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German Pages [172] Year 1971
STUDI
ITALIANI
HERAUSGEGEBEN VOM I S T I T U T O I T A L I A N O DI C U L T U R A IN VERBINDUNG MIT DEM P E T R A R C A - I N S T I T U T A N DER U N I V E R S I T Ä T K Ö L N
B A N D 11
DIE FIABE CARLO GOZZIS Die Entstehung einer Gattung und ihre Transposition in das System der deutschen Romantik
von HELMUT FELDMANN
® 1971
BÖHLAU VERLAG KÖLN WIEN
Als Habilitationssdirift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1971 by Böhlau-Verlag, Köln Gesamtherstellung: Butzon & Bercker, Kevelaer Printed in Germany ISBN 3 412 31171 5
INHALT Einleitung
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Teil I : Die ideologisch-theoretischen Voraussetzungen des Gozzischen Werkes und ihr Niederschlag in der Kritik an Goldoni 1. Gozzi als Exponent der politischen Reaktion in Venedig .
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2. Eine reaktionäre Poetik: Gozzi und die Akademie der Granelleschi
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3. Die Theorie der Commedia dell'arte
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4. Gozzis Kritik an Goldoni
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Teil I I : Die Gattung Fiaba 1. Fiaba und Commedia dell'arte
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2. Die Fiabe und ihre Märchenquellen
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3. Die Fiabe und ihre Vorbilder in der Comédie Italienne und dem Théâtre de la Foire in Paris
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4. Die Fiaba als Instrument der gesellschaftspolitischen Ideologie Gozzis
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5. Die Fiaba als Verbindung von Commedia dell'arte und Märchen
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Teil I I I : Die Transposition der Fiaba in das System der deutschen Romantik 1 . D i e „Gozzische Manier" als Idealtypus (unter besonderer Berücksichtigung der Brüder Schlegel) 2. Tiecks frühe Märchenspiele und die „Gozzische Manier" a) Tiecks kritische Äußerungen zu Gozzi b) Die Märchenspiele Der Blaubart und Der gestiefelte Kater c) Tiecks Opernlibretto Das Ungeheuer und der verzauberte Wald (1798) 3. Schillers Turandot und E. Th. A. Hoffmanns Prinzessin Blandina als Beispiele für die klassischen und romantischen Vorstellungen von einer dramatischen Literatur in der Gozzischen Manier
98 117 117 119 134
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Bibliographie
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Autorenregister
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Diese Studie konnte entstehen dank eines Habilitandenstipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der ich hiermit f ü r die Unterstützung danke. Danken möchte ich ebenfalls den Professoren Eberhard MüllerBochat und Fritz Schalk, die meinen Antrag auf ein Habilitandenstipendium befürwortet haben und die mir darüberhinaus mit zahlreichen Hinweisen u n d Ratschlägen zur Seite gestanden haben. H . F.
EBERHARD
MÜLLER-BOCHAT
IN FREUNDSCHAFT ZUGEEIGNET
EINLEITUNG
Die skurrilen Dramatisierungen von orientalischen Märchen und die nicht weniger skurrilen Bearbeitungen spanischer Comedias de capa y espada, mit denen der venezianische Graf Carlo Gozzi (1720-1806) der realistischen Gesellschafts- und Charakterkomödie Goldonis (1707-1793) entgegenzuwirken suchte, haben in der italienischen Kritik und Forschung eine durchweg ablehnende Beurteilung erfahren. Dem entspricht, daß die Fiabe innerhalb der italienischen Literaturgeschichte eine Randerscheinung geblieben sind, deren einzige „Bedeutung" darin besteht, die Theaterreform Goldonis zeitweise gehemmt zu haben. So jedenfalls verstanden schon die Zeitgenossen die Rolle Gozzis und seiner Fiabe. Für den Marchese Albergati Capacelli sind sie Werke der Goten und Vandalen, „che con barbara mano e con impetuosa irruzione hanno distrutto in Italia il vigore ed il gusto della buona Commedia" 1 . Nach Vincenzo della Lena hat Gozzi ein „sovvertimento totale del teatro" herbeigeführt, „colle più abominevoli e mostruose rappresentazioni, che sieno state mai fatte". Gozzi, begabt mit einer „fantasia più che barbara, gotica, selvaggia e chinese", sei nichts als ein „ciurmatore" und „prestidigiatore de' sensi e della ragione", der die „vii plebaglia" 2 anziehe. In ähnlicher Weise urteilen Vanetti, Piazza 8 , Cesarotti, Taruffi 4 , Domenico Caminer 5 , Elisabetta Caminer 6 u. a. Ganz aus dem Rahmen scheint das Urteil Giuseppe Barettis zu fallen, der mit Gozzi die Abneigung gegen Goldoni teilte und die Verehrung der italienischen literarischen Tradition mit der Bewunderung Shakespeares in Einklang zu bringen versuchte. In Venedig hatte er Gelegenheit gehabt, einer Aufführung des Mostro turchino beizuwohnen, das ihn nodi
1 Lettere piacevoli se piaceranno, Modena 1791, S. 18. Näheres zum Verhältnis Gozzi - Albergati Capacelli in einem unveröffentlichten Manuskript GIUSEPPE ORTOLANIS aus dem Jahre 1942 (Bibliothek der Casa Goldoni in Venedig, Signatur 40 A 34/5). Das Manuskript stützt sich weitgehend auf den Aufsatz Carlo Gozzi der Rivista di Venezia (Jg. X, S. 3-40) aus dem Jahre 1931, der aber zum Zwecke einer Einleitung in die „Tragikomödien" umgearbeitet und ergänzt wurde. 2 zit. nach ACHILLE NERI, Goldoni, Chiari e Carlo Gozzi, in: Scena illustrata, 15. Febr. 1886. 3 Giulietta ovvero il seguito dell'impresario in rovina, Venezia, Gatti, 1784, S. 68-70. 4 Lettera all'abate Taruffi und Lettera al Cesarotti, 1766, beide in: CESAROTTI, Opere, Bd. X X X V , Firenze, Molini, 1811, S. 68 u. S. 72-73. 5 Europa letteraria, Mai 1773. • Giornale enciclopedico, N o v . 1775.
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einige Jahre später in England zu folgenden begeisterten Worten hinreißt: „Quanto pagherei se potessi avere il Mostro turchino! Vorrei tradurlo in inglese, e mi darebbe l'animo di farlo rappresentare qui con molto emolumento" 7 . Im gleichen Jahr (1768) veröffentlicht er in London seine Apologie The Italiens: An Account of the Manners and Customs of Italy, die bald auch ins Französische übersetzt wurde und in der Gozzi erscheint als „le plus grand poète dramatique qu'elle (l'Italie) ait jamais eu!" 8 . Und weiter heißt es: „Gozzi me parait un de ces génies faits pour produire Tâtonnement, l'admiration et l'enthousiasme. Il est, je pense, après Shakespeare, l'homme le plus extraordinaire qu'on ait vu dans aucun siècle. Gozzi a un tour d'imagination qui le porte a créer des caractères et des êtres qu'on ne trouve pas dans la nature, et cependant très naturels et très vrais. Tel est celui de Caliban dans la Tempête. A l'esprit d'invention, si rare parmi nos poètes modernes, Gozzi joint la pureté du langage, la force et la hardiesse des pensées, la beauté du coloris, l'harmonie de la versification, l'art de varier à l'infini les mouvements de la balance du théâtre, l'artifice de l'intrigue, la multiplicité des incidents, la probabilité de la catastrophe, la variété des décorations et plusieurs autres qualités admirables qu'on désire dans un drame" 0 . Baretti sollte sein Urteil wenige Jahre später revidieren. Nachdem er die Fiabe anhand der ColombaniAusgabe10 eingehender hatte kennenlernen können, charakterisiert er sie in einem Brief aus dem Jahre 1784 an seinen Freund Francesco Carcano als „mucchio d'oro e di sterco" und nennt Gozzi einen „scioccone ingegnoso"11. Allein Gozzis Bruder Gaspare, der der Reform Goldonis zwar kritisch, aber nichtsdestoweniger wohlwollend gegenübersteht, macht den heroischen Versuch, die Fiabe zu rechtfertigen, indem er das Märdienhafte in lockere Verbindung mit dem Wunderbaren in der Dichtung von Homer bis Tasso bringt, auf die „allegorische" Sinngebung verweist und schließlich Kriterien moderner sensualistischer Geschmackslehren französisch-eng7
Brief vom 15. Febr. 1768 an den Grafen Bujovich, zit. nach GALANTI, Scritti inediti di Carlo Gozzi, in: Atti dell'Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti, serie VI, vol. IV, 1885-1886, S. 1326. 8 Les Italiens, Amsterdam und Paris, Costard, 1774, S. 89. 8 ebda., S. 91. 10 8 Bde., Venezia 1772-74, Bd. VII und V i l i mit fingierter Ortsangabe: Firenze. Die Ausgabe hat zwei Fortsetzungsbände, die das dramatische Werk von 1773-1792 erfassen: Bd. IX, Venezia, Fogliarini, 1787 u. Bd. X, Venezia, Curti, Q. Vitto, 1792. 11 Scritti scelti inediti o rari, Milano, Bianchi, 1823, Vol. II, S. 319-320. Gozzi hat von Barettis revidiertem Urteil nie erfahren. Geschmeichelt bedankt er sich in der Zanardi-Ausgabe seiner Werke (Bd. XIV, 1803 oder 1804, S. 83-92). Siehe auch den viele Seiten zählenden Brief Gozzis A Monsieur Baretty (Venezia, 15. Sept. 1776, in: GALANTI, Scritti inediti di Carlo Gozzi, a. a. O.). Näheres zum Verhältnis Baretti - Gozzi bei E. MASI, Studi sulla storia del teatro italiano nel secolo XVIII, Firenze, Sansoni, 1891, S. 117-123.
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lischer Herkunft zu ihrer Verteidigung heranzieht 12 . Aber die wohlwollende Kritik ist zweifellos vor allem der brüderlichen Solidarität zu verdanken. Im 19. Jahrhundert bleiben die Fiabe „bizarrie e capricci. . . che non significano niente" (Settembrini) 13 , und auch im 20. Jahrhundert kommt Guiseppe Ortolani, einer der besten Kenner Gozzis und des venezianischen Theaters der Goldoni-Zeit, zu einem ähnlichen Ergebnis: „Ii conte Carlo non ha una vera coscienza d'arte. Egli cerca nel teatro uno svago ai suoi fastidi domestici che per lui contano assai più de' componimenti drammatici. Questi non gli sfruttano che la vanagloria dei battimani, le scapellate degli attori e qualche pericoloso amoruccio con le attrici. La sua era anche ostinazione, dopo che era entrato nella lizza: ma cento volte ripete che i teatri sono recinti di ricreazione per il pubblico e nient'altro. Quasi quasi si vergognava di perdere così il suo tempo: se non era un po' di gloriuzza e lo sguardo di qualche bella attrice che lo implorava, avrebbe forse smesso di scrivere, invece continuò fino a ottant'anni" 14 . Bis auf den heutigen Tag haben die Fiabe in Italien eigentlich nur in Benedetto Croce einen namhaften Kritiker gefunden, der sich zu ihnen bekannt hat: „Contrariamente al giudizio stabilito e all' atteggiamento prescritto, a me accade di leggere con diletto le fiabe di Carlo Gozzi e di averle in pregio nella qualità loro propria" 15 . Aber diese so kühn sich gebende Herausforderung an das etablierte Gozzibild hält sich doch in ganz bescheidenen Grenzen: Croce will nichts anderes erreichen „che il semplice riconoscimento che le Fiabe del Gozzi sono uno scherzo e come scherzo vanno guardate e godute" (S. 153). Die traditionelle Definition der Fiabe als „bizzarrie e c a p r i c c i . . . che non significano niente" (Settembrini) wird damit nicht angetastet, sondern erhält nur ein positives Vorzeichen. Der Bedeutungslosigkeit Gozzis für die italienische Literatur und seiner Geringschätzung durch die italienische Kritik steht die überaus reiche Nachwirkung der Fiabe in der deutschen Literatur gegenüber, von der Hedwig Hoffmann-Rusack mit ihrer Materialsammlung Gozzi in Gertnany: A Survey of the Rise and Decline of the Gozzi-Vogue in Germany and Austria with Especial Reference to the German Romanticists16, ein 12
Vgl. die Besprechungen von L'amore delle tre melarance in: La gaietta veneta, Nr. CIII, 27. Jan. 1761, Il corvo in: L'osservatore veneto, Nr. LXXVII, 28. Okt. 1761 u. Il re cervo in: L'osservatore veneto, Nr. XCVIII, 9. Jan. 1762. 13 LUIGI SETTEMBRINI, Lezioni di letteratura italiana, 2. Aufl., Napoli, Ghio, 1869-1872, Bd. III, S. 175. 14 Manuskript, a. a. O., Bl. 28. 15 II carattere delle fiabe di Carlo Gozzi, in: La letteratura italiana del Settecento, Bari, Laterza, 1949, S. 152. 16 N e w York, Columbia University Press, 1930.
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eindrucksvolles Bild vermittelt. Tieck, Schiller, E. Th. A. Hoffmann und Richard Wagner, um nur die bedeutendsten Namen zu nennen, bearbeiteten seine Stücke oder ahmten sie nach. Die Brüder Schlegel fühlten sich zu einer eingehenden kritischen Auseinandersetzung mit den Fiabe herausgefordert. Margarethe Kober 17 rückt Gozzi in seiner Bedeutung für das deutsche Märchendrama gleichrangig neben Shakespeare: Schon in Klingers Derwisch als einem der frühesten deutschen Märdienspiele lasse sich der bestimmende Einfluß der beiden Märchendramatiker nachweisen, die „die Entwicklung des deutschen Märchenspiels auf Jahrzehnte, ja, bis auf den heutigen Tag bestimmen sollten". Walter Hinck hebt hervor, daß die Romantiker Gozzi „neben Shakespeare und Calderón als dritten großen Vertreter romantischer Poesie"18 feierten. Auch Frankreich geriet, wenngleich in bescheidenerem Maße, in den Sog der Begeisterung der deutschen Romantik für Gozzi. Neben zahlreichen, meist positiven kritischen Äußerungen und einigen Übersetzungen19 blieb Gozzi nicht ohne Wirkung auf bestimmte Ansätze zur Reform des Theaters bei Maurice Sand und Théophile Gautier. Die italienischen Literaturhistoriker des 19. Jahrhunderts standen dieser Rezeption Gozzis in Deutschland und Frankreich verständnislos gegenüber. Daß A. W. Schlegel in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur die Fiabe gegen Metastasio und das klassizistische italienische Theater ausspielt und in die Nähe der großen Vorbilder des „romantischen" Theaters rückt, erscheint G. U. Pagani-Cesa ein wahnwitziges Unterfangen, das er als Klassizist polemisch gegen die romantische Bewegung auswertet: „Noi sappiamo die quelle puerilità ridicole non furono ben accolte che in Venezia dai fanciulli, die non sospettavano nel Goldoni il genio vero della c o m m e d i a . . . L'apostolo del romanticismo, che profonde l'erudizione e l'ingegno per inorpellare gli assurdi.. non si è avveduto che l'esempio delle Fiabe del Gozzi, dichiarate da lui si vicine ai capi d'opera del romanticismo, screditano affatto la sua missione, anzicchè far vacillare minimamente la costante venerazione dovuta al gran Metastasio, e al dottrinale, che fondamenta la tragedia classica, professato in Francia e in Italia" 20 . Ähnlich urteilen Paolo Emiliani-Giudici21 und Giacomo Zanella 22 . 17 Das deutsche Märchendrama, in der Reihe: Deutsche Forschungen, hrsg. von Friedrich Panzer u. Julius Petersen, H. 11, Frankf./M. 1925. 18 Das deutsche Lustspiel des 17. u. 18. Jahrhunderts u. die italienische Komödie, Stuttgart, Metzler, 1965, S. 381. 19 Vgl. GÉRARD LUCIANI, Carlo Gozzi e la critica francese della prima metà dell'Ottocento, in: Problemi di lingua e letteratura italiana del Settecento", Atti del Quarto Congresso dell'Associazione Internazionale per gli Studi di Lingua e Letteratura Italiana, Wiesbaden, Steiner, 1965. 20 Sovra il teatro tragico italiano, Firenze, Magheri, 1825, S. 50. 21 „ N o n senza riso si possono leggere le lodi grandi die dei mostri del Gozzi
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Piero Maroncelli hingegen läßt sich von der ultramontanen Gozzirezeption anregen, den Fiabe einen ehrenvollen Platz innerhalb der Bewegung des Risorgimento einzuräumen. Er rückt Gozzi, „che con l'ala di Shakespeare, di Calderón e di Schiller avea volato al di là della prescritta drammatica arena, che mal si dice aristotelica", in die Reihe der Parini, Alfieri, Foscolo, Pindemonte. In einer Anmerkung begründet er die Ehre und Anerkennung, die er Gozzi zuteil werden läßt, folgendermaßen: „Carlo Gozzi, che esteri hanno in onoranza, e italiani a schifo; dico gli italiani del secolo delle nullità, e quindi del regno delle sole buone parole. E inutile ricordare che i seguaci del dramma (largamente preso), tengono Carlo Gozzi tra i più valenti creatori del genere, e come vero genio originale. Anch' esso attende . . . la patria ospitalità che gli è negata, e sta a noi, esuli politici, stringerci d'intorno a questi nostri illustri che hanno sofferto l'ostracismo letterario, e con essi attendere die l'ora suoni in cui unione, libertà e indipendenza, sieno retaggio che l'uomo d'Italia lasci ai figli suoi. Allora, perchè per legge psicologica, una libertà, non ista senza l'altra, destinaremo in Campidoglio le loro statue, e il culto che ne seguirà, sarà giusto risarcimento dell'ingratitudine antica" 23 . Weder Pagani-Cesas noch Marconcellis Urteile fußen auf einer genaueren Kenntnis des Gozzischen Werkes oder des deutschen Gozzibildes. Aber in ihren so verschiedenen Reaktionen auf die romantische Rezeption Gozzis in Deutschland zeichnet sich schon die Aufgabe der Forschung ab, die stark divergierenden Traditionen der Deutung Gozzis in Deutschland und Italien miteinander auszusöhnen. Unter dem Eindruck der romantischen Begeisterung für Gozzi jenseits der Alpen versucht De Sanctis, die Fiabe als Vorboten der romantischen Bewegung zu verstehen, sieht sich aber insofern vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt, als Gozzi in seinen theoretischen und polemischen Schriften als ein äußerst scrisse lo Schlegel, e dietro lui i suoi cagnotti propagatori del romanticismo'" (Storia della letteratura italiana, 2. veränd. Aufl., Firenze, Le Monnier, 1855, Bd. II, S. 313. Die 1. Aufl. trägt den Titel Storia delle belle lettere in Italia, Firenze, Soc. Ed. Gior., 1844). 2 2 „Se critici tedeschi le (le Fiabe) levarono a cielo, se Sdiiller tradusse la Turandot, se in qualche università di Germania si commentarono pubblicamente, vuol dire che i tedeschi hanno un loro gusto bizzarro; e che si fida malissimo chi giudica un lavoro letterario secondo le loro vedute" (Della letteratura italiana nell'ultimo secolo, 2. Aufl., Città di Castello, Lapi, 1887, S. 66). 23 Addizioni a „Le mie prigioniMemorie di Silvio Pellico, Torino 1832, zit. nach SILVIO PELLICO, Le mie prigioni, Milano, Rizzoli, 1933, S. 317. Daß Maroncelli keine Ausnahme bildet, ist ANTONIO PAGLICCI-BROZZI, Sul teatro giacobino ed antigiacobino in Italia: 1796-1805 (Milano, Pirola, 1887) zu entnehmen: „Questo codino (Gozzi) . . . era stato egli stesso in alcuni luoghi, e specialmente in Napoli, preso sul serio come stendardo della rivoluzione in teatro e quindi della rivoluzione politica in Italia. Che la dea Ragione lo perdoni a quegl'ingenui sanculotti" (S. 33).
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konservativer Akademiker auftritt, der allein in der strengen sprachlichstilistischen Imitation der klassischen Modelle vor allem des 16. Jahrhunderts das Heil der italienischen Literatur sieht. De Sanctis entzieht sich diesem Dilemma, indem er erklärt, Gozzi habe die in ihm streitenden modernistischen und traditionalistischen Tendenzen mangels intellektueller Kraft nicht zu einer Synthese führen können; das „elemento contraddittorio" in Gozzi wird zum Angelpunkt seiner Interpretation: „Gozzi non ha chiaro lo scopo, e vuole una cosa e fa un'altra, e procede a balzi, tirato da varie c o r r e n t i . . . Volea ristorare l'antico, odiava le novità, e senza saperlo le portava nel suo seno" 24 . Einem zweiten Dilemma sieht sich De Sanctis gegenüber, sobald er den konkreten Beitrag Gozzis zur „romantischen" Bewegung bestimmen will. Audi er muß im Einklang mit dem traditionellen Gozzibild die Fiabe als wertlos ablehnen: „Quelle apparizioni non hanno per lui serietà, sono giochi e passatempi: perciò scherzi abborracciati e senza nessun valore proprio" (S. 904). Er rettet sich, indem er Gozzi, unabhängig vom dichterischen Niveau der Fiabe selbst, eine „idea altamente estetica in astratto" zuerkennt, die ihren Niederschlag in der Konzeption einer neuen Gattung finde, als deren Schöpfer Gozzi zu gelten habe: „Ciò che resta di lui è il concetto della commedia popolana, in opposizione alla commedia borghese . . . Il contenuto è il mondo poetico, com'è concepito dal popolo, avido del meraviglioso e del misterioso, impressionabile, facile al riso e al pianto. La sua base è il soprannaturale nelle sue forme: miracolo, stregoneria, magia. Questo mondo dell'immaginazione, tanto più vivo quanto meno l'intelletto è svilluppato, è la base naturale della poesia p o p o l a n a . . . Rifare questo mondo nella sua ingenuità, drammatizzare la fiaba o la fola, cercare ivi il sangue giovine e nuovo della commedia a soggetto; questo osò Gozzi in presenza di una borghesia scettica e nel secolo dei lumi, nel secolo degli .spiriti forti' e dei,belli spiriti'" (S. 902). In doppelter Hinsicht korrigiert Croce das Urteil de Sanctis': In den 24 Storia della letteratura italiana, Torino 1962, Bd. II, S. 901/903. Zahllos sind die Abwandlungen der Formel De Sanctis', von denen hier als Beispiel EDMONDO RHO zitiert werden mag: „Predicava l'autorità ed era un ribelle, un non c o n f o r m i s t a . . . imponeva il cattolicismo e nulla era in lui di veramente cristiano e di mistico" (Einleitung zu einer Auswahl der Fiabe, Milano, Garzanti, 1942, S. 3-4). Gozzi wird zum „uomo delle contradizioni" (Natali) gestempelt. Ziccardi geht so weit, daß er den Widerspruchsgeist zur eigentlichen Natur Gozzis macht: „II Gozzi non è una personalità etica . . . Egli contradice gli altri e se stesso, continuamente, nelle ragioni e nelle a z i o n i . . . La contradizione in lui era natura, e si manifestava all'occasione; e poiché tutte le occasioni eran buone a svegliarla, e ce ne erano di opposte, perciò nascevano diversi giudizi, diverse azioni" (Saggi su Carlo Gozzi, in: Forme di vita e d'arte nel Settecento, Firenze, Le Monnier, 1931, S. 123). Damit aber nimmt Ziccardi Gozzi aus den geistesgesdiìchtlichen Spannungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heraus u. verfälscht den Gedanken De Sanctis'.
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Fiabe Vorboten der romantischen Bewegung zu sehen, scheint ihm verfehlt: „(Non) mi persuade (la) collocazione, che anche il De Sanctis dà al Gozzi nella storia spirituale come colui che avrebbe, ancorché in modo contradittorio e inconcludente, tentato col ritorno al mondo fiabesco quel ricongiungimento al mondo soprannaturale a cui la borghesia, spaventata dalle esagerazioni dell'illuminismo e della rivoluzione francese, doveva alla fine afferrarsi come a tavola di salvezza, e die nella letteratura nostra fu rappresentato da Alessandro Manzoni, il quale sarebbe stato un Gozzi non più contradittorio e inconcludente. Giocherellare con le fiabe non mi sembra, nemmeno per lontanissimo accenno e per germinale tendenza, un ravvicinamento alla rivelazione e tradizione religiosa". Ebenso entschieden muß Croce im Rahmen seiner Ästhetik die Unterscheidung zwischen abstrakter Konzeption der Gattung und konkreter Fiaba ablehnen: „Non si può parlare di una poesia di cui si delinea l'idea o l'esigenza a che poi altri attuerà, senza tornare a una concezione intellettualistica della poesia, opposta al miglior pensiero dello stesso De Sanctis" 25 . Eine direkte Auseinandersetzung der italienischen Kritik mit dem Gozzibild der deutschen Romantik findet sich erst bei Ernesto Masi, der sich der Schwierigkeit seiner Aufgabe wohl bewußt w a r : „Questa varia f o r t u n a del Gozzi . . . dimostra come sia difficile dare di questo scrittore un giudizio esatto e sicuro" 26 . Seine Bemühungen um Verständnis f ü r das deutsche Gozzibild verraten unüberwindbare Unsicherheiten. D a ß Rudolf H a y m die Fiabe über Tiecks Märchenspiele und Schillers Turandot setzen kann 2 7 , bleibt ihm rätselhaft (S. 128). Völlig verständnislos steht er vor der Begeisterung E. Th. A. Hoffmanns, und er nimmt ernstlich an, die Loblieder auf die Fiabe seien ironisch zu verstehen: „Non è ben chiaro però se f r a tutti questi entusiasmi lo strano umore dell'Hoffmann non nasconda anche qualche intenzione beffarda, poiché nel suo Dialogo gemeint ist das Gespräch Seltsame Leiden eines Theaterdirektors - il più acceso partigiano del Gozzi è direttore d'un teatro di marionette" (S. 124). Der Gedanke, daß gerade der Marionettenstil der Fiabe Tieck und H o f f m a n n interessieren könnte, liegt Masi fern, und dies allein zeigt, wie wenig Erfolg seine Bemühungen um das deutsche Gozzibild gehabt haben. So kann er zusammenfassend den Erfolg Gozzis in Deutschland nur hinstellen als ein „malinteso fortunato che passa f r a lui ed i suoi furiosi ammiratori stranieri" (S. 124). Nach Masi ist kein weiterer Versuch unternommen worden, eine Brücke 25
a. a. O., S. 163 f. ERNESTO MASI, Carlo Gozzi e le sue fiabe teatrali, Einleitung zur Ausgabe der Fiabe (Bologna 1884). Zitiert wird nach dem Neudruck der Studie in: Studi sulla storia del teatro italiano nel secolo XVIII, Firenze, Sansoni, 1891, S. 5. 27 Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Berlin 1870, S. 90 ff. 28
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zwischen dem italienischen und deutsch-romantischen Gozzibild zu schlagen. Audi G. Natali, der unter dem Eindruck der Hochschätzung Gozzis in der deutschen Romantik eine Neuwertung seines Werkes versucht28, vermeidet jede Auseinandersetzung mit dem deutschen Gozzibild. Im übrigen hat sich die italienische Forschung darauf beschränkt, mit Masi ein „malinteso fortunato" anzunehmen und es irgendwie zu begründen. Für die einen wurde das Mißverständnis möglich durch Übersetzungen, „che celavano la rozza povertà dei suoi versi e la freddezza della sua prosa" 29 . Andere führen die „indole nordica" 30 als Erklärung an, wieder andere die „formale Willkür" 31 . Maddalena, der als Kenner des venezianischen Theaters zugleich auch bestens mit der Literatur der Goethezeit vertraut ist, gesteht: „Ma più non s'intende oggi per quale curiosa ventura i romantici di Germania e di Francia scorgessero in lui (Gozzi) un loro precursore" 32 . Von germanistischer Seite liegen zwei beachtenswerte Untersuchungen von Albert Köster 33 und Karl S. Guthke 34 zum Verhältnis Schillers zu Gozzi vor. Auch die Bemühungen von Thomas Cramer 35 um das Verhältnis E. Th. A. Hoffmanns zu Gozzi sind sehr aufschlußreich, beschränken sich aber auf das Erzählwerk Hoffmanns. Die zahlreichen weiteren Untersuchungen zur Bedeutung Gozzis für die Dichtung der Romantik sind wenig ergiebig. Margarete Kobers Geschichte des deutschen Märchendramas enttäuscht, sobald man die so hochveranschlagte Bedeutung Gozzis (s. o. S. 4) im einzelnen konkret nachgewiesen sehen möchte. Sehr unbefriedigend ist auch die Untersuchung von Hans Dahmen, E. Th. A. Hoffmann und Carlo Gozzi 36 , der Hoffmanns Geist in den Fiabe nachzuweisen versucht und sie auf diesem Wege völlig mißversteht. Um das Verhältnis Tieck-Gozzi bemüht sich Käthe Brodnitz 37 , bleibt aber in einer empirischen Suche nach Stoff- und Motivübernahmen stecken38. 28 II ritorno di Carlo Gozzi in: Idee, costumi, uomini del Settecento, Torino, Sten, 1926 (2. Aufl.). 29 SILVIO D'AMICO, Storia del teatro drammatico, 4. Aufl., Milano, Garzanti, 1 9 5 8 , Bd. I I , S . 2 5 1 . 30 FERDINANDO GALANTI, Carlo Goldoni e Venezia nel secolo XVIII, Padova, Salmin, 1882, S. 313. 31
GIVOVANNI ZICCARDI, a. a. O . , S . 1 5 7 .
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Teatro veneziano del Settecento, in: Il Marzocco, Jg. X X X I , Nr. 31-36, Firenze, 5. Sept. 1926. 33 Schiller als Dramaturg, Berlin 1891, S. 147-234 und S. 309-322. 34 Geschichte und Poetik der Tragikomödie, Göttingen 1961, S. 87-105. 35 Das Groteske bei E. Th. A. Hoffmann, München 1966, S. 158-178. 3 « Hochland, Jg. 20, Bd. I, 1928-29, S. 442-446. 37 Der junge Tieck und seine Märchenkomödien, Diss., München 1912. 38 Was das Wiener Theater angeht, so vertritt MAGDALENE WEINGEIST (Goldoni, Gozzi und das Wiener Theater, Diss., Wien 1938) die These, daß der Einfluß Gozzis auf das Wiener dramatische Schaffen „weit bis in das 19. Jahrhundert zu 8
Diese Lücke hat jüngst die Arbeit von Adriana Marelli, Ludwig Ti.ecks frühe Märchenspiele und die Gozzische Manier39 wenigstens teilweise ausfüllen wollen. Ihre Studie zielt auf „Verdeutlichung jenes Horizonts, in dem das Werk des Venezianers durch Tiecks Aufnahme eine prägende Kraft innerhalb der deutschen romantischen Lustspiel- und Kunstauffassung überhaupt werden konnte" (S. I). Zur Formulierung des Titels ihrer Arbeit hat sich Marelli von Tieck anregen lassen, der im PhantasusGespräch im Zusammenhang mit seinem Blaubart von der „Manier" Gozzis spricht. Marelli hätte auch Goethe zitieren können, dem die Formel von der „Gozzischen Manier" vermutlich zu verdanken ist: Am 15. Aug. 1797 bemerkt Goethe zum Zustand des Theaters in F r a n k f u r t : „Auf dem Theater, so wie ichs auch wieder hier sehe, wäre in dem gegenwärtigen Augenblick manches zu tun, aber man müßte es leicht nehmen und in der Gozzischen Manier traktieren; doch es ist in keinem Sinne der Mühe wert" 4 0 . Aber eine Rekonstruktion des romantischen Gozzibildes mit Hilfe des Begriffs von der Gozzischen Manier hält Marelli f ü r verfehlt: der Begriff entziehe sich weitgehend „dem direkten Zugriff streng analytischen Denkens", da es den Romantikern mehr um „die Schwebezustände, das assoziative Ergreifen und Umgreifen einer Sache im W o r t " gegangen sei: Man werde sich darum „nur auf Umwegen" dem Verhältnis der Romantik zu Gozzi nähern können (S. 47). Auf die direkten Wege, d. h. die Auseinandersetzung mit dem theoretisch-kritischen Gozzibild der Romantik verzichtet Marelli. Außerdem „gilt es zu bedenken, daß von einer allgemein gültigen, für die ganze Romantik verbindlichen Vorstellung über die Fiabe keine Rede sein kann. Ludwig Tieck, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Jean Paul und E. Th. A. H o f f m a n n hegten vielmehr offensichtlich sehr persönliche, vom eigenen Ingenium gezeichnete Auffassungen über G o z z i . . . Insofern man überhaupt verallgemeinernd von einer romantischen Sicht Gozzis sprechen darf, bezieht sich das auf eine mehr oder weniger offen eingestandene bis zur uneingeschränkten Bewunderung reichende Wertschätzung des Venezianers" (S. 47). Trotz dieser Feststellungen läßt sich Marelli nicht davon abhalten, „aufgrund objektiver Merkmale das ,romantische' Gozzibild zu rekonstruieren". Die „objektiven Merkmale" sucht sie in den Fiabe selbst, indem
verfolgen" sei: „die ganze Reihe der gespielten Wiener Dramatiker hat ihn in ihre Studie verarbeitet, sei es durch direkten oder mittelbaren Einfluß" (S. 38). Aber sie stützt sich fast ausschließlich auf Motivvergleiche, die äußerlich bleiben und nur in den seltensten Fällen mit Sicherheit auf Entlehnung aus Gozzi schließen lassen. Das Wiener Volkstheater war zu eigenständig, als daß es durch Go;,zi nachhaltig hätte modifiziert werden können. 39 Diss., Köln 1968. 40 Werke, hrsg. v. Trunz, Hamburg, 2. Aufl., Bd. XII, 1962, S. 93.
9
sie „deren spezifische Wesenszüge erläutert und zwar in Hinsicht auf solche Charakteristiken, die ihnen aus dem Blickwinkel der jungen deutschen romantischen Generation besonderen Wert verliehen oder zumindest doch ein besonderes Interesse sicherten" (S. 11). D a aber niemand unter den Romantikern zu Wort kommt, ist das Ergebnis der Analysen und Interpretationen Marellis nicht so sehr die „Rekonstruktion"
als
vielmehr die Konstruktion eines hypothetischen Gozzibildes der deutschen Romantik. Die Kriterien, vor denen sich dieses Gozzibild als romantisch auszuweisen hat, bleiben verschwommen. Hinzu kommt, daß die „spezifischen Wesenszüge" und
„objektiven
Merkmale" der Fiabe, die die Aufmerksamkeit der Romantiker auf sich gelenkt haben sollen, zum großen Teil erst von Marelli in die Fiabe hineininterpretiert worden sind. Das Gozzibild Marellis ist aus dem Bemühen hervorgegangen, möglichst viele strukturelle und spieltechnische Eigentümlichkeiten der Tieckschen Märchenspiele in den Fiabe vorgeformt zu finden. Zweifellos hat Marelli bei aller Entstellung der Fiabe auf diesem Wege auf viele gemeinsame Spielelemente hinweisen können, aber die Frage, worin die „prägende Kraft (des Venezianers) innerhalb der deutschen romantischen Lustspiel- und Kunstauffassung" liegt, blieb unbeantwortet. Die folgenden Untersuchungen wollen das tatsächliche Gozzibild der Romantik rekonstruieren und gehen dabei von den zahlreichen kritischen und theoretischen Äußerungen der Romantiker selbst aus. Ihr Gozziverständnis ist gar nicht so mannigfach nuanciert, wie Marelli es unterstellt, wenn sie dem Begriff von der Gozzischen Manier jeden verbindlichen Aussagegehalt abspricht. Nicht nur die Romantiker, sondern auch Goethe und Schiller waren sich darin einig, daß die Fiabe einem starren formalen Schema gehorchen. Friedrich Schlegel konstatierte das Faktum der „Manier" Gozzis in folgendem Fragment:
„Gozzi hat eigentlich nur ein
D r a m a geschrieben, so die meisten übrigen" 4 1 . Ebenso einig waren sich alle Gozzi-Freunde und selbst seine Kritiker in Italien in der Analyse dieser Manier, die so deutlich greifbar ist, daß man nur schwer zu verschiedenen Ergebnissen kommen konnte und kann. Das Besondere des deutschen Gozzibildes gegenüber dem italienischen liegt nun darin, daß sowohl Goethe und Schiller als auch die Brüder Schlegel, Tieck und H o f f mann in der Gozzischen Manier eine einzigartige Möglichkeit dramatischer Dichtung erkannten, die sie theoretisch zu begründen und praktisch zu verwirklichen suchten. Erst in der möglichen Sinngebung der Gozzischen Manier und ihrer Fruchtbarmachung für die deutsche Literatur scheiden sich die Zeitgenossen Goethes. Es gilt, im folgenden die deskripti-
41
Literary Notebooks,
1797-1801, hrsg. von Hans Eidiner, London 1957, Nr.
1749. 10
ve Analyse der Manier Gozzis von ihrer jeweils anderen Funktion innerhalb des Systems der Klassik und Romantik oder auch einzelner Persönlichkeiten zu unterscheiden. Der Frage, ob die Großen der Goethe-Zeit Gozzi verkannt haben, geht Marelli ebenso aus dem Wege wie dem stridenten Gegensatz von deutschem und italienischem Gozzibild. Die folgenden Untersuchungen werden zeigen, daß die Romantiker (mit Ausnahme Hoffmanns) die Grenzen und Schwächen der Fiabe durchaus gesehen haben. Ihr Interesse galt nicht so sehr den einzelnen Fiabe als vielmehr der Gozzischen Manier, wobei sie sich weitgehend im klaren darüber waren, daß diese Manier ihre tiefere Bedeutung als charakteristische Ausdrucksmöglichkeit romantischer Weltanschauungsdichtung erst von ihnen erhalten hat. Darüber hinaus gelang es Friedrich Schlegel, die Gozzische Manier unabhängig von jeder romantischen Sinngebung als das zu verstehen, was sie in der Intention Gozzis sein wollte und so zu einer sachgerechten Interpretation und Wertung auch der Fiabe selbst zu finden. Wir möchten die Analysen und Urteile Friedrich Schlegels geradezu als das Beste hinstellen, was unter formal-ästhetischen Gesichtspunkten je über Gozzi gesagt worden ist. Das romantische Verständnis der Fiabe kann nur auf dem Hintergrund des modernen Gozziverständnisses voll gewürdigt werden. Nicht nur der deutschen Germanistik fehlt es an präzisen Vorstellungen zur literarischen Persönlichkeit Gozzis, sondern auch die Italianistik sieht sich immer noch auf die inzwischen veraltete Monographie von Ernesto Masi Carlo Gozzi e le sue fiabe teatrali (1884) verwiesen. Masi hatte sich durch die Gozzi-Verehrung in Deutschland und Frankreich herausgefordert gesehen, die „vera origine storica" der Fiabe (S. 70) zu rekonstruieren. Dabei hielt er sich an den empirischen Ablauf der Literaturfehden zwischen Gozzi, Chiari und Goldoni: Gozzi, der Chiari und Goldoni zunächst mit Prosa- und Verssatiren habe vernichten wollen, greife schließlich auf dem H ö h e p u n k t des Kampfes zu den Waffen des Gegners, um ihn in seiner eigenen Festung, dem Theater, zu treffen. Er, der nie an dramatische Arbeiten gedacht habe, begebe sich nun auf die Bühne, um bestimmte verhaßte Tendenzen der Bühnenwerke seiner Feinde ins Burlesk-Parodistische zu verzerren. Nicht aus einem klaren theoretischen Programm, so folgert Masi, sondern aus opportunistisch-taktischen Erwägungen, einem „puntiglio casuale" (S. 70), seien die Fiabe hervorgegangen 4 2 .
42
Auf den Spuren Masis kann Mathilde Serao (Carlo Cozzi e la Fiaba, in: La vita italiana nel Settecento, Milano, Treves, 1896) im Haß Gozzis gegen Goldoni „l'origine della sua arte e della sua vita" (S. 271) sehen: „Quello die egli ha fatto, non lo ha fatto per una passione salda letteraria per il sorprendente nell'arte ma lo ha fatto per una passione d'uomo, molto più forte, molto più acerba, per il suo odio contra Carlo Goldoni" (S. 262).
11
Die vorliegende Monographie verzichtet auf eine detaillierte Wiedergabe der sich über viele Jahre hinstreckenden Literaturfehden und möchte stattdessen die Bezüge der Fiaba zu den gesellschaftsideologischen und dichtungstheoretischen Vorstellungen Gozzis in den Vordergrund rücken und sie als Gattung abgrenzen gegen Commedia dell'arte, Märchen und Théâtre de la Foire.
12
I DIE
IDEOLOGISCH-THEORETISCHEN
VORAUSSETZUNGEN WERKES
UND
IHR
KRITIK 1.
Gozzi
als
DES
GOZZISCHEN
NIEDERSCHLAG AN
Exponent
Reaktion
IN
DER
GOLDONI
in
der
politischen
Venedig
I m Frieden von Passarowitz ( 1 7 0 8 ) hatte die Republik Venedig ihre letzten militärischen Stützpunkte im Ägäischen Meer verloren und damit nicht nur auf eine ruhmreiche Rolle in der Politik der europäischen G r o ß mächte verzichten müssen, sondern auch ihre beherrschende Stellung als Handelsmacht
im östlichen
Mittelmeer eingebüßt. Die
„Königin
der
Adria" sah sich jetzt gezwungen, den Blick rückwärts auf das bisher kaum beachtete Hinterland zu werfen. Aber obwohl um die Mitte des Jahrhunderts breite Kreise der Öffentlichkeit erkannten, daß die wirtschaftliche Regression nur zu dämpfen sei, wenn das Hinterland zum Träger der venezianischen Wirtschaft gemacht würde, konnte sich das herrschende Stadtpatriziat nicht zu den notwendigen Reformen entschließen. Stattdessen rekurrierte die Stadt Venedig (Dominante) auf ihre verfassungsmäßig
verankerten
Privilegien
dem Hinterland
(Terraferma)
gegenüber, was zu einer immer stärkeren steuerlichen Belastung der Landbevölkerung
führte. D e r
traditionelle R i ß
zwischen Dominante
und
Terraferma vertiefte sich, und Napoleon konnte sich bei seinem Marsch auf Venedig auf die so entstandenen Unruheherde in Bergamo und Brescia stützen. Audi innerhalb der Dominante fehlte es nicht an Spannungen: M i t dem Niedergang der Militär- und Kolonialmacht hatte der Stadtadel einen großen Teil seiner traditionellen Aufgaben in Armee und Verwaltung verloren. V o r allem der niedere Adel der Barnabotti - so benannt nach dem Stadtteil, den er bewohnte - degenerierte zum Parasiten der Staatskasse. Demgegenüber konnte das Bürgertum sich durch Industrie und Handel einen relativen Wohlstand sichern. Die Spannungen zwischen dem erstarkenden Bürgertum und dem dekadenten Adel lassen sich aus den Komödien Goldonis herauslesen. Wiederum erwies sich die oligarchische Herrschaftsschicht als unfähig zu den notwendigen Reformen
in
Staat und Gesellschaft 1 . 1
Vgl. MARINO BERENGO, Il problema
politico-sociale
di Venezia
e della sua
Terraferma, in: La civiltà veneziana del Settecento, Firenze 1960, S. 87 f. 13
Die Republik Venedig nahm innerhalb der italienischen Staaten eine Sonderstellung
ein,
insofern
sie
zwar
formal
ihre
Unabhängigkeit
in den Erbfolgekriegen bewahrte, dafür aber an den Reformimpulsen, die der aufgeklärte Despotismus der Bourbonen und Habsburger in die annektierten Staaten Italiens trug, keinen Anteil hatte. Während beispielsweise Maria Theresia die traditionellen Privilegien des Patriziats in Mailand durch Reformen stark einschränkte, verharrte Venedig in der Stagnation eines rigorosen Traditionalismus. Das 18. Jahrhundert als „siècle des réformes n'en voit aucune triompher à Venise" 2 . Trotzdem wird die Republik Venedig nicht von wirklich revolutionären Unruhen bedroht. Verschließt sich auch die Regierung jeder A r t von Reformen, so vermag sie doch die Agonie des Staates vor einer dramatischen Konfrontation der progressiven und reaktionären K r ä f t e zu bewahren. Einer geschickten Politik der Neutralität in allen internationalen Streitfragen gelang es, Venedig in ein Jahrhundert fast ununterbrochenen Friedens zu führen. Eine ebenso geschickte Förderung des „Tourismus" verwandelte die „Königin der A d r i a " nach und nach in die Hauptstadt des europäischen Vergnügens. I m Gegensatz zur Terraferma genoß die Dominante geradezu einen relativen Wohlstand. Selbst Kunst und Literatur erlebten um die Jahrhundertmitte eine ungeahnte Blüte: allein sieben Theater zählt die S t a d t ; Goldoni kann als der italienische Molière seine Komödienreform durchführen; keine zweite Stadt Italiens ist so reich an Verlagshäusern wie Venedig; Tiepolo, Longhi, Carriera Rosalba, Canaletto, Guardi u. a. führen die venezianische Malerei erneut zu europäischem R u f . Für den G l a n z des venezianischen Musiklebens, das noch in der zweiten H ä l f t e des Jahrhunderts einen Mann wie Baldassare Galuppi hervorbrachte, mag hier nur der N a m e Johann Adolf Hasses zeugen, der gerade in Venedig lange J a h r e die Begegnung mit der italienischen Musik suchte. Diese festliche Seite des Niedergangs der venezianischen Republik verbunden mit einer klugen Sozialpolitik vermochten es, den Unmut des aufbegehrenden Bürgertums gegenüber der Dekadenz des privilegierten Adels sowie Unruhen in den unteren Gesellschaftsschichten in bescheidenen Grenzen zu halten: „Quella popolazione che . . . amava il suo governo . . . si sentiva aliena da qualunque mutazione negli ordinamenti civili" 3 . Carlo Gozzi thematisiert in seinem burlesken Epos La Marfisa
biz-
zarra4 den Verfall und Untergang der Republik Venedig. D i e „Helden"
FREDDY THIRIET, Histoire deVenise, Paris 1965, S. 117. GIUSEPPE ORTOLANI, Settecento. Per una lettura dell'abate Chiari, Venezia 1905, S. 4 3 ; vgl. auch S. 44 f. 4 La Marfisa bizzarra, poema faceto, in: Opere, Bd. V i l i , Firenze 1772 (in Wirklichkeit: Venezia, Colombani). Die ersten zehn Gesänge sind schon 1761 2
3
14
des Epos sind Karl der Große und seine Paladine, die allerdings jeder Größe entsagt haben. Karl der Große tut alles, „a tener morbida la pelle", und die Schar der Ritter eifert seinem Beispiel nach: Mancato il capo, male sta la coda, i Paladin, veggendolo poltrone, si dierono a' piattelli, ed alla broda, la state al fresco, e il verno al focone; ed a lagnarsi, di'era troppo soda d'asse la sedia, e danno al codione; donde inventaron sedie badiali, soffà di stoppa, e penne, e co' guanciali. A poco a poco l'agio, e la quiete gl'in tabaccava sempre maggiormente; le loro illustri imprese die sapete, eran lor quasi uscite dalla mente; anzi ridevan spesso, (or die direte?) quando sentian raccontarle alla gente. Alcun si vergognava aver ciò fatto, e giudicava d'esser stato matto 5
Das ideale Gegenbild der dekadenten venezianischen Gesellschaft ist der rechtschaffene und gottesfürchtige Ritter Angellin di Bellanda, der sich der herrschenden Korruption nicht anzupassen vermag und darum mit seiner kinderreichen Familie in bitterer Armut lebt. Aber die Gestalt des Ritters Angellin bleibt blaß und unglaubwürdig in ihrer abstrakten Vollkommenheit 6 , während der Reiz des Epos in der treffenden Karikatur der zeitgenössischen venezianischen Gesellschaft liegt. Aus diesen wenigen Angaben zur Marfisa bizzarra geht schon hervor, daß die Dekadenz Venedigs f ü r Gozzi vornehmlich moralischer N a t u r ist. Die tradierte Gesellschaftsordnung sowie die bestehenden staatlichen und kirchlichen Institutionen läßt er unangetastet. Moralische Aufrüstung der venezianischen Gesellschaft in allen Bereichen des öffentlidien und privaten Lebens ist f ü r Gozzi gleichbedeutend mit der strikten Bewahrung des Überkommenen und der kategorischen Ablehnung aller Kräfte, die das Gesicht Venedigs verändern wollen. In den Reformbemühungen der Aufklärer erkennt er die schrittweise Unterminierung der bestehenden Ordnung, was f ü r ihn gleichbedeutend mit der Rückführung in die Barbarei ist. Im Vorwort zur Marfisa bizzarra setzt er sich ausdrücklich ab von allen Reformversuchen praktischer N a t u r : „Nella Marfisa non si tratta nè del commercio, nè dell'arti, nè dell'agricoltura. Dovrà dunque cadere
entstanden. Durdi Parinis Giorno weiteren Gesängen abzuschließen. 5 Gesang I, 10-11. • Vgl. Gesang VI, 84-94.
wurde Gozzi angeregt, das Werk mit zwei
15
per questa sola ragione tra i libri distutilacci, e da non esser punto considerato?". Voller ironischer Spitzen gegen den Pragmatismus der Aufklärer heißt es weiter: „Chiedo in grazia . . . die si permetta senza disprezzo, che si possano animar nell'uomo le bell'arti della virtù, de' costumi, dell' eloquenza, quanto le manifatture de' panni e delle stoffe; che si permetta senza disprezzo, che si possa coltivar l'animo, e il cuore dell'uomo, almeno quanto un gelso ed una patata. Consoliamoci con le nostre reciproche lusinghe d'esser utili alla società" 7 . Der Sieg der Aufklärung - Gozzi sollte die französische Revolution und den Einmarsch Napoleons in Venedig noch erleben - bedeutet für ihn die Endphase einer unaufhaltsam ihrem Untergang entgegeneilenden Zivilisation. Die Zensur konnte in Italien die zersetzende Kritik der Aufklärer an staatlichen und kirchlichen Institutionen, gesellschaftlicher Ordnung und Dogma weitgehend unterbinden. Ein großer Teil der kämpferisch-reformerischen Initiative der italienischen Aufklärer verlagerte sich darum auf das sprachlich-literarische Bildungswesen. „Auf keinem Gebiet des praktischen Lebens geht der oberitalienische Aufklärer in seiner negativen Kritik so aggressiv und radikal zu Werke wie auf dem der geistigen, der sprachlichen und literarischen Tradition" 8 . Gozzi bewies schon früh einen besonderen Weitblick, wenn er die Sprach- und Literaturfehden der Jahrhundertmitte, die Befreiung des schriftstellerischen Selbstbewußtseins von der erdrückenden Autorität der Crusca und der „antichi", nur als Vorboten umfassenderer Erschütterungen, als Teilaspekt eines generellen Angriffs auf jede Form der überlieferten staatlich-kirchlich-gesellschaftlichen Ordnung und Autorität verstand. Und mit dieser politischen Sensibilität ragt Gozzi aus seinen venezianischen Zeitgenossen heraus: „II movimento a Venezia rimase puramente letterario . . . Il solo Carlo Gozzi presentì il significato politico del movimento e sonò la campana a stormo" 9 . Gegen venezianische Autoren wie Goldoni, Chiari und Cesarotti, die als Vermittler ultramontaner Ideen eine Gefahr für die Ordnung der Republik bedeuten, führt Gozzi das ganze Gewicht der sprachlich-litera7 La Marfisa bizzarra, a. a. O., S. 15 f. Natali stützt sidi auf diesen „Idealismus" der Marfisa bizzarra bei seinem Versuch, Gozzi in Italien wieder zu Ehren zu bringen: „Benedetta l'ironia del Gozzi! Qui l'ironista .retrivo' supera tutti i .riformatori', solleciti quasi soltanto dei miglioramenti materiali: vede il pauroso vuoto spirituale di quelle riforme, e propugna i diritti dello spirito. Cosi questo negatore del Settecento logico e materialistico ebbe postuma fortuna presso alcuni romantici stranieri, e solo oggi torna in onore". {Il ritorno di Carlo Gozzi, a. a. O., S. 274). 8
ALFRED NOYER-WEIDNER, Die
Aufklärung
in Oberitalien,
Müntliener R o -
manistisdie Arbeiten, hrsg. von Franz Rauhut und Hans Rheinfelder, Heft 11, München 1957, S. 121 f. • DE SANCTIS, Storia della letteratura italiana, a. a. O., Bd. II, S. 904.
16
rischen und humanistischen Tradition Italiens kompromißlos ins Feld, nicht aber als Kenner, der die lebendigen K r ä f t e der Tradition für eine Bewältigung der modernen Wirklichkeit fruchtbar macht, sondern als reaktionärer Aristokrat, der im Namen der zu einer rhetorischen Fassade erstarrten Tradition jede Veränderung der bestehenden Verhältnisse ablehnt 1 0 . Das puristisdhe Toskanisch und die verbindlichen Stil- und G a t tungsmodelle des 16. Jahrhunderts werden ebenso gegen die „demoni d'innovazione" und die „innovatrice scienza del secolo innovatore" 1 1 eingesetzt wie die „fissità" der Commedia dell'arte oder die traditionelle Gesellschafts- und Familienmoral. Sein H a ß gegen jede Art von Bewegung geht so weit, daß er im Jahrhundert der reisenden Kosmopoliten die engen Grenzen des Staates Venedig nie überschritten hat. Sein ganzer K a m p f gilt dem „Proteo istrione, appellato M o d a " 1 2 , dessen Reich sich von der Philosophie und Literatur bis hin zu den geringfügigsten Bekleidungsstücken erstreckt. Voller Stolz erklärt Gozzi in den inutili,
Memorie
daß er im Laufe seines langen Lebens nicht einmal seine Schuh-
schnallen dem flüchtigen Modegeschmack angepaßt habe.
2. E i n e
restaurative Akademie
Poetik:
der
Gozzi
und
die
Granelleschi
Die Akademie der Granelleschi 1 wurde 1747 vom Patrizier Daniele Farsetti ins Leben gerufen und verstand sich als Erbe der großen Bewegung der ersten H ä l f t e des 18. Jahrhunderts, die Italien aus der geistigen Talsohle des Seicento herausgeführt hatte und deren erklärtes Ziel es war, ihm einen ebenbürtigen Platz an der Seite Frankreichs zu verschaffen oder gar den einstigen Primat im geistigen Leben Europas zurückzuerobern. Wie
10 Wie steril Gozzis Bemühungen um die italienische Literatur des 14. bis 16. Jahrhunderts bleiben, zeigen seine literarischen Versuche in der Nachahmung Pulcis, Bernis und Burchiellos, die über das Niveau handwerklicher Schulübungen nicht hinauskommen. Nimmt man seiner Marfisa bizzarra, seiner Tartana und den zahllosen Sonetten ihren satirischen Zeitbezug, so bleiben nur hölzerne Verse in einem artlfiziellen puristischen Toskanisch. Auch die wenigen Äußerungen zu den bewunderten Trecentisti und Cinquecentisti verraten keinerlei tiefer ansetzendes Verständnis. 11 Chiacchiera di Carlo Gozzi intorno alla lingua litter ale italiana, in: NUNZIO VACCALUZZO, Un accademico burlesco contro un accademico togato ossia Carlo Gozzi contro Melchior Cesarotti. Scritti inediti sulla lingua italiana e su' doveri accademici, Livorno, Giusti, 1933, S. 4. 12 ebda, S. 12. 1 Zu den Granelleschi s. DANIELE FARSETTI, Memorie dell'Accademia Granellesca, Treviso 1790; ANTONIO ZARDO, Coi berneschi veneziani del Settecento, in: Gaspare Gozzi nella letteratura del suo tempo, Bologna, Zanichelli, 1923.
17
die Reformer der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, repräsentiert durch die Arkadia-Akademie (1690 in Rom gegründet), knüpften auch die Granelleschi mit ihren dichterischen Versuchen wieder direkt an die „guten" Autoren des 14. bis 16. Jahrhunderts an, deren Imitation verbindlich wurde. Als ihre Hauptaufgabe erklärt die Akademie „il tener fermo lo studio in sugli antichi maestri, ferma la semplicità e l'armonia seduttrice dell'eloquenza sensata e fermo scrupolosamente la purità del nostro litterale linguaggio" 2 . Den großen Autoren der Blütezeit verdanke die italienische Literatur vollkommene Modelle für alle Gattungen und Stilarten, deren Formeln sich der moderne Dichter bis zur spielerischen Beherrschung aneignen müsse. Die richtige Wahl der Stil- und Gattungsformel für einen gegebenen Stoff garantiere die Vollkommenheit des Werkes. Eine nicht weniger normativ-statische Sprachauffassung erklärt das literarische Toskanisch des 14. bis 16. Jahrhunderts zur einzig verbindlichen Literatursprache Italiens, die einen solchen Grad an Vollkommenheit erreicht habe, daß sie den Ansprüchen des Geistes für alle Zeiten gewachsen sei. Es gelte darum, die Sprache rein zu halten und gegen jede Art von Neuerung abzusichern. Abweichung vom literarischen Toskanisch der großen Autoren bedeute notwendig sprachliche Dekadenz 3 . Zwischen 1747 und 1757 tritt die Akademie nicht im geistigen Leben Venedigs hervor. Erst als Saverio Bettinelli mit seinen an die Arkadier gerichteten polemischen Lettere virgiliane (1757) den Akademien pedantischen Purismus und eine „cieca imitazione de' nostri antichi" 4 vorwirft, die eine fortschrittliche Erneuerung der italienischen Literatur unmöglich machten, wird die Akademie unsanft aus ihrem Schlaf gerüttelt. In den Lettere virgiliane zeigt ein Dichtergremium der griechisch-römischen Antike unter Vorsitz Virgils mittels kritischer Analyse einiger italienischer Meisterwerke, deren Schwächen pietätlos aufgedeckt werden, wie ungerechtfertigt eine uneingeschränkte Verehrung der Trecentisti und Cinquecentisti sei. Besonders hart trifft das Urteil die Divina Commedia: „Fu dunque deciso che Dante non dovesse aver luogo tra loro, non avendo il suo poema veruna forma regolare e secondo l'arte" (S. 164).
2 Memorie inutili della vita di Carlo Gozzi scritte da lui medesimo e pubblicate per umiltà, a cura di Giuseppe Prezzolini, Bari, Laterza, 2 Bde., 1934, Bd. I, S. 194. 3 Zur Sprachfrage im 18. Jahrhundert vgl. MARIO PUPPO, Einleitung zur Anthologie Discussioni linguistiche del Settecento, Torino, U. T. E. T., 1957, S. 9-108. Zur Position der Granelleschi im besonderen siehe NUNZIO VACCULUZZO, Puristi e antipuristi nel Settecento, Einleitung zu Un accademico burlesco contro un accademico togato ossia Carlo Gozzi contro Melchior Cesarotti, a. a. O.,
S. V X X X V I I I .
4 Lettere di Virgilio agli Arcadi, in: Opere, Bd. VII, Venezia, Zatta, 1782, S. 150.
18
Mühsam nur kann Vergil Dante vor der völligen Verdammung retten, indem er eine Blütenlese der Divina Commedia „in un piccol volume" (S. 165) vorschlägt. Nach ihrer kritischen Revue der italienischen Literatur beschließt die Dichterversammlung einen „Codice nuovo di leggi del Parnaso Italiano", in dessen Artikel V I I es heißt: „L'Arcadia stia chiusa ad ognuno per cinquant'anni, e non mandi colonie o diplomi per altri cinquanta. Colleghisi intanto colla Crusca in un riposo ad ambedue necessario per ripigliar fama e vigore. Potranno chiudersi per altri cinquant' anni dopo i primi, secondo il bisogno" (S. 211) 5 . Schon 1750 hatte Bettinelli in dem kleinen satirischen Epos Le Raccolte mit der Verspottung der modischen Sonettsammlungen zu feierlichen Anlässen (Hochzeiten, Amtsübernahmen etc.) die pindarisierenden und petrarkisierenden Reimereien der Akademien im Auge gehabt. Die Granelleschi fühlten sich zum Gegenschlag herausgefordert. Als Gemeinschaftsarbeit erschien das Parere, o sia lettera sopra il poemetto intitolato „Le Raccolte" scritta da un'amico del Friuli a un'amico di Venezia, wozu Gozzi die Risposta dell'amico di Venezia all'amico del Friuli (1757) beisteuerte6. Dieser Beitrag Gozzis muß als das literarische Debüt des inzwischen 37-jährigen gewertet werden, denn seine Gelegenheitsgedichte waren ebenso unbemerkt geblieben wie die Übersetzung eines Romans von Marivaux (II Farsamone). Es folgen nun zahlreiche polemische Schriften in Prosa und Vers, mit denen sich Gozzi zum Wortführer der Granelleschi aufschwingt. Bettinelli bildet den Wendepunkt einer Entwicklung, die von Muratoris sachbezogener Prosa ausgeht und den Schlachtruf „cose e non parole" vorwegnimmt, mit dem die Mailänder Società dei Pugni (Alessandro und Pietro Verri, Beccaria u. a.) der literarischen Tradition die Gefolgschaft aufkündigt. Hatte Bettinelli noch im Sinne eines tiefer ansetzenden, liberalen Klassizismus Kritik am pedantischen Wort- und Formenkult der „poesia di parole" 7 geübt, so führt die Bindung an die zeitgenössische Wirklichkeit als entscheidendes Kriterium für die Literatur bei den Autoren des Caffè (von 1764-1765 Organ der Società dei Pugni) nicht selten zu einer Entwertung der Form überhaupt8. Nach anfänglicher Freund5 Zu den Lettere virgiliane vgl. MARIO FUBINI, Introduzione alla lettura delle „virgiliane", in: FUBINI, Dal Muratori al Baretti. Studi sulla critica e sulla cultura del Settecento, Bari, Laterza, 1954 2 , S. 2 0 4 - 2 1 8 . 6 Neu gedruckt in SAVERIO BETTINELLI, Le „Raccolte" con il „Parere" dei Granelleschi e la „Risposta" di Carlo Gozzi, hrsg. von Pietro Tommasini-Matiucci, Città di Castello, Lapi, 1912; die Antwort der Granelleschi auf die Lettere Virgiliane übernahm GASPARE GOZZI, der ältere Bruder Carlos, in seiner Difesa di Dante (1757). 7 Lettere Virgiliane, S. 150. 8 Vgl. hierzu das Kapitel „Der sprachlich-literarische Antitraditionalismus der oberitalienischen Aufklärer" in: NOYER-WEIDNER, S. 181 ff.
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schaft mit den Mailänder Bilderstürmern distanziert sich darum Bettinelli von der „neuen Barbarei" der modernen Prosa, wie sie sich im Caffè kundtat. Zum radikalen Bruch mit der sprachlich-literarischen Tradition Italiens war er trotz aller Kritiken an der Crusca und dem Imitatio-Prinzip nicht bereit. In Venedig griffen Goldoni und Chiari den Schlachruf „cose e non parole" auf und führten ihn gegen Gozzi und seine Granelleschi ins Feld: Die puristischen Sonette der Akademiker seien in sprachlich-stilistischer Hinsicht „un'ammasso di vocaboli rancidi, di frasi oscuri, d'uno stile non inteso" 9 , ein Zerrbild der Literatur der Vergangenheit, dem jede Beziehung auf ein Publikum außerhalb der Akademie fehle. Ihrem Aussagegehalt nach seien sie „vuote, inutili" 1 0 . Den Akademikern gehe es nur darum, „d'aggiustare quattro parole, o misurarle" 11 . Sie werden degradiert zu lächerlichen „pedanti, e al più, soli grammatici" 12 . Auch auf das Argument der Irrationalität des künstlerischen Schöpfungsaktes greifen die Kritiker des Imitatio-Prinzips in ihrem Kampf gegen eine zu handwerklich-mechanistisch verstandene Dichtung zurück. Wiederum mag Bettinelli als Beispiel dienen, der im Rahmen der vorromantischen Strömungen den Begriff des „entusiasmo" 13 programmatisch in den Titel einer seiner bemerkenswertesten Untersuchungen aufnimmt: Dell'entusiasmo nelle belle arti (1769). In Venedig ist es Chiari, der den regelsprengenden „göttlichen Wahnsinn" des „genialen" und „geborenen" Dichters gegen die Granelleschi ausspielt: „V'ha un'ardere poetico a cui tutto essendo permesso, il solo estro suo sovrumano serve di giustificazione, e di scusa" 14 . Damit entthront er die zu verpflichtender Norm verabsolutierten Modelle des 16. Jahrhunderts. Chiari, der unermüdlich in der modisdien Literatur seiner Zeit Stoff und Anregungen für seine zahllosen Romane, Dramen, Gedichte und philosophischen Schriften sammelte, war als oberflächlicher Kompilator 1 5 nicht in der Lage, die Aktualität der traditionellen Formel vom „furor divinus" auch nur annähernd auszuloten und ihre Stoßkraft konsequent
9 CARLO GOZZI, Fogli sopra alcune massime del „Genio e costumi del Secolo" dell'abate Pietro Chiari e contro ai poeti Nugnez dei nostri tempi, Venezia, Colombani, 1761, S. 29. 10 Fogli, S. 28. 11 Fogli, S. 55. 12 Fogli, S. 105. 13
V g l . NOYER-WEIDNER, S . 2 0 5 ff, 2 2 9 ff etc.
Fogli, S. 105. Zu Chiari siehe das Fragment gebliebene Werk von G. ORTOLANI, Settecento. Per una lettura dell'abate Chiari, Venezia 1905 und die Dissertation von DORINA LUCCHESI, Kulturgeschichtliche Betrachtung von Pietro Chiaris „Commedie", München 1938. 14
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im Sinne jener modernen Kunsttheorie einzusetzen, die um Begriffe wie „Enthusiasmus" und „Genie" kreiste. Für Gozzi ist es darum ein Leichtes, Chiari mit seiner Satire zu vernichten: „Accordo anch'io, che qualche sbaglio, qualche arditezza, qualche caduta, non toglie il merito ad un'eccellente poeta, ma una continua bestialità, un dirsi, e disdirsi, un rubacchiare ¡stancabile . . . un lodare se medesimo sempre, un gridare ,Ho l'estro divino, ho un bell'ardire', sono tutte cose, che dipingono un nato pazzo, e non un nato poeta" 16 . Im Augellin belverde (1765) parodiert er Chiari in der Gestalt des Dichtersehers Brighella, der, nachdem er in der poetischen Entrückung enigmatische Prophezeiungen von sich gegeben hat, wieder zu sich kommt mit den Worten: „Ma, oimè, me va mancando l'entusiasmo celeste; resto un minchion, come tutti i altri omeni. Me chiappa el solito languor de polmoni, me vien el consueto svenimento. Vedo vicina una bottega de luganegher. Reparemo con do soldi de sguazzetto la debolezza, che sol lassar l'estro divin, el furor poetico". Und Pantalone, der die burleske Ekstase Brighellas mit ebenso burlesken Kommentaren begleitet, ruft schließlich aus: „Che bel pezzo de poesia die xe sta questo! No ghe n'ho inteso una maledetta; porlo esser più divin de cusì"1?? Gozzis Kampf gegen die Modernisten auf sprachlichem und literarischem Gebiet sollte nach den Fehden mit Goldoni (s. u. S. 39 ff.) und Chiari noch einen zweiten Höhepunkt gegen Ende seines Lebens im Kampf gegen Melchior Cesarotti und seinen Saggio sopra la lingua italiana (1785) erleben. Aber die beiden langen Dissertationen Chiacchiera di Carlo Gozzi intorno alla lingua italiana litterale und Ragionamento di Carlo Gozzi sopra una causa perduta, von denen die erste einem Neudruck der Marfisa bizzarra vorausgeschickt werden sollte, blieben zu Lebzeiten Gozzis ungedruckt 18 . In den Memorie inutili (1797) muß er voller Ver-
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Fogli, S. 157. CARLO GOZZI, Opere. Teatro e polemiche teatrali, a cura die Giuseppe Petronio, Milano, Rizzoli, 1962, S. 688 f. Die Fiabe werden nadi dieser Ausgabe zitiert. Allerdings hat Petronio die Vorworte Gozzis zu den einzelnen Fiabe nicht mit aufgenommen; für sie bleibt der Leser auf ältere Ausgaben angewiesen. Hier die Übersetzung des Zitats in venezianischem Dialekt: „Aber adi, der himmlische Enthusiasmus verfliegt, ich bin wieder ein Einfaltspinsel wie alle übrigen Menschen. Wie gewöhnlich atme idi heftig vor Erschöpfung, die übliche Ohnmacht nimmt Besitz von mir. Aber da ist ja ein Fleischerladen. Begegnen wir der Schwäche, die die göttliche Begeisterung, der poetische Wahnsinn, zu hinterlassen pflegt, mit einigen Stücken Pökelfleisch". Pantalone: „Was für ein schönes Stück Dichtung war das doch. Idi habe nicht einen Buchstaben davon verstanden. Könnte es noch göttlicher sein?" 18 Erster Abdruck in NUNZIO VACCALUZZO, a. a. O.; s. auch Sei sonetti contro M. Cesarotti, hrsg. von A. Pilot, Padova, Gallina, 1904. 17
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bitterung konstatieren, daß sein jahrzehntelanger Kampf gegen den Geist der „Unkultur" vergebens gewesen ist: „Quanto alle belle lettere, all' eloquenza, al puro linguaggio litterale, alla metà del nostro secolo ed all'oriente del signor Bettinelli il guasto doveva succedere. Il giardino di purità e di semplicità quasi ristabilito doveva essere rovesciato, sfrondato e diserto da un novello mostruoso andazzo. La nostra faceta accademia ebbe un bel strillare ragionatamente per trincierare gli esemplari de' buoni maestri, la coltura, i metodi, la regolarità, la diversità dello stile, la nitidezza, la semplicità, la purità della lingua. Sostenne invano che ogni colta nazione, die ha lasciata una lingua denominata ,madre lingua', ebbe la sua favella litterale, la sua favella volgare e i suoi dialetti di linguaggi corrotti, e che essendosi l'Italia tutta e le estere nazioni, per apprendere la lingua italiana litterale, riportate alla fonte del vocabolario toscano stabilito dall'Accademia della Crusca di Firenze, non si dovesse scostarsi dalla favella litterale in quel dizionario compilata e consolidata. L'andazzo nascente di corruttela doveva far considerare stitichezze da dileggiare le sode ben fondate ragioni, e incominciammo a vedere una libertà furibonda autrice di composizioni fanatiche, sforzate, oscure, ampollose; un nembo di stiracchiati sofismi, di periodi rotondi nonnulla dicenti, di leggiadri deliri d'infermi, di sentimenti rovesciati e bistorti, die si dissero usciti da' nostri cuori e dalle nostre anime, d'un frasario e d'un linguaggio mescuglio di tutti i vernacoli, lardellato di qualche grecismo, ma sopra tutto di termini, di modi e di parole francesi, che rendono inutili oggimai le nostre grammatiche e i nostri vocabolari" 19 . Das Dichtungsprogramm der Granelleschi scheint sich auf den ersten Blick nicht von dem der Arkadier zu unterscheiden. Die beiden gemeinsame empirische Imitatio erschöpft sich im Äußerlich-Formalen bei weitgehender Gleichgültigkeit gegen die inhaltliche Aussage. In der umstrittenen Frage, ob die Arkadia als erster Ansatz der Renaissance der italienischen Literatur zu werten sei oder ob sie als retardierendes Moment auf dem Wege zur Erneuerung des geistigen Lebens angesehen werden müsse, entscheidet sich Noyer-Weidner für die letzte These mit der Begründung, daß die Poetik der Arkadia gemessen am Marinismus des 17. Jahrhunderts nur die Oberflächengestalt der Dichtung verändere bei fortdauernder Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Inhalt 20 . Und dodi steht die Arkadia mit ihrem Kampf gegen den „cattivo gusto" des barocken 17.
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Memorie inutili, I, S. 202 f. „In der Arkadia erschöpft sich das Wesen der Dichtung noch immer, ganz wie im vorhergehenden Secentismo, in einem oberflächlichen, der tieferen klassizistischen Sorgfalt und inneren Ernsthaftigkeit entbehrenden Spiel mit der Form. . . Den Grund zur neueren italienischen Literatur legt erst der Einbruch der zeitgenössischen Realität in das literarische Schaffen" (S. 16). 20
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J a h r h u n d e r t s zugunsten einer formalen Einfachheit u n d Natürlichkeit im Lager der fortschrittlichen K r ä f t e ; sie wird, wenigstens in den J a h r e n ihrer Entstehung, von den gleichen K r ä f t e n getragen, die die N a t u r - u n d Geschichtswissenschaften im Italien des Pre-Illuminismo zu einer neuen Blüte f ü h r e n sollten 21 . G a n z anders die Granelleschi-Akademie, die zu einer Festung der Reaktion wird. Die Granelleschi proklamieren gerade in dem Augenblick das - inzwischen ein halbes J a h r h u n d e r t alte - Gründungsp r o g r a m m der Arkadier, als die Aufklärungsbewegung ihr Ungenügen an dieser Akademie k u n d t u t und sogar die Prinzipien, an denen sich die R e f o r m orientiert h a t t e (Sprachlicher Purismus, Imitation der klassischen Modelle), entschieden in Frage stellt. M a n kann bei den Granelleschi geradezu eine restaurative Tendenz gegenüber den „Verfallserscheinungen" der A r k a d i a beobachten, die inzwischen Modernisten wie C h i a r i u n d Goldoni zu ihren Mitgliedern zählte. Nach Gozzis eigenen Worten sind die Granelleschi „piu austeri che tutti i maestri" 2 2 . Redi, Zeno, Maifei, Lazzarini, M a n f r e d i werden die erklärten Vorbilder der Granelleschi. Dieser K a n o n von geistigen Vätern würde, wenn er ernst genommen worden wäre, eine mächtige geistige Spannweite der Akademie bedeuten. Keiner der genannten Autoren verstand seine Bemühungen um eine Regeneration des geistigen Lebens in Italien als eine vornehmlich literarische Angelegenheit. Ihre Interessen umgriffen die Bereiche der Naturwissenschaften u n d der Medizin, der Geschichte u n d der Altertumskunde, der Politik u n d der Wirtschaft, der Philosophie und der Theologie ebenso wie die R e f o r m der dramatischen, lyrischen und epischen Dichtung. Aber von einer andeutungsweise ähnlichen geistigen Spannweite ist bei den Granelleschi nichts mehr zu spüren. Z w a r verlangt Gozzi in seinem E n t w u r f eines Bildungsprogramms v o m Dichter Kenntnis in allen nur denkbaren Wissensgebieten (mit Ausnahme der Theologie), aber er reproduziert mit diesem Wunsch nur einen Topos der humanistischen Poetik, der mit dem aufklärerischen Wissenschaftspathos nichts zu tun h a t ; u n d was sein eigenes Werk betrifft, so läßt sich weder dieses umfassende Wissen selbst nachweisen, noch überhaupt der Anspruch, es zu besitzen. Nicht eine leise A h n u n g scheint Gozzi von der revolutionären Leistung Muratoris gehabt zu haben, der die Geschichtsschreibung von der Bevorm u n d u n g durch Kirche u n d Staat befreit u n d alles Legendär-Irrationale durch ein wissenschaftliches Quellenstudium ersetzt. Gozzi sieht in der Geschichte nur ein Arsenal von belehrenden u n d ergötzenden Exempla. Ebensowenig scheint der von Galilei ins Leben gerufene Geist des freien Experiments ihn angehaucht zu haben, obwohl Galilei im J a h r e 1744, als 21
Vgl. hierzu vor allem M A R I O FUBINI, Arcadia e Illuminismo, in: Dal Muratori al Bareni, a. a. O., S. 292-396. 22 Chiacchiera . . . , a. a. O., S. 19. 23
der Dialogo dei massimi sistemi erstmalig gedruckt wurde23, seine endgültige Rechtfertigung erfahren hatte. Blitze und Erdbeben erscheinen auch weiterhin als „segni dell'eterna Provvidenza" 24 . Die wissenschaftliche Fachlektüre hat sich der kirchlichen Zensur zu unterwerfen25. Von den Naturwissenschaftlern heißt es : Mostri brutali, temerari, e franchi torreggiali maestosi, ed importanti squartatori di rospi, e botticini, e di lombrici, e rane, e salamandri, filosofi profondi, audaci, e gravi rinoceronti per le vie sen vanno 26
Aber auch im Bereich der Dichtung entfernt sich Gozzi vom Geist der ersten Generation der Arkadia-Akademie, die trotz ihrer besonderen Aufmerksamkeit für die Cinquecentisti nicht blind gegenüber anderen Literaturen wurde. Der Aristoteliker Gravina wollte die italienische Tragödie aus der Imitation der griechischen hervorgehen lassen, und Martello scheute sich nicht, eine enge Anlehnung an die französische Tragödie zu verteidigen. Nicht daß Martellos II vero parigino italiano (gedruckt unter den Prose der Arkadier aus dem Jahre 1710) eine unwürdige Unterwerfung unter den französischen Geschmack verlangte, sondern ganz im Gegenteil: der Dialog, der als ein Zeichen der beginnenden Befreiung Italiens aus seiner Isolierung unter der Gegenreformation gewertet werden muß, konfrontiert beide Zivilisationen und Kulturen mit dem Ziel eines fruchtbaren Austausches. So kann Martello zum Beispiel den Vorrang des französischen Theaters anerkennen, hält dem aber den Reichtum der italienischen Lyrik entgegen. Carlo Gozzi klammert sowohl die Nachahmung antiker als auch die französischer und englischer Vorbilder aus seinem Reformprogramm für die moderne italienische Dichtung aus, denn jede Sprache und Literatur, so argumentiert er, setze sich durch ihren besonderen Nationalcharakter von allen übrigen Literaturen ab: „La poesia greca ha genere ed indole suo particolare. Suo particolar genere ed indole ha la poesia latina. Propria sua indole ha la poesia francese... Non è forse degna l'Italia che le sia stabilita indole nella poesia? O vili, o dappochi Italiani, che mendicume è questo"27? Die Gedichte Chiabreras erscheinen ihm in diesem Sinne als Ubersetzungen aus dem Griechischen.
2 3 Im Rahmen der von Antonio Giuseppe Toaldo in Padova betreuten Gesamtausgabe der Opere. 24 La Marfisa bizzarra, IV, 4. 25 Fogli, S. 110. 26 Opere, Ausg. Colombani, a. a. O., Bd. VI, S. 63. 27 Fogli, S. 159.
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Eine wahrhaft italienische Dichtung könne ausschließlich aus der Imitation der großen Autoren zwischen Dante und Tasso hervorgehen, denen die italienische Literatur ihr nationales Gesicht verdanke. Den jungen italienischen Dichtern ruft er zu: „Imitate, inventate, accrescete, tentate voli, opere nuove, ma non vi partite dall' indole stabilita" 2 8 . Die Fogli sopra alcune massime del „Genio e costumi del Secolo", denen diese Äußerungen zur Theorie vom Nationalcharakter der Literaturen entnommen sind, stammen aus dem Jahre 1761. Noch im satirischen Dialog II Teatro Comico all'Osteria del Pellegrino, tra le mani degli Accademici Granelleschi (1759 oder 1760) hatte Gozzi die strenge Forderung nach zeitlich und räumlich unbegrenzter Gültigkeit der klassischen Modelle vertreten. In diesem Sinne konnte ihm Molieres Tartuffe als Modell einer vollkommenen Komödie den verbindlichen Maßstab f ü r die Verurteilung Goldonis liefern. Die Wandlung in den dichtungstheoretischen Anschauungen ist nun keineswegs das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit den modernen Geschmackslehren, die das strenge klassizistische System aufzulockern begannen, sondern gehorcht allein taktischen Überlegungen: Gozzi opponiert gegen die sich immer mehr durchsetzende Einsicht, daß eine Erneuerung des italienischen Geisteslebens nur durch eine Überwindung seiner geistigen Isolation und eine lebendige Diskussion mit den neu aufgekommenen Ideen im übrigen Europa möglich sei. Es geht ihm darum, eine Kluft aufzureißen zwischen Italien auf der einen und England und Frankreich auf der anderen Seite. Die nie näher präzisierte „indole" der italienischen Literatur, die es in ihrer Reinheit zu bewahren gelte, ist nichts als eine Waffe gegen gefährliches ultramontanes Gedankengut, das mit dem Umsturz der Ordnung im Bereich der Literatur letztlich auf einen Umsturz auch der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung zielt. 28 Fogli, S. 160. Um aber den Granelleschi Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: es darf nicht übersehen werden, daß Gozzi innerhalb der konservativen Akademie den extremen nationalistisch-reaktionären Flügel stellt. Zur Akademie gehörte auch die Elite der auf eine ruhmreiche Tradition zurückschauenden Latinisten und Gräzisten der Universität Padova. So stellte Padova eines der bedeutendsten Granelleschi-Mitglieder, den Lexikographen Egidio Forcellini (1688— 1768), der in vierzigjähriger Arbeit sein Totius Latinitatis Lexikon (Padova 1769-71, posthum) zusammenstellte. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Padovaner Altphilologen sich von Gozzis Vorbehalten gegenüber einer Imitation der antiken Modelle distanzierten. (Gozzi hatte infolge finanzieller Schwierigkeiten seiner Eltern auf eine solide Ausbildung in klassischen Sprachen und Literaturen verzichten müssen. Als Autodidakt hat er diese Lücke nie auszufüllen vermocht.) - Audi Gozzis Opposition gegen einen Dialog mit der englisch-französischen Moderne blieb innerhalb der Akademie nicht unwidersprochen. Sein Bruder Gaspare hat immer einen offenen Blick für die literarische Entwicklung in den Nachbarländern gehabt und sich nicht gescheut, mit seinem Osservatore veneto ein Gegenstück zu Addisons Spectator zu schaffen oder Tragödien Voltaires zu übersetzen bzw. ihr Genre nachzuahmen.
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Der dichterische Horizont, der sich vor Gozzi und den Extremisten unter den Granelleschi auftut, muß noch enger gezogen werden. Eine Akademie, die sich so ausschließlich auf die Imitation der toskanisdien Autoren des 14. bis 16. Jahrhunderts festlegt, findet keinen Zugang zu modernen Gattungen, wie etwa dem Roman. Lassen sich diese Grenzen aber noch aus dem Programm der Akademie rechtfertigen, so ist der Verzicht auf ein regelmäßiges, an den Autoren des Cinquecento orientiertes Theater schon bedenklicher. Gerade auf dem Gebiet der Tragödie und Komödie hatten die von Gozzi immer wieder zitierten Reformer der Arkadia den Franzosen ihren Primat streitig machen wollen. Es war Maffei, Lazzarini und anderen gelungen, durch Zusammenarbeit mit dem genialen Schauspieler Riccoboni das regelmäßige Theater aus dem engen Rahmen der Akademien zu befreien und mit ihren Tragödien und Komödien beachtliche Erfolge in öffentlichen Theatern Venedigs zu erzielen. Der akademische Formalismus schien einem lebendigen literarischen Theater zu weichen. Als aber 1716 Riccoboni nach dem Mißerfolg von Arlosts Scolastica resignierend nach Paris geht, wird das regelmäßige Theater erneut in die Akademien zurückgedrängt. In den Jahren 1745 bis 1747 versucht Gaspare Gozzi noch einmal, ohne Erfolg, die öffentlichen Theater Venedigs mit literarischen Stücken zu erobern. Erst Goldoni sollte es gelingen, die Literatur auf den venezianischen Bühnen anzusiedeln29. Von den in einer formalistischen Imitatio der toskanischen Autoren des Cinquecento erstarrten Granelleschi (ausgenommen Gaspare Gozzi) war eine Theaterreform, die den lebendigen Kontakt mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorausgesetzt hätte, nicht zu erwarten. Im Gefühl ihrer Ohnmacht ziehen sie sich ganz auf Lyrik und Epos zurück. Auch auf die Dante- und Petrarcanachfolge muß die Akademie verzichten: „Non sono più i secoli d'una volta. Voi vedete che l'amor nobile . . . che fu un tempo sorgente felice de' Sonetti, delle Canzoni, de' Madrigali, e d'altre Poesie, e cagione della immortalità de' Scrittori, e delle Donne stesse, più non s'usa . . . I nuovi libriccini maliziosi predicanti libertà, libertà, hanno ridotte le Femmine scapestrate, non occorrono Sonettini... V'occuperete voi nelle Poesie Sacre contemplando Gesù Crocifisso, i miracoli suoi, a lodare i Martiri, la Santa Fede nostra? Attendetene la rimunerazione, e la lode nell'altro Mondo; in questo visacci, e beffe" 30 . Berni und Burchiello für die „Lyrik", Pulci für das Epos werden von Gozzi programmatisch zu Vorbildern der Akademie erklärt. Schon der Name der Akademie, der auf ihr Wappen verweist, 2 9 Vgl. G. ORTOLANI, Appunti per la storia della riforma del teatro nel Settecento, in: La riforma del teatro nel Settecento e altri scritti, Venezia-Roma 1962, S. 1 - 3 7 (erster Drude des Aufsatzes: R o m a 1939). 30 Fogli, S. 110 f.
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„un g u f o c o n d u e genitali nel destro a r t i g l i o " - , v e r r ä t ihren bernesken
Charakter31. D a m i t aber resigniert G o z z i v o r d e m ambitiösen P r o g r a m m einer u m fassenden E r n e u e r u n g der italienischen L i t e r a t u r a u f d e m W e g e der N a c h a h m u n g d e r „ g u t e n A u t o r e n " des T r e c e n t o u n d des C i n q u e c e n t o , u m sich in die b u r l e s k e D i c h t u n g z u r ü c k z u z i e h e n . D i e l i t e r a r i s c h e T r a d i t i o n
Ita-
liens w i r d in d e n D i c h t u n g s v e r s u c h e n d e r G r a n e l l e s c h i n u r i n s o f e r n f r u c h t b a r , als sie F o r m e n f ü r d i e b i t t e r - s a r k a s t i s c h e Z e i t s a t i r e l i e f e r t . N i c h t u m d i e E r n e u e r u n g d e r i t a l i e n i s c h e n L i t e r a t u r g e h t es i h n e n in e r s t e r L i n i e , sondern
um
die V e r n i c h t u n g
Modernisten,
die
sie
ihrer
literarischen
in u n z ä h l i g e n
Gegner
burlesk-satirischen
im
Lager
Sonetten
der
voller
ausfälliger Beleidigungen dem S p o t t und der Lächerlichkeit preisgeben. D e r Widerspruch zwischen D i c h t u n g s p r o g r a m m und - p r a x i s w a r G o z z i wohl bewußt.
Er
rechtfertigte
allgemeinen Dekadenz,
ihn als u n v e r m e i d l i c h
in e i n e r Z e i t
die den guten Geschmack v e r l o r e n h a b e . „ I o
der vi
d i c o essere t a n t o i n d a n a j a t o , e i n c r o s t a t o . . . il b u o n g u s t o d a l l a p e s t i l e n z a di q u e s t i i n f r a n c i o s a t i t u t t i m a r c i u m e , c h ' i o v e g g i o o g g i m a i i m p o s s i b i l e il risanarlo"32. D e n jungen Dichtern r ä t er: „Se volete farvi onore con
la
P o e s i a I t a l i a n a , e r i m a n e r e i m m o r t a l i oggidì, v i r e s t a n o poche vie, sino
31 Gozzi selbst hat einen kuriosen Einblick in das burleske Treiben dieser strengen R e f o r m e r der italienischen L i t e r a t u r gegeben: eine A r t C l o w n wurde unter dem Titel „arcigranellone" z u m fürstlichen Vorsitzenden der A k a d e m i e gewählt. „Seguì la solenne incoronazione di quel r a r o imbecille con una ghirlanda di susine . . . U n antico seggiolone altissimo, p r i m a di sedere sul quale quel principe, di statura nano, d o v e v a tirare due o tre salti, era la c a t t e d r a del s o v r a n o dell'accademia, ed egli siedeva sopra quella pavoneggiandosi, perocché a v e v a bevuto ch'era il sedile di P i e t r o B e m b o cardinale, celeberrimo scrittore . . . N o n sono annoverabili tutte le burle, e sempre nuove, dirette ad un così f a t t o principe, dalla di lui stolta ambizione ricevute per onori, le quali f o r m a v a n o , ogni v o l t a che l'accademia si univa, una farsa c o m i c a antidoto alla malenconia. E perchè non confessava giammai di non sapere tutto ciò che alcuno degli accademici gli chiedeva se sapesse, egli era obbligato t a l o r a a rimare alla sprovveduta, t a l o r a a c a n t a r e un'arietta in musica e persino a battersi talor nel m e z z o all'accademia, spogliato in camicia, con un m a s t r o di spada che lo fulmin a v a di frugoni col fioretto e lo f a c e v a girare per lo spazzo come una t r o t t o l a . T u t t o imprendeva con la franchezza di quell'arcigranellone ch'era, trionfante o g n o r a t r a le risa e i plausi che l ' a s s o r d a v a n o . " ( M e m o r i e inutili, I., S. 1 9 3 ) . 82 11 Teatro Comico all'Osteria del Pellegrino, in: Opere edite ed inedite, 15 Bde., Venezia, Z a n a r d i , 1 8 0 1 - 1 8 0 5 , Bd. X V , S. 2 5 4 ; dieser Bd. X V erscheint innerhalb der Z a n a r d i - A u s g a b e auch als Bd. I der Opere edite ed inedite non teatrali. Zu diesem bisher verschollenen B a n d satirischer Prosaschriften gegen Goldoni, der u. a. auch eine Reihe von unveröffentlichten Satiren unter dem Titel Scrittura contestativa al taglio della Tartana stampata in Parigi l'anno 1757 enthält, vgl. H . FELDMANN, Ein unbekannter Druck satirischer Schriften Carlo Gozzis gegen Carlo Goldoni, in: Romanische Forschungen, Bd. L X X I X , Heft 3, S. 3 8 3 - 3 8 6 .
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che il buon gusto si rinovella. Per esempio tentar potete un Poema faceto satirico in sui costumi" 33 . Gozzi arbeitete gerade an seiner Marfisa bizzarra, als er diese Ratschläge erteilte. Aus der Perspektive einer vornehmlich burlesk orientierten Dichtung verringert sich der Abstand des Akademikers zu den Maskenscherzen der Commedia dell'arte. Schon in seiner letzten theoretisch-polemischen Schrift aus der Granelleschi-Zeit zeichnet sich der Sprung zu einem phantastisch-burlesken Theater im Rahmen der Commedia dell'arte ab: „Emulate per ¡scherzo i Poeti Nugnez ( = Goldoni und Chiari) 34 coll'ammassare spropositi e accidenti smisurati. Intitolate questi ammassi Commedie, o Tragicommedie. Sieno Parodìe de' marroni Nugneziani. Abbiano per entro alcune poche scene, le quali appalesino, die non siete veramente un Nugnez. Donateli al Sacchi Truffaldino . . ." 35 . Diese Sätze schrieb Gozzi nieder, als er nach dem Erfolg der satirischen Märchenposse L'amore delle tre melarance (Jan. 1761) die Formel für sein eigentliches Märchentheater suchte und mit dem Corvo (Okt. 1761) das Modell der Gattung Fiaba schuf. Daß aber die Akademie trotz ihres burlesken Charakters den Schritt zur unliterarischen Commedia dell'arte und zur Fiaba nicht nachvollziehen konnte und Gozzi sich auch innerhalb seiner Glaubensgenossen isolierte, mag aus der Korrespondenz der beiden Mitglieder Abate Gennari und Abate Patriarchi (1748-1765) hervorgehen: Als strenge Traditionalisten, Puristen und Klassizisten verachten beide Goldoni, bekämpfen den französisch-englischen Einfluß, konspirieren gegen Cesarotti. Gaspare Gozzi gilt ihnen als Pontifex Maximus der Dichter und Literaten Italiens, aber auch für Carlo finden sie zunächst Worte des höchsten Lobes. Die Tartana degl'influssi per l'anno bisestile 1756 (erschienen 1757), ein satirischer Almanach in Burchiello-Imitation mit Ausfällen gegen Goldoni und Chiari, der Gozzi mit einem Schlage bekannt machte (Gennari, 12. II. 1758), der Canto ditirambico dei partigiani del Sacchi Truffaldino (Patriarchi, 28. XII. 1760) und ganz besonders die Fogli sopra alcune
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Fogli, S. 163. „ N u g n e z (in Lesages GH Blas) fu un tentatore della fortuna in parecchi uffizi), e viaggiatore. C o n sorpresa grande di Gii Blas suo conoscente f u trovato da esso a Madrid in età a v a n z a t a scrittore di R o m a n z i e di Commedie con qualche utilità." A n g e w a n d t auf Goldoni und Chiari, die sich zunächst in verschiedenen bürgerlichen Berufen versucht hatten: „Comparvero di que' poeti N u g n e z divinamente dipinti nel Gii Blas di Santillano (sic), i quali mal contenti de' loro uffizij innumerabili cambiati più volte, con un torrente d'inchiostro, con un pagliajo di fogli deformi, e con ispaventevoli urli gridanti: Ecco i veri poeti, sbalordirono gli assennati scrittori, e fecero un gran rovesciamento nel pubblico, sovvertendo ogni buona regola . . . " (Fogli, S. 24 f). 35 Fogli, S. 166. 34
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massime del „Genio e costumi del Secolo" (Patriarchi, 30. X. 1761) sind den beiden Literaten wie aus der Seele gesprochen. Patriarchi schreibt: „Vi so dire che il povero Chiari è tenagliato e fatto in fette per modo che nessuno de' Granelleschi non fece mai tanto. La lettera dedicatoria al Chiari medesimo scritta in versi è un sermone proprio d'Orazio o del Boeleau (sic), o se volete di S. Basilio. Oh le gran cose che in cotesta egli dice, et tutte vere, oneste e cristiane! Ciò non ostante l'è una spada, e un pugnale" (30. X. 1761), und Gennari antwortet ihm zustimmend: „Desidero che questa operetta desti gli sonnacchiosi spiriti Veneziani da quel letargo onde si trovano oppressi, correndo dietro a' mali Poeti, corruttori non meno della poesia che del buon costume" (5. XI. 1761)36. Mit den Fiabe sollte die Verehrung Gozzis ins Gegenteil umschlagen. Zwar sind die Granelleschi zurückhaltend in einer offenen Verurteilung ihres Mitglieds und Wortführers, aber ihre Meinung läßt sich aus den Lettere famigliari Gennaris ablesen: „Camminando di questo passo torna a cadere il teatro comico in quelli stessi o somiglianti difetti, dei quali negli ultimi tempi s'è procurato di liberarlo colla sostituzione delle commedie di carattere alle vecchie filastrocche dei commedianti secentisti. Quanto a me avrei cercato di correggere e di emendare gli errori del Goldoni e del Chiari, anzicchè gettarmi nell'estremo opposto e introdurre una foggia di rappresentazioni inverosimili e romanzesche"37. Zu einer massiven Opposition der Akademie konnte es allerdings nicht mehr kommen, da sie aufgrund ihrer jedes Maß überschreitenden ausfälligen Satiren gegen Chiari und Goldoni 1761 aufgelöst worden war.
3. D i e
Theorie
der
Commedia
dell'arte
Der Gozzi-Kritik ist es bisher nicht gelungen, eine Brücke zwischen dem Granellesco-Akademiker und dem Autor der Fiabe zu schlagen, zumal die Ragionamenti (1772)1, in denen Gozzi selbst diesen Versuch unternimmt, recht konfus sind. Die Kritik hat sich darum weitgehend auf den Vorwurf des charakterlosen Opportunismus zurückgezogen, der die Wertung der Persönlichkeit Gozzis wie auch seines Engagements in 36 zit. nach M E L C H I O R I , Lettere e letterati a Venezia e a Padova a mezzo il secolo XVIII, Padova 1942, S. 42. 37 Brief vom 3. II. 1763 an F. Battaglia, in: Lettere famigliari, Venezia 1829, S. 155-156. 1 Ragionamento ingenuo e storia sincera dell'origine delle mie dieci Fiabe teatrali und Appendice al „Ragionamento ingenuoerschienen in Bd. I und IV der Opere, Ausg. Colombani, a. a. O., neu gedruckt in: Opere, Teatro e polemiche teatrali, hersg. v. G. Petronio, Milano, Rizzoli, 1962. Nach dieser Ausgabe wird zitiert.
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den zahlreichen literarischen und ideologischen Fehden überschattet. Aber die Tatsache, daß Gozzi als starrköpfiger Reaktionär in seinem langen Leben eigentlich keine Entwicklung durchgemacht hat, sollte davor warnen, den Schritt von der Marfisa bizzarra zur Fiaba als einen radikalen Bruch überzubewerten. Jedenfalls verdienen die Ragionamenti größere Aufmerksamkeit, will man Gozzi nicht Unrecht tun. Gozzi unterscheidet scharf zwischen dramatischer Literatur und Theater, das als eine auf dem Schauspieler gründende Welt von der „milizia ausiliare"2 des Dichters unabhängig sei. Er kann dabei nicht nur auf das Nebeneinander von Commedia erudita und Commedia dell'arte im 16. Jahrhundert, sondern ebenfalls auf die zeitgenössischen Theaterverhältnisse in Frankreich verweisen: „I coltissimi Francesi non hanno la commedia improvvisa, esercitata dalla loro nazione, ma hanno l'Opera comica, ch'equivale. Il Pierò, l'Arlecchino... e molte altre maschere compongono la truppa di quella rappresentazione caricata, fortunatissima. Ella fa sudare la gravità dell'ottime tragedie, e la faceta urbanità delle commedie ponderate"3. Die Tradition des reinen, unliterarischen Theaters in der Commedia dell'arte möchte Gozzi vor dem Zugriff der „Pseudo"-Literatur Goldonis schützen (s. u. S. 36 f.). Auch vor der Überfremdung durch eine moralisch-erzieherische Mission möchte Gozzi das reine Theater bewahren: „Nessuno potrà levarmi la facoltà di ridere di que' poeti che pretendono di cagionar ne' teatri, puri recinti di passatempo e di passeggieri riflessi, gli effetti de' pergami e de' confessionali"4. Auf der anderen Seite darf die Bühne keinen negativen Einfluß auf die Sitten der Zuschauer ausüben, was für die Commedia dell'arte bedeutet, daß sie sich von ihrer traditionellen Vorliebe für das Obszöne loszusagen hat. Antonio Sacchi muß seine Aufführungen derart „säubern", daß Gozzi selbst an die Damen appellieren kann, das Vorurteil der Unmoralität der Commedia dell'arte aufzugeben und Truffaldino als einem „uomo sano" ihren Beifall nicht zu verwehren: Deh porgeteci la mano dame belle, e ce n'andiamo. Truffaldino è un uomo sano, e rallegraci i pensieri senza osceni allettamenti 5
Der eigentliche Beweggrund, der Gozzi dazu treibt, das Stegreifspiel zu einem „divertimento innocente"8 zu deklarieren, liegt jedoch im ideoRagionamento ingenuo, ebda., S. 1043. ebda., S. 1036. 4 Appendice, ebda., S. 1103. 5 Opere (Colombani), Bd. VIII, S. 169. * Ragionamento ingenuo, in: Opere (Rizzoli), S. 1050. 2 3
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logischen Bereich: „Ecco il genere scenico, die l'occhio mio politico, forse di corta veduta, avrebbe voluto coltivato, protetto, e sussistente ne' pubblici Teatri dell'Italia, aperti all'universalità de' popoli, come genere particolarmente italico, e niente insidioso a sovvertire gli animi, e le menti de' sudditi alla ribellione dalla subordinazione, e dalla necessaria obbedienza dovuta a' Governi, non die attissimo a intrattenere, e divertire le popolazioni, che non hanno bisogno di elevarsi a quelle sofistiche sublimità che gli rendono infelici" 7 . Gozzi geht es nicht so sehr um eine grundsätzliche Abgrenzung des reinen Theaters gegen Politik, Moral und Philosophie, sondern er möchte die Commedia dell'arte in der Gunst des Publikums gegen ein Literaturtheater, das von subversivem Gedankengut ultramontaner Aufklärung in gefährlicher Weise infiziert ist, ausspielen. Es wird sich zeigen, daß Gozzi noch einen entscheidenden Schritt weitergeht, wenn er mit seinen Fiabe das Stegreifspiel im Sinne seiner Ideologie umstrukturiert (s. u. S. 72 ff.). Auch die Ansätze zu einer positiven Theorie des Stegreifspiels geben immer wieder den Blick auf das politisch-ideologische Engagement Gozzis frei. Was Gozzi vor allem in die Augen sticht, ist die „fissità" der Commedia dell'arte, ihre stereotype Formenwelt, die sich in einer durch Jahrhunderte sanktionierten Spieltradition bewährt habe. Szenarien, Masken, „lazzi" finde der Schauspieler fest umrissen vor. Unter diesem Gesichtspunkt hebe sich die Commedia dell'arte vorteilhaft gegen das literarische Theater ab, das, wenn es für sein Uberleben auf die szenische Aufführung angewiesen wäre, bald der Vergessenheit anheimfallen würde: „E certissima la decadenza ne' generi delle opere teatrali die si producono scritte, in un breve giro di tempo. Fu sempre in queste necessaria la novità" 8 . Die Commedia dell'arte hingegen kann Gozzi als ein Bollwerk des italienischen Nationalgeschmacks dem „secolo vacillante, immerso in un caos di confusione e senza nessun gusto determinato" 9 entgegenhalten. Und er erkühnt sich zu der Prognose, „che, se non si chiudono i teatri dell'Italia, la commedia improvvisa dell'arte non abbia giammai ad estinguersi, né le sue maschere abbiano a essere annichilate" 10 . Die „fissità" des Stegreifspiels stelle sich nun keineswegs dem Bedürfnis nach „novità" entgegen. Abgesehen von den immer wieder erneuerten Dialogen erwecke ein jeder Schauspieler, der sich die überlieferte Maske zu eigen mache und sie, ohne den vorgefundenen Rahmen zu sprengen, durch neue Züge bereichere, sowohl die stereotypen Szenarien als auch das Zusammenspiel der Truppe zu neuem Leben: „Un solo nuovo personaggio
Opere (Zanardi), Bd. XIV, S. 118. Ragionamento ingenuo, in: Opere (Rizzoli), S. 1038. 9 ebda., S. 1040. 10 ebda., S. 1037.
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originale... basta a risvegliare gli accidenti di novità in tutti gli altri attori della sua truppa, e in tutti i soggetti dell'arte comica all'improvviso" 11 . „Ella, essendo sempre la stessa, è sempre rinnovata nel suo aspetto, e ne' suoi dialoghi da novelli bizzarri spiriti che la rappresentano . . . ingentilendo l'arte, i caratteri, e i sali, con proporzione a' secoli dirozzati" 12 . Am Beispiel der Commedia dell'arte illustriert Gozzi, wie die überlieferte verbindliche Ordnung durchaus nodi Raum für schöpferische Originalität läßt. Die eigentliche Rechtfertigung findet die „fissità" der Commedia dell' arte in der von ihr gestalteten Wirklichkeit. Liefern die historischen Zufälligkeiten als „fonte perenne di cambiata morale, di cambiati costumi, di cambiati caratteri, di cambiati raziocini, di cambiate opinioni e argomentazioni" 13 den Stoff für die realistische Gesellschaftskomödie Goldonis, so zieht sich die Commedia dell'arte aus jeder konkreten historischen Gesellschaft zurück und stößt in den Bereich des Unwandelbaren, Ewiggültigen, Allgemeinmenschlichen vor. Die sich immer gleich bleibenden „difetti caratteristici del genere umano" 14 fängt sie in archetypischen Charakteren ein. Die wenigen Charaktermasken umfassen „il geloso, l'avaro, il scialacquatore, il milantatore, il parabolano, il pedante, il venturiere, il bugiardo, il prepotente, l'insidioso, il damerino, l'affettato, il mentecatto, il credulo, il superbo, il vigliacco, lo sciocco, il folle" 14 . Aus einer vergleichbaren Situation heraus kann später Th. Gautier die Commedia dell'arte, so wie sie metamorphosiert im Théâtre des Funambules unter dem großen Mimen Debureau weiterlebte, als die wahre menschliche Komödie gegen Balzac ausspielen: „La pantomime est la vraie comédie humaine, et bien qu'elle n'emploie pas deux mille personnages, comme celle de Monsieur de Balzac, elle n'est pas moins complète. Avec quatre ou cinq types, elle suffit à tout" 15 . Diese Mimesisauffassung gestattet es Gozzi, selbst die eigentümliche, jeder naturalistisch verstandenen Wahrscheinlichkeit Hohn sprechende Darbietungsform der Commedia dell'arte zu bejahen. Daß Goldoni die grotesken Gesichtsmasken als „unnatürlich" ablehnt, verspottet er als eine „proposizione più ridicola dell' assurda facezia di Truffaldino" 16 . Gerade die „maschere" gestatten eine Darstellung der menschlichen Wirklichkeit
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Appendice, ebda., S. 1123. Vorwort zu II Fajel, tragedia del Sig. D'Arnaud tradotta in versi sciolti, Venezia, Colombani, 1772, S. 19. 13 Opere (Zanardi), Bd. XIV, S. 148. 14 ebda., S. 117. 15 Jan. 1847, zit. nach TH. GAUTIER, Histoire de l'art dramatique en France depuis vingt-cinq ans, Leipzig, Hetzel, 6 Bde., 1859, Bd. V, S. 24 f. 16 Opere (Zanardi), Bd. XIV, S. 119. 12
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„con notabile naturalezza legata al carattere loro" 17 . Uneingeschränkt verteidigt er auch den „exzentrischen Bewegungsstil"18 der Schauspieler bis hin zu ihren akrobatischen Bravourleistungen: „E riserbare al Sacchi il tricche tracche . . . e il dimenar ne' palchetti le lacche"19. Gerade in ihrem Mut zur exzentrischen Stilisierung erscheinen ihm die Schauspieler der Commedia dell'arte als „arditi ingegni" 20 und „spiriti bizzarri, ingegnosi, e ardisco dire, poetici" 21 . Indem Gozzi das reine, auf dem Schauspieler gründende Theater dem Zugriff der Moral, der Philosophie und der Politik weitgehend entzieht und es als eine eigene, fest gefügte Ausdruckswelt an die Seite der Stilund Gattungsmodelle der Literatur rückt, könnte der Eindruck entstehen, als ob er die Commedia dell'arte mit vornehmlich ästhetischen Kriterien zu erfassen suche. Tatsächlich aber bleibt er weit entfernt von einer auf das 19. Jahrhundert vorausweisenden Kunstlehre, die es beispielsweise Gautier gestatten sollte, den Rückzug der Kunst aus der Gesellschaft mit der Theorie des l'art pour l'art ganz neu zu rechtfertigen. Wenn Gozzi das auf dem Schauspieler gründende Theater von jeglicher Überfremdung fernhalten will, so bedeutet das keine Neuwertung des Schauspielerischen, wie sie etwa in Diderots Paradoxe sur le Comédien zum Ausdruck kommt, sondern im Gegenteil eine ganz und gar konventionelle Herabsetzung, die sich nicht grundsätzlich von der seiner Gegner unterscheidet. Indem er das reine Theater als ein „passatempo" und „divertimento" definiert, verweist er es in den sinnlichen Bereich der „voluttà" und des „piacere" und bleibt damit in einem oberflächlichen Hedonismus stecken. Erst durch die Verbindung von Theater und Literatur werden nach Gozzis Auffassung dem bloßen Divertimento die höheren Bereiche des Wahren, Guten und Schönen erschlossen. Das durch die Literatur nobilitierte Theater ist darum für Gozzi entschieden höher einzustufen als die Commedia dell'arte. 17
ebda., S. 116 f. WOLFGANG KAYSER, Das Groteske, seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg und Hamburg 1962 2 , S. 40. Die Maske und die untergeordnete Rolle der Sprache zwingen den Schauspieler, seine Ausdrudcsmittel vornehmlich in der äußerst stilisierten körperlichen Bewegung zu suchen. Alle Gefühle und Leidenschaften werden umgesetzt in expressive Gestik. Seinen höchsten Ausdruck findet der exzentrische Bewegungsstil in den sogenannten „lazzi". Die Bezeichnung leitet sich her aus „actio" (mit Artikel-Agglutination) und meint tänzerisch-akrobatische Einlagen, die Gemütszustände wie Überraschung, Freude, Schmerz usw. zum Ausdruck bringen. 19 Canto ditirambico a' partigiani del Sacchi Truffaldino, in: Opere (Colombani), Bd. V i l i , S. 168/9. 20 Ragionamento ingenuo, in: Opere (Rizzoli), S. 1037. 21 Opere (Zanardi), Bd. XIV, S. 116. Es ist allerdings die einzige Stelle im Werk Gozzis, und dazu noch seinen Spätschriften entnommen, die die Schauspielkunst der Commedia dell'arte „poetisch" zu nennen wagt. 18
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Sicherlich, als Anwalt der Commedia dell'arte nimmt Gozzi nach der Theaterreform Goldonis eine einsame Stellung ein 22 . Aber mißt man seinen Canto ditirambico
dei partigiani
del Sacchi Truffaldino
an Äuße-
rungen bedeutender Literaten noch der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so führt die Verteidigung der Commedia dell'arte weder im theoretischen Verständnis noch in der begeisterten Bejahung über seine Vorgänger hinaus. Scipione Maffei beobachtet im Stegreifspiel „scene . . . tanto graziose, tanto ben girate, e con tal vivezza di facezie, e con tal naturalezza di sentimento, e con tal prontezza di risposte, che non sarebbe possibil mai
22 Zu einer wohlwollenden Beurteilung der Commedia dell' arte findet auch Gaspare Gozzi auf dem Höhepunkt des Kampfes der Granelleschi gegen Goldoni. Seine Konfrontation des Stegreifspiels mit der literarischen Komödie, der Carlo einen nicht geringen Teil seiner Argumente in der Diskussion um die Commedia dell'arte verdanken dürfte, sei hier in extenso wiedergegeben: „Per la commedia improvvisa si debbono lasciare indietro i caratteri, e massimamente quelli che abbiano in sé qualche squisitezza, perché i commedianti, per quanto sieno ingegnosi e pronti di spirito, non possono repentinamente entrare in tutte le parti di quel costume die rappresentano; laddove all' incontro uno scrittore, pensando e meditando al suo tavolino, può a suo agio ripescare e razzolare in tutte le fibre del cuore umano, e dipingere le infinite facce di quello in ogni argomento da lui preso a lavorare. Nella prima tutta la mira dee essere rivolta alle maschere, le quali non sono altro che caricature di uomini die ogni cosa tirano al piacere e alla ridicolosità: nell'altra la diligenza dello scrittore dee essere riposta nell'imitare la natura de' caratteri da lui trovati, facendoli spiccare dalla parte del ridicolo, ma con nobilità e grazia. Nella qual cosa passa la diversità die sarebbe fra una pittura del Calotta e un ritratto che rappresentasse una giovialità naturale. Nella commedia improvisa si richieggono costumi vistosi, evidenti e gagliardi, di quelli che si veggono ogni di, che tosto si conoscono, die sono manifesti agli occhi di tutti; perché i comici gl'intendono, vi s'intrinsecano facilmente e ne fanno ritratti senza applicazione e con quella libertà die dà vita e calore al dire improvviso: nell'altra ogni costume può aver luogo, purché l'ingegnoso scrittore lo squaderni da ogni lato, lo conosca, lo tragga fuori e lo metta in quell'aspetto die tocchi e punga gli ascoltanti. Questi sono in parte i principali accorgimenti, secondo il mio parere; e se volete sapere quale di queste due qualità di commedia debba avere la preferenza, dicovi che tuttaddue sono buone e belle, tuttaddue sono un'imitazione di natura in loro specie perfetta. Se poi mi diiedeste quali sieno di maggiore utilità a' teatri, vi risponderei le improvvise, perché queste sono di maggior durata delle altre e non senza ragione. I costumi sono una cosa infinitamente volubile e che spesso si cambiano, massime quelli che sono dilicati e fini, i quali per lo più nascono da certe particolari congiunture o nuove fogge entrate fra gli uomini in un luogo. La commedia pensata e scritta gli coglie con diligenza e tutti gl'imita, onde di là a pochi anni, passata la voga di tale o tal costume, eccovi la commedia vecchia e intarlata. All'incontro i costumi popolari e più grossi durano più, ed eccovi la commedia improvvisa più durevole. E posto ancora die l'una e l'altra dipingessero costumi stabili e durevoli, quali sono l'avaro, il geloso, il goloso eccetera, la commedia scritta non si muta mai ed è sempre quella medesima die fu scritta dall'autor suo, onde il ripeterla viene a noia, perdié a poco gli ascoltanti l'imparano, per cosi dire, a mente. Cambiasi bensi l'altra, in cui,
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di svriverle meglio al tavolino" 23 . Und nicht weniger entschieden setzt sich Pier Jacopo Martello für die improvisierte Komödie ein: „Nessuna commedia ridevole, per savia, piccante, vivace e costumata che siesi, può alla commedia istrionica italiana resistere... Confesso ch'io lascerei l'Edipo di Sofocle e l'Anfitrione di Plauto per una di queste favole da valenti istrioni rappresentata" 24 . Das Neue in Gozzi besteht lediglich darin, daß er die Commedia dell'arte zu einem Bollwerk der Reaktion gegen ein umstürzlerisch angehauchtes bürgerliches Theater macht. Es gilt, die scharfe Trennung von literarischem und reinem Theater nicht aus den Augen zu verlieren. Nur dann lassen sich Fehlurteile in der Art Giovanni Ziccardis vermeiden, der Gozzi zum „giacobino nelle forme poetiche e codino nel resto" 25 erklärt. Ziccardi stützt sich auf eine Äußerung aus La più lunga lettera di risposta che sia stata scritta, inviata da Carlo Gozzi ad un Poeta teatrale italiano de' nostri giorni (1801): „Sembra impossibile, che in un secolo creduto illuminato, in cui si vogliono rovesciati insino gl'idiomi litterali delle nazioni; si vuole rovesciato come pregiudizio di educazione tutto ciò, che con uno studio di secoli sulla esperienza fu stabilito da' saggi per il male minore della umanità; si vogliono rovesciate tutte le leggi umane, divine, e rovesciati tutti i dettami della immensa successiva schiera de' gran filosofi profondi nostri santi Padri, vi sieno poi in un così enorme rovesciamento generale voluto da' predicantisi illuminati rigeneratori de' cervelli, che in sul proposito della frivola materia teatrale, vogliano oggidì gelosamente sostenere in tutta la Drammatica, come sacre, e intangibili le antiche leggi delle Poetiche di Aristotele, di Orazio, di Boelò che non scrissero mai riga per i teatri" 26 . Diesem sicherlich auf den ersten Blick äußerst rebellisch erscheinenden Ausspruch sei zunächst ein anderes Zitat aus dem gleichen Brief entgegengehalten, das dem scheinbar entthronten Boileau Gerechtigkeit widerfahren läßt: „Boelò, die senza esitare, considero io il miglior Poeta, e il più
rimanendo intera la prima orditura, mutasi il dialogo ogni sera e rinnovasi ad ogni rappresentazione e, secondo che da questi o da que' commedianti viene rappresentata, rifiorisce, ringiovanisce e quasi sopra un vecchio tronco nuovi rami e germogli rimette. Se qualche cosa è invecchiata, il valente comico la tronca e vi sostituisce novità; se qualche favorevole circostanza gli si presenta, la coglie, e con quel fuoco che viene somministrato dall'obbligazione del parlare improvviso, quasi dall'entusiasmo invasato, a tutto dà vita e calore, prendendosi, per cosi dire, in aria, motti, pronte risposte, berte, burle in sul fatto, che fanno più pronto effetto delle meditate e pensate." (La Gazzetta Veneta, Nr. L X X I I , 11. Okt. 1760, Firenze 1957, S. 297 f.). 23 Vorwort zum Teatro italiano, Verona 1723, Bd. I, S. I X - X . 24 Vorwort zur Komödie Che bei pazzi in: Opere, Bologna, Bd. IV, 1723, S. 157/159. 25 a. a. O., S. 118. 26 Opere (Zanardi), Bd. XIV, S. 45.
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giudizioso critico che abbia avuto la Francia, scrittore di una eccellente Poetica sulla regolarità, e squisitezza del gusto.. ." 27 . Der scheinbare Widerspruch zwischen den beiden Zitaten löst sich auf, sobald man die scharfe Trennung von Volkstheater und regelmäßigem Theater ins Auge faßt. Der Vorwurf, den Gozzi gegen die klassizistisch ausgerichtete Kritik erhebt, zielt auf den Anspruch, daß die Regeln der Poetiken von Aristoteles bis Boileau für die gesamte dramatische Kunst („in tutta la Drammatica"), also auch im Bereich der volkstümlichen Dramatik, Gültigkeit besitzen. Mit zahlreichen weiteren Belegen aus dem genannten Brief läßt sich diese Interpretation abstützen: so erklärt Gozzi, daß die „veri dotti poeti italiani che scrivono Tragedie regolari, e perfette" und die Autoren einer „vera, colta, regolata Commedia" von ihm immer verehrt werden „quanto venero . . . Sofocle e Terenzio"28. Wie sehr verbreitet der Irrtum Ziccardis schon zu Lebzeiten Gozzis war, mag ein letztes Zitat aus dem genannten Brief zeigen, in dem Gozzi gegen das Mißverständnis, das ihn zu einem Verächter der klassizistischen Regeln macht, protestiert: „Niente dovevano valere le mie pubbliche solenni, e sonore proteste, ch'io intendeva di voler esporre de' capricci scenici alienissimi dalla semplicità voluta da' precetti delle da me riverite Poetiche"29. Ein weiteres Beispiel mag zeigen, daß selbst der wohl beste Kenner des Gozzischen Werkes, Giuseppe Ortolani, den Rivalen Goldonis nicht von dem traditionellen Vorwurf, er verrate sein literarisches Credo zugunsten seiner Fiabe, freisprechen kann: Goldoni hatte seinen Kritikern aus dem Lager der Puristen und Klassizisten selbstbewußt entgegengehalten, der Publikumserfolg seiner Stücke bürge für ihre literarische Qualität. Gozzis erste Fiaba L'amore delle tre melarance, „d'un titolo puerile, e d'un argomento il più frivolo e falso" 30 , will alles bisher Dagewesene an Trivialitäten unterbieten, das Publikum trotzdem zu brausendem Beifall hinreißen und damit Goldonis Kriterium des Publikumserfolges der Lächerlichkeit preisgeben. Wenige Jahre später verteidigt auch Gozzi seine Fiabe gegen die Angriffe der klassizistischen Theaterreformer mit dem so erbittert bekämpften Kriterium des Publikumserfolges: „II concorso fa buono il trattenimento"31. Entrüstet ruft Ortolani aus: „O l'eretico! e allora perchè si gran chiasso accademico fra il 1757 e il '61 e tanto furore di penne granellesche"32? Aber gegen den Ausspruch „il concorso fa buono il trattenimento" läßt sich ein anderes Zitat aus dem gleichen Ragionamento halten, aus dem ebda., S. 115. ebda., S. 23/24. 29 ebda., S. 23. Vgl. auch S. 4 und S. 43. 30 Ragionamento ingenuo, in: Opere (Rizzoli), S. 1085. 31 ebda., S. 1040. 32 Manuskript, a. a. O., S. 20. 27 28
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hervorgeht, daß für Gozzi der breite Publikumserfolg auch weiterhin auf geringe literarische Qualität eines Werkes schließen läßt: „quanto più (una opera) s'accosta all'ottimo, meno piace all'universale" 33 . Der Widerspruch zwischen den beiden Zitaten ist nur ein scheinbarer, weil „trattenimento" ausschließlich die theatralische Darbietung meint und vom literarischen Charakter des aufgeführten Werkes ganz absieht. Selbst auf dem Höhepunkt seiner Polemiken gegen Goldoni hat Gozzi die Qualität der Stücke seines Rivalen als „trattenimenti" nie bestritten. Gerade weil die Komödien Goldonis kein anderes Ziel haben „che quello dell' intrattenere"34, rücken sie an die Seite der Commedia dell'arte oder gar eines „buffon mascherato" oder eines „orso che danza" 35 . Auch Aristoteles, so räumt Gozzi spöttisch ein, würde dem Theater Goldonis und Sacchis vielleicht sogar einen gelegentlichen Besuch abstatten, um sich einmal auf triviale Weise zu zerstreuen36. Die wahren Komödien aber unterwerfen sich den Regeln und fesseln nicht „con gli inutili allettamenti", sondern „co' ponderati ammaestramenti, com'è obbligo del buon poeta" 37 . Der Fehler Goldonis bestehe darin, daß er von dem Beifall der Gondolieri und Wäscherinnen auf die literarische Qualität seiner Komödien schließe und sie gar als Modelle empfehle: „Nè ti voglio tacere - wendet er sich an Goldoni - che ci danno maggior fastidio le tue (commedie) che quelle dell'arte, ed eccoti la ragione. T u . . . vuoi che le consideriamo come esatte, e buone composizioni poetiche, e sono gagliofferie, dove quelli che ci rappresentano quelle dell'arte confessano, che sono fanfallucche per divertirci, e così l'umiltà in confronto alla matta presunzione ci fa divenire più omogenee quelle dell'arte, the le tue" 38 . Indem die Gozzi-Kritik die strenge theoretische Scheidung von literarischem und reinem Theater weitgehend übersehen hat, konnte es zur These eines Bruchs in der literarischen Entwicklung Gozzis kommen, der von den einen als „Häresie" verurteilt, von den anderen als „Jakobinertum" gefeiert wurde. Daß diese Mißverständnisse möglich wurden, liegt einerseits an den begrifflich wenig präzisen Ragionamenti. Hinzu kommt aber, daß Gozzi in der Dichtungspraxis diese strenge Scheidung nur in eingeschränkter Form hat aufrechterhalten können. Ein „regelmäßiges" Stüde hat er nie zu schreiben versucht. Seine offizielle Rechtfertigung wälzt die „Schuld" auf das ungebildete Publikum der öffentlichen Theater " Ragionamento ingenuo, in: Opere (Rizzoli), S. 1038. " Il Teatro Comico all'Osteria del Pellegrino, in: Opere (Zanardi), Bd. XV, S. 223. ®5 Scrittura contestativa al taglio della Tartana stampata in Parigi l'anno 1757, abgefaßt 1759, erstmalig gedruckt in: Opere (Zanardi), Bd. XV, S. 121. " Il Teatro Comico all'Osteria del Pellegrino, ebda., S. 227. " ebda., S. 197. »» ebda., S. 224. 37
ab, das erstauf den guten Geschmack hin erzogen werden müsse (s. o. S. 27). In diesem Sinne wendet er sich an Goldoni: „Io ti chiamerö riformatore, quando avrai riformati i cervelli, e ridotti ad aver piacere delle commedie buone, Ordinate, sane" 39 . Aber die Erziehung des Publikumsgeschmacks übersteigt als Aufgabe die Kräfte eines einzelnen. Darum empfiehlt Gozzi, eine kompetente Schauspielertruppe aus staatlichen und privaten Mitteln zu subventionieren mit der Auflage, nur klassizistische Musterbeispiele zur Aufführung zu bringen. So könne allmählich ein breiteres Publikum außerhalb der Akademien zum Vergnügen am Wahren, Guten und Schönen geführt werden 40 . Aber wenn Gozzi Goldoni vorhält, daß es weitaus ehrenhafter sei, von wenigen Gebildeten gelobt als von der breiten Masse gefeiert zu werden 41 , warum stellt er dann nicht seinen Granelleschi eine „vollkommene" Komödie im Rahmen eines Akademietheaters vor? - Gozzi hatte selbst nur äußerst vage Vorstellungen von der idealen literarischen Alternativkomödie zu Goldoni. Ihm fehlte es an echter klassischer Bildung und am Sinn für klassisches Maß. Sein Talent drängte ihn zum Bizarren, Extravaganten, Karikaturistischen, Grotesken. Man braucht dabei nicht einmal an sein burleskes Epos La Marfisa bizzarra oder an seine Fiabe zu denken. Selbst die Memorie inutili ziehen ihren Reiz aus einer eigenwilligen Sprache voller skurriler und ausgefallener Verben und Adjektive, die sich im Rahmen einer wenig disziplinierten Syntax zu mächtigen Wortpyramiden aufeinandertürmen. Niemand war weniger geeignet als Carlo Gozzi, dem klassizistischen Theater zu einer neuen Blüte zu verhelfen. Lebendiger als zum „teatro colto regolare" waren seine Beziehungen zum „teatro faceto popolare" der Commedia dell'arte. Die Fiabe wären für Gozzi der Entwurf eines Schauspiels, das die Commedia dell'arte mit Blick auf ein alle Stände erfassendes Publikum veredelt, ohne aber, wie Goldoni, ihren traditionellen Rahmen zu sprengen. Dabei gerät Gozzi in ein bezeichnendes Dilemma. Veredelung kann für ihn nur bedeuten, die Commedia dell'arte aus einer zu ausschließlichen Bindung an das „piacere" zu befreien, sie doch irgendwie zu literarisieren und ihr eine moralisch-ideologische Mission zu geben. Dieser Zweideutigkeit der Fiabe erlag schon Baretti, wenn er ihre literarisch-„allegorischen" Seiten isolierte und die Bindung an das Volksschauspiel zeitweise übersah (s. o. S. 1 f.). Auch die theoretischen Schriften Gozzis schillern in bezeichnender Widersprüchlichkeit, wenn er für seine Fiabe durchaus nicht auf „il jus del titolo generale di Poema" 42 verzichten will. Dieses Dilemma eines ambi3
» ebda., S. 228. Vgl. Appendice, in: Opere, (Rizzoli), S. 1150. 41 Vgl. Scrittura contestativa ..., a. a. O., S. 92 f. 42 La lettera più lunga . . . , in: Opere (Zanardi), Bd. X I V , S. 11. 40
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tiösen aber gescheiterten Literaten, der sich plötzlich in der Rolle eines erfolgreichen Autors von weitgehend unliterarischen Volksschauspielen viederfindet, hat Gozzi nie aufzulösen vermocht.
4. G o z z i s
Kritik
an C a r l o
Goldoni
Will man die drei bedeutendsten dramatischen Dichter der italienischen Literatur des 18. Jahrhunderts - Pietro Metastasio (1698-1782), Carlo Goldoni (1707-1793) und Vittorio Alfieri (1749-1803) - formelhaft charakterisieren, so gilt Pietro Metastasio als der Dichter der aristokratischen Gesellschaft der italienischen Fürstenhäuser und des kaiserlichen Hofes in Wien. Er blieb weitgehend unberührt von den vorrevolutionären Unruhen des Jahrhunderts und ohne politisches Bewußtsein. Seine lyrischen Tragödien fanden als letzte Ausläufer der „arkadischen" Dichtung ihre ganze Erfüllung im Kult der „klassischen" Form. Goldonis Werk hingegen, das sich der zeitgenössischen Wirklichkeit weit öffnet, erscheint als ein kräftiges Symptom der Wiedergeburt des italienischen Geistes1, der schließlich mit den Tragödien Alfieris zum politischen Bewußtsein zurückfindet. Der Boden für die große Bewegung des Risorgimento im 19. Jahrhundert war bereitet. Auf seinem Wege zur Gesellschaftskomödie bürgerlicher Prägung hat sich Goldoni um die Forderung nach Imitatio der klassizistischen italienischen Modelle des Cinquecento, wie sie nodi bei den Versuchen um ein italienisches Theater der ersten Hälfte des Jahrhunderts verbindlich war, wenig gekümmert und stattdessen seine Komödie formal aus einer Literarisierung des italienischen Stegreifspiels hervorgehen lassen. Diese Genese bietet zwei Ansatzpunkte für die Kritik Gozzis: er versucht zu zeigen, daß die dramatischen Schriften Goldonis keinen Anspruch auf literarische Gültigkeit erheben können, „perocché sono tanto differenti da quelli (scritti) che per tanti secoli furono tenuti buoni" 2 . Andererseits habe sich Goldoni von der legitimen Tradition des Stegreifspiels entfernt. Seine Komödie sei nichts als ein Zwittergebilde, das weder der Literatur nodi dem reinen Theater zugeordnet werden könne und sowohl die Renaissance der klassizistischen Komödie verhindere, als auch das Fortleben der Commedia dell'arte bedrohe.
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Die beste Darstellung der Komödienreform Goldonis bietet der Aufsatz von GIUSEPPE ORTOLANI, Appunti per la storia della riforma goldoniana, erstmalig erschienen in der Rivista italiana del dramma (1941), neu gedruckt in: G. ORTOLANI, La riforma del teatro nel Settecento e altri scritti, a. a. O., S. 39-64. 2 Scrittura contestativa . . . , a. a. O., S. 109.
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Die gezielteste Kritik an Goldoni enthält der satirische Dialog II Teatro Comico all'Osteria del Pellegrino, tra le mani degli Accademici Granelleschi (1760), der aber infolge seiner Virulenz bis 1805 unveröffentlicht blieb3. Er enthält die Antwort auf Goldonis dramatisierte Poetik II Teatro Comico, die als erste der sechzehn Komödien der Spielzeit 1750/51 zugleich die Rolle eines programmatischen Vorworts übernahm. Das „Teatro Comico" wird personifiziert in einem Ungeheuer mit vier fratzenhaften Gesichtern, die die verschiedenen Tendenzen von Goldonis Komödienschaffen andeuten sollen: literarische Fixierung von Stegreifspielen, bürgerliche Familienkomödien, exotische Komödien und Tragikomödien in martellianischen Versen und schließlich die chorischen Komödien mit dem vielstimmigen venezianischen Volk als Protagonisten. Die Granelleschi, als deren Wortführer Gozzi auftritt, fordern das Ungeheuer zu einem Streitgespräch heraus, in das eine detaillierte Analyse der Bona muger eingeschoben ist. Nicht zufällig hat Gozzi gerade eine venezianische Milieu- und Sittenkomödie herausgegriffen. Hier lassen sich die Bestrebungen Goldonis, die archetypische, wirklichkeitsferne Commedia dell'arte in eine realistische Gesellschaftskomödie mit einer Fülle menschlich individueller Charaktertypen zu verwandeln, am deutlichsten aufzeigen. Fragt sich Gozzi aus der Perspektive des Klassizisten nach der „Ordnung" der Bona muger, so sieht er sich auf das Stegreifspiel verwiesen: „Tu componi, anzi pur impastricci per le regole delle commediacce dell'arte" 4 . Zwar bekenne sich Goldoni zur Einheit der Handlung („Le buone commedie devono aver l'unità dell'azione; uno deve essere l'argomento, e semplice il titolo" 5 ), niemand aber habe diese Regel aller Regeln weniger beachtet, als er selbst. Seine Bona muger, die sich zwar durch einen schönen einfachen Titel hervortue, bestände aus mehreren einander nebengeordneten Handlungssträngen. Dem wahren Charakter der Komödie sei ein Titel im Stil der Commedia dell'arte angemessener, den Gozzi in burlesker Übertreibung folgendermaßen formuliert: „I Nobili rinviliti per poco cervello, e resi scherno del mondo, con Pantalone padre affettuoso, e suocero innamorato. Pasqualin dissoluto, e nimico della moglie per scioccaggine, con la Betta moglie buona per il Talamo. Catte mal educata, e ruffiana della propria sorella con Lelio vagabondo per non aver padre. I Gondolieri con Brighella servo scellerato, e Truffaldino scavezzacollo" 6 . Die „vorbildliche Ehefrau" Betta verliert so völlig ihre im Titel Goldonis angedeutete zentrale Stellung. 3 4 5
Opere (Zanardi), Bd. X V , S. 175-255. ebda., S. 229. CARLO GOLDONI, Il Teatro
* II Teatro Comico all'Osteria
Comico,
T o r i n o 1957, S. 63.
del Pellegrino,
40
a. a. O., S. 200.
Gozzis Kritik zielt, wie man sieht, auf einen zentralen Programmpunkt der Goldonischen Reform. In der chorisdien Anlage sah Goldoni einen der entscheidenden Unterschiede seiner Stücke zu den Komödien Molières: „Un carattere solo basta per sostener una commedia francese . . . I nostri Italiani vogliono molto di più. Vogliono die il carattere principale sia forte, originale, e conosciuto: che quasi tutte le persone, che formano gli episodi, sieno altrettanti caratteri" 7 . Der alles beherrschende Charakter eines Harpagon muß der sozialen Gruppe oder gar dem „Volk" weichen, dessen „Charakter" es im Zusammenklang vieler individueller Einzelstimmen zu erfassen gilt 8 . Gozzis Kritik an Goldoni ist im Zusammenhang dieser Untersuchungen nur in dem Maße von Interesse, wie sie zum Alternativtheater der Fiabe hinführt. Darum können wir auf eine detaillierte Analyse der klassizistischen und puristischen Beanstandungen, die für die Fiabe von untergeordneter Bedeutung sind 9 , verzichten. Goldoni kann als der Höhepunkt einer Entwicklung verstanden werden, die mit der Arkadia einsetzt und Einfachheit und Natürlichkeit an die Stelle der barocken Überladenheit setzt. Nur daß für Goldoni nicht mehr die klassizistische Komödie, sondern die alltägliche Wirklichkeit den Maßstab des Natürlichen liefert. Goldonis Komödie, die der vielgestaltigen gesellschaftlichen Wirklichkeit der Zeit gerecht werden will, erklärt die „naturalistische", portraitmäßige Wirklichkeitstreue zu ihrem obersten Gesetz. Intrige, Charaktere, Sprache, schauspielerische Darstellung haben sich der so verstandenen Wahrscheinlichkeit zu unterwerfen: „essendo la commedia una imitazione della natura, si deve fare tutto quello que è verisimile" 1 0 . Der Stil der Komödie sei „familiare, naturale e facile, per non distaccarsi dal verisimile" 1 1 . Die Charaktere seien „veri e conosciuti" 1 2 , derart daß „ognun (trova) o in se stesso, o in qualchedun altro, l'originale" 1 3 . Orazio, Leiter der Schauspieltruppe, ermahnt seine Schauspieler: „guardatevi soprattutto dalla cantilena e dalla declamazione,
GOLDONI, Il Teatro Comico, a. a. O., S. 75 f. Vgl. hierzu ETTORE CACCIA, Carattere e caratteri nella commedia del Goldoni, Venezia 1959, in der Reihe Civiltà veneziana, Bd. VII. 9 Gozzi bemüht sich um zeitliche Raffung des Handlungsgeschehens auf den dramatischen Höhepunkt. Audi die Einheit des Ortes findet insofern Beachtung, als sich das Handlungsgeschehen gewöhnlich innerhalb einer Stadt und ihrer näheren Umgebung abspielt. In den frühen Fiabe scheint ihm selbst die Einheit der Handlung als N o r m vorgeschwebt zu haben. Die späteren Fiabe verwildern in der Häufung der Theatercoups gemessen an der relativen Einfachheit des Corvo und des Re cervo. 7 8
10 11 12 13
GOLDONI, Il Teatro Comico, a. a. O., S. 100. ebda., S. 73. ebda., S. 118. ebda., S. 70.
41
ma recitate naturalmente, come se parlaste" 14 . Audi die Gestik „deve essere naturale" 14 . In diesem Sinne kann De Sanctis in Goldoni den Galilei der italienischen Literatur sehen: „Come Galilei proscrisse dalla scienza le forze occulte, l'ipotetico, il congetturale, il soprannaturale; così egli volea proscrivere dall'arte il fantastico, il gigantesco, il declamatorio e il rettorico" 15 . Für Gozzi ist diese Art von Realismus gleichbedeutend mit einer hilflosen Abhängigkeit von der Wirklichkeit, und er versäumt es nicht, sich die entsprechende Burleske spöttisch auszumalen: Goldoni erscheint als Inbegriff trivialer Geschäftigkeit; er steht hinter Fenstern und Türen, um intime Gespräche zu belauschen; in Gaststätten sitzt er versteckt in einem Winkel und notiert Dialoge zwischen Wirt und Gästen. Nadi einer Unterhaltung von Gondolieri am Anliegeplatz hat er nichts Eiligeres zu tun, als eine Schreibgelegenheit zu suchen, um das Gespräch getreulich festzuhalten. Die Intrigen seiner bürgerlichen Komödien fußen auf „alcune cirostanze di certe famiglie conosciute de' nostri giorni" 16 . Der Begriff der „inventio" hat in der so verstandenen Naturnachahmung keinen Platz mehr, und Gozzi verspottet darum fortwährend den „impareggiabile inventore poeta" und „industre immaginatore" 17 . Die ganze Leistung Goldonis bestehe in der „immensa fatica manuale" 18 , die er aufbringen müsse, um mit seinem „divino toccalapis" 19 unzählige belauschte Dialoge festzuhalten. Nie hat Gozzi die „realistischen" venezianischen Landschaftsmaler seiner Zeit noch den Maler Pietro Longhi, der Goldoni durch seine venezianischen Interieurs so sehr verwandt ist, auch nur eines Wortes gewürdigt. Gozzi kann nur eine idealistische Naturnachahmung konzipieren. „II verisimile non stà nella prosa, più che nel verso - Goldoni hatte den Vers zugunsten einer größeren „Natürlichkeit" des Dialogs abgelehnt - ma nel senso, e nella direzion della materia" 20 . „So benissimo - so redet er Goldoni an - «he vai cantando essere poeta della natura, ma sappi che nelle tue ministre c'è solo la natura carnale, e materiale, e non la natura dello spirito elevato, e ammaestrato dalle scienze all' utile delle genti, e alle composizioni sane, regolate, e poetiche, e « h e . . . non hai altro fine, che quello dell' intrattenere" 21 . „Natura dello spirito elevato", und „natura carnale, materiale", idealistische und realistische Mimesis stehen einander unversöhnlich gegenüber. 14 15 14 17 18 19 20 21
ebda., S. 110. Storia della letteratura italiana, Bd. II, S. 896. Gozzi, Il Teatro Comico all'Osteria del Pellegrino, a. a. O., S. 178. ebda., S. 206. Memorie inutili, a. a. O., Bd. I, S. 214. II Teatro Comico all'Osteria del Pellegrino, a. a. O., S. 221. ebda., S. 240. ebda., S. 223.
42
Das dichterische Werk wird für Gozzi dann wahrscheinlich, wenn es die ideelle Ordnung der Welt spiegelt. Diese ideelle Ordnung ist keine andere als die gottgewollte feudalistische Gesellschaftsordnung. Naturnachahmung bedeutet in diesem Sinne, die Menschen sprechen und handeln lassen „secondo la loro condizione". Die Vertreter des Adels, des Bürgertums, des Stadt- und Landproletariats finden ihre innerste Natur, ihre „umanità", am reinsten ausgedrückt im Medium des „linguaggio litterale", d. h. der scharf gegeneinander abgesetzten vier Stilebenen des „elevato, colto famigliare, popolare e rustico" 22 . Der erhabene Stil bringt die edle „Natur" des Adligen zur Geltung, ebenso wie der niedere Stil in burleskkomischer Weise die gemeine „Natur" des Bauern herausstellt. Von zwei Fronten her untergräbt aber Goldoni mit seinen Komödien diese Ordnung: eine „realistische" Darstellung des verarmten, dekadenten und korrupten niederen Adels (Hochadel und Klerus spielen bei Goldoni keine Rolle) trübt das Bild des vollkommenen Feudalherrn, so wie es in der idealisierenden Stilisierung der klassizistischen Tradition verbindlich war. Gozzi empört sich angesichts der schockierenden Verstöße gegen das Dekorum, die den Adel in seiner geistig-moralischen Mittelmäßigkeit oder in Verbindung mit der Nichtigkeit des gemeinen Alltags zeigen ; und es erscheint ihm absolut unvertretbar, wenn Adelige, wie etwa in der Bona muger, sich zu den schlichten Tagesfragen des menschlichen Lebens äußern, „sopra al modo di fare pranzo, ed altre viltà e nefandità indegne di due nobili" 23 . Aber mit einer Degradierung des Adels gibt sich Goldoni nicht zufrieden. Erstmalig findet die verachtete Plebs der Gondolieri und Wäscherinnen mit Goldoni ein Bürgerrecht in der Komödie, das nicht mehr die übliche Stilisierung ins Lächerliche und Burleske in Kauf nimmt und stattdessen auf einer wohlwollenden „realistischen" Darstellung beruht. Dagegen fordert Gozzi die traditionelle Stilisierung der Bauern- und Dienergestalten ins Komische: „(Sostengo) non dover esser muta nelle opere de' scrittori l'umanità della cittadina lega del popolo; né 1' umanità villereccia; né dover que' generi di mortali favellare col linguaggio dell'oratore, dello storico, dell' epico, del colto cittadino" 24 . In dem Augenblick, wo die Personen einer Komödie nicht mehr im Sinne Gozzis „standesgemäß", sondern „natürlich" sprechen, nivellieren sich Sprache und Stil „all'unico suono d'una fessa grossa campana" 25 , und Adel und Volk rücken einander bedenklich nahe.
22
Chiacchiera di Carlo Gozzi intorno alla lingua litterale italiana, a. a. O.,
S. 17. 25
24
25
II Teatro Comico all'Osteria del Pellegrino, a. a. O., S. 208. Chiacchiera .. . intorno alla lingua litterale italiana, a. a. O., S. 17.
ebda., S. 18. 43
Goldoni ist in Gozzis Augen auf eine noch elementarere Weise subversiv: er bleibt nicht dabei stehen, das Prestige des Adels zu untergraben u n d die gemeinste, trivialste Alltagswirklichkeit des niedrigen Volkes b ü h n e n w ü r d i g zu finden, sondern er kehrt die traditionellen Rollen des Adels u n d des Volkes geradezu u m : „Nelle sue produzioni sceniche egli aveva frequentemente a d o r n a t i le truffe, le barerie e il ridicolo a ' suoi personaggi nobili, e le azioni eroiche, serie e generose a ' suoi personaggi della plebe" 2 6 . Mit solchem „pubblico mal esempio contrario all'ordine indispensabile della subordinazione" 2 6 trage Goldoni in gefährlicher Weise zur U n t e r g r a b u n g der bestehenden O r d n u n g bei. Wenn auch die Komödien Goldonis sowohl das erstarkende Selbstbewußtsein des Bürgertums gegenüber dem niederen Adel z u m Ausdruck bringen, als auch den vierten Stand erstmals als vollwertig anerkennen, so fehlt ihm f ü r unser heutiges Verständnis doch eine revolutionäre Ideologie, die den U m s t u r z der Gesellschaftsordnung durch das Bürgertum oder gar das „ V o l k " zielbewußt angesteuert hätte. „Se il Goldoni con la sua spiegata ragione e la sua abitudine sociale accetta quasi passivamente gli ordini costituiti così come si sono venuti configurando, né manifesta alcuna sollecitudine di mutarli secondo u n a n u o v a aspirazione, quale f u quella, poniamo, della rivoluzione francese, la sua poesia per la stessa attenzione artistica alla realtà degli umili p r e n d e moralmente la loro parte, rivela l'influsso, che il Goldoni non poteva non avvertire, di quel m o t o verso un p r i m o rinnovamento sociale europeo che doveva sboccare nella dichiarazione dei diritti dell'uomo. L'artista rispecchia le aspirazioni di u n m o n d o socialmente diverso da quello in ciu vive e che dalla sua ragione riflessa è accettato senza alcuna polemica e disagio" 2 7 . Gozzi h a t die revolutionäre Tragweite der Goldonischen Gesellschaftskritik zweifellos überschätzt. Goldoni, der sowohl aus den abstrakten archetypischen Figuren der Commedia dell'arte als auch den nicht weniger abstrakten „idealen" Gestalten des akademischen Theaters Menschen der v e r t r a u t e n Alltagswirklichkeit machte u n d sich nicht scheute, auch ihre Fehler u n d Schwächen mit nachsichtigem Wohlwollen zu gestalten, m u ß t e auch in moralischer H i n sicht die Entrüstung Gozzis hervorrufen, der jeden exemplarischen T u gendheroismus im Sinne seiner moralistischen Dichtungslehre v e r m i ß t e : „ D a questo ammasso di dialoghi (in der Bona muger) spicca un costume basso, sozzo, lascivo, iniquo, e di m a l esempio continuamente" 2 8 . Pasqua-
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Memorie inutili, a. a. O., Bd. I, S. 214.
27
FRANCESCO FLORA, „Il Feudatario" e gli ordini sociali nel teatro del Goldoni, in: Letterature moderne, Bd. VII, Bologna 1957, S. 662. Vgl. auch MANLIO DAZZI, Carlo Goldoni e la sua poetica sociale, o. O., Enaudi, 1957. 28
II Teatro Comico all'Osteria del Pellegrino, a. a. O., S. 215. 44
lino mißhandele seine Frau, lebe fortwährend in Schenken, Spielhäusern und Bordellen und ziehe schließlich sogar gegen seinen Vater den Degen. Vierzehn der sechzehn Personen des Stücks seien von einer „abominevole sozzura" 29 . Pantalone als rechtschaffener Bürger und Betta als vorbildliche Ehefrau reichen für Gozzi nicht aus, um durch ein positives Gegengewicht so viel Minderwertigkeit in ihrer fatalen Wirkung auf den Zuschauer zu entschärfen, zumal Betta keineswegs die beherrschende Zentralgestalt ist. Gozzi kommt zu dem vernichtenden Schluß: „questi due caratteri in confronto di quattordici sono di fianco, e per episodio (Hervorhebung von Gozzi) per dar risalto al vizio, ch'è il principalissimo di questa commedia" 30 . Aber selbst Betta, die aus der Sicht Goldonis vorbildliche Ehefrau, widerstrebt Gozzis ethischen Vorstellungen. Auch sie bleibt mit ihrem Denken und Handeln zu sehr im Bereich der Sinnlichkeit verwurzelt, sie ist Gozzi allzu natürlich und menschlich: „Era costei una buona moglie per essere ciecamente innamorata del marito, ed essergli piaciuti oltremodo gli abbracciamenti di quello. La bontà di questa moglie stava nel sofferire e nel nascondere le dissolutezze del marito, non però a tutte l'ore, e a chi più doveva, ma se egli fosse andato ogni notte a letto con essa, delle altre cose non si sarebbe molto curata" 31 . Etwas anderes als dieses zynische Portrait der angeblichen „bona muger" war von Gozzi schlechterdings nicht zu erwarten. Die Idealisierung einer so naiven, von allem ethischen Pathos unberührten Eheliebsten mußte als radikal verfehlt erscheinen im Denken eines reaktionären Phantasten, der wie Gozzi seine politischen und seine literarischen Wunschträume mit der Starrheit eines feudalistisch-klassizistischen Marionettentheaters zu artikulieren liebte. Eine Bestätigung für den geist- und moralfeindlichen sinnesfrohen Materialismus Goldonis sah Gozzi in der Tatsache, daß Goldoni sich in ein materielles Abhängigkeitsverhältnis von seinen Stücken begeben hatte, die nicht mehr der Schönheit, der Kunst, der Moral, sondern dem Geld dienten, das um so reicher in seine Taschen fließe, je mehr sie dem gemeinen „piacere" huldigten. Gozzi hat dem kulturhistorischen Novum des von seiner Tätigkeit lebenden Schriftstellers immer ablehnend gegenübergestanden; und trotz seiner relativen Armut hat er seine Werke Schauspielern oder Verlagen immer unentgeltlich überlassen32. N
ebda., S. 216. ° ebda., S. 217. 51 ebda., S. 205. 52 Weitere Aspekte des Antagonismus Goldoni-Gozzi kommen in den folgenden Kapiteln zur Sprache. - Reichhaltig ist die Literatur zu dieser Frage: Neben den Gozzi-Monographien von Magrini, Masi und Borghesani siehe FRANCESCO RIVELLI, Carlo Gozzi contro Carlo Goldoni nella „Marfisa bizzarra', Lanciano, s
45
Carabba, 1907; A N T O N I O Z A R D O , Teatro veneziano del Settecento, Bologna, Zanichelli, 1925 (Darin das Kapitel „I due Gozzi e il Goldoni"), FRANCESCO TOMASI, Appunti sul teatro italiano e francese nel Seicento e nel Settecento, Firenze, Vallecchi, 1926 (Darin das Kapitel: „L'ultimo duello per la commedia dell'arte: Carlo Goldoni e Carlo Gozzi", S. 35-43); MASSIMO D U R S I , I due Carli riconciliati (Goldoni-Gozzi), in: Il Resto del Carlino, 26/IX/1948; CARLO B E R N A R I , Riconciliazione mancata tra Carlo Gozzi e Goldoni, in: Vie nuove, 12/X/1952; D I E G O V A L E R I , Goldoni e Carlo Gozzi, in: Ateneo veneto, Jg. XCLVIII, Bd. 141, Nr. 1 (Fascicolo dedicato a Carlo Goldoni nel 250° anniversario della nascita), Januar-Juni 1957; P I E R O Z A N O T T O , Il nemico di Goldoni, in: Il Corriere di Trieste, 10/VII/1957; G R E T C H E N M A R T I N , Goldoni's antagonist: Carlo Gozzi venetian fantasist, in: Italian Quarterly, Los Angeles, I (1957), Nr. 3, S. 30-39. Die hier genannten Untersuchungen befassen sich fast ausschließlich mit dem äußeren Verlauf des Theaterstreites zwisdien Gozzi und Goldoni.
46
II.
DIE GATTUNG 1. D i e
Fiabe
und
FABIA
die Commedia
dell'arte
Gozzi hat insgesamt zehn Fiabe geschrieben, die in der Zeit von Januar 1761 bis November 1765 entstanden sind: L'amore delle tre melarance, Il corvo, Il re cervo, Turandot, La donna serpente, La Zobeide, I pitocchi fortunati, Il mostro turchino, L'augellin belverde, Zeim re dei geni. Abgesehen von L'amore delle tre melarance (s. u. S. 64 ff.) knüpfen die Fiabe formal am Nebeneinander von Pathos und Komik in der barocken „Tragikomödie" an: das „tragische" Handlungsgeschehen wird von fürstlichen Märchenhelden getragen, die sich einer gehobenen Verssprache bedienen; den burlesken Kontrapunkt übernehmen die Masken der Commedia dell' arte, deren dialektale Prosa den Schauspielern weitgehend zur Improvisation überlassen bleibt. - Die Handlung spielt in phantastischen Ländern eines klischeehaften Orients: in Frattombrosa, Serendippo, Baisora etc. Die Fiabe haben eine moralisch-erzieherische Aufgabe und enden heiterversöhnlich. Im Vorwort zu Zeim re dei geni, seiner letzten Fiaba, gibt Gozzi eine „Theorie" der Gattung. Allem voran fordert er „uno scopo ed un fondo morale", womit er das ideologische Engagement seiner Fiabe betont; weiter verlangt er „circostanze forti", also eine effektsidiere Intrige, die Raum geben muß für eine „robusta passione", für hochpathetische Situationen, die die Gemüter zur Anteilnahme mitreißen. Die Künste des Bühnenbildners und des Maschinisten sollen diesen Forderungen als „accessori di adornamento" untergeordnet bleiben1. Was nun die Frage nach dem Verhältnis von Commedia dell'arte und Fiaba angeht, so kommt Emilio del Cerro in seiner grundlegenden Untersuchung Nel regno delle maschere: Dalla Commedia dell'arte a Carlo Goldoni zu folgendem Ergebnis: „se nella struttura [la fiaba] è una commedia dell'arte . . . nel suo contenuto si discosta in modo assoluto dalla vecchia tradizione i t a l i a n a . . . Si t r a t t a . . . d'un genere teatrale che quasi nulla aveva di commune col vecchio spettacolo. La fantasia più sfrenata, sorella di quella dell'Ariosto, vi r e g n a v a . . . Il contenuto non l'avrebbero riconosciuto per proprio nè i Flamini Scala, nè i Biancolelli... Si viveva, nel teatro fiabesco del Gozzi, non in quella certa vita comica
1
Opere (Colombani), Bd. III, S. 130. 47
come era stata foggiata dalla tradizione, ma come in un sogno, come in un mondo fantastico" 2 . Das Wunderbare als Kriterium der Unterscheidung von Fiaba und Commedia dell'arte veranlaßt Del Cerro, die Vorläufer der Fiabe in den Féeries der Théâtres de la Foire zu sehen. Gozzi würde jede Originalität verlieren, „se accanto al teatro in cui si recitavano (le Fiabe), in un altro teatro . . . si fossero recitate le commedie del Lesage, del Piron e d'altri scrittori del Théâtre de la Foire" 3 . Die Frage sowohl nach dem Verhältnis der Fiaba zur Commedia dell'arte als auch zum Théâtre de la Foire muß neu gestellt werden. Zu der Verkennung der zahlreichen Fäden, die die Fiaba mit der Tradition der Commedia dell'arte verbinden, konnte es kommen, weil die Forschung sich im wesentlichen auf die Commedia dell'arte im engeren Sinne, den „Konzentrationstypus" (Hinck), beschränkt hat und zahlreichen Erweiterungen des Spielrahmens wenig Beachtung geschenkt hat. Das Stammpersonal der Commedia dell'arte: die jungen Verliebten (Innamorati), die Väter Pantalone und Dottor Graziano, der Rivale Capitano Spaventa und die Dienerfiguren Arlecchino, Brighella, Colombina, stellen das stereotype, hundertfachen Variationen zugrunde liegende Handlungsschema: die Verbindung des jungen Liebespaares wird durch die Verfügungen der „Alten" in ihrer Eigenschaft als Väter oder Rivalen erschwert; mit Hilfe der Dienerintrigen kommen die Liebenden schließlich doch zum Ziel. Der Schauplatz ist wirklichkeitsgebunden und zeigt gewöhnlich einen Platz mit mehreren Häuserfronten. Neben den Konzentrationstyp tritt als Seitensproß das „phantastische" Stegreifspiel, das sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen läßt und im 17. Jahrhundert eine besondere Vorliebe genießt 4 . Der Typus unterscheidet sich von der Commedia dell'arte im engeren Sinne durch die Einbeziehung des Magisch-Wunderbaren. Neben das Stammpersonal treten als wichtigste Erweiterung der Magier und in seinem Gefolge Geister, Dämonen, mythologische und allegorische Gestalten. Die Verbindung der Liebenden wird jetzt durch übernatürliche Mächte, die in Form von Verwandlungen, Erscheinungen, Verzauberungen eingreifen, noch weiter erschwert. Ein beträchtlicher Aufwand an Dekorationskunst führt den Zuschauer in exotische oder phantastische Länder 5 . Zur phantastischen Ausweitung der Commedia dell'arte konnte es in dem Augenblick kommen, als Masken und Handlungsgeschehen im Zuge der
Napoli, Perella, S. 364 f. » ebda., S. 376. 4 Vgl. FERNANDO N E R I , Einleitung zu Scenari delle maschere in Arcadia, Città di Castello 1913, S. 1-41. s Vgl. W A L T E R H I N C K , Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie, a. a. O., S. 18 ff. 1
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Institutionalisierung jeden konkreten satirischen Bezug auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zugunsten einer Stilisierung ins Archetypische verloren hatten. Die ins Zeitlos-Allgemeingültige zurückgenommenen Masken konnten nicht nur leicht die nationalen Grenzen überschreiten und jenseits der Alpen Aufnahme finden, sondern sich ebenso leicht Zugang zu den fantastisch-exotischen Ländern literarischer Gattungsschemata wie dem Schäferroman, dem byzantinischen Abenteuerroman oder der spanischen Comedia de capa y espada6 verschaffen. Audi der Verzicht auf einen kausallogischen Geschehensablauf zugunsten des reinen Spiels, „in dem die noch erkennbaren Elemente der Realität gewichtslos geworden sind" (Hinck), erleichterte die Einbeziehung der fantastisch-übernatürlichen Welt, die als gleichberechtigter Spielfaktor neben die schwerelos gewordene Wirklichkeit trat. Für die Reform Goldonis war das phantastische Stegreifspiel unbrauchbar: „Più di tutto mi accertai, che, sopra del meraviglioso, la vince nel cuor dell'uomo il semplice e il naturale" 7 . Dagegen betont Gozzi „la gran forza, che ha il mirabile sull'umanità" 8 ; er schätzt gerade das phantastische Stegreifspiel, das ihm die ideale Form des Volksschauspiels zu verkörpern scheint: „Nel secolo trascorso del Secento, secolo di corruzione nelle belle lettere in Italia . . . la commedia improvvisa, seguendo l'indole strana del gusto di quel secolo, aggiungendo stravaganze e stravaganze, divenne uno spettacolo popolare formidabile" 9 . Die Neigung des 17. Jahrhunderts zum Extravaganten und Wunderbaren, die in Italien den Verfall der Literaturkomödie bedeutet habe, sei der Commedia dell'arte, die sich um die klassizistischen Normen der Einfachheit und Wahrscheinlichkeit nicht zu kümmern brauche, gerade entgegengekommen. Die Fiabe knüpfen ganz bewußt an dieser Tradition des phantastischen Stegreifspiels an. Das soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Für das pastorale Stegreifspiel als einer besonderen Variante innerhalb des phantastischen Stegreifspiels hat Fernando Neri ein festes Schema aufzeigen können : Der Typus sieht vor, daß der Kaufmann Pantalone und in seinem Gefolge auch die übrigen Masken in Seenot geraten und an die Küsten Arkadiens verschlagen werden, wo sie mit der höheren Welt der Schäfer, deren Sinnen und Trachten nur um Liebe und Ehre kreist, konfrontiert werden. Über allem thront der Magier, der den Liebenden Prüfungen auferlegt, mit den Masken seinen Scherz treibt und das Spiel zu einem guten Ende
6 Eines der beliebtesten Szenarien des 17. und 18. Jhdts., das Gozzi mehrmals als Beispiel für die Beliebtheit des phantastischen Stegreifspiels zitiert, ist Ii
convitato di pietra als Adaptation von Tirso de Molinas Burlador de Sevilla. 7
Vorwort zum 1. Band der Paperini-Ausgabe, Venezia 1753.
Vamore delle tre melarance, in: Opere (Rizzoli), S. 71. * Ragionamento ingenuo, ebda., S. 1044 f.
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führt. Neri nimmt an, daß Shakespeare Szenarien dieses Typs als Quelle für den Sturm gedient haben. Der Prototyp dieses „tragikomischen" pastoralen Stegreifspiels ist das sehr alte Szenarium L'Arcadia incantata10, dessen Aufführung noch für das Jahr 1783 belegt ist11. Gozzi kannte diese Spieltradition: die Eingangsszene des Corvo, in der Pantalone als Admiral das Schiff des Prinzen Jennaro aus Seenot rettet, läßt nicht etwa auf Kenntnis von Shakespeares Sturm schließen, wie es manchmal vorgeschlagen wurde, sondern verweist in die Tradition des arkadischen Stegreifspiels. Auch die beherrschende Gestalt des Magiers in einigen Fiabe läßt sich aus dieser Tradition erklären. In der Alvida12 wird der König von Ägypten in einen Wald verschlagen, wo ihm der Magier entgegentritt als „antico ministro della religione, die prevedendo molti strani avvenimenti nella sua corte, si diede alle selve per rimediar a tutti i disordini, e dove apprese l'arte magica ancora, solo per giovare, e non per nuocere altrui". Ähnlich bereitet sich der Magier Durandarte im Re cervo auf einen Einsatz seiner magischen Künste zum Schutz König Deramos vor: „Col mio mezzo - offenbart er in der Exposition durch den Mund des Bänkelsängers Cigolotti - doverà essere punito un tradimento . . . al Re di Serendippo" 13 . Zu den üblichen Verhaltensmustern der Magier gehörte es, daß sie am Schluß des Stückes ihrer Kunst entsagten, so z. B. Arimaspo im Szenarium Rosalba incantatrice14. Ähnlich versichert auch Durandarte am Schluß des Re cervo, „che oggi i segreti magici hanno fine; di'io più mago non son" 15 . In der Fiaba Zeim re dei geni wird der Magier sogar zur Titelfigur, wofür es in der Tradition des phantastischen Stegreifspiels Vorbilder gab16. Im Vorwort zum Corvo setzt allerdings Gozzi den „aspetto nobile" seines Magiers Norando von den „altri goffi Maghi delle consuete Commedie dell'arte" 17 ab. In den pastoralen Stegreifspielen erscheint der Magier als eine unproblematische, über den Torheiten der Masken und Liebesleiden der Schäfer schwebende Gestalt, die sich zur Verwirrung des Geschehens die tollsten Späße erlauben kann. In der Arcadia incantata18
10
abgedruckt i n : NERI, S. 8 7 ff.
11
V g l . NERI, S. 2 7 f .
12
FLAMINIO SCALA, Il teatro delle favole rappresentative, ovvero la ricreazione comica, boscareccia e tragica, divisa in cinquanta giornate, Venezia, Pulciani, 1611, giornata X L I I I . 13 14 15 16 17 18
Opere (Rizzoli), S. 172. SCALA, giornata XLIV; vgl. Prospero im Sturm. Opere (Rizzoli), S. 236. Vgl. Il gran Mago, commedia pastorale, abgedruckt bei NERI, S. 51-68. Opere (Colombani), Bd. I, S. 120 f. abgedruckt bei NERI, S. 87 f i .
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setzt sich Policinella einen Girlandenkranz des Magiers aufs H a u p t und erscheint so den unglücklich liebenden Schäfern und Schäferinnen, aber auch Pantalone und Tartaglia, jeweils in der Gestalt der geliebten Person, was zu burlesken Mißverständnissen führt. Oder der Magier macht im gleichen Szenarium Policinella zum König Arkadiens mit Krone, Zepter und Zauberbuch, stellt ihm einen dienstbaren Geist zur Verfügung und gibt so Gelegenheit zu ausgelassenem Maskentreiben. Erst als Policinella den Dottore, Tartaglia und Coviello hängen lassen will, interveniert der Magier und macht dem Spaß ein Ende. Gozzi erhebt seinen Magier in den Rang des Weisen, der den Mechanismus dieser Welt durchschaut und seine Schützlinge durch scheinbar unmenschliche Prüfungen in Wirklichkeit zum einzig möglichen Glück führt. . . . Io tento l'unico mezzo d'una sferza acerba per destar la virtù, di'è il perno vero della felicità, perchè dal cielo premio suole ottener; . . ,19
Der Magier ist jeweils die Schlüsselfigur der Fiabe und knüpft, wenngleich nicht selbst in das Geschehen verwickelt, als Wissender doch alle Fäden der Handlung 2 0 . Aber nicht nur das Wunderbare verbindet die Fiabe mit dem phantastischen T y p des traditionellen Stegreifspiels, sondern auch die „tragikomische" Konzeption. Schon der früheste Drude einer Sammlung von Szenarien, Flamino Scalas II teatro delle favole rappresentative, ovvero la ricreazione comica, boscareccia e tragica, divisa in cinquanta giornate (1611) zeigt, d a ß sich nicht alle Szenarien unter den Begriff des Komischen subsumieren lassen, wenngleich der „ricreazione comica" mit insgesamt 19
Zeim re dei geni, in: Opere (Rizzoli), S. 796. Eine Anregung zur Sublimierung des Magiers könnte Gozzi von C O R N E I L L E erhalten haben, dessen Illusion comique er sicherlich kannte. Dorante stellt den Magier Aleandre mit folgenden Worten vor: Je ne vous dirai point qu'il commande au tonnere, qu'il fait enfler les mers, qu'il fait trembler la terre: que de l'air, qu'il mutine en mille tourbillons, contre ses ennemis il fait des bataillons; que de ses mots savants les forces inconnues transportent les rochers, font descendre les nues, et briller dans la nuit l'éclat de deux soleils; Vous n'avez pas besoin de miracles pareils: Il suffira pour vous qu'il lit dans les pensées, qu'il connoit l'avenir et les choses passées; rien n'est secret pour lui dans tout cet univers, et pour lui nos destins sont des livres ouverts. P I E R R E C O R N E I L L E , Oeuvres, Bd. II, Paris, Hachette, 1 8 6 2 , Les grands écrivains de la France, S. 437. 20
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vierzig Stücken des Konzentrationstyps eindeutig das Hauptgewicht zufällt. Das Szenarium La forsennata principessa (Scala) mag als Beispiel dafür gelten, daß auch den Comici dell'arte die „Tragödie", so wie sie von den englischen Komödianten des 16. und 17. Jahrhunderts gepflegt wurde 21 , nicht unbekannt war. Ein maurischer Prinz flieht mit einer portugiesischen Prinzessin an den H o f des Königs von Fez, der in Leidenschaft zur Prinzessin entbrennt. Der Prinz seinerseits begehrt die Tochter des Königs, die sich ihm jedoch zugunsten ihres Pagen versagt. Im Verlaufe der Handlung wird die portugiesische Prinzessin wahnsinnig und stürzt sich von einem Felsen. Der Sohn des Königs tötet den maurischen Prinzen, dessen abgeschlagenen blutenden Kopf er seiner Schwester präsentiert. Als er ihr ebenfalls das blutende Herz des Pagen überreicht, läßt sie es in einen Giftbecher fallen und trinkt das mit Gift durchsetzte Blut. Auch der König von Fez nimmt sich das Leben; und um das Bild des Schreckens vollständig zu machen, muß selbst der Vater des maurischen Prinzen sterben. Zu „tragikomischen" Stegreifspielen kommt es aufgrund der besonderen Bedeutung, die den „Innamorati" im 17. Jahrhundert zufällt. Im Konzentrationstyp des 16. Jahrhunderts wirkten sie „blaß und ein wenig fehl am Platz" 2 2 inmitten des turbulenten Treibens der Masken. Sie stellten nur das Handlungsgerüst, den Rahmen, in dem die Masken ihr ausgelassenes Spiel erst voll entfalten konnten. Der stark antithetische Charakter der barocken Dichtung führte zu einer Aufwertung der „Innamorati", die jetzt als Schäfer oder Prinzen durch ihr edles Denken und Fühlen, den Zauber ihrer Liebe, den heroischen Kampf um ihr Glück, ein echtes Gegengewicht zum burlesken Spiel der Masken bieten. Eine erhabene und eine niedere Welt bilden ein kontrastreiches Neben- und Gegeneinander, das auch stilistisch zum Ausdruck kommt: die „Innamorati" bewegen sich nur in der preziösen, rhetorisch-prunkvollen, modischen Literatursprache voller „concetti". In Kompendien, den sogenannten „zibaldoni", standen ihnen brillante Monologe und Dialoge für alle Situationen zur Verfügung. Die Heroisierung der „Innamorati" wird von entscheidender Bedeutung für den Geist der Commedia dell'arte des 17. Jahrhunderts. Während der Konzentrationstyp moralisch indifferent ist und das Handlungsgeschehen ohne ideellen Bezug bleibt, repräsentieren die „Innamorati" im phantastischen Stegreifspiel des 17. Jahrhunderts eine exemplarische Welt, die sich in ihrer stilisierten Idealität scharf abhebt von der ebenso stilisierten
21 Vgl. RICHARD ALEWYN, Schauspieler und Stegreifbühne des Barode, in: Mimus und Logos, Festschrift für Carl Niessen, Emsdetten 1952, S. 5 f. 2 2 WALTER HINCK, Das deutsche Lustspiel des 17. und IS. Jahrhunderts und die italienische Komödie, a. a. O., S. 7.
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„animalischen" Natur der Masken. Gozzi war sich dieses Unterschiedes bewußt: „L'antica commedia improvvisa dell'arte . . . non è certamente che o uno spettacolo di mirabile grossolano e popolare, condotto colla oppressione del vizio e l'esaltazione della virtù, o una parodia caricata sul costume . . , 23 . Das „spettacolo di mirabile", in dem die poetische Gerechtigkeit Triumphe feiert, ohne den Rahmen eines Volksschauspiels zu sprengen, setzt er über die bloße „parodia caricata" des Konzentrationstyps. Goldonis Reform bedeutete den Untergang der „Innamorati". Zwar konnte er ihre Interpreten, die an eine gehobene literarische Sprache und an fixierte Texte gewöhnt waren, am leichtesten zur Übernahme einer ausgeschriebenen Rolle bewegen, was aber nicht darüber hinweg täuschen darf, daß die „Innamorati" an der Verpflanzung aus ihrer abstrakten, idealen, stilisierten Wirklichkeitsferne in den bürgerlichen Alltag zugrunde gehen mußten. Schon Molière hatte weniger auf die „Innamorati" als auf die komische Kraft der Commedia dell'arte zurückgegriffen, und Goldoni folgt ihm in diesem Punkt: Nicht mehr die Prinzession des phantastischen Stegreifspiels, sondern die in Mirandolina verwandelte Colombina {La Locandiera) rückt er in den Mittelpunkt der Komödie 24 . Im Kampf Goldonis gegen die exemplarische Idealität der „Innamorati" und in der Abwanderung ihrer Interpreten aus den Truppen der Comici dell'arte sieht Gozzi einen der Hauptgründe für die Krise des Stegreifspiels: „Ciò è causa che tutto lo sforzo d'un tale spettacolo rimane sulle spalle di tre o quattro maschere facete e amate dal pubblico, ma che sole non possono tessere una commedia che impegni l'animo degli uditori" 25 . Eine Wiederbelebung des Stegreifspiels läuft darauf hinaus, den „Innamorati" ihre alte Bedeutung zurückzugeben. Diese Aufgabe stellen sich die Fiabe. Goldonis Kampf gegen die „Innamorati" ist nicht zuletzt ein Kampf gegen ihre vom Marinismus geprägte rhetorisch-prunkvolle Sprache. Die Primadonna der Schauspieltruppe des Teatro comico erklärt voller Stolz, daß sie ihre „zibaldoni" verbrannt habe, „e così hanno fatto tutte quelle recitanti che sono dal moderno gusto illuminate" 26 . Auch Gozzi hat sich vom barocken Sprachschwulst distanziert, nicht aber von der Tradition, 23
Ragionamento ingenuo, in: Opere (Rizzoli), S. 1050. „Egli scelse tipi comuni, non amò le figure d'eccezione: rappresentò il mondo intorno a sè, quello die gli era familiare(. ..) : gli parve pericoloso uscire di là, e quando chiese alla storia o all'Oriente la sua materia, cadde in malo modo nella stravaganza e nella falsità. Il suo sogno gli era vicino: l'arte è davanti a lui" (GIUSEPPE ORTOLANI, Della vita e dell'arte di Carlo Goldoni, Venezia, Istituto Veneto di Arti Grafiche, 1907, S. 127. 25 Appendice, in: Opere (Rizzoli), S. 1131. " Carlo Goldoni, Il Teatro Comico, a. a. O., S. 73. 24
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die die „Innamorati" zu einem gehobenen literarischen Sprachstil verpflichtete. Gozzis Schritt zur Literarisierung der Commedia dell'arte besteht darin, daß er mit der literarisch anspruchsvollen Sprache der „Innamorati" ernst machte. Die „zibaldoni" waren unbrauchbar geworden. Also nimmt Gozzi den Interpreten heroischer Rollen ihre durch die „zibaldoni" schon auf die bloße Auswahl fertiger literarischer Texte eingeschränkte Improvisationsfreiheit und schreibt diese Rollen ganz aus. Den Masken bleibt ihre Freiheit im Prinzip erhalten, jedoch mit der Einschränkung, daß für die höheren Masken (Pantalone und Tartaglia) ausgeschriebene Rollen in dialektaler Prosa vorherrschen, die Improvisation aber nicht ausgeschlossen ist27. Guido Perale macht die ausgeschriebenen Rollen der heroischen Figuren und die eingeschränkte Improvisationsfreiheit der höheren Masken zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen über das Nachleben der Commedia dell'arte in den Fiabe. Perale glaubt, selbst hinter den niederen, improvisierenden Masken Truffaldin und Brighella nur zu deutlich die lenkende Hand Gozzis zu sehen. Er kommt zu dem Schluß, daß den Reformator der Commedia dell'arte eines am Stegreifspiel zu stören scheine: die Improvisation: „L'opera che egli aveva pensato doveva uscire alla luce della ribalta tale quale egli l'aveva veduta nella propria mente, identica di contenuto e di forma, aiutata da quel tanto di cooperazione artistica die ogni attore reca nell'interpretazione di un lavoro drammatico. La commedia dell'arte era l'ultimo genere teatrale al quale potessero adattarsi l'ingegno e il carattere del Gozzi" 28 . Gegen die These Perales läßt sich anführen, daß Gozzi selbst immer wieder betont hat, mit der Aushändigung seiner „scenici abbozzi" 29 an die Truppe des Stegreifspielers Antonio Sacchi trete er jeden Anspruch auf ihr weiteres Schicksal ab. In den Händen der genialen Stegreifspieler dürfte der Text Gozzis viele Modifikationen erfahren haben, ohne daß die sachgerechte Interpretation ernstlich darunter gelitten hätte. Denn die literarische Fixierung des Dialogs der „Innamorati" zielte - im Unterschied zur Reform Goldonis - nicht darauf, den archetypischen Charakter dieser Figuren zugunsten einer feineren Individualisierung zu sprengen. Ein Blick auf die Frauengestalten, die gewöhnlich lebendiger sind als ihre männlichen Partner, zeigt, daß Gozzi die beiden charakteristischen Typen der „Innamorata", die Naive und die Kokette, beibehalten hat. Angela 27
2. B. La donna serpente, II, 2. a. a. O., S. 548. 29 Vgl. G. O r t o l a n i : „11 G o z z i . . . non ci lasciò delle opere compiute, bensì degli abbozzi teatrali, delle creazioni mal rivestite, insomma degli scenarii originali, e, se volete, talvolta geniali, composte bizzarramente di elementi cari al popolo" (Carlo Gozzi in: La riforma del teatro nel Settecento..., a. a. O., S. 275). 28
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und Zemrude (/ pitocchi fortunati), Sarchè und Zelica (Zeim re dei geni), Dardanè und Gulindì (Il mostro turchino) heben sich in diesem Sinne ohne weitere Individualisierung kontrastierend voneinander ab. Zobeide und Angela (Il re cervo) gehören zum Typus der Naiven. Nur Turandot bildet eine Ausnahme. Sie wird jedenfalls ansatzweise „vermenschlicht", und nicht zufällig hat Schiller gerade diese Fiaba bearbeitet. Eine so stretige Bindung an den der Text, wie sie Goldoni, der im Medium der Sprache die individuelle Mannigfaltigkeit einer konkreten, vielgesichtigen Gesellschaft gestalten will, von den Interpreten seiner Stücke verlangen mußte, war für die Interpretation der Fiabe nicht vonnöten. Audi Giuseppe Petronio sieht in der teilweisen literarischen Fixierung der Fiabe einen Bruch mit der Tradition des Stegreifspiels. Für Petronio wurde dieser Bruch notwendig aufgrund der polemischen Ausrichtung der Fiabe: Gozzi habe sich gezwungen gesehen, „a uscire dallo schema della commedia dell'arte per una commedia in massima parte scritta e che rifletta le sue vedute e le sue tesi" 30 . Aber zur Stützung seiner These führt Petronio neben der Aufklärungssatire des Augellin belverde gerade die Fiaba an, die am wenigsten literarisiert erscheint: L'amore delle tre melarance. Hinzu kommt, daß in den übrigen Fiabe die satirischen Spitzen nur pikante Einlagen sind, die die Stegreifspieler nach Belieben aufgreifen oder auch fortlassen können, ohne daß damit den Fiabe Schaden zugefügt würde. Es soll hier nicht bestritten werden, daß auch Gozzi entscheidend mit zum Untergang der Commedia dell'arte beigetragen hat, nur dürfte der tiefere Grund nicht in der Literarisierung der Rollen der „Innamorati" zu suchen sein, da Gozzis Ansatz zur Literarisierung der Commedia dell'arte der Tradition des phantastischen Stegreifspiels durchaus entgegenkam.
2. D i e
Fiabe
und
ihre
Märchenquellen
Die Quellen für Gozzis Fiabe sind uns mit wenigen Ausnahmen (La Zobeide) und Teile des Zeim re dei geni) bekannt. Es Handelt sich in allen Fällen um literarische Quellen1. Giuseppe Petronio nimmt an, daß
a. a. O., S. 37. GIAMBATTISTA BASILE ( 1 5 7 5 - 1 6 3 2 ) , Lo cunto de li curiti ovvero lo trattenemiento de' peccerille, posthum, Neapel 1636; Les mille et une nuit, contes arabes, übersetzt von ANTOINE GALLAND ( 1 6 4 6 - 1 7 1 5 ) , Paris, 12 Bde., 1 7 0 4 - 1 7 1 7 ; Les mille et un jour, contes persans, übersetzt von FRANÇOIS PETIS DE LA CROIX ( 1 6 5 3 - 1 7 1 3 ) , Paris, 5 Bde., 1 7 1 0 - 1 7 1 2 ) ; GUEULETTE, Les mille et un quartd'heure, Paris 1715; CRISTOFORO ARMENO, Peregrinaggio di tre giovani, figliuoli del Re di Serendippo, dalla persiana nell'italiana lingua trapportato, ältester Drudi 1557, Neudruck Venezia, Tramezzino, 1584. Damit wären die Samm30 1
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Gozzi in seiner dritten Fiaba, II re cervo, die bisherige Quelle des Cunto de Ii cunti (Basile) aufgegeben habe, „per attingere dal repertorio orale delle favole infantili" 2 . In Wirklichkeit fußt der erste Akt des Re cervo auf einer Erzählung Cristoforo Armenos 3 und die beiden übrigen Akte auf einem Märchen aus Les mille et un jour4. Daß Gozzi auch zur mündlichen Märchenüberlieferung gegriffen hat, ist auszuschließen. Die echte Bewunderung für das Volksmärchen, die Basile und Perrault zu einer literarischen Fixierung im jeweils herrschenden Zeitgeschmack hatte bewegen können, vermag Gozzi den „inezie puerili" nicht entgegenzubringen. Der Weg Basiles und Perraults bleibt ihm versperrt. Daß Gozzi selbst zum literarisierten Volksmärchen Basiles kein rechtes Verhältnis gewinnen kann, wird sichtbar, wenn er auf den Cunto de Ii cunti zurückgreift, um das Märchen im Dienste einer literarisch-ideologischen Satire der Lächerlichkeit preiszugeben (L'amore delle tre melarence und L'augellin belverde). Schon in der zweiten Fiaba, die das Modell der Gattung liefern sollte und sich noch auf Basile stützt 5 , zeichnet sich die Wende vom Kindermärchen zur phantastischen orientalischen Liebeserzählung ab. In den Mittelpunkt des Handlungsgeschehens rückt die exemplarische Bruder- und Gattenliebe. Die schon in der Fassung Basiles stark hervortretenden orientalischen Züge (Handlungsort Kairo oder das imaginäre Frattombrosa) werden von Gozzi intensiviert: die weibliche Heldin der Erzählung mit dem italienischen Namen Luciella wird zur Prinzessin Armilla aus Damaskus. Vom Corvo zu den Märchen aus Tausend und eine Nacht war es nur noch ein kleiner Sprung. Mit Ausnahme von L'augellin belverde sollte Gozzi alle seine auf den Corvo folgenden Fiabe orientalischen Märchen entnehmen. Dieser Griff zum orientalischen Märchen mag wenig originell erscheinen, wenn man sich den Erfolg vor Augen hält, den die Übersetzungen aus Tausend und eine Nacht (1704-1717) und Tausend und ein Tag (1710— 1712) in Frankreich und den meisten übrigen Ländern Europas verbuchen konnten. Sie verdunkelten den Ruhm Perraults, dessen Märchen wieder lungen genannt, denen Gozzi vollständige Märchen entnommen hat. Darüber hinaus hat er die gesamte italienische Novellistik, aber auch Ariost, Pulci und Boiardo für Entlehnungen von Einzelmotiven benutzt. 2 Einleitung zu II re cervo, in: Opere (Rizzoli), S. 168. 3 Peregrinaggio di tre giovani, figliuoli del Re di Serendippo, 5. Novelle des III. Teils, Ausgabe H. Gassner, in: Erlanger Beiträge zur Englischen Philologie, Nr. 10, 1891, S. 76-85. 4 Histoire du Prince Fadlallah fils de Bin-Ortoc Roy de Mouzel, Paris, 1711, Bd. II, S. 149-183. 5 GIAMBATTISTA BASILE, Il Pentamerone ossia la fiaba delle fiabe, tradotta dell'antico dialetto napoletano e corredata di note storiche da Benedetto Croce, Bari, Laterza, 1925, 2 Bde., Giornata IV, trattenimonto IX.
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an die Kinder zurückfielen. Eine Flut von orientalischen und pseudoorientalischen Erzählungen überschwemmte Frankreich, und selbst Montesquieu (Lettres persanes) und Voltaire {La Princesse de Babylone) gerieten in den Bann der exotischen und phantastischen Literatur 6 . Italien bleibt weitgehend unberührt von dieser Welle der exotischen Literatur; nur Venedig macht eine Ausnahme 7 : Gaspare Gozzi veröffentlicht orientalische Novellen 8 , und Goldoni geht den Fiabe voran mit seinen orienatlischen „Tragikomödien" La sposa persiana (1753), Ircana in Julfa (1755), Ircana in Ispaan (1756) u. a.9. In Rivalität mit Goldoni schreibt Chiari La schiava Chinese u. a. - Aber die orientalischen Novellen Gaspare Gozzis sind nur Übersetzungen aus dem Französischen; Carlo Goldonis orientalische „Tragikomödien" gehören zu den schwächsten Stücken seines umfangreichen dramatischen Werkes, und so bleibt Carlo Gozzi der einzige Autor Italiens, in dessen Fiabe die Neigung des 18. Jahrhunderts zum Phantastischen und Exotischen einen originellen Ausdrude findet. Bei der Auswahl seiner Quellen beweist Gozzi fast immer einen sicheren Griff. Den echten Märchen aus Tausend und eine Nacht und Tausend und ein Tag gibt er gewöhnlich den Vorzug vor den verflachten pseudoorientalischen Nachahmungen voller phantastischer Ungereimtheiten. Aus den uns bekannten Quellen zählt nur II mostro turchino zu den Stoffen, die den frei im orientalischen Kostüm geschriebenen Märchen Gueullettes entnommen sind10. Es ist aber anzunehmen, daß der verworrene Stoff der Zobeide ebenfalls dieser pseudoorientalischen Literatur entstammt. Gozzi hat sich nie in einem eigenen Märchenentwurf versucht. Im Gegenteil läßt sich in seinen Fiabe eine große Abhängigkeit von seinen Märchenvorlagen nachweisen, die noch jüngst von Jean Starobinski positiv als „fidélité remarquable" bewertet worden ist: „La substance narrative - l'essence mythique - du conte est ainsi préservée. Et, pour ainsi * Vgl. PIERRE MARTINO, L'Orient dans la littérature française au XVIIIe et au XIXe siècle, Paris, Hachette, 1906, S. 252 ff.; RICHARD BENZ, Märchendichtung der Romantiker. Mit einer Vorgeschichte. 2. Aufl., Jena, Diederidis, 1926, S. 15 ff. 7 Vgl. ISOTTA PIERI BORTOLOTTI, Il fantastico nella letteratura italiana della seconda metà del secolo XVIII, Napoli 1925. 8 LETTERIO DI FRANCIA, Le novelle orientali di Gaspare Gozzi e la loro origine, (in: Giornale storico della letteratura italiana, Bd. XCI, Jhg. 1928) gibt einleitend einen Überblick über die italienischen Übersetzungen französischer exotischer Literatur im Settecento. 9 Vgl. M. ORTIZ, Commedie esotiche del Goldoni, Napoli, Melfi e Joele, 1905. Auf S. 58-61 untersucht Ortiz die Kritik Gozzis an den orientalisdien Komödien Goldonis. 10 Histoire de Gulguli-Chemamê, Princesse de Teflis und Histoire du Centaure bleu, in: Les mille et un quart d'heure. Contes tartares, nouvelle édition, Paris, Libraires associés, 1753, Bd. II, S. 50-78.
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dire à l'insu de Gozzi, les valeurs symboliques et poétiques de la fable continuent d'être agissantes. S'il ne cherche pas délibérément à introduire de nouveaux mystères, il laisse subsister à tout le moins celui que recèle le récit fabuleux pré-existant... Mieux encore, nous avons le sentiment qu'en quelques circonstances, Gozzi, presque inconsciemment, se laisse emporter par un élan d'imagination ingénue, dans l'esprit du rêve et du mythe: une sorte d'envol fantastique est parfois perceptible dans ces pièces,... La fable n'est plus un simple prétexte, elle prend vie, elle prend corps, elle entraîne son narrateur dans une région inconnue, et nous propose une énigme insistante et malaisément déchiffrable." Gozzi rückt damit trotz seines „penchant ironique partout sensible" ab von der „futilité des fables du rococo". Die Romantiker brauchten die Interpretation seines Theaters nur „quelque peu" zu forcieren, um „un message symbolique issu de l'enfance du monde" in ihm zu entdecken11. Starobinski verweist leider nicht konkret auf die Stellen der Fiabe, die in ihm das Gefühl eines „élan d'imagination ingénue, dans l'esprit du rêve et du mythe" haben aufkommen lassen und in denen er „une énigme insistante et malaisément déchiffrable" gewahrt. Vermutlich denkt er vor allem an die Rahmenhandlung des Corvo, auf die schon E. Th. A. Hoffmann verwiesen hatte: „Es ist Millo's That, der Mord des Raben, die gleichsam an die eherne Pforte des dunklen Geisterreiches anschlägt, und nun geht sie klingend auf, und die Geister schreiten hinein in das Leben, und verstricken die Menschen in das wunderbare, geheimnisvolle Verhängnis, das über sie waltet" 12 . Abgesehen davon, daß Hoffmann hier das Strukturprinzip seiner Erzählungen in die Fiabe hineininterpretiert, scheint uns auch vom „dunklen Geisterreich" bei näherem Hinschauen recht wenig zu bleiben. Aber da Hoffmann hier zweifellos auf die Stelle verwiesen hat, in der die „essence mythique" am deutlichsten spürbar zu werden scheint, sei sie anhand eines Vergleichs mit der Vorlage näher analysiert. Im Pentamerone findet der Märchenheld Milluccio auf der Jagd einen toten Raben auf einem weißen blutbefleckten Marmorstein. Milluccio ist vom Anblick so betroffen, daß sich in seiner Phantasie der Marmorstein in ein Frauenbild mit rabenschwarzem Haar, blutroten Lippen und marmorweißer Haut verwandelt; so sehr erhitzt er sich, daß er den Stein umarmt, „e parve una statua di marmo che facesse all'amore con un' altro marmo" 13 . Milluccio verfällt einer tiefen Melancholie, die nur 11 Ironie et mêlancholie: le théâtre de Carlo Gozzi, in: Critique, Nr. 227, April 1966, S. 298. 12 Der Dichter und der Komponist, in: Die vier großen Gespräche und die kleinen Schriften über Literatur und Theater, Weimar, E. Liditenstein, 1924, S. 113. 13 GIAMBATTISTA BASILE, Il Pentamerone, a. a. O., S. 223.
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Heilung finden kann, wenn er das Traumbild seiner Phantasie wirklich besitzt. Gozzi intensiviert diese geheimnisvolle Ausgangssituation, indem er den Raben auf der Jagd von seinem Helden Millo töten läßt. Diese Änderung der Vorlage mag noch positiv zu werten sein, zumal, wenn man, wie Hoffmann, annimmt, daß Millo mit seiner Tat unerwartet die Grenzen der prosaischen Wirklichkeit überschreitet und durch eine „eherne Pforte" einen Blick in das höhere Geisterreich wirft, das ihn von diesem Augenblick an ganz gefangen nimmt. In der Tat verzichtet Gozzi auf eine psychologisierende Deutung der Verzauberung seines Helden. Nicht das Gaukelbild einer erhitzten Phantasie, sondern ein durch den „Mord" am Raben erzürnter „Geist" erscheint und verflucht Millo: entweder findet dieser eine Frau mit marmorweißer H a u t , blutroten Lippen und rabenschwarzem H a a r oder er muß an seiner Melancholie zugrunde gehen 14 . D a ß die bei Basile so geheimnisvolle Erkrankung Milluccios nun handfester motiviert wird, soll nicht unbedingt als unmärchenhaft verworfen werden, wenngleich keine sinnvolle Beziehung mehr besteht zwischen dem Zorn des Waldungeheuers und dem Inhalt der Verwünschung. Aber der Blick, der uns durch die geöffnete eherne Pforte auf das dunkle Geisterreich gestattet wird, zeigt nur zu deutlich, welcher Art die „essence mythique" Gozzis ist. Das übernatürliche Wesen gibt sich zwar als der „orco" des italienischen Märchens, aber gesehen mit den Augen Gozzis: ein Ungeheuer, halb Tier, halb Mensch, mit Feueraugen und Wildschweinzähnen etc. 15 . Durch dieses lächerliche Ungeheuer nimmt Gozzi nicht nur dem „dunklen Geisterreich" jeden Ernst, sondern beeinträchtigt auch die Wirkung der im Märdienmotiv Basiles verankerten „essence mythique". Im übrigen ist dieses Motiv ganz an den Rand des dramatischen Geschehens in die von Pantalone referierte Vorgeschichte verwiesen. Außerdem läßt sich kein zweites Beispiel in den Fiabe finden, wo ein f ü r Gozzi so sinnloses Motiv wie die Tötung eines Raben den Mechanismus der Märchenhandlung in Bewegung setzt, wenn wir von L'amore delle tre melarance und L'augellin belverde als satirischen Possen absehen. Das Corwo-Motiv gehört unter diesem Aspekt noch zur Phase der Amore delle tre melarance, die das Märchen als „inezia puerile" verspottet. Die Wende zum orientalischen Märchen bedeutet unter anderem eine Abkehr von der „unsinnigen" Naturmagie des europäischen Volksmärchens zugunsten durchsichtiger „Allegorien". 14
Opere (Rizzoli), S. 95. Era gigante; gli ocdii avea di foco, la fronte escura, e fuor dell'ampia bocca di porco gli uscien denti, e schifa bava verde e sanguigna . . . " (Opere, Ausg. Rizzoli, S. 95). 15
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Aber selbst die orientalischen Liebeserzählungen entkleidet Gozzi ihrer Poesie. König Fadlallah 1 6 beherrscht die Kunst der Metempsychose. V o r den Augen eines Ministers, dem er sein Geheimnis anvertraut, wechselt er mit seiner Seele in den Körper eines getöteten Hirsches über, den er neu belebt, während sein eigener Körper entseelt niedersinkt. D e r treulose Minister erkennt seine Chance, nimmt v o m Körper seines Königs Besitz und kehrt als Fadlallah ins Schloß zurück. Königin Zemroude bemerkt nichts von dem Verrat und wähnt sich weiter an der Seite ihres Gatten. - Fadlallah als Hirsch entkommt mit knapper N o t den Jägern seines Ministers, indem er sich in den Körper einer toten Nachtigall begibt. Als Nachtigall wirbt er klagend um seine unerreichbare Gattin Zemroude, die auf den Gesang aufmerksam wird, den Vogel fangen und in ihre Gemächer bringen läßt. Zemroude gerät mehr und mehr in den Bann des sehnsuchtsvollen Gesanges der Nachtigall, dem sie mit einem beliebten Bild arabischer Liebesmetaphorik antwortet: „Charmant Rossignol, je veux être ta R o s e " . Auf dem Höhepunkt ihrer Zuneigung kann Zemroude die Nachtigall schließlich scherzhafterweise „mon petit m a r i " nennen. Maßlos ist darum ihr Schmerz, als sie eines Tages die Nachtigall sterben sieht: Fadlallah hat sich, einem dunklen Drang folgend, in den Körper einer toten Hündin begeben. Als der treulose Minister, um den Schmerz der Königin zu lindern, den K ö r p e r der Nachtigall belebt, verläßt Fadlallah blitzschnell die Hündin, nimmt von seinem eigenen Körper Besitz und erwürgt den Vogel. Aber die Geschichte kennt keinen glücklichen Ausgang: Zemroude, über alle Vorfälle von Fadlallah aufgeklärt, siecht dahin und stirbt. Fadlallah gibt sein Königreich auf, um unerkannt in der Fremde allein der Erinnerung Zemroudes zu leben. Warum stirbt Zemroude? Vordergründig deutet Fadlallah ihren T o d als Folge der Scham und des Schmerzes über die unfreiwillige Untreue. D e r eigentliche Grund aber wird indirekt sichtbar, wenn er behauptet: „Elle ne pouvait pas douter que je ne fusse véritablement
Fadlallah,
parce que . . . " . Seine Argumentation überzeugt nicht. Solange sich Zemroude spontan ihrem Gefühl überlassen konnte, vermochte sie instinktiv die Nachtigall „mon petit mari" zu nennen. Diese unreflektierte „Gewißheit" wird unmöglich, nachdem Fadlallah sie über alle Ereignisse in Kenntnis gesetzt hat. D e r Amphitryonstoff läßt die Möglichkeit einer komischen Behandlung offen, weil sich alle Wirrnisse durch die Tatsache, daß zwei gleiche Gestalten nebeneinander bestehen, auflösen lassen. Zem-
16 Histoire du Prince Fadlallah fils de Bin-Ortoc Roy de Mouzel, aus: Les mille et un jour, a. a. O., Bd. II, S. 91-149.
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roudes Zweifel an der Identität ihres Gatten hingegen ist unheilbar. Sie muß daran zugrunde gehen. Die Erzählung fesselt trotz aller Verwandlungen, die entweder peripher mit einigen Worten berichtet werden oder, wie im Fall der Nachtigall, eine echte Entsprechung zum seelischen Zustand des Helden haben, durch lyrische Konzentration und Verinnerlichung. Dem Lyrismus der Liebesbegegnung Rose - Nachtigall, die, gemessen an der übrigen Märchenwelt, etwas Unwirkliches, Zerbrechliches hat und schon auf das tragische Ende hindeutet, steht Gozzi verständnislos gegenüber. Die Liebe erstrahlt nur dann in ihrem vollkommenen Glanz, wenn sie durch die Tugend veredelt wird. Die Poesie des Märchens muß darum der nüchternen Prosa weichen. Vor den Hirschjägern des Ministers Tartaglia rettet sich Deramo als König Hirsch in den toten Körper eines alten Bettlers. Während die innerste Bindung Fadlallahs an Zemroude ganz im Gesang der Nachtigall aufgegangen ist und Zemroude ihrerseits intuitiv über unüberbrückbar scheinende Grenzen hinweg zu ihrem Gatten findet, benötigt die prosaische Angela Gozzis eine Menge naturalistischer Beweise, um sich von der Identität des Alten mit Deramo überzeugen zu lassen: Deramo muß auf ein Muttermal ihrer Brust hinweisen, das nur er kennen kann 17 . Im Märchen wohnt die Nachtigall den Liebesbegegnungen des Verräters mit der nichtsahnenden Zemroude in schmerzhafter Eifersucht bei. Gozzi übernimmt zwar die Eifersucht des Helden, aber Angela kann ihren Deramo beruhigen: sie hat den Bruch zwischen niedrigem Geist und schönem Körper in Tartaglia - Deramo gespürt: „Non sospettar, Deramo; il tuo bei corpo, senza lo spirto tuo, caro, ho sprezzato, vilipeso, aborr i t o . . ," 18 . So viel Tugend kann selbstverständlich nur belohnt werden. Ein gütiges Schicksal, daß seinen Emissär, den Magier Durandarte, in der Gestalt eines Papageis in den königlichen Palast entsandt hat - die Nachtigall hat sich in diesen lächerlidien Deus ex machina verwandelt - interveniert im kritischen Augenblick, als der falsche Minister Tartaglia König Deramo unter der Hülle des alten Bettlers entdeckt und ihn töten will, - und alles endet glücklich. Nur der Verräter wird gebührend bestraft. Gozzi verflacht die vieldeutige Märdienproblematik in ein moralisches Erbauungsstück, das auf dem abstrakten Gegensatz Körper - Geist christlicher Herkunft aufbaut und sich gegen die „materialistische" Sinnenfreudigkeit der Goldonischen Helden wendet. Zwischen dem Geist des Märchens und dem Geist der Fiaba Gozzis läßt sich keine Brücke schlagen. Gozzis Abhängigkeit von seinen Märchenvorlagen ist die eines im 17 18
Opere (Rizzoli), S. 222-224. ebda., S. 225.
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Grunde unschöpferischen Geistes. Das wird besonders spürbar, wenn Gozzi infolge des Formzwangs seiner drei- oder fünfaktigen Fiabe darauf angewiesen ist, einen Akt mit eigenen Eingebungen im Sinne des Märchens zu füllen, so zum Beispiel im Schlußakt der Donna serpente19 : Farruscad will seine Gattin Cherestanî, die durch seine Schuld in eine abscheuerregende Schlange verwandelt worden ist, kraft seiner Liebe aus ihrer Verzauberung erlösen. Die Feenwelt, die eine Verbindung der Fee Cherestanî mit einem Sterblichen verurteilt, schickt gegen den Helden einen „toro furioso che getta fuoco dalla bocca, dalle corna e dalla coda" 20 . Das wunderbare Geschehen, das sich gerade mit der heldischen Befreiungstat als dem Höhepunkt der Fiaba ins Pathetische hätte steigern müssen, verfällt in ein lächerliches Schauspiel, dem jede innere Dramatik fehlt. Die Verwandtschaft des feuerspeienden Stiers mit dem „orco" des Corvo ist offensichtlich. In gleicher Weise veräußerlicht ist die zweite Prüfung Farruscads: Nach dem Sieg über den Stier muß er sich einem „gigante mostruoso" stellen, der sich nicht erschüttern läßt, wenn ihm Kopf und Arme abgeschlagen werden: seelenruhig setzt er sich die abgetrennten Körperteile wieder an. Gozzi greift hier zu einer beliebten Schaunummer der Volksbühnen, die in einem burlesken Zusammenhang durchaus angebracht sein kann, wie Regnards Komödie La baguette de Vulcain21 zeigt: Harlekin macht sich, verkleidet als Ritter, an die Befreiung der schönen Prinzessin Bradamante, die ein Zauber vor 200 Jahren in einen Dornröschenschlaf versetzt hat. In einem grotesken Kampf schlägt Harlekin dem Wächter Bradamantes, einem Riesen, den Kopf ab, „et lorsqu'il le croit entièrement défait, ses membres et sa tête viennent se rejoindre au corps . . . ce qui donne matière à un nouveau combat". Immerhin hat Gozzi gemerkt, daß der dritte Akt sich von den beiden voraufgehenden unvorteilhaft abhebt. Sein schlechtes Gewissen schlägt sich in einer Anmerkung nieder: „Tutte le scene di mirabile, e d'illusione di questo popolare atto terzo furono eccelentemente eseguite dalla truppa cómica del Sacchi" 22 . Die Bravourleistungen der Schauspieler und des Maschinisten müssen hier über das dichterische Nichts hinwegtäuschen. Quelle: Histoire du roi Ruzvanscbad et de la princesse Cheheristani, in: Les mille et un jour, contes persans, Bd. I, S. 158-177 und S. 241-275. Die Erzählung Pantalones von der Hexe Dilnovaz (Donna serpente, I, 3) ist der in das Märdien eingeschobenen Histoire du jeune roi de Thébet et de la princesse des Naimans entnommen. 20 Opere (Rizzoli), S. 399. 21 GHERARDI, Le théâtre italien, ou le recueil général de toutes les comédies et scènes françaises jouées par les Comédiens Italiens du Roi, pendant tout le temps qu'ils ont été au service, édition nouvelle revue avec beaucoup d'exactitude, 6 Bde., Paris, Briasson, 1741. Die erste Ausgabe ist aus dem Jahr 1700. 22 Opere (Colombani), Bd. II, S. 90.
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Richard Wagner ersetzt in seiner Bearbeitung der Donna serpente2S den feuerspeienden Stier und den burlesken Giganten durch sublimere, von der Musik her verinnerlichte Kampfhandlungen: Arindal, Wagners Entsprechung zu Farruscad, muß nacheinander einen Chor von Geistern und „ehernen Männern" besiegen, die den Stein bewachen, in den die Geliebte verwandelt worden ist. Wie sehr sich der junge Wagner - Die Feen sind seine erste Oper - bemüht, der Erlösungstat eine symbolische Tiefe zu verleihen, wird deutlich, wenn Arindal zur Leier greift und dank der erlösenden Macht der Musik den Stein sprengt. Immerhin findet auch Gozzi in der dritten und entscheidenden Prüfung Farruscads vom burlesken Schaustück zum charakteristischen Pathos seiner Märchenhelden zurück: Farruscad muß als höchsten Beweis seiner Liebe der furcht- und abscheuerregenden Schlange den erlösenden Kuß geben24. Gozzis Verhältnis zum Märchen ist genauso doppelgesichtig wie seine Einstellung zur Commedia dell'arte. Er verfolgt beide mit der gleichen Haßliebe. Wie so viele seiner Zeitgenossen bis hin zu Voltaire erliegt auch er dem Zauber der Mille et une nuit, kann aber in der Theorie das Märchen nur als „inezia puerile" abtun. Wie die Commedia dell'arte will das Märchen angeblich nichts anderes sein als ein harmloses „divertimento". Pantalone, der sich aus der korrupten Stadt in die Einsamkeit des Landes zurückgezogen hat, um dort seine Tochter Sarchfe seinen Idealen gemäß zu erziehen, empfiehlt ihr: „Se ti ga qualche ora de ozio, lezi le panchiane del gabinetto delle Fade e ridi" 25 . Damit aber fehlt dem Märchen jede Würde, es ist zum Zeitvertreib naiver junger Mädchen degradiert. Anspruch auf literarische Anerkennung kann es nicht erheben. Um so geeigneter erweist sich das Märdien für eine Verbindung mit dem phantastischen Typus der Commedia dell'arte. Das Bestreben, die Fiaba als das Ergebnis dieser Verbindung über das Niveau eines bloßen „divertimento" hinauszuheben, führt zu einer Umgestaltung der Mär" Die Veen. Romantische Oper in 3 Akten, Mannheim, Heckel, 1888. 24 Während bei Gozzi Cherestani ihrer Unsterblichkeit entsagt, um mit Farruscad das menschliche Schicksal zu teilen, läßt Wagner seinen Helden in das Feenreich eingehen. In der Schlußszene wendet sich der Feenkönig mit folgenden Worten an Arindal: Du Sterblicher drangst ein in unser Reich, und die unendliche Gewalt der Liebe verlieh dir jene hohe Kraft, die nur Unsterblichen zu eigen ist verliehn! So wisse denn: durch deine Schuld als Mensdi bleibt Ada jetzt unsterblich, wie sie war; Doch, der sie uns mit Gotteskraft entwunden, ist mehr als Mensch, - unsterblich sei, wie sie! (S. 51). 25 Zeim, re dei geni, in: Opere (Rizzoli), S. 791. 63
dien vorläge: ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts unterschiebt Gozzi dem Märchen eine erzieherische Absicht: die Märchenhelden führen dem Zuschauer exemplarisches Verhalten in einer idealen Gesellschaftsordnung vor Augen, die ganz nach den Vorstellungen Gozzis modelliert ist (s. u. das Kapitel: „Die Fiaba als Träger der Ideologie Gozzis"). Dieses neue, im Sinne Gozzis „allegorische" Gewicht des Märchens berechtigt nun auch zu seiner literarischen Aufwertung: erstmalig in seiner Geschichte wird das Märchen der gehobenen Verssprache für würdig befunden.
3. D i e F i a b e u n d i h r e V o r b i l d e r i n d e r C o m é d i e I t a l i e n n e u n d d e m T h é â t r e de la F o i r e in Paris Die eigentliche Leistung Gozzis besteht darin, den „phantastischen" Typus der Commedia dell'arte durch eine Verbindung mit dem Märchen für kurze Zeit neu belebt zu haben. Die Idee als solche jedoch war nicht sehr originell. Schon 1697, im Erscheinungsjahr von Perraults Contes de ma mère l'oye, brachte die Comédie Italienne in Paris, die dem „phantastischen" Stegreifspiel in ihrem Repertoire ständig breiten Raum zugebilligt hatte, eine Parodie in einem Akt heraus: Les Fées ou les contes de ma mère l'oye: Prinzessin Isménie ist von menschenfressenden Ungeheuern entführt worden. Prinz Octave bemüht sich um die Befreiung seiner Geliebten, fällt aber gleichfalls in die Hände der Menschenfresser. Die drohende Gefahr, verspeist zu werden, kann eine gütige Fee im letzten Augenblick von Prinz Octave abwenden, indem sie ihn in einen Felsenverwandelt. Nun wird Harlekin von der Fee beauftragt, Isménie zu befreien und erhält zu diesem Zweck einen Zauberstab. Als der Häuptling der Menschenfresser sich nach vergeblichem Liebeswerben daran macht, Isménie zu verspeisen, schreitet Harlekin ein und verwandelt auch Isménie in einen Felsen. Das Stück endet mit der Befreiung des Liebespaares, der Entzauberung vieler in Tiere und Gegenstände gebannter Menschen, der Verwandlung der Höhle in einen Märchenpalast, alles kraft des Zauberstabes in der Hand Harlekins. Gozzi hat diese Parodie in der berühmten Farcensammlung Gherardis 1 kennengelernt und ihr die formale Anregung zu seiner Fiaba L'amore delle tre melarence entnommen, die stofflich auf Basile fußt 2 . Auch Gozzis erste Fiaba zieht ihre Wirkung aus der Verspottung des Märchens als non plus ultra des Absurden und Trivialen, aus den burlesken „lazzi" der Masken, aus den Künsten des Maschinisten, und nicht zuletzt aus 1 2
Le théâtre italien, a. a. O., Bd. VI. giornata V, trattenimento IX.
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den satirischen Spitzen gegen Chiari und Goldoni. Auch eine direkte Entlehnung läßt darauf schließen, daß er die Farce der Comédiens italiens gekannt h a t : Prinz O c t a v e und sein Diener Pierrot fahren in einem Feenwagen durch die Lüfte zur Höhle der Menschenfresser. Gozzi hat die blasse Fee in den Teufel Farfarello übergehen lassen, der im Rahmen der Ausdrucksmöglichkeiten der Commedia dell'arte eine weit wirkungsvollere Figur abgibt und der, da er über keinen Feenwagen verfügt, König Tartaglia und Truffaldin mit einem Blasebalg durch die Lüfte zum Schloß der Zauberin Creonta schafft. Das Motiv diente Gozzi zur satirischen Verspottung der häufigen Verstöße gegen die Einheit des Ortes in den Schauspielen Chiaris 3 . Aber wenn auch sowohl die italienischen Komödianten in Paris als auch Gozzi die Märchenburleske zur Verspottung ihrer literarischen Gegner benutzen, besteht doch ein entscheidender Unterschied zwischen beiden Literatursatiren : die Verspottung Perraults geht vor sich in der Form der Parodie. Dieser Weg war Gozzi weitgehend versperrt, denn weder Goldoni noch Chiari hatten Interesse für das Märchen an den Tag gelegt. D e r „Naturalismus" Goldonis entzog sich geradezu jeder Parodie mit den Mitteln der Märchenburleske. Gozzi mußte sich im Fall Goldoni auf satirische Spitzen, die locker in die Märchenhandlung eingefügt sind, beschränken. Anders steht es mit den Möglichkeiten einer Parodie Chiaris, dessen „tragedie popolari" 4 sowohl dem Exotischen und dem Phantastischen als auch dem Heroischen und dem Pathetischen breiten Raum gaben, so daß das Märchengeschehen hier und da Gelegenheit zu einer karikierenden Verspottung bot, wie folgendes Beispiel zeigen mag: Prinz Tartaglia, der durch den Fluch der bösen Fee Morgana von der Liebe zu den drei Orangen besessen ist, macht sich zusammen mit Truffaldin an die E r oberung der begehrten Früchte, die sich im Besitz der Zauberin Creonta befinden. Ein Tor, ein Hund, ein Strick und eine Bäckerin sind von Creonta mit der Bewachung der Orangen beauftragt: das T o r soll Eindringlinge erdrücken, der Hund soll sie zerfleischen, der Strick soll sie hängen und die Bäckerin soll sie in den Backofen werfen. Aber alle vier Wächter sind mit ihrer Herrin unzufrieden und lassen sich von Prinz Tartaglia durch Wohltaten zur Auflehnung gegen Creonta bewegen. Die Auseinandersetzung zwischen der Zauberin und dem T o r , dem Strick, dem Hund und der Bäckerin geht in martellianischen Versen à la Chiari vor sich, deren Pathos ins Groteske gesteigert ist. Als Creonta den Verlust
Opere (Rizzoli), S. 69. Die Bezeichnung ist nur eine Abwandlung des Begriffs der Tragikomödie, womit Chiari auf die Anwesenheit der Masken der Commedia dell'arte in seinen „Tragödien" hinweisen will. 3
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der Orangen konstatieren muß, schließt sie den zweiten Akt mit folgenden Versen: Ahi ministri infideli, Corda, Cane, Portone, scellerata Fornaia, traditrici persone ! O Melarance dolci! Ahi chi mi v'ha rapite? Melarance mie care, anime mie, mie vite. Oimè crepo di rabbia. Tutto mi sento in seno il Caos, gli Elementi, il Sol, l'Arcobaleno. Più non deggio sussistere. O Giove fulminante, tuona dal Ciel, m'infrangi dalla zucca alle piante. Chi mi dà aiuto, Diavoli, chi dal mondo m'invola? Ecco un amico fulmine, che m'arde e mi consola.
Und Gozzi kommentiert: „Nessuna parodia caricata potrà spiegar i sentimenti, e lo stile del Sig. Chiari meglio di quest'ultimo verso" 5 . Aber nur selten gelingt es Gozzi, in dieser oder ähnlicher Form Märchenburleske und literarische Parodie organisch miteinander zu verquikken. Gewöhnlich treten Literaturparodie und Literatursatire zurück, sobald die Märchenhandlung für das Bühnengeschehen bestimmend wird. Man kann L'amore delle tre melarance geradezu in zwei Teile zerfallen lassen: bis zur Mitte des zweiten Aktes kommt das Märchen gar nicht zum Zug. Vorherrschend ist die satirische Darstellung des Theaterstreits um Chiari und - wenn auch in eingeschränktem Maße - um Goldoni: Prinz Tartaglia ( = das Publikum) ist von der Fee Morgana ( = Chiari) mittels martellianischer Verse ( = Tragikomödien Chiaris) in eine lebensgefährliche Schwermut versetzt worden, aus der nur Truffaldin ( = Commedia dell'arte) ihn wieder erlösen kann. Die Auseinandersetzung zwischen Truffaldin und der Fee Morgana, die mit dem Sieg Truffaldins endet und die Heilung des Prinzen von seiner Schwermut zur Folge hat, bildet den Höhepunkt des ersten Aktes. Wenn auch weitgehend dichterisches Unvermögen für den Bruch zwischen satirisch-parodistischer Zielsetzung und Märchenburleske als Medium der Parodie verantwortlich zu machen ist, so verraten diese Inkongruenzen doch zugleich, daß es Gozzi nicht ausschließlich um die Verspottung seiner Gegner, sondern auch schon keimhaft um ein phantastisches Alternativtheater zu Goldoni geht. Nicht zufällig macht Gozzi mit der Parodie des Goldoni-Gegners Chiari die in den „tragedie popolari" schlummernden Ansätze zu einem antigoldonischen Theater sichtbar, die aber Chiari, der nach und nach zu einem „Affen" Goldonis wurde, nicht konsequent entfaltet hatte. Noch stellt sich Gozzis antigoldonisches Theater in der parodistischen Verzerrung Chiaris6 mehr als „Negativ" dar, Opere (Rizzoli), S. 73 f. • Auf die Verwandtschaft der Fiabe mit dem Theater Chiaris hat schon Giuseppe Ortolani aufmerksam gemadit: „II ricordo del Chiari . . . ci colpisce 5
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das aber bald das positive Alternativtheater zur bürgerlich-realistischen Komödie aus sich entlassen sollte. Als Vorspiel zu den eigentlichen Fiabe nimmt L'Amore delle tre melarance eine Sonderstellung im dramatischen Schaffen Gozzis ein: „Non si vide mai una rappresentazione teatrale ignuda affatto di parti serie, e interamente caricata de buffonesco in tutti i personaggi, come questo scenico abbozzo" 7 . Der Plan einer Neuwertung der „Innamorati" zeichnet sind hier noch nicht ab. Mit Ausnahme einiger Parodien in martellianischen Versen hatte Gozzi diese Farce der Truppe Sacchi in der Form eines Canevas überlassen. Erhalten ist uns zwar nicht das Szenarium, dafür aber eine „analisi riflessiva", die gleichzeitig einen Schlüssel zu den satirischen Anspielungen bietet und mit Kommentaren zur Sacchi-Aufführung durchsetzt ist. Gozzi hat nie wieder auf die Formel der Fiaba L'amore delle tre melarence zurückgegriffen, auch nicht in der Aufklärungssatire L'augellin belverde, die sich zwar als Fortsetzung von L'amore delle tre melarence gibt, aber doch einen Kompromiß mit der eigentlichen Fiaba eingeht. Rein äußerlich hebt sich L'augellin belverde schon durch die literarische Form vom bloßen Szenarium ab. Außerdem aber tritt die hohe Liebe eines verzauberten Prinzen an die Seite der burlesken Liebe König Tartaglias. Sogar Ninetta, die verstoßene Gattin Tartaglias, wird zu einer „tragischen" Figur. Auch die eigentliche Formel seiner Fiabe, die kontrastierende, „tragikomische" Verbindung des heroisch-pathetischen Märchens mit der burlesken Maskenkomik, fand Gozzi schon im Théâtre de la Foire vorgeformt. Ja, für Turandot, I pitocchi fortunati und Zeim re dei geni konnte Gozzi auf voraufgehende Dramatisierungen zurückgreifen. Neben Del Cerro (s. ob., S. 47 f.) hat auch Letterio di Francia auf die Verwandtschaft der Fiabe mit dem Théâtre de la Foire hingewiesen: „Quanto all'opera poetica (gemeint sind die Foire-Stücke), era uno spettacolo misto di prosa e di versi, in cui l'argomento fantastico era corretto dall'elemento comico e satirico, affidato soprattutto alle maschere. In tutto questo, il Teatro della Fiera precede di alcuni decenni quel teatro fiabesco di Carlo Gozzi, che, cosciente o inconsapevole, non inventava, ma
fin den Fiabe] ad ogni passo, con richiami di straordinarie avventure, e di versi strampalati... La fiaba tragicomica del Gozzi tende, nella concezione e nell'esecuzione, ad accostarsi sensibilmente e naturalmente alle tragedie popolari di Egerindo [Chiaris Name als Arkadier] . . . Il poeta della Marfisa bizzarra resta impigliato in quel mondo stravagante di cui voleva fare la parodia, si mette a trattare come cosa seria la favola, riprende senza avvedersene e svolge con altro talento l'opera tralasciata dal Chiari sui teatri veneziani. Fu questa la vendetta di Egerindo." (Carlo Gozzi, a. a. O., S. 262 {.). 7 Opere (Colombani), Bd. I, S. 75.
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solo perfezionava e migliorava profondamente un genere tradizionale, die esisteva già nella commedia dell'arte italiana e nel teatro francese d'imitazione italiana, abilmente adattata ai gusti del pubblico parigino" 8 . Allerdings läßt Di Francia die Frage offen, ob Gozzi wirklich die Turandotfassung der Théâtres de la Foire gekannt hat: „non si avverte nella fiaba italiana nessuna sensibile traccia dell'opera comique" 9 . Daß Gozzi bei der Abfassung von I pitocchi fortunati, Zeim re dei geni und Turandot die entsprechenden Dramatisierungen der Théâtres de la Foire vorgelegen haben, läßt sich überzeugend nachweisen; ein Beispiel mag genügen: In der Märchenvorlage zu Zeim re dei geni10 begehrt ein König von einem Geisterfürsten eine überaus kostbare Statue, muß aber als Gegenleistung an den Geisterfürsten ein jungfräuliches Mädchen ausliefern, das nicht einmal in Gedanken einen Mann begehrt hat. Die Begegnung zwischen dem Geisterfürsten und dem König vermittelt ein Sklave. Der König und der Sklave finden das gewünschte Mädchen in der Tochter eines Visirs, der sich in die Einsamkeit des Landlebens zurückgezogen hat. Gozzi läßt den Sklaven und den Visir des Märchens in der Gestalt des Visirs Pantalone zusammenfallen, der sowohl als Vermittler zwischen dem Geisterfürsten Zeim und König Suffar dient, als auch auf Drängen Suffars seine Tochter aushändigen muß. Die damit entstandene neue dramatische Situation Pantalones hat Gozzi Lesages La statue merveilleuse11 entnommen. Wenn auch Gozzi sich von Lesage zur Dramatisierung der Turandot, der Pitocchi fortunati und des Zeim hat anregen lassen, hat er sich doch so weit von seinen Vorbildern entfernt, daß Di Francia keine direkte Abhängigkeit für die Turandot feststellen kann. In der Tat dürfte Gozzi wenig mehr als die grundsätzliche, rein formale Idee einer tragikomischen Verbindung von Märchen und Commedia dell'arte dem Théâtre de la Foire zu verdanken haben. Wenn Ginisty für die französische dramatische Féerie des 19. Jahrhunderts feststellen kann: „C'est au théâtre de Ia Foire qu'est le vrai berceau de la Féerie" 12 , so gilt das für die Fiabe nur
8 La leggenda di Turandot nella novellistica e nel teatro, Trieste, C.E.L.V.I., 1932, S. 48. 9 ebda., S. 89. 10 Histoire du Prince Zeyn Alasnam, et du Roy des Génies, in: Les mille et une nuit, contes arabes, Bd. VIII, S. 153-208. 11 Le Théâtre de la Foire ou l'Opéra Comique contenant les meilleures pièces qui ont été représentées aux Foires de S. Germain et de S. Laurent. Enrichies d'estampes en tailledouce, avec une table de tous les vaudevilles et d'autres airs gravez et notez à la fin de chaque volume. Recueillies, revûes et corrigées par
M r s . LESAGE e t D'ORNEVAL. P a r i s , E t i e n n e G a n e a u , 10 B d e . , 1 7 2 1 - 1 7 3 7 , B d . I V , S. 1 - 9 4 . 12
La Féerie, Paris, o. J., S. 47.
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unter der angedeuteten Einschränkung. Anhand eines Vergleichs soll die These Del Cerros, der in der Fiaba nur eine Zwillingsschwester der FoireKomödien sieht (s. ob. S. 47 f.), widerlegt und die Originalität der Fiabe aufgezeigt werden 13 . Der besondere Charakter der Foire-Theater läßt sich an ihrer Geschichte verdeutlichen: sie gewinnen an Bedeutung seit 1797, d. h. mit dem Verbot der Comédie Italienne, deren Erbe sie antreten, ohne jedodi mit ihrer eigenen Tradition grober Farcen und akrobatischer Schaustücke zu brechen. Die Comédie Française sah sich vom wachsenden Erfolg der Foire-Theater bedroht und erwirkte ein Aufführungsverbot. „Les forains, ne pouvant pas parler, eurent recours aux écriteaux: c'est-à-dire, que chaque acteur avait son rôle écrit en gros caractères sur du carton qu'il présentait aux yeux des spectateurs. Ces inscriptions parurent d'abord en prose. Après cela on les mit en chansons, que l'orchestre jouait, et que les assistants s'accoutumèrent à chanter" 14 . Schließlich gingen auch die Schauspieler zum Gesang über. Ein Privileg der Oper sanktionierte diesen neuen Weg des Foire-Theaters, das jetzt als „opéra comique" vornehmlich musikalische Lustspiele bot, deren Gesangspartien durch Prosatexte miteinander verbunden waren. Durch die besondere Rolle der Musik, des Tanzes und des Gesangs erhalten die Stücke des Foire-Theaters ihren eigentümlichen LibrettoCharakter: „C'est pourquoi nous avons mieux aimé divertir en ne faisant qu'effleurer les matières, que d'ennuyer en les épuisant" 14 . Die Stillagen der reinen Tragödie und Komödie werden vermieden zugunsten eines „einfallsreichen Mischstils" (ingénieux mélange), der aber im Unterschied zu Gozzi kein heftiges Gegeneinander von Pathos und Burleske sein will. Es geht den Autoren der Théâtres de la Foire vielmehr darum, „de trouver un milieu entre le haut et le bas; de raser la terre, pour ainsi dire, sans la toucher" 14 . Lesages dramatische Bearbeitungen orientalischer Märchen sind reines, verspielt-unbeschwertes Rokoko der Zeit der Régence. Diamantine z. B., die Princesse de la Chine15, hat im Vergleich zur Turandot der Märchenvorlage viel von ihrer stolzen Größe einbüßen müssen. Bis zur vorletzten Szene (III, 8), in der sie Noureddin ihre Rätsel aufgibt, bleibt sie im Hintergrund. Zwar hat auch Diamantine zu Beginn des ersten Aktes gerade wieder einmal einen unglücklichen Bewerber töten lassen, aber die
13 Ansätze zu dieser Gegenüberstellung finden sich sdion bei Di Francia (S. 50 ff.), der aber im Rahmen seiner stoffgeschichtlichen Untersuchung zur Turandot-„Legende" nur einen flüchtigen Blick für die grundsätzlichen Unterschiede von Fiabe und Théâtre de la Foire hat. 14 Le Théâtre de la Foire ou l'Opéra Comique, Bd. I, Vorwort. 15 ebda., Bd. VII, S. 121-212.
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Opferszene, in der die Bonzen des Tempels den Propheten Jacmouni beschwören, das Reich fürderhin von solchen Tötungen zu verschonen, endet in einem burlesken Ballett der Bonzen. Eine Stilisierung der Diamantine ins Pathetische hat Lesage konsequent vermieden. Als Noureddin, nachdem er die drei Rätsel glücklich gelöst hat, nun auch um das Herz Diamantines bittet, gesteht sie ihm, daß sie von Anfang an um ihn gebangt und darum drei besonders leicht zu lösende Rätsel ausgewählt habe. Auch Noureddins Heroismus wird in der Fassung Lesages in einen bescheideneren Rahmen gefaßt. Wenn Scaramouche als Hofmaler Noureddin porträtiert in der Hoffnung, die stattliche Galerie von Porträts der getöteten Bewerber weiter zu vergrößern, wenn Harlekin als „maître de danse" Noureddin anfeuert, doch nun endlich einmal den Hochmut der Prinzessin zu brechen, denn er halte seit Jahren ein Hochzeitsballet ,,L'Amour et l'Hymen" bereit, das er am Tage des Sieges über Diamantine zur Aufführung bringen möchte, oder wenn Pierrot Noureddin bei der Lösung der Rätsel zur Seite steht („deux têtes valent mieux qu'une"), so wird durch diese fortwährende Intervention der Masken jeder ernstere Ton gedämpft. Turandots Rivalin in der Märchenvorlage, Adelmuc, die, als sie ihr Spiel verloren sieht, bei Gozzi nur mühsam am Freitod gehindert werden kann, hat selbstverständlich keinen Platz in der heiterphantastischen Rokokowelt der Märchenspiele der Foire-Theater. Die abgründige Adelmuc muß einer Reihe schöner Sklavinnen weichen, die im Auftrage des Königs unter Einsatz all ihrer Verführungskünste Noureddin von seiner Werbung um die Hand Diamantines abbringen sollen. Der Siegerin unter den Sklavinnen verspricht der König die Freiheit. Unter diesen Umständen gipfelt der zweite Akt bei Lesage in einer Abfolge frivoler Verführungsversuche und in einem exotischen Ballett der Sklavinnen. Alles ist leicht, anmutig, tänzerisch beschwingt und lebt aus dem Geiste der jungen Opéra Comique. Auch die Pitocchi fortunati fand Gozzi im Théâtre de la Foire vorgeformt. Die Gestalt des Hulla, so wie man sie aus Les mille et un jour kannte, genoß dank eines exotischen Eherechts und pikanter dramatischer Situationen eine besondere Beliebtheit im europäischen Lustspiel des 18. Jahrhunderts: Eine Ehemann, der seine Gattin rechtskräftig verstoßen hat, diesen Schritt aber rückgängig machen möchte, muß sich eines Mittlers ( = Hulla) bedienen, der die Verstoßene zur Frau nimmt, sie seinerseits kurz nach der Eheschließung verstößt und so eine neue rechtskräftige Verbindung zwischen den beiden Ehegatten ermöglicht. Die erste dramatische Bearbeitung der Histoire de Couloufe et da la belle Dilara16 stammt wiederum von Lesage, der den französischen Übersetzer Petits de
16
Les mille et un jour, a. a. O., Bd. I, S. 276-333 und Bd. II, S. 1-67. 70
la Croix in stilistischen Fragen beraten hatte, und kam unter dem Titel Arlequin Huila ou la femme répudiée im Jahre 1716 auf der Foire de Saint Laurent zur Aufführung 17 . Im persischen Märchen hat der reiche Kaufmann Couloufe in einer Reihe von Unglücksfällen sowohl seine Geliebte Dilara als auch sein Vermögen verloren und irrt als Bettler durch fremde Länder. Unversehens sieht er sich in der Rolle eines Hulla seiner Geliebten gegenüber, die gegen ihren Willen einem einflußreichen Kaufmann angetraut worden ist. Die Lage der beiden Liebenden ist ausweglos. Zwar weigert sich Couloufe selbst unter den vom Kadi verordneten Folterqualen, Dilara vertragsgemäß zu verstoßen, aber dem unbekannten und verachteten Bettler bleibt keine Hoffnung, sich gegen seinen mächtigen Rivalen zu behaupten. - Lesage war diese Situation zu pathetisch. Er macht Taher (Couloufe) und Dardane (Dilara) zu einem glücklichen Ehepaar. Nur hat Taher in einem flüchtigen Augenblick jugendlich unbeherrschten Zorns seine Gattin verstoßen. Er benötigt einen Hulla, und Harlekin scheint der geeignete Kandidat für diese delikate Rolle zu sein, da er sich, wie Taher annimmt, durch eine üppige Abendmahlzeit und reichlichen Weingenuß von seinem Recht auf eine Nacht mit Dardane abhalten lassen wird. Als aber Harlekin eine „nécessité" vorgibt und sich doch von der Festtafel erhebt, schickt ihm der eifersüchtige Taher einen Sklaven nach mit dem Auftrag, eine Begegnung zwischen Harlekin und Dardané zu verhindern. Nur versteht Harlekin die Rolle des Sklaven auf seine Weise: behend springt er auf die Schultern des Begleiters und weiter durchs Fenster in das Zimmer Dardanés. Allerdings gelingt es Taher, ihn mit einer weiteren Flasche Wein wieder heraus zu locken. Ein als Kadi verkleideter Sklave überrascht Harlekin beim Weingenuß und läßt ihn ver17
Eine zweite Fassung brachte das Théâtre Italien im Jahre 1728 zur Aufführung unter dem Titel Arlequin Hulla. Comédie en un acte, suivie d'un divertissement" (Histoire mecdotique et raisonnée du Théâtre Italien, depuis son rétablissement en France, jusqu'à l'annee 1769, Bd. III, Paris, Lacombe, 1769, S. 138-146). Diese Bearbeitung kann Gozzi zur Zeit der Abfassung seiner Pitocchi fortunati (1764) nicht gekannt haben. In Frankreich stellt der HullaStoff 1805 noch einmal das Libretto zu einer komischen Oper unter Berücksichtigung nicht nur der beiden voraufgehenden Fassungen des Théâtre de la Foire und des Théâtre Italien, sondern auch Gozzis. Diese Oper, Gulistan ou le Hulla de Samarcande von POISSON DE LA CHABEAUSSIÈRE, dürfte als ein Reflex der Gozzi-vogue in Deutschland zu werten sein. - In Deutschland leitete die Übersetzung der Fiabe von F. A. CL. WERTHES, Theatralische Werke von Carlo Gozzi, 5 Bde., Bern, Typographische Gesellschaft, (1777-1779) den Erfolg des Hulla-Stoffes ein. Schon 1779 wartet GOTTER auf mit seiner Bearbeitung Das tartarische Gesetz, „ein Schauspiel mit Gesang in zwei Aufzügen" (Leipzig, Dyk, 1779). Zu den zahlreichen weiteren Bearbeitungen aus dem 19. Jahrhundert vergleiche H. HOFFMANN-RUSACK, Gozzi in Germany, N e w York, Columbia University Press, 1930. 71
haften. Erst als er sich bereit erklärt, Dardané sofort zu verstoßen, sieht der „Kadi" von einer Bestrafung wegen unerlaubten Weingenusses ab. Das Stück Lesages zieht seinen Reiz aus einem echten Harlekinproblem: sein ganzes Sinnen und Trachten zielt darauf, sowohl in den Genuß eines lukullischen Mahles als auch einer Nacht mit Dardané zu kommen. Als ihm dieses Sowohl-als-auch aber sehr erschwert wird, erweist sich die Anziehungskraft der Weinflasche stärker als die der Liebesnacht mit Dardané. Das leichte, freche Spiel Harlekins beherrscht das Stück, das mit satirischen Anspielungen auf die französische Ehemoral durchsetzt ist, aber sonst jeder tieferen Bedeutung entbehrt. Mit dieser scherzhaften, radikal unproblematischen Form des Rokokomärchens verbindet Gozzi wenig. Entschieden setzt er sich ab von der Nichtigkeit der Foire-Theater. Für die Fiabe werden die „robusta passione" und die „soda morale" zu Eckpfeilern einer Intrige, die Gelegenheit zu exemplarischen Gesten eines vollkommenen Menschentums bieten muß. Auf dem Hintergrund der Foire-Theater wird ganz besonders deutlich, wie sehr Gozzi daran liegt, Märchen und Commedia dell'arte in der Fiaba über das Niveau eines bloßen „divertimento" hinauszuheben. Besonders hart werden von dieser moralisierenden Tendenz die Masken betroffen, die ihre vorherrschende Stellung, wie sie noch im Arlequin Hulla zu beobachten ist, verlieren und zu Randfiguren des Bühnengeschehens werden. Gozzi selbst hat sich über die Entwicklung, die seine Reform der Commedia dell'arte nahm, durchaus Rechenschaft gegeben. Aus der Rückschau der Memorie inutili kann er den „maschere" ihren wahren Platz innerhalb der Fiabe zuweisen: „Non v'è chi non sappia che le maschere italiane . . . hanno in quelle (produzione sceniche) la più picciola parte, e che il fondo di soda morale e di robusta passione, appoggiato agli attori seri, fu la vera causa della loro restistenza" 18 .
4. D i e F i a b e a l s I n s t r u m e n t d e r g e s e l l s c h a f t s politischen Ideologie Gozzis Die Masken der Commedia dell'arte stammen aus unterschiedlichen Regionen Italiens: Brighella und Arlecchino verweisen auf die ländlichen Gegenden Bergamos, der Dottore hat seinen akademischen Grad in Bologna erworben und Pantalone verkörpert den venezianischen Kaufmann. Während in den Fiabe die regionalen Bindungen in Tartaglia, den Gozzi an Stelle des Dottore verwendet, in Truffaldin (Harlekin) und Brighella verblassen, wird Pantalone als Repräsentant Venedigs und des venezianischen Bürgertums zu einer zentralen und komplexen Gestalt. 18
Bd. I, S. 250.
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Guido Perale hat Pantalone eine eingehende Untersuchung gewidmet, die deutlich zeigt, innerhalb welcher Widersprüche sich die Deutung dieser „maschera" bewegt: „Pantalone è . . . la maschera meno maschera del teatro del G o z z i . . . è persona viva. Ed è la sola maschera che sia fuori di posto in tutto il teatro di Gozzi" 1 . Die Pantalone-Gestalt sprengt nach Perale den Gattungsrahmen der Fiaba, weil sie die traditionelle Stilisierung der Maske ins Groteske weitgehend zugunsten „realistisch" gesehener menschlicher Regungen aufgibt. Man könnte nun erwarten, daß Perale Pantalone als einen Fremdkörper innerhalb der Fiabe verurteilt, aber das Gegenteil ist der Fall: Pantalone erscheint als Gozzis gelungenste „maschera": „La bellezza tipica di Pantalone è innegabile in quasi tutte le opere teatrali del Gozzi" 2 . Andererseits hält Perale die Masken, die der Tradition der Commedia dell'arte entsprechen und in den Rahmen der Fiabe passen, f ü r mißlungen: Truffaldino „è ben lungi dall'essere un tipo vivo, è ben lungi dall'avere un'anima: tutta la sua vitalità è esteriore . . . come un fuoco d'artificio" 3 . Perale kommt so zu dem paradoxen Ergebnis, daß die Fiaba einen großen Teil ihres Erfolges eigentlich nicht sich selbst, sondern einem Fremdkörper zu verdanken habe. Aus diesem kurzen Resümee wird schon deutlich geworden sein, daß Perales Analyse und Deutung der Masken im Theater Gozzis auf Kriterien der Reform Goldonis fußt. Seine Untersuchung läuft auf den Nachweis hinaus, daß die Pantalone-Gestalt Gozzis keine „chiara volontà dell'autore" spiegele, sondern aus dem Theater Goldonis als besonders erfolgversprechend übernommen worden sei: „II vecchio veneziano è fratello del Pantalone Goldoniano" 4 . Damit aber wird Gozzi in der Gestalt der einzigen nach Ansicht Perales wirklich gelungenen Maske jedes eigene Verdienst abgesprochen. Wir können Perale nicht zustimmen. Gerade Pantalone, der bei Goldoni die Maske des geizigen, lüsternen und beschränkten Alten der Tradition der Commedia dell'arte abgelegt hatte 5 und sich als liebenswerter Anwalt des erstarkenden Bürgertums mächtig an die Seite des Adels drängte, 1
Pantalone e le altre maschere nel teatro di Carlo Gozzi, in: Miscellanea Flamini, Pisa, Mariotti, 1918, S. 551. 2 ebda., S. 556. 3 ebda., S. 550. 4 ebda., S. 556. 5 Vgl. VITTORIO MALAMANNI, Il teatro drammatico, le marionette e i burattini a Venezia nel secolo XVIII, in: Nuova Antologia, Roma, 16. Febr. 1897 (S. 628-631 zum Pantalone der Commedia dell'arte) und 1. März 1897 (S. 131-137 zum Pantalone Goldonis): „Dal sucido e rimbambito Pantalone dei commedianti improvvisi egli (Goldoni) trasse veramente un tipo d'onestà, di cuore, di buon senso; una tempra antica di mercante veneziano, vera, logica, umana . . . " (S. 132). S. außerdem CESARE LEVI, Il vecchio papà della commedia: Pantalone, in: Emporium, Bergamo, November 1919, Bd. 50, S. 253-265.
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mußte Gozzis Mißbilligung finden. Wenn auch Gozzi dem Pantalone Goldonis in vieler Hinsicht verpflichtet bleibt, so geht es ihm nichtsdestoweniger um dessen zielbewußte „Korrektur". Ein Beispiel mag verdeutlichen, wie sehr der Pantalone Goldonis Gozzi hellhörig machen mußte. In Goldonis La putta onorata versucht der Marchese di Ripaverde mit allen möglichen Mitteln, die ihm als Privilegiertem zur Verfügung stehen, Bettina, das ehrenhafte Mädchen aus dem Volke und Mündel Pantalones, zu verführen. Pantalone hat selbst ein Auge auf sein Mündel geworfen und steht insofern noch in der Tradition des verliebten Alten der Commedia dell'arte, wenngleich alle niederen Motive aus seiner Werbung um Bettina ausgeklammert sind. Bettina aber hat ihre Liebe dem jungen Pasqualino geschenkt, den der Graf, um leichter in den Besitz des Mädchens zu kommen, in seine Dienste genommen hat. Die erste Begegnung zwischen dem Grafen und Pantalone findet in dem Augenblick statt, als Pantalone eine heftige Auseinandersetzung mit Pasqualino führt, der um die Hand Bettinas anhält: Graf:
Olà, buon vecchio, portate rispetto a quel giovine, die è mio dipendente. Pantalone: Coss'è sto bon vecdiio? Chi xela eia, paron? El principe della Bóssina? Graf: Sono il Marchese di Ripaverde. Pantalone: E mi son Pantalon dei Bisognosi. 8
Pantalone und der Graf werden die eigentlichen Gegenspieler des Stücks, und selbstverständlich gelingt es Pantalone, die Machenschaften seines Gegners zu durchkreuzen. Seine eigenen Hoffnungen auf Bettina stellt er zugunsten Pasqualinos zurück, der sich schließlich als sein Sohn entpuppt. Es versteht sich, daß der moralisch geläuterte und gesellschaftlich erstarkte Pantalone eine besondere Beliebtheit in bürgerlichen Kreisen des venezianischen Publikums genoß. Die Entwicklung, die die Maske genommen hatte, war nicht mehr rückgängig zu machen. Es galt, die gefährlichen Tendenzen, die sie verkörperte, in harmlose Bahnen zu lenken. Erminia Borghesani beobachtet in den Fiabe eine Wandlung Pantalones vom „mercante", der er in der Commedia dell'arte und bei Goldoni gewöhnlich war, zum „cittadino", der nicht mehr einen Stand, sondern das gesamte venezianische Volk vom Adel bis zum Proletariat repräsentiert. Borghesani deutet diese Entwicklung als Echo auf die Dekadenz der Handelsmacht Venedig; Pantalone „non ha dimenticato le geste dei padri antichi, ma conscio che il presente è tutt'altro che glorioso, non osa imitarli nelle parole e nei gesti, perché sa di non poterlo fare nelle opere" 7 . Perale ' Tutte le opere di Carlo Goldoni, a cura di Giuseppe Ortolani, Verona, Mondadori, 1958 ff., Bd. II, S. 458. 7 Carlo Gozzi e l'opera sua, Udine 1904, S. 156. 74
bagatellisiert diese Unterscheidung von „cittadino" und „mercante" als „troppo sottile" 8 , denn beide seien in der Handelsstadt Venedig im Grunde identisch. U n d doch hat Borghesani etwas Richtiges gesehen, wenngleich uns die Deutung ihrer Beobachtung verfehlt erscheint. Pantalone wird in der Märchenlandschaft der Fiabe zum Vertreter Venedigs, weil Gozzi diese beliebteste Gestalt seines Rivalen von einer zu engen Bindung an ein aufgeklärtes Bürgertum isolieren mußte. Es galt, Pantalone ideologisch unschädlich zu machen. Aufschlußreich f ü r Gozzis Einstellung zum Kaufmannsstand sind einige Änderungen, die er gegenüber der Quelle der Hulla-Geschichte in seinen Pitocchi fortunati (s. o. S. 70 f.) vornimmt: im Märchen ist der Held Couloufe, der beim König in Ungnade fällt, das Land verlassen muß und dabei seine Geliebte Dilara verliert, ein reicher Kaufmannssohn. Für Gozzi durfte der Held Taer, der sich in heroischer Weise im Dienste seiner Liebe körperlichen Folterungen aussetzt, nicht dem Kaufmannsstand angehören, dessen Bindung an das Geld keine Behandlung im hohen Stil zuließ. Gozzi läßt seinen Taer darum „al grado più sublime" aufsteigen und das Amt eines königlichen Visirs übernehmen. Im Märchen wird die schöne Dilara einem jungen und reichen K a u f mann zur Frau gegeben. Hier sah Gozzi die Gelegenheit, den Gegenspieler des noblen Taer und damit den Kaufmannsstand ins Karikaturistische zu verzerren. Er macht ihn zu einem lächerlichen Alten der Tradition der Commedia dell'arte (Tartaglia), der nur in der Kategorie des Geldes denkt. Es handelt sich hier nicht mehr um den positiv gewerteten Reichtum des orientalischen Märchens, der nur ein äußeres Indiz f ü r den inneren Wert des Helden ist, sondern um den Reichtum des erstarkenden Bürgertums, der als Selbstzweck gesehen und damit entwertet wird. In Weiterführung einer alten Tradition des Stegreifspiels, die auch Molière aufgriff, kommt der Geiz des alten Tartaglia in Konflikt mit seiner Leidenschaft zu Zemrude. In der Gestalt des geizigen, verliebten, skrupellosen Alten wird der Kaufmannsstand zielbewußt herabgesetzt. In den übrigen Fiabe hat Gozzi vermieden, es zu einer ähnlichen Konfrontation zwischen Adel und Bürgertum kommen zu lassen. Die antibürgerliche Satire, die sich in der Marfisa bizzarra in der Gestalt des neureichen Terigi mit deutlichem Zeitbezug aussprechen konnte, mußte selbst in der kaschierenden Stilisierung der Maske das bürgerliche Publikum der Fiabe verletzen. D a r u m hat Gozzi in den Pitocchi darauf verzichtet, die Rolle des lächerlichen und odiosen Kaufmanns dem von Goldoni gefeierten Venezianer Pantalone zu übertragen, dem sie in der Tradition der Commedia dell'arte eigentlich zugestanden hätte. Gozzi sieht ab von
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Pantalone e le altre maschere nel teatro di Carlo Gozzi, a. a. O., S. 553. 75
frontalen Angriffen und kann nicht umhin, sich auf gewisse Kompromisse mit seinem bürgerlichen Publikum einzulassen. Pantalone, der bei Gozzi jedem bürgerlichen Beruf fernsteht, erfährt als Venezianer geradezu höchste Auszeichnungen: wenn es die Märchen vorläge gestattet, wird er Träger einer hohen Staatswürde, die sonst das Privileg des Adels ist. So übernimmt er in den Pitocchi fortunati die Rolle des durch Intrigen in Ungnade gefallenen königlichen Visirs Mouffac. Auch in der Donna serpente geht Pantalone in seiner Eigenschaft als Erzieher des Prinzen Farruscad aus dem Visir Muezin der Märchenvorlage hervor. Nicht anders im Zeim, wo Pantalone die Rolle des Visirs Mobarec zufällt. Wo die Märchenvorlage keinen solchen Anhalt zur Auszeichnung Pantalones bot, verschaffte Gozzi ihm eine Minister- oder Erzieherrolle. Die auf diese Weise vernebelte Bindung an den Bürgerstand führt dazu, daß jede Konfrontation Pantalones mit dem Adel unmöglich wird. Pantalone vertritt an den Märchenhöfen der Fiabe die „Serenissima" als Ganzes, nie aber die Interessen des Bürgertums gegen den Adel. Im Gegenteil: Pantalone wird zum aufrichtigsten, ergebensten, vorbildlichsten Minister seines Königs9. Seine Ergebenheit geht so weit, daß er im Zeim seine einzige Tochter Sarchti im Interesse des Königs einem scheinbar grausamen Schicksal überläßt. Der erfolgreiche Rivale des priviligierten aber korrupten Adels in den Komödien Goldonis wird zum exemplarischen Vorbild der Einfügung in die bestehende Gesellschaftsordnung. Daß die Auszeichnung Pantalones mit hohen Staatsämtern nur vordergründig ist und daß er trotz allem in Wirklichkeit durch eine unüberwindbare Mauer vom Adel getrennt bleibt, kommt in der klaren stilistischen Absetzung der komischen Maske vom verklärten Märchenhelden zum Ausdruck. Während die Märchenprinzen auf ausgedehnten Reisen ihren Lebenshorizont weiten und ihr Schicksal mit dem von Staat und Volk zusammenfällt, bleibt Pantalone trotz seiner Ministerwürden und seines Umgangs mit übernatürlichen Wesen in die häusliche Enge seiner bürgerlichen Existenz gebannt. Zwar bricht sich der übersteigerte Idealismus der Märchenhelden ironisch im „gesunden Menschenverstand" Pantalones, wenn er zum Beispiel die phantastische Liebe des Prinzen Farruscad zu einem Reh, hinter dem sich die Fee Cherestani verbirgt, folgendermaßen verurteilt: „Figurarse! tor per muger una cerva! Xela seguro, che un dl o l'altro no la lo fazza deventar un cervo anca ella? Da galantomo,
9 Märchenkönig und Märchenprinz stehen in den Fiabe stellvertretend für die Führungsschicht des Adels, die allein Aufnahme in den „Maggior Consiglio" als der tragenden Säule der republikanischen Verfassung des venezianischen Staates finden konnte. Monarchische Ideen hat der Traditionalist Gozzi selbstverständlich nicht propagieren wollen.
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me trema sempre el cuor de vederghe a spontar i corni. Vorla die diga? . . . Mettemose in viazo. Qualche buso ghe sarà da andar fora de sto inferno. Andemo a trovar el povero vecchio Atamulc, so pare. Chi sa, quanti pianti che l'ha fatto per ella! Chi sa, se el xe più vivo! povero infelice! Chi sa, se ghe xe più regno" 10 . Gleichzeitig aber rückt damit die allem Heroisch-Erhabenen verschlossene bürgerliche Enge Pantalones in ein komisches Licht. Pantalones Sprache ist das Venezianische, und zwar eine volkstümlich-derbe Umgangssprache, durchsetzt mit „pantalontate", die der Tradition der Maske entstammen. Innerhalb der bürgerlich-häuslichen, familiären Welt darf Pantalone seine Maske allerdings manchmal vergessen und in seiner Eigenschaft als Vater geradezu „tragische" Züge im Sinne des bürgerlichen Rührstückes annehmen. Die „Tragik" Pantalones resultiert dabei nie aus der Spannung zwischen Adel und Bürgertum, sondern umgekehrt aus der bedingungslosen Ergebenheit des Vasallen seinem Lehnsherrn gegenüber. Im Interesse der Königsfamilie, die von einem bösen Fatum verfolgt wird, ist Pantalone bereit, seine einzige Tochter einem grausamen Los auszuliefern, wenn er auch selbst unter der Last des Unglücks zusammenbricht: „ O i m è . . . Maestae, questo è un colpo die me leva la vita, (cade in svenimento . . . ) " . Seiner Verzweiflung fehlt jede Stilisierung ins Groteske. Sie wird menschlich-natürlich und dürfte das Publikum zu Tränen gerührt haben: „Chi me fa revegnir? Chi me chiama a una vita die me xe odiosa più della m o r t e ? . . . Fia mia, ho zurà de sacrificar tutto per el ben de sto prencipe; no averia mai credesto, che el sacrefizio cascasse sora de t i . . . No te posso salvar. Devo darte in preda a un orrido mostro, a un spirito infernal, o vederte a perir lacerada dall'istesso mostro sotto i miei o c c h i . . . Ti no ga più pare, mo no go più fia, e no so, come no se averza la viscere dalla passion, dal dolor, (piange)" 11 . Ausgehend von dieser Öffnung zum Pathetischen hin, spricht Vittorio Malamanni von einem dritten Pantalone, „un Pantalone aussurdo, che piange sempre" 12 , der sich sowohl von den Vorbildern der Commedia dell'arte als auch von Goldoni absetze. Es scheint uns aber, daß hier Gozzi nur Tendenzen, die in den bürgerlichen Rührkomödien Goldonis schon angelegt waren, intensiviert hat. Die stilistische Mittellage gestattete es Gozzi, Pantalone nach den Erfordernissen der jeweiligen Situation leicht bis derb komische oder pathetische Züge zu verleihen. Wenn Gozzi Pantalone ideologisch entwaffnet hat, so dürfte er sein Publikum entschädigt haben, indem er im Zuge der Comédie larmoyante Pantalone die Würde des bürgerlichen Pathos zuerkannte. 10 11 12
La donna serpente, in: Opere (Rizzoli), S. 350. Zeim re dei geni, ebda., S. 852 ff. II Settecento a Venezia, 2 Bde., Torino 1891/92, Bd. I, S. 163.
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Die Funktion Pantalones innerhalb der Fiabe läßt sich durch einen Blick auf seine Tochter Angela (Il re cervo und 1 pitocchi fortunati) oder Sarchè (Zeim) verdeutlichen. Auch der Tochter Pantalones fallen hohe Auszeichnungen zu: In den erwähnten Fiabe wird sie fürstlichen Prätendentinnen vorgezogen und zur Gemahlin des Königs erhoben. Die starren Standesgrenzen scheinen mit Angela flexibler zu werden. Angela muß als ideales Gegenbild zur neuen gesellschaftlichen Stellung der Frau gesehen werden, so wie sie sich im Rahmen der Emanzipationsbewegung im 18. Jahrhundert herausgebildet hatte. Folgendermaßen beschreibt Giuseppe Ortolani den allgegenwärtigen, bestimmenden Einfluß der Frau auf das öffentliche Leben in Venedig und ihr Spiegelbild in Kunst und Literatur: „L'influsso della donna si avverte in ogne d o v e ; . . . non la ritroviamo soltanto nelle feste pubbliche nelle chiese ne' conventi negli oratori ne' teatri ne' casini ne' cafè ne' ridotti nelle Accademie, fra i poeti fra gli scienziati fra i p i t t o r i , . . . ma gli avvenimenti del tempo, i libri, ogni più piccolo foglio rigato sono pieni di lei. . . Le vergini di Vittore Carpaccio e di Giovanni Bellini, dal volto consacrato all'estasi e alla fede, dai puri occhi mattutini innamorati dell'alba, dalla parola più dolce d'una preghiera, dalle mani caste congiunte sul timido petto nascente, sono dileguate lontano, come piccole fate impaurite del sole, fuggendo per entro i primi secoli di Venezia: la Repubblica al tramonto più non ci mostra che le dame civettuole languide sensuali vanitose artificiose ne' pastelli di Rosalba Carriera e in qualche quadretto di Pietro Longhi o del Guardi. Nate al piacere, vivono del piacere: la loro grazia la gaiezza la cultura l'intelligenza la leggerezza la corruzione stessa ci seducono" 13 . Gozzi verstand die Emanzipation der Frau und die damit bedrohte hierarchische Ordnung der Familie als Teil jener umfassenden Bewegung, die sich die Zersetzung der tradierten gesellschaftlichen Ordnung zum Ziel gesetzt hatte. Unablässig geißelt er darum in den Sudori d'Imeneo und in anderen Werken die lockere Ehemoral seiner Zeit, die ihre kurioseste Frucht im „cavaliere servente" der verheirateten Dame gezeitigt hat 14 . Ebenso entschieden bekämpft er das stilisierte Spiegelbild der modernen Frau in den Komödien Goldonis und den sentimentalen Briefromanen Chiaris I Romanzieri dall'eroiche imprese, dalle battaglie, e da' sublimi amori, più non si nominavan nel paese [Karls des Großen] 13
G. ORTOLANI, Settecento, Per una lettura dell'abate Chiari, a. a. O., S. 61 f. Nichtsdestoweniger zählt das Kapitel „I miei amori" der Memorie inutili zu den pikantesten Liebesgeschichten des 18. Jahrhunderts. Es wurde übersetzt von WILLY KASTIER, Venetianische Liebesabenteuer. Aus den „Memorie inutili" Carlo Gozzis ..., Leipzig 1'905. 14
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co' fatti de' Baron, delle Marchese, perchè i moderni eran usciti fuori die mille volte si tenean migliori, per certe grazie, e casi più alla mano, e ancor più confacenti al corpo umano. Leggeano in quei, siccome entro alle mura delle Vergini Sacre ivan gli amanti, come fuggian da quelle alla ventura Le Donzelle ivi poste, andando erranti, E vestite, come Uomo, alla sicura dormian co' maschi, del fatto ignoranti, e il loro imbroglio al terminar de' mesi, ed altri casi all'uso de' Francesi.15
Die „bizarre" Marfìsa, in der Tradition des italienischen Ritterepos 16 eine geschworene Feindin der Liebe, die schon bei Boiardo ihr Geschlecht als Frau verleugnet und Männerkleider trägt, verfällt über der Lektüre zeitgenössischer Romane ins entgegengesetzte Extrem und wird zu einer grotesken Karikatur der „libertinen" Frau der empfindsamen Literatur. Angela als das ideale Gegenbild der Marfisa verkörpert ein rationalistisches, bürgerliches Tugendideal mit betont sinnenfeindlicher Note. Sie verachtet jedes sinnliche Band zwischen Eheleuten und setzt an seine Stelle eine vernünftig gelenkte Zuneigung, die die Garanten ihres Glücks in der tugendhaften Unterwerfung unter den Gatten sieht: „S'ubbidisca allo sposo . . ." 17 . Als ihr der kongeniale König Usbec in I Pitocchi fortunati folgenden rhetorischen Vorwurf macht: Dunque gli affetti tuoi non han sorgente da simpatia; son d'un interno figli avvezzo a rassegnarsi. Ah, poco m'ami
antwortet Angela voller Pathos: Oh d'ogni sposa tal fosse l'amore per il compagno, e meno simpatia, anzi pur capriccioso umano istinto, variabile spesso, avesse parte delle spose nel cor! Quanta quiete saria fra coniugati, e quanto amore!18
In Angela sind alle Affekte zum Erlöschen gekommen. Von ihr ist es nur noch ein Schritt zur „statua antica" des Calmon im Augellin belverde, die die Tugend symbolisiert, oder zu Suffar, der sich auf der Sudie nach
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La Marfisa bizzarra, 1,14-15. Zur Gestalt der Marfisa in der Tradition des Ritterepos in Italien siehe G. ZICCARDI, Forme di vita e d'arte nel Stetcento, Firenze, 1931, S. 125 FF. " I pitocchi fortunati, in: Opere (Rizzoli), S. 568. 18 ebda., S. 553. 18
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einer geheimnisvollen Statue, die alles an Reichtum und an Schönheit überbietet, verzehrt: am Ziel seiner Wünsche angelangt, enthüllt sich die Statue als die in vollkommener Weise tugendhafte Tochter Pantalones, die hier den Namen Sarchè trägt (Zeirn). Das Tugendpathos Angelas bleibt nicht beschränkt auf den familiären Bereich. Eine gelassene, verstandesmäßige Analyse des Lebens gestattet ihr, alle irdischen Güter als vergängliche Objekte der „vanitas" gering zu achten. . . . io riconosco nelle ricchezze, negli alteri alberghi, e più ne' seggi, ombre fallaci, e stolte dell'umana ingordigia, e venen crudo per l'alme nostre. Poca terra basta a sostenerci, pochi panni bastano a coprir queste membra, e poco cibo basta a nutrirle, insin che l'punto giunga del scioglimento loro . . .. 19
Eine restlose Ergebenheit in den Willen des Himmels, der den verbindlichen Autoritäten des Vaters und des Gatten übergeordnet ist, macht es Angela leicht, auch die härtesten Schicksalsschläge wie z. B. die Metamorphose ihres Gatten vom Prinzen zum Bettler gelassen hinzunehmen. Io mi contenterò di questo sposo, die dal ciel riconosco, e povertade non mi dorrà giammai. Dona il cielo tutto; tutto il ciel toglie. II cielo è d'ogni legge umana superior . . . 20
Angela ist es, die in 1 pitocchi fortunati ihren Vater Pantalone wegen mangelnder Ergebenheit in den Willen der Vorsehung zurechtweist, als er aus Verzweiflung über das unglückliche Schicksal seiner Tochter den Freitod sucht. Grundlage ihres bürgerlichen Tugendheroismus wird die völlige Selbstentäußerung, die stoische Unterwerfung unter die Verfügungen des Vaters, des Gatten und des Himmels. Damit wird die eigentliche Bedeutung des Tugendheroismus Angelas und ihres Vaters Pantalone sichtbar. Diente die moralische Läuterung Pantalones in den Komödien Goldonis zur Aufwertung des Bürgertums gegenüber dem korrupten Adel, so wird sie bei Gozzi umgedeutet zu einer Tugend der bedingunglosen Unterwerfung. Pantalones ganze Lebensphilosophie resümiert sich in folgenden Ermahnungen an seine Tochter Sarchè, die sich in Aufopferung für ihren König einem fürchterlichen Schicksal widerstandslos überlassen soll: „Rassegnemose al nostro destln.
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ebda., S. 552. ebda., S. 557.
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Se ti me xe Stada obbediente per el passa, rassegnate a sta estrema obbed i e n z a ; . . . né gavemo gnente a sto mondo, che per el so prencipe no se deva sacrificar" 21 . Man sieht, die Erhebung Angelas auf den königlichen Thron als Belohnung ihrer Tugend hat nur eine vernebelnde Funktion, die das bürgerliche Publikum mit dem Exemplum der bedingungslosen Unterwerfung und Ergebenheit befreunden soll. Die wahre Königin der Fiabe aber ist Turandot, die nicht mehr in das abstrakte Vollkommenheitsschema der bürgerlichen Frau paßt. Es läßt sich kaum ein größerer Gegensatz denken als der zwischen Angela und der stolzen, grausamen Prinzessin von China, die sich über den Ältestenrat, den königlichen Vater und gar das Sittengesetz selbstherrlich hinwegsetzt. Mit seiner Turandot stellt sich auch Gozzi in die Reihe derer, die dem Charme der selbstbewußten, kapriziösen Venezianerin ihrer Zeit Tribut zollen. Und doch wäre es verfehlt, Turandot im Rahmen der Emanzipationsbewegung des 18. Jahrhunderts als eine Frau zu verstehen, die ihre Würde gegen eine erniedrigende, konventionelle Liebes- und Ehemoral verteidigt und daher in Konflikt mit dem Sittengesetz gerät. Diesen Schritt hat Schiller mit seiner Bearbeitung getan. Die Turandot Gozzis hingegen bedeutet keinen Widerruf gegenüber der Angela. Das Gegensatzpaar Turandot-Angela muß vielmehr als Ausdruck des Nebeneinanders von bürgerlicher und aristokratischer Moral verstanden werden. Nicht Angela, sondern Turandots glanzvoller sinnlicher Schönheit und faszinierender Größe gilt Gozzis Liebe und Bewunderung. In drei aufeinanderfolgenden Fiabe macht er Prinzessinnen zu Titelheldinnen, die als aristokratische Alternative zur Angela des Re cervo (2. Januar 1762) zu gelten haben: Turandot (22. Januar 1762), La donna serpente (29. Oktober 1762) und La Zobeide (10. August 1763). Wenn wir von dem bürgerlichen Rührstück Doride, o sia la rassegnata (21. Juni 1762) absehen, wo Züge der Angela in die Titelheldin aufgenommen sind, so kehrt Gozzi erst mit den Pitocchi fortunad (28. Juli 1764) zur Angela-Gestalt zurück, stellt ihr aber die Rivalin Zemrude zur Seite, die mit ihrer leidenschaftlichen Natur Angela in den Schatten rückt. Ähnlich verfährt Gozzi im Zeim, wo die königliche Zelica sich von Sarché als Tochter Pantalones kontrastreich abhebt. Angela konnte als Bürgertochter nie zur Würde einer Titelheldin in den Märchenspielen gelangen, deren Aufgabe ja gerade darin bestand, das Bürgertum in seine Grenzen zu verweisen. Sieht Angela als Symbol bürgerlicher Resignation und Selbstentsagung ihre letzte Lebenserfüllung erst im Jenseits, derart daß ihr Tugendpathos Züge eines mittelalterlich anmutenden „contemptus mundi" erhält, geht
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Zeim re dei geni, ebda., S. 854. 81
es Turandot um eine diesseitsbezogene glanzvolle Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Physische Schönheit, Schärfe des Verstarides, herrscherliche Willkür stellen die zentralen Werte ihrer aristokratischen Moral. Der König und der Ältestenrat staatlicher und kirchlicher Würdenträger müssen tatenlos zusehen, wie zahlreiche fürstliche Brautwerber edelsten Blutes dem Stolz Turandots geopfert werden, die sich gegen den Gedanken an die Unterwerfung unter den Willen eines Mannes kompromißlos auflehnt. Am Gegensatzpaar Angela-Turandot wird in besonders schroffer Weise deutlich, wie scharf Gozzi bürgerliche und aristokratische Moral zu trennen suchte. Auch die Liebe zwischen Prinz Farruscad und der Fee Cherestani (Donna Serpente) läßt sich mit Maßstäben der bürgerlichen Moral nicht mehr erfassen: auf der Jagd erblickt Farruscad ein wunderschönes Reh, dem er sogleich in Liebe verfällt. Als das scheue Tier in einen See zu entkommen versucht, stürzt auch Farruscad sich ohne Zögern in die Fluten. Auf dem Grund des Sees gelangt er in einen Palast, wo das Reh ihm als Fee Cherestani entgegentritt. Sieben Jahre lang vergißt Farruscad seine Angehörigen nebst Königreich, um fortwährend in petrarkisierenden Versen die Schönheit Cherestanis zu feiern. Den ganzen Abstand dieses Schönheitskults vom bürgerlichen Tugendkult macht Pantalone sichtbar, wenn er die preziösen Metaphern in burlesker Weise parodiert: Farruscad Pantalone
Farruscad: Pantalone: Farruscad: Pantalone:
(in transporto, da una parte) : Belle chiome, ove siete? io v'ho perdute. (dall'altra parte . . . ) : Zucca pelada maledetta, con quattro cavelli anui sulla coppa, e forsi con della tegna, scoverzite per carità. Occhi, stelle brillanti; ahi dove siete? Occhi infossai, come quelli del cavallo del Gonella, pieni di sgargagi, copai, lasseve veder. Bocca, rubini ardenti, bianche perle, più non vi rivedrò! dii mi v'ha tolto? Zenzive paonazze, con quattro schienze marze; lavri scaffai, bocca de sepia col negro, in to tanta malora, lasseve veder.22
Und doch setzt sich Cherestani in bezeichnender Weise von ihrer unmittelbaren Vorgängerin Turandot ab. In ihrer selbstherrlichen Größe, die die höchsten Repräsentanten der etablierten Ordnung kurzerhand ignorierte, bot Turandot eher ein gefährliches Exemplum für ein bürgerliches und auch adeliges Publikum. Es galt, der Steigerung der aristokratischen Persönlichkeit ins Heroische eine „moralische" Wende zu geben, ohne dadurch in das platte Tugendpathos bürgerlicher Provenienz zu verfallen. Waren die dramatischen Konflikte der Turandot ausschließlich in den Helden selbst verankert, so tritt jetzt an die Stelle aufeinanderprallender 22
Opere, (Rizzoli), S. 347. 82
Affekte das Fatum als ganz und gar äußerliche Ursache des Konflikts: die beiden Liebenden müssen infolge höherer Gewalt eine Reihe leidvoller Prüfungen bestehen, bevor sie endgültig miteinander vereint werden. Cherestani wird nur dann vom Feenreich freigesprochen, wenn Farruscad trotz übermenschlicher Prüfungen in seiner Liebe nicht schwankend wird. Die Fiaba kommt auf ihren dramatischen Höhepunkt, als Cherestani unter dem Zwang der Gesetze des Feenreiches in Gegenwart des vor Schreck erstarrten Gatten ihre beiden verzweifelt sich wehrenden Kinder scheinbar den Flammen preisgibt. Aber erst mit der Zobeide findet Gozzi die Formel, die seinen Vorstellungen von der moralischen Sublimierung seiner Märchenhelden entspricht: hatten im Corvo und in der Donna Serpente die Prüfungen der königlichen Helden einen mehr privaten Charakter, insofern sie der Verherrlichung der brüderlichen oder ehelichen Liebe und Treue galten, so müssen Zobeide und ihre Schwestern als vollkommene Seelen eine Schuld ihres königlichen Vaters abtragen, die nicht nur die Familie, sondern auch das Reich ins Elend gestürzt hat. Damit aber ist der selbstherrlichen Willkür der Turandot der Boden unter den Füßen entzogen. Prinz und Prinzessin ziehen aus ihrer Liebe die Kraft zu einem heroischen Altruismus, der im Dienste des ganzen Volkes steht. So im Mostro turchino, wo die leidvollen Prüfungen von Prinzessin Dardanè und Prinz Taer die Rettung des Reichs vor der Vernichtung durch ein grausiges Fatum ermöglichen, das von den Missetaten der königlichen Stiefmutter - einer ehemaligen Sklavin - verschuldet wurde. Die konsequenteste Realisierung des so konzipierten Märchenspiels ist die letzte Fiaba Gozzis, Zeim re dei geni, die als Summe seines politischen Denkens zu gelten hat. Der Geisterfürst Zeim, hinter dem sich Gozzi verbirgt, möchte das von einem schweren Fatum heimgesuchte Reich Suffars, das die sinkende Republik Venedig symbolisiert, vor dem Untergang retten. Die Ursache der Dekadenz ist in einer Generationen zurückliegenden Familienschuld des Königshauses zu suchen. Wenngleich die Rettung des Reiches nur als gemeinsames Werk aller Stände denkbar ist, - Pantalone opfert seine Tochter Sarchè - , so hängt das künftige Heil doch vornehmlich von der Herrscherfamilie ab, die alle edlen Kräfte gegen die Dekadenz aktivieren muß. In diesem Sinne stellt Zeim die königlichen Geschwister Suffar, Zelica und Dugmè vor wahrhaft übermenschliche Prüfungen, deren heroischer Altruismus einer glücklicheren Zukunft des Volkes als Fundament dienen soll: Io, forso invano, questi tre germi tribolando, spero d'impedir la miseria. Nella serie della lor stirpe io guardo. A' loro figli gioverà il loro esempio, e forse ancora scorrerà innanzi decadenza. Io tento
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l'unico mezzo d'una sferza acerba per destar la virtù, ch'è il perno vero della felicità . . . 2 3 (S. 796).
Es gilt, noch einen Blick auf das „Volk" zu werfen, das von den Masken Truffaldin, Brighella und Smeraldina repräsentiert wird. Schon in der traditionellen Commedia dell'arte entsprach der sozialen Stellung der höheren Masken (Pantalone und Tartaglia) eine feinere Komik, die sich von den groben Späßen der Zanni abhob. Mit der moralischen Aufwertung Pantalones, der in Ausnahmefällen sogar „tragische" Züge erhalten kann, hat sich der Abstand zu Truffaldin noch vergrößert. Hinzu kommt, daß Pantalone zwar venezianisch spricht, aber nur noch selten improvisiert. In dieser so abgesteckten Aufwärtsbewegung Pantalones innerhalb der bestehenden Ordnung spiegelt sich das Maximum an Konzessionen, das Gozzi dem aufstrebenden Bürgertum zubilligen konnte. Die niederen Masken (Truffaldin und Brighella) bleiben im Sinne der Tradition dem „animalischen" Bereich verfallen und werden ins BurleskGroteske stilisiert. Und doch ist von der Aufwertung der Commedia dell'arte durch Gozzi auch die animalische Welt der niederen Masken in gewisser Hinsicht mit betroffen. Indem Gozzi die „lazzi" und die „burle" zu einem „divertimento innocente" macht, also die Bereiche des Geschlechtlichen und der Verdauung ausklammert, „zivilisiert" er die zügellosen Masken der Tradition. Auch Ansätze zur Humanisierung Truffaldins sind zu beobachten, wenn sich rührende Elemente in die animalische Natur der Maske einschleichen: als Peiniger der Sklavin Dugmè gerät er, wenn auch immer in Buffo-Manier, in einen echten Konflikt zwischen selbstlosem Mitleid und materiellen Interessen (Zeim, II, 2). Aber wir können Truffaldin nicht die Bedeutung zusprechen, die Starobinski gerne in ihm finden möchte: „Ainsi Truffaldino, à la fois balourd et providentiel, apparaît comme celui qui comproment tout (qui agit de travers), et en même temps comme celui qui intervient presque inconsciemment pour tout sauver (pour tout remettre dans le droit chemin)." Truffaldino wird von Starobinski in die Familie der Shakespeareschen Narren hineingestellt, in eine Tradition „qui attribue au bouffon, au clown, les fonctions ambiguës d'un fauteur de désordre et d'un sauveur, d'un auxiliaire surnaturel, qui ignore la véritable portée de ses actes" 24 . Starobinski stützt sich vor allem auf die satirische Märchenposse L'Amore delle tre melarance, die zweifellos als „inezia puerile" Truffal23 Opere (Rizzoli), S. 796. Neben der sdion erwähnten Quelle (s. o. S. 68) entnahm Gozzi die Anregung zur Canzema-Handlung der Histoire du Prince Séyf el Mulouck, in: Les mille et un jour, a. a. O., Bd. III, S. 1 6 2 - 1 9 9 . Die Quellen der Dugmè- und Zelica-Handlung sind unbekannt. 24 Ironie et mélancholie: Le théâtre de Carlo Gozzi, a. a. O., S. 24.
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dino einen besonderen Platz einräumen mußte. In den eigentlichen Fiabe aber entspricht die Bedeutung Truffaldins strikt seiner sozialen Stellung. Die Wiederherstellung der gestörten Ordnung wird vornehmlich den Märchenprinzen- und Prinzessinnen anvertraut. Pantalone und Angela mit ihrer bürgerlichen Tugendmoral tragen nicht unerheblich zum Gelingen der großen Aktionen der Helden bei. Truffaldins Beitrag indessen beschränkt sich auf einige äußerliche Handlangerdienste, so wenn er als Vogelfänger den Magier und Deus ex machina Durandarte in Gestalt eines Papageis in das königliche Schloß bringen darf (Re cervo) oder wenn er mit dem Zauberspiegel des Geisterkönigs Zeim in Sarch£, der Tochter Pantalones, das gewünschte Modell moralischer Vollkommenheit findet. Jede Abgründigkeit und Doppelgesichtigkeit in der Art der Shakespeareschen Narren fehlt Truffaldino. Unter den niederen Masken hat Smeraldina ihren Maskencharakter weitgehend verloren. Im Augellirt belverde kann sie geradezu als vorbildliche Frau und Mutter aus dem Volk gegen die durch materialistische Strömungen der Aufklärungsmoral irregeleiteten Königskinder Barbarina und Renzo ausgespielt werden, wobei die Stilisierung ins Burleske einer wohlwollenden Komik Platz machen muß. Die so zeitweise a la Goldoni auf den Kopf gestellte Ordnung wird aber in dem Augenblick wieder ins Gleichgewicht gebracht, als die beiden irregeleiteten Kinder auf den rechten Weg zurückfinden. Es zeichnet sich deutlich die Tendenz ab, Smeraldina zur idealen Repräsentantin der „Volks"-Moral zu machen, so wie Angela die bürgerliche Moral verkörperte. Allerdings stellt sich das stilistische Ordnungsgefüge der Fiabe, das dem „Volk" nur eine burleske Rolle zuerkannte, einer „ernsten" Behandlung der Volksmoral entgegen. Smeraldinas Vergangenheit als Maske komplizierte die Situation noch. Im Falle der bürgerlichen Angela, deren Vollkommenheit durch keine Maskenvergangenheit getrübt war, hatte Gozzi das stilistische Problem - Angela spricht als einzige Vertreterin des Mittelstandes immer in einer gehobenen Verssprache durch eine eheliche Verbindung mit dem König umgehen können. Die Fiabe konnten aber nicht darauf verzichten, auch dem unteren Stand seine Rolle innerhalb der gegebenen Ordnung mit aller Deutlichkeit vorzuexerzieren. Im Zeim wird darum der Part des Volkes von der Königstochter Dugme übernommen, die als Kind ausgesetzt wurde und in einer einsamen Hütte als Sklavin aufgewachsen ist. Mit diesem Kunstgriff konnte Gozzi frei vom Zwang der komischen Stilisierung dem „Volk" in pathetischen Versen und Gesten seine Pflichten als Untertan vorhalten. Ein alter Einsiedler, „austero molto", hat Dugm£ mit den verbindlichen Normen der gesellschaftlich-staatlichen Ordnung bekanntgemacht: Ei sempre mi dicea,. . . che sacra, non intesa Provvidenza
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tutto dispone, e die mirabil opra era de' grandi il posto, e grado a grado veder le genti, insino alla minuta plebe, operar subordinate a' primi, era cosa celeste . . . Auch den Platz, den Dugmè in dieser strengen hierarchischen Ordnung ohne Aussicht auf Änderung einnimmt, hat ihr der weise Alte genauestens definiert: . . . dicea, die a servir nata era, e a' patimenti, e ch'io dovessi rassegnarmi a' voler degli alti Numi. Rispetta, figlia, i grandi, amagli e soffri nella tua istituzion quanto par grave, e l'invidia sopprimi entro al tuo seno.25 Ausdrücklich warnt der Einsiedler sie vor den „sofistici talenti" des Jahrhunderts, die diesen „bell'ordine, posto dal ciel fra noi", aufheben wollen und sich mit dem W o r t „libertade" in die Herzen des Volkes einschmeicheln. Das Ergebnis kann nur das Chaos sein voller Verbrechen und Gottlosigkeit, Unfrieden und Leid. Dagegen garantiert die göttliche Ordnung das Glück eines jeden einzelnen innerhalb der Grenzen, die ihm mit seinem Stand gesetzt sind. Die Erziehung der Sklavin Dugmè ähnelt deutlich den bürgerlichen Moralvorstellungen Angelas. D e r Unterschied besteht nur darin,
daß
Dugmè, die als Sklavin unerkannt an ihre Schwester Zelica verkauft wird, zahlreiche Erniedrigungen und Züchtigungen erleidet, die sie nicht nur geduldig hinnimmt, sondern die ihr eine willkommene Gelegenheit bieten, ihre unerschütterliche Liebe zu ihrer Herrin zu demonstrieren Zelica:
Dugmè :
25
. . . Io vo' saper dalla sincerità della mia schiava, se dopo un lungo corso di tormenti, sofferti per cagion della padrona, abbia nessun abborrimento, e odio concepito nel cor contro di lei. Abborrimento, ed odio! Ah, questa sola è per Zirma (Name Dugmès als Sklavin) fedel cruda sventura. Dunque nel tempo fortunato, in cui schiava fui vostra, abilità non ebbi di farvi certa del mio amor? Deh in grazia caricatemi ancor di maggior pesi, datemi occasion d'assicurarvi coll'opre, e con la vita del mio affetto.
Opere (Rizzoli), S. 819 f. 86
Io sofferir non so die nel cor vostro possiate sospettar della mia fede, possiate dubitar, ch'io non v'adorf. (piange)2®
Prinzessin Zelica hat die Sklavin durch Mißhandlungen härtesten Prüfungen unterziehen müssen, weil nicht zuletzt von ihrer unverbrüchlichen Treue das Heil des bedrohten Reiches abhängt: Zelica wird laut Verordnung des Fatums am Vorabend ihrer Hochzeitsnacht mit Prinz Alcouz in ein Raubtier verwandelt. Bis zur Rückverwandlung soll die Sklavin Dugmti, die Zelica zum Verwechseln ähnlich sieht, als Prinzessin Zelica an der Seite des getäuschten Alcouz leben, ohne jedoch seinem Liebesdrängen nachzugeben. Die Sklavin Dugm£ ist selbstverständlich immun gegen jede Versuchung der Macht und der Liebe und wird diesen höchsten Beweis ihrer grenzenlosen Aufopferung erbringen. Damit trägt sie entscheidend zur Überwindung des Fatums bei, und nicht zuletzt ihretwegen kann das zerfallende Königreich Suffars gerettet werden. Wenn Gozzi nicht zum Volksmärchen gefunden hat, so nicht zuletzt, weil hier die Standesgrenzen zu leicht aufgehoben werden können. Daß der Sohn eines Handwerkes mit einem Kater als einzigem Erbgut sich zum König aufschwingt oder ein Dummling (Däumling) zu Macht und Ehren gelangt, konnten Basile zur Blütezeit der spanischen Monarchie oder Perrault unter Ludwig dem XIV. lächelnd hinnehmen: die absolute Monarchie und die sie tragende Gesellschaftsordnung schienen unerschütterlich. Unter der zersetzenden Kritik der Aufklärer an Kirche, Staat und Gesellschaft mußte aber für Gozzi dieses Interesse des Volksmärchens am Ärmsten der Armen, das Motiv des „Hans im Glück", zur Unterminierung der traditionellen, gottgewollten, hierarischen Ordnung beitragen. Eine strengere Entsprechung zu seinen konservativen Vorstellungen fand er im orientalischen Märchen, das er zu einem Schauspiel im Dienste der Reaktion umarbeiten konnte.
von
5. D i e F i a b a a l s V e r b i n d u n g C o m m e d i a d e l l ' a r t e und Märchen
Die Fiabe Gozzis sind das Ende eines Auflösungsprozesses der Commedia dell'arte, der bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Mit der zunehmenden Bedeutung der „Innamorati" als Exponenten einer idealen und vollkommenen Welt erhalten die Masken, die im Konzentrationstyp das Feld unbestritten beherrschten, ein mächtiges Gegengewicht, das an den Grundlagen des Stegreifspiels rüttelt. Verstehen wir das Maskenspiel der Commedia dell'arte als groteske 2
« ebda., S. 819.
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Stilisierung des menschlichen Trieblebens, die „unterhalb der geistigen Ebene im sogenannten .allgemein Menschlichen', d. h. Tierischen" die Verständigung mit dem Publikum herstellt 1 , als „ein wildbewegtes Panorama entfesselter Naturtriebe", in dem es darum geht, „das Recht der ,Natürlichkeit' gegen den Zwang zivilisatorischer (kultureller) und gesellschaftlicher Konventionen geltend zu machen" 2 oder unter formalästhetischem Aspekt als „Opposition zum Harmoniegedanken der Renaissance" und Deformierung der zur Idealität erhobenen Natur 3 , dann w i r d deutlich, wie sehr die „Innamorati" des phantastischen, „tragikomischen" Stegreifspiels eine idealistische Reaktion auf den brutalen Naturalismus der Masken bedeuteten. M a g das 17. Jahrhundert, das die scharfe Antithese liebte, auch beide Pole noch im Gleichgewicht gehalten haben, so bedeutet die Hypertrophierung der „Innamorati" bei Gozzi das endgültige Ubergewicht der idealistischen Wertwelt über die animalische Ausgelassenheit der Masken. Das Märdien w i r d nicht mehr in die Commedia dell'arte integriert (mit Ausnahme der Possen L'Amore delle tre melarance und L'Augellin belverde), sondern umgekehrt: die Fiaba ist in erster Linie ein dramatisiertes Märchen, in dessen Dienst die Commedia dell'arte tritt, die somit nicht mehr den vitalen Kern dieser Gattung ausmacht. Handlungsträger im Konzentrationstyp der Commedia dell'arte sind fünf oder sechs Grundmasken mit fester komischer Charakterologie, die unter dem Impuls der Triebwelt der Intrige den charakteristischen Aspekt eines „Kampfes beinahe ,aller gegen alle'" 4 verleihen. In den Fiabe bestreiten die Märchenhelden fast allein das Handlungsgeschehen, und die Masken dürfen nur noch ausnahmsweise intervenieren. Unter den höheren Masken kann der Macht- und Liebeshunger des traditionellen Verräters Tartaglia, der sich mit den Mitteln der Seelenwanderung den Körper König Deramos aneignet, noch einmal bestimmend für den Verlauf des Handlungsgeschehens werden ( R e cervo; vgl. auch Tartaglia als R i v a l e Taers in den Pitocchi fortunad), aber im übrigen kommt es kaum noch zu echten Konfrontationen der Masken untereinander oder der Masken mit den Märchenhelden. Wie sehr das Prinzip des Kampfes aller gegen alle in den Fiabe für die Masken seine Gültigkeit verloren hat, wird beispielsweise an der Metamorphose Pantalones besonders deutlich. Der ursprüngliche, vorgoldonische Pantalone verkörperte als geiziger und verliebter Alter in gro-
1 R I C H A R D A L E W Y N , Schauspiele und Stegreifspiele des Barock, in: Mimus und Logos, Festschrift für Carl Niessen, Emsdetten 1952, S. 7. 2 H I N C K , Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie, a. a. O., S. 44. 3 ebda., S. 45. 4 ebda., S. 37.
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tesker Stilisierung Triebe und Leidenschaften, die im Zusammenprall mit den übrigen Charaktermasken das turbulente Handlungsgeschehen auslösten. Welch eine Fülle an komischer Energie birgt „quel grifo montato già in pretensione di Ganimede, di damerino, perchè indelicatendosi, vecchio quant'è, ingarzonisce, avaro per natura, prodigo per lascivia, accorto e restio d'intenzione, sciocco e corrivo d'esecuzione" 5 ! Dieser Pantalone wird als Handlungsträger entmachtet: sein einzig möglicher „Beitrag" zum Handlungsgeschehen besteht nur noch darin, daß er auf jede eigene Initiative verzichtet und etwa im Zeim in resignierender Unterwerfung als tugendhafter Bürger seine Tochter Sarchè den Staatsinteressen opfert. Am meisten aber werden die niederen Masken von der Verbannung an die Peripherie des Handlungsgeschehens getroffen: ihr Beitrag beschränkt sich auf einige verspielte „lazzi" und „burle", die f ü r den Handlungsablauf ohne Folgen bleiben. Truffaldin (Harlekin) als der einstige Beherrscher des Stegreifspiels verliert seine überschäumende Vitalität, so wie sie Goldoni nodi im Servitore di due padroni gefeiert hatte und muß sich zu Handlangerdiensten bequemen (s. o. S. 85). Der Rückzug aus dem Handlungsgeschehen bleibt nicht ohne Folgen f ü r die Physiognomie der Masken. Da ihnen die dramatische Situation fehlt, die ihnen gestatten würde, ihre innerste N a t u r hervorzukehren, verlieren sie an Individualität und werden nicht selten austauschbar. Mag auch der venezianische Zuschauer der Zeit Gozzis die Masken trotz ihrer blassen Physiognomie in den Fiabe noch nach ihrer traditionellen N a t u r unterschieden haben, so führen Schiller und die Romantiker durchaus eine in den Fiabe angelegte Tendenz fort, wenn sie die Masken vereinheitlichen oder in ganz neuer Weise differenzieren. Gaspare Gozzi hatte schon in seiner Besprechung der „fiaba teatrale tragicomica" Il corvo die Masken ignorieren können und das Märchenspiel geradezu eine „tragedia" genannt, „per quell' effetto die fa di muovere a compassione e ad orrore" 6 . Seinen Höhepunkt erreicht der Prozeß der Entmachtung der Masken mit La Zobeide, die Gozzi selbst zur Würde einer „tragedia fiabesca" erhebt. Es ist die einzige Fiaba, in der ein schuldbeladener aber reuiger König zur Steigerung von Schrecken und Mitleid seine Schuld mit dem Tode sühnen muß. Aber die extrem „grausigen" Ereignisse mußten ins Komische umschlagen, was auch Gozzi nicht entging. In einer Regieanweisung heißt es: „Dilara . . . apre la veste; mostra, che sotto è cambiata in animale, o cagna, o capra sino i piedi;
5 Martello, Vorwort zur Komödie Che bei pazzi, in: Opere, Bologna, 1723, Bd. IV, S. 157. ' L'osservatore veneto, Nr. LXXVII. 28. Okt. 1761, Milano, Rizzoli 1965, Bd. II, S. 151. 7 Opere (Rizzoli), S. 451.
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la figura deve far compassione, e non ridere" 7 . Gozzi gelangte zu der Einsicht, daß dem Pathos in seiner Fiaba Grenzen gesetzt waren. In seiner Besprechung der Zobeide gesteht er, „die il suo tragico (è) un po' troppo fiero, e che ella (è) scarsa di quel ridicolo, che suol rendere queste tali opere più generali, e più popolari" 8 . Mit dem Mostro turchino kehrte Gozzi darum wieder zur „fiaba tragicomica" zurück. In seiner letzten Studie zu Carlo Gozzi, die den Bearbeitungen spanischer Schauspiele gilt, fragt sich Giuseppe Ortolani, warum Gozzi den Masken der Commedia dell'arte Zugang zu seinen Stücken verschafft hat. Die Frage läßt sich im Sinne Ortolanis auch auf die Fiabe ausdehnen. Ortolani kommt zu der Ansicht, daß die Anwesenheit der Masken in den „tragicommedie" nur äußeren Umständen zuzuschreiben sei. Er stützt sich dabei auf einen Brief Gozzis an Baretti 9 , in dem Gozzi betont, er habe die Masken nur eingeführt, weil er den besseren Kräften der SacchiTruppe entgegenkommen mußte. „Non dunque ragioni d'arte mediate, ma ragioni del tutto pratiche e materiali prevalsero nello strano accoppiamento del mondo eroico spagnuolo e delle maschere italiane" (Ortolani) 10 . Zweifellos sind zahlreiche Aspekte der Fiabe in strikter Abhängigkeit von den Gegegebenheiten der Sacchi-Truppe zu sehen, was sich beispielsweise anhand einer Analyse der Struktur des Re cervo nachweisen läßt: in der Märchenvorlage fand Gozzi keine Entsprechung für das zweite Liebespaar mit Leandro als Sohn Pantalones und Ciarice als Tochter Tartaglias. Der Grund für diesen Einschub ist in der Zusammensetzung der Sacchi-Truppe zu suchen, die neben den fünf Masken und dem ersten Liebespaar auch noch die „seconda donna" und ihren Partner zu beschäftigen hatte. Die Notwendigkeit, audi das zweite Liebespaar mit geeigneten Rollen zu versorgen, mag mit dazu beigetragen haben, daß Gozzi in den Pitocchi fortunati und im Zeim zwei voneinander unabhängige Märchen in zwei Handlungssträngen einander parallel geschaltet hat». Die Abhängigkeit Gozzis von der Sacchi-Truppe darf jedoch nicht dazu
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Opere (Colombani), Bd. II, S. 101. • A Monsieur Joseph Baretty, Venezia, 15. Sept. 1776, in: Atti dell'Istituto Veneto, Serie 6, Bd. IV, 1885-86. 10 Manusk., a. a. O., S. 24 f. 11 GOTTER konnte darum in seinem Opernlibretto Das tartarische Gesetz (Leipzig, Dyk, 1779) die dramatisch wirksamere Hulla-Geschidite (s. ob., S. 70 f.) aus dem Ganzen der Pitocchi fortunati herauslösen. Gozzi aber hatte neben der Histoire de Couloufe et de la helle Dilara (Les mille et un jour, Bd. I, S. 276-333 und Bd. II, S. 1-67), deren Helden in den Pitocchi fortunati Zemrude und Saed heißen, den ersten Teil der Histoire du Prince Fadlallah fils de Bin-Ortoc Roy de Mousel (Les mille et un jour, Bd. II, S. 91-149) benutzt, der er den Stoff für die Liebe zwischen Angela und König Usbec entnahm.
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führen, den Fiabe jede durchdachte Konzeption abzusprechen. Hätte er die Masken nur eingeführt, um der Sacchi-Truppe und dem Publikum entgegenzukommen, würde er sie für die Drucklegung wieder aus den Stücken entfernt haben. Daß solche Überlegungen durchaus naheliegen konnten, zeigt die Kritik Barettis gerade an der Drucklegung der Fiabe, deren Aufführung durch Sacchi ihn zu enthusiastischem Lob hingerissen hatte: „L'animale ( = Gozzi) ha guasti tutti i suoi drammi ficcando in essi que' suoi maledetti Pantaloni, e Arlecchini, e Tartagli, e Brighelli, che non doveva mostrare se non sulla scena, per dar gusto alla nostra canaglia" 12 . Gozzi hat die Maskenrollen für die Drucklegung nicht aus seinen Fiabe entfernt, weil er damit ihr Stil- und Strukturgefüge zerstört haben würde. Wenn Gozzi nie eine Maske zur Titelfigur hat werden lassen, so geben gesellschaftsideologische Gründe den Ausschlag. Harlekin beherrschte in der antithetischen Commedia dell'arte trotz seiner untergeordneten Stellung als Diener weitgehend das Spielfeld, „und das mußte einem Zeitalter mit so sorgfältig gestaffelter sozialer Hierarchie - gemeint ist das 17. Jahrhundert - noch viel paradoxer erscheinen als uns" 13 . Mit Lesages Crispin rival de son maître (1707) kündete sich auch der soziale Aufstieg Harlekins an. Zum ersten Mal verspottete und verriet ein Diener auf der Bühne seinen Herrn und verachtete ihn als minderwertig 14 : „Mon maitre? Fi donc! voilà un plaisant gueux pour une fille comme Angélique! Je lui destine un meilleur parti - Qui donc? - Moi" 15 . Noch wurde allerdings Crispin für seine Verwegenheit bestraft und erst der Figaro Beaumarchais' darf aus der Rivalität mit seinem Herrn siegreich hervorgehen. „Wenn 1733 in Pergolesis komischer Oper die ,Serva* zur ,Padrona* wird, indem sie ihren Herrn heiratet, ist das Barock zu Ende" 16 . Gozzis reaktionäres Theater versucht, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Harlekin wird in seine Standesgrenzen zurückverwiesen. Der Adel nimmt in der Gestalt des Märchenhelden den Handlungsverlauf der Fiaba wieder fest in die Hand. Hatte aber der Konzentrationstyp der Commedia dell'arte seine Wirkung aus der komischen Energie der Charaktermasken bezogen, so beraubt sich Gozzi mit seinen einschneidenden Eingriffen in das Maskenspiel dieser Quellen unerschöpflicher dramatischer Kraft, ohne sie durch ähnliche dra-
12 Brief an Carconi aus dem J a h r e 1784, in: Scritti scelti inediti o rari, Milano, Bianchi, 1823, Bd. II, S. 319-20. 15 14
RICHARD ALEWYN, Schauspiele und Stegreifspiele des Barock, a. a. O . , S. 9. V g l . MAURICE BARDON, E i n f ü h r u n g z u LESAGE, Théâtre (Turcaret; Crispin
rival de son maître; La tontine), Paris, Garnier, 1948, S. I I I f. 15 Crispin rival de son maître, in: Théâtre, Paris, Garnier, 1948, S. 11. '« ALEWYN, a . a. O . , S. 1 5 .
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matische Potenzen ersetzen zu können. Nicht mehr Triebe und Leidenschaften erweisen sich in den Märchenhelden als der Motor ihres Handelns, sondern Tugendimperative, die in Form eines Fatums von außen an sie herantreten und ihnen Gelegenheit bieten, in pathetischen Prüfungen ihren Wert zu manifestieren. Zu diesem Zweck benötigte Gozzi die Gestalt des Magiers, dem die Aufgabe zufällt, mit Hilfe der Magie geeignete Konstellationen im Handlungsgeschehen herbeizuführen, in denen der Tugendheroismus der Helden aufleuchten konnte. Die einzige Ausnahme bildet die Turandot, in der die Titelheldin, Calaf und Adelma echte Handlungsträger werden. Auch hier hat Schiller eigentlich nur eine im Stück angelegte Tendenz konsequent weitergeführt, wenn er das Handlungsgeschehen entschiedener im Charakter der Titelheldin und ihres Partners verankert. - Die Pitocchi fortunati verzichten zwar ebenso wie die Turandot auf das Übernatürlich-Wunderbare des Zaubermärchens, ähneln aber in der Konzeption des Handlungsgeschehens den übrigen Fiabe, insofern die Rolle des Magiers hier vom verkleideten König Usbec übernommen wird, der in kluger Regie die erwünschten Figuren- und Handlungskonstellationen herbeiführt. Die Formel des sich in übermenschlichen Prüfungen heroisch bewährenden Liebespaares erwies sich als wenig variationsfähig und führte zu einer Krise der Fiabe, die im übrigen Gozzi nicht entgangen ist: „II difficile in questo nuovo g e n e r e . . . era lo sfuggir la somiglianza delle circostanze, e d'inventarne di nuove, e di f o r t i . . . Protesto di aver usata tutta la mia attenzione per far dissimiglianti l'una dall'altra le mie dieci fiabe nell'orditura, e ne' dati loro" 17 . Unentrinnbar wird die Tendenz zur Häufung der Bühneneffekte, die über den Mangel an echter dramatischer Kraft hinweghelfen müssen. In den späten Fiabe gönnt die dichte Aufeinanderfolge der Theatercoups dem Zuschauer kaum noch eine Ruhepause. Diese Tendenz zur Überbietung alles dessen, was die frühen Stücke in ihrer relativen Schlichtheit und Verinnerlichung an Pathetischem, Wunderbarem und Komischem geboten haben, spricht der Dichterseher Brighella in der Fiaba L'augellin belverde, die sich als Fortsetzung von L'amore delle tre melarance gibt, direkt aus, wenn er unerhörte Ereignisse prophezeit. Und Pantalone kommentiert unter Bezugnahme auf L'amore delle tre melarance-. „Ancora più famoso? No basta che s'abbia visto Naranze a deventar femene, femene a deventar colombe, colombe a deventar regine di felice memoria" 18 ? Mit dem Zeim, der den Höhepunkt der Überladung und Veräußerlichung bedeutet, wendet sich Gozzi dann in weiser Einsicht endgültig vom Märchenspiel ab. Daß auch ein äußerer Anlaß, nämlich
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Opere (Colombani), Bd. II, S. 11/12. Opere (Rizzoli), S. 686.
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der Tod des Maschinisten der Sacchi-Truppe mitgespielt haben mag (Ortolani), soll nicht ausgeschlossen werden. Der eigentliche Grund aber liegt in der Entwicklung der Gattung selbst, die Gozzi in eine Sackgasse der Veräußerlichung geführt hatte. Der Sprung zum spanischen Theater gestattete es Gozzi, die bloßen Bühneneffekte und die mechanischen Interventionen des Magiers durch echte dramatische Konflikte zu ersetzen, was ihm um so willkommener sein mußte, als er alle wesentlichen Tendenzen seines reaktionären Theaters bei den Spaniern vorgeformt fand: „Giudicai che il romanzesco caricato spagnuolo fosse confacente al caricato ridicolo delle nostre maschere (idealisierender Antinaturalismus). Volli produrre dei generi, die divertissero la mia patria (Volksschauspiel) col buon esempio e colla innocenza (gesellschaftsideologisches Engagement)" 19 . Trotzdem degenerierten die Comedias de capa y espada unter dem Einfluß des prosaischen Moralismus und unter den burlesken Spaßen der Masken zu vergröberten Variationen der Fiabe, die im Rahmen dieser Untersuchungen keine eigene Behandlung verdienen 20 . Um aber auf die Fiabe zurückzukommen: die Masken, die ihre Bedeutung für das Handlungsgeschehen eingebüßt haben, lassen sich bei Gozzi nur nodi als burlesker Kontrapunkt des gravitätischen und pathetischen Märdiengeschehens verstehen. Giovanni Ziccardi hat den Begriff der Ironie zum Kern seiner Deutung der Fiabe gemacht: „La smorfia comica della maschera, che raccoglie e fissa il realismo occidentale, per ragione di constrasto mostra più netto il viso comicamente stravagante delle persone meravigliose dell'oriente; e, viceversa, la smorfia di queste fa veder più netta, oltre all'esterna, la smorfia interiore di quelle. Basta accostar l'una all'altra, perchè la rivelazione sia immediata per entrambe" 21 . Ideal und Wirklichkeit, geistige und sinnliche Welt, stehen nach Ziccardi einander gleichberechtigt gegenüber und heben sich in ihrer Ausschließlichkeit wechselseitig auf. Dieses Verständnis der Gozzisdien Ironie, das von der Gozzi-Deutung der deutschen Romantik beeinflußt ist, bedarf einer Korrektur: Nicht um ein spannungsreiches Gegeneinander einer auf Polarität angelegten Fiaba, in der die Duplizität der menschlichen Natur sichtbar wird (s. u. S. 105 f.), geht es Gozzi, sondern um den Entwurf einer idealen Gesellschaftsordnung, in der neben Adel und „Volk" das Bürgertum in der Gestalt der höheren Masken als dritte Kraft Berücksichtigung verlangt. Truffaldin ist nicht
" Appendice, in: Opere (Rizzoli), S. 1096. 20 Zu den Bearbeitungen spanischer Schauspiele s. ENRICO CARRARA, Studio sul teatro ispano-veneto di Carlo Gozzi, Cagliari, Valdès, 1901; AURELIA BOBBIO, Studio sui drammi spagnoli di Carlo Gozzi, in: Convivium, 1948, S. 722-771. 21 a. a. O., S. 150 f. 93
etwa burlesk gezeichnet, weil er die idealistischen Höhenflüge der Helden „realistisch" in ihre Grenzen zu verweisen hätte, sondern weil er als „Volk" nur in komischer Stilisierung auf der Bühne erscheinen durfte. Ein echtes Gegengewicht gegen die Welt der Märchenhelden, um deren Exhibition es Gozzi im letzten geht, vermag Truffaldin, der im Handlungsgefüge der Fiabe infolge seiner gesellschaftlichen Stellung nur noch Handlangerdienste zu leisten hat, nicht mehr zu bieten. In der Tat ist den burlesken Einlagen der Masken nur selten ein direkter ironischer Bezug auf die exemplarische Wertwelt der Märchenhelden beigegeben. Eine Analyse der wenigen ausgesprochen parodistischen Stellen zeigt, daß sie eigentlich nie auf eine Beeinträchtigung der Wertwelt der Märchenhelden zielen und daß der Spott letzten Endes auf die Masken zurückschlägt, deren bürgerliche Beschränktheit (Pantalone) oder plebejische Niedrigkeit (Brighella) nur um so deutlicher in Erscheinung treten. Jungfrau Smeraldina, die auf Befehl des Königs von ihrem Bruder Brighella einer Hydra ausgeliefert werden soll und an den Heroismus ihres Bruders appelliert, muß sich sagen lassen: „Ti ti ga un'educazion, che se usava nei tempi remoti. L'eroismo, che ti intendi ti, no xe altro, che un'antiquata parola, che se trova nelle istorie, e nei romanzi, e che ancuo se scansa, come cosa ridicola. Cusì dixe l'inoculazion del bon senso. Se no ti avessi pregiudizi de educazion antica, ignorante, se ti avessi studià i sistemi filosofici correnti, el to nome no saria entra in tel'urna delle putte, e adesso no ti saresse in sta miseria. L'eroismo ancuo xe mostrar franchezza sulle disgrazie dei altri, e anca sulle proprie, per arrivar ai so intenti" 22 . Nicht auf den Heroismus der Märchenhelden zielt die Parodie, sondern auf eine satirische Verspottung der materialistischen Aufklärungsmoral, die Brighella in diesem Falle selbst vertritt. Wenn auch die Juxtaposition von Pathos und Burleske ohne tiefere ironische Bedeutung einfach auf den Wechsel von Rührung und Lachen zielt, soll damit den Gozzischen Märchenspielen die ironische Konzeption nicht abgesprochen werden. Gozzi konnte das „unsinnige" Märchen als literarische Gattung nicht ernst nehmen. Indem er nun die „falsi e fanciulleschi argomenti", die mit Hilfe der Eloquenz einen Anschein von Wahrheit erhalten sollen23, an die Stelle einer sich ernst nehmenden Form treten läßt, rückt der ideelle Gehalt der Fiabe in ein ironisches Licht. Ohne das
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II mostro turchino, in: Opere (Rizzoli), S. 656. „Per far piangere nel mezzo ad un aperto ridicolo è necessaria una circostanza di fortissima passione; ma, se questa circostanza ha la sua base in un falso argomento, e per se ridicolo, com'è quello del Corvo, sono necessari . . . colori rettorici, gradi di apparecchio, ed eloquenza pittrice artifiziosa, die ingannino coli' imitazione della natura, e del vero . .." Opere (Colombani), Bd. I, S. 120. 23
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Ideal zu diskreditieren, das im Gegenteil in all seinem Glanz erstrahlt, weist die Märchenform doch zugleich ironisch auf den unüberbrückbaren Abstand hin, der seinen Entwurf einer idealen menschlichen Gesellschaft mit einer fest verankerten politischen und moralischen Ordnung von der zeitgenössischen Wirklichkeit der agonisierenden venezianischen Republik trennt. Starobinski hat auf die melancholische Stimmung verwiesen, die die scheinbar so heitere Welt der Fiabe durchzieht und ihren pessimistischen Grund verrät (Ironie et mélancholie: Le tbéatre de Carlo Gozzi). Die Masken verwendet Gozzi nicht selten dazu, um auf die ironische Konzeption seiner Märchenspiele mit aller Deutlichkeit hinzuweisen. In der Tragikomödie I due fratelli nemici (1773) fällt Brighella diese Aufgabe zu. Die Intrige der dramatischen Vorlage Si attenda il fine per considerarsi felice von A. Moreto ist so verwickelt, daß Gozzi vorgibt, „d'aver letta tre volte l'opera del Moreto prima di giungere a capire il viluppo". Von Sacchi nachdrücklich um eine Bearbeitung gebeten - so jedenfalls entschuldigt er sich - „ho aderito, ma ho procurato per salvarmi di far intendere a' colti Uditori, che io prendeva un caricato romanzo in ischerzo, mettendo in questa composizione il Brighella scrittore di Drammi, e critico dell'azione" 24 . So kann Gozzi im Medium der Masken mit dem Märchencharakter seiner Fiabe spielen: Pantalone, der hinter der Fee Cherestanl eine gemeine Hexe vermutet, erzählt Farruscad die Geschichte von der Hexe Dilnovaz, die mit Hilfe eines Zauberrings am kleinen Finger die Gestalt der Königin von Tebet angenommen hat und der es gelingt, die echte Königin von der Seite ihres Gatten zu vertreiben. Als der König eines Tages im Zorn seiner vermeintlichen Gattin unversehens den Ringfinger mit seinem Schwert abtrennt, verwandelt sich die Hexe in ihre eigentliche Gestalt. Und Pantalone beteuert warnend: „Questi xe fatti de verità, Altezza, no le xe miga fiabe da contar ai putelli" 25 . Zahlreich sind die Wege, auf denen Gozzi den Märchencharakter seines Traums von einer 2
* ebda., Bd. IV, S. 283 f. La donna serpente, in: Opere (Rizzoli), S. 349. Nicht nur die Geschichte, sondern auch das Spiel mit der Märdienform fand Gozzi vorgeformt in der Erzählung Histoire du jeune Roi de Thébet et de la Princesse des Naimans (in: Les mille et un jour). Die zu einer Bettlerin herabgesunkene echte Königin von Thébet versichert dem Zuhörer ihrer Gesdiichte: „ce n'est point une fable que je vous ai débitée" (Le Cabinet des Fées ou collections choisies de contes des Fées, et autres contes merveilleux", Amsterdam 1785, Bd. X I V , S. 118) Die Tatsadie aber, daß Gozzi aus der Stoffülle der Histoire du jeune Roi de Thébet nur ein kurzes Resümee der Dilnovaz-Erzählung, die in Pantalones ironischer Spielerei mit dem Wort Fiaba kulminiert, für seine Donna serpente verwertet, zeigt, wie sehr ihm die Ironisierung der Märdienhandlung am Herzen lag. Das Spiel mit dem Wort Fiaba begegnet in fast allen Märchenspielen. Vergleiche L'augellin belverde, S. 687 und II corvo, S. 116 (Ausg. Rizzoli). 25
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heilen Welt ins Bewußtsein des Zuschauers hebt. M i t besonderer Vorliebe läßt er mitten im phantastischen Märchengeschehen die Masken auf bestimmte Aspekte der zeitgenössischen venezianischen Wirklichkeit hinweisen u n d diese damit in ironischen Gegensatz zur Märchenwelt treten. Welche Wirkungen aber Gozzi aus dieser ironisierenden F u n k t i o n der Masken zu erzielen vermag, sei noch an einem charakteristischen Beispiel illustriert. Brighella, der als Dichter u n d Kritiker das phantastische H a n d lungsgeschehen der Tragikomödie I due fratelli nemici mit Argumenten einer rationalistisch-empiristischen Poetik verurteilt hat, k a n n sich dem Reiz der H a n d l u n g schließlich doch nicht ganz entziehen u n d verbirgt sich in den Kulissen, u m eifrig N o t i z e n zu machen, die er f ü r ein eigenes Rührstück verwerten will. Als der Gesprächspartner T a r t a g l i a sich v o m Handlungsgeschehen zu T r ä n e n hinreißen läßt, stellt sich ihm Brighella vorwurfsvoll entgegen: „Quella n o xe bocca da D r a m m a flebile, la xe un'ingiurioso t r a t t e n i m e n t o ; m a vogio n o t a r anca i so sberleffi, perché el D r a m m a n o sia spogio de ridicolo" 2 6 . D a m i t fällt Brighella „aus der Rolle" : er macht Tartaglia auf seine Maskennatur aufmerksam, stellt ihn in den Zusammenhang des Stücks u n d wirft ihm vor, d a ß seine burlesken Tränen nicht z u m erhabenen Handlungsgeschehen passen. D a n n aber k o m m t ihm die Idee, auch die T r ä n e n Tartaglias mit in seine N o t i z e n sammlung aufzunehmen, u m sein Rührstück mit einigen burlesken Einlagen zu würzen. Gozzi stellt sich hier in ironischen Abstand zu seinem Stück, dessen Struktur er im M u n d e des burlesken Brighella ins B e w u ß t sein des Zuschauers ruft. Abschließend noch einige Bemerkungen z u m antinaturalistischen C h a r a k t e r der Fiabe. Goldoni ging es u m eine neue Fusion von Theater u n d Wirklichkeit. Er holte die Masken aus ihrer abstrakten, archetypischen Wirklichkeitsferne u n d stellte sie als typisierte Individuen in die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Zeit. Gozzi sah die poetische Welt des Theaters sich auflösen in der prosaischen Alltagswirklichkeit u n d glaubte, ganz im Sinne der C o m m e d i a dell'arte zu handeln, wenn er durch eine Verbindung des „phantastischen" Stegreifspiels mit dem Märchen die wirklichkeitsfernen Seiten besonders akzentuierte. Aber es ging der C o m m e d i a dell'arte gar nicht um einen kategorischen Abstand von der Alltagswirklichkeit. Z w a r sind die Masken „selbstherrliche Potenzen, die nicht auf dem U m w e g über das Leben, sondern durch sich selbst Glauben erzwingen" 2 7 , aber sie dienen nicht als D ä m m e , die die Welt des Theaters gegen den Alltag absichern. Die Stilisierung der menschlichen Wirklichkeit
28
ebda., S. 367 f.
KOMMERELL, Commedia dell'arte, (Essays), Frankfurt, Klostermann, S. 167. 27
MAX
96
in: Dichterische
Welterfahrung
in einige wenige Charaktermasken und in stereotype Szenarien stand vielmehr ganz im Dienste der Freiheit des Schauspielers, dessen Improvisationskunst durch diese Verkürzung ins Urbildliche erst möglich wurde. Auch der „exzentrische Bewegungsstil" resultiert nicht etwa aus einer polemischen Absage an die „Natürlichkeit", sondern ganz allein aus der Eigengesetzlichkeit eines Theaters, das seine Ausdruckskraft weitgehend aus der körperlichen Bewegung zieht. Indem Gozzi die Commedia dell'arte mit seinen Fiabe zu einem gewollt antinaturalistischen (antigoldonischen) Theater macht, kann das Märchen unter dem Aspekt des Antinaturalismus den Masken überlegen erscheinen und so dazu beitragen, sie in Rückzugsgebiete abzudrängen. Das verachtete Märchen und die nicht uneingeschränkt bejahte Commedia dell'arte verweisen die Fiaba trotz Literarisierung und ideologischem Auftrag auf die Ebene des volkstümlichen divertimento, die Gozzi nie preisgegeben hat. Allerdings sollte er noch erleben, wie den Fiabe gegen Ende des 18. Jahrhunderts jenseits der Alpen im Bereich der eigentlichen Literatur Heimatrecht zugesprochen wurde. Die Bemühungen der „Vorromantik" um eine Rechtfertigung des nichtaristotelischen Theaters, die sich in Begriffspaaren wie germanische und romanische, naive und sentimentalische, antike und moderne, klassische und romantische Literatur niederschlugen, ließen ein ganz neues Licht auch auf die Fiabe fallen. Gozzi gibt sich geschmeichelt, als er die Fiabe aus der unvorteilhaften Gegenüberstellung „teatro colto" und „teatro popolare" in die viel ehrenvollere des „teatro regolare" und „teatro irregolare" hinüberwechseln und sich selbst an die Seite Shakespeares und Aristophanes' rücken sieht. Diese neue Würde zwingt ihm zwar selbst mehr Respekt vor seinen „mostri scenici" ab, die er jetzt im Sinne seiner ultramontanen Bewunderer „poetiche fantasie" 2 8 nennt, aber er weist die „stolta pretesa di essere arruolato con quelli" (Shakespeare, Aristophanes) zurück 29 . Diese Einordnung Gozzis in die Reihe der großen nichtklassizistischen Autoren sollte in den Jahren der Abfassung der Lettera piü lunga (1802-1803) immer weitere Kreise jenseits der Alpen ziehen.
-8 La piti lunga lettera . . ., in: Opere (Zanardi), Bd. XIV, S. 4.
29
ebda., S. 12.
97
III.
D I E T R A N S P O S I T I O N D E R FIABA I N DAS SYSTEM D E R D E U T S C H E N R O M A N T I K 1. D i e
„Gozzische
Manier"
als
Idealtypus
August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (Wien 1808) gliedern die dramatische Literatur in das antikklassische Theater, das seine höchste Blüte in Äschylos, Sophokles und Aristophanes erreicht hat, das modern-romantische Theater mit Calderón und Shakespeare als Gipfel der Vollkommenheit und das klassizistische Theater vor allem der Franzosen. Sowohl das klassische Theater der Griechen als auch das romantische Theater der Engländer und Spanier werden als „ursprünglich und einheimisch"1 gegen das aus der Nachahmung hervorgegangene klassizistische Theater ausgespielt. Zwischen dem spanischen und dem englischen Theater sieht Schlegel trotz aller nationalen Originalität „die auffallendsten Züge der Verwandtschaft" (VI, 159), so z. B. die Verbindung von Scherz und Ernst, Niederem und Hohem, Prosa und Poesie (VI, 161). Es drängt sich ihm die Vermutung auf, „bei der Entwicklung beider habe dasselbe oder wenigstens ein gleichartiges Prinzip obgewaltet" (VI, 159), das auch nichtdramatischen Werken wie der Divina Commedia oder dem Don Quijote zu Grunde liege. Dieses Prinzip nennt Schlegel den romantischen Geist, dessen entscheidende Komponente das Christentum ist; durch das Christentum sei die Diesseitsbezogenheit der antiken Religion überwunden worden: „Die Anschauung des Unendlichen hat das Endliche vernichtet. Das Leben ist zur Schattenwelt und zur Nacht geworden, und erst jenseits geht der ewige Tag des wesentlichen Lebens auf" (V, 16). Aus diesem Wissen um die Duplizität der menschlichen Natur resultiere die transzendentale Bedingung aller romantischen Kunst, die ihren Sinn in der Verweisung auf das Absolute, in der Verbindung des Unendlichen mit dem Endlichen sehe. Sie strebe danach, „diese beiden Welten, zwischen denen wir uns geteilt fühlen, die geistige und sinnliche, miteinander auszusöhnen und unauflöslich zu verschmelzen" (V, 17). Am augenfälligsten schlage sich dieses Streben in der Verschmelzung von Niederem und Hohem, Komik und Tragik nieder, durch die sich das romantische Schauspiel
1 Sämtliche Werke, Ausgabe von Eduard Böcking, Leipzig, Weidmann, 1846, Bd. VI, S. 155.
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von der „reinen" Tragödie und der „reinen" Komödie der Antike abhebe. Schon Euripides und Menander haben nach Schlegel die „reine" Tragödie und die „reine" Komödie zugunsten einer Gattungsmischung aufgegeben: Insofern Euripides die tragische Poesie von ihrer idealischen H ö h e herabstimmte und sie der Alltagswirklichkeit annäherte, wurde er „der Vorläufer der neueren Komödie"; Menander andererseits erhebt sich manchmal „bis zum tragischen T o n " (V, 219). Nach dem G r a d der Mischung von Scherz und Ernst lassen sich mehrere Unterarten dieser Mischgattung unterscheiden, die von der Posse bis zum bürgerlichen Trauerspiel reichen (V, 225). August Wilhelm nennt diese dramatische Mischform, unter die beispielsweise die klassizistische dramatische Literatur Frankreichs fällt, „Lustspiel"; sein Bruder Friedrich spricht von „gemischter Komödie". Die Mischung von Scherz und Ernst in der „gemischten Komödie" oder dem „Lustspiel" ist f ü r die Brüder Schlegel grundverschieden von der des „romantischen Schauspiels": Im „Lustspiel" als Verfallserscheinung der „reinen Komödie" und der „reinen Tragödie" nähern sich Scherz und Ernst auf eine gemeinsame Mittellage hin, was in der äußersten Konsequenz zur völligen Selbstaufgabe in der „Aftergattung" (A. W. Schlegel) der weinerlichen Komödie f ü h r t . Im „romantischen Schauspiel" hingegen stehen Komik und Tragik, Niederes und Hohes, Sinnliches und Geistiges einander spannungs- und beziehungsreich unter Wahrung ihres Eigencharakters gegenüber. So könne Shakespeare beispielsweise durch „komische Unterbrechungen" einer tragischen H a n d l u n g eine „Parodie des ernsthaften Teils" anstreben. Die Verbindung des Entgegengesetzten zu einer Einheit sieht A. W. Schlegel in der Ironie gewährleistet: Das Nebeneinander von Scherz und Ernst schaffe die Freiheit zur doppelten Perspektive, insofern der Dichter zu verstehen gebe, „daß er nicht selbst in dem dargestellten Gegenstande befangen sei, sondern frei über ihm schwebe, und daß er den schönen, unwiderstehlich anziehenden Schein, den er selbst hervorgezaubert, wenn er anders wollte, unerbittlich vernichten könnte" (VI, 198) 2 . Gozzi erscheint A. W. Schlegel als eine „romantische" Ausnahme innerhalb der klassizistisch orientierten Tradition des italienischen Theaters. In seinen Berliner Vorlesungen Über schöne Literatur und Kunst (1801-1804) neigt er dazu, das Phänomen Gozzi in direkter Abhängigkeit von Calderon zu verstehen: „Gozzi knüpft sich an nichts an. H ä t t e ohne den Calderon nicht so viel geleistet" 3 . Es konnte ihm aber nicht entgehen, daß dieser Deutung die Chronologie von Gozzis dramatischem Werk widerspricht, 2 Näheres zu Sdilegels Theorie des Dramas siehe bei R O B E R T Theorie des Dramas in der deutschen Romantik, Berlin 1935. 3
ULSHÖFER,
Ausgabe von J a k o b Minor, 3 Bde., Heilbronn 1884, Bd. II, S. 389.
99
Die
das mit den Fiabe beginnt und erst sekundär zu Bearbeitungen Calderóns findet. In seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur korrigiert darum Schlegel seinen Deutungsversuch: Ebenso wie Shakespeare und Calderón unabhängig voneinander zu einer Formensprache gefunden hätten, die der „romantischen" Geistigkeit gerecht werde, lasse sich der „romantische" Charakter in Geist und Anlage der Fiabe nur „aus einer unbewußt eingetretenen Verwandtschaft" erklären (V, 366). Worin sieht nun Schlegel die „Verwandtschaft in Geist und Anlage" zum romantischen Drama in Spanien und England? Dem Geist nach sind die Fiabe romantisch, insofern Gozzi „zuerst unter den italienischen Lustspieldichtern Gefühl für Ehre und Liebe zeigt" (V, 365). Schlegel hat hier das Rittertum als Maßstab für den romantischen Geist vor Augen: „Zu der ritterlichen Tugend gesellte sich ein neuer und sittsamerer Geist der Liebe, als einer begeisterten Huldigung für echte Weiblichkeit, die nun erst als der Gipfel der Menschheit verehrt wurde, und unter dem Bilde jungfräulicher Mütterlichkeit von der Religion selbst aufgestellt, alle Herzen das Geheimnis reiner Liebe ahnden ließ" (V, 14). In der romantischen Poesie muß diese Ahnung zur geistigen Anschauung gebracht werden: „Die sinnlichen Eindrücke sollen durch ihr geheimnisvolles Bündnis mit höheren Gefühlen gleichsam geheiligt werden, der Geist hingegen will seine Ahnungen oder unnennbaren Anschauungen vom Unendlichen in der sinnlichen Erscheinung sinnbildlich niederlegen" (V, 17). Eine solche sinnbildliche Anschauung der reinen Liebe glaubte Schlegel in den Märchenhelden Gozzis zu finden. Auch im ritterlichen Kult der Ehre sieht Schlegel den romantischen Geist wirksam: Zwar habe sich die Ehre als eine weltliche Sittenlehre unabhängig neben der religiösen behauptet und sogar häufig in Widerspruch zu dieser gestanden, trotzdem aber sei sie ihr insofern verwandt gewesen, als „sie niemals die Folgen berechnete, sondern unbedingt Grundsätze des Handelns heiligte, als Glaubenswahrheiten über alle Untersuchungen grübelnder Vernunft erhaben" (V, 15). Schlegel wird das Gefühl für Ehre bei Gozzi vor allem in der Turandot gefunden haben, zumal wenn er die Bearbeitung Schillers vor Augen hatte. In ihren Ehrvorstellungen als Frau setzt sich Turandot so absolut, daß der Konflikt mit dem Sittengesetz zweitrangig wird und sie das Opfer mehrerer edler Menschenleben hinnehmen kann. Mit dieser Interpretation steht A. W. Schlegel nicht allein. Schon Bouterwek hatte „eine kräftige Humanität voll Sinn und Würde" in den Fiabe beobachtet 4 . Wenn Friedrich Schlegel bemerkt: „Die Intrige bei
4 Geschichte der Poesie und Beredsamkeit Göttingen 1801 ff., Bd. II, S. 488.
100
seit dem Ende des 13.
Jahrhunderts,
Gozzi sehr romantisch" 5 , dann dürfte auch er vor allem die „romantischen" Konflikte um Liebe und Ehre vor Augen gehabt haben. In formaler Hinsicht ist die Verwandtschaft der Fiabe mit dem „romantischen Schauspiel" am augenfälligsten in der Verbindung von Ernst und Scherz, Poesie und Prosa, Hohem und Niederem. Gozzi erscheint A. W. Schlegel gerade unter diesem Aspekt als ein Erneuerer innerhalb der Tradition der Commedia dell'arte: „Gozzi. - Neuer Sinn der Masken im Gegensatz mit etwas ernstem Wunderbarem und Phantastischem. Hierin vergleiche: Shakespeare, Calderon. - Gozzi - clown - gracioso" 6 . Es gilt, in den folgenden Untersuchungen die typisch Gozzische Form des „romantischen" Dramas oder - um mit den Romantikern selbst zu sprechen - die „Gozzische Manier" näher zu bestimmen. Vorausgeschickt seien einige chronologische Fakten: die intensive Beschäftigung Friedrich Schlegels mit Gozzi fällt in die Jahre 1797-1798, also in die Zeit des Durchbruchs der frühromantischen Bewegung. Unabhängig von F. Schlegel hat Tieck für seinen Ritter Blaubart und den Gestiefelten Kater auf Gozzi zurückgegriffen; die Bekanntschaft mit Friedrich Schlegel im Jahre 1798 in Berlin führt zu einer neuen Phase der Bearbeitungen Gozzischer Stücke durch Tieck, die ihren Niederschlag u. a. im Opernlibretto Das Ungeheuer und der verzauberte Wald (1798) findet. Schillers Turandot, die 1801 entstanden ist, bedeutet die Alternative der Weimarer Klassik zu den romantischen Vorstellungen von einem Schauspiel in der Gozzischen Manier. Damit sind die bedeutendsten Etappen der Rezeption Gozzis in Deutschland genannt. August Wilhelm Schlegel bietet in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1808) die ausführlichste zusammenhängende Darstellung des romantischen Gozzibildes, lehnt sich aber stark an seinen Bruder Friedrich an. Brentano (Die lustigen Musikanten), E. Th. A. Hoifmann ( P r i n z e s s i n Blandina), Richard Wagner (Die Feen) und andere knüpfen an Formen des Tieckschen Märchenspiels an.
August Wilhelm Schlegel stellt das Verhältnis von Scherz und Ernst in den Fiabe in den Mittelpunkt seiner Analyse: Die Fiabe „sind dramatisierte Feenmärchen, in denen er (Gozzi) aber neben dem wunderbaren verifizierten und ernsthaften Teile die sämtlichen Masken anbrachte und ihnen die freieste Entwicklung ließ . . . Dem abenteuerlichen Wunderbaren der Feenmärchen diente die ebenso stark aufgetragene Wunderlichkeit der 5 Literary Notebooks 1797-1801, hrsg. v o n Hans Eichner, U n i v e r s i t y of London, 1 9 5 7 , Fragment N r . 558. Im folgenden w e r d e n diese N o t i z h e f t e Schlegels unter L N zitiert. 6 Vorlesungen über schöne Kunst und Literatur, a. a. O., Bd. II, S. 3 8 9 .
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Maskenrollen vortrefflich zum Gegensatz. Die Willkür der Darstellung ging in dem ernsthaften Teile wie im beigesetzten Scherz gleich weit über die natürliche Wahrheit hinaus" 7 . Ausgehend von dieser Analyse lassen sich folgende Komponenten der „Gozzischen Manier" unterscheiden: 1. Die Fiabe zerfallen in die ernsthafte, versifizierte Märchenhandlung und den „beigesetzten Scherz" der Masken, der weitgehend der Improvisation überlassen bleibt. Zur deutlicheren Herausstellung dieses formalen Befunds sei hier hinzugefügt, daß die Märchenhelden gegen alles Niedere und Komische hermetisch abgesichert sind; sie entsprechen in ihrer physischen, geistigen und ethischen Erscheinung, ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrem „tragischen" Pathos, ihrer gehobenen Verssprache ganz den Anforderungen, die ein puristisch verstandener hoher Stil klassizistischer Provenienz von seinen tragischen Helden verlangen mußte. Umgekehrt bilden die niederen Masken (Brighella, Truffaldino) in jeder Hinsicht die konsequente Umkehrung der Märchenhelden. Scherz und Ernst, Prosá und Poesie, Niederes und Hohes sind in den Fiabe strengstens voneinander getrennt. 2. Scherz und Ernst sind „stark aufgetragen." Goethe spricht von kruder Rührung auf der einen und Albernheit auf der anderen Seite 8 . Diese Tendenz zur kräftigen Farbgebung kann August Wilhelm durch einen Vergleich von Gozzis Bearbeitungen spanischer Stücke mit ihrer Vorlage deutlich machen: „Die ätherische und in Morgenrot getauchte Poesie des Spaniers (Calderón) wird von ihm durchgängig vergröbert und greller gefärbt" 9 . In den Fiabe werden die „hauptsächlichen M o t i v e . . .
Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, a. a. O., S. 365. „ D i e T r a g ö d i e gestern hat midi manches gelehrt. Erstlich habe ich gehört, wie die Italiener ihre elfsilbigen J a m b e n behandeln und deklamieren, d a n n habe ich begriffen, wie klug G o z z i die Masken mit den tragischen Figuren verbunden hat. D a s ist das eigentliche Schauspiel f ü r dieses V o l k , denn es will auf eine krude Weise gerührt sein, es nimmt keinen innigen, zärtlichen Anteil am Unglücklichen, es freut sich nur, wenn der H e l d gut spricht; denn a u f s R e d e n halten sie viel, sodann aber wollen sie lachen oder etwas Albernes vernehmen." Italienische Reise, 6. O k t o b e r 1786, Werke, hrsg. v. T r u n z , H a m b u r g , B d . X I , 1961, S. 81. 7 8
9 I m G e g e n s a t z zu den Fiabe, in denen Schlegel die grobe F a r b g e b u n g und die „Plumpheit der Charakterzeichnung" angebracht findet, mißfallen sie ihm in den Bearbeitungen spanischer Stücke. Folgendermaßen beurteilt er in einer Rezension aus dem J a h r e 1802 G o z z i s Bearbeitung (II pubblico segreto) v o n C a l d e r o n s El secreto a voces: „Die Wahrheit zu gestehen, so sind die K i n d e r märchen eigentlich G o z z i s S t ä r k e : w o er sich v o n dieser phantastischen R e g i o n entfernt, ist er weit weniger origineller Dichter und wahrer Künstler. Es ist etwas stark, d a ß er hier nur so im allgemeinen den Stoff entlehnt zu haben versichert, da alle die sinnreichen Erfindungen, welche das Wesen der Verwicklung ausmachen, dem spanischen Dichter angehören, bei dem zugleich die A u s f ü h r u n g die größte Feinheit und B i l d u n g hat. G o z z i hat durchaus nichts getan, als das Stück mit seinen gewöhnlichen M a s k e n ausgestattet, die hier eine z u m Teil
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bis zur unzweideutigsten Begreiflichkeit eingeschärft, alle Striche der Darstellung sind derb und handfest". Zur Bestätigung seiner Analyse verweist Schlegel auf Gozzi selbst: „Er (Gozzi) sagt, er wisse wohl, daß seine Landsleute die robusten Situationen lieben" (V, 365). Friedrich Schlegel hält die Fiabe für „grob crayonirt" (LN, 62); sie gelten ihm, wie noch zu zeigen sein wird, als die repräsentativsten Modelle einer „exzentrischen Poesie" voller „komischer und tragischer Ausschweifungen und Übertreibungen" 10 . 3. Die Tendenz Gozzis, sowohl im scherzhaften als auch im ernsthaften Teil „weit über die natürliche Wahrheit" hinauszugehen, führt konsequent zum märchenhaft Wunderbaren und zur Exzentrik der Commedia dell'arte. Bemerkenswert ist hier, daß A. W. Schlegel die Maskenrollen als ebenso wirklichkeitsfern und „wunderlich" empfindet wie die eigentliche Märchenhandlung. Und in der T a t hatte ja Gozzi zu den Masken und dem „phantastischen" Typus der Commedia dell'arte gegriffen, um den realistischen Bestrebungen der Komödie Goldonis entgegenzuwirken. Wenn Adriana Marelli in Anlehnung an Giovanni Ziccardi das Gegeneinander von Masken- und Märchenwelt als den „Widerstreit von Phantastischem und Realistischem" (S. 29) deutet, so kann diese Definition zu Mißverständnissen führen, insofern Marelli nicht näher erläutert, was sie unter „realistisch" versteht. Uns jedenfalls scheint, daß die Isolierung und exzentrische Stilisierung des Sinnlich-Triebhaften in den Masken nicht weniger wirklichkeitsfern ist, als die des GeistigEthischen in den Märchenhelden. 4. Es gehört weiterhin zur Gozzischen Manier, daß Burleske und Pathos fortwährend in größte Nähe zueinander rücken, sei es, daß Masken und Märchenhelden gemeinsam eine Szene bestreiten oder sei es, daß sie einander in der Szenenfolge ablösen. Dabei gehorcht das Gegen- und Nacheinander von komischen und pathetischen Teilen dem Gesetz des Gleichgewichts in der fortwährenden Kontrastierung. Nur in höchst pathetischen Zuspitzungen des dramatischen Geschehens läßt Gozzi die Masken für kurze Zeit in den Hintergrund treten. Diese Komponente der Gozzischen Manier läßt sich zwar nicht direkt aus der Analyse A. W. Schlegels her-
überflüssige, ja sogar hinderliche Zugabe sind. D e r einzige Maskencharakter, den er in dem Originale v o r f a n d , ist der komisdie Bediente, der gracioso, der bei ihm z u m Truffaldin g e w o r d e n ; den ganz ernsthaften V a t e r der L a u r a hat er zum P a n t a l o n gemacht, und den T a r t a g l i a als Zermonienmeister, den Brighella als H o f p o e t e n ganz von dem Seinigen hinzugefügt; der für L a u r a von ihrem V a t e r bestimmte B r ä u t i g a m ist im Spanischen auch keine solche K a r i k a t u r , sondern bloß ein verschmähter L i e b h a b e r " (Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. I X , S. 2 1 9 ) . 10 Athenäums-Tragment N r . 2 5 8 . W e n n nicht anders vermerkt, sind die Friedrich Schlegel-Zitate der kritischen Ausgabe ( K A ) entnommen. Die AthenäumsF r a g m e n t e ( K A , Bd. I I ) werden im folgenden mit A gekennzeichnet.
103
leiten, dürfte aber seinen Vorstellungen von den Fiabe, in denen er ein nach Art und Grad künstlerisch geordnetes Verhältnis von Scherz und Ernst beobachtet, voll und ganz entsprechen. Darüber hinaus hat Franz H o r n auf das ausgewogene Neben- und Nacheinander von Komik und Pathos in den Fiabe hingewiesen: „Nie ist das Angenehme ohne das Erhabene, nie das Erhabene ohne das Angenehme gegeben worden - nie wird das Tiefste in uns ergriffen, ohne wieder beruhigt zu werden - nie steht das Tragische oder das Komische allein da, es hat sich wechselseitig durchdrungen " 1 1 . 5. Ganz in Einklang mit den „komischen oder tragischen Ausschweifungen und Übertreibungen" (F. Schlegel) der Fiabe steht der massive Einsatz von Dekoration, Maschinenkunst und Musik. Friedrich charakterisiert die Fiabe unter diesem Aspekt geradezu als „Dekorationspoesie" (LN, 62) oder auch als „Zauber- und Spektakelstücke" 12 . In einem Vergleich der Komödien von Cervantes mit den Fiabe heißt es: „Auch äußerliche Erscheinungen, Lärm, Glanz, Musik ist in Cervantes' Komödien viel gegeben; fast wie Gozzi darin; oft ebenso leicht und dekorationsmäßig." (LN, 171).
Die spätklassizistische, nach Shakespeare hin geöffnete Kritik der Goethezeit mußte die Fiabe ablehnen. Eschenburg, der durch Lessing auf Gozzi aufmerksam gemacht worden war 1 3 und dessen Urteil als das ausgewogenste der ersten Phase der Gozzi-Kritik in Deutschland (von 1777, dem Erscheinungsjahr des ersten Bandes der Gozzi-Übersetznng von Cl. A. Werth es bis zu Friedrich Schlegels Athenäums-Fragmenten im Jahre 1798) angesehen werden muß, tadelt die mangelnde Tiefe der Personengestaltung Gozzis: „Es scheint indess, daß man . . . die Bewunderung übertrieben, und dem Grafen Gozzi, dessen erfinderisches Genie und Witz unleugbar sind, zuviel Ehre erwiesen habe, wenn man ihn, wie so oft geschehen ist, den Shakespeare der Italiener genannt hat. Mit diesem großen englischen Dichter hat er wenigstens die ihm so vorzüglich rühmliche tiefe Menschenkenntnis, die unerschöpflich mannigfaltige und so unendlich abgestufte Charakterzeichnung nicht gemein" 14 . U n d Bouter11 Über Carlo Gozzis dramatische Poesie, in Sonderheit über dessen Turandot und die Schillersche Bearbeitung dieses Schauspiels, Penig, Dienemann, 1803, S. 23. 12 Geschichte der alten und der neuen Literatur, Wiener Vorlesungen aus dem Jahre 1812, K A , Bd. VI, S. 335-336. 13
V g l . HOFFMANN-RUSACK, a. a. O . , S. 2 6 .
14
JOHANN JOACHIM ESCHENBURG, Dramatische
Bibliothek
- eine
charakteristi-
sche und mit Proben ihrer Schauspiele begleitete Anzeige der vorzüglichsten dramatischen Dichter älterer und neuerer Zeit, Berlin u. Stettin, Nicolai, 1793, S. 103.
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wek bemerkt: „Der psychologische Tief blick Shakespeares fehlt ihm . . . Gozzis Charakterzeichnungen sind natürlich und bestimmt, und nie ohne Interesse: aber in das Innere des Geistes dringen sie nicht ein" 15 . Auch das übersteigerte Pathos und der abrupte Wechsel der Stillagen mußte diesen Kritikern mißfallen. Gozzi hat „bei aller Energie seines Dialogs in ernsthafteren Szenen . . . doch auch viele Tiraden, die bloß deklamatorisch sind, und allzusehr ins Unnatürliche und Schwulstige fallen . . . U n d die öfteren Absprünge der Handlung, die augenblickliche Umänderung des ganzen Tons, die viele Einmischung des Wunderbaren stören das Interesse des Lesers allzu oft" 1 6 . Die Romantiker hingegen vermeiden es, die Fiabe mit Maßstäben der Shakespeareschen Dramaturgie abzuurteilen und versuchen stattdessen, die spezifische „Verbindung" von Scherz und Ernst und die aus ihr resultierende spezifische Art der Gestaltung von Personen und Situationen als besondere Möglichkeit romantischer Dichtung zu legitimieren. In den Vorlesungen Uber schöne Literatur und Kunst, deren Ausführungen zur italienischen Literatur des 18. Jahrhunderts nur in Stichworten festgehalten sind, macht A. W. Schlegel im Zusammenhang mit Gozzi auf die Grenzen aufmerksam, die jeder individualisierenden Charakteristik im D r a m a gesetzt sind: „Vergebliches Abquälen um vollkommene Individualität bei der dramatischen Komposition" 1 7 . Gozzi hat, so dürfte A. W. Schlegel weiter argumentiert haben, einen originellen Weg zur Überwindung dieses Dilemmas gefunden, indem er auf jede Form der individualisierenden Charakteristik schlicht und einfach verzichtet. Friedrich Schlegel macht die „synthetischen" Charaktere Gozzis sogar zum Maßstab der Personengestaltung f ü r das D r a m a : „Im D r a m a müssen Charaktere und Situationen synthetisch behandelt werden; die Analyse geht verloren auf der Bühne und macht keinen Effekt. In Gozzi eine . . . äußerst synthetische Behandlung" (LN, 347; zu Friedrich Schleges Theorie des D r a mas, in deren Rahmen dieses Fragment erst voll verständlich wird, s. u. S. 109 f.). Gozzi eröffnet den Romantikern einen ganz eigenen Weg zur Gestaltung der Antithese des Lebens: Der Held ist nicht mehr der Schnittpunkt und Schauplatz widerstreitender Kräfte, sondern der Repräsentant des höheren, geistigen Prinzips, dem die Masken als Verkörperung der sinnlichen N a t u r des Menschen gegenüberstehen. Diese künstliche Isolierung zweier Seiten der menschlichen N a t u r in Verbindung mit der stilistischen Outrierung ins Pathetische und Burleske ermöglicht eine absolute, ins Allegorische drängende Gestaltung des romantischen Gegen15 17
a. a. O., Bd. II, S. 488. ESCHENBURG, a . a . O . , S. 1 0 3 .
a. a. O., Bd. II, S. 338. 105
satzes und der romantischen Verbindung von Endlichem und Unendlichem, Niederem und Hohem, Sinnlichem und Geistigem. Ein derartiges Verständnis der Gozzischen Manier läßt sich beispielsweise in E. Th. A. Hoffmanns Fragment gebliebenem Märchenspiel Prinzessin Blandina nachweisen, das in der Nachahmung Gozzis (und Tiecks) entstanden ist. Folgendermaßen wendet sich der Märchenheld Amandus an Truffaldin: N a c h deiner Kleidung, deinem droll'gen Wesen, scheinst du mir wirklich w a h r e r , leichter Scherz. In tiefem E r n s t schreit ich zu ernster T a t , doch in der dunklen ahnungsvollen Tiefe, aus der dem Magus gleich mit k r ä f t g e m Zauber der Dichter seltsame Gestalten lockt, d a ß sie, Trugbilder z w a r , doch hell und farbigt, v o m höhern Geist beseelt gar seltne Lust dem Glaubigen bereiten - in d e r Tiefe d a gatten E r n s t und Scherz sich willig, wandelnd auf e i n e r Bahn, erreichend gleiches Ziel. D a r u m Geselle! . . . Sei du mein K n a p p e ! W i e ein munteres Liedchen, das sich an ernste Weisen neckisch hängt sollst du mir folgen in den K a m p f . . - 1 8
Zwar stehen sich der Märchenheld und Truffaldin in der Art Gozzis gegenüber, sie haben aber eine allegorische Vertiefung erfahren, insofern sie auf die Gespaltenheit und Einheit der menschlichen Natur verweisen. In diesem Sinne möchten wir auch die „tiefere Bedeutung" verstehen, die A. W. Schlegel in den Fiabe zu sehen glaubt: „Gozzi hatte hieran fast zufällig einen Fund getan, dessen Bedeutung er vielleicht selbst nicht einsah: seine prosaischen, meistens aus dem Stegreif spielenden Masken bildeten ganz von selbst die Ironie des poetischen Teils" (V, 365 f.). Insofern die Bereiche des Erhabenen und des Niederen sich in ihrer strengen Isolierung absolut setzen, fordern sie zur gegenseitigen Relativierung heraus, so daß Schlegel in der Ironie die künstlerische Einheit der Fiabe gesichert sehen kann. Allerdings ist sich Schlegel wohl bewußt - wie die vorsichtig einschränkenden Wendungen seiner Analyse zeigen - , daß er den Fiabe eine Bedeutung unterschiebt, die sich als Intention Gozzis nicht nachweisen läßt. Diese Unsicherheit Schlegels verstehen wir aus unserer heutigen Sicht der Fiabe als durchaus begründet. Gozzi ging es zwar um ein ausgeglichenes Gegen- und Miteinander von Scherz und Ernst, zugleich aber um einen idealen Entwurf der menschlichen Gesellschaft. Scherz und Ernst verteilen
18 Sämtliche Werke, Serapions-Ausgabe, 14 Bde., Berlin u. Leipzig, G r u y t e r , 1 9 2 2 , Bd. X I I I , S. 3 8 4 f.
106
sich nach gesellschaftsideologischen und stiltheoretischen Gesichtspunkten auf die drei Klassen des Adels, des Bürgertums und des Volkes. Der bürgerliche Pantalone bleibt zwar als Maske der niederen Welt Truffaldins verwandt, nähert sich aber zugleich in seinem bürgerlichen Pathos als Vater oder als Erzieher der höheren Welt der Märchenhelden. Insofern Pantalones Komik des gesunden Menschenverstandes und seine Rührseligkeit typisch bürgerliche Züge tragen, setzen sie sich deutlich ab von der niederen Maskenkomik und dem hohen Märchenpathos. Diese Mittellage Pantalones hindert Gozzi nicht daran, seine schreiende Farbgebung beizubehalten. Er steigert im Gegenteil die bürgerliche Rührseligkeit bis ins äußerste Extrem, was Julius Leopold Klein zu folgender satirischer Analyse veranlaßt h a t : „Den typischen Pantalon-Charakter von weichherziger, wackelbärtiger Gutmütigkeit bis zum weinerlich Kindischen hat Gozzi nicht selten ins Hyperbolisch-Märchenhafte übertrieben. Wie er denn auch als Schöpfer der weinerlich-phantastischen Commedia dell'arte zu gelten hat, mit welcher er einen D a m m der von ihm so heftig bekämpften und verspotteten Comedie larmoyante entgegenzusetzen beflissen war. Der berühmte Meerdamm bei Venedig, die ,Marozze' (sie), werden aber nicht von so vieler Salzflut der anstürmenden See überrieselt, als Gozzis Fiabe von Pantalón- und anderen Tränen. Die Anweisung: ,piange', ,weint', ist so stehend in seinen Märchendramen, wie die vier Masken selbst" 19 . Diese Analyse Kleins bedarf allerdings insofern der Korrektur, als die Märchenhelden nie weinen und die Tränen der niederen Masken immer burlesk gemeint sind. Die Rührseligkeit Pantalones steht ganz im Dienste einer exzentrischen Stilisierung des Bürgerstandes. Es ist unwahrscheinlich, daß August Wilhelm Schlegel diese Dreiteilung der Fiabe entgangen ist, aber der gesellschaftsideologische und stiltheoretische Hintergrund verblaßte gemessen an den Möglichkeiten romantischer Weltanschauungsdichtung, die sich ihm mit einer leichten Modifizierung der Struktur der Fiabe auftaten. So konnte er Pantalone mit den niederen Masken auf der Ebene des Scherzes zusammenfallen lassen und von einer Zweigliedrigkeit der Fiabe sprechen, die die Duplizität der menschlichen N a t u r spiegele.
Will man dem romantischen Gozzibild gerecht werden, gilt es, die Gozzische Manier als Idealtypus von den Fiabe selbst zu unterscheiden. August Wilhelm Schlegel geht es in seiner Analyse nicht so sehr um die Fiabe selbst, deren Schwächen er - ebenso wie die übrigen Romantiker
19
Geschichte des Dramas, Leipzig, Weigel, 1866-1869, Bd. VII, S. 682.
107
(ausgenommen Hoffmann) - durchaus gesehen hat, sondern um die gattungstypologische Bestimmung einer möglichen Form des romantischen Dramas. Die Fiabe selbst, auf deren „großen Abstand" von den Werken Calderons und Shakespeares er hinweist, sind „noch mehr phantastisch als romantisch", sie bleiben in einer „rohen Anlage" zur romantischen Dichtung stecken 20 : „Die Ausführung ist keineswegs sorgfältig und künstlerisch ausgebildet, sondern nach Art einer Skizze hingeworfen" (V, 365). Solger bestätigt in seiner Rezension der Vorlesungen
über
dramatische
Kunst und Literatur diese Beurteilung der Fiabe: „Auch über Gozzi mag das sehr gemäßigte Lob des Verfassers das richtige sein; der Rezensent hat eine Vorliebe f ü r seine kühne Laune, doch war es ihm immer auffallend, daß dieser Dichter, ungeachtet der scheinbar so volksmäßigen Elemente seiner Kunst, nie volksmäßig geworden, und daß bei so geistreichen Kompositionen seine Sprache, wo sie nicht komische Provinzialdialekte darstellt, so ungebildet und fast opernmäßig beschaffen ist" 21 . Die „rohe Anlage" Gozzis möchte August Wilhelm Schlegel „in feineren Mischungen . . . wunderbarer Poesie und aufheiternden Scherzes" weiter ausgebildet sehen, derart daß Werke in der Gozzischen Manier ebenbürtig an die Seite der übrigen Meisterwerke des „romantischen" Theaters treten könnten. Auch f ü r Friedrich Schlegel sind die Fiabe erst eine Vorstufe f ü r das eigentliche romantische D r a m a in der Gozzischen Manier: „In Gozzis phantastischen Volksmärchen, seinen Zauber- und
20 A. W. Schlegcls Gozzi-Bild hat eine Entwicklung durdigemacht: In der schon zitierten Rezension aus dem J a h r e 1802 (s. o. S. 102, A n m . 9) erscheint Gozzi mit seinen Fiabe noch als „origineller Dichter und wahrer Künstler". In den Berliner Vorlesungen Über schöne Literatur und. Kunst aus der gleichen Zeit findet sich die N o t i z : „Gozzi romantisch" (Bei. II, S. 389). In den Vorlesungen Über dramatische Kunst und Literatur (1808) schränkt Schlegel sowohl das hohe Lob als auch die Zuordnung Gozzis zur romantischen Dichtung stark ein. Die italienische Gozzi-Kritik hat sich bisher nicht näher mit den ausführlichen und sehr konzentrierten Bemerkungen Schlegels auseinandergesetzt. Masi, der als einziger sich um das Gozzi-Bild der deutschen R o m a n t i k bemüht hat, beschränkt sich auf einige Exzerpte aus der Obersetzung G. Gherardinis (Corso di letteratura drammatica, Milano 1844). Diese Übersetzung eines treuen Klassizisten, dem es trotz seiner Bemühungen nicht gelungen war, sich in der Gedankenwelt Schlegels zurechtzufinden und der in zahlreichen Anmerkungen gegen Schlegel polemisiert (vgl. LAVINIA MAZUC.CHCTTI, A. W. Schiegel und die italienische Literatur, Zürich, von Rascher, 1917, S. 99 f), w a r nicht geeignet, das Verständnis der Italiener f ü r Schlegels Gozzi-Bild zu erleichtern. Wenn Gherardini übersetzt „i'invenzicnc e piuttosto originale che romantica . . ." („Es sind Stücke . . . noch mehr phantastisch als romantisch"), dann verfälscht er den Gedanken Schlegels. Der Begriff der Originalität h a t mit dem des Phantastischen nichts gemein und tritt in einen sinnlosen Gegensatz zum Begriff des Romantischen. In ähnlicher Form verfälscht Gherardinis Übersetzung die Bemerkungen zur Ironie der Fiabe. 21 Nachgelassene Schriften und Briefe, hrsg. von Ludwig Tieck u. F. v. Raumer, Bd. II, Leipzig, Brockhaus, 1826, S. 543-544.
108
Spektakelstücken, sehen wir eine w a h r h a f t poetische Erfindungskraft, aber ohne die musikalische Ausbildung, ohne den Schmuck der Phantasie, w o durch die Poesie, die in ihnen liegt, erst ganz zur Erscheinung und Wirkung kommen würde" 2 2 . Friedrich Schlegel geht aber noch einen entscheidenden Schritt weiter: indem er sowohl die Fiabe als auch die Gozzische Manier in ein andersartiges dichtungstheoretisches Bezugssystem hineinstellt, das von der Alternative Klassik-Romantik unberührt bleibt, vermag er auch die Fiabe als Meisterwerke anzuerkennen. Schlegel unterscheidet die eigentliche oder „poetische Poesie" von der „ a n g e w a n d t e n " oder „rhetorischen" Poesie. Erstere ist eine besondere und notwendige Form der Erkenntnis, die sich „auf das Bedürfnis, welches aus der Unvollkommenheit der Philosophie hervorgeht, das Unendliche darzustellen" 2 3 , gründet. Die poetische Poesie soll zur O f f e n b a r u n g und Anschauung der „unendlichen Fülle" verhelfen. Die rhetorische Poesie hingegen steht im Dienste der Praxis, „es m u ß alles mit dem Ethischen verschmolzen sein, alles ethischen Ton haben" (LN, 13). Noch allgemeiner formuliert Schlegel: „alle angewandte Poesie soll einen Effekt bewirken" ( L N , 335). In der dramatischen Literatur ist f ü r Schlegel die „Effektpoesie" besonders reichhaltig vertreten, insofern der Dichter sich vor die N o t w e n digkeit gestellt sieht, einem gemischten Publikum oder gar „der Menge" (A, 245) zu gefallen. H i e r i n sieht Friedrich eine Schwäche des D r a m a s als G a t t u n g : der Dichter m u ß „bloß aufs Einzelne, auf den Effekt hin arbeiten, die kunstmäßige ,poetische' Konstruktion des Ganzen mehr u n d mehr vernachlässigen u n d das Publikum bloß durch einzelne hervorstechende Schönheiten, durch Eleganz, Zierlichkeit u n d rhetorischem P r u n k zu blenden suchen. M a n k a n n also im ganzen mit Recht sagen: das D r a m a geht immer auf den Effekt" 2 4 . Diese kategorische Bemerkung gilt allerdings nur f ü r Werke, die im Hinblick auf die szenische A u f f ü h r u n g a b g e f a ß t sind. An anderer Stelle setzt Schlegel „die rhetorische Poesie, welche nur auf der Bühne existiert", d. h. erst in der theatralischen A u f f ü h r u n g Leben gewinnt, u n d die „höhere dramatische Kunst", die von der szenischen A u f f ü h r u n g unabhängig bleibt, voneinander ab u n d betont, d a ß beide nicht mit denselben Maßstäben beurteilt werden dürfen (A, 36). Seine Maßstäbe f ü r die effektsichere Bühnendichtung zieht er aus C a r l o Gozzi, den er zum „Mei-
22
Geschichte der alten u. der neuen Literatur, a. a. O., S. 335-336.
23
K ö l n e r Vorlesungen, 1807, zit. nach KARL KONRAD POHLHEIM, Die
Ara-
beske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik, München, Schöningh, 1 9 6 6 , S. 5 9 . 24
Die griechische Literatur, KA, Bd. XI, S. 83. 109
ster der Effektpoesie" macht25. Die Grundregel: „gute Dramen müssen drastisch sein" (A, 42) dürfte er aus den Fiabe abstrahiert haben. Im so verstandenen rhetorischen Drama dürfen die Charaktere „nur toccirt sein . . . wie im Gozzi" (LN, 360), müssen „synthetisch" behandelt werden, denn „die Analyse geht auf der Bühne verloren und macht keinen Effekt" (LN, 347). Überhaupt bedarf das „drastische" Bühnenspiel in keiner Hinsicht der verfeinernden dichterischen Feile (LN, 360), stattdessen ist es zur Steigerung des Effekts auf den massiven Einsatz der Künste des Dekorateurs, des Maschinisten oder der Musik angewiesen. In Gozzi beobachtet Schlegel „eine dekorationsmäßig auf den Effekt mit Macht hinstrebende . . . Behandlung" des dramatischen Stoffes (LN, 347). Selbst zu den Mitteln der Demagogie greift das rhetorische Drama: „Im Pantalone, Tmffaldino ... eine sehr feine Schmeichelei des venezianischen Volkes" (LN, 68). Auch bei der inhaltlich-gehaltlichen Bestimmung des rhetorischen Dramas stützt sich Schlegel auf Gozzi: „Ein Gedicht oder ein Drama, welches der Menge gefallen soll, muß ein wenig von allem haben, eine Art Mikrokosmos sein. Ein wenig Unglück und ein wenig Glück, etwas Kunst, und etwas Natur, die gehörige Quantität Tugend und eine gewisse Dosis Laster. Auch Geist muß drin sein mit Witz, ja sogar Philosophie, und vorzüglich Moral, auch Politik mitunter. Hilft ein Ingredienz nicht, so kann vielleicht das andere helfen. Und gesetzt auch, das Ganze könnte nicht helfen, so könnte es doch auch, wie manche darum immer zu lobende Medizin, wenigstens nicht schaden" (A, 245). Der Name Gozzis fällt zwar nicht in diesem Fragment Friedrich Schlegels, aber es steht zwischen den beiden einzigen Fragmenten des Athenäums (Nr. 244 u. Nr. 246), in denen Gozzi direkt genannt wird. Ganz offensichtlich ist die Formel für die Komposition eines Dramas, „das der Menge gefallen will", sowohl in der Art der Ingredienzien als auch in ihrer jeweiligen Quantität den Fiabe entnommen. Nur das Unglück ist in der Intensität zu niedrig angesetzt. Die Mischung als ganzes will nicht zu gewichtig genommen werden. Die Schlußpointe des Fragments dürfte sich an ähnliche Bemerkungen Gozzis anlehnen, der immer wieder betont, daß seine Fiabe ein „divertimento teatrale innocente" sein wollen. Wenn August Wilhelm Schlegel die Fiabe als „Stücke auf den Effekt, wenn es je dergleichen gegeben hat", definiert, so übernimmt er damit das Urteil seines Bruders. Auch für ihn sind sie „originelle und wirklich theatralische Unterhaltung" (V, 366). Sobald die Brüder Schlegel Gozzi nicht mehr an den Meistern des romantischen Dramas messen, sondern
25 Philosophische Lehrjahre 1796-1806, Fragment stammt aus dem Jahre 1798.
110
I. Teil, KA, Bd. XVIII, S. 230; das
die Fiabe aus der Perspektive der theatralischen „Effektpoesie" betrachten, werden sie den Intentionen Gozzis voll und ganz gerecht. Mit der Zuordnung zur „Effektpoesie" oder „Dekorationspoesie" markiert Schlegel zwar die Grenzen der Fiabe, ohne damit jedoch ihre Verurteilung zu bezwecken. Er betont ausdrücklich, daß Gozzi „auf den E f f e k t . . . dichtete, ohne der Würde etwas zu vergeben" 26 . Ein Pendant aus der Philosophie wären Rousseau, Voltaire und Diderot als „die größten Effektphilosophen" 2 7 . Es geht Schlegel hier um Formen der Dichtung und Philosophie, die zwar ihren theoretischen Charakter als Wege der Erkenntnis verloren haben und im Dienste eines praktischen Zieles auf durchschlagende Breitenwirkung angelegt sind, aber nichtsdestoweniger als rhetorische Poesie und rhetorische Philosophie auf dem zweiten Platz der Rangordnung Beachtung verdienen. Es bleibt uns noch, näher zu bestimmen, was nach Ansicht Friedrich Schlegels den Fiabe fehlt, um zum Bereich der „poetischen Poesie" Zugang zu finden. Der Vergleich Gozzi-Aristophanes im Athenäums-Vrzgment N r . 246 gibt hier Aufschluß: „Magie, Karikatur, und Materialität sind die Mittel, durch welche die moderne Komödie der alten aristophanischen im Inneren, wie durch demagogische Popularität im Äußern, ähnlich werden kann, und in Gozzi bis zur Erinnerung geworden ist. Das Wesen der komischen Kunst aber bleibt immer der enthusiastische Geist und die klassische Form". Kurt-Heinz Niedrig versteht dieses Fragment so, als ob Schlegel in den Fiabe eine moderne Entsprechung zur aristophanischen Komödie sehe 28 . In Wirklichkeit läuft der Vergleich aber doch darauf hinaus, daß für Schlegel eine Annäherung der beiden Autoren im Vordergründigen stecken bleiben muß (Magie, Karikatur, Materialität und demagogische Popularität), während der „enthusiastische Geist und die klassische Form" als „das Wesen der komischen Kunst" den Fiabe fehlen. Wenn Schlegel vom „enthusiastischen Geist" als dem Wesen der komischen Kunst spricht, so hat er die Aristophanes-Deutung seines Aufsatzes Über den ästhetischen Wert der griechischen Komödie (1794) vor Augen 29 . Schlegel sucht, schon ganz im Sinne der transzendentalen Bedingung der Kunst, den poetischen Wert des Aristophanes in der Verbindung des Unendlichen mit dem Endlichen, im Verweis auf das Göttliche, das Absolute. Hölderlin und Nietzsche präludierend, hat er die dionysische Seite der griechischen Kultur erkannt und die „reine Komödie" als „Poe28
ebda., S. 68. ebda., S. 230. 28 Die Lustspieltheorie Friedrich Schlegels - ihre Stellung und Wirkung in der Romantik, Diss., Maschinensdir., Heidelberg 1950, S. 73. 29 Prosaische Jugendschriften, hrsg. von Jakob Minor, 2 Bde, Wien 1882, Bd. I; zit. wird nach der Ausgabe von Paul Kluckhohn in der Reihe: Deutsche Literatur, Abt. Romantik, Bd. II. 27
111
sie der Freude" definiert. In der Freude sei den Griechen die Verbindung des Leichtesten mit dem Höchsten gegeben, so wie sie in der Gestalt des Bacchus als „Vermählung . . . des Fröhlichen mit dem Göttlichen" (S. 111) zum Ausdruck komme. Eben darin liege die hohe Bedeutung der Freude als Organ der höheren, geistigen N a t u r des Menschen, daß sie an die Grenzen irdischen Genusses führe und den Menschen das Höchste, Absolute ahnen lasse: „Es gibt für jedes empfindende Wesen eine Freude, welche keinen Zusatz zu leiden scheint, weil sie keine Grenzen hat als die beschränkte Empfänglichkeit des Subjekts. In dem Höchsten, was er fassen kann, erscheint dem Menschen das unbedingt Höchste; seine höchste Freude ist ihm ein Bild von dem Genüsse des unendlichen Wesens" (S. 111). Die alte Komödie, ursprünglich eine öffentliche religiöse Handlung als Teil der Bacchusfeste, bringe diesen Doppelaspekt der Freude zum Ausdruck: als „ein Rausch der Fröhlichkeit ist sie zugleich ein Erguß heiliger Begeisterung" (S. 110). Zur N a t u r der dionysischen Freude gehört f ü r Schlegel die unbedingte Freiheit: „auch die kleinste Beschränkung raubt der Freude ihre hohe Bedeutung und damit ihre Schönheit" (S. 112). Die äußere Freiheit manifestiere sich in der mutwilligen Verletzung äußerer Schranken, wie sie von Staat, Gesellschaft und Kirche aufgerichtet werden; die innere Freiheit in der reinen Willkür, die zur alleinigen Richtschnur des Handelns gemacht wird. Die reine Komödie als poetischer Ausdruck einer so grenzenlos freien, kultischen Freude müsse formal auf jeden „regelmäßigen" Aufbau zu Gunsten „der gesetzlosesten Willkür und der unbegrenztesten Freiheit" verzichten. Aber gerade das sei die „klassische Form" einer Komödie, die sich als reinsten Gegensatz zur „Poesie des Ernstes", zur Tragödie, verstehe: „Die Formlosigkeit ist nur scheinbar, die U n f o r m selbst ist hier die höchste Kunst und bezeichnet das echte Wesen der Gattung" 3 0 .
30 Charakteristik der griechischen Komödie, in: Die griechische Literatur, 1803-04, K A , Bd. X I , S. 89. Diese zweite Aristophanes-Deutung aus dem Jahre 1804 weicht insofern vom ersten Aristophanes-Aufsatz ab, als Schlegel jetzt die reine Komödie als „Poesie des Witzes" definiert. Vom dionysischen G r u n d der aristophanischen Komödie ist nichts mehr zu spüren, denn „der Witz liegt dem Verstände näher als dem H e r z e n " . D e r Witz zielt darauf, „die Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen aufzufinden, die sonst sehr unabhängig, verschieden oder getrennt sind, und so das Mannigfaltigste, Verschiedenartigste zur Einheit zu verbinden" (KA, X I , S. 301). Aber insofern der „kombinatorische W i t z " auf die ursprüngliche Einheit alles Wirklichen verweist und die „unendliche Fülle" (über den Begriff der „unendlichen Fülle" bei Schlegel s. POHLHEIM, S. 56-61) zur geistigen Anschauung bringt, übt er eine der Freude ebenbürtige Funktion aus. August Wilhelm, der den metaphysischen Höhenflug seines Bruders nicht in vollem Ausmaße nachzuvollziehen bereit ist, wandelt die Definition der reinen Komödie in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur erneut
112
Weder den „enthusiastischen Geist" noch die „klassische F o r m " der Komödie konnte Schlegel in den Fiabe finden: Weit entfernt davon, als reiner, uninteressierter Ausdruck eines heiligen Rausches der Fröhlichkeit auf das Höchste zu verweisen, sind sie ganz auf den Effekt angelegt, in dessen Dienst sich die scheinbaren formalen Freiheiten Gozzis stellen. Gozzi und Aristophanes stehen einander als Repräsentanten der „rhetorischen" und der „poetischen Poesie" gegenüber: „Die Komödien des Aristophanes sind Kunstwerke, die sich von allen Seiten sehen lassen. Gozzis Dramen haben einen Gesichtspunkt" ( K A , Bd. I I , N r . 244). Wie unabsehbar groß der Abstand zwischen Aristophanes und Gozzi ist, mag folgendes Fragment zeigen: „Wer frisch vom Aristophanes, dem Olymp der K o m ö die, kommt, dem erscheint die romantische Persiflage (hiermit
dürfte
Gozzi gemeint sein) wie eine lang ausgesponnene Faser aus einem Gewebe der Athene, wie eine Flocke des himmlischen Feuers, von der das beste im Herabfallen auf die Erde verflog" (A, 154). Wie schon erwähnt, nimmt K a r l - H e i n z Niedrig an, Schlegel sehe in den Fiabe eine moderne Wiedergeburt
der aristophanischen Komödie.
Er
stützt sich dabei auf den Begriff der Magie, der neben Karikatur, Materialität und Demagogie einen gemeinsamen Nenner für die Fiabe und die aristophanische Komödie stellt. Die Magie - so Niedrig - diene Schlegel als Bezeichnung für „das höchste schöpferische Vermögen" (S. 74) des Dichters. In der T a t kann Schlegel im Veröffentlichungsjahr der
Athenäums-
Fragmente in seine Notizhefte schreiben: „die wahre Magie ist ein Experimentieren mit der Phantasie auf die Gottheit" 3 1 , womit die Magie in die Reihe der Lieblingstermini Schlegels aufrückt, die der Vision des Unendlichen und des Göttlichen als Kriterium für den künstlerischen Wert eines dichterischen Werkes nachgehen. Im Athenäums-Fr&gmsnt
aber spielt der
Begriff ganz konkret auf das märchenhafte und mythologische Wunderbare als vergleichbaren formalen Eigentümlichkeiten der beiden Autoren an. D a ß Schlegel hier den dichterischen Wert Gozzis zeitweise gesucht haben mag, läßt sich einer Variante des Athenäums-¥ra.gmtnls
aus dem
Jahre 1797 entnehmen: „Das Demagogische des Gozzi dem Aristophanes am nächsten, das Magisch-Wunderbare ein eigentümlicher V o r t e i l " ( L N , 62). Im Athenäums-Vragment
aber muß er der Magie in den Fiabe die
Rolle zuerkennen, die sie tatsächlich spielt: das Magisch-Wunderbare bei Gozzi bleibt das geschickt eingesetzte Mittel eines auf den Effekt angelegten „rhetorischen D r a m a s " . Wir können noch einen Schritt weitergehen und feststellen, daß nur
ab in „Poesie des Scherzes", folgt aber sonst den Hauptlinien der AristophanesDeutung seines Bruders. 31 Philosophische Lehrjahre, II. Epoche, 2. Teil, Nr. 131.
113
d i e Seiten im Aristophanes zum Vergleich mit Gozzi herausfordern, die Schlegel als der reinen Komödie fremd verurteilt. Magie, Karikatur und Materialität stehen als formale Charakteristika ebenfalls bei Aristophanes unter dem Gesetz des Effekts, insofern sie auf „demagogische Popularität" zielen. Unter Materialität versteht Schlegel die satirische Tendenz, die bei Aristophanes - ebenso wie bei Gozzi — auf die vernichtende Verspottung konkreter Persönlichkeiten des öffentlichen und literarischen Lebens zielen kann: „Die Satire des Aristophanes ist sehr oft nicht poetisch, sondern persönlich, und ebenso demagogisch ist die Art, mit der er den Wünschen und den Meinungen des Volkes schmeichelt"32. Innerhalb der reinen Komödie aber, der es einzig um den poetischen Ausdruck fröhlichsten, ausgelassensten Mutwillens geht, verliert das satirische Verlachen bestimmter „objektiver", außerhalb der Komödienwelt existierender materieller Mißstände seine Berechtigung: „Die reine Lust ist selten lächerlich"38. August Wilhelm Schlegel unterscheidet zwei Arten der Satire: „Witz und Spott kann auf eine scherzhafte Art gebraucht werden, beides verträgt sich aber auch mit dem strengsten Ernst, wie uns das Beispiel der römischen S a t i r e . . . beweist, wo dies Mittel zum Zweck des Unwillens und des Hasses diente" 34 . Die Satire findet nur insofern Aufnahme in die reine Komödie, als sie allem Ernst entsagt und sich ganz scherzhaft gibt. Friedrich Schlegel tadelt darum die persönlichen und politischen Nebenabsichten im Werke des von ihm so gefeierten Aristophanes „als eine Entartung, einen Fehler wider die Reinheit der Kunst" 35 . Wenn auch Schlegel damit die Gemeinsamkeiten zwischen Aristophanes und Gozzi auf die Aspekte der aristophanischen Komödie beschränkt, die er als Vergehen gegen die reine Kunst tadelt, so finden Magie, Karikatur, Materialität in dem Augenblick seine volle Anerkennung, als das Bühnenwerk auf den Geist der „poetischen Poesie" verzichtet und sich als „rhetorisches Drama", als „Effektpoesie", ganz der „demagogischen Popularität" verschreibt. Erst indem Schlegel die Fiabe mit den Maßstäben des rhetorischen Dramas mißt, kann Gozzi als der „Meister der Effektpoesie" gefeiert werden. Abschließend sei noch einem Urteil Friedrich Schlegels, das bisher als einziges in der Forschung Beachtung gefunden hat, der ihm gebührende Platz zugewiesen. Im Aufsatz Über Lessing, der 1797 im Lyceum der schönen Künste erschien, wird Gozzi das größte nur denkbare Lob zuteil. Im Zusammenhang einer Analyse der Emilia Galotti bemerkt Schlegel, daß es diesem „Meisterstück des reinen Verstandes... an jenem poetischen
32
Uber den ästhetischen
Wert der griechischen
Komödie,
a. a. O . , S. 116.
33
ebda., S. 110.
34
Über dramatische Kunst und Literatur, a. a. O . , S. 181. Über den ästhetischen Wert der griechischen Komödie, a. a. O., S. 116.
35
114
Verstände, der sich in einem Guarini, Gozzi, Shakespeare so groß zeigt", fehle. W ä h r e n d in der Emilia Galotti auf den ersten Blick z w a r alles recht v e r n ü n f t i g zusammenzugehören scheine, so „zerreißt und streitet doch alles" bei näherem Hinsehen. G a n z anders in den „genialischen W e r k e n " der soeben genannten Autoren, w o zunächst vieles „inkonsequent u n d eigensinnig" erscheinen möge, „bei gründlicherem Forschen (aber) stets innigere H a r m o n i e und tiefere N o t w e n d i g k e i t " sichtbar werde 3 6 . Die Fiabe werden als P r o d u k t e eines „poetischen Verstandes" zu den „genialischen W e r k e n " der „romantischen" dramatischen Literatur gerechnet. Folgendermaßen definiert Schlegel den Genie-Begriff: „Genialit ä t ist Enthusiasmus plus Virtuosität" (LN, 1109). D e r Enthusiasmus als „das einzige Prinzip der Poesie" ( L N , 1846) w i r d hier z u m K r i t e r i u m der positiven Wertung der Fiabe, w ä h r e n d die Emilia Galotti ausschließlich unter dem Aspekt des Virtuosen, als „ein großes Exempel der dramatischen Algebra", gewürdigt werden k a n n . Diese hohe Auszeichnung Gozzis durch Friedrich Schlegel h a t in Italien immer wieder dazu gedient, die Theorie eines „malinteso f o r t u n a t o " des Gozzischen Werkes in der deutschen R o m a n t i k abzustützen (s. o. S. 7 f.). Noch A d r i a n a Marelli bezieht sich auf Schlegels Lessing-Aufsatz, um zu zeigen, d a ß die Fiabe von f ü h r e n d e n R o m a n t i k e r n auf der H ö h e des Shakespeareschen Werkes angesiedelt wurden (S. 47), übersieht aber dabei, d a ß Schlegel einen Neudruck seines Aufsatzes wenige J a h r e später dazu benutzt, u m Gozzi u n d Guarini aus der Nachbarschaft Shakespeares zu entfernen u n d durch Tieck u n d Goethe zu ersetzen 3 7 . Schon die Tatsache, d a ß der Lessing-Aufsatz das früheste Zeugnis der Beschäftigung Schlegels mit Gozzi ist, sollte aber d a v o r warnen, diesem ersten Urteil zu viel Gewicht beizumessen. U n t e r der Anregung seines Bruders August Wilhelm hatte sich Friedrich z w a r schon in f r ü h e n J a h r e n mit der italienischen Literatur befaßt, aber seine H a u p t a u f m e r k s a m k e i t hatte der griechischen Literatur gegolten. Die eigentliche Wende z u m „romantischen Zeitalter" u n d zur Moderne fällt in das J a h r 1796, in dem die Charaktertistiken Jacobis, Forsters u n d eben auch die A b h a n d l u n g über Lessing entstanden sind. Schlegels Kenntnisse der italienischen Literatur aus romantischer Sicht waren noch sehr begrenzt. Auch das spanische Theater k a n n t e er nur flüchtig. Wenn er der Emilia Galotti als „Exempel der dramatischen Algebra" w a h r h a f t poetische Werke entgegenhalten wollte, so standen ihm nicht viele Autoren zur Auswahl zur Verfügung, zumal ja das französische Theater als zu formalistisch-rationalistisch nicht in Frage
36
KA, Bd. II, S. 116-117. A. W. Schlegel und F. Sdilegel, Charakteristiken Nikolovius, 1801. 37
115
und Kritiken, Königsberg,
kam. So mag er sich bei der Einreihung Gozzis neben Shakespeare mehr auf Barettis The Italians (s. o. S. 1 f.) als auf eine eigene Analyse der Fiabe verlassen haben. Aber schon in den Athenäums-Fragmenten von 1798 hatte Schlegel nach einer gründlichen Auseinandersetzung mit Gozzi sein Urteil revidiert. Wie radikal die Änderung war, mag noch einmal an einem besonders sprechenden Vergleich deutlich gemacht werden. Von der Emilia Galotti hatte Schlegel gesagt, man könne dieses Drama „nur frierend bewundern und bewundernd frieren; denn ins Gemüt dringts nicht und kanns nicht dringen, weil es nicht aus dem Gemüt gekommen ist" 38 , ganz im Unterschied zu den „genialischen" Fiabe. Ein Jahr später spricht Schlegel den Fiabe gerade die Verankerung im Gemüt ab: „Aus dem Gemüt braucht ein rhetorisches Drama gar nicht zu kommen, auch bedarf es der F e i l e nicht; aber l e i c h t muß es sein . . . wie im Gozzi" (LN, 360). An die Stelle des „Gemüts" tritt jetzt auch für die Fiabe das Virtuosentum: „Nach dem Tode dieser Großen (Cervantes und Shakespeare) erlosch die schöne Poesie in ihren Ländern . . . In der Poesie . . . gab es zwar vom Lope de Vega bis zum Gozzi manche schätzbare Virtuosen, aber doch keine Poeten, und jene nur für die Bühne" 39 . Die Emilia Galotti und die Fiabe sind jetzt insofern einander näher gerückt, als auch den Fiabe die Zuordnung zur „poetischen Poesie" versagt bleibt. Im Unterschied zur „in Schweiß und Pein" komponierten Emilia Galotti aber entsprechen sie in vollkommener Weise den Vorstellungen Schlegels vom rhetorischen Drama, das im Hinblick auf eine effektsichere szenische Darbietung „leicht und grob crayonirt" (LN, 60) sein muß. Und begeistert kann er ausrufen: „Wunderbar die Kraft in Gozzi, bei der völligen Aufgelöstheit des inneren Menschen, der Zerstörung alles Gemüts" (LN, 60).
38
KA, Bd II, S. 116. Epochen der Dichtung, im Gespräch über Poesie, erschienen im 3. Band des Athenäum, 1800, KA, Bd. II, S. 302. Calderón war zur Zeit der Abfassung des Gesprächs über Poesie nodi weitgehend unentdedkt. In einem Neudruck des Gesprächs wird der inzwischen verherrlichte Calderón entsprechend gewürdigt; im Anschluß an das obige Zitat heißt es: „Die einzige glänzende Ausnahme bildet Calderón, der spanische Shakespeare, als wahrer Künstler und großer Dichter" (KA, II, S. 302). 39
116
2. D i e
a) T i e c k s
frühen Märchenspiele Ludwig und die „ G o z z i s c h e M a n i e r " kritische
Äußerungen
zu
Tiecks
Gozzi
Ludwig Tiecks (1773-1853) kritische Bemerkungen zu den Fiabe erreichen nicht das Niveau der Brüder Schlegel, verraten aber nichtsdestoweniger eine klare Einschätzung ihres dichterischen Wertes. Schon in seinem Jugendaufsatz über Shakespeares Behandlung des Wunderbaren (1793) erklärt er, daß die Komödien Goldonis „in jeder Hinsicht unendlich über den . . . dramatischen Mißgeburten" Gozzis stehen: „Gozzi hat keinen anderen Plan als zu unterhalten und Lachen zu erregen; der größte Teil seiner Schauspiele ist nur Farce, er dramatisiert irgendein orientalisches Märchen, besetzt einen Teil der Rollen mit komischen Personen und fügt das Wunderbare hinzu, um seine Komposition noch bizarrer und grotesker zu machen". Die Gozzische Manier als Nebeneinander von Märchenpathos und Maskenburleske, die in ihrer Übertreibung auf das „Bizarre" und „Groteske" zielen, hat Tieck erkannt, vermag aber keine tiefere Bedeutung hinter dem Ganzen zu sehen und lehnt darum die Fiabe ab. Nur insofern kann er ihnen einige Anerkennung zollen, als sie „eine gewisse flüchtige Laune, einen lebendigen Witz" 1 verraten. Seine harte Verurteilung Gozzis hat Tieck in den folgenden Jahren gemildert. Sicherlich ist es dem Einfluß der Brüder Schlegel zuzuschreiben, wenn er im 5. Akt des Prinzen Zerbino (1798) Gozzi in die „romantische" Dichterversammlung im „Garten der Poesie" aufnimmt 2 . In den Gesprächen des Phantasus (1812-1816) nennt einer der Gesprächspartner die Fiabe „anmutig und von großer Wirkung" 3 . Wenn Tieck im Blaubart (1796) auf das „Humoristische und Bizarre" 4 besonderen Wert legt und im Opernlibretto Das Ungeheuer und der verzauberte Wald „das Grelle und Phantastische" 5 sucht, so dürfen wir annehmen, daß er jetzt gerade das „Groteske" und das „Bizarre" das er im Shakespeare-Aufsatz noch verurteilt hatte, an den Fiabe schätzt. Aber diese positiven Äußerungen zu Gozzi bleiben doch sehr spärlich und zurückhaltend. Die Rangordnung Goldoni-Gozzi, so wie Tieck sie im Shakespeare-Aufsatz festgelegt hatte, bleibt trotz der neuen Sympathien für die „geistreichen Versuche" Gozzis erhalten. In seiner späten Schrift Das deutsche Drama heißt es: „Gozzi machte den Versuch, das
1 2 3 4 5
Kritische Schriften, 4 Bde., Leipzig, Brockhaus, 1848, Bd. I, S. 60. Schriften, Berlin, Reimer, 1828, Bd. X , S. 276. Schriften, Bd. V, S. 6. Schriften, Bd. I, S. V I I . Schriften, Bd. X I , S. 150.
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Maskenspiel und die Kunst des Improvisierens in Märchen oder Schauspielen, die er wieder den Spaniern nachbildete, zum Nationaltheater zu erheben und Goldoni und dessen kleinliche Schilderungen zu verdrängen, aber mit dem Absterben der Truppe Sacchi sind auch seine geistreichen Versuche in Italien für immer gestorben, und der deutsche Leser muß sich gestehen, daß Gozzis Polemik gegen Goldoni eine einseitige und unbillige ist, da dieser überdies mannigfaltiger und reicher in seinen Gemälden sich zeigt, als Gozzi, der mehr blendet als befriedigt" 6 . Abgesehen von den Vorbehalten gegenüber dem dichterischen Rang Gozzis wird in dieser letzten Äußerung ein konkreter Aspekt sichtbar, unter dem die Fiabe das Interesse Tiecks auf sich lenken konnten. Seit Lessing kreisten die dramaturgischen Bemühungen der Goethe-Zeit um die Schaffung eines deutschen Nationaltheaters. Schon in einem anonymen Brief mit Datum vom 21. Mai 1777, der im Theater-Journal für Deutschland1 abgedruckt ist, rückt Gozzi als „das verbrüderte Genie" neben Lessing, insofern beide gegen die Vorherrschaft des französischen Geschmacks zugunsten einer mündigen nationalen Literatur kämpften. Zum Hauptkriterium seiner Fiabe soll Gozzi die „Nationalgrazie" gemacht haben, so wie er sie in den Maskenspielen der Commedia dell'arte vorfand. Auch Goethe sieht in seiner Italienischen Reise den Reiz der Fiabe in ihrer besonderen Verbundenheit mit dem „Volk". Im Anschluß an die Aufführung eines Stegreifspiels im Theater St. Lukas in Venedig notiert er, daß das „Volk . . . die Base (ist), worauf dies alles ruht; die Zuschauer spielen mit, und die Menge verschmilzt mit dem Theater in ein Ganzes. Den Tag über auf dem Platz und am U f e r . . . Und abends gehen sie ins Theater und sehen und hören das Leben ihres Tages, künstlich zusammengestellt, artiger aufgestutzt, mit Märchen durchflochten, durch Masken von der Wirklichkeit abgerückt, durch Sitten genähert. Hierüber freuen sie sich kindisch, schreien wieder, klatschen und lärmen" 8 . Auch für Tieck sind die Italiener „nur in ihren extemporisierten Maskenlustspielen national zu nennen"9. Gozzis Leitidee habe darin bestanden, auf der Grundlage der Commedia dell'arte ein literarisches Nationaltheater zu schaffen. Allerdings sei dieser Versuch gescheitert, denn „wie wenig Gozzi trotz seines Talents und augenblicklichen Beifalls national gewesen, beweist, daß er schon jetzt in seinem Vaterlande vergessen ist" 10 . Aber wenn auch die Bemühungen Gozzis fruchtlos geblieben sind, so
Kritische Schriften, a. a. O., Bd. IV, S. 193. Gotha, Ettinger, 1777, S. 167-173. 8 Hamburger Ausgabe, Bd. X I , 1961, S. 80 f. 8 Das altenglische Theater, 1811, in: Kritische Schriften, a. a. O., Bd. I, S. 219. 10 ebda., S. 136. 6
7
118
weisen seine Versuche für Tieck dodi auf einen möglichen Weg zum Nationaltheater. In seinem Entwurf eines Berliner „Volkstheaters" scheut er sich nicht, auch Gozzi für das Repertoire einer solchen Bühne zu empfehlen: „Was hinderte, selbst die Märchen und Masken des Gozzi zu versuchen" 11 ? Tieck denkt hier mehr an die Gozzische Manier, die auf deutsche Verhältnisse übertragen werden müßte, als an die Fiabe selbst. In den Phantasus-Ges^r'i.à\en gesteht Lothar seine Vorliebe für die „kleinen Winkeltruppen, die Künstler ohne großen R u f " . Die Vorstellung, von der er berichtet, „war eine jener grellen, populären, die für midi und das Publikum immer Reiz behalten. Die ernsthaften Rollen, die großen Herren und Fürsten, wurden schlecht und steif extemporisiert und nur der N a r r war unvergleichlich, wodurch das Stück ein wahres großes Weltgemälde wurde, und sich von selbst ironisierte". Lothar wertet diese Stücke, die in der Struktur den Fiabe sehr verwandt sind, als „recht poetische Gewächse, die nur auf den Dichter warten, um sich auch einem gebildeten Publikum wieder interessant zu machen" 1 2 . Tieck dürfte bei solchen Uberlegungen das Vorbild Gozzis vor Augen gehabt haben.
b) D i e M ä r c h e n s p i e l e Der g e s t i e f e l t e Kater
Der Blaubart (1797)
(1796)
und
Mit besonderer Vorliebe greift Tieck für seine Märdienspiele zu Perraults Contes de ma mère l'oye. Neben der Sdiülerarbeit Das Reh (1790) bildet nur das Opernlibretto Das Ungeheuer und der verzauberte Wald (1798) eine Ausnahme: beide Stücke sind aus der Bearbeitung der Fiaba vom Blauen Ungeheuer hervorgegangen. Die Hinwendung zu Gozzi im Jahre 1798 ist insofern von besonderer Bedeutung, als sie zweifellos auf eine Anregung Friedrich Schlegels zurückzuführen ist, der Tieck die Möglichkeiten romantischer Dichtung in der Gozzisdien Manier aufgezeigt haben dürfte. In der T a t gibt sich das Opernlibretto als Entwurf eines romantischen Universalkunstwerkes unter weitgehender Berücksichtigung der Gozzischen Manier. Für alle übrigen Märchenspiele Tiecks ist die Gozzische Manier ohne bestimmenden Einfluß geblieben. Damit soll nicht bestritten werden, daß Tieck dem Venezianer die Idee einer Dramatisierung von Märchen verdankt und daß er den Fiabe zahlreiche Motive und verschiedene spieltedinisdie Kunstgriffe entnommen hat, was Brodnitz und Marelli nachgewiesen haben; bestritten wird vielmehr, daß die Gozzische Manier in irgendeiner Form in die Dramatisierung der Märchen Perraults Eingang
" Das deutsche Drama, in: Kritische Schriften, Bd. IV, S. 170. 12 Schriften, Bd. V, S. 437 f.
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gefunden hat. Tieck hatte klar erkannt, daß die Kinder- und Volksmärchen Perraults eine andere Form der Dramatisierung verlangten als die orientalischen Liebeserzählungen. In den Phantasus-Gzsprächen setzt Clara die „Tragödie" vom Leben und Tod des kleinen Rotkäppchens (1800) scharf von der Gozzischen Manier ab: „Gozzi hat einige Gegenstände gewählt, die eben nicht erhabener sind, aber er hat sie pathetischer genommen; unmöglich war die Aufgabe dieser Kindererzählung auf diesem Wege zu lösen, und dennoch endigt sie tragischer als eines der Gozzischen Märchen" 1 . Auch Lothar, der Erzähler des Blaubart, betont ausdrücklich: „In jener Zeit, als ich den Gozzi am eifrigsten las, machte ich auch den Versuch, ein Kindermärchen dramatisch zu bearbeiten, welches, wenn ich mich nicht täusche, doch keine Nachahmung seiner Manier zu nennen ist" 2 . Wenn wir uns trotzdem mit dem Blaubart und dem Gestiefelten Kater befassen, so deshalb, weil die Forschung immer wieder nach der Bedeutung Gozzis gerade für diese beiden Stücke (und den Prinzen Zerbino) gefragt hat 3 und auch Adriana Marelli in ihnen die Gozzische Manier als prägend nachweisen möchte. Das Opernlibretto Das Ungeheuer und der verzauberte Wald hingegen erwähnt Marelli nur flüchtig mit dem Titel (S. 60).
Um dem Gesetz auf die Spur zu kommen, dem Tiecks Interesse an Gozzi in den Jahren 1796-97 gehorcht, müssen wir uns kurz seine geistige Entwicklung vergegenwärtigen: Die agonisierende Aufklärung hatte den frühreifen und sensiblen Tieck in eine erkenntnistheoretische Krise geführt, die in krankhaftem Subjektivismus gipfelte4. Das sprechendste Zeugnis dieser Phase seiner Entwicklung ist der Briefroman William Lovell (1793-95), dem folgender Auszug entnommen ist: „Freilich kann alles, was ich außer mir wahrzunehmen glaube, nur in mir selber existieren. Meine äußeren Sinne modifizieren die Erscheinungen, und mein innerer Sinn ordnet sie, und gibt ihnen Zusammenhang. Dieser innere Sinn gleicht einem künstlich geschliffenen Spiegel, der zerstreute und unkenntliche Formen in ein geordnetes Gemälde zusammenzieht. . . So beherrscht mein äußerer Sinn die physische, mein innerer Sinn die moralische Welt. Alles unterwirft sich meiner Willkür, jede Erscheinung, 1 Sämtliche Werke, Wien 1818-1819, Bd. X I I , S. 10. In der Ausgabe der Schriften von 1828 fehlt diese Stelle. 2 Schriften, Bd. V, S. 6. 3 Einen umfassenden Überblick über die Bemühungen der Forschung um den Blaubart und den Gestiefelten Kater gibt MARELLI, a. a. O., S. 96 ff und S. 160 f. 4 Zur Stellung Tiecks in der Berliner Aufklärung siehe EMIL STAIGER, Ludwig Tieck und der Ursprung der deutschen Romantik, in: Die Neue Rundschau, Jg. 71, 1960, Heft 4, S. 596-622.
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jede H a n d l u n g kann ich nennen, wie es mir gefällt; die lebendige u n d leblose Welt hängt an den Ketten, die mein Geist regiert, mein ganzes Leben ist nur ein T r a u m , dessen mancherlei Gestalten sich nach meinem Willen formen. Ich selbst bin das einzige Gesetz in der ganzen N a t u r , diesem Gesetz gehorcht alles. Ich verliere mich in eine weite, unendliche Wüste" 5 . Diese an Fichte erinnernde Verabsolutierung des Ich als einziger Realität - Tieck kannte Fichte noch nicht - und die Entwirklichung der Welt in P h a n t o m e der Einbildung werden im William Lovell noch als grauenvoll erfahren. Tieck kann sich aber auch darin gefallen, mit der schwerelos gewordenen „Wirklichkeit" sein mutwilliges Spiel zu treiben u n d so die Fiktion einer geordneten Welt als Fiktion sichtbar zu machen. In der Erzählung Die sieben Weiber des Blaubart, die unmittelbar im Anschluß an das Märchendrama vom Ritter Blaubart entstanden ist, verzichtet Tieck auf jede Sinngebung seiner fiktiven Welt, die in zahllose unverbundene Fragmente zerfällt oder sich in Breughelschen Visionen darbietet: „Ich betrachte mit Vergnügen die Werke des wunderlichen H ö l l e n breughel. Die Figuren ziehen midi an, die seltsame Komposition nimmt meine Phantasie gefangen und versetzt sie in einen traumähnlichen Rausch. M a n k a n n nicht gut darüber streiten, ob er sich in seinen Gemälden als Dichter zeigt, aber gefühlt habe ich es jederzeit. Der widersprechende Unsinn, die Tollheiten u n d Unnatürlichkeiten sind gerade das, was er ausdrücken wollte u n d was er nicht weglassen durfte, wenn er Gemälde von diesem ungeheuren C h a r a k t e r liefern wollte. Einfachheit u n d Schönheit wären hier sehr a m unrechten O r t e gewesen. Der Leser erlaube mir, hiervon eine A n w e n d u n g auf mein Buch zu machen . . . Kein einziger Leser kann es so sehr fühlen, als der Verfasser, d a ß es gänzlich an guter Simplizität Mangel leide, d a ß es gar kein Ziel u n d keinen Zweck habe, und sich in jedem Augenblicke widerspreche, d a ß es nur der geringste U n sinn sei, wenn der Blaubart nicht lesen könne, und doch eine Stelle aus dem H o r a z zitiere. W a r u m , geliebter Leser, soll es aber nicht auch einmal ein Budi ohne allen Zusammenhang geben dürfen, da wir so viele mit trefflichem, d a u e r h a f t e n Zusammenhang besitzen? Soll es denn dem w u n derbaren Geschöpfe, Schriftsteller genannt, nicht irgendeinmal vergönnt sein, Sattel und Z a u m von sich loszuschütteln" 6 ? Sattel- und Zaumzeug oder die Kategorien von R a u m , Zeit und Kausalität, die der physischen Welt den Anschein einer gesetzmäßigen O r d n u n g verleihen, streift Tieck als die Wirklichkeit verfälschend von sich ab u n d macht die „wahre Familiengeschichte" Die sieben Weiber des Blaubart zu einem „Tummel-
5 6
William Lovell, i n : Schriften, Bd. V I , S. 1 7 7 - 7 9 . Die sieben Weiber des Blaubart, i n : Schriften, Bd. I X , S. 219 f. 121
platz für Schalkheit, Spaß, seltsame Begebenheiten, ja Kritik in dieser bizarren Form der Selbstparodie des Dargestellten" 7 . Damit aber wird der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Blaubart oder dem Gestiefelten Kater und den Fiabe schon sichtbar: Die Fiabe reflektieren bei aller scheinbaren Willkür eine strenge geistig-sittliche Ordnung des öffentlichen und privaten Lebens. Tieck aber klammert gerade den „Pedantismus für das, was er (Gozzi) die ältere, bessere Zeit nennt" 8 aus seinen Stücken aus, die ein Produkt der reinen Willkür ihres Autors werden. Unter dieser Voraussetzung konnte er kein Verhältnis zur Gozzischen Manier gewinnen, sondern mußte sich darauf beschränken, die Elemente der Fiabe zu isolieren, die ihm gestatteten, sein ausgelassenes, durch kein Ordnungsdenken mehr eingeschränktes Spiel mit einer fiktiven Welt zu intensivieren.
Der Inhalt des Märchens vom Ritter Blaubart, das Tieck den Contes de ma mère l'oye entnahm, ist kurz folgender: Peter Berner, der Ritter mit dem blauen Bart, führt Agnes als seine siebente Frau auf seine einsame Burg. Das Schicksal der ersten Frauen ist in Dunkel gehüllt, aber der unermeßliche Reichtum des Ritters zerstreut alle Bedenken in Agnes. Als Blaubart seine Burg für einige Tage verlassen muß, übergibt er Agnes die Schlüssel zu allen Gemächern, untersagt ihr aber bei schwerster Strafe, eine bestimmte Kammer zu betreten, die ein goldener Schlüssel öffnet. Agnes unterliegt der Versuchung, öffnet die Kammer und erblickt die blutigen Leichen der sechs früheren Ehefrauen des Ritters. Der goldene Schlüssel, den sie in ihrem Schrecken hat fallen lassen, ist blutbefleckt; trotz größter Anstrengungen gelingt es ihr nicht, den Flecken zu beseitigen. Die alte Haushälterin Mechtilde steigert die Todesangst der Unglücklichen, indem sie schaurige Märchen erzählt, wobei sich ihre Gesichtszüge ins Fratzenhafte einer Hexe verzerren. Blaubart entdeckt den Blutflecken am goldenen Schlüssel und schickt sich gerade an, Agnes zu töten, als ihre Brüder Simon, Anton und Leopold eintreffen und ihn unschädlich machen. - Das Märchen ist durch flochten mit einer zweiten. Handlung, einer Liebes- und Entführungsgeschichte, die Tieck selbst hinzugefügt hat. Außerdem bevölkern zwei Narren das Stück. Gehen wir davon aus, daß die Gozzische Manier in der scharfen Trennung des Hohen und des Niederen, des Pathetischen und des Komischen besteht, die in der Gestalt von Märchenhelden und Masken fortwährend miteinander konfrontiert werden, so setzt sich der Blaubart in diesem Punkte ganz entscheidend von den Fiabe ab. Zwar möchte Karl 7 8
Schriften, Bd. VI, S. X X V . Schriften, Bd. I, S. X I I f. 122
S. Guthke im Blaubart
nichts anderes sehen, als „die Gozzische J u x t a p o -
sition von Narretei und Rührung" 9 , aber schon Rudolf H a y m
hatte
bemerkt, daß nicht nur das Stück als Ganzes, sondern auch die Personen „aus dem Burlesken ins Satirische und aus beidem ins Tragische" schillern. Der erste Aufzug sei durchgängig burlesker N a t u r :
„Nicht bloß die
Narren, sondern auch der Held der Geschichte . . . versetzen uns ganz in die Stimmung wie vor dem Vorhang des Kasperletheaters. Blaubart läßt seinen Gegnern den K o p f abschlagen, wie man einen Schluck Wasser trinkt; er ist ein Märchenheld comme
il faut;
seine Brutalität ist so
selbstverständlich, so zuversichtlich naiv, daß sie uns herzlich lachen m a c h t . . . So ist es recht! - wenn sich nur die Haltung des Stücks nicht im Verlaufe vollständig änderte, wenn nur dieses Possenwesen irgend mit den ganz ernsthaft tragischen Szenen in der zweiten H ä l f t e sich zusammenreimte!" Tieck habe es auf Brüche in der Konzeption seiner Gestalten und in der Handlungsführung angelegt, weshalb dem Stück jede Einheit abgehe 10 . In der T a t ist der Blaubart lächerlich und furchterregend, marionettenhaft einfach und psychologisch nuanciert, märchenhaft und alltäglich, ein Unhold und ein Biedermann,
ein Ritter
und ein Spießer.
Adriana
Marelli rechtfertigt die fortwährenden Brüche in der Zeichnung
der
Personen und in der Geschehensabfolge mit der Freude am Rollenspiel: „Vom ,Charakter' her gesehen ist er (Blaubart) nichts von alledem, sondern nur ein Spieler mit vielen Rollen und Gesichtern, geschaffen zur Freude an der Verwandlung" (S. 122). H i e r noch eine Verwandtschaft mit den Fiabe zu suchen, muß ein vergebliches Unterfangen bleiben, denn Inkonsequenzen in den „Charakteren" und in der Handlungsführung sind für Gozzi undenkbar. Die Personen werden in ihrem „ C h a r a k t e r " und ihren Handlungen von der Stilebene bestimmt, der sie zugeordnet sind. Brüche würden Grenzverwischungen bedeuten, aber die Fiaba ist j a gerade darauf angelegt, die Stilebenen in der Outrierung schärfstens gegeneinander abzusetzen. Was nun die Mischung von Scherz und Ernst im besonderen angeht, so verweist Tieck selbst innerhalb des Stücks mehrere Male auf die doppelgesichtige Erscheinung seines „ H e l d e n " : Der blaue B a r t „gibt ihm ein recht grausames, widerliches Aussehen, und dabei sieht er doch etwas lächerlich aus" 1 1 . U n d Agnes sagt von Blaubart: „Ich kann mich immer noch nicht gewöhnen, und an seine Gestalt am wenigsten; ich weiß manchmal nicht, soll ich lachen, oder mich vor ihm fürchten" 1 2 . Eine Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, a. a. O., S. 129. Die romantische Schule, Berlin 1870, S. 94 f. 11 Schriften, Bd. V, S. 28. Vgl. audi S. 10. 12 ebda., S. 90. Auszuschließen aus dieser Kennzeichnung der Personen des Blaubart sind allerdings die Randfiguren, die das eigentliche Geschehen um8
10
123
Anregung zu dieser Verbindung des Lächerlichen und des Furchterregenden konnte Tieck bei Perrault finden, der aber die komischen Seiten in Blaubart im Laufe der Zuspitzung des grausigen Geschehens in den Hintergrund treten läßt, um sich ganz der Verdichtung des Unheimlichen zu widmen. Tieck hingegen läßt auch in die nach Haym „ganz ernsthaft tragischen Szenen" das Lächerliche einbrechen. Eines der Mittel, mit denen Perrault die Steigerung des Unheimlichen erreicht, ist der Verzicht auf eine rational befriedigende Motivierung der Schreckenstat. Tieck hat wohl erkannt, daß hier der Reiz des Märchens begründet lag. In seiner Erzählung Die sieben Weiber des Blaubart spielt er ironisch mit den zahllosen Beweggründen, die zur Tötung der sechs Frauen geführt haben können. Trotzdem aber verzichtet er nicht auf eine „Psychologisierung" seines „Helden" im Drama. Schon im burlesken ersten Akt gibt sich Blaubart als Misanthrop zu erkennen, der den Glauben an die Menschenwürde verloren hat, weshalb er sich - ganz im Gegensatz zum lebenslustigen und geselligen Blaubart Perraults resignierend in die Einsamkeit seiner Burg zurückzieht und sich vorzugsweise mit Narren umgibt. Im besonderem Maße trifft sein Menschenhaß das weibliche Geschlecht. Als er das Vergehen seiner Frau konstatieren muß, verweist er in pathetischen Tiraden auf die Parallelen zum Sündenfall Evas, die bei Perrault ungenannt im Hintergrund bleiben. Durch diese Verengung des Blaubart auf eine exzentrische Form der Misogynie verliert er von seiner dämonischen Größe und bekommt regelrecht bügerliche Züge. Tieck hat diesen Schritt zur teilweisen Psychologisierung des Blaubart mit voller Absicht getan. In dem Moment, wo Blaubart im Namen der Humanität und Menschenwürde sich an die grausame Verfolgung der Evassünde macht, wozu er sich durch ein Gelübde unausweichlich verpflichtet sieht, bricht das Lächerliche in diese „tragische" Szene ein. Das absurde Verhältnis zwischen der Nichtigkeit des Vergehens und dem Ausmaß der Strafe, das moralische Pathos in Verbindung mit der marionettenhaften Gestalt, die Verzerrung des biblischen Berichtes von der Vertreibung aus dem Paradiese machen Blaubart und seine Tat zu einer Groteske 13 . Die Psychologisierung vermenschlicht zwar die Blaubart-Gestalt, aber spielen: mit ihnen hat Tieck die schillernde Mehrdeutigkeit eines Blaubart und eines Simon, einer Mechthild und einer Agnes in hergebrachter Weise aufgefächert in komische (Narr, Ratgeber u. a.) und pathetische Figuren (Leopold, Brigitta u. a.). 13 Das Groteske „ist ein auf lächerliche Weise Ungeheuerliches, chaotisch Abgründiges, Dämonisches, in derart phantastischer Verzerrung, daß es zugleich verblüfft, verfremdet, Grausen und Lachen macht" (GUTHKE, Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, a. a. O., S. 18). 124
nur um sie noch verwirrender zu machen. Hatte das Märchen auf jede Motivierung der Tat verzichtet, so hatte es doch zugleich eine Verbindung Blaubarts mit dem Bösen suggeriert, die im blauen Bart ihren deutlichsten Niederschlag fand. So absurd für ein aufgeklärtes Denken dieser Pakt mit dem Teufel sein mochte, so war er doch im Rahmen der auf ein Märchen abgestellten Lesererwartung durchaus „logisch". Diese Logik nimmt Tieck der Blaubart-Gestalt, um sie durch und durch desorientierend zu machen. Wie sehr sich die Märchengroteske des Blaubart von der Gozzischen Manier entfernt, indem sie die bei Gozzi so streng getrennten Bereiche des Scherzes und des Ernstes, des Hohen und des Niederen bunt durcheinanderwirbelt, mag an einer Analyse der Blaubartgestalt, wie sie der Zauberer Bernhard in der Erzählung Die sieben Weiber des Blaubart gibt, noch einmal verdeutlicht werden. Der Zauberer mit dem prosaischen Namen Bernhard, der nichts als die Tiecksche Variante des Magiers in den Fiabe ist, sieht sich von seinem Schützling Peter enttäuscht: „Alles, was Alexandern, Cäsarn, Hannibaln und die übrigen schon einzeln groß machte, hatte ich in Euch vereinigt, daneben war Euer Leben mit den interessantesten Verwicklungen angefüllt. Eure Liebe ging mit großen Taten immer Hand in Hand, und in Eurer Geliebten hatte sich die höchste Schönheit und der größte Geist vereinigt". Aber stattdessen „nehmt ihr gar nichts Merkwürdiges vor, Fehden und immer Fehden, lauter unbedeutende Kleinigkeiten, um die sich kein Mensch bekümmern möchte. Ihr tut nichts Großes, Ihr rettet niemand das Leben, Ihr besteht keine große Gefahr, Ihr begeht nichts Eigentümliches, Ihr seid nicht im Mindesten originell" 14 . So weit geht die Kritik des Zauberers, daß er Peter geradezu als einen „ungebildeten Naturmenschen" 15 hinstellt, der eine „gewisse Blödsinnigkeit" 16 verrate. Deutlicher läßt sich die Absage an die Gozzische Konzeption des Märchenpathos nicht formulieren. Tieck stimmt seinen Blaubart aus der märchenhaften Vollkommenheit in die Alltagswirklichkeit herab und macht ihn geradezu zum Antihelden. A. W. Schlegel, der den Blaubart auf dem Hintergrund der Ritterdramen der Göiz-Nachfolge sieht, nennt Tieck in seiner Rezension einen wahren „Gegenfüßler unserer gewappneten ritterlichen Schriftsteller: da diese nur darauf arbeiten, das Gemeinste, Abgedroschenste als höchst abenteuerlich, ja unnatürlich vorzusstellen, so hat er sich dagegen bemüht, das Wunderbare so natürlich und schlicht als möglich, gleichsam im Nachtkleide, erscheinen zu lassen. Wie leicht wären hier ein Burgverließ nebst den beweglichsten Ausrufungen, ein u 15 18
Schriften, Bd. I X , S. 188 f. ebda., S. 110. ebda., S. 114.
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geheimer Orden von Blaubärten, Geister u. dgl. m. anzubringen gewesen. Was für verabscheuungswürdige teuflische Dinge hätten sich dem vortrefflichen Bösewicht Blaubart in den Mund legen lassen. Aber nichts von dem allen. Anfangs könnte man den Ritter für nichts weiter als einen rüstigen, heiratslustigen Krieger halten" 17 . Ähnlich verhält es sich mit den übrigen Gestalten des Märchens, deren alltägliche Namen Anton, Simon, Leopold, Winfred usw. schon auf ihre Zugehörigkeit zu einer prosaischen Welt verweisen. Konsequent verzichtet das Stück auf das Gozzische Nebeneinander von gehobener Verssprache, mittlerer Prosa und niederer Improvisation als Träger scharf voneinander getrennter Wertbereiche zugunsten einer durchgängigen Prosa. Und doch will der Blaubart seine Herkunft aus dem Märchen nicht verleugnen. Allein der blaue Bart Peter Berners laßt ein völliges Vergessen seiner Märdiennatur nicht zu. Die Züge der harmlosen Mechtilde können sich zur Fratze der Märchenhexe verzerren, und in den drei Brüdern möchte Marianne Thalmann Züge des „verliebten Pierrot (Leopold), des ehrbar-räsonnierenden Pantalone (Anton) und des Harlekin (Simon)" 18 wiedererkennen. Gerade in diesem Oszillieren zwischen Phantastik und platter Natürlichkeit liegt der besondere Reiz der Gestalten. Die Gozzische Manier aber war für ein so geartetes Märchenspiel unbrauchbar.
Die Gozzische Manier als eine besondere, nach Art und Grad aufeinander abgestimmte Verbindung von Scherz und Ernst findet auch im Gestiefelten Kater keine Anwendung, da diese „kecke, mutwillige Posse" (A. W. Schlegel)19 ganz auf den Gegenpol des Ernstes verzichtet. Trotzdem müssen wir uns mit ihr befassen, da sie Anregungen aus Gozzis satirischer Märdienposse L'amore delle tre melarance erhalten hat. Bei beiden Stücken handelt es sich um eine Theatersatire im Gewand der Märchenposse: Gozzi zielt auf die Verspottung Goldonis und Chiaris, Tiedc hat Iffland und Kotzebue im Auge. Während aber Gozzi seine literarischen Gegner in die Märdienhandlung hineinzuverweben sucht, bringt Tieck die Zuschauer der modischen rührseligen Familiengemälde auf die Bühne und konfrontiert sie mit der Aufführung des phantastischen und komischen Kindermärchens vom Gestiefelten Kater, das gar nicht zu ihrem literarischen Credo passen will. Die lächerlichen Kommentare, mit denen dieses Publikum das Handlungsgeschehen des Kindermärchens be17
Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. XI, S. 136 f. Ludwig Tieck. Der romantische Weltmann aus Berlin, Bern, Francke, 1955, Dalp-Taschenbüdier, Bd. 318, S. 100. 18 Sämtliche Werke, Bd. XI, S. 141. 18
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gleitet, decouvrieren das literarische Bildungsniveau der Ifiland-Kotzebue-Ära im Berliner Nationaltheater. Es könnte so aussehen, als ob Tieck die Ifflandsche Dramaturgie am Modell einer neuen, „romantischen" Märchenkomödie messen und aburteilen wolle. Aber so einfach stellt sich das Verhältnis Tiecks zum Märchen im Gestiefelten Kater nicht dar: nach einer anfänglichen Verspottung des aufklärerischen Banausentums, „geraten auch einige Märchenfiguren hin und wieder in den Ton der Empfindsamkeit und der Moral, mit dem sich, nach unserer Voraussetzung, nur das Publikum kompromittieren sollte. Und andererseits schlägt die Einfalt unversehens in eine Dümmlichkeit um, die Tieck gewiß so wenig vertreten will wie die Moral und den guten Geschmack"20. In der Verspottung des „albernen Ammenmärchens" scheint sich Tieck Gozzi abermals anzunähern. Und doch setzt Tiecks zwiespältige Haltung Märchen, Legenden und Volksbüchern gegenüber einen ganz neuen Blick für die „Volksdichtung" voraus, der an Herder geschult ist. Wenn auch das „alberne Ammenmärchen" im Gestiefelten Kater in burlesker Gestalt erscheint, so vertritt es nichtsdestoweniger eine Komödienkonzeption, die dem pedantischen Wahrscheinlichkeitskult der Aufklärung diametral entgegengesetzt ist. Die Fiaba - und das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren - verstand Gozzi nicht als Alternativtheater zur klassizistischen Komödie oder Tragödie, die für ihn immer verbindliche Normen eines literarischen Theaters blieben, sondern als Volksschauspiel, das aus dem Herrschaftsbereich der Regeln herausfiel. Aber indem Tieck das Märchen vom Gestiefelten Kater in seiner Literatursatire lächerlich macht, und gleichermaßen bereit ist, „sich zu den Bürgern und ihrem gesunden Menschenverstand wie zu der Wunder- und Traumpoesie zu schlagen und ebenso von dieser wie von jenen sich jederzeit wieder zu lösen" 21 , zeigt sich, daß der Gestiefelte Kater gar nicht in erster Linie darauf zielt, die Märchenkomödie dem Rührstück programmatisch entgegenzuhalten. Worum es Tieck geht, wird schon deutlicher, wenn wir berücksichtigen, daß nicht nur der Raum vor der Bühne, das Parterre, ins Spiel einbezogen wird, sondern daß der Zuschauer auch fortwährend einen Blick hinter die Kulissen tut, wenn der Vorhang zu früh aufgeht und Dichter und Maschinist den möglichen Erfolg oder Mißerfolg des Stückes diskutieren, oder wenn der König sich weigert, seine Rolle zu Ende zu spielen, weil das Publikum ihn auslacht. Die Hauptintention Tiecks im Gestiefelten Kater scheint nicht so sehr in dieser oder
10 E M I L STAIGER, Ludwig Tieck und der Ursprung der deutschen Romantik, a. a. O., S. 614. 81 ebda., S. 616; das Zitat bezieht sich auf die Märchenkomödien Tiecks im allgemeinen.
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jener zeitbedingten Satire gegen konkrete Mißstände im literarischen Leben zu liegen, als vielmehr auf ein zeitlos-allgemeines Spiel der Bühne als einer fiktiven Welt mit ihren eigenen Bedingungen zu zielen. Damit aber verhält sich Tieck zur fiktiven Bühnenwelt wie William Lovell zur Wirklichkeit oder der Erzähler der Sieben Weiber des Blaubart zu seiner Erzählwelt. Im Bewußtsein seiner Souveränität spielt er mit allen Bestandteilen seiner fiktiven Welt, die unausgesprochen die Scheinwelt der Wirklichkeit vertritt, indem er in völliger Willkür Geschöpfe setzt und wieder vernichtet, die Perspektiven wechselt, Raum und Zeit relativiert. Tieck selbst deutet mehrfach auf diese Struktureigentümlichkeiten hin: im Gestiefelten Kater will „die Bühne mit sich selber Scherz treiben", es ist ein „Spiel mit dem Spiele . . . , ein Z i r k e l . . . , der in sich selbst zurückkehrt, wo der Leser am Schluß genauso weit ist wie am Anfange" 22 . Ingrid Strohschneider-Kohrs hat in einer überzeugenden Untersuchung das Kompositionsprinzip des Gestiefelten Katers aufgedeckt: „Der Zusammenstoß und das Zusammenwirken von Bühne und Publikum, Theatertechnik und Theaterspiel, Spielbedingungen und Spielwirkungen, Illusion und Gegenillusion: D a s ist T h e m a " 2 3 . Nicht das Märchen als dramatische „Handlung" im traditionellen Sinne, sondern die mißlungene A u f f ü h r u n g dieses Märchens, die die doppelte Wirklichkeit der Bühne als reale und fiktive Welt nicht zur Deckung bringt und die Bedingungen des Theaters sichtbar werden läßt, liefert den „Stoff" des lustspielhaften und dramatischen Geschehens. Den Vorwurf, daß Tieck seine Stücke durch Häufung der traditionellen Mittel der Illusionszerstörung zunichte mache, kann Strohschneider-Kohrs entkräften: Wenn auch Tieck die Grundbedingungen von Bühne und Theater zum Spiel werden lasse, schaffe er doch zugleich vor dem realen Zuschauer eine durchaus kohärente fiktive Welt. „Also einerseits kann von Illusionsstörung nur für das innere Märchenspiel die Rede sein, sie aber zerstört das Lustspiel als Ganzes nicht, sondern versetzt es in sein eigentliches Spielfeld. In diesem eigenen Spielfeld ist eine sehr besondere Behandlung von Illusion erkennbar; sie ist nicht nur Rahmen, Voraussetzung und umgreifende ästhetische Wirklichkeit dieses Lustspiels, sondern — die Möglichkeit der Illusion als Bedingung von Theater ist Thema und Handlungsmotiv - der in Szenerie, Dialog und komischen Einzelhandlungen überaus bewußt dargebotene eigentliche Gegenstand dieses Gesamtstücks"24. Der Gestiefelte Kater kann so als ein Beispiel romantisch-
Schriften, Bd. V, S. 280. INGRID STROHSCHNEIDER-KOHRS, Die romantische Gestaltung, Tübingen 1960, S. 301. 2< ebda., S. 315. 22
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Ironie
in Theorie
und
ironischer Dichtung im Sinne von Schlegels Forderung einer „Poesie der Poesie", einer Selbstdarstellung von Dichtung, verstanden werden. Von dieser Konzeption des Lustspiels lassen sich keine Brücken mehr zu Gozzi schlagen, dessen Amore delle tre melarance ganz in der dramatischen Verspottung seiner Gegner aufgeht. Sicherlich, auch StohschneiderKohrs muß zugeben, daß das Spielprinzip des Gestiefelten Katers nicht konsequent durchgehalten ist und daß die Satire sich manchmal verselbständigt. Trotzdem aber bleibt die Spielidee einer komischen K o n f r o n tation des Theaters mit sich selbst bestimmend f ü r den Entwurf dieser Märchenposse.
Adriana Marelli ist der Ansicht, daß „dieses Spiel um Illusion und Gegenillusion seine Regeln und Methodik von dem . . . System (der Fiaba) empfängt bzw. mit diesem im Grundsatz übereinstimmt" (S. 204). Sie denkt dabei nicht an die Märchenposse L'amore delle tre melarance, sondern an die eigentliche Fiaba. Um diese These nachvollziehen zu können, muß zuvor Marellis hypothetische „Rekonstruktion" des Gozzi-Bildes der deutschen Romantik skizziert werden. Marelli unterscheidet in den Fiabe „eine Maskenspielebene, eine Märchenwirklichkeitsebene und eine Fiktionsebene". Zu dieser Dreigliederung kommt sie durch eine Aufspaltung des Märchenbereichs: Gibt sich das Märchen innerhalb der Fiabe „einerseits als Realität aus und schafft insofern seine Märchenwirklichkeit, so konstituiert es andererseits darüber hinaus einen Fiktionsbereich", in dem Figuren der Märchenwirklichkeit in verwandelter Gestalt auftreten. Neben diesen drei Spielebenen unterscheidet Marelli zwei „Spielzonen" oder „Spielfelder", denn im Spiel können sich „Maskenebene und Märchenwirklichkeitsebene verbinden und verbünden zu einem f ü r sich greifbaren Spielbereich, den man wohl mit dem Terminus ,Spielwirklichkeit' bezeichnen kann". Unter diesen Umständen kann das Märchen eine doppelte Funktion übernehmen: es bildet sowohl „den (phantastischen) Gegenpol zur Masken weit als auch im Zusammenspiel mit den Masken den (,realen') Widerpart zur Spielfiktion". Das Gegeneinander von Märchenwelt und Maskenwelt, bei dem es um den „Widerstreit von Phantastischem und Realistischem" gehe, nennt Marelli das „äußere oder untere Spiel"; das „innere oder obere Spiel", dem sie ihre Hauptaufmerksamkeit schenkt, resultiere aus der Gegenüberstellung von Märchenfiktion und Spielwirklichkeit und gebe sich als ein „Spiel mit der Scheinhaftigkeit des Märchens und um den Schein an sich" (S. 29 f). Marelli sucht den Sinn der Fiabe „im potenzierten Spiel um die Illusion . . . , bei dem der Zuschauer voll Entzücken der Begrenzung seiner 129
Erkenntnisfähigkeit und der Duplizität seiner Natur inne wird" (S. 12). Es gehe Gozzi „nicht nur um sinnliche, optische Täuschung . . . , vielmehr um die geistige Spannung zwischen Erscheinung und wahrem Sein". Die Fiaba wird zu einem „Spiel um verschiedene Erkenntnis - und Verstehensweisen" (S. 24) mit dem Ziel, „eine der Aufklärung widersprechende Erkenntnislehre" zu demonstrieren: „Wahre Erkenntnis, echte Seinserfahrung ist nicht allein auf Grund empirischer und rationalistischer Erkenntnisformen möglich. Wahres Sein erschließt sich vielmehr erst auf Grund eines dritten, diese beiden Erkenntnisweisen übergreifenden Vermögens, des ahnenden Verstehens, intuitiven Erfassens aus dem Un- oder Unterbewußten" (S. 25). Das sei die Lehre der Fiabe. Von dieser Analyse und Deutung der Fiabe ausgehend, lassen sich für Marelli die drei Spielebenen des Gestiefelten Katers (Publikum, Bühne und Märchen) „der Anlage einer Fiaba ohne Zwang z u o r d n e n . . . , insofern sie nämlich dem entsprechen, was bei Gozzi die Masken-, die Märchenwirklichkeits- und die Märchenfiktionsebene ausmacht" (S. 199). Aus der Konfrontation „der Theatersphäre auf der einen und der Publikumssphäre auf der anderen Seite erwächst nun bei Tieck ein Wechselspiel, das man zunächst einmal mit jenem äußeren oder unteren, aus dem Widerstreit von Masken- und Märchenwelt entstehenden, komisch-relativierenden Spiel der Fiabe in Beziehung setzen kann" (S. 200). Da Tieck auch den „Gozzischen Kunstgriff" (S. 199) der Teilung der Scheinsphäre übernommen habe, „bildet das fiktive Publikum gemeinsam mit dem die Märchenaufführung veranstaltenden' Spielpersonal zuweilen einen geschlossenen Bereich, den man nach Analogie des Gozzischen Spiels sehr wohl als Spielwirklichkeit bezeichnen kann. Demgegenüber bietet sich das Aufführungsgeschehen - auch im Gesichtswinkel dieser Spielwirklichkeit - als etwas erkennbar Fiktives, d. h. als Spielfiktion dar. Auf diese Weise entsteht hier abermals eine Spielzone, wie wir sie schon aus den Fiabe her kennen, nämlich das Feld des inneren Spiels" (S. 202). Marelli kommt zu dem Ergebnis, daß dem Gestiefelten Kater und den Fiabe eine „gemeinsame Spielgestaltung" zugrunde liege (S. 204). Marelli unterschiebt Gozzi Intentionen, die er mit seinen Fiabe einfach nicht verfolgt hat. Nirgendwo findet sich in seinen umfangreichen theoretisch-polemischen Schriften ein Beleg dafür, daß er „die geistige Spannung zwischen Erscheinung und wahrem Sein" habe thematisieren wollen. Erkenntnistheoretische Probleme religiöser oder philosophischer Natur haben Gozzi nie beschäftigt. Ebensowenig läßt sich in den theoretischen und kritischen Äußerungen der Romantik ein ähnlich geartetes Verständnis der Fiabe nachweisen. Tieck betont schon in seinem frühen Aufsatz über Shakespeares Behandlung des Wunderbaren, daß das Wunderbare bei Gozzi „nur ein Spielwerk für die Augen des Zuschauers (ist), der durch Verwandlungen oft genug überrascht wird" 25 . Dieses Urteil hat er 130
nie zurückgenommen, und noch in seiner späten Schrift Das deutsche Drama heißt es, daß Gozzi „mehr blendet als befriedigt" 26 . Der Strukturvergleich zwischen dem Gestiefelten Kater und den Fiabe geht so schlüssig auf, weil Marelli Strukturen der Tieckschen Märchenspiele in die Fiabe hineininterpretiert hat. Marelli selbst ist es nicht entgangen, daß das „innere Spiel" sich in den Fiabe nur schwer nachweisen läßt: Sie gibt zu, „daß in den Fiabe das äußere Spiel den breitesten Raum einnimmt, während sich ein inneres nur selten und - im Vergleich zu Tieck - auch nur in Ansätzen verwirklicht ausgebildet zeigt" (S. 202). Trotzdem nimmt sie an, daß Tieck die Fiabe als Spiel um und mit dem Schein verstanden habe. Den eigentlichen Kern der Gozzischen Manier, die spezifische Verbindung von Scherz und Ernst, verliert sie dabei streckenweise vollständig aus den Augen. Nur so konnte es möglich werden, daß sie bei ihrer Strukturanalyse des Gestiefelten Katers die eigentliche Fiaba zum Vergleich heranzieht, obwohl das Gegeneinander von Hohem und Niederem, von Scherz und Ernst in der Tieckschen Posse keine Rolle spielt.
Lassen wir einmal vorübergehend die Gozzische Manier als Ganzes beiseite und fragen wir uns, ob bestimmte Komponenten dieser Manier für den Blaubart oder den Gestiefelten Kater bestimmend geworden sind. Marelli spricht immer wieder vom „ex tempore" des „Gozzischen Maskenspielertums", das für die Märchenspiele Tiecks von prägender Bedeutung gewesen sei. Im Rahmen ihres besonderen Verständnisses der Fiaba als einem Spiel um Schein und Sein hat sie dabei weniger die Improvisation an sich, als vielmehr eine ihrer Möglichkeiten im Auge: die des „Aus-der-Rolle-Fallens" 27 . Zweifellos hat Gozzi auf der Ebene des Scherzes die Möglichkeiten der Komik, wie sie der Kontrast zwischen der Maskennatur Pantalones und seiner Ministerrolle im fernen Orient in sich barg, voll ausgeschöpft. Und zweifellos hat Tieck diese Seiten der Fiabe zu schätzen gewußt. Aber gehört die Spieltechnik des Aus-derRolle-Fallens nicht zum zeitlosen Spielgut der Komödie, das Tieck ebensogut im Théâtre Italien Gherardis vorfand, wie in Holberg, Shakespeare und Aristophanes? Was die Improvisation als solche angeht, so hat sich Tieck, ähnlich wie Gozzi, zum Anwalt des Hanswurst gemacht28. In seiner Jugend verfaßte Kritische « Kritische
25 2
27
Schriften, Schriften,
Bd. I, S. 6 0 . Bd. IV, S. 1 9 4 .
S. 151, 172, 175, 176, 178 etc.
„Ich habe schon oft über das hohe feierliche Gericht lachen müssen, in welchem, als sich die erste Morgenröte des dramatischen Geschmackes bei unseren Landsleuten zeigte, der arme H a n s w u r s t elendiglich und öffentlich auf dem 28
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Tieck aus Anlaß eines Geburtstagsfestes ein Puppenspiel, dem Köpke den Titel Hanswurst als Emigrant verliehen hat und das die Rückkehr des Hanswurst aus der Verbannung feiert: Aber „ach, leider ist es nicht mehr der ordentliche Hanswurst! Kopf und Gliedmaßen sind Holz . . ," 2 9 . Der „ordentliche Hanswurst" als der Meister der sprachlich-gestischen Improvisation hat sich in eine Marionette verwandelt, was für das Tiecksche Verhältnis zur Improvisation von weitreichender Bedeutung ist. Zwar besteht eine gewisse Stilverwandtschaft zwischen Puppen und Masken, die in ihrer herkömmlichen typischen Gebundenheit zu suchen ist, so daß Haym in Anlehnung an Schiller vom „marionettenhaften Anstrich" (S. 92) der Gozzischen Figuren sprechen konnte; aber medianisch von außen vermittelte und lebendig-organische Bewegung setzen Stegreifspiel und Marionettenspiel scharf voneinander ab. Ihren tieferen künstlerisdien Sinn erhält die Marionette gerade aus ihrer Bewegungsunfreiheit: „In dem symbolischen Sinn der ohne Willen und Bewegungsfreiheit am Draht gezogenen, jeder Zufälligkeit des Materials, jeder Laune und Willkür einer fremden Leitung preisgegebenen Puppe scheint mir ein wesenhafter Zug des Puppenspiels, vielleicht die Voraussetzung seiner Existenzmöglichkeit überhaupt" 30 zu liegen. In seiner Lovell-Phase war Tieck beherrscht vom fatalistischen Gefühl der Abhängigkeit von einem unbekannten Drahtzieher: „Das Leben ist das allerlustigste und allerlächerlichste, was man sich denken kann; alle Menschen tummeln sich wie klappernde Marionetten durcheinander, und werden an plumpen Drähten gezogen, und sprechen von ihrem freien Willen" 31 . Nur schlägt bei Tieck das Gefühl der Abhängigkeit in der Phase des Gestiefelten Katers in das Gefühl absoluter, subjektiver FreiTheater selber verbrannt wurde, es war sein letzter Spaß, er ist sogar, um uns zu amüsieren, für uns gestorben und wir waren gegen den Edeln unerkenntlidi genug, über seinen Tod ein allgemeines Frohlocken anzustellen, in der Meinung, alle neun Musen, deren Toleranz doch bekannt ist, müßten uns für dieses Opfer auf Zeitlebens verbunden sein. Man hätte damals prophezeien mögen, daß er wie ein Phönix sich neu und jung aus seiner eigenen Asche hervorheben würde; aber er ist gewiß zu besseren, reineren Gefilden entflohen. . . Der arme Widit hatte in seinem ganzen Leben keine andere Absicht, als unser Lachen zu erregen, uns, soweit sein Vermögen dazu reichte, alles zu parodieren und lustig zu zeigen, was uns oft zu widitig vorgekommen ist, er machte dabei weiter keinen Anspruch auf Ehre, Ruhm, großen Lohn oder Unsterblichkeit, auf den tiefsinnigen Namen eines Künstlers, sondern es war ihm ganz recht, daß man ihn possierlich fand" (.Kritische Schriften, Bd. I, S. 177). 29 Nachgelassene Schriften, hrsg. von Köpke, Leipzig, Brockhaus, 1855, Bd. I, S. 125. 3 0 ELEONORE RAPP, Die Marionette im romantischen Weltgefühl. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgesdiidite, Bochum, Deutsches Institut für Puppenspiel, 1964, S. 13 f. 31 zit. nach RAPP, S. 60; dort weitere Belege.
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heit um. N i c h t mehr als Spielzeug in der H a n d einer f r e m d e n Macht, sondern als souveräner D r a h t z i e h e r v o n P h a n t o m e n einer scheinhaften Wirklichkeit versteht sich Tieck jetzt. In seinen M ä r c h e n k o m ö d i e n setzt er in völliger W i l l k ü r Geschöpfe, vernichtet sie wieder, wechselt die Perspektiven, relativiert R a u m u n d Zeit. I n dieser D r a h t z i e h e r - A t t i t ü d e Tiecks seiner fiktiven Welt gegenüber sieht R a p p den „ M a r i o n e t t e n s t i l " der M ä r c h e n k o m ö d i e n b e g r ü n d e t . Die C h a r a k t e r m a s k e n der C o m m e d i a dell'arte bewegten sich als K i n der der Renaissance frei u n d selbständig, n u r der ihnen i n n e w o h n e n d e n Gesetzmäßigkeit gehorchend. Ihren höchsten Ausdruck findet diese Eigenständigkeit in der sprachlichen u n d gestischen I m p r o v i s a t i o n . Es gehört mit z u m eigentümlichen Reiz des Stegreifspiels, d a ß die sechs oder sieben „ S p h ä r e n " der urbildlichen C h a r a k t e r t y p e n in der I m p r o v i s a t i o n z u r „ S p h ä r e n h a r m o n i e " 3 2 des Spielkosmos zusammenfinden. I n den Fiabe haben die selbstherrlichen Masken ihre V i t a l i t ä t als H a n d l u n g s t r ä g e r z w a r verloren u n d sind zu p r o f i l a r m e n R a n d f i g u r e n geworden, aber innerhalb ihres eingeschränkten A k t i o n s r a h m e n s bewegen sie sich in IKrer traditionellen Freiheit des „ex t e m p o r e " . D a b e i gilt es zu beachten, d a ß die I m p r o v i s a t i o n dem stilistischen G e f ü g e der F i a b a dienstbar gemacht w u r d e , insofern eigentlich n u r noch die niederen Masken ( T r u f f a l d i n o u n d Brighella) extemporieren, w ä h r e n d die Rollen der bürgerlichen Masken P a n t a l o n e u n d T a r t a g l i a v o n G o z z i gewöhnlich in dialektaler P r o s a ausgeschrieben sind. Bei Tieck geht die Freiheit des „ex t e m p o r e " an den A u t o r über, der jetzt nach Lust u n d L a u n e in das Stück eingreifen k a n n . Eine der Figuren des Prinzen Zerbino beklagt sich über ihre A b h ä n g i g k e i t v o m A u t o r : Doch wir, wir sind noch weniger als Luft, Geburten einer fremden Phantasie, die sie nach eigensinn'ger Willkür lenkt. U n d freilich kann dann keiner v o n uns wissen, w a s jener Federkiel uns noch beschert. O jammervoll Geschick dramat'scher Rollen! 3 3
Selbst w e n n im eingefügten Marionettenspiel des Prinzen Zerbino sich plötzlich eine M a r i o n e t t e selbständig macht, sich gegen ihren Lenker w e n d e t u n d schließlich d a v o n l ä u f t , so w i r d hier doch n u r das Spiel des A u t o r s Tieck mit seiner Welt m e h r f a c h p o t e n z i e r t . Sehr deutlich h a t H i n c k „den unendlichen A b s t a n d " der Tieckschen I m p r o v i s a t i o n v o n d e r C o m m e d i a dell'arte aufgezeigt: „ W o in der italienischen Stegreifkomödie in einer fixierten H a n d l u n g s w e l t der Schauspieler eine in ihrem U m r i ß festliegende Rolle improvisiert, improvisieren bei Tieck improvisierte 32
MAX
KOMMERELL,
Commedia
dell'arte,
Essays, Frankfurt 1952, S. 168. 33
Schriften, Bd. X, S. 148. 133
in: Dichterische
Welterfahrung,
Rollen eine Welt, die darauf angelegt ist, sich als Nichtweit auszuweisen. Und das Ganze wird improvisiert nicht von den Figuren und dem ins Stück eingefügten Autor (der sich von seiner gänzlichen Ohnmacht überzeugen lassen muß), sondern von dem Schauspieler-Autor Tieck, dem Lenker einer ins Zusammenhanglose verkehrten Welt, der sich selbst dabei als eine Parodie des Weltenlenkers empfunden und seine ,verkehrte Welt* als eine Parodie auf das theatrum mundi gedacht haben mag" 34 . Gozzis Fiabe hingegen reflektierten eine verbindliche Ordnung, die alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens erfaßte. Innerhalb des festgefügten Kosmos der Fiabe konnten die Improvisation des Stegreifspiels und die Irrationalität des Märchens nur insoweit Berücksichtigung finden, als sie diese Ordnung sinnfällig machten. c) T i e c k s verzauberte
O p e r n l i b r e t t o Das Wald ( 1 7 9 8)
Ungeheuer
und
der
Mit dem Opernlibretto Das Ungeheuer und der verzauberte Wald wendet sich Tieck vorübergehend von den Kindermärchen Perraults ab, um Gozzis Fiaba vom Blauen Ungeheuer zu bearbeiten. Gozzi hatte sich auf Gueulettes pseudoorientalische Erzählung Histoire du Centaure bleu1 gestützt, deren Inhalt kurz referiert sei: Die Prinzessin von Teflis muß ihr Land verlassen und gelangt in Männerkleidern inkognito an den Hof des Königs von China. Die Königin, eine ehemalige Sklavin, möchte den vermeintlichen Prinzen an ihre Seite auf den Thron erheben und ihren altersschwachen Gemahl beseitigen. Da sich die Prinzessin von Teflis den Wünschen der Königin versagt, wird sie zum Kampf mit dem blauen Kentauer gezwungen, der seit Jahren eine Bedrohung des Reiches bedeutet. Statt sich dem Zweikampf zu stellen, greift die Prinzessin zur List: sie macht den Kentauer betrunken, so daß sie ihn fesseln und auf einem Karren an den königlichen Hof schaffen kann, wo er weniger durch sein wildes Aussehen als durch sein spöttisch-höhnisches Gelächter Aufsehen erregt. Nach dem Grund des Lachens befragt, entlarvt der Kentauer die Königin, die in ihrem weiblichen Gefolge junge Männer verborgen hält, und lüftet das Geheimnis um das Inkognito der Prinzessin von Teflis. Ein betrunkenes und lachendes Ungeheuer paßte ebensowenig in den Rahmen der Fiaba wie eine Märchenheldin, die dem heroischen Zweikampf zugunsten der List ausweicht. Gozzi mußte die dramatische Situation ins Pathetische steigern und ihr einen moralischen Sinn geben: Der alternde König von China hat in zweiter Ehe eine junge Sklavin zur Königin erhoben und ist ihr so blind ergeben, daß er ihre Verworfenheit 34 Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts Komödie, a. a. O., S. 393. 1 Les mille et un quart d'heure, Bd. II, S. 5 8 - 7 8 .
134
und die
italienische
nicht bemerkt. Zur Strafe f ü r die Schwäche des Königs wird das Reich von mehreren Plagen heimgesucht, zu denen auch ein Ungeheuer gehört, das die Ländereien weit und breit verwüstet. Das Reich ist in einem desolaten Zustand, als Prinz Taer, der Sohn des Königs aus erster Ehe, nach einem langen Aufenthalt in fremden Ländern seine Rückreise in das heimatliche China antritt. An seiner Seite befindet sich seine Braut, Prinzession Dardane von Georgien. Beide werden während der Reise auf geheimnisvolle Weise voneinander getrennt und mit einem grausamen Schicksal konfrontiert: Taer findet sich wieder in der Gestalt des Ungeheuers und muß sich von einem Magier belehren lassen, daß nur dann Rettung f ü r ihn bestehe, wenn Dardan£ ihn in dieser Gestalt lieb gewinne. Dardane ihrerseits wird von dem Magier in Männerkleider gesteckt und an den Hof des Königs von China geschickt; sie erhält strenge Anweisung, unter keinen Umständen ihr Inkognito preiszugeben; anderenfalls müsse Taer sein Leben lassen. Unter den gleichen Umständen wie bei Gueulette kommt es zur Konfrontation Dardanes mit dem Ungeheuer. Damit wandelt Gozzi das Motiv der Liebesprobe, so wie es sich im Re cervo (König Deramo als Bettler vor seiner Gattin Angela) und der Donna serpente (Cherestani als Schlange vor Prinz Farruscad) bewährt hatte, noch einmal ab. Die heroische Liebe Taer - Dardane f ü h r t zur Entlarvung der Königin und zur Befreiung des Reiches von allem Unglück. In Tiecks Ungeheuer und der verzauberte Wald trachtet die böse Königin danach, zwei Stiefsöhne aus dem Weg zu räumen, um an der Seite ihres altersschwachen Gemahls schrankenlos herrschen zu können. Eine Zauberin im Dienste der Königin hat einen der Stiefsöhne in ein Ungeheuer verwandelt, das das Land verwüstet und alle Menschen die sich ihm nähern, tötet. Den zweiten Stiefsohn schickt die Königin in den Kampf gegen das Ungeheuer in der Hoffnung, daß er das Leben verliere. Zwar erkennt der verzauberte Prinz im Herausforderer den geliebten Bruder, kann aber dem Zauber, der ihn zur Tötung zwingt, nicht entkommen. In seiner Verzweiflung schickt er sich an, den Bruder zu töten und sich über der Leiche selbst das Leben zu nehmen. Der Elfenkönig Elfino, der aus Gozzis Magier hervorgegangen ist und seine schützende H a n d über das Bruderpaar hält, weiß den „tragischen" Ausgang zu verhindern: er gibt dem verzauberten Prinzen seine menschliche Gestalt zurück, und die beiden Brüder sinken sich in die Arme. - Tieck hat damit zwar auf eine Konfrontation der Liebenden des Märchenspiels (Prinzessin Angelika und Prinz Aldrovan) im Sinne der äußersten Liebesprobe verzichtet, sie aber durch den nicht weniger pathetischen Bruderkampf ersetzt. Die Gozzische Manier findet insofern Beachtung, als das fürstliche Bruderpaar, Prinzessin Angelika u. a. gegen die Komik abgesichert sind. Entsprechend fehlt den komischen Figuren jeder Ernst. Burleske und 135
Pathos werden unter Berufung auf Gozzi ins „Grelle und Phantastische" 2 gesteigert. Die komischen Figuren haben zwar ihre Gesichtsmaske und ihre Gozzischen Namen abgelegt und dabei ihre spezifischen Züge als Charaktermasken aufgegeben, aber Tieck hat sowohl ihre Anzahl als auch ihre gesellschaftliche und stilistische Differenzierung beibehalten: Pantalone und Tartaglia werden zu den Ministern Sebastiano und Samieli, Truffaldino, Brighella und Smeraldina zu den Dienern Rondino, Trappola und Camilla. Wie genau Tieck das stilistische Gefälle und das ausgewogene Gegeneinander von Komik und Pathos in der Gozzischen Manier berücksichtigt, mag am Beispiel des Bruderkampfes im dritten Akt verdeutlicht werden: Auf einen einleitenden Monolog des Ungeheuers, in dem der verzauberte Prinz sein Schicksal beklagt, folgt ein burlesker A u f t r i t t des Dienerpaares Trappola und Rondino, die beide um Camilla werben, aufeinander eifersüchtig sind und sich trotz ihrer Feigheit zum Zweikampf herausfordern. Kämpfend machen sie den Platz frei f ü r das „weise" Ministerpaar Sebastiano und Samieli, die über der Frage, ob es Geister und Zauberer gebe, so miteinander in Streit geraten sind, daß auch sie sich zu einem Zweikampf entschließen, der in seiner Komik ihrem Stand und Alter angepaßt ist. Es folgt der „tragische" Kampf zwischen Prinz Aldrovan und seinem Bruder in der Gestalt des Ungeheuers. Mehrere Male lösen die kämpfenden Paare einander ab, bis Diener und Minister beim Anblick des Ungeheuers in burleskem Entsetzen fliehen. Das Pathos erreicht jetzt seine höchste Steigerung, da der verzauberte Prinz in Aldrovan seinen geliebten Bruder erkennt, ohne jedoch dem Fatum, das ihn zum Töten zwingt, entfliehen zu können. Damit sind alle Möglichkeiten des Kontrastierens und des Steigerns, die die Gozzisdie Manier bietet, in dieser sehr kunstvoll gebauten Szene angewandt. Auch auf das Theatralische des „Meisters der Effektpoesie" (F. Schlegel), das im Blaubart in gewollter Absetzung von Gozzi ganz in den Hintergrund getreten war, legt Tieck jetzt besonderen Wert: Es fehlt nicht an Verwandlungen, singenden und tanzenden Tieren, an Geistern, Elfen und Feen oder an phantastischen Balletten. Tieck läßt sein Märchenspiel nicht mit der Erlösung des Prinzen und der Bestrafung der Königin enden, wie es bei Gozzi der Fall ist, sondern verlagert im Schlußakt den dramatischen Konflikt in das Geister- und Feenreich: Die Zauberin Oriana, die als Mutter Angelikas aufgetreten war, entpuppt sich als eine böse Fee, die Angelika, Tochter des Elfenkönigs Elfino, im Auftrage des mächtigen Geistes Ollalin geraubt hat. Es kommt zum Kampf
2 Schriften, Bd. XI, S. 150; der Verweis auf Gozzi fehlt in der Erstfassung der Vorrede zum Ungeheuer aus dem Jahre 1800.
136
zwischen Elfino und den bösen K r ä f t e n der Geisterwelt, in dem Elfino Sieger bleibt 3 . Dieser K a m p f ist für Tieck nur der Anlaß, um mit den Mitteln der Maschinenkunst, der Dekoration, des Tanzes und vor allem der Musik unter weitgehender Vernachlässigung der dramatischen H a n d l u n g die theatralischen Effekte des Märchenspiels auf einen berauschenden Höhepunkt zu führen. Schauplatz des K a m p f e s ist ein verzauberter Wald, der von der bösen aber schönen Fee Allina beherrscht wird. Wanderer, die sich in ihren Wald verirren und ihrer Schönheit erliegen, pflegt sie in Tiere zu verwandeln. Noch niemals ist ein Sterblicher aus diesem Wald zurückgekehrt. Audi Prinz A l d r o v a n , der nach der Erlösung des Bruders die Entzauberung des Waldes anstrebt, kann sich ihrem Zauber nicht entziehen: Als Schwäne sie auf einem Nachen heranführen, umglänzt von mildem Mondlicht und begleitet von lockender Musik, geraten er und sein Gefolge in einen wahnsinnsähnlichen Taumel. Ein großes, ausdrucksvolles, magisches Ballett, in das sich seltsame Masken und Tiere mischen, bildet den Höhepunkt des Aktes. Erst als Elfino seinen Gegner Ollalin getötet hat, ist auch der Zauber Allinas gebrochen. Im Finale werben noch einmal alle Effekte der Bühne und der Musik um Augen und Ohren des Zuschauers, der einen prächtigen Feenpalast vor sich entstehen sieht, wo König Elfino Prinz A l d r o v a n die H a n d seiner Tochter Angelika reicht. Dieser Einblick in den Schlußakt des Märchenspiels macht schon erkenntlich, daß Tieck nicht einfach die Gozzische Manier übernommen hat. Wort, Musik und Choreographie stehen vielmehr weitgehend im Dienste einer Stimmungskunst, die G o z z i unbekannt war. Wenn auch Scherz und Ernst einander in der Manier Gozzis gegenüberstehen, so erhalten sie doch ganz neue, gemüthafte Dimensionen. Gozzisches Pathos konnte sich nur in der moralischen Bewährung des Helden in äußerst schwierigen Situationen entfalten. Tiecksches Pathos hingegen äußert sich frei von jedem moralischen Imperativ in stimmungsvollen Liedern. G o z z i hätte den Monolog des Ungeheuers, der den Bruderkampf einleitet, benutzt, um in den kräftigsten Farben die verzweifelte L a g e und die heroische H a l tung des verzauberten Prinzen zu schildern. Tieck hingegen läßt den Monolog in einem zarten Stimmungsbild gipfeln: Ach da flimmt die alte Zeit von dem längst entschwundnen Glücke in die Einsamkeit zurüdce; alles sich vor mir erneut, greif ich aber mit der H a n d , kann ich nimmer etwas halten, es zerflattern die Gestalten in der T r ä u m e dunkles L a n d . 4 3
4
Tieck lehnt sich hier an die Zauberftöte Schriften, Bd. X I , S. 231.
137
an.
Gozzische Komik gründete auf der exzentrischen Maskenburleske, auf die Tieck z w a r nicht verzichtet, an deren Seite er aber die gemütvolle Heiterkeit u n d die fröhliche Laune treten läßt. So k a n n er beispielsweise sein Märchenspiel mit einem heiteren Rundgesang der Dienerfiguren auf die Freuden des Weins, der J a g d und der Liebe beginnen. Diese Neigung z u m Lyrisch-Stimmungshaften m u ß t e die Gozzische Manier entscheidend verändern. Statt der holzschnittartigen Skizzierung der Personen u n d der handfesten Motivierung des Handlungsgeschehens, auf die Gozzi innerhalb des einmal gesetzten Märchenrahmens stets geachtet hatte, entwirft Tieck „eine d ä m m e r n d e T r a u m w e l t von lustigen u n d phantastischen Gestalten in Begebenheiten, die sich von selbst auseinanderwickeln" 5 . Die Personen verlieren ihre scharfen Konturen, u n d die H a n d l u n g kann auf eine logisch einsichtige V e r k n ü p f u n g der Ereignisse verzichten. D a m i t löst sich die strenge O r d n u n g des Gozzischen Kosmos auf, u n d das Ungeheuer w i r d zu einem launigen Spiel, das sich „unaufhörlich widerspricht, ohne sich zu vernichten" 5 .
I m folgenden soll das Märchenspiel Das Ungeheuer und der verzauberte Wald aus dem Blickwinkel der romantischen Kunstlehre interpretiert und in seiner literarhistorischen Bedeutung abgesteckt werden. Tieck h a t es als Opernlibretto konzipiert, das seine eigentliche E r f ü l l u n g erst in der Musik sucht. Es will einem Komponisten den Anstoß geben, „die innersten W u n d e r seiner Kunst auszusprechen u n d alle seine Töne u n d Melodien in einem seltsam-bunten magischen Kreis h e r u m z u f ü h r e n , und so seine Kunst nur durch die Kunst selbst zu erklären" 6 . Diese Bemerkung beinhaltet eine radikale Absage an das Nachahmungsprinzip, da „ich nicht recht begreifen kann, was ich noch natürlich nennen soll, sobald von Musik die Rede ist" 7 . Für die romantische Kunsttheorie will K u n s t nichts anderes sein als absolute P r o d u k t i o n . Philosophisch rechtfertigen ließ sich diese E m a n z i p a t i o n von der „Wirklichkeit" mit Fichtes tranzendentalem Idealismus, der das Ich u n d seine p r o d u k t i v e Einbildungskraft z u r alleinigen Realität erklärte. Für die neue Kunstauffassung, die die reine Creatio an die Stelle der Imitatio setzte, k o n n t e die Musik den höchsten P l a t z in der Hierarchie der Künste einnehmen, insofern sie nicht auf Abbildung einer außer ihr liegenden Welt zielt, sondern autonome, zugleich willkürliche u n d gesetzmäßige Konstruktion ist 8 . 5
Vorwort zum Ungeheuer, in: Schriften, Bd. XI, S. 149 f.
® ebda. 7 ebda., S. 148. 8 Zum amimetischen Charakter der romantischen Kunstauffassung s. GANG PREISENDANZ, Zur
Poetik
der
deutschen
Romantik:
Die
Abkehr
WOLF-
vom
Grundsatz der Naturnachahmung, im Sammelband mehrerer Autoren Die deut138
Alle übrigen Künste müssen sich auf die Musik zubewegen, was f ü r die Dichtung bedeutet, daß alle die Formkategorien, die sie von der Bindung an die Erscheinungswelt lösen, an Bedeutung gewinnen. So erklärt beispielsweise Novalis das Märchen zum „Kanon der Poesie" 9 : Gemessen an der Erscheinungswelt ist es „anarchisch", als in sich geschlossene eigengesetzliche Welt aber „ganz musikalisch" 10 . Tieck geht es mit seinem „musikalischen Märchen" um eine tatsächliche Verbindung von Dichtung und Musik. Das ideale Opernlibretto stellen „die phantastischen Kinder der Laune und des Scherzes, besonders alle diejenigen, die mit Zauberei und Geistern angefüllt" sind, denn sie kommen dem „rechten und eigentümlichen Gebiet der Musik" entgegen 11 . Auf der Suche nach Anregungen f ü r ein derartiges Opernlibretto mußte die Gozzische Manier die Aufmerksamkeit Tiecks auf sich lenken, insofern sie als Verbindung von Märchen- und Maskenspiel in der „Willkür der Darstellung . . . weit über die natürliche Wahrheit" (A. W. Schlegel) hinausführte 1 2 . Entspricht Tiecks Opernlibretto auch rein formal der romantischen Kunstlehre, so kann man doch jene „tiefere Bedeutung" nicht darin finden, dieA. W.Schlegel derGozzischen Manier verleihen möchte (s. ob. S. 105 f.). Die amimetische Kunst, so wie sie Novalis oder Friedrich Schlegel vorschwebt, wurde notwendig aus der transzendentalen Bedingung der Kunst: Eine „Transzendentalpoesie", der es um die Andeutung des „Absoluten 6 geht, muß die Fesseln der Erscheinungswelt von sich abschütteln und sich ganz der Allegorie verschreiben 13 . Tieck möchte zwar in seinem Opernlibretto die „innersten Wunder" der Kunst aussprechen 14 , aber seine „grillenhafte Komposition" 1 5 bleibt doch in der äußerlichen poetischen Willkür Stedten. Jedes wirklich positive Pathos fehlt dem Tieckschen Märchenspiel 16 . Die Gozzische Manier konnte f ü r A. W. Schlegel Träger sehe Romantik: Poetik, Formen und Motive, hrsg. v o n H a n s Steffen, Göttingen 1967, Kleine Vandenhoek-Reihe. • Fragmente, hrsg. v o n Kamnitzer, Dresden 1929, N r . 2067. 10
PREISENDANZ, a. a. O . , S . 6 8 .
11
Einleitung zum Ungeheuer, in: Schriften, Bd. X I , S. 147. D i e Idee, die Fiabe zum Opernlibretto umzuarbeiten, war nicht neu. Schon 1779 hatte GOTTER sein Libretto Das tartarische Gesetz aus G o z z i s Glücklichen Bettlern hervorgehen lassen. Aber Gotter hatte damit zu einer jener Fiabe gegriffen, die frei v o m Wunderbaren des Zaubermärchens sind. Näheres s. HOFF12
MANN-RUSACK, a. a. O . , S. 3 2 u n d S. 5 6 . 13 Näheres bei BERNHARD HEIMRICH, Fiktion und Fiktionsironie in Theorie und Dichtung der deutschen Romantik, in der Reihe Studien zur deutschen Literatur, hrsg. v o n R. Brinkmann, F. Sengle und K. Ziegler, Bd. I X , Tübingen, Niemeyer, 1968, S. 47 ff. 14 Einleitung zum Ungeheuer, a. a. O., S. 147. 15 Schriften, Bd. X I , S. L I X . 18 D i e Kritik hat immer wieder auf das fehlende positive Pathos des „mittelpunktlosen" Tieck der romantischen Phase hingewiesen. Vgl. MARIANNE THAL-
139
einer „tieferen Bedeutung" werden, weil sie bei aller scheinbaren Anarchie doch einer immanenten, höchst symbolträchtigen Gesetzmäßigkeit gehorchte. Tieck hat zwar diese Gesetzmäßigkeit erkannt und unter dem Einfluß der Brüder Schlegel rein äußerlich weitgehend respektiert, aber er hat sie nicht sinnträchtig zu machen gewußt. Im Grunde versteht er die Gozzische Manier nur als einen Freibrief für seine poetische Laune und hat dabei die Wiener Zauberoper als Modell vor Augen, „jene wunderbaren Stücke . . . , in denen weder auf Motive noch Wahrscheinlichkeit, auf Zusammenhang oder Menschenverstand gesehen wurde, und die ein allgemeines Ergötzen hervorbrachten" 1 7 . Tiecks Opernlibretto ist nichts als ein unverbindliches ästhetisches Spiel 18 . Tiecks Versuch einer romantischen Oper in der Gozzischen Manier ist nicht ohne Folgen geblieben. E. Th. A. Hoffmann knüpft ausdrücklich an Tieck an 1 9 , wenn er die Fiabe „des genialen, wahrhaft romantischen . . . herrlichen Gozzi" als eine „reiche Fundgrube vortrefflicher Opernsujets" 2 0 hinstellt, denn auch er verlangt vom Dichter eines Opernlibrettos jenen „kühnen Flug in das ferne Reich der Romantik", wo er „das Wundervolle (findet), das er in das Leben tragen soll" 2 1 . Aber für Hoffmann bedeutet das „Reich der Romantik", auf das die Kunst verweist, die eigentliche Wirklichkeit. E r ist beseelt von jenem „positiven Pathos", das dem „mittelpunktlosen" Tieck fehlt. So erscheint ihm die Musik als „die geheimnisvolle Sprache eines fernen Geisterreiches, deren wunderbare Akzente in unserem Innern wiederklingen, und ein höheres, intensives Leben erwekken". Sie weckt eine „unaussprechliche Sehnsucht", die uns „der Seligkeit jenes Paradieses teilhaftig werden" läßt 2 2 . Wie sehr sich die Vorstellungen Hoffmanns von einer romantischen Oper in der Gozzischen Manier von der „grillenhaften Komposition" MANN, Hundert Jahre Tieckforschung, in: Monatshefte..., Wisconsin 1953, S. 114 ff. STOHSCHNEIDER-KOHRS, die den Gestiefelten Kater unter formalen Gesichtspunkten hat retten können, muß doch zugeben, daß die romantische Verweisung auf einen „tiefen, unendlichen Sinn" fehlt, „es sei denn, man möchte sie darin erkennen, daß überall dort, wo auf dem Theater ein Spiel im Spiel erscheint, eine Erinnerung an den Topos vom ,teatrum mundi' sich einstellen kann. Doch in Tiecks Stück geht die leise Stimme einer solchen Erinnerung in mutwillig lautem und satirischem Spektakel unter". (Zur Poetik der deutschen Romantik: Die romantische Ironie, im Sammelband Die deutsche Romantik, a. a. O., S. 89). Einleitung zum Ungeheuer, a. a. O., S. 148. Das Libretto ist unseres Wissens nie vertont worden, wenngleich die Gründe anderer Natur sein dürften. E. Th. A. Hoffmann hält es zwar „für wahrhaft romantisch, aber im Stoff überfüllt und zu ausgedehnt". (Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. I, S. 92). 19 Der Dichter und der Komponist, ebda, Bd. I, S. 91 f. 2 0 ebda, S. 84. 21 ebda, S. 83. 2 2 ebda, S. 82. 17
18
140
Tiecks absetzen, mag seine Analyse des Raben zeigen, den er besonders w a r m als Opernsujet empfiehlt: In den „starken, herrlichen Situationen . . . liegt eine G r ö ß e . . . , von der unsere moralischen Schauspieldichter, die in den Armseligkeiten des alltäglichen Lebens, wie in dem Auskehrigt, der aus dem Prunksaal in den Schuttkarren geworfen, wühlend, gar keine Idee haben. Wie herrlich sind nun auch die komischen Partien der Masken eingeflochten", so d a ß „das Komische mit dem Tragischen . . . z u m T o t a l effekt in eins verschmilzt, u n d das Gemüt des Zuhörers auf eine eigene, w u n d e r b a r e Weise ergreift" 2 3 . H o f f m a n n möchte Tiecks unverbindliche Spielerei in der Gozzischen Manier durch „starke, herrliche Situationen" u n d w a h r e „ G r ö ß e " ersetzen, so d a ß „man, wie in einem beseligenden Traume, selbst dem dürftigen, alltäglichen Leben entrückt in den Blumengängen des romantischen Lebens wandelt, u n d nur seine Sprache, das in Musik ertönende W o r t versteht" 2 4 . H o f f m a n n hat z w a r nicht den Raben, d a f ü r aber Brentanos Singspiel Die lustigen Musikanten (1803) vertont, das in der Nachfolge des Tieckschen Librettos entstanden ist. In der Gozzischen Manier verbindet Brent a n o eine märchenhafte H a n d l u n g mit Maskenkomik 2 5 . Von Brentano u n d H o f f m a n n f ü h r t die Tradition weiter zu Richard Wagner, der mit seiner ersten O p e r Die Feen Gozzis Donna serpente zum Libretto umarbeitet u n d in Musik setzt 2 8 .
3. S c h i l l e r s Turandot A. H o f f m a n n s Prinzessin Blandina als Beispiele für die klassischen und romantischen Vorstellungen von einer d r a m a t i s c h e n Literatur in d e r G o z z i s c h e n Manier
und
E. T h .
Das romantische Verständnis Gozzis läßt sich deutlicher auf dem H i n t e r grund der Turandot-Bearbeitung Schillers fassen. D a s äußere H a n d l u n g s geschehen der Fiaba, das Schiller u n v e r ä n d e r t ließ, ist folgendes: T u r a n dot, eine schöne aber stolze u n d grausame Märchenprinzessin aus dem fernen China, h a t bekanntgeben lassen, sie werde nur dem Freier ihre H a n d reichen, der drei Rätsel zu lösen imstande sei; gelinge ihm die JS
ebda, S. 87. ebda, S. 83. 15 Die Masken sind Truffaldin als Nachtwächter und Astrologe, Pantalone als Bürgermeister von Famagusta und Tartaglia als Minister des Herzogs von Samarkand. 2 ® Zum Verhältnis Wagners zu Gozzi s. W I L L Y K R I E N I T Z , Richard Wagners „Feen", München und Leipzig, Georg Müller, 1910. 24
141
Lösung nicht, so müsse er sterben. Calaf, ein vertriebener Prinz, gelangt nach langer Irrfahrt unerkannt an den H o f des Kaisers von China, bekommt das Bild Turandots zu sehen, wirbt um ihre H a n d und löst die ihm gestellten Rätsel. Als Turandot sich ihm trotzdem verweigert, bietet ihr C a l a f seinerseits ein Rätsel an, von dessen Lösung er seine Ansprüche abhängig macht: wenn es ihr gelinge, seinen Namen ausfindig zu machen, wolle er auf ihre H a n d verzichten. Turandot löst das Rätsel und ist damit jeder Verbindlichkeit ledig. N u r hat sie C a l a f inzwischen so sehr schätzen und lieben gelernt, daß sie aus freier Entscheidung in die Verbindung einwilligt. In welcher Hinsicht Schiller seine Vorlage zu verändern gedenkt, gibt er in einem Brief an Körner vom 16. November 1801 zu verstehen: „ O b ich gleich an der Handlung selbst nichts zu ändern weiß, so hoffe ich ihm (dem Stüde) doch durch eine poetische Nachhilfe bei der Ausführung einen höheren Wert zu geben. Es ist mit dem größten Verstand komponiert, aber es fehlt ihm an einer gewissen Fülle, an poetischem Leben. Die Figuren sehen wie Marionetten aus, die am D r a h t bewegt werden; eine gewisse pedantische Steifigkeit herrscht durch das Ganze, die überwunden werden m u ß " 1 . Schillers Kritik setzt, ebenso wie die Bouterweks und Eschenburgs (s. o. S. 104 f.), an der abstrakten Personengestaltung a n : in seiner T«ra«cfo£-Bearbeitung möchte er den Märchenhelden ihre marionettenhafte Steifheit nehmen und sie in lebendige Charaktere verwandeln. Auf zwei Wegen vertieft und vermenschlicht Schiller die Turandotgestalt: 1. E r legt ihrem Stolz edlere Motive zu Grunde. Nicht mehr die Launenhaftigkeit einer Märchenprinzessin, sondern die verletzte Würde des weiblichen Geschlechts, als dessen Anwalt sich Turandot fühlt, motiviert jetzt ihre Grausamkeit: Ich bin nicht grausam. Frei nur will ich leben. Bloß keines andern will ich sein! Dies Recht, das auch dem allerniedrigsten der Menschen im Leib der Mutter anerschaffen ist, will ich behaupten, eine Kaiserstocher. Ich sehe durch ganz Asien das Weib erniedrigt und zum Sklavenjoch verdammt, und rächen will ich mein beleidigtes Geschlecht an diesem stolzen Männervolke, dem kein anderer Vorzug vor dem zärtern Weibe als rohe Stärke ward . . } Turandot wird eine jener tragischen Heldinnen Schillers, die auf Leben und T o d dem Ideal verpflichtet sind. 2. Schiller verinnerlicht den dramatischen Konflikt, indem er Turandot in den Widerstreit von Liebe und zit. nach A. KÖSTER, Schiller als Dramaturg, a. a. O., S. 175. Werke, Nationalausgabe, hrsg. von Bordierdt, Weimar, Böhlau, Bd. XIV, 1949, S. 41, Vers 775-785. 1
2
142
Stolz hineinstellt. D a m i t verleiht er ihrer Gestalt echt tragische Dimensionen, insofern die Liebe sich nur unter Aufgabe des Stolzes voll entfalten kann und umgekehrt der Stolz die Unterdrückung der Liebe fordert 3 . Gozzi hingegen hatte das dramatische Geschehen ganz den Äußerlichkeiten der Märchenhandlung überantwortet. Zwar läßt auch er Turandot bei ihrer ersten Begegnung mit Calaf sagen: Zelima, o Cielo! alcun oggetto, credi, nel Divan non s'espose, che destasse compassione in questo sen. Costui mi fa pietà,4 aber er verfolgt das Motiv des Widerstreits von Liebe und Stolz nicht weiter. Wenn Turandot im fünften A k t schließlich doch in die Verbindung mit C a l a f einwilligt, so kommt diese Wende plötzlich, ohne weitere psychologische Motivierung und rechtfertigt sich nur aus der Spielgesetzlichkeit der Fiaba. Indem aber Schiller das phantastische Märchenspiel Gozzis in ein Charakterdrama verwandelt, erfährt die Gozzische Manier eine erhebliche Modifizierung: Schiller mildert durchgehend das übertriebene Pathos und die grelle Maskenkomik des Italieners, die zu sehr ins Phantastische drängten und der psychologischen Kohärenz schaden mußten. Symptomatisch ist, daß er nicht nur die bombastische Diktion Gozzis auf klassisches M a ß hin dämpfte, sondern den krassen stilistischen Gegensatz zwischen pompöser Verssprache und Improvisation zu Gunsten einer durchgehenden Komposition in fünffüßigen Jamben aufgab. Besonders hart sind die Masken davon betroffen: „Das Obszöne und das unverblümt Derbe und Grobe werden aus den Dialogen radikal entfernt . . . Ansätze zu exzessiver Reaktion und Gestik sind ins Statuarisch-Würdige zurückgedrängt, selbst die Bewegungsaktion ist, wenn nicht überhaupt ausgeklammert, zu förmlicher Gemessenheit verkürzt und versteift. Über die volkstümlich drastische Ausdrucksweise der Gozzischen Masken lagert sich die Schicklichkeitsvorstellung und über das freie Bewegungsspiel Zeremonielles der deutschen Residenz und des Bewegungsstils der Weimarer Hofbühne, für die Schiller das Gozzische Stück bearbeitet. Die psychologische Unvereinbarkeit gegensätzlicher Verhaltensantriebe schrumpft und verschwindet" 5 . K a r l S. Guthke geht noch einen entscheidenden Schritt weiter: Schiller habe die bloße Juxtaposition des Komischen und des Pathetischen durch die synthetische Verbindung beider ersetzt. Drei verschiedene Techniken tragikomischer Gestaltung unterscheidet Guthke in Schillers
Turandoti
1. die „tragikomische Atmosphäre", die durch die Allgegenwart der Mas-
3
Näheres bei KÖSTER, a. a. O., S. 178 ff.
4
Opere (Rizzoli), S. 267.
5
HINCK, a. a. O . , S . 3 8 5 ; N ä h e r e s bei KÖSTER, a. a. O . , S . 1 9 2 ff.
143
ken im potentiell tragischen Hauptgeschehen erzeugt werde (S. 100); 2. die „doppelseitige Point-de-vue-Technik", mit deren Hilfe Schiller die Helden fortwährend im Zwielicht gegensätzlicher Kommentierung erscheinen lasse (S. 95); 3. die tragikomische Konzeption des Konflikts selbst, die darin bestehe, daß „die echte Liebe der Turandot ihren Stolz komisch erscheinen läßt, der Stolz wiederum die Liebe zu einer tragischen macht und dies Gegeneinander die weibliche Hauptfigur als tragikomische Gestalt konstituiert" (S. 101). Die These Guthkes, daß auch die Weimarer Klassik für den Reiz des Tragikomischen empfänglich gewesen sei, wofür Schillers Turandot zeuge, ist in unserem Zusammenhang von untergeordnetem Interesse, da Schillers Hinwendung zu Gozzi sich nicht mit seinem Interesse am Tragikomischen erklären läßt. Worin vielmehr Schiller die Bedeutung der Gozzischen Manier sah, klingt in einem Gespräch an, das er im Oktober 1802 in Weimar mit dem Schauspieler Carl Schwarz geführt hat: Von den Inter preten seiner Turandot erwartet er, daß sie sich wie ein Märchenerzähler verhalten: „Ein Mann erzählt einem Kinde ein Märchen, mit allem Ernst mit aller Feierlichkeit, das Kind wird dadurch hingerissen und gerührt eine dritte erwachsene Person hört zu, diese weiß sehr gut, daß de Erzählers angenommener Ernst und Feierlichkeit ihm keineswegs ernst ist, und verliert dabei nicht aus den Gedanken, daß es ein Märchen ist, welches einem Kinde erzählt wird . . . Auch alle . . . im ersten Augenblick wahrhaft serieus scheinende Rollen, z. B. Turandot, Kalaf usw. müssen . . . nach Maßgabe obiges Gleichnisses genommen werden, denn nur dadurch kann der Zuschauer nie vergessen, daß er nichts anderes - als ein Märchen höre." Der Reiz der Gozzischen Manier liegt für Schiller somit darin, daß sie gestattet, den Zuschauer mit einer ernsten und pathetischen Handlung hinzureißen und zu rühren, ohne daß er doch je ihren Spielcharakter aus den Augen verliere. Diese Äußerungen zur Turandot sollen zu ihrem vollen Verständnis in den Rahmen der Lehre Schillers vom „aesthetischen Schein"6 des Kunstwerkes gestellt werden, so wie er sie in den Briefen Über die aesthetische Erziehung des Menschen (1795) formuliert hat. Im 26. Brief geht er in Anlehnung an Kant von der Unterscheidung zwischen dem „Wesen" der Dinge und ihrer „Gestalt" aus: „Die Realität der Dinge ist ihr (der Dinge) Werk; der Schein der Dinge ist des Menschen Werk" 7 , insofern er sich aus dem vorstellenden Subjekt herleite. Sobald sich nun der Mensch seines Herrscherrechts im Bereich des Scheins bewußt werde und das Vor-
6
Vgl. hierzu BERNHARD HEIMRICH, Fiktion und Fiktionsironie in Theorie und Dichtung der deutschen Romantik, a. a. O., S. 23-36. 7 Die Zitate zum 26. Brief sind Bd. X X . der Nationalausgabe, S. 398-404, entnommen. 144
stellungsvermögen als eine Kraft verstehe, „die unabhängig von einem äußern Stoffe sich durch sich selbst in Bewegung setzt, und die Energie genug besitzt, die andringende Materie von sich zu halten", sei der Weg zum
aesthetischen
Schein
freigelegt.
Im
Unterschied
zum
„logischen
Schein", der dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit als einer tatsächlichen oder möglichen Entsprechung des Kunstwerkes zur Wirklichkeit gehorche, sei der aesthetische Schein „selbständig" und könne „allen Beistand der R e a l i t ä t " entbehren. D e r Mensch bediene sich nur „seines absoluten Eigentumsrechts, wenn er den Schein von dem Wesen zurücknimmt und mit demselben nach eignen Gesetzen schaltet. Mit ungebundner Freiheit kann er, was die N a t u r trennte, zusammenfügen, sobald er es nur irgend zusammendenken kann, und trennen, was die N a t u r verknüpfte, sobald er es nur in seinem Verstände absondern k a n n " . Ein zweites Kriterium des aesthetischen Scheins sei das der „Aufrichtigkeit", insofern er sich als bloßer Schein zu erkennen gebe und „sich von allen Ansprüchen auf Retalität ausdrücklich" lossage. D e r logische Schein hingegen sei „bloß Betrug", da er auf eine Vortäuschung von Wirklichkeit und Wahrheit ziele. Zwar verzichte auch der aesthetische Schein nicht auf die Illusion, zur kennzeichne er sie als eine vorgebliche Täuschung, die als solche immer bewußt bleibe. Nicht mehr auf der Wahrscheinlichkeit des Dargestellten gründet für Schiller die Illusion, sondern auf der aesthetischen Haltung des Betrachters, der sich dem „bloßen Schein" bewußt überläßt. Bernhard Heimrich kennzeichnet Schillers selbstbewußte Illusion als „ein Verhalten wie in Illusion, ein Verhalten, als ob Illusion herrsche; sie ist nicht Illusions-Befangenheit, sondern nur ein .Spielen' solcher Befangenheit; das aesthetische Verhalten im Sinn der selbstbewußten
Illusion ist nichts
anderes als ein Spiel-Verhalten" (S. 29). Die Gozzische Manier war für die Weimarer Klassik attraktiv, weil sie in einzigartiger Weise den Zuschauer daran erinnerte, „daß das ganze theatralische Wesen nur ein Spiel sei, über das er, wenn es ihm aesthetisch, j a moralisch nutzen soll, erhoben stehen muß, ohne deshalb weniger Genuß daran zu finden. Als ein solches Stück schätzen wir
Turandot"
(Goethe) 8 . Alle Elemente der Gozzischen Manier: die Mischung
von
Pathos und Burleske, das Abenteuerliche und das Phantastische, das T h e a tralische etc. geben das Bühnengeschehen „aufrichtig" als „bloßen Schein" zu erkennen und sondern es deutlich als „Märchen" von der Wirklichkeit ab In diesem Sinne analysiert Goethe die Turandot-.
„Hier ist das Aben-
teuerliche verschlungener menschlicher Schicksale der Grund, auf dem die Handlung
vorgeht. Umgestürzte
Reiche,
vertriebene Könige,
irrende
Prinzen, Sklavinnen, sonst Prinzessinnen, führt eine erzählende Exposi8 GOETHE, Weimarisches Hoftheater, Gedenkausgabe, hrsg. von Beutler, Zürich und Stuttgart, 2. Aufl., Bd. XIV, 1964, S. 70 f.
145
tion vor unserem Geist vorüber, und die auch am Orte im phantastischen Peking auf einen kühn verliebten Fremden wartende Gefahr wird uns vor Augen gestellt. Was wir aber sodann erblicken, ist ein im Frieden herrschender, behaglicher, obgleich trauriger Kaiser, eine Prinzessin, eifersüchtig auf ihre weibliche Freiheit, und übrigens ein durch Masken erheitertes Serail. Rätsel vertreten hier die Stelle der Scylla und Charybdis, denen sich ein gutmütiger Prinz aufs neue aussetzt, nachdem er ihnen schon glücklich entkommen war. Nun soll der Name des Unbekannten entdeckt werden, man versucht Gewalt, und hier gibt es eine Reihe von pathetischen, theatralisch auffallenden Szenen, man versucht die List, und nun wird die Macht der Überredung stufenweise aufgeboten. Zwischen alle diese Zustände ist das Heitere, das Lustige ausgesät und eine so bunte Behandlung mit völliger Einheit bis zu Ende durchgeführt" 9 . Mit Schillers Theorie von der Selbständigkeit und Aufrichtigkeit des aesthetischen Scheins haben wir zwar das Interesse der Weimarer Klassik an Gozzis Märchenspielen erklären können, aber die besonderen Tendenzen, durch die sich die Bearbeitung Schillers von Tieck oder E. Th. A. Hoffmann abhebt, sind damit noch nicht gedeutet worden. Der Unterschied zwischen klassischem und romantischem Verständnis der Gozzischen Manier wird deutlich, sobald wir berücksichtigen, daß Schiller auch f ü r den selbständigen aesthetischen Schein die Bindung an das Nachahmungsprinzip nicht aufgibt. Daß Nachahmung und selbständiger Schein einander nicht ausschließen, mag folgende Stelle aus dem 26. Brief Über die aesthetische Erziehung des Menschen belegen: „Gleich so wie der Spieltrieb sich regt, der am Scheine Gefallen findet, wird ihm auch der nachahmende Bildungstrieb folgen, der den Schein als etwas Selbständiges behandelt". Das Kunstwerk ist nicht nur schöner Schein im Sinne von ornamentaler Form, sondern es ist auch Darstellung. Gegenstand der Darstellung ist die menschliche N a t u r : Der „Begriff der Poesie . . . (ist) kein anderer . . . , a l s d e r M e n s c h h e i t ihren möglichst vollständigen Ausdruck zu geben" 10 . Der „naive" und der „sentimentalische" Dichter kommen diesem Begriff der Poesie auf verschiedenen Wegen nach: „In dem Zustande natürlicher Einfalt, wo der Mensch noch, mit allen seinen Kräften zugleich, als harmonische Einheit wirkt, wo mithin das Ganze seiner N a t u r sich in der Wirklichkeit vollständig ausdrückt, (muß) die möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen ... den Dichter machen" 10 . Diese Forderung widerspricht insofern nicht der „Selbständigkeit" des aesthetischen Scheins, als es gar nicht nötig ist, „daß der Gegenstand, an dem wir den schönen 9
ebda. Über naive und sentimentalische Dichtung, in Werke, Nationalausgabe, Bd. XX, S. 437. 10
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Schein finden, ohne Realität sei, wenn nur unser Urteil darüber auf diese Realität keine Rücksicht nimmt . . . Dem reinen aesthetischen Gefühl . . . darf auch das Lebendige nur als Erscheinung, auch das Wirkliche nur als Idee gefallen" 11 . Dem „naiven" Dichter, der eine „möglichst vollständige Nachahmnug des Wirklichen" anstrebt, geht es somit nicht um die konkrete Erscheinung, sondern um „das Wirkliche . . . als Idee" 11 , um „das Ganze" der menschlichen Natur 12 , das nur im selbständigen schönen Schein zur Darstellung gelangen kann. Der „sentimentalisdie" Dichter, für den „jenes harmonische Zusammenwirken seiner ganzen Natur bloß eine Idee ist" 12 , muß auf die Nachahmung der Wirklichkeit verzichten, wenn er der Aufgabe der Poesie, „der Menschheit ihren möglichst vollständigen Ausdruck zu geben", entsprechen will. Er kann dieses Ziel der Dichtung nur über „die Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder, was auf eines hinausläuft, die D a r s t e l l u n g d e s I d e a l s " erreichen12. Damit hat sich das, was im Werk zur Darstellung gelangt, nicht mehr vor der gegenständlichen Wirklichkeit auszuweisen. Das Nachahmungsprinzip bleibt für den sentimentalischen Dichter allerdings noch insofern verbindlich, als er auf seiner Suche nach den absoluten Möglichkeiten des Menschen die Grenzen der menschlichen Natur nicht überschreiten darf. Dieses Dichtungsverständnis führte Schiller dazu, in Turandot einen echten menschlichen Konflikt anzulegen und sie zum Träger vollendeter Humanität zu machen. Die Selbständigkeit des aesthetischen Scheins konnte er nur insoweit dulden, als sie die absoluten Grenzen der menschlichen Natur respektierte. Auf der einen Seite ermöglichte er die echte mitleidende Anteilnahme des Zuschauers, indem er dem Konflikt in Turandot menschlich-tragische Dimensionen verlieh, auf der anderen Seite übernahm er die Gozzische Manier, wenngleich in gedämpfter Form, um den Zuschauer zu heiterem Abstand zu zwingen. Für die Weimarer Klassik, die am Prinzip der Gattungstrennung festhielt, konnte das Drama in der Gozzischen Manier nur eine Randerscheinung bleiben: „Was uns betrifft, so wünschen wir freilich, daß wir nach und nach mehr Stücke von rein gesonderten Gattungen erhalten mögen, weil die wahre Kunst nur auf diese Weise gefördert werden kann; allein wir finden auch solche Stücke höchst nötig, durch welche der Zuschauer erinnert wird, daß das ganze theatralische Wesen nur ein Spiel sei" (Goethe) 13 . Damit ist für Goethe die Bedeutung der Turandot mehr praktischer Natur, insofern sie zur aesthetischen Erziehung des Zuschauers beiträgt. Sie macht eine der tragenden Säulen der klassischen Kunsttheo11 12 13
Über die aesthetische Erziehung des Menschen, a. a. O., 26. Brief. Über naive und sentimentalische Dichtung, a. a. O., S. 437. G O E T H E , Weimarisches Hof theater, a. a. O., S. 70 f.
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rie, die Lehre vom aesthetischen Schein aller Kunst, besonders augenfällig und zwingt den Zuschauer zur „selbstbewußten Illusion". Hier ist auch die Erklärung dafür zu suchen, daß Goethe in einer Rückschau auf seine Bemühungen um das Theater in den Jahren 1791/92 Gozzi in einem Atemzuge mit Schiller und Shakespeare nennen kann: „Diese lebendige, sich im Zirkel herumtreibende Masse (der Schauspieler) suchte man mit Shakespeare, Gozzi und Schiller geistiger zu erheben. Man verließ die bisherige Art, nur Neues zum nächsten Verlust einzustudieren, man war sorgfältig in der Wahl und bereitete schon ein Repertorium vor, welches viele Jahre gehalten hat" 14 .
Die romantische Kritik an Schillers Turandot setzte da an, wo Schiller geglaubt hatte, durch „eine poetische Nachhilfe" seiner Vorlage „einen höheren Wert zu geben". Die Tendenz zur verfeinernden psychologischen Motivierung im Sinne des Charakterdramas wird als verfehlt verurteilt: Für Franz Horn hat Schiller zu Unrecht versucht, den Männerhaß Turandots „zu motivieren . . . , weil dadurch das Märchen fast Gefahr gelitten hat, aus seiner ihm eigentümlichen Sphäre des Willkürlichen, Phantastischen, verrückt zu werden" 15 . Audi Schillers „stete Hinneigung zum Erhabenen und Pathetischen, die ihn als echt deutschen Tragiker charakterisiert" will „sich nicht mit der Natur des phantastischen Märchens vertragen" 16 . Caroline Schlegel hatte diese Kritik vorweggenommen, als sie an ihren Gatten schrieb: „Schiller bearbeitet ein Stüde von Gozzi. Seine Hand wird schwer daraufliegen" 17 . Auch die Dämpfung der komischen und rührenden Ausschweifungen findet das Mißfallen der Romantiker. Ein anonymer Rezensent der T«ra«i/oi-Aufführung vom 23. Februar 1806 in Berlin kann Gozzi über Schiller stellen, indem er die Gozzische Manier zum Maßstab seiner
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Campagne in Frankreich, Ausgabe Beutler, Bd. XII, 1962, S. 411 f. FRANZ HORN, Über Carlo Gozzis dramatische Poesie, insbesonderheit über dessen Turandot und die Schillersche Bearbeitung dieses Schauspiels, Penig, Dieneinann, 1803, S. 63. 18 ebda., S. 102. 17 zit. nach KÖSTER, a. a. O., S. 175. Selbst im Lager der engsten Freunde Schillers stand man dem Versuch, aus einer Gozzischen Fiaba ein Charakterdrama zu machen, mit gemischten Gefühlen gegenüber. Körner denkt sich „Turandot immer als eine gesprochene Oper. Ein mutwilliges, übermütiges Spiel der Phantasie ist die H a u p t s a c h e . . . Nur soviel Leidenschaft darf gegeben werden, als man tanzend und singend darstellen kann" (zit. nach KÖSTER, S. 213). Mit schonender Zurückhaltung gibt Körner damit zu verstehen, daß er die Ti