das Wort „malerisch“ im Grunde gar nichts beschreibt, sondern nur beschreibende Assoziationen weckt und dadurch das Lügenhafte dieser und der folgenden Szenen noch potenziert. Wie das Klassische ins Spätromantische ‚leuchtet‘ Diese Art Erzählmodus hat Keller in seiner Miszelle Das goldene Grün bei Goethe und Schiller (1855) mittelbar begründet. Darin schreibt er : „Schon die gewöhnliche Sprechweise kann dazu verführen, nicht Zusammengehöriges in einem Bilde zusammenzustellen.“387 Sein Beispiel aus Schillers Lied von der Glocke lautet : „Die goldene Zeit, die ewig grünen“ möge. Das wiederum bedeutet, dass eine solche metaphorische Sprachpraxis wie ein unangemessenes Kleid zum Trug verleitet. Insofern hat Strapinskis Radmantel mit Samtfutter etwas von einer Metapher für das Romantische ; denn durch dieses Bekleidungsstück er sagt sich selbst aus. Es ist sein Ausdrucksmittel, seine Kleidersprache, die natürlich keineswegs identisch mit Körpersprache ist. In Sartor Resartus heißt dergleichen „sham Metaphors“ oder „superfluous show-cloaks“ (Putz-Mäntel).388 Keller kam auch in anderem Zusammenhang auf das Problem „Metapher“ zu sprechen ; so etwa in seinem Text Am Mythenstein (1861). Darin setzt er sich mit der poetischen Begründung des schweizerischen Nationalmythos und einer Schillerfeier am Rütli auseinander, wobei er folgende sprachkritische Beobachtung mitteilt : „Einer, der z.B. neue Metaphern zusammensucht, wird dadurch nicht wahrhaft neu, weil die Metapher überhaupt etwas Uraltes ist.“389 Bezeichnenderweise vergleicht Keller den Metapherngebrauch mit dem Einkleiden. Sein Beispiel heißt Richard Wagner, der durch die exzessive Verwendung des Stab387 In : Gottfried Keller, Gedichte und Schriften. Hg. v. Martin Vosseler. München, o. J., S. 110 (Hervorhebung vom Verfasser). 388 Carlyle, Sartor Resartus, a.a.O., S. 57. 389 Keller, Gedichte und Schriften, a.a.O., S. 131.
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reims „in die deutsche Vorwelt“ gegriffen habe, um damit „das Bewusstsein der Gegenwart“ zu „umkleiden“.390 Doch sei genau dieses Verfahren untauglich, um damit anhaltend Wirkung zu zeitigen, meinte Keller. Aufschlussreich ist der Mythenstein-Text für uns auch deswegen, weil Keller darin ein Szenarium entwirft, ob in ironischer Absicht oder nicht, das nicht nur rivalisierende Großchöre vorsieht, sondern „kostümierte Aufzüge“, symmetrisch einherschreitend, „einander begegnend und wiederkehrend“, das Ganze „in glänzenden, aber ruhigen Farbenmassen“.391 Das Auffahren der zahlreichen Schlitten zum karnevalesken Kostümfest in Kleider machen Leute hat noch etwas von dieser Großinszenierung, wobei die Erzählszene diese trachtenhafte Mythentravestie ihrerseits travestiert und auf ein (womöglich noch wirksameres) Mindestmaß reduziert. Gleichfalls im Jahre 1861 reflektiert Keller über eine neue Lieferung der Kritischen Gänge seines Freundes Friedrich Theodor Vischer. Dabei verweist er unter anderem auch auf dessen „vernünftige Gedanken über die Mode“ ; deren ironische bis, wie Keller meint, „tragikomische“ Dimension sei jedoch dann erreicht, als Vischer für die Suche nach Schneidern plädiert, die nach „Schnitt und Stil“ der vierziger Jahre Kleidung fertigten, also nach einem anachronistischen Schneider, der gegen die Mode arbeitet. Ihn nennt Keller einen „sich selbst überwindenden Meister“, dem dann ein Monument gebührte.392 Augenscheinlich bereitete sich Keller hier ein Terrain, auf dem dann die Novelle Kleider machen Leute gedeihen konnte. Darin stellt sich diese Frage jedoch anders. In „Mode“ ist unter den doch eigentlich gut republikanischen Goldachern offenbar (noch immer) das Aristokratische. Die Oligarchie der Zünfte liebäugelt offenbar weiterhin mit Adelsphantasien. Die Gegenwart des einen bestimmten Anschein erweckenden Fremden sieht sich von den Goldachern „umkleidet“ mit ihren Projektionen und Wunschvorstellungen. So betrachtet, wäre Strapinski eine lebendige Metapher, die aus divergenten, nur im Schein stimmigen Elementen, die „zusammengezogen“, auf ihn vereinigt werden, um auf diese Weise ihrerseits jenen Schein zu produzieren, den die Goldacher nur zu gerne sehen wollen. Kleidung, wenn sie zum Ornament wird und ihre nur schützende oder wärmende Funktion verliert, verhüllt die Wahrheit über den Körper, verweist dabei auf ihre eigene Wirklichkeit. So sehr sie verhüllt, enthüllt sie auch, und zwar einiges über den Charakter des sich auf eine bestimmte Weise Kleidenden. In sei390 Ebd., S. 133. 391 Ebd. 392 Ebd., S. 146.
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ner Untersuchung des Wechselverhältnisses von Verhüllung und Enthüllung und ihrer metaphorischen Bedeutung bei Freud sprach Hans Blumenberg vom „Kleidungsbedarf des latenten Traumgedankens“.393 Wenn damit gemeint ist, dass sich die Träume durch den Träumenden „Kleider“ suchen, welche die inneren Bilder nach außen hin zur Schau tragen, dann könnte man behaupten, Strapinskis latente Träume fanden in Goldach ihr angemessenes „Gewand“ und damit den adäquaten Ausdruck. Aufschlussreicher für diesen Zusammenhang ist jedoch die betont intensiv erzählte Episode von Strapinskis Fall und Erhebung durch Nettchens Liebe. Nach der fatalen Enthüllungsszene stellt sie sich Fragen, von denen der Erzähler sagt, sie seien mehr „geträumt als gedacht“ gewesen (V, 48). Zu diesen Fragen gehören die folgenden : Was sind wir selbst, daß wir wegen einer lächerlichen Fastnachtslüge glücklich oder unglücklich werden ? Was haben wir verschuldet, wenn wir durch eine fröhliche gläubige Zuneigung Schmach und Hoffnungslosigkeit einernten ? Wer sendet uns solche einfältige Truggestalten, die zerstörend in unser Schicksal eingreifen, während sie sich selbst daran auflösen, wie schwache Seifenblasen (V, 48)?
Nettchens Ruh’ war beinahe hin durch die Begegnung mit dem scheinaristokratischen Fremden ; ihr Herz hatte dadurch eine gewisse Schwere erlangt. Aber diese Traumfragen bringen sie dazu, ihre Fassung wiederzugewinnen, die zwar keine „Ruhe“ darstellt, sondern dazu befähigt, tätig zu werden, einzugreifen, ihren Wenzel zu retten. „[…] noch in der Erstarrung, am Rande des Unterganges, im Verlorensein“, halb erfroren geht von Strapinski auf Nettchen eine unwiderstehliche Anziehung aus. Ihre Traumfragen haben in der Tat einen Antworten aufzeigenden „Kleidungsbedarf“. Und was da beinahe im Abgrund vor ihr, der „einsamen Schönen“, liegt, „der schlanke Leib und die geschmeidigen Glieder, wohl geschnürt und bekleidet“, erregt sie. Der Erzähler gebraucht immerhin die Wendung „Da fiel sie über ihn her“, um Nettchens Rettungsversuch zu beschreiben (V, 49). Ein solches Verhalten verrät nur in sehr bedingtem Maße Fürsorglichkeit ; eher handelt es sich hier um einen quasi Vergewaltigungsversuch. Doch versteht sich Nettchen sogleich darauf, diese Aufwallung von Gewaltsamkeit und Leidenschaft zu sub393 Hans Blumenberg, ‚Das Gewand des Traums. Zur Metaphorik von Verhüllung und Enthüllung bei Freud‘, Neue Rundschau 117 (2006) Heft 1, S. 67–80 ; hier : S.77.
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limieren ; latent präsent ist sie schon wenig später nur noch als „unterdrückt zitternde Stimme“ (V, 49). Verhüllte Romantik Hans Blumenbergs These, nach der „das klassische Urbild aller Verhüllung“ die Rhetorik gewesen sei,394 lässt sich gleichfalls auf Kellers Novelle anwenden, und zwar in dem Sinne, dass der Erzähler die Selbstenthüllung oder Selbstoffenbarung Strapinskis im Gespräch mit Nettchen, der überhaupt ersten langen Aussprache der beiden, mit erheblichem Wortaufwand bewerkstelligt. Indem Strapinski im Gespräch seine bisherigen „Kleider“ einbüßt, sich vor Nettchen gewissermaßen „entblößt“, legt er ein neues Gewand an : seine erste jetzt wirklich erkennbare Sprachgewandtheit und rhetorische Geschicklichkeit (V, 52 f.). Zum Reden bringt ihn Nettchens schlichte Frage „Wer sind Sie ?“ (V, 51). Was er darauf zunächst antwortet, soll den Scheinzusammenhang, in dem er sich selbst verfangen hatte, durchbrechen. Mit diesem Versuch bleibt er jedoch zunächst stecken : „Ich bin nicht ganz so, wie ich scheine !“ Diese Antwort genügt ihm selbst nicht und er fügt hinzu : „Ich bin ein armer Narr, aber ich werde alles gutmachen und Ihnen Genugtuung geben und nicht lange mehr am Leben sein“ (V, 51). Sein Werden, seine eigene Entwicklung ist bislang hinter seinem bloßen Scheinen zurückgeblieben. Er hat noch nicht wirklich gelernt zu werden. Der Erzähler betont, Strapinski habe das „ohne allen gemachten Ausdruck“ gesagt, also ohne rhetorischen Aufwand. Diesen betreibt Strapinski erst dann, als Nettchen ihn noch einmal nach seiner Identität, seinem Woher und Wohin fragt. Auf seine Bemerkung „nicht lange mehr am Leben“ zu sein, geht sie erstaunlicherweise nicht ein ; auch dann nicht, als er ihr zu verstehen gibt, dass er bereits Selbstmord erwogen hatte und das wohl schon vor der ihn demütigenden Goldach-Episode. Nettchen will ihn zum Reden bringen, weil sie erkennt, dass nicht nur Kleider, sondern auch Worte Leute machen. Ihr Strapinski braucht „echte“ Kleider, und zu ihnen gehört ein Sprachgewand ; er muss zu seiner Art Sprache finden. Denn bis dahin haben ihm andere, die scheinwilligen Goldacher, die Worte in den Mund gelegt oder ihm vorgesagt, was er sei. Sie haben auf ihn eingeredet, ihn in sprachlich-kommunikativer Hinsicht beinahe „entmündigt“. Erst durch Nettchen findet er nach seiner existentiellen Krise seine Worte wieder. 394 Ebd., S. 67.
„Das Farbenwesen im Regentropfen“
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Ihre Entscheidung, gemeinsam an jenen Ort zu gehen, deren Bewohner Strapinski diese schmachvolle Exponierung bereitet hatten, zeugt von Zivilcourage. Dass ihre erste Station in Seldwyla ausgerechnet Gasthaus zum Regenbogen heißt, hat dabei eine symbolische, aber auch erzähltechnische Bedeutung, wenn man sich daran erinnert, dass Strapinski sich einst bei seiner Ankunft in Goldach „mit jedem Tage gleich einem Regenbogen“ wandelte und „zusehends bunter“ wurde „an der vorbrechenden Sonne“ (V, 33). Darauf folgte dann, wie gesehen, der Befund des Erzählers, demzufolge er das aus sich heraus zu entwickeln verstand, was in ihm „wie das Farbenwesen im Regentropfen“ geschlummert hatte (V, 33). Und das alles, weil der „Geist in ihn gefahren“ war, der sich gleichsam in Spektralfarben gekleidet hatte. Das Gasthaus zum Regenbogen erweist sich nun für die beiden Liebenden als ein Ort des Übergangs, des alles entscheidenden Transitoriums, wo ihre Zukunft verhandelt wird – und das eben im Zeichen jener symbolischen Buntheit, die Strapinski auch weiterhin in sich hat, die ihm jedoch beinahe zum existentiellen Verhängnis geworden wäre. Doch auch hier, im Gasthaus zum Regenbogen, gibt zunächst der Anschein den Ausschlag ; denn die Seldwyler glauben an eine Entführung. Putative Gewalt spielt demnach ein weiteres Mal eine Rolle am Ende der Novelle. Der Advokat weist nach, dass Strapinski sich selbst nie für einen Grafen ausgegeben habe, „sondern dass ihm dieser Rang von andern gewaltsam verliehen worden“ sei (V, 61). Strapinski ist demnach zweimal Opfer von „Gewalt“ geworden : Zunächst von verbaler Gewalt durch die Goldacher, dann durch fürsorgliche, aber auch latent sexuelle Gewalt von Seiten Nettchens bei ihrem im doppelten wie zweideutigen Sinne Rettungsakt. Auch hierbei gilt, dass der Anschein überwiegt und in der Erzählung seinen eigenen quasi-ontologischen Status behauptet, den er ja, wie gesehen, von Anbeginn eingenommen hat. Welche Kleider machen welche Leute, und welche Leute fertigen welche Art Kleider ? Die Seldwyler Schlitten bei dem historisch-ethnographischen Schneiderfestzug verbanden mit dem Motto „Kleider machen Leute“ die Gestalt der Fortuna – nach dem impliziten Motto : Wer selbst kreiert, dem winkt das Glück. Die Herrschenden und Geistlichen dagegen verbindet der Zunftzug mit den Dingen, durch die sie auf emblematische Weise, aber auch wörtlich verstanden „gemachte Leute“ geworden sind ; sie sind mithin fremdbestimmt. Strapinski nun ist der einzige, dem es vergönnt ist, von der einen Seite zur anderen überzuwechseln. Zunächst scheint er als der von den Kleidern gemachte Mann ; dann aber, nach seinem Fall, besinnt er sich wieder auf seine Zunft und sein Können. Er produziert schließlich in allen Farben, damit aber für andere ihren gewünschten
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Schein. Was die Seldwyler von ihm verlangen und wovon sie augenscheinlich nicht genug bekommen können, ist das immer Neue, immer Schönere. Sie bezahlen ihn für die Scheinmaximierung ihrer Existenz. Und auf dieses Spiel lässt er sich ein, weil es nicht als ein Geschäft ist. Indem er seine eigene Erfahrung mit dem durch Kleider Produziert-Werden auf seine Seldwyler Kundschaft überträgt, kommerzialisiert Strapinski geschickt das, was ihm beinahe zum tödlichen Verhängnis geworden wäre. Sebald gab zu bedenken, dass diese Liebesgeschichte auch etwas Trostloses habe ;395 denn eigentlich erfüllt sich in ihr am ehesten die radikale Verdinglichung der Werte. Strapinskis Träumen, seine kleine Utopie der Täuschungen, fallen diesem angelernten Gewerbefleiß ganz und gar zum Opfer. Nun ließe sich schwerlich behaupten, dass Keller diese Geschichte nur in moralisierender Absicht erzählt hätte. Vielmehr entfaltet sich diese Novelle im Geiste des Humors und das wie so oft bei Keller mit einer deutlich hedonistischen Komponente, auf die bereits Walter Benjamin verwiesen hatte.396 Diese auf die Wirkung des Äußerlichen angelegte Prosa, die so gewitzt mit dem Reiz des Anscheins kokettiert, zeigt, dass das Bewusstsein der (klein-)bürgerlichen Gesellschaft vom Extrovertierten geprägt ist. Das Innenleben dieser Erzählfiguren sieht sich vom Erzähler weitgehend marginalisiert, wenn nicht gar übergangen. Gerade deswegen wirkt Strapinskis angeblich suizidale Disposition eher aufgesetzt ; psychologisch vorbereitet ist sie nicht. Gerade in dieser Hinsicht arbeitete Keller dezidiert „unromantisch“.397 Der Anspruch der Seldwyla-Zyklen, also auch dieser Novelle, ist nach Auskunft der Vorrede Kellers zu dessen zweitem Teil nichts Geringeres als homerisch (V, 7). Auch darauf hatte Benjamin bereits aufmerksam gemacht und behauptet, dass Keller seine Schweiz wie Odysseus sein Ithaka behandelt habe : als ein „fernes Bild“, das er jedoch genauestens kannte.398 Bekanntlich schätzte Keller die Odyssee über alles, und man geht wohl nicht fehl, wenn man sich im Zusammenhang mit Kleider machen Leute der berühmten Kleiderepisode zu Beginn des Sechsten Gesangs der Odyssee versichert. Athene spricht Nausikaa an, die achtlos ihre kostbaren Kleider umher liegen hat : „Denn durch schöne Kleider erlangt man ein gutes Gerüchte / Bei den Leuten […].“399 Nausikaa, die „blühende 395 Sebald, ‚Her kommt der Tod‘, a.a.O., S. 121. 396 Walter Benjamin, Gottfried Keller. In : Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II.I. Frankfurt am Main. 1991, S.288. 397 Ebd. 398 Ebd. 399 Homer, Odysee, übersetzt v. Johann Heinrich Voss. Leipzig 1872, S. 72 (Vers 30 f ).
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Jungfrau“, wird später dem gestrandeten Odysseus Kleider schenken, wodurch ihn Athene „höher und jugendlicher an Wuchs“ und schöner „schaffen“ wird als er je war.400 Strapinski gleicht, so gesehen, Nettchens Odysseus, die wiederum eine entfernte Verwandte Nausikaas sein mag, ohne dass sie jedoch deren Verspieltheit besäße. Zwar muss Strapinksi nicht um Kleider betteln wie der entblößte, gestrandete Held, da er in kostbar bekleidetem Zustande „gestrandet“, besser : gestrauchelt war. Aber er braucht Nettchens Zuspruch, um sich das, was er bereits trägt, endlich zu verdienen. Keller, und das ist ein Kunstgriff sondergleichen, spielt wie von weit her auf diese mythisch-klassische Konstellation an, um den Kleidermythos zu entzaubern. Und doch hat auch diese Entzauberung ihre Grenzen, da Strapinski, wie bereits betont, nicht die Zunft, nicht den Beruf wechselt, sondern weiter im Kleiderfach arbeitet ; nur dass er sich jetzt der Mode bedienen, sie zumindest in Seldwyla steuern kann. Der Schein im Zeichen des Regenbogens ist zu seiner Existenzgrundlage geworden, auch wenn er inzwischen die Geschäftsbedingungen selbst festzulegen gelernt hat. Erzählästhetisch bedeutet das, die narrative Hervorbringung von Schein nicht mehr nur als Verkleidung eines vermeintlich wahren Sachverhalts zu sehen, sondern schon in diesem Akt des Hervorbringens oder Zuschneidens von Stoffen das Eigentliche des künstlerischen Prozesses zu sehen. Im gewählten Gewebe und Schnittmuster enthüllt sich dabei die Disposition des Erzählers, dieses Sympathisanten mit dem Schein. Vergewissern wir uns abschließend noch einmal der philosophischen Dimension dieses Textes. Dem Schein kommt, wie wir sagten, im Laufe dieser Novelle ein quasi ontologischer Status zu. Die Kleider Strapinskis sind damit auch verwandt mit dem Schleier der Maya, welcher den wahren Zustand der Welt bekanntlich verhüllt ; der Unterschied ist jedoch, dass Keller zeigt, wie „wahr“ dieser Kleider-Schein sein kann, wie undurchdringlich das Gewebe des Maya-Schleiers eigentlich ist. Diese Novelle lässt zumindest die Vermutung offen, dass hinter den Schleiern und unter den Kleidern eine (Körper-) Welt sich befindet, die nicht viel „wahrer“ ist als jene der Umhüllungen. Kellers unausgesprochene These scheint zu lauten, dass es womöglich mehr darauf ankommt, mit dem Schein zu leben als ihn zu beseitigen ; denn auch dieser Beseitigungsversuch könnte sich ja als bloßes Scheinmanöver erweisen. Es wäre ja gleichfalls denkbar, dass allein schon diese Intention, den Schein zu durchdringen, sich als illusionär herausstellen könnte. 400 Ebd., S. 76 (Vers 230 f ).
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Dritter Teil : Spätromantische Coda
Mit dem Schein vertraut werden, das mag die eigentliche Bedeutung dieser so klar strukturierten und doch so schillernden Novelle sein. Solang Kleider Leute machen, zählt die Naht. So existentiell die Zerreißprobe ist, der sich Strapinski schließlich ausgesetzt sieht, seine Kleidung wird dadurch nicht zerfetzt ; die Nähte halten. Und falls sich doch noch Risse zeigen, dann gilt, dass mit Rissen in kostbaren Stoffen Schneider wie Strapinksi denn doch kreativ umzugehen vermögen, so souverän neue Muster daraus entwerfend, wie das sonst nur die Erzähler können.
XV Nachspiel mit Nietzsche : Zur Romantik-Kritik eines spätromantischen Unzeitgemäßen
„[…] wie müsste eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, – sondern dionysisch ? …“, fragte Nietzsche im „Versuch einer Selbstkritik“, die er 1886 seiner Geburt der Tragödie vorschaltete (KSA 1, 20). Der „deutschen Musik“, die ihm als „ungriechischste aller möglichen Kunstformen“ erscheint, weil eben „Romantik durch und durch“ und daher „ungriechisch“, warf er die Produktion von blosser ‚Stimmung‘ vor. Die Verbindung zum Uranfänglichen, dionysisch Ursprünglichen habe sie längst verloren. Als Nietzsche ein Jahr später in seiner letzten Fassung der um ein ‚Fünftes Buch‘ erweiterten Fröhlichen Wissenschaft (1887) im Aphorismus 370 die Frage „Was ist Romantik ?“ stellte, legte Anton Bruckner die erste Fassung seiner cmoll Symphonie (No. 8), eine Apotheose seines spätromantischen Schaffens, vor. Johannes Brahms hatte seine Cello-Sonaten op. 99 sowie die Violin-Sonaten op. 100 vollendet und auch mit diesen Kompositionen die symphonische Romantik gleichsam auf den Kammerton reduziert. Man kann Vergleiche dieser Art als sinnlos oder erhellend ansehen. Sie verweisen zumindest auf eine Notwendigkeit, nämlich jene, Kontexte mitzulesen oder mitzuhören, wenn es um die Lektüre von epochenspezifischen, genauer : Epochen thematisierenden Texten geht. Nietzsche unternahm wiederholt Anläufe, diese sein Schaffen negativ wie positiv konditionierende Epoche, der er entstammte, zu definieren. Diese Versuche sind unlösbar mit dem Problembereich ‚Richard Wagner‘ verbunden, weil sich für Nietzsche mehr und mehr die Schlüsselfrage aufdrängte, in welchem Verhältnis dieser Komponist und vor allem dessen Werk zum Romantischen stand. Die Beantwortung dieser Frage bedingte wiederum Nietzsches Selbsteinschätzung seines eigenen Verhältnisses zur Romantik. Romantik als das Unvermeidbare – die spätromantische B efindlichkeit Nietzsches Denken entwickelte sich maßgeblich in der Epochenphase der ‚Spätromantik‘. Um seine Lesart des Romantischen erfassen zu können, bedarf es zunächst eines weiteren Klärungsversuches dieser spätromantischen ‚Befindlichkeit‘. Wie bereits gesehen verweigerte sich die Spätromantik Programmen ; sie brachte
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Dritter Teil : Spätromantische Coda
es nicht mehr zu einem eigenständigen ästhetischen, quasi-ideologischen Manifest, etwa nach dem Muster des „ältesten Systemprogramms des Idealismus“. (Im Widerspiel zu dieser Programmabstinenz entstand freilich mitten in der Spätromantik in Gestalt des Kommunistischen Manifests eine programmatische Schrift von unvergleichlicher Wirkungsbreite und -intensität.) Überdies verfügte die Spätromantik über kein Periodikum, wie dieses die Frühromantik in Friedrich Schlegels Äthenäum zur Verfügung hatte. Ihre Ränder bleiben in allen Kunstformen unscharf. Setzt sie in der Literatur um 1822 ein, dem Todesjahr E.T.A. Hoffmanns ? Dauert sie nach 1853, dem Todesjahr Ludwig Tiecks, noch an ? Ist die Rekatholisierung des Glaubens schlechthin das Indiz spätromantischen Bewusstseins – trotz des Protestanten und prototypischen Spätromantikers Eduard Mörike ? Und in der Musik – verstehen wir das ganze Schaffen Robert Schumanns als spätromantisch ? Weiter gefragt, und zwar nach den Verwandlungen innerhalb der Romantik : Was blieb von der Frühromantik in der Spätromantik ? Wie viel Schubert und Schumann ist noch in Bruckner, bevor diese symphonische Kohärenz in Mahler aufbricht ? Wie ‚romantisch‘ ist der Realismus Storms, Raabes und Fontanes ? Wie jener Kellers, Stifters und Meyers ? Lässt sich noch Runge und Nazarenertum in Feuerbach erkennen ? Wo und wie berühren Spätromantik und Biedermeier einander ? Die Spätromantik war auf Motive wie immer währender Abend und dauernd schimmerndes Mondlicht eingestimmt, ob in poetischer Bildlichkeit im Werk Eichendorffs oder im mythologisierenden Denken Schellings. Das Interesse am Mythologischen, welches das „älteste Systemprogramm“ bekundet hatte, schrieb sich bis in die Spätromantik fort, namentlich im Werk Georg Friedrich Creuzers, dessen mythologische Forschungen maßgeblich von Karoline von Günderrode angeregt worden waren. Gerade auch in der Wahrnehmung dieses mythologischen Dichtens und Denkens im nicht-deutschsprachigen Bereich mutierte dieser Ansatz ins Gespenstische. Als Katalysator wirkte in diesem Prozess vor allem in Frankreich Gérard de Nervals Übersetzung von Goethes Faust (1828) sowie Charles Nodiers Übersetzungen von E.T.A. Hoffmann (in den 1820igern) nebst seinen eigenen, Hoffmann nachempfundenen Gespenstergeschichten wie Smarra, ou les démons de la nuit (1821) und Histoire du Roi de Bohème et ses sept châteaux (1830) ; Gleiches gilt für Théophile Gautier und seine Contes fantastiques.401 In dieser Literatur verwirklichte sich das Wort des Novalis aus Die Christenheit 401 Vgl. dazu : Richard Holmes, The Fantoms of Théophile Gautier. In : The New York Review v. 14. August 2008, S. 60–63.
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oder Europa, das sich in jenen auszugsweise veröffentlichten Teilen dieser Schrift fand, die vermutlich auch Nietzsche durch die dritte Auflage der von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck besorgten Ausgabe der Werke des Novalis von 1815 kannte : „Wo keine Götter sind, walten Gespenster.“402 Die Spannungsfelder, in denen sich die späte Romantik befand, wurden von Extremen bedingt. Zu ihnen gehörten die Opposition von anhaltend intensiver Gefühlskultur im Zeitalter wachsender Industrialisierung, die Psychologisierung des Empfindens und die Erkundung des Unbewussten (etwa bei Gotthilf Heinrich Schubert, Justinus Kerner und Carl Gustav Carus403), die zunehmende Ökonomisierung des Denkens und Handelns, wie sich überhaupt das Handeln als Imperativ im Gegensatz zur metaphysischen Spekulation durchzusetzen schien. Hinzu traten die Historisierung des Sakralen (von David Friedrich Strauß bis Ernest Renan wurde Christus als historische Persönlichkeit zu erfassen versucht) ; die Willensphilosophie wurde zum Thema, ob bei Schopenhauer (und Richard Wagner) als Verneinung des Willens oder bei Nietzsche als „Wille zur Macht“. Nietzsche wollte in seiner Kulturphilosophie dieser spätromantischen Unbestimmtheit die klare Unterscheidung von Apollinischem und Dionysischem entgegen halten und schließlich das ‚Lebensgesetz‘ des „Willens zur Macht“. Doch sah sich diese vermeintliche Klarheit durch die schiere Gedankenfülle und ihre stilistische wie denkkompositorische Verarbeitung wiederum überlagert und unterminiert. So gesehen setzten sich in Nietzsches aphoristischen, gerade das Vielfältige aufnehmende Denk-und Schreibverfahren viele frühromantische Ansätze fort. Revolutionäre Momente in romantischer Spätzeit Zwischen 1830 und 1848 hatte es den Anschein, als könne das revolutionäre Moment das ‚Spätromantische‘ ähnlich beflügeln wie die Nachwirkung der Franzö402 In : Novalis, Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 588. Von dieser Kenntnis gehen Colli und Montinari begründetermassen aus, wenngleich sich heute in der Bibliothek Nietzsches keine Werke von Novalis finden. Auch die Verzeichnisse zur Bibliothek Nietzsches, etwa die gedruckten Kataloge von Max Oehler und Giuliano Campioni weisen keine Novalis-Werke nach. Der Verfasser dankt für diesen Hinweis Herrn Erdmann von Wilamowitz-Moellendorff, Klassik Stiftung Weimar/„Weimarer Nietzsche-Bibliographie“. 403 Vgl.v. Verf. The Hidden Agent of the Self. Towards an Aesthetic Theory of the Non-Conscious in German Romanticism. In : Martin Liebscher/Angus Nicholls (Hg.), The History of the Unconscious. A.a.O. sowie Kapitel XI dieser Studie.
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Dritter Teil : Spätromantische Coda
sischen Revolution die Frühromantik. Es erwies sich jedoch, dass dieses Moment – etwa im Schaffen Heinrich Heines und Ludwig Börnes – zur Kritik am romantischen Bewusstsein instrumentalisiert wurde. In wenigen Spätromantikern wurde dieses ‚Bewusstsein‘ aus sich heraus ‚revolutionär‘ oder zumindest liberaldemokratisch wie bei Ludwig Uhland oder – bedingter – bei Gustav Schwab. In Uhland verband sich landständisches Bewusstsein, wie er es noch im so genannten württembergischen „Rumpfparlament“ bis zu seiner gewaltsamen Auflösung im Juni 1848 vertrat, mit dem poetischen Glauben an die Sinnbildhaftigkeit des Mythos, wie er sie selbst in seiner Bearbeitung des Nibelungenliedes – wenn auch vergeblich – umzusetzen hoffte. Nichts einfacher als ‚das Spätromantische‘, etwa in Gestalt der so genannten schwäbischen Dichterschule zu karikieren – etwa nach dem Muster von Heines Romantischer Schule, ihr spießbürgerlich-biedermeierhafte Attitüde vorzuwerfen und Nähe zum Kitsch, ein Urteil, das auch für Nietzsche nur allzu nahe lag. Erheblich schwieriger ist eine kritische Würdigung, ein Erfassen dessen, was sich im spätromantischen Empfinden artikulierte und welche spezifischen Formen diese Ausdrucksversuche annahmen. Der Balladenton gehört dazu – von den Dichtungen Droste-Hülshoffs und Coleridges bis zu jenen Robert und Elizabeth Brownings, Alfred Lord Tennysons und Henry W. Longfellows. Auch Nietzsche nahm diesen Balladenton in seinen lyrischen Texten parodistisch auf, bezeichnenderweise auch gerade im Anschluss an das Fünfte Buch der Fröhlichen Wissenschaft, in dem er die Romantik-Gewissenfrage gestellt hatte. Denn der Abschnitt „Was ist Romantik ?“ beinhaltet auch die Frage, wie es der Leser selbst mit der Romantik und dem Romantischen halte. Im zuvor benannten „Versuch einer Selbstkritik“ zur Geburt der Tragödie führt Nietzsche einen fiktiven Kritiker ein, der dem Verfasser der Geburt entgegen hält : „Aber, mein Herr, was in aller Welt ist Romantik, wenn nicht Ihr Buch Romantik ist ? Lässt sich der tiefe Hass gegen ‚Jetztzeit‘, ‚Wirklichkeit‘ und ‚moderne Ideen‘ weiter treiben, als es in Ihrer Artisten-Metaphysik geschehen ist […] ?“ (KSA 1, 21) Der gedachte Kritiker billigt Nietzsche zwar die Fähigkeit zu, in seiner Geburt „contrapunktische Stimmen-Kunst und Ohren-Verführerei“ vollbracht zu haben, unter der jedoch „ein Grundbass von Zorn und Vernichtungslust“ zu hören sei. Was dieser Grundbass intoniere sei nichts weniger als eine Revolution des „praktischen Nihilismus“ und Pessimismus. Und weiter : […] wie ? Ist das nicht das ächte rechte Romantiker-Bekenntnis von 1830, unter der Maske des Pessimismus von 1850 ? Hinter dem auch schon das übliche Romantiker-
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Finale präludirt, – Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr und Niedersturz vor einem alten Glauben, vor dem alten Gotte …. Wie ? Ist Ihr Pessimisten-Buch nicht selbst ein Stück Antigriechenthum und Romantik, selbst etwas „ebenso Berauschendes als Benebelndes“, ein Narkotikum jedenfalls, ein Stück Musik sogar […] (KSA 1, 21).
Nietzsches Selbstkritik, Rückfall in ein quasi romantisches Denken und Empfinden, enthält gleichzeitig die Substanz dessen, was er der Romantik vorwirft, nämlich Kulturpessimismus und Versagen vor dem Leben. Gerade der späten Romantik seiner eigenen Zeit hält er vor, dass sie wieder dem Christentum gemeinsame Sache mache, dem „alten Glauben“ und dem „alten Gotte“ mit seinem falschen „metaphysischen Trost“, dessen radikale Umwertung in einen „diesseitigen Trost“ er propagiert, und zwar vermittels zarathustrischen „Lachens“, das Selbstbefreiung bedeute (KSA 1, 22). Ob man in Nietzsche nun einen ersten Modernisten oder einen das Erbe der Romantik plündernden Nachlassverwalter sieht, ist eine potentiell ebenso fruchtlose wie ergiebige Frage, die ihre Entsprechung in jenen Diskussionen über die Romantik hat, welche in ihr eine Resteverwertung der Aufklärung sehen oder eine Artikulation und Aufarbeitung von bis dahin nicht eingestandenen Sehnsüchten. Man kann Novalis und dem frühen Friedrich Schlegel durchaus spekulative Modernität zuschreiben und ihnen gleichzeitig regressive Tendenzen bescheinigen, die sich im Akt der Konversion zum Katholizismus symbolisierten.404 Diese Sichtweisen hatte die Romantik jedoch auch immer ironisch zu brechen verstanden. (Fragmentarische) Reflexionen konnten gerade in der Frühromantik durchaus auch Humoresken sein, ein Phänomen, das Nietzsches Denkansatz nach 1876 gleichfalls prägen sollte. „Melancholie und Lachen reagieren auf dieselbe Erfahrung der Nicht-Korrespondenz und der Disproportion (zwischen Ich und Welt, Selbstbewusstsein und Bewusstsein, Sein und Sinn). Sie ist die romantische Grunderfahrung schlechthin“, befindet Jochen Hörisch in seinen Überlegungen zur „Dialektik der Romantik.“405 Es war auch aus diesem Grund nur 404 Man kann hierin einen spezifisch österreichischen Einfluss auf die Romantik sehen. Vgl. dazu : Edith Saurer, Romantische KonvertitInnen. Religion und Identität in der Wiener Romantik. In : Christian Aspalter, Wolfgang Müller-Funk, Edith Saurer, Wendelin Schmidt-Dengler, Anton Tantner (Hg.), Paradoxien der Romantik. Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Wien im frühen 19. Jahrhundert. Wien 2006, S. 229–255. 405 Jochen Hörisch, Dialektik der Romantik. In : Ebd., S. 25–46, hier : S. 33. Was Hörisch in diesen Überlegungen mitteilt, resultierte jedoch in der Romantik keineswegs in einer „Dialektik“, sondern in einem unaufgelösten Neben- und Miteinander von ‚Befindlichkeiten‘.
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folgerichtig, dass Nietzsche seinem wohl ausgereiftesten Werk einen Friedrich Schlegel entlehnten Begriff als Titel gab, die „fröhliche Wissenschaft“ eben. Auch deswegen machte es für ihn Sinn, das abschließende Fünfte Buch dieser Schrift um die Problematik des Romantischen kreisen zu lassen, zu dem er Reflexionen über die „homines religiosi“ und den „Ursprung der Religionen“ ebenso zählte wie den Bereich „Europa“.406 Nietzsches Nähe zu Novalis Als romantisches Projekt verstanden erhielt die in sich plurale ‚europäische Idee‘ mit Novalis’ Schrift Die Christenheit oder Europa eine im Sinne Friedrich Schlegels retrospektiv-prophetische Dimensionierung. Ihr geschichtstheologischer Charakter prägt ein Programm, das sich als Beitrag zur poetisch aufgefassten Politik lesen lässt. Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die wohl auf den Berliner Verleger Georg Andreas Reimer zurück gehende Entscheidung, diesen erstmals in der vierten Auflage der von Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel herausgegebenen Schriften des Novalis (1824) vollständig veröffentlichten Aufsatz unmittelbar im Anschluss an den ersten Teil des Romans Heinrich von Ofterdingen einzurücken.407 Dadurch wuchs dem Aufsatz die Funktion zu, die im Ofterdingen erweckte „Erwartung“ einzulösen, und zwar durch die poetisch-kritische Reflexion von (religions-)geschichtlichen Tragweiten, aus denen sich das ‚Projekt Europa‘ ergibt. Novalis hofft darauf, dass die Nationen von „heiliger Musik“ getroffen werden, um auf diese Weise zur sinnlichen Besinnung zu kommen und dem „fürchterlichen Wahnsinn“, den kriegerischen Antagonismen also, entsagen. 406 In : Nietzsche, KSA 3, 586 u. 595. 407 Vgl. den Kommentar in : Novalis III, S. 591. Zur Rezeption der „Christenheit“ vgl. bes. Wilfried Malsch, ‚Europa‘. Poetische Rede des Novalis. Deutung und Reflexion auf die Poesie in der Geschichte. Stuttgart 1965 sowie Herbert Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991, S. 569–578. Vgl. auch den wichtigen Aufsatz von Jonas Maatsch, „…wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält.“ Novalis’ ‚Europa‘-Text und die Kraft der Poesie. In : Hellmuth Th. Seemann, Europa in Weimar. Visionen eines Kontinents. Klassik Stiftung Weimar Jahrbuch 2008. Göttingen 2008, S. 239–255. Maatsch verweist eindringlich auf die in Novalis’ Text vorgenommene Parallelisierung der Opposita „Glauben und Poesie“ sowie „Wissen und Verstand“, die durch die sinnliche Qualität der Religionsausübung im katholischen Ritus ihre Gestalt gewinne.
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Es soll hier jedoch nicht erneut um eine Interpretation von Novalis Rede oder Fragment gehen, sie ist im zweiten Kapitel dieser Studie versucht worden, sondern um die Frage, wie noch in Nietzsches Romantik-Aphorismus in Die Fröhliche Wissenschaft einzelne Ansätze des Novalis erkennbar werden, dessen EuropaText er, wie erwähnt, in der ihm bekannten Ausgabe (3. Auflage 1815) nur in wenigen Auszügen als „Fragmente vermischten Inhalts“ kennen lernen konnte. Schon in Menschliches, Allzumenschliches (I) hatte sich Nietzsche auf Novalis nicht ganz ohne Ironie als „eine der Autoritäten in Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct“ bezogen.408 Die nach dem, was das „Heilige, Asketische, Wollüstige“ sei, was der „religiöse Sinn“ darstelle, das Verhältnis von „religiösem Wahnsinn“ und dem „Wahr-Sinn“ in allem, Entsprechungen zum Apollinischen und Dionysischen, wenn man so will, beschäftigte Nietzsche in jener Zeit (um 1878) nachdrücklich.409 Als Motiv bleibt in seinen Äußerungen freilich die Paarung ‚Narr und Heilger‘ bis zuletzt erkennbar. Das folgende Fragment jedoch, das Nietzsche in der Novalis-Ausgabe von 1815 vorfinden konnte, scheint am unmittelbarsten in ihm nachgewirkt und die hier in Rede stehenden Teile des Fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft mit geprägt zu haben : Nur die Religion kann Europa wieder auferwecken, und die Völker versöhnen, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedensstiftendes Amt installiren. Haben die Nationen alles vom Menschen, nur nicht sein Herz, sein heiliges Organ ? ---410
In Novalis sah Nietzsche eine „naive Freude“ in dessen Äußerungen walten411, die er gewissermaßen ernüchterte. Doch fällt auf, dass diese Stichworte des Novalis bei Nietzsche im Zusammenhang seiner Europa- und Romantik-Reflexionen wiederkehren, wenngleich meist in Verkehrung ihrer ursprünglichen Bedeutung. Zahlreiche Aphorismen des Fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft lassen jedoch vermuten, dass er Novalis’ ganzen Europa-Text gekannt haben könnte. Das gilt insbesondere für die Kritik an Luther und dem Protestantismus, die sich bei Novalis und Nietzsche mit derselben Begründung findet. Warf Novalis dem 408 KSA 2, S. 138. 409 KSA 14, S. 134. 410 Zitiert nach Novalis III, S. 590. 411 KSA 2, S. 138.
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lutherischen Protestantismus vor, das „religiöse, cosmopolitische Interesse“ untergraben und glaubenswidrig nationalisiert und verstaatlicht zu haben412, so wiederholt Nietzsche diesen Vorwurf wörtlich im Aphorismus 358 der Fröhlichen Wissenschaft unter dem Stichwort „Der Bauernaufstand des Geistes“. Luther, so Nietzsche, habe den Glauben den Philologen ausgeliefert und ihn damit „vernichtet“. Nietzsche weiter : „Thatsächlich stiess er, der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines religiosi von sich“, indem er den zölibatären Priester „abgeschafft“ habe.413 „Er machte also gerade Das [sic !] selber innerhalb der kirchlichen Gesellschafts-Ordnung, was er in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte, – einen ‚Bauernaufstand‘.“414 Wie Novalis vor ihm begreift Nietzsche die Reformation als eine Säkularisierung des Katholizismus. Was er aber den Romantikern nicht zuzugestehen bereit ist, dass sie eine Re-Sakralisierung des Lebens vermittels der Kunst versuchten.415 Denn gerade in der Fröhlichen Wissenschaft betreibt Nietzsche unter anderem eine radikale Kunstkritik und verwirft die Hoffnung darauf, durch künstlerisches Schaffen das Heilige wiederzugewinnen. „Wir Künstler ! Wir Verhehler der Natürlichkeit !“ ruft er aus416, womit er signalisiert, dass seine Art der Kunstkritik die Selbstkritik mit einschließt ; sieht er sich doch selbst immer auch als Musiker und als ein Künstler, der mit dem Material ‚Gedanken‘ arbeitet. Bei aller Kunstkritik schließt das Zweite Buch der Fröhlichen Wissenschaft mit einem Aphorismus unter der Überschrift „Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst“, der die ganze Paradoxie des Problemfeldes Kunst und Kritik auf den Begriff bringt : Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden : so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten.417 412 Novalis II, S. 737. 413 KSA 3, S. 604. 414 Ebd. 415 Vgl. dazu : Rüdiger Görner, Säkularisierung der Religion in der Musik (-ästhetik) : Beethoven und Wagner. In : Silvio Vietta u. Herbert Uerlings (Hg.), Ästhetik Religion Säkularisierung Bd. I : Von der Renaissance zur Romantik. München 2008, S. 161–173. 416 Ebd., S. 423. 417 Ebd., S. 464.
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Abschnitte wie dieser veranschaulichen die Widersprüchlichkeit in Nietzsches Verhältnis zur Kunst. Einerseits regieren in ihr die „Schauspieler“ (allen voran der Typus ‚Wagner‘), was er nicht müde wird heftigst zu kritisieren ; andererseits kann er nicht umhin, die Kunst dazu einzusetzen, „uns selbst“ zu einem „ästhetischen Phänomen“ zu machen, wie er in dem gleichen Aphorismus sagt. Dabei modifizierte er seine bekannte These aus der Geburt der Tragödie, nach der das Dasein nur ästhetisch „gerechtfertigt“ sei dahingehend, dass das Dasein als „ästhetisches Phänomen […] immer noch erträglich“ sei.418 Für den Wissenschaftler heiße das : „[…] wir müssen den Helden und ebenso den Narren entdecken, der in unserer Leidenschaft der Erkenntniss steckt, wir müssen unserer Thorheit ab und zu froh werden, um unserer Weisheit froh bleiben zu können !“.419 Doch eben dieser „Narr“ in uns, der so gerne die „Schelmenkappe“ aufsetzt, kann nicht anders, als ein Schauspieler zu sein. „Objektivität“ dem Erkenntnisgegenstand gegenüber zu gewinnen verlange, so Nietzsche, sie durch eine „übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst“ zu erlangen.420 Spielerisch ‚objektiv‘ werden, das galt ihm als Essenz einer „fröhlichen Wissenschaft“.421 Man kann darin aber auch Nietzsches Versuch sehen, jenen zutiefst ironischen Aspekt des romantischen Erbes im Zeitalter des wachsenden Positivismus erneut zur Wirkung zu verhelfen. Die Fröhliche Wissenschaft kreist unaufhörlich um die Bestimmung dessen, was der ‚Gelehrte‘, der ‚Gläubige‘, der ‚Schauspieler‘, was ‚Erkenntnis‘, was ‚Intuition‘ sei. Und gerade von diesen Definitionsversuchen her (oder soll man nicht eher sagen : definitorischen Improvisationen, Übungen in intellektueller Leichtigkeit) bewegt sich Nietzsche auf das Ermitteln von Restbeständen des Romantischen zu. Dabei stößt er auf ein Phänomen, das sich ihm als Gegenstand der Kulturkritik aufdrängt ; er nennt es den „Athener-Glauben“, den „Amerikaner-Glauben“, den sich inzwischen die modernen Europäer zueigen gemacht hätten, nämlich jenen Glauben, ungefähr Alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein.“422 Das bedeutet, die Selbstausbildung zum Schauspieler wurde zwangsläufig zum Signum der Moderne, das man irrtümlich für ein Zeichen des Fortschritts gehalten habe. Dieser kulturkritische Ansatz hatte jedoch auch eine verdeckte selbstkritische Note. Denn es war auch ein Hauptzug von Nietzsches eigenem Schaffen, buch418 Ebd. 419 Ebd., S. 464 f. 420 Ebd., S. 465. 421 Diesen Aspekt nimmt auch Aphorismus 327 im Vierten Buch der FW auf (Ebd., S. 555). 422 Ebd., S. 596.
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stäblich „über Alles“ zu schreiben, „Alles“ zu reflektieren. In seiner Aphoristik setzte sich die Ambition der Frühromantiker fort, namentlich jene des Novalis und Friedrich Schlegels, in ‚allgemeinen Brouillons‘, Fragmenten und Studien quasi enzyklopädisch, wenngleich entschieden unsystematischer als Diderot und d’Alembert dies vorgegeben hatten, Welt zu erfassen und punktuell zu reflektieren. Nietzsche verfuhr ganz ähnlich, wobei er das Polemische der Erkenntnis gleichordnete. Im (früh-)romantischen Selbstverständnis kam die Absicht hinzu, durch diese Art des Reflektierens – mit Schlegels Wort – universalpoetisches Denken und Schreiben zu verwirklichen. Dieses Universalpoetische wirkte auch in Nietzsche nach, wobei das „Universale“ sich zunehmend auf scheinbar allgemein gültige „Gesetze“ reduzierte (der „Wille zur Macht“ als Extrembeispiel hierfür), und das Poetische zur rhetorischen Aphoristik wurde, beziehungsweise zu parodistischer Lyrik oder zu einer rhapsodisch-szenischen Reflexionsdichtung, die sich als Prophetie ausgab (Also sprach Zarathustra). Selbst Ludwig Wittgenstein sollte noch behaupten : „Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten.“423 Nietzsche hätte das kaum anders formuliert, wobei er sich bei allen Allheitsphantasien jedoch auch der Brüche bewusst blieb, die jedes philosophierende Dichten oder dichtende Philosophieren bedingten. Das Anti-Systematische wurde zu seinem Programm, und sein Schreiben in Aphorismen bejahte – in der spätromantischen Phase der europäischen Kultur eher selten – das Bruchstückhafte. Für den philosophischen Schriftsteller Friedrich Nietzsche schloss der „Wille zur Macht“ die Gewalt über alle verfügbaren Stilmittel ein. Nietzsche wollte Herr seiner Sprache sein, so sehr er auch der Sprache, den Worten Eigendynamik konzidierte, eine Ambition, die (Früh-)Romantikern bei aller staunenswerten Sprachartistik, derer sie sich fähig zeigten, in diesem Ausmaß fremd war. So gesehen, adaptierte Nietzsche eher Humboldts Verständnis der Sprache als einer enérgeia, einer dynamischen, sich selbst weiter entwickelnden Kraft, und zwar in dem Sinne, dass er sich diese Kraft zueigen machte und sich augenscheinlich einer Art kalkuliertem Ausdrucksrausch hingab. Seinem Schreiben eignete eine besondere dionysischsokratische Note ; und so oft man versucht, dieses Schreiben zu charakterisieren424, man gewinnt ihm stets eine weitere Nuance ab. 423 In : Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt am Main 1984, S. 483. 424 Vgl. das Kapitel „Die Grammatik des Denkens. Nietzsche über Sprache“. In : Rüdiger Görner, Wenn Götzen dämmern, a.a.O., S. 28–40. Siehe auch dort weiter führende Forschungsliteratur.
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‚Romantisch‘ an diesem Schreibverfahren Nietzsches war nicht zuletzt der Umstand, dass er sich denkend dem Denkverfahren und schreibend des Materials ‚Sprache‘ bewusst blieb. Auch das erinnert vor allem an Novalis. Wenn sich nun Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft verstärkt dem Romantischen als Phänomen und Problem zuwandte, dann geschah dies unter einem spezifischen Blickwinkel, nämlich dem der „Dekadenz“, und zwar als décadence verstanden, als Nihilismus, Pessimismus und das vom Dionysischen Überwölbte oder Durchdrungene. Nietzsche fragt nach der Genese dieser Dekadenz und entwirft eine Genealogie des Nihilismus, dem er selbst zwiespältig gegenüber steht wie auch der ‚décadence‘ und dem ‚Pessimismus‘. Dahinter verbirgt sich das Problem der Willensverneinung als Weg zum Glückhaften und befreiten Leben, wo das ‚Lachen‘ und der ‚Narr‘ regieren, und seinem wachsenden Interesse am ‚Willen zur Macht‘ im Sinne einer Selbstermächtigung des Menschen. Vor diesem Hintergrund nun lässt sich Aphorismus 370 der Fröhlichen Wissenschaft zur Frage „Was ist Romantik ?“ als Nietzsches ‚Lektüre‘ des Romantischen neu lesen. „Was ist Romantik ?“ Nietzsches pluralektische Antwort In Nietzsches Bestimmungsversuch dessen, was das Romantische sei, spielt die Kritik am Zeitgeist eine Hauptrolle, aber auch an seiner anfänglichen Einschätzung der Kultur des 19. Jahrhunderts, namentlich der deutschen, die er seit der Geburt der Tragödie primär durch Schopenhauer und Wagner verkörpert gesehen hatte. Noch in der Fröhlichen Wissenschaft nannte er sie „jene berühmtesten und ausdrücklichsten Romantiker“.425 Der Kern von Nietzsches Definitionsbemühung findet sich in den folgenden Sätzen : Was ist Romantik ? Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hülfsmittel im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehn werden : sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es giebt zweierlei Leidende, einmal die an der Ueber fülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, – und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntniss suchen, oder aber den rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahn425 KSA 3, S. 620.
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sinn. Dem Doppel-Bedürfnisse der Letzteren entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen […].426
Auch hier ‚definiert‘ Nietzsche auf eine umschreibende, die Ist-Frage nicht mit einer Ist-Antwort klärende Weise. Die Definitionsabsicht wird einmal mehr eher zum Vorwand einer ausgreifenden, freilich entschieden analytisch gemeinten Reflexion. Romantische Kunst, so legt Nietzsche hier nahe, setzt auf die Kompensation der „Verarmung des Lebens“, in dem sie sowohl „Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich“ zu gewähren versucht als auch „Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn“. Dieses Romantische entspricht nach Nietzsches Lesart nicht genuiner (dionysischer) Lebensfülle ; vielmehr übt es sich im scheinhaften Beseitigen einer Mangelerfahrung. Worin nun sah Nietzsche sein ursprüngliches „Missverständnis“ der Romantik ? Er habe die (deutsche) Musik (insbesondere jene Wagners) zunächst für einen Ausdruck „dionysischer Mächtigkeit“ gehalten, für ein „Erdbeben, mit dem eine von Alters her aufgestaute Urkraft sich endlich Luft“ gemachte habe.427 In „Wahrheit“ aber verhalte es sich anders mit dieser und der romantischen Musik überhaupt. Doch was meint ‚anders‘ ? Hierzu findet sich ein ‚Vor-Wort‘ im Aphorismus 171 von Menschliches, Allzumenschliches (II) und ein ‚Nach-Wort‘ im Achten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse, die beide um das Phänomen und Problem ‚romantische Musik‘ kreisen, wie Nietzsche ohnehin die Erkenntnis des Wesens der Musik und des Erkennens durch Musik mit philosophischer Erkenntnis weitgehend gleichsetzte, sah er doch nicht nur die Tragödie, sondern auch die Einsicht in die Natur des Tragischen und des Leidens „aus dem Geist der Musik“ hervorgehen. In Menschliches, Allzumenschliches hatte Nietzsche die Musik als „Spätling jeder Cultur“ und als „Schwanengesang“ auf ihre jeweilige Epoche bezeichnet.428 Aber gerade dieses „Späte“ schien Grund für Irritationen zu sein. Einerseits polemisierte er mehr und mehr gegen die „Zukunftsmusik“ Wagnerschen Modells ; andererseits war ihm das „Späte“ der musikalischen Romantik zu wenig im 17. und 18. Jahrhundert verankert, namentlich in der italienischen Barockmusik oder im Mozartischen, das er in der Musik seines Freundes, Heinrich Köselitz, neu erklingen zu hören glaubte. Zu Ende gedacht hätte jene Bemerkung aus Mensch426 Ebd. (Hervorhebungen i. Org.) 427 Ebd. 428 KSA 2, S. 450.
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liches, Allzumenschliches zur Folge gehabt, dass er das Neue der Moderne zunächst außerhalb der Musik hätte begründet sehen müssen. Die Musik in der Moderne wäre nach diesem ‚Modell‘ erst als ihr Endstadium wirkungsvoll gewesen. Teil dieser Reflexion ist Nietzsches Forderung, die Zeitgebundenheit der Musik zu erkennen : „Die Musik ist eben nicht eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt […].“429 Demnach bildete der Geist einer Zeit die ihm gemäße Musik oder : die Geburt der Musik aus dem Geist der Zeit, was eine subtile Verschiebung in der Gewichtung des Musikalischen und Kulturstiftenden im Vergleich zur Tragödienschrift darstellt, die bekanntermaßen „aus dem Geist der Musik“ bestimmte Kulturformen wie die Tragödie hervorgehen sah. Es fällt auf, dass der Aphorismus „Was ist Romantik ?“ zwar vom musikalischen Eindruck ausgeht, sich davon aber in der Folge entfernt. Vielmehr geht es Nietzsche – durchaus nach der Vorlage von Menschliches, Allzumenschliches – um den zeittypischen Charakter dessen, was als „deutsche Musik“ galt, nämlich „ihre Romantik“. Bereits in seinem ersten oben zitierten Definitionsversuch spart er weitere explizite Bezüge auf die Musik aus. Vielmehr konzentriert er sich auf eine Art typologischer Ontologie des Romantischen, eine Wesensbestimmung, die mehr und mehr auf den Pessimismus rekurriert. Nietzsche ‚liest‘ in diesem Aphorismus die Romantik als eine Einladung, Umwege zu gehen, sich auf Vielfältiges einzulassen. Er täuscht nur vor, dass es ihm wirklich um eine Definition des Romantischen zu tun sei. Die Antwort, die er auf seine eigene Frage nach dem Charakter der Romantik gibt, ist eine große Arabeske, die vorführt, dass solche Definitionsversuche letztlich verfehlt sein müssen. Wie so oft in seinem aphoristischen Philosophieren gerät ihm auch in diesem Abschnitt das Beantworten von Grund- oder Leitfragen zum Anlass für eine scheinbar freie Improvisation. Im Zusammenhang mit der Frage, was die Romantik wesentlich sei, wirkt freilich dieses Improvisieren, also die Form dieses Denkansatzes, wie die eigentliche Antwort : Romantik ist Gedankenexperiment, „glattes Meer“ und Wahn, „Ruhe“ und „Rausch“, „Stille“, verursacht durch „Betäubung“. Was Nietzsche „Doppel-Bedürfnisse“ nennt läuft auf binäre Bestimmungsversuche hinaus, die im Falle des Lesens der Romantik besonders probat erscheinen. (Dieses binäre Denken führte Thomas Mann auf den prob429 Ebd. (Hervorh. i. Org.)
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lematischen Höhepunkt der Betrachtungen eines Unpolitischen ; noch im Zauberberg kehrt dieser Ansatz wieder, wobei in diesem Roman, der den zum Gegensatzpaar erklärten Konflikt zwischen Aufklärung und Romantik umkreist, eine neue Zielvorgabe eingeführt wird, nämlich „Herr der Gegensätze“ zu werden.430 Nietzsches binäre Definitionsverfahren, die er offenkundig als zwangsläufige Ableitungen aus der Romantik verstand, implizierten, dass er selbst schon eine solche Position eines Herrn über die von ihm benannten Gegensätze eingenommen habe.) Nietzsche ging es dabei nicht um das Feiern von „Gleichsetzungsorgien“431, sondern um Differenzierungen, wobei er jedoch zu kuriosen Ergebnissen kommt ; so nennt er Epikur einen Romantiker und hebt damit jenes Gesetz auf, das er in Menschliches, Allzumenschliches, wie gesehen, für die Musik etabliert hatte, nämlich die Zeitbedingtheit von Ausdrucksformen und ihrer epochalen Wirkung. Epikur, ein Romantiker – das bedeutet vor allem die Entzeitlichung der Romantik als Epoche. Nietzsche unterstreicht dies durch die These, dass nicht nur die Epikureer, sondern auch die Christen wesentlich Romantiker (gewesen) seien und sein werden.432 Darauf folgt die ihm wichtige „Unterscheidung“ im Hinblick auf die „aesthetischen [und produktionsästhetischen, R.G.] Werthe“, die damit verbunden sind : Ist das „Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein die Ursache des Schaffens“ oder „aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach Werden.“ Das differenzierende Verfahren treibt Nietzsche weiter, indem er konstatiert : Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie man weiss, das Wort ‚dionysisch‘), aber es kann auch der Hass des Missrathenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muss, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt […]433
430 Vgl. dazu neuerdings, Philipp Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur. Frankfurt am Main 2008, S. 82 u. 171–199. 431 So nennt Gut zu Recht Thomas Manns Verfahren in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“, ebd., S. 82. 432 KSA 3, S. 621. 433 Dieses und die vorigen Zitate ebd. (Hervorh. i. Org.)
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Auf die im Werden angelegte Ambiguität, das Werden zum Zerstören und das aus dem Zerstören entstehende Werden hat Nietzsche hier sein Augenmerk besonders gerichtet. Man muss sich immer wieder neu in Erinnerung rufen, dass diese Ausführungen unter dem Stichwort ‚Romantik‘ entstanden ; und daraus lässt sich zumindest schließen, dass Nietzsche unter dem Mantel der romantischen Idylle eben diese antagonistischen Kräfte, dieses zweideutige „Verlangen“ am Werke gesehen hatte. Zu einer Zeit, als die Romantik längst nicht mehr in aller Munde war, rief Nietzsche sie mit solchen extremen Deutungsversuchen wieder in Erinnerung ; denn damit versicherte er sich seiner eigenen Ursprünge vor allem im Bereich der Musik neu. (In seinen eigenen Kompositionen etwa ist weitaus mehr uneingestandener Schumann als dass sich Spuren von „Zukunftsmusik“ darin fänden !) Doch auch damit begnügte sich Nietzsche nicht. Er gibt der „Beantwortung“ seiner Frage nach der Natur der Romantik noch eine weitere Drehung. In den „Entbehrenden“ bilde sich ein Willen zum Zerstören, wie die Anarchisten bewiesen, so Nietzsche weiter. Aber es gebe auch den „Willen zum Verewigen“ als einen ästhetischen Impuls. Aus ihm gehe „Apotheosenkunst“ hervor, ob „dithyrambisch“ bei Rubens, „selig-spöttisch“ bei Hafis oder wie bei Goethe „hell und gütig“. „Apotheosenkunst“ ist laut Nietzsche eine Spätform. Ihre romantische Variante erklärt er wie folgt : sie verdanke sich dem Willen eines „Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten“, welcher „das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, dass er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt.“434 So unwissenschaftlich das Wort auch sein mag, es hat etwas Unheimliches, hier eine Erfahrung intellektuell vorgeprägt zu sehen, die nach Nietzsche zum Signum eines von der Tortur beherrschten Zeitalters werden sollte. „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.“435 Dieser Satz Jean Amérys bezeichnet die schmerzlichste Einsicht in die Folgen überstandener Tortur im Zeichen des Terrors. So grundverschieden die Voraussetzungen dieser Einsichten Nietzsches und Amérys auch waren, ihr gemeinsamer Nenner ist die Einsicht, dass der Schmerz letzte Steigerung der Erfahrung von Körperlichkeit sei. Bei 434 Ebd., S. 622. 435 In : Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. 3. Aufl. Stuttgart 1997, S. 46–73, hier : S. 73.
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Améry hat das Europäische in dieser Leidenserfahrung einen konkreten Namen, das Fort Breendonk unweit von Brüssel, inzwischen ein Museum des Leidens „unter dem ewig regengrauen Himmel Flanderns, mit ihren grasüberwachsenen Kuppen und schwarzgrauen Mauern“ ; es gleicht einer „melancholischen Gravüre“.436 Bei Nietzsche ergibt sich aus dem „Bild“ der Tortur, das sich nach dem Willen des „Torturierten“ auf alles übertrage, ja „einbrennt“, der „romantische Pessimismus“. Bei Nietzsche ist demnach der Wille desjenigen, welcher der Tortur ausgesetzt gewesen ist, nicht gebrochen ; er äußert sich als Kulturform, sei es in der Gedankenwelt Schopenhauers oder in der Musik Wagners. In Amérys Text bleibt das ‚Romantische‘ auf den „ewig regengrauen Himmel Flanderns“ reduziert ; den Rest kennzeichnet die völlige Abwesenheit jeglicher romantischer Spur. Er beschreibt die Annihilierung des Menschlichen und die Unmöglichkeit, nach der Tortur in eine Welt zu blicken, „in der das Prinzip Hoffnung“ herrscht.437 Bei Nietzsche dagegen verbindet sich die Erkenntnis, dass der „romantische Pessimismus das letzte grosse Ereigniss im Schicksal unserer Cultur“ sei mit der Hoffnung auf einen „Pessimismus der Zukunft“, den er „dionysisch“ nennt.438 Nur unter dem Vorzeichen dieses „dionysischen Pessimismus“, in dem sich das Vorantike, Unverbildete mit subtil-kritischer Einsicht und Sinnzweifel verbindet, konnte für Nietzsche das Europäische als Kulturphänomen neu lesbar werden. In Jenseits von Gut und Böse hatte Nietzsche im „Achten Hauptstück“ angedeutet, was „gutes Europäerthum“ bedeute, nämlich in der Musik „die Stimme für die Seele Europa’s“ nicht zu verlieren.439 Denn er hörte die Gefahr in der romantischen Kunstform schlechthin, der Musik, ins Nationale, „nur noch Deutsche“, zu „blosser Vaterländerei“ eben, „herabzusinken“. Nietzsche schließt seinen Aphorismus zur Frage nach dem Wesen der Romantik mit einer prophetischen Geste, die an Novalis’ Europa-Fragment erinnert, so grundverschieden auch der Inhalt der Prophezeiungen ist. Nietzsche sieht den „Pessimismus der Zukunft“ kommen, Novalis eine „Religionserweckung“ und mit ihr das unter christlichen Vorzeichen „erwachende Europa“. Als unwahrscheinlichste Ersatzreligion bietet Nietzsche das an, was er in der Fröhlichen Wissenschaft für die Essenz des Romantischen hält, den Pessimismus ; er ist gleichsam das Novalissche erneuerte Christentum nach dem Tod Gottes. 436 Ebd., S. 46. 437 Ebd., S. 73. 438 KSA 3, S. 622. 439 KSA 5, S. 188.
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Pluralität der Begriffe Bekanntlich behandelte und gebrauchte Nietzsche bestimmte Begriffe wie Pluralitäten ; inhaltlich waren sie für ihn vielwertig, was ihm ihre – oft spielerisch betriebene – „Umwertung“ erleichterte, und zwar lange bevor die „Umwerthung aller Werthe“ zum entscheidenden Projekt wurde. Das gilt für die ‚Tortur‘ ebenso wie für ‚Pessimismus‘. So konnte er sich in der Genealogie der Moral ein lachendes Loskommen von der Tortur ebenso vorstellen wie er den ‚Pessimismus‘ als Krankheit bezeichnet.440 In der Genealogie erklärt er auch genauer, weshalb Schopenhauer für die ‚Lektüre‘ der Romantik so entscheidend ist, habe er doch in seiner Willens(-verneinungs-)Philosophie die Musik zum eigentlichen Souverän erklärt.441 Für im eigentlichen Sinne ‚romantisch‘ hielt er Schopenhauers These, die Musik rede die Sprache des Willens, „unmittelbar aus dem ‚Abgrunde‘ heraus, als dessen eigenste, ursprünglichste, unabgeleitetste Offenbarung.“ Dadurch habe sich auch der Musiker ermächtigt gefühlt, in erster Linie der Schopenhauer‚Schüler‘ Wagner : „[…] er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des ‚An-sich‘ der Dinge, ein Telephon des Jenseits, – er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, – er redete Metaphysik […].“442 Damit ergibt sich ein Grund für Nietzsches kritische Lesart des Romantischen : Gerade weil die Romantik die Musik so privilegiert habe, konnte sie zur Ersatzreligion avancieren, zur Scheinmetaphysik werden, womit sie genau das unterminierte, was Novalis angestrebt hatte : eine fundierte Re-Sakralisierung der Gesellschaft und des europäischen Gemeinwesens. Wie erwähnt hatte auch Novalis auf die „heilige Musik“ in diesem Prozess gehofft und darauf, dass sie wie ein Blitz ‚einschlage‘ und den Streit zwischen den Völkern in (Selbst-)Besinnung umwandeln könne. Nach der Entfernung von Wagner war Nietzsche um eine solche Hoffnung ärmer, weil er beklagte, dass fortan die Erinnerung an das Romantische allenfalls noch mit dem, was er hassliebend, heimlich jedoch weiter bewundernd, zu verachten gelernt hatte, nämlich mit dem „Wagnerischen“, gleichgesetzt werden würde. Eher sporadisch und selten eingestanden bediente sich Nietzsche romantischer Vorgaben, beispielsweise in seinem „Lob der Sinnlichkeit“ in der Genealogie, das im Grunde einem Ansatz folgt, wie er ihn aus Friedrich Schlegels Lucinde hätte 440 In : KSA 5, S. 349. 441 Ebd., S. 346. 442 Ebd.
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kennen können. Es ist, wie zu Beginn dieses abschliessenden Kapitels erwähnt, viel Frühromantik in Nietzsches später Abrechnung mit dem Romantischen, manches an – wenngleich ironisch gebrochener – frühromantischer Aufbruchsstimmung in Nietzsches Rede vom romantischen Pessimismus. Auch im Falle des Bestimmungsversuchs zum Thema Romantik besteht Nietzsches diskursives Verfahren darin, sich durch Umschreibungen dem Gegenstand (vermeintlich) zu nähern. Doch dieses Umschreiben wahrt das viel bemühte „Pathos der Distanz“, welches das „Neunte Hauptstück“ von Jenseits von Gut und Böse thematisiert.443 Was Nietzsche in diesem Aphorismus über die Romantik vorführt, ist nicht nur eine bestimmte Lesart des Romantischen, sondern das Einlesen von ihm wichtigen Denkansätzen, insbesondere jenen des positiv konnotierten Pessimismus in den ‚Text‘ der Romantik. Das wiederum bedeutet, dass sich auch in diesem Aphorismus Nietzsches zunehmendes Unbehagen am (hermeneutischen) Interpretieren äußert. Er geht eben nicht von einem romantischen Gedicht aus, nicht von einer Textstelle ; vielmehr schafft er selbst textuelle Verhältnisse an deren Statt. Das Unbehagen an allzu eindeutigen Interpretationen Dahinter verbirgt sich das bislang nur unzulänglich in der Nietzsche-Forschung bedachte Problem von Nietzsches Missverhältnis zur Hermeneutik, das sich zuweilen in paradoxen Thesen zum Verstehensproblem artikulierte, etwa in Jenseits von Gut und Böse mit Blick auf die Französische Revolution. Sie galt ihm als „überflüssige Posse“ ; aber nicht das ist für unsere Überlegungen entscheidend, sondern Nietzsches folgende Behauptung : „[…] schwärmerische Zuschauer von ganz Europa“ hätten unaufhörlich und leidenschaftlich „ihre eignen Empörungen und Begeisterungen“ in die Französische Revolution „hinein interpretirt, bis der Text unter der Interpretation verschwand.“444 Dann die paradoxe Volte : „ […] so könnte eine edle Nachwelt noch einmal die ganze Vergangenheit missverstehen und dadurch vielleicht erst ihren Anblick erträglich machen.“445 In diesem missverstehenden Erträglich-Machen kann ein ästhetisches Element enthalten sein oder nicht : Maßgeblich ist für Nietzsche der Textcharakter eines historischen 443 KSA 5, S. 205. 444 Ebd., S. 56. 445 Ebd.
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Ereignisses und eines kulturgeschichtlichen Phänomens (wie der Romantik). Weil die Interpretation nun den Text überlagern, verstellen und entstellen kann, bevorzugt Nietzsche „deutend“ den Subtext oder Prätext oder überhaupt einen eigenständigen Nebentext, den er als gleichrangig dem eigentlich zu erörternden Phänomen an die Seite stellt, wohl wissend, dass gerade dieser Nebentext seinerseits Deutung herausfordert. In der These, dass der „romantische Pessimismus das letzte grosse Ereigniss im Schicksal unserer Cultur“ sei, spricht sich eine eschatologisch-finalistische Sicht der Kulturentwicklung aus, sofern das Adjektiv ‚letzte‘ nicht im Sinne von ‚jüngste‘ zu verstehen ist. Dann kämen nach ihm noch weitere. Aber die Formel des „dionysischen Pessimismus“ als einer Art gesteigertem Parallelbegriff zum „romantischen Pessimismus“ eignet etwas unüberhörbar Teleologisches. Archaisch-Griechisches, unverstellt Mythologisches vereinte sich demnach mit dem Urgewaltigen, Ungeschlachten, dem Dionysischen, mit dem verfeinert Musikalisch-Reflektierten, Willensverneinenden, dem Pessimismus. Dieses sich im Aphorismus 370 der Fröhlichen Wissenschaft exemplarisch zeigende diskursive Verfahren Nietzsches löst damit auf seine Weise ein, was bei Novalis als Chiffrenproduktion in Erscheinung trat, als ein Verschlüsseln und Dekodieren von Sachverhalten in einem. Nicht zu vergessen ist, dass jenes Fünfte Buch, in dem sich besagter Aphorismus findet, die Überschrift „Wir Furchtlosen“ trägt. Sie deutet auch auf den scheinbar unbekümmerten Umgang mit den in Rede stehenden Themen oder Begriffen hin. Um noch einmal auf den Beginn dieses Aphorismus zurück zu kommen : Er beginnt mit einer autobiografischen Bemerkung, einer Redefigur, die Nietzsche sich in der Folgezeit immer mehr zueigen machen sollte, bis sie dann in Ecce homo die ihm letzt mögliche Steigerung erfuhr. Mit „dicken Irrthümern und Ueberschätzungen und jedenfalls als Hoffender“ sei er am Anfang „auf diese moderne Welt losgegangen“.446 Als Hoffender habe er jedoch die pessimistische Substanz der romantisch vorgeprägten Moderne zu erkennen gelernt, als er – so impliziert der Text – auf das Doppelphänomen Wagner und Schopenhauer gestoßen (worden) sei. Indirekt räumt Nietzsche mithin ein, dass beide den „Text“ der Romantik überlagerten, so wie die Romantik laut Schlegel zunächst von der Französischen Revolution, Goethes Wilhelm Meister und Fichtes Wissenschaftslehre überlagert wurde. Konnte die Romantik das Universalpoetische (und mit ihm die Poetisierung des Wissens und der Wissenschaft) diesen Einflüssen abringen, 446 Ebd., S. 619.
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beziehungsweise es ihnen gegenüber stellen, so bietet Nietzsche das ganze mythologische Zeichenarsenal des Dionysischen auf, um es als ein Gegengewicht zu Wagner und Schopenhauer zu erproben. So gesehen geriet Nietzsches ‚Lektüre‘ des Romantischen zur Reflexion seiner intellektuellen Erbanlagen und als Anleitung zur eigenen Produktion, deren enzyklopädisch-kritisches Interesse – als Entsprechung zum ästhetischen (Selbst-) Darstellungsvermögen – er mit der Frühromantik teilte. Es scheint, als habe Nietzsche seine von spätromantischen Restsubstanzen durchwirkte Zeit gerade an dieses Interesse und diese Lesart der Romantik erinnern wollen. Aufschlussreich im Sinne der Pluralektik ist, dass sich Nietzsche eindeutigen Antworten auf die für ihn zentrale Frage nach dem Wesen der Romantik verweigerte und gerade im Hinblick auf diese Frage alles Monokausale, das ihm zu jener Zeit durchaus zu Gebote steht (etwa seine Definition des gesellschaftlichen Lebensgesetzes „Wille zur Macht und nichts ausserdem“) ausser Acht lässt. Die Romantik blieb für ihn – trotz schwerer Vorbehalte, die sich aus seiner intellektuellen Biografie ergaben – der Bereich des Pluralen, dem mit dialektischen Begriffen nicht beizukommen war. Das Diffuse der romantischen Stimmung, so irritierend sie für Nietzsche gerade in ihrer weihrauchhaften Auflösung blieb, prägte denn letztlich auch sein diskursives Vorgehen bei dieser Frage ; denn sein (selbstkritisches) Denken und Schreiben – gerade in Sachen Romantik – war nun einmal mit der Natur des Musikalischen verwandt.
Plurale Schlussworte
Im Romantischen spricht sich die Sehnsucht nach Entgrenzung aus. Dieses Phänomen der Romantik entzieht sich epochenspezifischen Bestimmungsversuchen ; es zielt vielmehr auf den Umgang mit Bewusstseinsgrenzen. Als Epoche von entschieden europäischen Ausmaßen vereint die Romantik divergenteste Erscheinungsformen und Inhalte : emphatische Subjektivität und Wille zur Selbstauflösung, nationale Identitätssuche und kosmopolitische Entgrenzung, Poetisierung von Wissenschaft und Politisierung des Poetischen, die Musikalisierung aller literarischen Gattungen und die Prosaisierung der Musik, Erforschung seelischer Befindlichkeiten und Pluralisierung von Wirklichkeit. Wohlgemerkt vollziehen sich diese Entwicklungen oft gleichzeitig, in Schüben, verteilt zwischen Früh- und Spätromantik, also an den fließenden Grenzen zur Empfindsamkeit, Sturm und Drang sowie Spätaufklärung bis hin zum Realismus, wissenschaftlichem Positivismus, politischer Revolution und imperialer Expansion. ‚Romantik‘ im hier vorgestellten Sinne meint ein Beziehungsgeflecht, ein Verweben und Auflösen in einem, eine zur Epoche erweiterte Schwellenerfahrung zwischen Bewusstem und Unbewusstem ; sie bezeichnet den Ursprungsort einer Befindlichkeit oder psychisch-poetischen Zustandsform. Sie erzwingt keine Synthesen, ja, sieht die in ihr gewachsene Dialektik Hegels eher als Fremdkörper denn als wesensverwandte Denkform. Romantik bezeichnete eine Avantgarde, die in ihrer Spätform ihre eigene Retrospektive lieferte. Zum Eigentümlichen dieser Spätform gehörte, dass sie vorgab, ihre Anfänge vergessen zu haben. (Zugespitzt gefragt : Was wollte der späte Eichendorff wirklich noch von Friedrich Schlegels Athenäum-Fragment wissen ?) Romantik pluralisierte ; sie polarisierte nicht, sondern brachte Gegensätze miteinander ins Spiel. Indem sie das Gedicht als die musikalischste aller dichterischen Sprachformen so betont privilegierte, konnte sie dieses „Spiel der Gegensätze“, aber auch der Verwandtschaften, Ähnlichkeiten und Gleichzeitigkeiten als Teil ihres umfassenden Poetisierungsprojekts einsetzen.447 An diesem Projekt übrigens hielten noch die Spätromantiker fest. Dieses Projekt, die Poetisierung der Welt, überlagerte alle anderen Erwägungen romantischer Schriftsteller. Seine Methode war nicht dialektisch, sondern pluralisierte die dialektischen Bezüge. Einige Facetten dieses Phänomens darzustellen war Sinn dieser Studien, Öffnun447 Vgl. dazu auch das Nachwort zur Anthologie : Rüdiger Görner, Zu den Sternen fliegen. Gedichte der Romantik. München 2008, S. 171–184.
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gen aufzuzeigen in einem Diskurs, der oft genug dogmatisch geführt worden ist. Noch die vehementeste Romantik-Kritik, neben der soeben betrachteten Friedrich Nietzsches etwa auch jene Walther Rathenaus, vorgetragen in seinem großen Essay Zur Mechanik des Geistes (1913), oder jene der Kritischen Theorie, kann sich der Wirkungsmächtigkeit der romantischen Weltentwürfe nicht entziehen. Man hat die Romantik zutreffend als ästhetischen Mehrwert bezeichnet, als „Überfluß an Bedeutsamkeit“, fälschlicherweise aber auch als „Überschuß an schöner Weltfremdheit“.448 Denn was heißt schon ‚weltfremd‘ ? In den langen, sich überlagernden Entwicklungsphasen der Romantik zeigte sich immer wieder, dass ihre Vertreter die Fremdheit in der Welt thematisierten, aber auch ‚die Welt‘ aufzufächern wußten, sich auf wissenschaftlichem Wege, Einsichten in ‚welthafte‘ Geschehensabläufe verschaffen, um diese dann wieder zu ‚poetisieren‘, Bewusstes mit Unbewusstem in Verbindung zu bringen. Weltfremd ? Doch wohl nicht, eher intim vertraut mit dem Gefühl, sich in verschiedenen Welten auskennen zu müssen, vertraut werden mit dem Befremden über vieles Weltliche und vertraut bleiben mit der Bemühung, aufgrund subtiler Wirklichkeitsbetrachtung auf Alternativen zu setzen. So astral die Romantik auch gestimmt war, vor allem auch ihre Spätformen, sie blieb sich der Wurzeln bewusst, dem Untergründigen, Unterirdischen, ob Novalis als Bergbaufachmann, Stifter als Mineraloge der Sprache oder Kerner als Erforscher unbewusster Seelenzustände. Die Pluralektik der Romantik hatte etwas Rhizomatisches, um Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Begriff zu gebrauchen.449 Wie das Rhizom in deren Definition konnte auch die Pluralektik, wie in diesen Kapiteln vorgeführt, „verschiedenste Formen annehmen“, sich verästeln, verkleiden, vertonen ; und das an Oberflächen und im Tiefgründigen, in Schichten, aber immer in bestimmten Graden von emotionaler, produktions- oder rezeptionsästhetischer Intensität. Je deutlicher durch diese Intensitäten Brüche in der Welterfahrung erkennbar wurden, je entschiedener regte sich in der (Spät-) Romantik der Wille zur Transzendierung, Überbrückung oder „Verkleidung“ (Gottfried Keller !) der Risse im Gewebe des Bewusstseins. Romantik war gelebte Vielheit, Ausdruck von Gleichzeitigkeit diverser Zeitebenen, war Europäisierung und Nationalisierung in einem, Wechselspiel von Immanenz und Transzendenz, Heimatideologie und Kosmopolitik, war Gedan448 So Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre. München 2007, S. 393. 449 Gilles Deleuze und Félix Guattari, Rhizom. Berlin 1977, S. 11.
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kenmusik und Poetisierung von Analysen, war pluralektische Lebensform und Symphonie gleichwertiger Widersprüche. Was von den Romantikern überliefert ist, überbietet an Reichtum alles bis dahin Dagewesene und bürgt dafür, dass sich die Diskurse über die Romantik und das Romantische quasi ins Unendliche fortschreiben können.
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Personenregister Abramovic, Marina 204, 205 Adorno, Theodor 113, 114, 120, 121, 131, 132, 133, 134, 135, 139, 155, 157, 160, 196 Ahna, Pauline de 10, Aichinger, Ilse 224, 225 d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 83, 266 Améry, Jean 271, 272 Andersen, Hans Christian 177 Arnim, Achim von 12, Arnim, Bettine von 111, 177, 178, 179, 199 l’Auxerrois, Denys 208 Axmann, Joseph 232 Baader, Franz von 154 Bach, Johann Sebastian 133 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 151, 201 Balzac, Honoré de 174, 184 Barthes, Roland 187 Bataille, Georges 212 Bartók, Béla 161 Baudelaire, Charles 88, 89, 97, 98, 99, 100, 102 Bauer, Bruno 177 Beckett, Samuel 187 Beckmann, Max 158 Beethoven, Ludwig van 10, 116, 125, 127, 128, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 138, 139, 140, 141, 156, 189 Benjamin, Walter 92, 95, 254 Benn, Gottfried 199 Bennett, William Sterndale 8, Berg, Alban 196 Berio, Luciano 118, 119 Berlioz, Hector 169, 174, 175, 183, 184, 221 Bloch, Ernst 26, 82, Blumenberg, Hans 83, 148, 251, 252 Bohrer, Karl-Heinz 31 Börne, Ludwig 258 Bradley, Francis Herbert 101 Brahms, Johannes 7, 16, 124, 184, 257 Brendel, Alfred 142 Brentano, Clemens 12, 30, 31, 32, 33, 115, 146, 165, 166, 177 Broch, Hermann 156 Browning, Elizabeth 260 Browning, Robert 260
Bruchmann, Franz v. 120 Bruckner, Anton 7, 16, 228, 257, 258 Büchner, Georg 36, 174, 175, 176, 222 Burckhardt, Jacob 151, 201 Burke, Edmund 69, 91 Burns, Robert 191 Butler, Judith 204, 206 Camus, Albert 187 Carlyle, Thomas 244, 245, 247, 248 Carus, Carl Gustav 176, 259 Cassirer, Ernst 87, 88 Cassirer, Richard 203 Celan, Paul 216 Cervantes, Miguel de 65 Chamisso, Adelbert von 33, 34, 166, 192, 212 Chateaubriand, François-René de 183 Chopin, Frédéric 122, 186, 188 Coleridge, Samuel Taylor 65, 104, 105, 106, 107, 145, 165, 260 Cook, James 47, 66 Cooper, Fenimore 117 Creuzer, Friedrich 136, 258 Culemann, Friedrich 233 Dehmel, Richard 198 Deinhardstein, Ludwig 120 Delacroix, Eugène 67 Deleuze, Gilles 278 Diderot, Denis 83, 266 Doderer, Heimito von 234 Dostojewski, Fjodor 29 Droste-Hülshoff, Annette von 178, 260 Droysen, Johann Gustav 151 Eichendorff, Josef von 9, 11, 13, 14, 15, 33, 152–154, 155, 156, 157, 167, 168, 172, 177, 178, 184, 185, 188, 192, 193, 194, 195, 197, 198, 213, 214, 258, 277 Eliot, T.S. 101, 102, 103, 145, 156, 157, 158 Engels, Friedrich 151, 177, 202 Ense, Varnhagen von 75, 177 Feuerbach, Anselm 7, Feuerbach, Ludwig 177, 181, 207, 258
299
Personenregister
Fichte, Johann Gottlieb 21, 22, 23, 26, 27, 43, 46, 48, 51, 83, 95, 164, 275 Fiore, Joachim von 91 Flaubert, Gustave 89 Fontane, Theodor 256 Fontenelle, Bernard de 144 Forster, Georg 44, 65, 66, 67, 68, 69, 70–76 Forster, Reinhold 66 Fouqué, Friedrich de la Motte 168, 179 Freiligrath, Ferdinand 191 Freud, Sigmund 32, 160, 251 Freyer, Achim 187 Friedrich, Caspar David 123, 125 Frisch, Max 207 Führich, Joseph von 136 Füssli, Johann Heinrich 208 Gaugin, Paul 161 Gautier, Théophile 89, 97, 256 Geiger, Peter 230 George, Stefan 28, 196 Goethe, Johann Wolfgang von 24, 37, 39, 47, 60, 68, 109, 118, 120, 123, 124, 125, 135, 136, 153, 155, 159, 178, 180, 194, 209, 215, 229, 234, 258, 271, 277 Gottsched, Johann Christoph 144 Gmelin, Lotte 221 Grabbe, Christian Dietrich 222 Greipl, Mathias 237 Grillparzer, Franz 116, 221 Grimm, Jacob und Wilhelm 179 Grün, Anastasius 180, 213 Guattari, Félix 277 Günderrode, Karoline von 181, 258 Hafis 281 Hanslick, Eduard 121 Hartmann, Georg August von 220 Hauff, Wilhelm 168 Haydn, Joseph 131, 133 Hebbel, Friedrich 224, 225, 227 Heckenast, Gustav 227, 233 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 36, 43, 79, 80, 81, 82, 89, 90, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 110, 128, 129, 130, 131, 133, 138, 160, 163, 244, 277
Heidegger, Martin 54 Heine, Heinrich 7, 11, 36, 41, 68, 75, 118, 139, 180, 182, 185, 190, 191, 192, 198, 200, 201, 202–211, 222, 260 Heinse, Wilhelm 111, 115, 165, 208, Heller, André 228 Helvétius, Claude Adrien 179 Hensel, Kerstin 201 Herder, Johann Gottfried 12, 62, 146, 242 Hermann, Gottfried 136 Hesse, Hermann 12 Hettner, Hermann 243 Heyne, Christian Gottlob 68 Hoffmann, E.T.A. 10, 11, 29, 108, 110, 126, 129, 130, 166, 173, 174, 178, 180, 182, 184, 188, 199, 237, 258 Hofmannsthal, Hugo von 21, 22, 221 Hogarth, William 39, 127 Hölderlin, Friedrich 26, 35, 36, 37, 40, 43, 44, 46, 50, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 65, 66, 69, 81, 90, 91, 94, 123, 130, 200, 201, 202, 208, 209 Hölty, Hermann 118 Hopkins, Gerard Manley 198 Humboldt, Alexander von 44, 64, 65, 66, 74, 151, 231, 266 Hume, David 144, 145 Husserl, Edmund 101, 102 Joachim, Joseph 198 Joyce, James 166 Kabis, Johannes 240 Kafka, Franz 205 Kalidasa 67 Kant, Immanuel 36, 44, 46, 50, 80, 107, 108, 145, 146, 168 Kassner, Rudolf 212 Kean, Edmund 104 Keats, John 96, 97, 103, 104, 118 Keller, Gottfried 239–241, 243, 245–255, 258, 278 Kerner, Justinus 176, 193, 194, 259, 278 Kierkegaard, Søren 35, 151, 152, 179, 202 Kittler, Friedrich 28
300 Kleist, Heinrich von 46, 180, 222 Klenze, Leo von 200 Koestler, Arthur 162 Köselitz, Heinrich 268 Kreisler, Johannes 10 Kretzschmar, Hermann 135 Lasalle, Ferdinand 151 Lawrence, D.H. 160, 161, 210 Leibniz, Gottfried Wilhelm 83, 84, 125 Lenau, Nikolaus 13, 116, 180, 212–224 Lenz, Jakob Michael Reinhold 176 Lessing, Gotthold Ephraim 70, 91 Lichtenberg, Georg Christoph 39, 85, 89, 242, 243 Liszt, Franz 121, 124, 130, 141, 142 Lommatzsch, Carl 79 Longfellow, Henry W. 142, 260 Lortzing, Albert 180 Löwenthal, Sophie von 212, 215 Ludwig I. 198 Luther, Martin 40, 263, 264 Maeterlinck, Maurice 184 Mahler, Gustav 13, 198, 258 Manet, Edouard 208 Mann, Thomas 107, 132, 161, 182, 197, 224, 225, 226, 269 Marquardt, Jochen 43 Marthaler, Christoph 121 Marx, Karl 94, 179, 181 Menasse, Robert 162 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 7, 130, 190, 197 Messiaen, Olivier 130 Mettrie, Julien Offray de La 179 Meyer, Conrad Ferdinand 258 Meyerbeer, Giacomo 67 Mickiewicz, Adam 179 Milanollo, Theresa 228, 229 Montesquieu, Baron de 245 Moore, Thomas 191 Mörike, Eduard 13, 14, 15, 106, 107, 165, 170, 171, 172, 176, 258 Moritz, Karl Philipp 62, 160 Mozart, Wolfgang Amadeus 14, 171, 172, 176
Personenregister
Müller, Adam 42, 43, 45 Müller, Wilhelm 29, 116, 118, 123, 124 Nerval, Gérard de 202, 258 Niemeyer, August Hermann 117 Nietzsche, Friedrich 8, 100, 101, 110, 128, 137, 141, 166, 201, 208, 215, 224, 225, 257, 259–275, 276, 278 Nodier, Charles 184, 258 Novalis 8, 13, 17, 21, 22, 23, 26, 28, 32, 33, 39, 40, 41, 42, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 55, 56, 57, 61, 63, 69, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 95, 97, 110, 111, 117, 118, 119, 125, 146, 147, 148, 149, 150, 164, 165, 181, 258, 261, 262, 263, 264, 266, 267, 272, 273, 275, 278 Paganini, Niccolò 141 Paul, Jean 79, 86, 87, 115, 124, 163, 173, 176, 182, 183, 237, 241, 242, 245 Peacock, Thomas Love 107 Pessoa, Fernando 182 Petöfy, Alexander 180, 181 Pfizer, Gustav 213 Pinter, Harold 161, 162 Platen, August von 222 Poe, Edgar A. 29, 89, 158 Pope, Alexander 28, Proudhon, Pierre-Joseph 207 Quincey, Thomas de 168, 169 Raabe, Wilhelm 258 Ranke, Leopold von 151 Rathenau, Walther 278 Rauch , Christian Daniel 7, Reimer, Georg Andreas 262 Rembrandt 231 Renan, Ernest 259 Reni, Guido 233 Riemenschneider, Tilman 126 Rilke, Rainer Maria 89, 101, 114, 217, 224, 237, 238 Ritter, Johann Wilhelm 111, 112 Roedl, Urban 225
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Personenregister
Rousseau, Jean-Jacques 47, 60 Rubens, Peter Paul 269 Rückert, Friedrich 13, 191 Sachs, Nelly 203 Savigny, Friedrich Carl von 151 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 26, 27, 28, 29, 30, 33, 36, 37, 38, 39, 90, 104, 108, 109, 110, 145, 149, 150, 151, 152, 154, 163, 168, 169, 201, 258 Schickele, René 210 Schiller, Friedrich 8, 25, 26, 40, 46, 49, 58, 61, 67, 68, 71, 72, 93, 94, 119, 120, 140, 180, 182, 202, 208 Schlegel, Friedrich 8, 9, 29, 42, 47, 65, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 81, 85, 86, 90, 91, 95, 104, 105, 108, 115, 125, 146, 165, 189, 258, 259, 261, 262, 266, 273, 275, 277 Schleiermacher, Friedrich 28, 33, 79, 80, 112, 113 Schmidt, Georg Philipp 120 Schmidt, Julian 224 Schmitt, Carl 42, 43, 45 Schober, Franz 115 Schönberg, Arnold 198 Schopenhauer, Arthur 96, 98, 128, 135, 139, 141, 161, 259, 267, 272, 273, 275, 276 Schrott, Raoul 102, 103 Schubert, Franz 11, 16, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 126, 182, 190 258 Schubert, Gotthilf Heinrich 192, 257 Schumann, Clara 189, 191, 193, 194, 196 Schumann, Robert 8, 13, 110, 115, 123, 169, 176–200, 258 Schwab, Gustav 260 Schwind, Moritz von 122 Scott, Walter 118 Sealsfield, Charles 117 Sebald, W.G. 240, 254 Senn, Johann 120 Shakespeare, William 191, 192 Sloterdijk, Peter 234 Smith, Adam 43 Spinoza, Baruch 96
Staiger, Emil 146, 230 Stein, Heinrich von 141 Steiner, George 162, 173 Stendhal 65 Stifter, Adalbert 180, 221, 223–238, 239, 244, 278 Stirner, Max 179 Stockhausen, Julius 121 Stockhausen, Karlheinz 228 Storm, Theodor 258 Strauss, David Friedrich 181, 259 Strauss, Richard 10, 12, 215 Strawinski, Igor 161 Swift, Jonathan 245 Tavener, John 130 Tennyson, Alfred Lord 260 Thomson, James 208 Thorvaldsen, Bertel 7, Tieck, Ludwig 12, 108, 115, 129, 130, 168, 258, 259, 262 Tizian 131 Tschaikowski, Peter 115, 184 Uhland, Ludwig 260 Valéry, Paul 186 Vinci, Leonardo da 24 Vischer, Friedrich Theodor 250 Volney, Comte de 69 Voltaire, François Marie Arouet de 85 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 16, 24, 25, 129 Wagner, Richard 9, 11, 13, 125, 127, 128, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 169, 170, 176, 180, 181, 187, 207, 208, 249, 257, 259, 265, 267, 268, 272, 273, 275, 276 Walser, Robert 219, 220 Walter, Bruno 131 Weber, Carl Maria von 180, 190 Weber, Max 210 Weerth, Georg 200 Werfel, Franz 222 Wieland, Christoph 209
302 Willemer, Marianne von 123 Williams, Vaughan 130 Winckelmann, Johann Joachim 65 Wittgenstein, Ludwig 100, 266 Wolf, Hugo 14, 16, 110, 198 Wordsworth, William 65, 169 Zweig, Stefan 162
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